Die kreative Stadt: Zur Neuerfindung eines Topos [1. Aufl.] 9783839407257

Der Topos der kreativen Stadt stellt derzeit ein hochaktuelles Thema dar. Die Studie zeigt am Beispiel dreier Wissenscha

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Die kreative Stadt: Zur Neuerfindung eines Topos [1. Aufl.]
 9783839407257

Table of contents :
INHALT
1. ORTE DES WISSENS
1.1. Orte als Schauplätze der Geschichte
1.2. Orte, Räume und Geschichtsschreibung
1.3. Der »spatial turn« in der Wissenschaftsgeschichte
1.4. Orte der Wissenschaft in der Forschung
1.5. Das Ineinander von Stadt und Wissenschaftsgeschichte
2. DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«
2.1. Die Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt«
2.2. Zum historischen Topos der »kreativen Stadt«
2.3. Wissenschaftsstädte, Technopole, »kreative Städte« in internationaler Perspektive
2.4. Suburbanisierungsprozessse und die »kreative Stadt«
3. MÜNCHENS SPÄTE ENTWICKLUNG ZUR »HIGH-TECH-STADT«
4. GARCHINGEN: VOM DORF ZUR »WISSENSCHAFTSSTADT«
4.1. Deutschlands »modernstes Dorf«
4.2. Die Ansiedlung des »Atom Eis«: Startpunkt der Entwicklung
4.3. Suburbanisierung von Wissenschaft
4.4. Transformationen des Dorfes
4.5. Skepsis, Kritik und Verhandlungen
4.6. Transformationen des Forschungsstandortes
4.7. Geschichtskonstruktion: Das »Atom Ei« als Magnet
5. MARTINSRIED ALS »GENE VALLEY«
5.1. Vom Dorf zum »Gene Valley«
5.2. Suburbanisierung der Wissenschaft: Zum Auszug der Lebenswissenschaften aus der Stadt
5.3. Martinsried: Vom Dorf zum suburbanen Biotechnologiestandort
5.4. Die Debatte um Gentechnologie: Zur Räumlichkeit von Wissenschafts- und Technikdiskursen
5.5. Vom Ort der Grundlagenforschung zum »kreativen Milieu«
6. NEUPERLACH: »ENTLASTUNGSSTADT« UND »FORSCHUNGSSTADT«
6.1. Die »Entlastungsstadt«: Die »Stadt vor der Stadt«
6.2. Widerstände: Abwehr gegen eine »Industrialisierung« Neuperlachs
6.3. Suburbanisierung der »Wissenschaftsindustrie«
6.4. Die »Denkfabrik«: Eine »Forschungsstadt«
6.5. Die »Wissenschaftsindustrie« und das Städtische
6.6. »Datasibirsk«: Grenzen des Konzepts
6.7. Die »Entlastungsstadt«: Keine Stadt vor der Stadt
6.8. Die Performativität des Urbanen
7. PLÄDOYER FÜR ORTE
8. ANHANG

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Martina Heßler Die kreative Stadt

Martina Heßler (Prof. Dr.) lehrt Kultur- und Technikgeschichte an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Stadtgeschichte, Technik- und Wissenschaftsgeschichte sowie Visuelle Kulturen.

Martina Hessler

Die kreative Stadt Zur Neuerfindung eines Topos

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Nebelschwadenbilder«, © Carina Poersch, Plauen, photocase 2007 Satz & Lektorat: Martina Heßler und Jochen Leinberger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-725-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I N H AL T 1. ORTE DES WISSENS 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5.

Orte als Schauplätze der Geschichte Orte, Räume und Geschichtsschreibung Der »spatial turn« in der Wissenschaftsgeschichte Orte der Wissenschaft in der Forschung Das Ineinander von Stadt und Wissenschaftsgeschichte

7 7 9 16 21 24

2. DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«

37

2.1. 2.2. 2.3.

37 41

2.4.

Die Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt« Zum historischen Topos der »kreativen Stadt« Wissenschaftsstädte, Technopole, »kreative Städte« in internationaler Perspektive Suburbanisierungsprozessse und die »kreative Stadt«

48 53

3. MÜNCHENS SPÄTE ENTWICKLUNG ZUR »HIGH-TECH-STADT«

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4. GARCHINGEN: VOM DORF ZUR »WISSENSCHAFTSSTADT«

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4.1. 4.2.

69

4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7.

Deutschlands »modernstes Dorf« Die Ansiedlung des »Atom Eis«: Startpunkt der Entwicklung Suburbanisierung von Wissenschaft Transformationen des Dorfes Skepsis, Kritik und Verhandlungen Transformationen des Forschungsstandortes Geschichtskonstruktion: Das »Atom Ei« als Magnet

71 75 87 119 133 162

5. MARTINSRIED ALS »GENE VALLEY«

167

5.1. 5.2.

167

5.3. 5.4. 5.5.

Vom Dorf zum »Gene Valley« Suburbanisierung der Wissenschaft: Zum Auszug der Lebenswissenschaften aus der Stadt Martinsried: Vom Dorf zum suburbanen Biotechnologiestandort Die Debatte um Gentechnologie: Zur Räumlichkeit von Wissenschafts- und Technikdiskursen Vom Ort der Grundlagenforschung zum »kreativen Milieu«

6. NEUPERLACH: »ENTLASTUNGSSTADT« UND »FORSCHUNGSSTADT« 6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 6.7. 6.8.

Die »Entlastungsstadt«: Die »Stadt vor der Stadt« Widerstände: Abwehr gegen eine »Industrialisierung« Neuperlachs Suburbanisierung der »Wissenschaftsindustrie« Die »Denkfabrik«: Eine »Forschungsstadt« Die »Wissenschaftsindustrie« und das Städtische »Datasibirsk«: Grenzen des Konzepts Die »Entlastungsstadt«: Keine Stadt vor der Stadt Die Performativität des Urbanen

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249 253 270 277 286 300 307 311 318

7. PLÄDOYER FÜR ORTE

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8. ANHANG

333

1.

ORTE

DES

WISSENS

»Wer mit Orten zu tun hat und über Orte schreibt, sieht immer mehrere Dinge gleichzeitig.« (Karl Schlögel)

1.1. Orte als Schauplätze der Geschichte In diesem Buch finden sich drei Geschichten von drei Orten. Genauer gesagt, erzählt es die Geschichten zweier Dörfer, nämlich Garching und Martinsried, sowie der neu gegründeten »Entlastungsstadt« Neuperlach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam ist ihnen dreierlei: sie befinden sich in der Peripherie Münchens; sie sind Standorte von Technologien, die das 20. Jahrhundert mitprägten und die auch noch im 21. Jahrhundert nachhaltigen Einfluss auf unser Leben haben werden: die Atomphysik, die Mikroelektronik und die Biotechnologie. Schließlich gelten sie als Orte der Kreativität, als »Wissenschaftsstädte« oder High-Tech-Orte. Zwei der Orte, Garching und Martinsried, waren in den 1950er Jahren noch traditionelle bayerische Dörfer. Erst im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sie sich zu so genannten »Wissenschaftsstädten« bzw. »kreativen Städten« oder »kreativen Milieus«. Neuperlach wiederum, in den 1960er und 1970er Jahren als »Entlastungsstadt« am Rande Münchens erbaut, ist Standort der so genannten »Forschungsstadt« der Firma Siemens, die sich gleichfalls als »kreative Stadt« zu etablieren suchte. Die Geschichten der drei Orte werden jedoch nicht allein um ihrer selbst willen erzählt, wenngleich auch die Beschreibung ihrer Transfor7

DIE KREATIVE STADT

mationen in »Wissenschaftsstädte« oder »kreative Orte« allein schon Berechtigung hätte. Gleichwohl beanspruchen die Geschichten mehr zu sein. Sie stehen für verschiedene Geschichten: für die Geschichten dreier Technologien, für die Rolle von Wissenschaft und Technik in der Gesellschaft, für die Haltung der Bevölkerung gegenüber deren Ansiedlung in ihren Orten sowie für die Geschichte der Stadt bzw. für die Frage nach dem Schicksal von Urbanität im 20. Jahrhundert. Für letzteres steht paradigmatisch der Topos der »kreativen Stadt«, der die Narrationen im Folgenden wesentlich anleiten wird. Die »kreative Stadt« ist derzeit ein Topos, der nicht nur Kultur- und Sozialwissenschaften, Regionalökonomie und Innovationsforschung beschäftigt, sondern auch Stadtplaner, Politik und Kulturschaffende, insofern sich der Terminus »kreative Stadt« gleichermaßen auf Orte von Design, Kunst, Mode- und Filmbranche wie auch Wissenschaften bezieht.1 Der Topos der Stadt als Ort der Kreativität, als Ort, an dem soziale, kulturelle, künstlerische, technische und wissenschaftliche Neuerungen entstehen, stellt damit ein hochaktuelles Thema dar. Begriffe wie »kreative Milieus«, »creative industries« oder »cultural economy« prägen derzeit die Debatte um städtische Ökonomien, das städtische Image sowie um innovative Potentiale einer Gesellschaft. Politik, Wirtschaft, Stadtverwaltungen und nicht zuletzt die so genannten Kreativen selbst sprechen zumeist euphorisch von der Stadt als Ort der Kreativität. Publikationen von Richard Florida oder Charles Landry zur »creative class« oder zu »creative cities« erreichen die Bestsellerlisten und dienen zugleich als Handlungsanleitung, als toolkit für Stadtplaner, die bestrebt sind, solche kreativen Milieus in ihren Städten erblühen zu lassen.2 Nachdem in den letzten Dekaden Untergangsgesänge bereits mehrfach den »Tod der Stadt « (Jane Jacobs) oder ihre Bedeutungslosigkeit angesichts raumvernichtender Technologien (Florian Rötzer) prophezeit hatten, scheint die Stadt auf diese Weise eine Renaissance zu erfahren. Bei der historischen Beschreibung von Garching, Martinsried und Neuperlach wird allerdings deutlich, dass die Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt« ein Phänomen ist, das seit den 1970er Jahren zu finden ist. Es gilt daher genau zu fragen, warum es zu dieser angeblichen Renaissance des Städtischen, von Urbanität kam und wie und warum dieser Topos des »kreativen Milieus« in den 1970er Jahren in ei1 2

8

Zum Topos der »kreativen Stadt« sowie weiterführende Literatur siehe Kapitel 2. Vgl. Charles Landry: The Creative City. A Toolkit for Urban Innovators, London 2000, Richard Florida: Cities and the Creative Class, New York, London 2005 sowie ders.: The Rise of the Creative Class, New York 2002.

ORTE DES W ISSENS

ner spezifisch historischen Konstellation »entdeckt« wurde und geradezu zu einem Mythos avancierte – ein Mythos, der auf eine Jahrtausende alte Vorstellung der Stadt als Ort der Neuerung, der Innovation und Kreativität rekurriert. Ziel ist es also, den Topos der »kreativen Stadt« zu historisieren. Gleichzeitig ist das Konzept der »kreativen Stadt«, wie es seitdem handlungsleitend wurde, kritisch zu prüfen. Denn ein genauer Blick, so die These, zeigt, dass die Annahme einer Renaissance des Städtischen mit Skepsis zu betrachten ist. Vielmehr handelt es sich – bezogen auf Wissenschaftsorte – um einen Verlust städtischer Qualitäten. »Urbanität« wird, so eine der zentralen Thesen der drei Erzählungen, zu einem Modus der Wissensproduktion, der nicht auf die tatsächliche Vielfalt urbanen Lebens zielt, sondern als ökonomisches Werkzeug zur Erzeugung wissenschaftlich-technischer Innovationen fungiert. Die Analyse der Entstehung und die Erzählung der Geschichte »kreativer Milieus« muss sowohl stadtplanerische, stadthistorische als auch wissenschaftshistorische Aspekte umfassen. Gleichermaßen werden die lokalen Bedingungen der jeweiligen Orte für die Entstehung »kreativer Milieus« in den Blick geraten, nach ihren Raumstrukturen sowie nach den sich verändernden Alltags- und Lebensbedingungen gefragt. Auch anfängliche Euphorien von Politikern, Wissenschaftern, aber auch der Bewohner, die noch ganz im Zeichen einer wissenschaftlich-technischen Moderne standen und die später durch teils massive Wissenschafts- und Technikkritik abgelöst wurden, gehören zur Geschichte der jeweiligen Orte und ihrer Transformation in »kreative Milieus«. Die drei Erzählungen verbinden damit Stadt- und Wissenschaftsgeschichte und sind zugleich ein Stück bundesrepublikanische Geschichte. Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten, das Nebeneinander und Verwobensein verschiedener Entwicklungen, die Verflechtung lokaler und globaler Prozesse, aber genauso Diskontinuitäten und Wandlungsprozesse geraten in den Blick, indem die Orte die Perspektive der Erzählungen, die Untersuchungseinheit darstellen.

1.2. Orte, Räume und Geschichtsschreibung Orte, Plätze, Räume gerieten in jüngster Zeit in die Aufmerksamkeit der Geschichts- und Kulturwissenschaften.3 Bernd Waldenfels sprach von der »Wiederkehr des Raums«,4 Sigrid Weigel verkündete den Vollzug 3 4

Vgl. z.B. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001. Bernd Waldenfels: »Leibliches Wohnen im Raum«, in: Gerhart Schröder/Helga Breuninger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart, Frankfurt am Main 2001, S. 179-201. 9

DIE KREATIVE STADT

des »topographical turn«5; Michel Foucault hatte schon Mitte der 1980er Jahre Überlegungen angestellt, die derzeitige Epoche werde eine Epoche des Raums.6 Henri Lefebvre, Michel de Certeau und David Harvey offerierten bereits in den 1970er Jahren Analysen der Bedeutung von Raum.7 Schließlich ereilte die Geschichts- und Kulturwissenschaften Ende der 1990er Jahre der »spatial turn« als ein »turn« neben vielen anderen.8 Mag gerade die stete, und in immer kürzeren Abständen folgende Ausrufung neuer »turns« skeptisch bis ablehnend stimmen, so hielt Karl Schlögel dem entgegen, dass jeder weitere »turn« ein Gewinn für die Geschichtswissenschaften sei: »Die inflationär gewordene Rede vom turn hat auch das Gute an sich, daß sie den Einzigartigkeits- und Ausschließlichkeitsanspruch unterminiert oder ironisiert. [...] Turns und Wendungen sind ja keine Neuentdeckungen oder Neuerfindungen der Welt, sondern Verschiebungen von Blickwinkeln und Zugängen, die bisher nicht oder nur wenig beleuchtete Seiten sichtbar werden lassen. Turns sind Indikatoren für die Erweiterung der geschichtlichen Wahrnehmungsweisen, nicht »das ganz Neue« oder »das ganz andere«. Es kann also gar nicht genug turns geben, wenn es um die Entfaltung einer komplexen und der geschichtlichen Realität angemesseneren Wahrnehmung geht. Spatial turn: das heißt lediglich: gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt – nicht mehr, aber auch nicht weniger.«9

Die Publikationen, die mittlerweile im Kontext des »spatial turn« erschienen sind, umfassen eine Vielfalt von Perspektiven auf den Raum und bringen verschiedene Raumbegriffe zur Anwendung.10 Im Folgen5

Sigrid Weigel: »Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151-162. 6 Vgl. Michel Foucault: »Of other spaces«, in: Diacritics 16 (1986), S. 22-27, hier S. 22f. 7 Vgl. Henry Lefebvre: The Production of Space, Oxford 1991 (original 1974), Michel de Certeau: The Practice of Everyday Life, Berkeley, Los Angeles, London 1984, oder z.B. Pierre Bourdieu: »The social space and symbolic power«, in: Sociological Theory 7 (1989), S. 14-25, David Harvey: The Condition of Postmodernity, Cambridge, Oxford 1990. Zum Thema Raum vgl. auch M. Löw: Raumsoziologie. 8 Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006. 9 Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München, Wien 2003, S. 68. 10 Vgl. M. Löw: Raumsoziologie, Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006, Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, Michaela Ott: »Raum«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. 10

ORTE DES W ISSENS

den spielt die Kategorie »Raum« auf unterschiedlichen, jedoch verflochtenen Weisen eine Rolle: erstens als Untersuchungseinheit, als Perspektive, von der her Geschichte geschrieben wird, um das Nebeneinander geschichtlicher Prozesse genauso in den Blick zu bekommen wie ihren zeitlichen Verlauf; zweitens als materialisierter, gebauter Raum, an dem sich Konzepte der Wissensproduktion ebenso wie Vorstellung zur Organisation von Stadt und damit von Gesellschaft ablesen lassen. Drittens werden zwei weitere Raumbegriffe verwendet, die nur analytisch vom materiellen Raum zu trennen sind, nämlich der soziale bzw. Kommunikationsraum sowie der symbolische Raum. Sie dienen als analytische Kategorien, um die Geschichte der Orte zu schreiben.

1.2.1. Der Ort als Perspektive der Geschichtsschreibung Die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung thematisierte Raum häufig unter der Perspektive seiner Auflösung. Im Kontext von Globalisierung, Transnationalität und Informations- und Kommunikationstechnologien ist vom »Verschwinden des Raums« die Rede; Abgesänge verabschiedeten den Raum als Erfahrungs- und Bezugskategorie. Markus Schroer beobachtete, der Moderne seien die Befreiung aus dem Nahraum und die Eroberung der Ferne eingeschrieben. Er kritisiert dabei die Privilegierung des Ortes und der Nähe im Denken: »Die Metaerzählung (Lyotard) der Soziologie« schreibe eine Verlustgeschichte. Demnach habe der Raum, der Bezug zum Ort in der Vormoderne große Bedeutung gehabt, während die Bindung an den Raum zunehmend abgenommen habe.11 Raum werde in dieser Logik mit Ort gleichgesetzt und die »zunehmende Ablösung des Sozialen von örtlichen Gegebenheiten wird als Verfallsgeschichte erzählt«12. Wendet Schroer sich gegen ein Raumverständnis, das Raum und Ort dermaßen kurzschließt, Raum im Sinne eines Territoriums versteht und dabei einen Verlust diagnostiziert, so geht es hier in der Verbindung von Raum und Ort um anderes. Raum und Ort sind hier nicht, wie im derzeitigen Diskurs häufig, als Gegenbegriffe gedacht, die gleichermaßen mit global und lokal zu beschreiben wären. Im Folgenden wird Ort gleichwohl nicht automatisch mit Raum gleichgesetzt. Raum meint nicht den konkreten Ort, vielmehr werden verschiedene Raumdimensionen untersucht werden. Jedoch konkretisieren sich Raumvorstellungen in Orten. Denn wie Martina Löw bemerkt, basieren »alle Raumkonstruktionen mittelbar oder unmittelbar auf LokalisierunHistorisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5 (Postmoderne – Synästhesie), Stuttgart, Weimar 2003, S. 113-149. 11 Vgl. M. Schroer: Räume, S. 169. 12 Ebd., S. 11 und S. 26ff. 11

DIE KREATIVE STADT

gen [...], durch die Orte entstehen. Läßt sich keine Lokalisierung bestimmen, dann wird der Raumbegriff nur metaphorisch benutzt«.13 »An einem Ort«, so Löw weiter, »können verschiedene Räume entstehen, die nebeneinander sowie in Konkurrenz zueinander existieren [...]«.14 Im Folgenden ist der Ort die Frageperspektive und Unterschungseinheit. Denn wie Karl Schlögel schrieb, erweist sich der Ort allzu oft als »der angemessenste Schauplatz und Bezugrahmen, um sich eine Epoche in ihrer ganzen Komplexität zu vergegenwärtigen.«15 Die Betrachtung von Orten zeigt das Nebeneinander der Zeiten, die mannigfachen Ungleichzeitigkeiten sowie Verflechtungen und Verbindungen scheinbar getrennter Entwicklungen. Der Ort, so Schlögel, hat »ein Vetorecht gegen die von der Disziplin und von der arbeitsteiligen Forschung favorisierte Parzellierung und Segmentierung des Gegenstandes.«16 Foucault hatte mit seinem Diktum, wie lebten in der Epoche des Raums ähnlich argumentiert, wenngleich im Sinne einer Zeitdiagnose. Nach Foucault leben wir in der Epoche des Raums als einer Epoche des Simultanen, einer Epoche des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und Auseinander. Demnach empfänden wir nicht mehr ein zeitliches Nacheinander, sondern lebten vor allem in einem Bewusstsein des Nebeneinanders.17 Ist der Ort die Perspektive, aus der Geschichte geschrieben wird, so geht es allerdings nicht darum, das Synchrone über das Diachrone zu stellen, sondern beiden Berechtigung zuzugestehen. So wird sich einerseits zeigen, wie in ganz unterschiedlichen Bereichen ähnliche Entwicklungen und Phänomene zu beobachten sind. »Die Raumperspektive bietet also die Möglichkeit, das inkommensurable Nebeneinander, des Alltagslebens, das Ineinanderwirken von Strukturen und individuellen Entscheidungen, das bisher eher getrennt voneinander untersucht worden ist, nun in der Zusammenschau zu analysieren. [...]«.18 13 14 15 16

M. Löw: Raumsoziologie, S. 201. Ebd., S. 272f. K. Schlögel: Im Raume, S. 10. Ebd. sowie: Karl Schlögel: »Raum und Geschichte«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften. Bielefeld 2007, S. 33-51. 17 Vgl. Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 34-36, hier S. 34. So auch Frederic Jameson, der betonte, unsere Erfahrungen würden stärker von den Kategorien des Raums als der Zeit beherrscht. Vgl. Frederic Jameson: »Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45-102. 18 Vgl. D. Medick-Bachmann, Cultural Turns, S. 304. 12

ORTE DES W ISSENS

Es geht darum, ein Stück bundesrepublikanischer Geschichte zu schreiben und dabei Wissenschafts-, Stadt-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte zu verbinden. Damit geraten Entwicklungen, die üblicherweise nicht zusammen betrachtet werden, gleichzeitig in den Blick; es offenbaren sich synchrone Zusammenhänge, die in ihrer Einzelanalyse nicht sichtbar sind. Andererseits spielen diachrone Entwicklungen eine erhebliche Rolle, denn es lassen sich gerade in der Betrachtung der Geschichte der drei Orte seit den 1950er Jahren Wandlungsprozesse und Diskontinuitäten aufzeigen, die wiederum in unterschiedlichen Bereichen gleichzeitig zu beobachten sind. Denn seit den späten 1960er Jahren bis in die frühen 1980er Jahre vollzogen sich, wie zu sehen sein wird, in den untersuchten Orten in ganz unterschiedlichen Feldern – so in den Naturwissenschaften, in den Konzepten der Organisation von Stadt, in den dörflichen Lebenswelten sowie in der Haltung der Bevölkerung zu Wissenschaft und Technik – Wandlungsprozesse, die oft mit Großtheorien wie Postmoderne, zweite Moderne, reflexive Moderne oder Wissensgesellschaft beschrieben werden. Stattdessen soll im »Kleinen«, im »Lokalen« geschaut werden. Entwicklungen und Prozesse zur Geschichte der Stadt und der Wissenschaft, die vielfach auf abstrakter Ebene diskutiert werden, sollen anschaulich gemacht und dabei nach lokalen Ausprägungen und Unterschieden gefragt werden. Allgemeine Entwicklungen werden am Lokalen veranschaulicht und gleichzeitig wird nach der Rolle und Bedeutung des Lokalen gefragt. Orte erhalten so als Schauplätze der Geschichte entscheidende Bedeutung.

1.2.2. Raum und Wissensproduktion Die Betrachtung dreier Wissenschaftsorte ermöglicht die Analyse des Verhältnisses von (Stadt)Raum und Wissensproduktion. Wird Wissenschaft als Teil des städtischen Raums gedacht? Oder gerade umgekehrt? Wie Peter Galison im Hinblick auf Architektur schrieb: »Architecture can therefore help us position the scientist in cultural space.«19 David Livingstone bemerkte: »Architecture [...] is itself a symbolic writing of space. The very buildings where scientific inquiry was housed were often pronouncements in the language of stone, site, and plan about the place science should occupy in the wider culture.«20 19 Peter Galison/Emily Thompson (Hg.), The Architecture of Science, Cambridge 1990, S. 3. 20 David N. Livingstone: Putting Science in its Place. Geographies of Scientific Knowledge, Chicago, London 2003, S. 38. 13

DIE KREATIVE STADT

Raumstrukturen offenbaren die Vorstellungen über den Platz der Wissenschaft in der Gesellschaft, darüber, wie Wissen in einer Gesellschaft und welches Wissen produziert werden soll. Die gesellschaftlichen Überlegungen manifestieren sich in konkreten Räumen, räumlichen Ordnungen und Raumstrukturen, in Gebäuden und Architekturen sowie auch in der Topographie der Wissenschaften. Raum wird hier als Materialisierung von Vorstellungen über die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft, über den Modus der Wissensproduktion betrachtet. Die konkreten, gebauten Raumstrukturen sowie die Diskurse um die Raumanordnungen, um die Topographien wissenschaftlicher Institute und von Unternehmen zeigen die Versuche, Handlungen zu regulieren und zu reglementieren, um eine je spezifische Form der Wissensproduktion zu forcieren. Sie sind das Ergebnis von Vorstellungen und Konzepten, wie Wissen und Kreativität hervorzubringen seien. Mit der Betrachtung der drei Orte geht es darum, die Konstitutionsbedingungen der Wissenschaftsräume zu analysieren. Dabei gerät der physische Raum immer schon als sozialer Raum in den Blick. Gebäude, Architekturen und Topographien schaffen bauliche und architektonische Fakten, die Wirkungen auf das soziale Handeln und die Kommunikation haben (sollen). Raumkonstellationen beeinflussen die Handlungen ihrer Nutzer. Jedoch weist die Geschichte unzählige Beispiele auf, wie Nutzer Räume entgegen der »Inskriptionen« lesen, umdeuten und aneignen. Michel de Certeau beschrieb die Praktiken der Raumaneignungen bereits in den 1970er Jahren. Menschen schaffen Räume durch ihre Handlungen und Nutzungen jenseits der räumlichen Strukturen. Die Frage nach der Aneignung der Wissensräume ist zweifellos eine zentrale. Es erweist sich jedoch gerade historisch immer wieder als schwierig, diese Frage zu beantworten. Quellen zur alltäglichen Raumnutzung, zum eigenwilligen Verhalten von Nutzern finden sich nur dann, wenn es auffällige Konflikte gab. Die alltäglichen, stillen, eigenwilligen Raumverwendungen hinterlassen historisch kaum Spuren, auch wenn wir sicher sein können, dass es sie gab. Es geht also in der Betrachtung der drei Wissenschaftsorte darum, die Diskurse um die Raumgestaltung zu analysieren sowie die konkreten, gebauten Räume »zu lesen«. Es geht um die Frage, wie die »Räume des Wissens« organisiert sind und wie ihr Verhältnis zur Stadt gestaltet ist.

1.2.3. Raum als analytische Kategorie: der materielle Raum, der soziale Raum und der symbolische Raum Gerät also, wie gerade ausgeführt wurde, der materielle, der physische Raum in den Fokus, so werden weitere Raumbegriffe zum Tragen 14

ORTE DES W ISSENS

kommen. Die soziologische Theorie unterscheidet vor allem zwei Raumkonzepte, das »absolutistische« und das »relationale«, wobei ersteres mittlerweile scharfe Kritik erfuhr, während die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung zur Privilegierung sozial konstruierter Räume neigt.21 So dominiert in jüngster Zeit stark die Vorstellung von sozial konstruierten Räumen, während der konkret-materielle Raum aufgrund der lange vorherrschenden Vorstellung des Raums als »Behälter« in Misskredit geraten ist. Henry Lefebvre hatte bereits 1974 die Produktion von Raum betont und seine soziale Konstituierung herausgearbeitet wie auch umgekehrt die Bedeutung des Raums für das Herstellen sozialer Beziehungen.22 Bei der Betrachtung der drei Wissenschaftsorte sollen drei eng verflochtene Raumkategorien als analytische Werkzeuge dienen: der materielle Raum, wie er gerade schon beschrieben wurde, aber auch der soziale Raum bzw. Kommunikationsraum sowie der symbolische Raum. Wenn gerade die Wirkung von gebautem Raum, von der Materialisierung von Konzepten in räumlichen Strukturen betont wurde, so ist es überflüssig zu sagen, dass nicht vom Raum als »Container« oder Behälter ausgegangen wird, in dem sich Wissenschaft abspielt. Es geht gerade nicht darum, die Wissenschaftsorte als bereits vorhandene Räume zu untersuchen, und damit einen Raumbegriff zu verwenden, der einen gegebenen Ort meint, in dem etwas stattfindet. Vielmehr gilt es, die Konzeptionalisierungen des Wissenschaftsraums im historischen Wandel zu untersuchen. Die Kategorie des materiellen Raums meint demnach, wie gerade beschrieben, die Architektur, die Anordnung der Gebäude, die räumlichen Arrangements und Strukturen, Topographien, die gelesen werden, um nach den Konzepten von Wissenschaft und ihrer Stellung in der Gesellschaft zu fragen. Mit dem sozialen Raum bzw. dem Kommunikationsraum geraten die Kommunikationsstrukturen in den Blick, die durch die materiellen Räume hervorgebracht werden sollen. Der Kommunikationsraum wird also einerseits mittels architektonischer und städtebaulicher Maßnahmen hergestellt und dabei liegen jeweils spezifische Kommunikationskonzepte zu Grunde: Wer soll mit wem kommunizieren? Wird Kommunikation forciert oder ermöglichen die baulichen Strukturen ganz im Gegenteil einen Rückzug? Andererseits entsteht ein Kommunikationsraum überhaupt erst aus den tatsächlichen Praktiken seiner Nutzer. Der symbolische Raum meint die Zeichen, Repräsentationen und Codes, die diskursiv und visuell erzeugt werden und auf eine Identitäts21 Vgl. hierzu vor allem M. Löw: Raumsoziologie, S. 24ff. 22 Vgl. H. Lefebvre: Production of Space. 15

DIE KREATIVE STADT

stiftung der Orte zielen. Alle drei Raumkategorien sind eng verflochten und dienen hier als analytische Werkzeuge, um die Geschichte der Orte zu erzählen, die sich als »Orte der Wissenschaft« präsentieren, sich »Wissenschaftsstadt« oder »Forschungsstadt« nennen und damit bereits auf das enge Verhältnis von Stadt(raum) und Wissenschaft verweisen, wie es heute in der Rede von der »kreativen Stadt« bzw. der Stadt als Ort der Innovation allenthalben zu finden ist. Gerade dieser Topos der »kreativen Stadt«, seine Wiederentdeckung in den 1970er Jahren, wird der zentrale Fokus sein, wenn die Geschichte Garchings, Martinsrieds und Neuperlachs erzählt werden wird.

1.3. Der »spatial turn« in der Wissenschaftsgeschichte Ist die Geschichte der Stadt per se mit Fragen der Raumanordnung, -vorstellungen, -wirkungen sowie -aneignungen konfrontiert, auch wenn die Stadtsoziologie (und gleiches kann man für die Stadtgeschichte konstatieren), wie Martina Löw beobachtete, keine Reflexion des Raumbegriffs vornahm.23 In der Wissenschaftsgeschichte lenkte die »gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt« die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Dimensionen der Räumlichkeit von Wissen. Einerseits ist dies nicht ganz neu. Arnold Thackrays Terminus von der »cultural geography of science«, Derek Oranges »topography of science«, George Basallas »geography of science« oder Hubert Laitkos Rede von der »Wissenschaftsgeographie« verweisen auf eine bereits länger zurückliegende Beschäftigung mit der Räumlichkeit von Wissen.24 Andererseits stieg die Zahl der Publikationen zu diesem Themenfeld vor allem in den letzten Jahren rasant an. Dabei stellt sich eine »Geographie des Wissens« zumeist als ein kulturgeschichtliches Unternehmen dar, indem lokale oder regionale Kulturen und spezifische lokale Denkstile, Wahrnehmungs- oder Rezeptionsmuster herausgearbeitet werden; insbesondere stellt der Verweis auf die Räumlichkeit von Wissen noch einmal massiv die Vorstellung eines universell gültigen Wissens in Frage und betont dessen Abhängigkeit von lokalen Faktoren. In dieser Forschung lassen sich drei mit einander verflochtene Stränge unterscheiden: erstens die »geographische Bedingtheit« von Wissen,

23 Vgl. M. Löw: Raumsoziologie, S. 44f. 24 Vgl. dazu ausführlich den Forschungsüberblick: Martina Heßler: »Stadt als innovatives Milieu – Ein transdisziplinärer Forschungsansatz«, in: Neue Politische Literatur 47 (2002), S. 193-223. 16

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zweitens die »Reisen«, die »Migration« des Wissens sowie drittens Orte des Wissens. Zum ersten wird die geographische Bedingtheit von Wissen in dem Sinne betont, dass auf die Bedeutung des jeweiligen Ortes für die Wissensproduktion und die Diffusion und Rezeption des Wissens hingewiesen wird. Indem Peter Burke in seiner Studie »Papier und Marktgeschrei« zwei Philosophen der Frühen Neuzeit, nämlich Michel de Montaigne und Blaise Pascal, zitierte, fasste er prägnant die Bindung der Gültigkeit von Wahrheit an lokale Gegebenheiten zusammen: Montaigne: »Was für eine Wahrheit, die nur bis zum Gebirge gilt und für die Menschen auf der anderen Seite zur Lüge wird.«25 Und Pascal: »Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits.«26 Was als Phänomen einer Zeit vor der Verbreitung von Kommunikationstechnologien und vor dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaft gedeutet werden könnte, in der die Universalität des Wissens noch nicht garantiert war, wird gleichwohl in jüngster Zeit erneut thematisiert, indem lokale Entstehungsbedingungen des Wissens aufgezeigt werden. Es bestehen vielfältige lokale Wissensformen, die auf ihren spezifisch lokalen Kontext zurückzuführen sind. Lokale Wissenskulturen und ihr Einfluss auf die Produktion von wissenschaftlichem Wissen, die Entstehung spezifischer Denkrichtungen sowie die Rezeption und Verbreitung von Wissen wurden in wichtigen Arbeiten aufgezeigt. Zu erinnern wäre hier beispielsweise an »Wittgensteins Wien« von Allan Janik und Stephen Toulmin,27 die eher ideen- und geistesgeschichtlich orientiert waren, oder an wissenssoziologische und -theoretische Arbeiten, die sich der Forschungspraxis zuwandten und mit ethnologischen Studien die Bedeutung der sozialen Bedingungen und der Machtverhältnisse in Forschungslaboren für die Produktion von Wissen analysierten.28 Zum zweiten widmet sich eine »Geographie des Wissens« der Migration von Wissen, mithin der Zirkulation von Ideen, Texten, Gegenständen, Instrumenten, Theorien, Wissenschaftlern. Damit ist nicht nur die Frage nach den Wegen,29 die Wissen nimmt, gestellt, sondern auch die nach den technischen, sozialen und politischen Möglichkeiten seiner 25 Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2002, S. 71. 26 Ebd., S. 69. 27 Vgl. Allan Toulmin/Steven Janik: Wittgenstein’s Vienna, London 1973. 28 Vgl. z.B. Bruno Latour/Steve Woolgar: Laboratory Life. The Social Construction of Scientific Facts, Beverly Hills, London 1975, Karin KnorrCetina: The manufacture of knowledge: An essay on the constructivist and contextual nature of science, Oxford, New York 1981. 29 Vgl. Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens, Zürich 2004. 17

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Diffusion. Vor der Verbreitung des Buchdrucks konzentrierte sich »wissenschaftliches« Wissen auf Orte wie Klöster oder große Städte. Noch in der Frühen Neuzeit hing, was die Menschen wussten, unmittelbar davon ab, wo sie lebten. Wissen verbreitet sich an unterschiedlichen Orten und in verschiedenen Regionen in unterschiedlichem Ausmaß und Geschwindigkeiten. So hatte Europa zwar einige der Entdeckungen aus China übernommen, aber China und Japan haben viele Jahrhunderte lang europäische Techniken nur in sehr begrenztem Maße adaptiert.30 Politische Systeme unterdrückten und unterdrücken Wissen. Der »eiserne Vorhang« war auch eine Mauer, die die Reise bestimmter Formen des Wissens zu stoppen suchte. China ist noch immer bestrebt, den Zugang zum world wide web zu begrenzen, um die Kontrolle über das Wissen zu behalten. Die Wege des Wissens sind vielfältig und berühren unterschiedlichste Fragen nach Offenheit und Geheimhaltung, nach kulturellen Aneignungen oder politischen Interessen bis hin zu Repressionen. Zudem erfährt das Wissen auf seiner Reise einen Wandel, wie David Livingstone betonte. Er zeigte dies beispielsweise anhand der unterschiedlichen Rezeption Darwins an verschiedenen Orten auf.31 Zum dritten widmete sich die Forschung den Orten des Wissens, also der Frage, wo Wissen erzeugt, aufgenommen, gespeichert, gelehrt, adaptiert wird.32 Orte des Wissens sind dermaßen vielfältig, dass sie sich kaum aufzählen lassen: Museen, Bibliotheken, aber auch Gesellschaften, Salons, Kaffeehäuser, auch Körper, Unternehmen, wissenschaftliche Institute, Krankenhäuser, Laienvereine, so genannte »hybride Foren« – um nur einige zu nennen. Sie umfassen Individuen, Institutionen, Gruppen oder öffentliche Orte. Mit der Untersuchung der Orte von Wissen lassen sich beispielsweise die Regeln der Wissensproduktion in mikrohistorischer Dimension untersuchen: die Frage, ob sie öffentlich oder privat sind, wie diese Grenze ausgehandelt und definiert wird. Weiter werden ihre räumlichen Strukturen, in denen sich Bedeutungen und Zuschreibungen manifestieren und die gleichzeitig das Verhalten und die Prozesse der Wissensproduktion beeinflussen oder gar regulieren sollen, betrachtet. »Mikrogeographien« einzelner »sites of knowledge«33 nannte David Livingstone Untersuchungen solcher Art. Orte des Wissens haben 30 Vgl. Manuel Castells: Das Informationszeitalter I. Die Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001, S. 35. 31 Vgl. D. Livingstone: Putting Science sowie ders.: »Darwinism and Calvinism. The Belfast-Princeton Connection«, in: ISIS 83 (1992), S. 408-428 und ders.: »Making Space for Science«, in: Erdkunde 54 (2000), S. 285-296. 32 Vgl. z.B. Crosbie Smith/Jon Agar (Hg.), Making Space for Science, Basingstoke, London 1998, P. Galison/E. Thompson (Hg.), Architecture. 33 D. Livingstone: Putting Science, Kap. 2. 18

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nicht nur selbst jeweils eine Geschichte, sondern das Geflecht, ihre Zahl und ihr Zusammenspiel verändern sich, indem einige an Gewicht verlieren, gar verschwinden, andere neue entstehen oder eine neue Bedeutung erfahren.34 Im letzten Drittel des 20. Jahrhundert erhielten Orte des Wissens im Kontext der so genannten »Wissensgesellschaft«35 neue Bedeutung. Diese Konzepte der »Wissensgesellschaft« postulieren, einen Prozess zu beobachten, in dessen Verlauf »Wissen«, und zwar wissenschaftliches Wissen, als Produktionsfaktor eine zunehmend größere Rolle zu spielen begann. In diesem Kontext wandte sich auch die sozialwissenschaftliche und ökonomische Forschung stärker räumlichen Faktoren zu, denn vor allem wissensbasierte Technologien begannen, so die Beobachtung, den ökonomischen Raum neu zu strukturieren:36 Dies meint aber gerade nicht nur die Wirkung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf Produktionsprozesse im Sinne einer globalen Arbeitsteilung. Vielmehr wird Wissen zunehmend zum lokalen Wirtschaftsfaktor und somit verschiebt sich die »industrielle Geographie« in Richtung einer Geographie, in der Orte des Wissens zunehmend wichtiger für wirtschaftliche Prozesse werden. Denn die Generierung, der Zugang und die Verfügbarkeit von Wissen gelten mittlerweile als entscheidende Ressource für wirtschaftliche Prosperität. Diese Entwicklung hatte Rückwirkungen auf die Standorte von Industrie und Unternehmen, insofern die wissensfundierte Produktion von anderen Faktoren abhängig ist als 34 Vgl. Mikael Hård/Andrew Jameson: Hubris and Hybrids: A Cultural History of Technology and Science, New York, London 2005, Kapitel 5. 35 Vgl. dazu z.B.: Daniel Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/New York 1975 (original 1973), Rolf Kreibich: Die Wissenschaftsgesellschaft. Von Galilei zur High-Tech-Revolution, Frankfurt am Main 1986, Nico Stehr: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt am Main 1994, Margit Szöllösi-Janze: »Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse«, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 189-218 und vgl. den Überblick bei Peter Weingart: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001. 36 Bei Manuel Castells findet sich in Kapitel 2 seines Buches The Informational City. Information Technology, Economic Restructuring and the Urban-Regional Process, Cambridge 1989, ein Überblick über die Literatur zu diesem Thema sowie Castells eigene Überlegungen. Er betont, dass sich die neuen Technologien an Orten ansiedeln, an denen es ein »scientific innovative milieu« gäbe. Vgl. zu den verschiedenen theoretischen Erklärungsmodellen für »erfolgreiche Regionen« den Überblick in Rolf Sternberg: Technologiepolitik und High-Tech Regionen – ein internationaler Vergleich, Münster 1998, 2. Auflage. 19

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die industriegesellschaftliche:37 Nicht mehr Kohleminen, Stahlwerke oder Zugänge zu Transportsystemen, sondern die Existenz von Universitäten und Forschungseinrichtungen wurden zu wichtigen Standortfaktoren. Ganze Produktionszweige starben ab oder schrumpften, während sich neue bildeten. Gerade mit der Entstehung von High-Tech-Industrien – beispielsweise der Mikroelektronik, der Computerindustrie und der Biotechnologie – ,38 wurde die Nähe zu Universitäten und wissenschaftlichen Instituten von Unternehmen zunehmend gesucht: »new industrial spaces« entstanden39 bzw. wurden herzustellen versucht.40 Diese erwiesen sich zumeist als neue Agglomerationen in den Städten bzw. bevorzugt am Rande der Städte. Mithin gewann die Stadt als der Ort, an dem Wissenschaft und Forschung konzentriert sind, an Bedeutung. Häußermann/Siebel beobachteten angesichts des wirtschaftlichen Strukturwandels in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik: »Die großstädtischen Zentren blieben aber die Orte der Innovation und Entwicklung von Produkten und Verfahren.«41 Damit ist nun ein Ort des Wissens explizit genannt, der im Kontext der Wissenschaftsgeschichte hier bislang noch nicht erwähnt wurde, obgleich er doch eine zentrale Rolle in der Geschichte des Wissens spielt: die Stadt. Es mag nun überraschen, dass die drei Wissenschaftsorte wie Garching, Martinsried und Neuperlach in Zusammenhang mit der Stadt als Ort des Wissens betrachtet werden, handelt es sich doch schließlich um bayerische Dörfer bzw. einen Siemens-Forschungsstandort am Rande einer neu gebauten »Entlastungsstadt«. Viel nahe liegender könnte auf den ersten Blick eine Untersuchung erscheinen, die sich dem Phänomen

37 Vgl. N. Stehr: Arbeit, S. 341. Vgl. auch die Arbeiten von Michael Storper/R. Walker, z.B., dies.: The Capitalist Imperative. Territory, Technology and Industrial Growth, New York, Oxford 1989. 38 Zur Polarisierung der großen Städte sowie des bundesdeutschen NordSüd-Gefälles vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel: Neue Urbanität. Frankfurt am Main 1987, Kap. 4. 39 Zu diesem Phänomen vgl. vor allem: Manuel Castells (Hg.), High Technology, Space and Society, Beverly Hills, London, New Delhi 1985 sowie Alan J. Scott: New Industrial Spaces: Flexible Production Organization and Regional Development in North America and Western Europe, London 1988. Vgl. auch Peter Hall/Paschal Preston: The Carrier Wave. New Information Technology and the Geography of Innovation, 1846-2003, London 1988. 40 Vgl. dazu Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung: Städtenetze. Vernetzungspotentiale und Vernetzungskonzepte. Materialen zur Raumentwicklung, Heft 76, Bonn 1996. 41 H. Häußermann/W. Siebel: Neue Urbanität, S. 51. 20

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der Wissenschaft in der Provinz42 widmen würde. Die Betrachtung dieser drei Wissenschaftsorte rückt jedoch zwangsläufig die Stadt in den Mittelpunkt der Analyse, und zwar aus drei Gründen. Erstens liegen diese Wissenschaftsorte am Rande der Stadt München – und diese Lage in der Peripherie von Städten ist typisch für weltweite Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei, und das ist das maßgebliche Argument, handelt es sich um »Suburbanisierungsprozesse« von Wissenschaft, die auch die Stadtstruktur Münchens veränderten. Damit ist ein genuin stadthistorisches Thema berührt. Zweitens waren die Dörfer dadurch einem Urbanisierungsprozess ausgesetzt, den es zu untersuchen gilt. Sie verloren ihren dörflichen Charakter und nahmen sich schließlich selbst als (Klein)Städte wahr. Drittens werden, und dies ist eine der zentralen Thesen, die Wissenschaftsareale, die sich nicht nur außerhalb Münchens, sondern auch am Rande der Dörfer bzw. der »Entlastungsstadt« befinden, seit den 1970er Jahren und vor allem seit den 1990er Jahren zu urbanisieren versucht. Die Konzepte zur Re-Organisation der Wissenschaftsareale zielten darauf, jedenfalls in einer sehr metaphorischen Form, diesen ein städtisches Gesicht zu geben. Der Topos der »kreativen Stadt« bestimmte ihre Geschichte seit den 1970er Jahren maßgeblich.

1.4. Orte der Wissenschaft in der Forschung Systematisiert man die Forschungen zu Orten der Wissenschaft und Technik bzw. zu Stadt und Wissenschaft, so fällt auf, dass sich verschiedene Disziplinen mit unterschiedlichen Zielsetzungen mit diesem Phänomen beschäftigen. Zum einen die Wissenschaftsgeschichte, die, wie oben bereits skizziert, die »Geographie des Wissens« entdeckt, sich jedoch kaum der Stadt gewidmet hat.43 Zum zweiten geistesgeschichtliche Studien, wie die Studie von Janik/Toulmin, die der Strömung der Ideenund Intellektuellengeschichte zuzuordnen wären und die in jüngster Zeit auf wenig Resonanz stoßen. Zum dritten die Wirtschaftsgeschichte und die Wirtschaftswissenschaften, vor allem die Innovationstheorien, wobei in diesen Disziplinen die Region als Forschungsobjekt eine größere Rolle spielt als die Stadt. Das Phänomen der unterschiedlichen ökonomi42 Vgl. dazu zum Beispiel Ian Inkster/Jack Morrell (Hg.), Metropolise and Province. Science in British Culture, 1780 – 1850, Philadelphia 1983. 43 Mitchel G. Ash: »Räume des Wissens – was und wo sind sie? Einleitung in das Thema«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 235-242 sowie das Themenheft von Osiris, The Journal of the History of Science Society, Vol. 18, 2003. 21

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schen Entwicklung verschiedener Regionen, z.B. während der Industriellen Revolution, hatte Wirtschaftshistoriker – insbesondere unter dem Einfluss Sidney Pollards – bereits früh auf die Bedeutung regionaler Besonderheiten aufmerksam gemacht. In den 1980er Jahren führte schließlich eine regionale Strukturpolitik, wie sie in vielen Nationen maßgeblich wurde, gekoppelt mit dem wissenschaftlichen Blick auf die Entstehung wirtschaftlich erfolgreicher Regionen, wie vor allem das Silicon Valley, zur Suche nach der Besonderheit, dem »gewissen Etwas« von Regionen und Städten. Die Erfolgsfaktoren wurden zunehmend in den Charakteristika des jeweiligen Raumes, sei es eine Region oder sei es eine Stadt, gesucht. Gerade Innovationstheorien, insbesondere regionale Innovationstheorien, widmeten sich dieser Frage.44 Die Stadtgeschichte hat sich bislang kaum Orten von Wissenschaft und Technik bzw. dem Verhältnis von Stadt und Wissenschaft zugewandt. Allenfalls die städtische Universitäts- und Bildungsgeschichte erhielt Aufmerksamkeit, dies allerdings eher im Sinne der klassischen Kultur-, Wissenschafts- und Institutionengeschichte. Wolfgang Eckert schrieb 1992: »Organische Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Stadt, gegenseitige Abhängigkeits- und Befruchtungsverhältnisse, Erwartungen und Enttäuschungen [...] sind nur vereinzelt angeschnitten oder hinterfragt, selten dargestellt worden.« Und schließlich: »Dennoch wurde der städtische Raum als ökonomisches, ortsgebundenes, ergebnisforderndes und ergebnishonorierendes, als innovatives, soziales und kulturkonstitutives Strukturelement bislang weitgehend übersehen.«45 Daran hat sich bislang nicht viel geändert. Johann Jessen stellte im Jahr 2003 fest, dass das Thema des Verhältnisses von Universität und Stadt seit einem Vierteljahrhundert »fast in wissenschaftlicher und publizistischer Versenkung verharrt(e)«.46 Vor allem alltagsweltliche Aspekte wie das Leben der Bewohner in diesen Wissenschaftsorten, ihre 44 Hier ist vor allem auf die »Groupe de Recherche Européen sur les Milieux Innovateurs« (GREMI) zu verweisen. Für einen Überblick über deren Arbeiten vgl. Heßler, Stadt als innovatives Milieu. Zudem gibt Peter Hall einen prägnanten Überblick über Standorttheorien von neoklassischen Theorien seit Alfred Marshall über Schumpeter und Growhtpole-theories zu den Arbeiten von Scott, Porter und den Konzepten des innovativen Milieus. Vgl. auch: Peter Hall: Cities in Civilization. Culture, Innovation, and Urban Order, London 1998, Kapitel 9 sowie Roberto Camagni: »Das urbane Milieu: Voraussetzung für Innovationen und wirtschaftlichen Erfolg«, in: Dirk Matejovski (Hg.), Metropolen. Laboratorien der Moderne? Frankfurt, New York 2000, S. 292-307, hier S. 306. 45 Wolfgang U. Eckart: »Wissenschaft und Stadt«, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 15 (1992), S. 69-74. 46 Johann Jessen: »Stadt und Universität, Editorial«, in: Die Alte Stadt. 30 (2003), S. 1-6, hier S. 1. 22

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soziale Schichtung, das Verhältnis von alteingesessener Bevölkerung und Wissenschaftlern gerieten bislang kaum in den Blick. Außen vor blieben Fragen danach, was der jeweilige Ort an Voraussetzungen für die Wissenschaftsansiedlung bot bzw. wie umgekehrt diese Orte überformt, verwandelt wurden, wie sich die Bevölkerung zu dieser Entwicklung verhielt und wie sich die Identität, das Selbstverständnis des Ortes veränderte. Gleiches gilt für die räumliche Organisation der Wissenschaftsorte, ihre Architektur und städtebauliche Anordnung. Nicht zuletzt fehlt eine integrierende Perspektive, die die Potentiale einer Forschung, die den Ort als Schnittpunkt verschiedenster Entwicklungen ernst nimmt, ausschöpft. Der Zugang über Orte enthält, um noch einmal Karl Schlögel zu zitieren, »insgeheim immer ein Plädoyer für eine histoire totale – wenigstens als Idee, als Zielvorstellung«.47 Wie Schlögel hier schon ironisch andeutet, muss der Anspruch einer histoire total angesichts der Komplexität der Entwicklungen scheitern; trotzdem soll der Ort als Zugang zur Geschichtsschreibung ernst genommen werden und das bedeutet, den Versuch zu starten, ganz unterschiedliche Perspektiven zu integrieren. Fokussieren die Erzählungen im Folgenden auf die Verbindung von Stadt und Wissenschaft und zeigen dabei auf, wie der historische Topos der »kreativen Stadt« dieses Verhältnis veränderte, so geht es gleichzeitig darum, die Komplexität dieser Geschichten einzufangen. Dabei zielen die Narrationen keineswegs auf eine histoire totale. Vielmehr stehen drei Themenfelder im Mittelpunkt, deren historischer Wandel sowie deren Verwobenheit anhand der drei Orte aufgezeigt werden wird. Es handelt sich dabei um die Geschichte der Stadt, die Geschichte der Naturwissenschaften sowie um den Wandel des Verhältnisses der Gesellschaft zu Wissenschaft und Technik.

47 K. Schlögel: Im Raume, S. 10. 23

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1.5. Das Ineinander von Stadt- und Wissenschaftsgeschichte Die Geschichte der Stadt und der Naturwissenschaften, das Verhältnis von Wissenschaft und Stadt, ihre Wechselwirkungen und ihre Ähnlichkeiten zeigen sich in den Erzählungen der Geschichten der Orte anschaulich. Nicht nur wurden die Geschichten der Orte stark von europaoder teils gar weltweiten historischen Entwicklungen der Stadt und der Wissenschaften geprägt. Sie lassen sich an den einzelnen Orten auch paradigmatisch ablesen. Denn die Orte, die sich am Ende des 20. Jahrhunderts als »kreative Städte« präsentieren, sind das Ergebnis lokaler, regionaler wie auch globaler Entwicklungen. Das Spezifische des jeweiligen Ortes ist eng verflochten mit allgemeinen Tendenzen der Stadt- und Wissenschaftsgeschichte. Im Folgenden werden kurz und überblicksartig wichtige Ergebnisse der Geschichtsschreibung der Orte im Kontext der jeweiligen Forschung skizziert.

Zur Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert Ist das 20. Jahrhundert einerseits ein Jahrhundert der Verstädterung, der stetigen Zunahme der Stadtbevölkerung, des Anwachsens der Metropolen und der Entstehung von Megacities, so ist es zugleich als Epoche der De-Urbanisierung bezeichnet worden. Und in der Tat könnte man die Geschichte der Stadt des 20. Jahrhunderts als eine der Auflösung, als eine des Verlusts des Städtischen schreiben. Gleichwohl würde man damit den verschiedenen Gegenbewegungen, die, vor allem in den 1960er und erneut in den 1990er Jahren, mit vehementen Forderungen nach einer Rückbesinnung auf Urbanität antraten, Unrecht tun. Die Stadt war im 20. Jahrhundert sowohl mannigfachen Versuchen ausgesetzt, sie zu kontrollieren, sie zu beherrschen, sie aufzuräumen und sie zu verlassen, wie es auf der anderen Seite Anstrengungen gab, sie wiederzubeleben, ihre Funktionen erneut zu vermischen, ihr »Chaos« produktiv zu nutzen. So war die Verteidigung der Urbanität in den 1960er Jahren zugleich begleitet von Suburbanisierungstendenzen und vom Bau neuer »Städte« vor der Stadt, die letztlich Urbanitätskonzepte geradezu konterkarierten. Seit den 1980er und 1990er Jahren wird nun erneut im Kontext der sich verbreitenden Informations- und Kommunikationstechnologien einerseits das Ende der Stadt prophezeit, während sie andererseits wiederum neue Aufmerksamkeit und Rettungsversuche erfährt und gar von der »Renaissance des Städtischen« die Rede ist. Auch die drei Standorte an den Rändern der Stadt München stehen für solch ambivalente Entwicklungen. Einerseits sind sie Beispiele einer 24

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Abkehr von der Stadt, des Auszugs aus der Stadt, insofern die Wissenschaften ihr seit den 1960er Jahren den Rücken kehrte und ihre Standorte vor ihren Toren errichtete, in zwei der hier untersuchten Fällen gar am Rande zweier Dörfer. Diese Suburbanisierungsprozesse, ihre Gründe und ihre je eigenen Legitimationsrhetoriken werden in den einzelnen Geschichten en detail nachgezeichnet werden. Es wird sich dabei zeigen, dass, nahe liegender Weise, der steigende Flächenbedarf der Wissenschaften, Wirtschaftlichkeitsüberlegungen, aber auch wissenschaftsinterne Entwicklungen sowie neue gesellschaftliche Anforderungen an die Problemlösungskapazitäten der Wissenschaften die Gründe für ihre Randwanderung darstellen. In allen drei Fallstudien führte die gestiegene Komplexität, Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Wissenschaften dazu, dass seit den späten 1950er und vor allem seit den 1960er Jahren seitens der Wissenschaft selbst sowie der Wissenschaftspolitik Bestrebungen bestanden, dem entgegenzusteuern und man bemüht war, die spezialisierten Wissenschaften wieder »in Dialog« zueinander zu bringen. Die räumliche Konzentration verschiedener Disziplinen und die Betonung, wie notwendig deren Kommunikation sei, waren zentrale Argumente für die Auslagerung der Wissenschaft an die Stadtränder, wo genügend Fläche zur Verfügung stand, um neue Zentren zu bauen und damit ihrer zufälligen und weiträumigen Verteilung über den ganzen Stadtbereich ein Ende zu setzen. Dies hatte die Entwicklung der Wissenschaftsstadt Münchens zu einer Stadt der »dezentralen Zentralisation« an den Rändern zur Folge, während die Innenstadt inzwischen fast alle naturwissenschaftlichen Institute verloren hat. Stellen die drei Orte damit »suburbane Wissenschaftszentren« dar, so sind sie – seit den 1970er Jahren – gleichzeitig wiederum Beispiele für das Revival von Urbanität, des Städtischen. Denn die Wissenschaftsareale, die der Stadt den Rücken gekehrt hatten, inszenieren sich seitdem selbst urban, versuchen, vor der Stadt eine städtische Atmosphäre herzustellen. Sie bilden städtische Strukturen nach, indem sie Plätze, Brunnen, »Fußgängerzone« etc. einzurichten versuchen. Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Wissenschaft und Stadt geht es daher auch um das Schicksal der Urbanität. Ein wesentliches Ziel ist es, den Wandel des Urbanitätsbegriffs von einem in den 1960er Jahren stark politisch geprägten Ausdruck zu einem reduzierten, im Kontext der Wissenschaften nunmehr nur noch metaphorisch verwandten Terminus zu analysieren.48 48 Vgl. zum Begriff der Urbanität auch: Beate Binder: »Urbanität als ›Moving Metaphor‹. Aspekte der Stadtentwicklungsdebatte in den 1960er/ 1970er Jahren«, in: Adelheid von Saldern (Hg.), Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, Stuttgart 2006, S. 45-63. Im Hinblick auf die Stadtentwicklung schreibt Binder: »Der emanzipatori25

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Diese Entdeckung des Topos der »kreativen Stadt« entsprach, wie zu sehen sein wird, dem innerwissenschaftlichen Wandel in der Organisation der Wissenschaften: der Abkehr von »Elfenbeinturm-«Wissenschaftlertypus, der in seiner Disziplinen ungestört am Rande der Stadt forschte, hin zur Forderung nach einem in gesellschaftliche und ökonomische Kontexte involvierten Wissenschaftler. Urbanität steht damit auch für die Rückbindung an ökonomische und gesellschaftliche Kontexte. Eng damit verknüpft ist die Frage nach den Transformationen des Dorfes sowie nach dem alltäglichen Leben in den Wissenschaftsorten. Die Wissenschaftsansiedlung veränderte das Leben in den Dörfern, vor allem in Garching, wo es anfangs zu einem »clash« der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kam. Wie sich das Verhältnis von Wissenschaftlern und alteingesessenen Dorfbewohnern gestaltete, lässt sich jedoch nicht auf einen einfachen Nenner bringen; es unterschied sich nicht nur in den drei Orten, sondern wandelte sich auch historisch. Für Garching und Martinsried ist allerdings auch ein typischer Urbanisierungsprozess zu beschreiben, wie er in vielen anderen Dörfern, die nach 1945 in den Einzugsbereich städtischen Lebens gerieten, zu finden war.49 Gleichwohl waren die beiden Dörfer diesem auch in anderer Weise ausgesetzt, insofern sie eine neue Identität als Wissenschaftsorte auszuformen begannen.

Zur Geschichte der Wissenschaften im 20. Jahrhundert Eine Geschichte der Naturwissenschaften, ihrer Rolle in der Gesellschaft und insbesondere das historische Verhältnis Wissenschaft und Techsche Gehalt des Begriffs Urbanität verschwand hinter dem räumlichen Konzept, und Urbanität wurde damit in erster Linie zur Messlatte für stadträumliche Aufwertungsstrategien.«, hier S. 61. 49 Vgl. dazu: Clemens Zimmermann: »Dorf und Stadt. Geschichte ihrer historischen Beziehungsstruktur vom Mittelalter bis zur Gegenwart«, in: ders. (Hg.), Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt 2001. S. 9-28. sowie Peter Exner: »Vom Bauernhof zur Vorstadt: Metamorphosen der Landgemeinde nach 1945. Forcierte Agrarmodernisierung und dörflicher Strukturbruch am Beispiel Westfalens«, in: ebd., S. 245-267 und Thomas Fliege: »Zwischen Einkaufszentren und Umgehungsstraßen. Das Land im Suburbanisierungsprozess am Ende des 20. Jahrhunderts«, in: ebd, S. 273-283. Vgl. weiter: Werner Trossbach/ Clemens Zimmermann: Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankreich zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006 sowie die Beiträge von Peter Exner, Paul Erker und Arnd Bauerkämper in: Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert, Paderborn 1996. 26

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nik/Industrie sind für eine Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik aufgrund des Wandels der Rolle der Naturwissenschaft in der Gesellschaft nach 1945 von zentraler Bedeutung. Wissenschaft stellt mittlerweile einen wesentlichen Produktionsfaktor dar; ihre Bedeutung in Ökonomie, Politik und Gesellschaft ist kaum zu unterschätzen. Dominique Pestre betonte, dass sich in den 1970er Jahren eine Ära dem Ende zuneigte, die durch Vertrauen in die Wissenschaft und ihre Problemlösungskapazitäten, eine starke Rolle des Staates und eine Orientierung an Grundlagenforschung gekennzeichnet war. Demgegenüber beobachtete er eine massive Verschiebung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in der die Privatisierung von Wissen und eine starke Anwendungsorientierung zu dominieren begannen.50 Michael Gibbons und andere sprechen von einem »mode 2« der Wissensproduktion, der den »mode 1« abgelöst habe; sie beabsichtigen damit, ein neues Regime der Wissensproduktion zu beschreiben, das sich in jüngster Zeit herausgebildet habe und das sich durch die Verschmelzung zuvor getrennter Sphären wie Wissenschaft und Industrie, Wissenschaft und Gesellschaft auszeichne. Peter Weingart beobachtet dagegen eine engere Kopplung verschiedener Sphären.51 Die drei Orte sollen im Kontext dieser in der Forschung konstatierten Verschiebungen betrachtet werden: Kurz gesagt, lässt sich in Garching und Martinsried überdeutlich der Wandel von einem grundlagenorientierten Ort hin zu einem »Technopol«, einem »kreativen Milieu« beobachten. Die in der Nachkriegszeit wirkungsmächtige Vorstellung, nach der Investitionen in die Grundlagenforschung gleichsam automatisch zu Innovationen und ökonomischer Prosperität führten, geriet in den späten 1960er Jahren in die Krise. Die daraus resultierenden Bemühungen, neue Formen des »Technologietransfers« zu entwickeln, werden in ihrem historischen Wandel bei der Betrachtung der Orte sichtbar. Die »Ökonomisierung« der Wissenschaften lässt sich am Wandel der Wissenschaftsareale anschaulich nachverfolgen und analysieren. Seit den 1970er, vor allem aber in den 1980er und 1990er Jahren, wurden zum einen verschiedene, und sich historisch wiederum schnell wandeln50 Dominique Pestre: Science, argent et politique. Un essai d’ interprétation, Paris 2001. 51 Michael Gibbons, u.a.: The new production of knowledge. The dynamics of science and research in contemporary societies, London 1994, Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons: Wissenschaft neu denken. Wissen und Öffentlichkeit in einem Zeitalter der Ungewißheit, Weilerswist 2004, S. 209. (Die englische Version »Re-Thinking Science« erschien 2001), P. Weingart, Die Stunde sowie Peter Weingart: Neue Formen der Wissensproduktion: Fakt, Fiktion und Mode. TA-Datenbank-Nachrichten 8 (1999), S. 48-57. 27

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de Institutionen des Technologietransfers eingerichtet, zum anderen erfolgte die Integration anwendungsorientierter Institute und von Unternehmen in die Orte. Orte und Plätze für die Kommunikation und den Austausch von Wissenschaft und Industrie wurden geschaffen. Während sich die unternehmerische Forschung zunehmend verwissenschaftlichte, ökonomisierten sich die Wissenschaften. Die Analyse der räumlichen Materialisierung, der Architektur sowie der städtebaulichen Realisierung der wissenschaftspolitischen bzw. – im Falle Neuperlachs der unternehmerischen – Konzepte und Vorstellungen der Wissensproduktion zeigen, wie sich wissenschaftliche und unternehmerische Forschung in ihrer Organisationsstruktur aneinander anglichen und sich dabei gleichermaßen des Topos der »kreativen Stadt« bedienten. Der Modus der Wissensproduktion wurde ein urbaner. Eine Betrachtung der Wissenschaftsorte gibt Aufschluss über Konzepte der Wissenschaftsorganisation, über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Darüber hinaus verbindet der Blick auf die Bauten, die räumliche Struktur der Orte, auf die Topographie diesen Strang der Erzählung mit der Geschichte der Stadt. Denn, wie zu sehen sein wird, sind die Konzepte der Stadtplanung und der Wissenschaftsorganisation in gewisser Weise parallel: sie basieren beide anfangs auf Konzepten der Separation verschiedener Sphären (der Funktionstrennung in der Stadtplanung einerseits, der Trennung von Wissenschaft und Industrie andererseits) während schließlich – seit den 1970er Jahren – versucht wird, diese zu integrieren, zu vermischen bis hin zum Bemühen, die Wissenschaftsstandorte zu urbanisieren.

Euphorie und Widerstand vor Ort War die Zeit seit der Industriellen Revolution gleichzeitig von Widerständen, Kritik und Abwehr gegenüber Technik sowie von Hoffnungen, Erwartungen und vielerlei Visionen auf ein besseres Leben durch Wissenschaft und Technik charakterisiert, wird in der Forschung ein Bruch in den 1970er Jahren diagnostiziert. Seitdem erodierte das grundsätzliche Vertrauen darauf, dass Wissenschaft und Technik Garanten gesellschaftlichen Fortschritts seien. Wenn die Haltung der lokalen Bevölkerung in Garching, in Martinsried und in Neuperlach gegenüber dem Wandel, der Überformung ihrer Orte zu Wissenschaftsstädten bzw. Standorten dreier jeweils für ihre Zeit neueste Technologien (Atomphysik, Mikroelektronik und Biotechnologie) analysiert wird, soll einerseits das Spezifische lokaler Einstellungen und Argumentationsweisen gegenüber Wissenschaft und Technik seit dem Zweiten Weltkrieg bis heute in den Blick genommen werden. 28

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Andererseits kann es nicht darum gehen, bei der Beschreibung lokaler Einstellungen und Attitüden stehen zu bleiben. Vielmehr soll gefragt werden, inwieweit sich die in der Forschung konstatierte Zäsur in den 1970er Jahren in den Orten bemerkbar macht; gleichzeitig sollen die lokalen Interessen, Ziele und Diskurse in nationale und internationale Entwicklungen und Diskurse eingebettet werden, um so der Frage nach der Räumlichkeit von Wissenschafts- und Technikdiskursen nachgehen zu können. Damit kommen lokale Protestbewegungen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die – zumeist sozial- und politikwissenschaftliche – Forschung widmete sich vor allem den neuen sozialen Bewegungen, wobei lokaler Protest in der Regel als Ausgangspunkt oder als Basis für übergreifende Bewegungen analysiert, also tendenziell nicht als eigenständiges Phänomen betrachtet wurde. Wie Neidhardt/Rucht konstatierten, wuchs jedoch die Zahl der Proteste, die rein lokalen Horizont haben und sich rein lokal mobilisieren, in den letzten Jahren stark. Sie sprechen vom »Parochialismus«52. Dabei ist das Verhinderungspotential lokaler Proteste enorm angestiegen und häufig reichen ihre Wirkungen über das Lokale hinaus. Grund genug, um lokale Protestbewegungen näher in den Blick zu nehmen. Dabei wird sich zeigen, dass die lokalen Diskurse und Proteste um die Wissenschafts- und Technikansiedlung, vor allem in Martinsried (Biotechnologie) und Neuperlach (Mikroelektronik) von der Technologie abstrahieren und tatsächlich im Sinne des »Parochialismus« rein mit lokalen Interessen und Befindlichkeiten argumentieren. Die nationalen und internationalen Debatten um diese Technologien wurden kaum bzw. gar nicht zur Kenntnis genommen, vielmehr verharrten die lokalen Protestbewegungen auf der lokalen Ebene und bedienten sich lokaler Argumente. Anders stellt sich der Fall in Garching angesichts der Auseinandersetzung um einen neuen Forschungsreaktor in den 1990er Jahren dar. Die Politisierung der Kernkraftdebatte machte die Ereignisse in Garching zu einem Streitpunkt überlokalen Interesses. Schließlich änderten sich mit der gestiegenen Protestbereitschaft der Bevölkerung die Kommunikationsformen von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Dieser Wandel soll im Hinblick auf neuere Thesen der Wissenschaftsforschung, die teilweise von neuen partizipatorischen Politikformen, der »Ko-Produktion« von Wissenschaft durch eine Vielzahl gesell-

52 Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht: »Protestgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Dieter Rucht (Hg.), Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001, S. 27-70, hier S. 52. 29

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schaftlicher Akteure ausgehen, analysiert werden.53 Der Blick auf die Geschichten der drei Orte zeigt, dass in dem Moment, in dem der Ausbau der Forschungsareale seit den 1970er, vor allem aber seit den 1990 Jahren, auf massive Kritik und heftige Widerstände stieß, denen ein nicht unerhebliches Verhinderungspotential innewohnte, ein veränderter Umgang der Wissenschaftler mit der lokalen Bevölkerung notwendig wurde. Deren Anspruch, mitzureden und mitzuentscheiden, stellte Wissenschaft und Politik vor neue Herausforderungen. Die Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und lokaler Öffentlichkeit wandelte sich mithin mit den zunehmenden Protesten in eine stärker dialogische Form, ohne dass dabei allerdings »traditionelle Aufklärungsmodelle« obsolet geworden wären.

Zur Geschichte der Bundesrepublik Die drei Topoi – Stadt, Wissenschaft sowie die Haltungen der Bevölkerung und deren Proteste – berühren zentrale Aspekte der Geschichte der Bundesrepublik. Zwar ist das Forschungsfeld hinsichtlich der Stadtgeschichte gut bestellt, doch gehört weder die Stadtgeschichte, und schon gar nicht die Geschichte und Bedeutung lokaler Protestbewegungen zum mainstream historischer Forschung. Noch viel weniger gilt dies für die Rolle der Wissenschaften, die in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft noch nicht ihren rechten Platz gefunden hat. Allerdings lassen sich in jüngster Zeit weit reichende Vorschläge beobachten, das Konzept der »Wissensgesellschaft« – ursprünglich ein genuin soziologisches Konzept, bei Daniel Bell gar im Sinne einer Diagnose einer möglichen zukünftigen Entwicklung konzipiert – im Kontext der Debatte um die Bestimmung von Zeitgeschichte nutzbar zu machen. Margit Szöllösi-Janze schlug vor, die historischen Dimensionen, die der soziologische Entwurf der »knowledge society« berge, »für eine Neukonzeption von Zeitgeschichte (zu) nutzen«.54 Auch Lutz Raphael verwies bereits Mitte der 1990er Jahre darauf, dass die strukturierende Kraft von Wissenschaft in der geschichtswissenschaftlichen Forschung bislang noch nicht genügend Beachtung gefunden hätte, jedoch notwendig sei: 53 H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft sowie Helga Nowotny: »Rethinking science: From reliable knowledge to socially robust knowledge«, in: Wolf Lepenies (Hg.), Entangled Histories and Negotiated Universals. Centers and Peripheries in a Changing World. Frankfurt/New York 2003, S. 14-31, Ulrike Felt: »Scientific Citizenship«, in: Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen. Lebensläufe – Laufbahnen. Veränderte Verhältnisse zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, 11. Heft, Frühjahr 2003. 54 M. Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft, S. 284. 30

ORTE DES W ISSENS

»Die inzwischen so bewährte und beliebte Gliederung der gesellschaftsgeschichtlichen Teilbereiche in Form des Viererschemas: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, wie sie nicht zuletzt in den großen Gesamtdarstellungen des 19. Jahrhunderts dominiert, scheint mir völlig unzureichend, um die neuen Konstellationen zu erfassen.«55

Damit wird die zentrale Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die Entwicklung des 20. Jahrhundert betont: »Wirklich neu am 20. Jahrhundert«, so im Rückblick Hans-Peter Schwarz unter Verweis auf Karl Jaspers, sei »das Zusammenwirken von moderner Industrie, Naturwissenschaft und Technik«.56 Konzepte der Wissensgesellschaft betonen die Zentralität von Wissen für gesellschaftliche Prozesse. Wissen erscheint als entscheidende Kategorie für die soziale Strukturierung der Gesellschaft, für Fragen der Macht, der Politik. Vor allem wissenschaftliches Wissen durchdringe zunehmend alle Lebensbereiche, so der Tenor. Zweifellos tendieren Historiker dazu, die gesellschaftsstrukturierenden Einflüsse von Wissenschaft und Technik zu übersehen; das Konzept der Wissensgesellschaft öffnet hier neue und zentrale Perspektiven: »Mit dem hier in Grundzügen skizzierten Forschungsansatz der knowledge society richtet sich der Fokus soziologischer und [...] historischer Forschung auf zahlreiche neue Themenfelder, nämlich im weitesten Sinne auf alle Diskurse, Vorkehrungen und Maßnahmen, die eine Gesellschaft trifft, um Wissen zu produzieren, zu reproduzieren und zu vermitteln«,57 so Szöllösi-Janze.

Nun stellt gerade die Entstehung von Wissenschaftsorten, vor allem wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um die Transformation von traditionellen Dörfern in so genannte »Wissenschaftsstädte« handelt, ein geeignetes Beispiel für die Analyse der strukturprägenden Bedeutung von Wissen und vor allem von Wissenschaft für den sozialen und ökonomischen Wandel dar. Nicht zuletzt verweist die Entstehung von »new industrial spaces« darauf, wie Wissenschaften den Raum und damit auch Gesellschaft, die sozialen Kategorien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu strukturierten. Dass eine solche Untersuchung auch die Widerständigkeiten gegen Wissenschaft, die traditionellen Beharrungs55 Lutz Raphael: »Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts«, in: Geschichte und Gesellschaft (22) 1996, S. 165-193, hier S. 188. Raphael befasst sich vor allem mit den Sozialwissenschaften, während es hier um Naturwissenschaften geht. 56 Zitiert nach M. Szöllösi,-Janze, Wissensgesellschaft, S. 285. 57 Ebd., 281. 31

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kräfte, Ungleichzeitigkeiten und die Rolle nichtwissenschaftlicher Wissensformen implizieren muss, ist selbstverständlich.

Zäsuren in der Geschichte der Bundesrepublik Im Vorhergehenden klang die Frage von Kontinuität und Diskontinuität, von Zäsuren in der deutschen Geschichte bereits mehrfach an. Seit mehr als einer Dekade ist die historische Forschung verstärkt damit beschäftigt, die Geschichte der Bundesrepublik jenseits politikgeschichtlicher Zäsuren zu periodisieren und sie in die deutsche und europäische Geschichte einzuordnen.58 Dabei wurden unterschiedlichste Segmente der Gesellschaft wie Wohlfahrt, Parteien, Verfassung, Kultur etc. untersucht.59 Aus diesen Überlegungen entstand die Rede von den »langen fünfziger Jahren«60, den »kurzen 1950er Jahren«61 oder auch den »langen 1970er Jahren«62. Nicht wenige Arbeiten tendieren zur Diagnose einer Zäsur in den 1960 und 1970er Jahren, die zugleich eine lang anhaltende Phase seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beende.63 Ulrich Herbert beschreibt einen Prozess, der in den späten 1950er Jahren einsetzte, in den 1960er Jahren eine Hochphase hatte und sich bis in die 1980er Jahre fortsetzte. Die Zeit von 1959 und 1973/74 wird als Kernphase von Wandlungsprozessen auf gesellschaftlicher Ebene bezeichnet, die unter den Begriffen »Modernisierung« und »Liberalisierung« gefasst wer-

58 Werner Conze/M. Rainer Lepsius: Sozialgeschichte der Bundesrepublik. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, M. Frese/M. Prinz (Hg.), Politische Zäsuren. Vgl. vor allem den Überblick: Axel Schildt: »Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 567-584. 59 Vgl. Martin Broszat (Hg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990. 60 Werner Abelshauser: Die Langen Fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987. 61 A. Schildt: Nachkriegszeit, S. 577. 62 Gerhard A. Ritter/Margit Szöllösi-Janze/Helmuth Trischler (Hg.), Antworten auf die ›amerikanische Herausforderung‹. Forschung in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in den ›langen‹ 1970er Jahren, Frankfurt am Main 1999 und Helmuth Trischler: »Das bundesdeutsche Innovationssystem in den ›langen 1970er Jahren‹: Antworten auf die ›amerikanische Herausforderung‹«, in: Johannes Abele/Gerhard Barkleit/Thomas Hänseroth (Hg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartung im geteilten Deutschland, Köln 2001, S. 47-70. 63 Manfred Görtemarker: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2004. 32

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den.64 Ein Sammelband, herausgegeben von Axel Schildt, Detlev Siegfried und Karl Christian Lammers sprach von den 1960er Jahren als »Scharnierjahrzehnt«.65 Adelheid von Saldern schlug vor, die 1970er Jahre als eine »Satteldekade der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« zu bezeichnen.66 Hobsbawm betont, Anfang der 1970er Jahre sei ein goldenes Zeitalter zu Ende gegangen; Krisenjahrzehnte begannen, in denen die Welt »ihre Orientierung verloren hat und in Instabilität und Krise geschlittert ist«.67 Dominique Pestre konstatiert, wie bereits erwähnt, für die Wissenschaftsgeschichte eine lange Phase vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein. Helmuth Trischler sprach im Hinblick auf das bundesdeutsche Innovationssystem davon, es habe in den 1970er Jahren ein neues Gesicht erhalten.68 Vor allem gesellschaftliche Großtheorien wie das Konzept der Postmoderne, die »reflexive Moderne« oder Konzepte der Wissensgesellschaft postulieren einen Bruch zu dieser Zeit, wobei keine Einigkeit besteht, ob es sich um einen Bruch innerhalb der Moderne (Zweite Moderne) oder um das Ende der Moderne und der Industriegesellschaft (Postmoderne, Wissensgesellschaft) handelt, und vor allem die Datierung bleibt auf dieser Markoebene zwangläufig unscharf. Im Unterschied zu solchen Großtheorien soll hier »im Kleinen« geschaut werden, wann sich in welchen Bereichen Wandlungsprozesse beobachten lassen. Die Entwicklung Garchings, Neuperlachs und Martinsrieds zu Orten der Wissenschaft setzte zu unterschiedlichen Zeiten ein: in Garching in den 1950er, in Martinsried in den 1960er und in Neuperlach als Forschungsstandort in den 1970er Jahren. In den Blick geraten dabei zudem Orte verschiedener Wissenschaften, der Atomphysik, der Biotechnologie und der Mikroelektronik, die jedoch alle drei »Schlüsseltechnologien« darstellen. Auffällig ist, dass in allen drei Orten das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts überdeutlich eine neue Phase darstellt, die sich erheblich von den 1950er und 1960er Jahren unterscheidet. Die späten 1960er, aber vor allem die 1970er Jahre können demnach als eine Transformations64 Ulrich Herbert: Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002. 65 Axel Schildt/Detlev Siegried/Karl Christian Lammers: »Einleitung«, in: dies., (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S.11-20, hier S. 13. 66 Adelheid von Saldern: »Kommunikation in Umbruchszeiten. Die Stadt im Spannungsfeld von Kohärenz und Entgrenzung«, in: dies. (Hg), Stadt und Kommunikation, S. 11-44, hier S. 14. 67 Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 20. 68 H. Trischler: Das bundesdeutsche Innovationssystem S. 49. 33

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phase beschrieben werden, in der Verschiebungen stattfanden, neue Prioritäten gesetzt wurden und neue Konzepte dominierten, die schließlich in den 1980er und 1990er Jahren eine Radikalisierung erfuhren. Diese Zäsur, so ist dabei das Interessante, findet sich sowohl in den Konzepten der Stadtplanung als auch im Modus der Organisation der Wissenschaften sowie im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Sie erfahren alle in den 1970er Jahren einen massiven Wandel, der in empirisch je unterschiedlichen Ursachenkonstellationen zu suchen ist, der jedoch in strukturell ähnlichen Entwicklungen mündete, nämlich in der Überwindung dichotomer, »separatistischer« Denkweisen zugunsten tendenziell integrativer, starre Grenzen auflösende und zuvor getrennte Sphären vermischende Konzepte. Der Topos der »kreativen Stadt, in dem sich dieser Wandel verdichtet, ist anschauliches Substrat dieser Entwicklungen. Eröffnet eine Geschichtsschreibung vom Ort her, die gleichzeitig ganz unterschiedliche Bereiche in den Blick nimmt, einerseits den Blick auf Ungleichzeitigkeiten, auf das Nebeneinander, so zeigen sich andererseits eben auch Gleichzeitigkeiten auf einer tiefer liegenden bzw. abstrakteren Ebene. Die spannende Frage bleibt dabei letztlich, warum sich zu gleicher Zeit in ganz unterschiedlichen Bereichen ähnliche Brüche und Veränderungen zeigen.

Noch ein Wort zur Methode… Die Geschichte der Bundesrepublik ist für den Zeitraum seit den 1970er Jahren bislang »weit weniger erschlossen als andere Epochen, vielmehr (ist sie) als Forschungsfeld gerade erst im Werden.«69 Die Geschichte Garchings und Martinsrieds stieß bislang kaum auf wissenschaftliches Interesse;70 die »Entlastungsstadt« Neuperlach fand dagegen in soziologischen Studien der 1970er Jahre sowie im Kontext der Aufarbeitung der Geschichte der Großwohnsiedlungen und der Geschichte des Wohnens Berücksichtigung, jedoch nicht die »Forschungsstadt« der Firma Siemens. Um die Geschichte der drei Orte zu schreiben, konnten die Quellen genutzt werden, die Historikerinnen und Historiker üblicherweise benut-

69 Andreas Rödder: Die Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, München 2004, S. 109. 70 Zu Garching vgl. Stephan Deutinger: »›Garching: Deutschland modernstes Dorf‹. Die Modernisierung Bayerns seit 1945 unter dem Mikroskop«, in: Katharina Weigand/Guido Treffler (Hg.), Neue Ansätze zur Erforschung der neueren bayerischen Geschichte, Neuried 1999, S. 223-247. 34

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zen, nämlich mannigfaches Archivmaterial71 sowie die Auswertung von Zeitschriften.72 Zeitgeschichtsschreibung ist auf der einen Seite damit konfrontiert, dass sie zuweilen vor noch verschlossenen Archiven steht; auf der anderen Seite ist sie wiederum einer Masse von Quellen ausgeliefert. Eine Geschichtsschreibung, die sich bis an die Grenze der Gegenwart heranwagt, muss zwangsläufig zu einem beträchtlichen Teil auch auf andere als archivalische Quellen zurückgreifen. So wurden zudem die Münchner Zeitungen73 ausgewertet, graue Literatur74 gesichtet, Interviews75 geführt sowie ein Fragebogen entworfen, der an über 50 Unternehmen in Martinsried versandt wurde. Darüber hinaus wurde Quellenmaterial selbst hergestellt, und zwar photographisch. Schreibt man über Orte und aus der Perspektive der Orte, möchte man deren räumliche, architektonische sowie lebensweltliche Aspekte beschreiben und spielen schließlich Raumanordnungen eine zentrale Rolle für die Argumentation, so kommt man nicht umhin, diese Orte tatsächlich zu betrachten, sie zu begehen, vor allem je näher der Untersuchungszeitraum an die Gegenwart heranrückt und das archivierte Quellenmaterial rarer wird. Zwar sind die Konzepte zur Re-Organisation der Wissenschaftsareale in Garching sowie die Planungen für Martinsried in den 1990er Jahren relativ gut dokumentiert. Doch zur Beantwortung der Frage, inwieweit die Konzepte tatsächlich umgesetzt werden bzw. inwieweit sie im Sinne ihrer eigenen Zielsetzung erfolgreich sind, waren gewissermaßen »ethnologische Ausflüge« an diese Orte notwendig. Diese wurden photographisch dokumentiert und sollen einen Strang der Argumentation darstellen. 71 Die Gemeindearchive in Garching und Planegg (Martinsried), das Stadtarchiv München, das Siemens-Archiv, München, das Max-Planck-Archiv, Berlin. Zudem ermöglichten mir Mitarbeiter des Bauamtes der TU München die Durchsicht ungeordneter Akten in den Kellergeschossen des Amtes. Einige Mitarbeiter des Siemensstandortes Neuperlach stellten mir gleichfalls ungeordnete Akten zur Verfügung. 72 Zu den Quellen der Zeitgeschichte vgl. A. Rödder: Bundesrepublik, S. 112ff. 73 Süddeutsche Zeitung und Münchner Merkur für die Zeit seit Mitte der 1950er Jahre bis in das Jahr 2003. 74 Frieder Schuh (Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern) stellte mir eine Fülle an veröffentlichten und unveröffentlichten Materialien aus den 1980er Jahren zur Verfügung. Ingrid Wundrak von der Garchinger ›Bürgerinitiative gegen den Forschungsreaktor‹ ermöglichte mir Einsicht in die Unterlagen der Bürgerinitiative. 75 Helmut Karl (langjähriger Bürgermeister von Garching), Ingrid Wundrak (Vertreterin der ›Bürgerinitiative gegen einen neuen Forschungsreaktor in Garching‹) Richard Nauman und Ulrike Höfer, beide zeitweise Bürgermeister in Planegg (Martinsried), Anja Niejaki und Herbert Stepp, Mitglieder der ›Pro-Bannwald-Initiative‹ in Martinsried. 35

2.

DER TOPOS

DER

» K R E AT I V E N S T AD T «

»Creative Cities are spaces you want to be in, places to be seen.«1 »Es ist doch die Kreativität, die New York zu einem Ort macht, den wir lieben.«2

2.1. Die Wiederentdeckung des Topos d e r » k r e a t i ve n S t a d t «

Vor nicht allzu langer Zeit wurde – zum Teil sehr provokativ und überspitzt – das »Verschwinden der Städte« prognostiziert, behauptet, Informations- und Kommunikationstechnologien würden den Status der Städte als traditionelle Orte der Wissensentstehung, -speicherung, -vermittlung und -aufbereitung in Frage stellen. So war gar die Rede vom »electronic requiem of cities«3. Mit diesen Untergangsgesängen ging jedoch zugleich eine vielstimmige Debatte um die Rolle, Bedeutung und Funktion der Stadt im 21. Jahrhundert einher. Ein Streit entbrannte, in dem die Propheten des Verschwindens von Orten, der Raumvernichtung 1 2 3

Jinna Tay: »Creative Cities«, in: John Hartley (Hg.), Creative Industries, Oxford 2005, S. 220-232, hier S. 220. New Yorks Bürgermeister Bloomberg anläßlich der Einweihung eines Kunstwerks im Central Park. Zitiert in: DIE ZEIT, 14. März 2002, S. 47. Helmut Böhme: »Konstituiert Kommunikation Stadt?«, in: Helmut Bott/ Christoph Hubig/Franz Pesch/Gerhart Schröder (Hg.), Stadt und Kommunikation im digitalen Zeitalter, Frankfurt, New York 2000, S. 13-39, hier S. 13. 37

DIE KREATIVE STADT

gegen ihre »Verteidiger« standen, die das geographisch Spezifische, die Singularität und Materialität von Orten betonten. Die Verkündungen einer digitalen Revolution, die Voraussagen, mittels der neuen Technologien würde der Raum überwunden, brachten somit auch die »Wiederkehr des Raumes« und die Neubewertung der Stadt in der theoretischen Debatte mit sich und nicht zuletzt die Gegenrede, die gerade eine gestiegene Bedeutung von nicht virtueller räumlicher Nähe, von Dichte und persönlichen Kontakten, von Urbanität postuliert und empirisch nachweist.4 Der Abgesang ist relativ rasch wieder verschwunden und dem aufgeregten Diskurs um das Ende der Städte im globalen Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechniken folgt nun eine nicht minder aufgeregte Debatte um »kreative Milieus«, »kreative Städte«, »innovative Milieus« und die »creative class«, eine Debatte, die die Bedeutung der Stadt, des Städtischen, von Urbanität für Kreativität, für Innovationen und Neuerungen betont. Das Städtische wird dabei geradezu gleichgesetzt mit Kreativität, die Stadt scheint Bedingungen zu bieten, die kreatives Arbeiten, Ideenreichtum, Innovationen und Neuerungen fördern. Diese städtischen »kreativen« oder »innovativen Milieus« stehen für Hoffnungen auf ökonomisches Wachstum, sie gelten als zentrales Element städtischer Ökonomien.5 Damit einher geht nicht nur die Diagnose, und vor allem Prognose, einer (weiteren) strukturellen Verschiebung der Ökonomie zu kulturund wissensbasierten Industrien, sondern auch der Hinweis auf neue Arbeits- und Lebensformen. Hoffnungsträger sind dabei »kreative Cluster« 4

5

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Manuel Castells und Peter Hall bezeichneten es als ein Paradox, dass in einer Zeit der weit verbreiteten Kommunikations- und Informationstechnologien einzelnen Orten, besonders Städten und Regionen, eine besondere Bedeutung zukomme: »Indeed, the most fascinating paradox is the fact that in a world economy whose productive infrastructure is made up of information flows, cities and regions are increasingly becoming critical agents of economic development«. Vgl. in: Manuel Castells/Peter Hall: Technopoles of the World, London, New York 1994, S. 7. Dieter Läpple zeigt beispielsweise, wie sich gerade die Firmen der New Economy, vor allem des Medienbereiches, in den Städten konzentrieren. Vgl. Dieter Läpple: »Das Internet und die Stadt – Virtualisierung oder Revitalisierung städtischer Arbeits- und Lebensverhältnisse«, in: Walter Siebel (Hg.), Die europäische Stadt, Frankfurt 2004, S. 406-421. Dazu vgl. auch Heßler: Stadt als innovatives Milieu, sowie Martina Heßler: »Vernetzte Wissensräume. Zur Bedeutung von Orten in einer vernetzten Welt«,. in: Technikgeschichte 70 (2003), S. 235-253 sowie die Publikation von Ulf Matthiesen (Hg.), Stadtregion und Wissen. Analysen und Plädoyers für eine wissensbasierte Stadtpolitik, Wiesbaden 2004. Vgl. z.B. Klaus R. Kunzmann: »Cultural Industries and Urban Economic Development«, in: ArtToday, 135 (2003), S. 162-167.

DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«

neuer Technologien genauso wie der Kultursektor. Kreative Branchen, seien es Designer, Künstler, Architekten, Schriftsteller, Wissenschaftler oder Ingenieure, würden zunehmend zur wirtschaftlichen Prosperität beitragen, so die Erwartung. In der Debatte um »kreative Städte« oder »kreative Industrien« oder »innovative Milieus« geht es also ganz wesentlich um ökonomische Fragen, sei es um gesamtökonomische Entwicklungen, um städtische Ökonomien oder um mittelbare Effekte wie das Image einer »kreativen Stadt« im Wettbewerb der Städte um die Ansiedlung von Unternehmen.6 Gleichzeitig ist die Debatte mit Hoffnungen auf die Renaissance der Städte verbunden, auf eine Neubewertung von Urbanität, auf die Belebung der Innenstädte. Entgegen der Trends zur Suburbanisierung sei eine »selektive Reurbanisierung« und eine »neue Zentralität der (Kern-) Städte in der Wissensgesellschaft« zu verzeichnen.7 »Kreative Städte«, so die Vorstellungen, zeichnen sich durch Urbanität, Lebendigkeit und Dynamik aus: »Creative Cities are spaces you want to be in, places to be seen. Their workshops, restaurants, and bars are both the most superficial manifestations of a creative environment [...] and the signpost of a dynamic and vibrant lifestyle.«8 Oder ähnlich: »Broadly, ›creative cities‹ is about how local urban space can be reimagined, rejuvenated and re-purposesd within a competitive global framework«.9 Auch die Namen für in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu gegründeten oder in jüngster Zeit transformierten Wissenschafts- und Technikorte wie Technopolis, Sophie-Antipolis, Biopolis, Fusionopolis oder Multi-Function-Polis unterstreichen bereits mit dem Verweis auf die Polis in ihrem Namen die Bedeutung von »Stadt« für ihre Entwicklung. Diese Beispiele aus Frankreich, Singapur, Finnland oder Australien, denen man eine Fülle weiterer Städte hinzufügen könnte, stehen zum einen in einer Tradition der Versuche, eine Idealstadt zu gründen – eine Idee, die sich über Jahrhunderte hinweg immer wieder findet und immer wieder scheitert. Zum anderen sind sie allesamt Orte von High6

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Vgl. Gert-Jan Hospers: »Creative Cities in Europe. Urban Competitiveness in the Knowledge Economy«, in: Intereconomics, September/Oktober 2003, S. 260-269. Vgl. Ilse Helbrecht: »›Technologie, Talent und Toleranz‹. Die Renaissance der Stadt in der globalen Wissensgesellschaft«, in: Buten un binnen – wagen un winnen – in Bremen Geographie erleben. Tagungsband zum 30. Deutschen Schulgeographentag Bremen, hg. von Bernd Zolitschka. Bremen 2006, S. 17-19, hier S. 18 sowie dies: »Die Wiederkehr der Innenstädte. Zur Rolle von Kultur, Kapital und Konsum in der Gentrification«, in: Geographische Zeitschrift 84 (1996), S. 194-203. J. Tay: Creative Cities, S. 220. Ebd. 39

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Tech-Industrien wie der Bio- oder der Nanotechnologie oder der Informations- und Kommunikationstechnologien. Sie bezeichnen neue Agglomerationen, meist am Rande von Städten, die sich allerdings, wie der stete Bezug auf die Polis zeigt, einer Referenz auf die Uridee der Stadt bedienen. Es geht im Folgenden allerdings weniger darum, inwieweit solche Erwartungen an ökonomische Erträge nachweisbar sind, nicht um Fragen, wie es sich tatsächlich mit der ökonomischen Nachhaltigkeit dieser »kreativen Industrien« verhält oder wie diese Kategorie, die eine Fülle quer zu bisherigen statistischen Ordnungen liegenden Branchen umfasst, überhaupt zu messen und zu erfassen ist. Der Blick wird nicht auf die Gegenwart oder gar die Zukunft gerichtet. Vielmehr ist es das Anliegen zu erklären, wie es zur Wiederentdeckung dieses Topos der »kreativen Stadt« kam, denn tatsächlich handelt es sich ja um einen sehr alten Topos, der allerdings historisch seine Konjunkturen erlebte. These ist, dass mit dessen Wiederentdeckung ein stilisiertes Idealbild der Stadt neu interpretiert wurde. Dies geschah seit den 1970er Jahren in einem ganz spezifisch historischen Kontext, den es zu rekonstruieren gilt. Dazu gehören ökonomische Faktoren genauso wie Wandlungsprozesse hinsichtlich der gesellschaftlichen Rolle von Naturwissenschaften sowie nicht zuletzt Wandlungsprozesse in den Städten selbst, auch beispielsweise Suburbanisierungsprozesse. Vor allem die stark ökonomische Konnotation der »kreativen Stadt«, die in der derzeitigen Debatte anklingt, ist ein entscheidender Faktor für die Wiederentdeckung der Stadt als Ort der Innovation und Neuerung, worauf während der Beschreibung der drei Orte zurückzukommen sein wird. Des Weiteren wird es um die angebliche Renaissance des Städtischen gehen. Hier richten sich die Erwartungen vor allem auf eine Belebung der Innenstädte. Für den Bereich der Wissenschaften und der wissenschaftlich-technischen Innovationen ist diese These der Renaissance des Städtischen allerdings schon allein dadurch fragwürdig, dass all diese kreativen oder innovativen wissenschaftlich-technischen Milieus an den Stadträndern, in der Peripherie der Städte zu finden sind. Gegen die Rede von der »Renaissance des Städtischen« wird hier die These vertreten, dass es sich bei der Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt«, wie sie seit den 1970er und vor allem seit den 1990er Jahren zu beobachten ist, vielmehr – ganz im Gegenteil – um einen frappierenden Verlust tatsächlicher urbaner Qualitäten handelt. Der Begriff des Städtischen oder der Urbanität wurde zu einem ökonomischen Werkzeug, mit dem technisch-wissenschaftliche Innovationen hervorgebracht werden sollen. Urbanität geriet zu einem Bild, denn »Wissenschaftsorte« wurden nach einem idealisierten Bild der Stadt organisiert und gebaut. Wenn vom Topos der »kreati40

DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«

ven Stadt« als handlungsleitendem Konzept die Rede sein wird, ist damit ein Konstrukt gemeint, ein Narrativ, das Handlungen figuriert, den Modus der Wissensproduktion und die räumlichen Struktur von Wissenschaftsorten konzipiert und modelliert. Die tatsächlich hoch komplexe reale Stadt, von der im Singular zu sprechen, bereits die erste Typisierung bzw. Stilisierung bildet, stellt dagegen in ihrem antiken Ursprung als Polis ein genuin soziales und politisches Gebilde dar. Indem die Konzepte der »kreativen Stadt« von der Komplexität der Stadt als einer Gesellschaftsform, als einer Form menschlichen Zusammenlebens abstrahieren und die »Stadt« in einen anderen Kontext transferieren, nämlich in den Kontext der Wissensproduktion, der Erzeugung technisch-wissenschaftlicher Innovationen, gerät die Stadt jedoch zum Topos, gar zu einer Metapher. Die »kreative Stadt« ist keine reale Stadt; vielmehr ist sie ein abstrahiertes Konzentrat, bestehend aus rhetorischen Figuren. Das meint, dass bestimmte Eigenschaften der Stadt ausgeschlossen, die Stadt von allen »Verunreinigungen« befreit wird, andere Eigenschaften dagegen eingeschlossen, überhöht und stilisiert werden.

2.2. Zum historischen Topos d e r » k r e a t i ve n S t a d t « Der Topos der »kreativen Stadt«, der heute unter den Vorzeichen eines ökonomischen Strukturwandels neue Bedeutung erfährt, ist einer, der in der Geschichte immer wieder wirkungsmächtig wurde, der aber auch Konjunkturen unterlag. War das Labor im 17. Jahrhundert bewusst als Gegenentwurf zu okkulten Formen der Wissensproduktion in der Stadt gegründet worden und gewährte jedem angesehenen Gentleman Zugang, um die Überprüfbarkeit experimentellen Wissens zu gewährleisten,10 so setzte Ende des 19. Jahrhunderts ein erster Schub der Randwanderung naturwissenschaftlicher Labore ein. Die Stadt wurde fortan als laut und störend empfundenen und zunehmend neue Orte am Rande der Städte oder weit außerhalb, auf dem Land gesucht. Hatte dies einerseits konkrete, in der Stadtentwicklung im Kontext der Industrialisierung liegende Gründe, so zeigt es zugleich die Entfremdung der Naturwissenschaften von der Lebenswelt und deren praktischen Wissen.11 Das Modell der von der Stadt abgewandt praktizierenden Wissenschaft, die Idee der un10 Vgl. Steven Shapin: A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago, London 1994. 11 Vgl. Philipp Felsch: »Das Laboratorium«, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/New York 2005, S. 27-36, hier S. 33. 41

DIE KREATIVE STADT

gestörten, klösterlichen Ruhe wird uns in den Geschichten der drei Orte wiederbegegnen, insofern es in den 1950er und 1960er Jahren dominierte, bevor die Stadt als Ort der Innovation und der Kreativität wieder entdeckt wurde. So wirkungsmächtig der Topos der »kreativen Stadt« historisch immer wieder war, Wissenschaft wurde auch auf dem Land, in der Provinz praktiziert;12 das mönchische Ideal der Abgeschiedenheit und der ausschließlichen Hingabe an die Erkenntnisgewinnung verkörperten zu bestimmten Zeiten gleichermaßen ein Ideal. Die amerikanische Tradition des Campus steht beispielsweise für das Konzept eines »academical village«, das fernab der Städte als eigenständiger Mikrokosmos fungiert.13 Historisch wurde die enge Verknüpfung von Stadt und Wissenschaft seit der Antike immer wieder betont. Oft wurde die Stadt dabei als Gegensatz zum rückständigen Land konzipiert. Aristoteles schrieb: »Des Menschen körperliches und animalisches Dasein mag durch das Land befriedigt sein, seine geistigen Bedürfnisse können nur durch die Stadt erfüllt werden.«14 Und Sokrates erklärte seinem Freund Phaidros: »Dies verzeihe mir o, Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt«15. Diese Vorstellung einer geradezu unauflösbaren Verbindung von Stadt und Wissenschaft fesselte die Aufmerksamkeit verschiedener Denker von Aristoteles und Sokrates über den muslimischen Philosophen Ibn Khaldnjn, die Utopien Thomas Morus, Tommaso Campanellas, Francis Bacons und Johann V. Andreaes bis zur heutigen Neukonzeption der »kreativen Stadt«. Georg Basalla sieht über die Jahrhunderte hinweg eine Gemeinsamkeit dieser Konzepte, die er in der Metapher des Philosophen und Denkers als Händler zusammenfasst. Die Affinität von Stadt und Wissenschaft sei in diesen Konzepten und Utopien jeweils mit der Handelsfunktion der Städte in Verbindung gebracht worden, die wissenschaftlichen Austausch stimuliere. Der Austausch von Waren habe als Modell für die Kommunikation und Diffusion wissenschaftlicher Ideen gedient.16

12 Vgl. Ian Inkster/Jack Morrell (Hg.), Metropolis and Province. 13 Vgl. Paul Venable Turner: Campus. An American Planning Tradition, Cambridge, London 1984, S. 3. 14 Zitiert nach: Dietmar Reinborn: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Köln 1996, S. 9. 15 Platon: Phaidros, 5, 230d, nach der Übersetzung von Schleiermacher. Platon. Sämtliche Werke. Bd. 4, Reinbek 1996, S. 13. 16 Vgl. George Basalla: »Science and the City before the Nineteenth Century«, in: Everett Mendelsohn (Hg.), Transformation and Tradition in the Sciences: Essays in honor of I. Bernhard Cohen, Cambridge u.a. 1984. 42

DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«

Die Rolle der Stadt für die Entstehung des Neuen, für Kreativität, für Innovationen und Wissen fand ihre Realität in der Bedeutung wissenschaftlicher Institutionen, von Clubs oder Assoziationen in den Städten. Städte, vor allem Handelsstädte, waren seit dem Mittelalter Umschlagplätze für Wissen.17 Parallel zum Aufstieg der Städte entstanden ab dem 12. Jahrhundert die Universitäten;18 die Konstituierung von Akademien in den Städten folgte im 16. und 17. Jahrhundert.19 Kaffeehäuser und Salons spielten ab Ende des 17. Jahrhunderts eine wichtige Rolle im intellektuellen Leben in europäischen Städten.20 Städte galten im Deutschland des 18. Jahrhundert als der Ort, an dem die Aufklärung als geistige und soziale Bewegung konkret wurde.21 In der Stadt des 19. Jahrhundert prägten Vereine, Assoziationen und Gesellschaften die Wissensproduktion und die Entstehung spezifischer lokaler Denkstile, wie Toulmin/Janik in ihrem bereits erwähnten Buch zu Wittgensteins Wien herausarbeiteten. Ähnlich betont die aktuelle stadtsoziologische sowie auch wissenschaftshistorische Forschung die enge Verbindung von Stadt und Kreativität. Häußermann/Siebel formulierten beispielsweise in ihrem Buch »Neue Urbanität«: »Auch die neuzeitliche (Natur-)Wissenschaft hat sich überwiegend in den Städten entwickelt. [...] Die Ursprünge neuzeitlicher Kultur, Kunst, Technik und Wissenschaft waren städtisch«.22 Hubert Laitko bezeichnete die Stadt als »Grundeinheit der geographischen Bindung von Wissenschaft«.23 Dies gilt auch für die Künste und tatsächlich weckt die Verbindung von Kreativität und Stadt zuallererst Assoziationen an Künstlermilieus, Schriftsteller, Musiker. Städte wie Berlin, Wien, Zürich, New York, Paris, London sind die häufig zitierten Beispiele für das 19. und frühe 20. Jahrhundert, wobei Kreativität zumeist in bestimmten Vierteln lokalisiert wird. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts avancierte beispielsweise auch Köln zu einem Zentrum avantgardistischer Kunst, von dem ein Teil der Fluxus-Bewegung ihren Ausgang nahm. Jed Perl beschrieb kürzlich Manhattan als Kunstmetropole der 1950er und 1960er Jahre.24

17 Vgl. Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2002, S. 50 und S. 77f. 18 Vgl. ebd., S. 46. 19 Vgl. ebd., S. 49f. 20 Vgl. ebd., S. 63, vgl. auch Hård/Jameson: Hubris and Hybrids. 21 Richard Toellner (Hg.), Aufklärung und Humanismus, Heidelberg 1980. 22 H. Häußermann/W. Siebel: Neue Urbanität, S. 96f. 23 H. Laitko: Der Raum der Wissenschaft, S. 329. 24 Jed Perl: New Art City. Manhattan und die Erfindung der Gegenwartskunst, München, Wien 2006. 43

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Fokussiert man auf das, was in diesen vielfältigen und ganz unterschiedlichen Beschreibungen von Wissenschaftsstädten, von Kunstmetropolen, von »kreativen Städten« immer wieder auftaucht, so kristallisiert sich der Topos der »kreativen Stadt« heraus, wie er sich über Jahrhunderte findet und heute neue Bedeutung erfährt. Zusammengefasst gilt nicht nur die Infrastruktur der Wissenschaft, die – mit Orten wie Bibliotheken, Universitäten, Akademien und Forschungseinrichtungen, Kaffeehäusern und Vereinen – die Bedingungen für Wissenserwerb, Wissensvermittlung und Wissensentstehung bietet, als Kern der »kreativen Stadt«, sondern vor allem die Eigenschaft der Stadt als sozialer Raum, als Raum der Interaktion. Simmel sah in der Größe, Dichte und Heterogenität der Stadt die Quelle ihrer Produktivität. Charles Landry kategorisierte diese beiden Ebenen, indem er von der »hard« und der »soft infrastructure« sprach, um die Bedingungen für Kreativität in den Städten zu fassen, die sich in sozialräumlich konzentrierten Milieus organisieren. »A creative milieu is a place – either a cluster of buildings, a part of a city, a city as a whole or a region – that contains the necessary preconditions in terms of ›hard‹ and ›soft‹ infrastructure to generate a flow of ideas and inventions. Such a milieu is a physical setting where a critical mass of entrepreneurs, intellectuals, social activists, artists, administrators, power brokers or students can operate in an open-minded, cosmopolitan context and where face-to-face interaction creates new ideas, artefacts, products, services and institutions and as a consequence contributes to economic success«.25

Die »hard infrastructure« bezeichnet dabei die materiellen Bedingungen, angefangen von den Gebäuden, der Architektur über Bibliotheken, das Vorhandensein von Instituten, Universitäten bis zu öffentlichen Plätzen und Räumen, während die »soft infrastructure« die sozialen Netzwerke, die informellen Gruppen und Kontakte, die Interessensnetzwerke meinen, die Landry als Forum für das Entstehen von Kreativität und neuen Ideen betont. Ähnlich hatte Peter Hall in seiner monumentalen Untersuchung über den Zusammenhang von Kreativität und Stadt nach gewissermaßen überzeitlichen Bedingungen für Innovationen, für Kreativität in Städten gefragt.26 Er nimmt fast die gesamte Menschheitsgeschichte in den Blick, vom Athen des Perikles bis zum Silicon Valley sowie auch jüngste Entwicklungen wie die »kreative Milieus« der neuen Medien, Kunst oder Wissenschaft. Hall unterteilt sein Buch in künstlerisch-kulturelle und in naturwissenschaftlich-technische kreative Städte sowie in Städte 25 C. Landry: The Creative City, S. 133. 26 Vgl. P. Hall: Cities in Civilization. 44

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wie beispielsweise Los Angeles, in denen Massen- und Popkultur gedeihen. Das Buch schließt mit Untersuchungen der Innovationen, die Städte zur Lösung ihrer eigenen technischen, infrastrukturellen, ökonomischen oder sozialen Probleme entwickelten. Bei aller Disparität, allem Partikularismus und der enormen Unterschiedlichkeit der Städte erweisen sich, so Hall, eine gewisse Größe, ein gewisses Maß an Wohlstand, das Vorhandensein von kommunikativen Netzwerken, von Heterogenität und von Außenseitern und Fremden sowie die Existenz von Instabilitäten als zentrale Elemente der Kreativität. Prägnant lässt sich dies in einer Negativformulierung zusammenfassen: »Conservative, stable societies will not prove creative.«27 Für die naturwissenschaftlich-technischen »innovativen Milieus« betont Hall zudem das Vorhandensein egalitärer sozialer Strukturen und eine Konkurrenz, die gegenseitiges Lernen ermögliche und beflügele.28 Entscheidend ist hier nicht, ob es tatsächlich unhistorische, universell gültige Bedingungen für die Entstehung des Neuen, für Kreativität gibt, was Historiker/innen qua Profession tendenziell eher anzuzweifeln versucht sind. Entscheidend ist vielmehr, dass historisch immer wieder ähnliche Eigenschaften der Stadt im Kontext mit Kreativität und Innovation genannt werden, die sich heute im Topos der »kreativen Stadt« verdichten. So konstatierte beispielsweise auch Peter Burke: »Die öffentlichen Räume der Städte begünstigten die Wechselbeziehungen zwischen Geschäftsleuten und Männern der Gelehrsamkeit, zwischen Handwerkern und Männern vom Stand, zwischen Praxis und Studium, kurz: zwischen verschiedenen Arten von Wissen. Bestimmte Formen der Sozialbilität haben seit jeher die Verbreitung und sogar die Erzeugung von Wissen beeinflusst und tun es bis heute«.29

Die Entstehung, Vermittlung und Verbreitung von Wissen ist, so wurde über Jahrhunderte hinweg immer wieder betont, mit Kommunikation und Austausch verbunden: »Intellektuelle Debatten sind ja stark durch die Formen von Soziabilität bestimmt und durch die sozialen Netzwerke, in denen sie stattfinden, vom Seminarraum bis zum Kaffeehaus«30. Die Humanisten entwickelten ihre Ideen in der Diskussion, wie Peter Burke betonte,31 die Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert entstand im Kontext des Pariser Salons.32 Die Formierung von Wissenschaftsstädten im 18. und 19. Jahrhundert vollzog sich über Vereine, Assoziationen, 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 286. Vgl. ebd., S. 494. P. Burke: Papier, S. 72. Ebd., S. 58. Vgl. ebd., S. 49. Vgl. M. Hård/A.Jamison: Hubris and Hybrids, Kapitel 5. 45

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Foren der Geselligkeit. Dies wurde beispielsweise in Arbeiten von Hård und Aase zu Trondheim im 18. Jahrhundert,33 von Arnold Thackray zu Manchester im späten 18. und frühen 19. sowie in Robert Kargons Studie zu Manchester im 19. Jahrhundert aufgezeigt.34 Ein Band von Inkster/Morell beschrieb dies für britische Städten im Zeitraum von 1750-1850.35 Jed Perl wiederum betonte in seinem Buch zu Manhattan als Kunstmetropole Eigenschaften wie eine »dissonante Harmonie, die die Stärke der Stadt ausmachte«; Perl charakterisiert New York zu dieser Zeit als eine »heterogene Kosmopolis«, in der die »Gegenwart verschiedenster Vergangenheiten« zu spüren war; es beschrieb New York als eine Stadt voller Gegensätze, Heterogenität und Komplexität.36 Der Austausch, die kommunikative Dichte, das (informelle) Gespräch, Pluralität und Heterogenität, die Anwesenheit des Fremden gelten also als Kernelemente, die die Stadt als Sitz der Wissenschaft prädestinieren – und auf diesen Topos wird immer wieder zurückzukommen sein.

2.2.1. Die Stadt als Ort der Technik Städte galten und gelten gemeinhin nicht nur als Ort der Wissenschaft, sondern auch im Hinblick auf technische Innovationen als Ort der Entstehung des Neuen, als Quelle des »Fortschritts« und als Motor ökonomischen Wachstums.37 Joel Mokyr betonte dagegen, dass es zwar für die Annahme, dass sich technologischer Wandel eher in Städten vollziehe, gute Gründe gäbe, denn schließlich fände sich in Städten eine höhere Interaktionsdichte, Städte gelten als »clearinghouse« für Ideen und Information, ihre Heterogenität beflügele die Kreativität.38 Gleichwohl kommt

33 Monica Åase/Mikael Hård: »›Det norske Athen‹. Trondheim som lärdomsstad under 1700-talets andra hälft« in: Lychnos: Annual of the Swedish History of Science Society, 1998, S.37-74. Eine deutsche Übersetzung lag vor. 34 Robert H. Kargon: Science in Victorian Manchester, Manchester 1977. 35 I. Inkster/J. Morrell (Hg.), Metropolis and Province. 36 Vgl. J. Perl: New Art City, S. 47ff. 37 Vgl. z.B. Ester Boserup: Population and Technological Change, Chicago 1981 und Paul Bairoch: Cities and Economic Development, Chicago 1988 sowie ders: »The City and Technological Innovation«, in: Patrice Higonnet/David Landes/Henry Rosovsky (Hg.), Favourites of Fortune: Technology, Growth, and Economic Development since the Industrial Revolution. Cambridge 1991, S. 169. 38 Vgl. Joel Mokyr: »Urbanization, Technological Progress, and Economic History«, in: Herbert Giersch (Hg.), Urban Agglomeration and Economic Growth, Heidelberg, Berlin 1995, S. 3-38, hier S. 9f. 46

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er für die Zeit von 1500 bis zur Industriellen Revolution39 zu dem Ergebnis: »All the same, by questioning the assumptions underlying the hypothesis and looking in some detail at historical case studies, it is possible to show that easy generalizations about the positive role of cities in technological progress are historically false«.40

Und weiter: «Science was clear an urban phenomenon; technological progress was not«.41 Dies sei, so Mokyr, wenig überraschend, denn bis 1850 entwickelten sich Wissenschaft und Technik in zwei getrennten, wenn auch parallel verlaufenden Bahnen. Typisch städtische Phänomene wie die Agglomeration von Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Institutionen wie Bibliotheken und Universitäten seien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts für die technische Entwicklung allenfalls am Rande von Bedeutung gewesen.42 Vor 1750 war technischer Wandel in Europa, so seine klare Aussage, kein vorwiegend städtisches Phänomen. Dies änderte sich mit der industriellen Revolution. Wichtig wurden nun Städte wie Manchester, Birmingham, Sheffield, Glasgow, in denen sich Wissenschaftler, Techniker, Unternehmer und Kaufleuten in wissenschaftlichen Vereinen und Institutionen zu verbinden begannen. Mokyr betont die Bedeutung dieser wissenschaftlichen Gesellschaften, in denen sich unterschiedliche Akteure trafen. Kurz gesagt: Je wichtiger die Verbindung von Wissenschaft und Technik wurde, desto größer wurde die Bedeutung der Städte, bis hin zur Entstehung der »new industrial spaces« oder dem Versuch, mit der Gründung neuer »kreativer Städte« gezielt Verflechtungen von Wissenschaft und Technik und damit ökonomische Prosperität hervorzubringen.

39 40 41 42

Vgl. ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 18. 47

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2.3. Wissenschaftsstädte, Technopole, » k r e a t i ve S t ä d t e « i n i n t e r n a t i o n a l e r P e r s p e k t i ve Die Vorstellung Stadt und Kreativität, Stadt und Wissenschaft gehörten untrennbar zusammen, ist nicht nur ein historisch ausgesprochen altes Phänomen, sondern auch ein international zu findendes Ideal. Beschränkt man sich allein auf das 20. Jahrhundert, so zeigen sich zumindest in West- und Osteuropa, USA und Asien mannigfache Versuche, neue Wissenschaftsstädte oder Orte der Kreativität, Orte von Wissenschaft und Technik zu gründen. Dabei stellen diese geplanten oder auch nur politisch stark forcierten »Wissenschaftsstädte«, »kreativen Städte« bzw. »Technopole« des 20. Jahrhunderts ein gänzlich anderes Phänomen dar als Städte des 18. und 19. Jahrhunderts wie beispielsweise Berlin, Manchester, Wien, Philadelphia und viele andere Städte, in denen sich aufgrund spezifisch städtischer Bedingungen bestimmte wissenschaftliche Milieus entwickelten. Wissenschaftsstädte lassen sich – je nach ihrer historischen Entstehungszeit – unterschiedlich kategorisieren. So existierten die vom 12. bis zum 19. Jahrhundert entstandenen Wissenschaftsstädte bereits, bevor sie als solche bezeichnet wurden. Für sie spielte die Gründung von Universitäten, Instituten, Bibliotheken, Gesellschaften, Salons, Kaffeehäusern eine maßgebliche Rolle. Das 20. Jahrhundert, vor allem die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, zeichnet sich im Unterschied dazu durch die Tendenz von Seiten der Politik, der Wirtschaft und auch der Wissenschaft aus, »kreative Städte« neu zu gründen, sie neu zu schaffen. Die Liste dieser Neugründungen bzw. Transformationen bestehender Städte oder Dörfer ist lang: das amerikanische Los Alamos,43 das sowjetische Akademgorodok,44 das französische Sophie-Antipolis,45 Cartuja bei Sevilla, das japanischen Tsukubu,46 Adlershof bei Berlin,47 und natürlich die in dieser Arbeit im Zentrum stehenden drei Wissenschaftsorte Garching, Neuperlach, Mar43 Vgl. Carl Abbott: »Building the Atomic Cities. Richland, Los Alamos, and the American Planning Language«, in: Bruce Hevly/John M. Findlay (Hg.), The Atomic West, Washington, Seattle, London 1998, S. 90-115. 44 Vgl. Paul R. Josephson: ›New Atlantis Revisited‹. Akademgorodok, the Siberian City of Science, Princeton, New Jersey 1997. 45 Vgl. Rosemary Wakeman: »Planning the New Atlantis: Science and the planning of Technopolis, 1955-1985«, in: Osiris. 18 (2003), S. 255-270. 46 Vgl. zu den drei letzen Beispielen: M. Castells/P. Hall, Technopoles. 47 Vgl. Friedemann Kunst: »Leitbilder für Berliner Stadträume – der »innovative Nordosten« und die »Wissenschaftsstadt Adlershof««, in: Heidede Becker/Johann Jessen/Robert Sander (Hg.), Ohne Leitbild? - Städtebau in Deutschland und Europa, Stuttgart, Zürich 1998, S. 205-214. 48

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tinsried, um nur einige zu nennen. Diese Neugründungen oder Neuentwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen sich wiederum – je nach der Zeit ihrer Gründung – in zwei Kategorien einteilen, nämlich in Wissenschaftsstädte und Technopole bzw. »kreative Städte«.

2.3.1. Wissenschaftsstädte Die in den 1950er und 1960er Jahren gegründeten Wissenschaftsstädte zeichnen sich vor allem durch drei Aspekte aus: Erstens sollte die Agglomeration von wissenschaftlichen Instituten an wenigen, zentralen Orten, vor allem in den Hauptstädten, reduziert werden, um eine Dezentralisierung von wissenschaftlicher Forschung zu fördern. Zweitens wurden, eng damit verknüpft, Wissenschaftsstädte als Instrument zur regionalen Entwicklung betrachtet. Drittens wurden sie, und dies war mithin das Wichtigste, als Unterstützung wissenschaftlicher Entwicklung betrachtet, die langfristig der gesamten Gesellschaft zu gute kommen würde: »[...] considered a positive aim in its own right, in the hope that better scientific research will progressively percolate through the entire economy and the whole social fabric«.48 Die Konzepte zu Gründungen von »Wissenschaftsstädten« waren in den 1950er und 1960er Jahren vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie von staatlicher Seite mit dem Ziel geplant und finanziert wurden, die nationale Forschung, in der Regel reine Grundlagenforschung ohne direkte Verbindung zur Anwendung, zu fördern. Die Konzepte dieser Stadtgründungen orientierten sich häufig an einer Tradition und einem Wissenschaftsverständnis, dass die Isolation von der Gesellschaft, von den Ablenkungen des alltäglichen Lebens suchte, in dem die Wissenschaftler ungestört und vorwiegend unter sich, forschen konnten – eine Tradition, die eher an das Ideal des mittelalterlichen Klosters anschloss.49 Mit anderen Worten: das Ideal war eine von kurzfristigen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Forderungen unabhängige Forschung, wie sie beispielsweise in Bacons »New Atlantis« beschrieben wurde, wo Forscher in Salomons Haus um der Erkenntnis willen alle Geheimnisse der Natur erforschen konnten, woraus jedoch schließlich, so die Vorstellung, zwangsläufig Wohlstand, Gesundheit und Frieden resultierten. Dass diese Utopie auch im 20. Jahrhundert als Modell diente, zeigen sowohl Paul Josephson für die sibirische Stadt

48 M. Castells/P. Hall: Technopoles, S. 39. 49 Vgl. ebd., S. 39. 49

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Akademgorodok50 als auch Sheridan Tatsuno für die japanische Wissenschaftsstadt Tsukubu.51

2.3.2. Kreative Milieus, Kreative Städte, Technopole Seit den 1970er Jahren werden kaum noch reine »Wissenschaftsstädte« gegründet, sondern vielmehr Orte, die Wissenschaft und Industrie, Universitäten und Unternehmen integrieren. Seitdem, und verstärkt seit den 1990er Jahren, wurden diese Orte, die häufig auf Grundlagenforschung fokussiert waren, tendenziell in »kreative Milieus«, »kreative Städte« oder »Technopole« zu transformieren versucht bzw. gänzlich neue »kreative Städte« ex nihilo gegründet. Es handelt sich dabei um eine international zu beobachtende Entwicklung. Manuel Castells und Peter Hall sowie Smilor, Kozmetsky und Gibson untersuchten »Technopole« in einer weltweit vergleichenden Perspektive.52 Castells/Hall bezeichnen dies als »planned centres for the promotion of high-technology industry«.53 Sie verglichen Regionen wie das Silicon Valley, Bostons Highway 128, das französische Sophie-Antipolis sowie Metropolen wie London, Paris und Tokyo. Hier gerieten vor allem ökonomische Fragen nach dem Erfolg dieser Regionen/Städte im Hinblick auf das Hervorbringen von technischen Innovationen sowie nach den Bedingungen hierfür in den Blick. Castells/Hall interpretieren diese Technopole als Indikatoren eines fundamentalen Wandels: im Kontext der Informationsgesellschaft seien sie Ausdruck für eine grundsätzliche Veränderung von Städten und Regionen. Sie beobachten weltweit die Ansiedlung von Technopolen in den Peripherien der Städte; sie würden sich auffällig ähneln, unabhängig davon, ob sie am Rande von Cambridge, England, Cambridge, Massachusetts oder München zu finden seien. In der Tat stellen sie die »neuen« Wissenschaftsstädte dar, die eigentlich keine »Wissenschaftsstädte« mehr sind, sondern High-Tech-Orte, die in der Regel als »innovative« oder »kreative Milieus« firmieren und sich durch eine Integration von Wissenschaft und Technik, von Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen auszeichnen und vor allem das Ziel haben, wissenschaftlich-technische Innovationen hervorzubringen. Edge Cities, wie Joel Garreau sie be50 Vgl. P Josephson: New Atlantis, S. xiii. 51 Vgl. Sheridan Tatsuno: »Building a Japanese Technostate: MITI's Technopolis Program«, in: Raymond W. Smilor/George Kozmetsky/David V. Gibson (Hg.), Creating the Technopolis: Linking Technology Commercialization and Economic Development, Cambridge, Mass. 1988, S. 3–21. 52 Vgl. ebd. sowie M. Castells/P. Hall: Technopoles. 53 Ebd., Vorwort. 50

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schrieb, stellen einen Typus dieser weltweit in ähnlicher Form zu findenden Technopole dar. Einer der Orte, der hier als Vorbild zu einem Mythos wurde, ist das Silicon Valley. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich im agrarisch geprägten Santa Clara County, südlich von San Francisco eine hohe Zahl von Halbleiterfirmen angesiedelt. Bereits in den 1930er Jahren hatte sich aufgrund der Initiative von Frederick Terman, Professor an der Stanford University, eine enge Kooperation zwischen Universität und Industrie entwickelt. Anfang der 1950er Jahre wurde der Stanford Industrial Park zur Forcierung dieser Zusammenarbeit gegründet. In der Folgezeit entwickelte sich diese Region zur weltweit beachteten High-TechRegion. 1971 taufte ein Journalist das Gebiet südlich von San Francisco »Silicon Valley«. Er beschrieb den Aufstieg der Halbleiterindustrie in dieser Region, und spätestens seitdem wurde das Silicon Valley zum Mythos. Es steht für ökonomischen Erfolg, für Erfindergeist und eine ausgeprägte und innovative Gründerkultur. Die Tatsache, dass diese Region, die noch in den 1920er und 1930er Jahren agrarisch dominiert war, 40 Jahre später zum führenden Zentrum der US-amerikanischen Elektronik-Industrie geworden war, provozierte vielerlei Erzählungen, Studien und Forschungen. Politiker und Ökonomen bastelten Rezepte, wie ihre Region das nächste Silicon Valley werden könnte – oft zur Enttäuschung aller Akteure, da sich das Modell nicht so einfach kopieren ließ. Die Forschung fragte immer wieder nach den Erfolgsfaktoren, danach, was das Silicon Valley einzigartig macht und den Erfolg erklären könnte;54 es ist ein immer wieder zitiertes Bespiel für ein »kreatives Milieu«, allerdings gerade keine Stadt. Gleichwohl, schon allein die eingangs genannte häufige Referenz auf den Begriff der »Polis« zeigt, dass die Mehrzahl der »kreativen Milieus« in einem spezifischen Verhältnis zur Stadt steht. Das französische Sophie-Antipolis beispielsweise wurde als »city of science and wisdom« konzipiert und als das neue »Florenz des 21. Jahrhunderts« bezeichnet.55 All diese Beispiele sind sowohl Ausdruck einer neuen Rolle von Städten in der »Wissensgesellschaft« als auch eines neuen Verhältnisses von Wissenschaft und Industrie. Diese in den 1970er Jahren einsetzende

54 Vgl. AnnLee Saxenian: Regional Advantage. Culture and Competition in Silicon Valley and Route 128, Cambridge, Mass. et al 1994 sowie Christophe Lécuyer: Making Silicon Valley. Innovation and Growth of HighTech, 1930-1970, Cambridge 2006 und Alexander Gall: Deutsche Silicon Valleys? Mikroelektronische Forschung in der Fraunhofer-Gesellschaft und die Forschungspolitik der Bundesländer in den 1980er Jahren. Arbeitspapier 1999, http://www.mzwtg.mwn.de /arbeitspapiere/gall_fhg.pdf 55 Vgl. R. Wakeman: Planning, S. 262. 51

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Entwicklung setzt sich bis heute fort und findet ihre Zuspitzung in der derzeitigen Debatte um die »kreative Stadt«. So lassen sich gerade am Ende des 20. Jahrhunderts neue geplante Großprojekte beobachten wie beispielsweise Cartuja 93, das in Sevilla auf dem ehemaligen Expogelände entstand, sowie die so genannte Multi-Function-Polis bei Adelaide (MFP Adelaide), Australien. Letzteres stellt ein besonders ambitioniertes Projekt dar: In Australien entwickelte 1987 ein australisch-japanisches »Ministerial Committee« die Idee, eine neue Stadt mit Namen »Multi-Function-Polis zu gründen.56 Sie sollte die zukunftsorientierten High-Tech-Branchen fördern, eine internationale Drehscheibe in der Pazifischen Region werden und zugleich sollte sie, wie so oft bei den Stadtneugründungen, eine Idealstadt verkörpern, was in der Vorstellung der Gründer auf einen neuen, zu kreierenden »life-style« hinauslief. Geplant war eine Stadt von 40.000-50.000 Einwohnern.57 Dabei war es das Bestreben, einen neuen Lebensstil zu etablieren, der gewissermaßen prototypisch ist für die Vorstellung der »kreativen Stadt«, in dem die Aufhebung separierter Sphären und traditioneller Dichotomien wie Arbeit und Freizeit, privat und öffentlich vorangetrieben wird. Ziel war »the creation of a new kind of milieu combining work, leisure, health, and education within a single new city«. Die Gründer verstanden es daher auch als ein »social model for the 21st century«.58 Die seit den 1970er Jahren gegründeten weltweit zu findenden »kreativen Städte« zeichnen sich mithin durch bestimmte Charakteristika aus, die uns auch in den Fallstudien wiederbegegnen werden. Sie sind, wie gerade schon gezeigt, Orte von Wissenschaft und Technik, es geht in ihnen nicht mehr in erster Linie um die Steigerung wissenschaftlicher Exzellenz und weltabgewandte Grundlagenforschung. Des Weiteren imitieren sie städtische Strukturen; sie lehnen sich an den Topos der »kreativen Stadt« an, errichten kommunikative Ordnungen, versuchten informelle Begegnungen, den Zufall zu forcieren, Pluralität zu fördern, sie richteten Plätze und öffentliche Räume sowie soziale Infrastrukturen ein. Rosemary Wakeman beobachtete, dass in den von ihr beschriebenen französischen »Technopolen« Restaurants, Geschäfte, Shops, Wohnungen, Freizeit- und Sporteinrichtungen gegründet wurden – »in an effort to create the symbolic insignia associated with creative work«. Doch wie 56 Vgl. Walter Hamilton: Serendipity City. Australia, Japan and the Multifunctional Polis, Sidney 1991, Ian Inkster: The Clever City: Japan, Australia and the Multifunctional Polis, Sidney 1991, Gavan McCormack (Hg.), Bonsai Australia Banzai: Multifunction Polis and the Making of a Special Relationship with Japan, Leichhardt 1991. 57 Vgl. M. Castells/P. Hall: Technopoles, S. 217. 58 Ebd., S. 214f. 52

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Wakeman zusammenfasste sind diese neuen Orte »both urban utopias and yet clearly anti-urban«.59 So finden sich gerade seit den 1960er und 1970er Jahren unzählige Neugründungen, die nicht in der Stadt, sondern in der Peripherie von Städten angesiedelt sind, so auch die von Wakeman untersuchten seit den 1970er Jahren gegründeten französischen Technopole nahe Grenoble, Antibes und Toulouse. Weiter ließen sich beispielsweise das britische Cambridge, das taiwanesische Hsinchu nennen60 oder das hier im Mittelpunkt stehende München nennen. Scheinen die »kreativen Städte« einerseits Indikatoren einer Renaissance des Städtischen, so stehen sie gleichzeitig für einen Suburbanisierungsprozess der Wissenschaften – und Suburbanisierungsprozesse wiederum verkörpern, so jedenfalls die bisherige Kritik der Stadtforschung, den Gegenpol von Urbanität. Einher gingen mit den suburbanen »kreativen Städten« allerdings Hoffnungen auf die Urbanisierung des Suburbanen. Die Gründung eines Wissenschafts-Technikortes in den suburbs von Grenoble wurde von den französischen Politikern von der Ankündigung begleitet, damit werde aus einem »bedroom suburb« eine »true city«.61

2.4. Suburbanisierungsprozessse und die »kreative Stadt« Suburbanisierungsprozesse, die Peripherisierung verschiedener städtischer Funktionen ließen, so vor allem die Wahrnehmung seit den 1960er Jahren, die Stadt zerfließen, sie wucherte an ihren Rändern. Lange Zeit wurden diese Suburbanisierungsprozesse anklagend konstatiert. Nicht nur Alexander Mitscherlich hatte mit den Stichworten der Unwirtlichkeit und Verantwortungslosigkeit den Egoismus des Eigenheims angeprangert. Was in den 1950er Jahren politisch gewollt und gefördert war, wurde in den 1960er und 1970er Jahren zunehmend mit negativen Begriffen wie Zersiedelung, Gefräßigkeit der Stadt oder Siedlungsbrei belegt. Die Suburbanisierung wurde in der Suche nach Schuldigen für die Auflösung der kompakten, europäischen Stadt – neben dem Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt, den Maximen des Funktionalismus – zur zweiten Hauptangeklagten.62 59 60 61 62

R. Wakeman: Planning, S. 268. Vgl. M. Castells/P. Hall: Technopoles. R. Wakeman: Planning, S. 260. Vgl. H. Becker/J. Jessen/R. Sander (Hg.), Ohne Leitbild? sowie Walter Prigge: »Vier Fragen zur Auflösung der Städte«, in: ders. (Hg.), Peripherie ist überall. Frankfurt, New York 1998, S. 6-12, hier S. 9. 53

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Suburbanisierung stellt allerdings keineswegs ausschließlich ein Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar.63 Insbesondere seit Beginn der Industrialisierung ging städtisches Wachstum mit Prozessen der Suburbanisierung einher. Zum strukturbestimmenden Prozess der Stadtentwicklung wurde sie in der Bundesrepublik jedoch in der Tat erst nach dem Zweiten Weltkrieg; Wirtschaftswachstum, gesellschaftlicher Reichtum, der »Rückzug ins Private«, die Massenmotorisierung waren Faktoren, die vor allem eine Wohnsuburbanisierung forcierten.64 Diese Prozesse wurden mittlerweile vielfach in ihren verschiedenen Phasen geschildert: Wohnen, Arbeit, Einzelhandel, Dienstleistungen wanderten, verkürzt gesagt, sukzessive in die städtische Peripherie.65 Wie Harlander bemerkte, hält der Suburbanisierungsprozess noch immer ungebremst an. Vor allem die massive »Jobwanderung« in neu entstehende Industriegürtel oder das Entstehen riesiger Freizeit- oder Shoppingcenter im Umland der Städte machen die alte Kernstadt zunehmend funktions- und damit bedeutungsloser, so die Diagnose.66 Den Suburbanisierungsprozessen wurde allerdings immer wieder gegenzusteuern versucht: so beispielsweise mit den Trabantenstädten, »Entlastungsstädten«, »Satellitenstädten« oder Großwohnsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre, von denen Neuperlach als ein prominentes Beispiel hier näher betrachtet werden wird. Zwar wurden diese am Stadtrand erbaut, doch war die Zielsetzung, verdichtet, kompakt, mit geringem Flächenbedarf, dabei gar urban zu bauen und damit dem Auseinanderfließen der Städte entgegenzuwirken und neue Zentren an ihren Rändern zu etablieren. Darauf wird am Beispiel Neuperlachs zurückzukommen sein.

63 Vgl. Gerd Kuhn: »Suburbanisierung: Das Ende des surburbanen Zeitalters?«, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2002), S. 5-12. Kuhn kritisiert, dass vor allem Stadtsoziologen und planungswissenschaftliche Disziplinen lediglich die Suburbanisierungsprozesse der Nachkriegsjahrzehnte in den Blick nehmen; vgl. vor allem S. 6. Zur Suburbanisierung vgl. auch: T. Harlander (Hg.), Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, Stuttgart, München 2001. 64 Vgl. Johann Jessen: »Suburbanisierung – Wohnen in verstädterter Landschaft«, in: T. Harlander (Hg.), Villa und Eigenheim, S. 316-329, hier S. 316. 65 Vgl. H. Häußermann/Walter Siebel: Neue Urbanität, Kap. 2. Vgl. auch das Themenheft der Information Moderne Stadtgeschichte 2 (2002) sowie Klaus Brake/Jens. S. Dangschat/Günter Herfert (Hg.), Suburbanisierung in Deutschland, Opladen 2001. 66 Vgl. Tilman Harlander: »Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik«, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens. Von 1945 bis heute. Aufbau – Neubau – Umbau, Stuttgart 1999, S. 233-417, hier S. 382. 54

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Waren Stadtplaner in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre noch mit einer Gestaltung im Sinne der Konzentrationen an den Rändern befasst, so führte die Kritik an den Suburbanisierungstendenzen bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zu einem erneuten Umdenken: Die innerstädtischen Bereiche sollten nun wieder attraktiver gemacht und einkommensstarke Schichten in die Stadt zurückgelenkt werden.67

Neubewertung der Peripherie: Wachstum an den Rändern Seit ein bis zwei Dekaden findet sich allerdings eine Neubewertung der Peripherie, die die Fokussierung auf die Innenstadt und die Verdammung der angeblich öden Peripherie ablehnt. Während die einen in den Rändern in erster Linie »Wucherungen«, Ödnis, den Verlust des Städtischen, eine grenzenlose Monotonie sehen, betrachten die anderen dies als die Zukunft des Städtischen.68 Zentral für diesen Diskurs war das Buch von Thomas Sieverts zur »Zwischenstadt«69. Sieverts plädierte dafür, Abschied vom »geliebten Bild«70 der europäischen Stadt zu nehmen, Trauerarbeit zu leisten und die vorab mit Befremden, Besorgnis oder Abscheu betrachteten Räume jenseits der Stadtkerne, die »Grauzonen aus Industrie, Suburbia, Schrebergärten, Verbrauchermärkten«71 in den Blick zu nehmen und sie als zwischenstädtische Areale zu akzeptieren und neu zu bewerten. Kurz: sie zu gestalten, anstatt sie zu verdammen. Entsprechend beschreiben einige neuere Publikationen inzwischen den suburbanen Raum nicht länger als defizitär, sondern betonen vielmehr, die fragmentierte Vielfalt der Peripherie stelle die Zukunft des Städtischen dar.72 Gerd Kuhn bezeichnete dieses Umdenken als Antwort auf die Entwicklung der letzten Dekaden, in der eine »funktionale, soziale und ökonomische Profilierung der Suburbia« nicht zu übersehen sei.73 Denn, wie bereits erwähnt,

67 Vgl. Ebd., S. 345. 68 Vgl. Thomas Sieverts: Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig, Wiesbaden 1997 sowie W. Prigge: Fragen, S. 11. 69 T. Sieverts: Zwischenstadt. 70 Vgl. Thomas Sieverts: »Die ›Zwischenstadt‹ als Feld metropolitaner Kultur – eine neue Aufgabe«, in: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt am Main 2000, S. 193-224, hier S. 194. 71 Peter Wilson: »Euro-Landschaft«, in: Die verstädterte Landschaft. Ein Symposium. Hg. vom Westfälischen Kunstverein Münster, München 1995, S. 13-23, hier S. 16. 72 Vgl. dazu die Zusammenfassung von G. Kuhn: Suburbanisierung. 73 Vgl. ebd., S. 6. 55

DIE KREATIVE STADT

hält der Suburbanisierungstrend nicht nur ungebremst an.74 Vielmehr noch, so wird mittlerweile vielfach betont, seien es die Ränder der Städte, die boomen, und in denen, so Prigge, »zentrale« ökonomische Wachstumskerne industrieller Dienstleistungsdistrikte entstehen.75 An der Peripherie bilden sich neue Subzentren,76 das wirtschaftliche Gewicht der Städte liegt nicht in der Stadt, sondern auf Regionen, die diese Städte umgeben. Neues Wachstum findet damit vor allem außerhalb der Stadt statt, an ihrem Rand, zwischen den Kernen.77 München ist hier ein geradezu exemplarisches Beispiel. Die Randzonen der Ballungsräume haben sich mithin zu Orten »höchster Entwicklungsdynamik« entwickelt.78 Ein besonders markantes – amerikanisches – Beispiel stellen die so genannten »Edge Cities« dar, die Joel Garreau beschrieb. In der Nähe von Autobahn und Flughafen platziert, verfügen sie über mehr Jobs als »bedrooms«, über eine hohe Anzahl von hochqualifizierten Arbeitsplätzen, über Freizeiteinrichtungen und Sportanlagen, jedoch nicht über eine Geschichte oder einen Bürgermeister.79 Diesen Tendenzen der Stadtentwicklung entsprechend finden sich neue Begriffe zu ihrer Beschreibung. Verweist der Suburbanisierungsbegriff noch auf die funktionelle Verflochtenheit mit der Kernstadt, auf eine Wanderungsbewegung an den Rand, so ist dies inzwischen häufig nicht mehr der Fall: »An die Stelle der zentralen Kernstadt und eines abhängigen Suburbia tritt mehr und mehr ein regional und dezentral organisiertes netzartiges Geflecht eigenständiger Gemeinden.«80 Es ist die Rede von der polyzentrischen Stadt, der Netzstadt81, von Stadt-Landschaften, Stadt-Regionen oder eben, wie gerade schon erwähnt, der »Edge City«. Peter Wilson verglich das heutige Stadtbild mit einem Hologramm, das in jedem Bruchstück einen Teil des Ganzen enthält; Chaostheoretiker sprechen von selbstähnlichen Stadtstrukturen und fraktalem Wachstum.82 74 Vgl. auch Walter Siebel: »Die europäische Stadt«, in: ders. (Hg.), Die europäische Stadt. Frankfurt 2004, S. 11-51, hier S. 38. 75 Vgl. W. Prigge: Vier Fragen, S. 10. 76 Vgl. Helmut Böhme: »Thesen zur »europäischen Stadt« aus historischer Sicht«, in: Dieter Hassenpflug (Hg.), Die europäische Stadt. Mythos und Wirklichkeit, Münster 2000, S.47-101, hier S. 82. 77 Vgl. ebd., S. 83. 78 Vgl. J. Jessen: Suburbanisierung, S. 320. 79 Vgl. Joel Garreau: Edge Cities. Life on the New Frontier, New York 1992. 80 W. Siebel: Europäische Stadt, S. 41. 81 Vgl. Marco Venturi: »Leitbilder? Für welche Städte?« in: H. Becker/J. Jessen/R. Sander (Hg.), Ohne Leitbild?, S. 55-70. 82 Zitiert nach Michael Mönninger: »Einleitung: Tendenzen der Stadtentwicklung im Spiegel aktueller Theorien«, in: ders. (Hg.), Stadtgesellschaft, Frankfurt am Main1999, S. 7-28, hier S. 8. 56

DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«

Nicht mehr der Stadtkern wird damit als das Zentrum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens betrachtet, sondern die »Zwischenstadt« bzw. verschiedene Zentren am Rande der Städte. Um noch einmal den amerikanischen Architekten Peter Wilson zu zitieren: »Die historische Stadt ist hier nur einer von vielen Knotenpunkten. Innen und Außen gibt es nicht länger, nur örtliche Schnittflächen zwischen unterschiedlich beschaffenen Texturen. Die einstmals allesumfließende Natur ist nun selbst umschlossen«.83

Damit erfuhr ein Raum Aufmerksamkeit, wurde zum Zentrum insbesondere ökonomischer Aktivitäten, der sich zu Beginn jener Entwicklung lediglich durch seine Leere ausgezeichnet hatte: was er vor allem bot, waren Fläche und in der Regel die Nähe zum Flughafen und zur Autobahn oder, wie im Falle Garchings, geologisch und klimatisch geeignete Bedingungen, um einen Forschungsreaktor zu bauen. Der »stadtlose« Raum, so Böhme, wird zum dynamischen Ort der Dienstleistungs- und Wissensökonomie.84 Ähnlich konstatierte Rudolf Stichweh: »Die eigentliche Entwicklungsdynamik der Stadt wird seit Jahrzehnten durch Suburbanisierung bestimmt – einen globalen Trend, für den es kaum Ausnahmen zu geben scheint.«85

Suburbanisierung der Wissenschaft Konzentriert sich die Forschung zur Suburbanisierung bzw. zur Entstehung dieser neuen Areale zwischen Autobahn und Flughafen vor allem auf Dienstleistungen und High-Tech-Industrien, so erfuhr der Suburbanisierungsprozess der Wissenschaften in der Forschung erstaunlich wenig Aufmerksamkeit.86 Während es in den USA seit dem 18. Jahrhundert die Tradition des »Campus« gibt, d.h. die Ansiedlung der Wissenschaft an abgelegen Plätzen als »communities in themselves«,87 wurden in Europa Universitäten und Akademien seit deren Gründung üblicherweise innerhalb der Stadt, zumeist an einem zentralen Platz, erbaut. Auch während des letzten Drittels des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte ein Aus83 P. Wilson: Euro-Landschaft, S.14. 84 Vgl. H. Böhme: Thesen zur »europäischen Stadt«, S. 82. 85 Rudolf Stichweh: »Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie«, in: ders.: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000, S. 184-206, hier S. 203. 86 Vgl. dazu das Schwerpunktheft: Die Alte Stadt 30 (2003), Heft 1. Schwerpunkt Stadt und Universität, hrsg. von Johann Jessen. 87 P. Turner: Campus, S. 3. 57

DIE KREATIVE STADT

bauschub der Universitäten noch zur Bildung zahlreicher Bauten in den Innenstädten geführt. Allerdings begann zugleich eine erste Verlagerungswelle der Universitäten in die Peripherie.88 Während sich beispielsweise Robert Kochs Institut im Zentrum Berlins befand, war das von Louis Pasteur am Rande von Paris platziert.89 Ein Grund für die Auslagerung naturwissenschaftlicher Institute war die Störanfälligkeit der Labore. Wie Philipp Felsch schreibt: »Als künstliche Ausnahmezustände sind Laboratorien empfindlich und störungsanfällig, besonders in ihrem natürlichen Lebensraum, der Stadt.«90 Um 1900 gab es Bemühungen, Laborgebäude in den Städten zu verstärken und zu verfeinern, um den Ablauf der Experimente gegen die »urbane Ruhestörung«91 zu schützen. Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Berlin wurde von vornherein in Charlottenburg angesiedelt, wo die Stadt sie aber bald einholte. Ein weiterer Grund, der zur Randwanderung wissenschaftlicher Institute führte, war die Raumnot, denn Ende des 19. Jahrhunderts begann die Expansion der Wissenschaften die Platzkapazitäten der Altstädte zu sprengen.92 Die Raumnot der Berliner Universität beispielsweise ließ gegen Ende der 1880er Jahre das Kultusministerium nach geeigneten Grundstücken am Rande der Stadt Ausschau halten.93 Bis dahin befanden sich alle wesentlichen Institute in der Stadtmitte: die Charité, die Akademie, die Universität, die Königliche Bibliothek. Ihre räumliche Ausstattung wurde jedoch als unzureichend empfunden.94 Der preußische Hochschulreferent Friedrich Althoff entwickelte schließlich den Plan, entweder die gesamte Universität mitsamt der Königlichen Bibliothek oder wenigstens die naturwissenschaftlichen Universitätsinstitute, die Anatomie und weitere medizinische Institute nach Dahlem zu verlegen. Dabei rekurrierte er auf die Verlegung der Columbia Universität 88 Vgl. J. Jessen: Editorial, S. 2. 89 Vgl. Paul Weindling: »Scientific Elites and Laboratory Organization in Fine de Siècle Paris and Berlin: the Pasteur Institute and Robert Koch's Institute for Infectious Diseases Compared«, in: Andrew Cunningham/Perry Williams (Hg.), The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge 1992, S. 170-188. 90 P. Felsch: Das Laboratorium, S. 31. 91 Ebd. 92 Vgl. Hans-Dieter Nägelke: »Einheitswunsch und Spezialisierungszwang: Stadt und Universität im 19. Jahrhundert«, in: Die Alte Stadt 30 (2003), S. 7-19. hier S. 8. 93 Vgl. Bernhard vom Brocke: »Die KWG im Kaiserreich«, in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft, Stuttgart 1990, S. 17-162, hier S. 120. 94 Vgl. Michael Engel: »Dahlem als Wissenschaftszentrum«, in: ebd., S. 552-578, hier 552f. 58

DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«

aus der City New Yorks. Gegen sein Projekt erhoben sich jedoch von allen betroffenen Seiten, besonders vom Finanzministerium und seitens der Universität, starke Widerstände, so dass es schließlich fallengelassen wurde.95 Man sah darin einen zu starken Eingriff in die »mit den wissenschaftlichen Einrichtungen im Laufe der Zeit gewachsene Sozialstruktur der Innenstadt«, die nicht durch Institutsverlegungen in großem Ausmaß abrupt verändert werden sollte.96 Ein Argument, das im Laufe des 20. Jahrhunderts keine Rolle spielen sollte, das aber an der Wende zum 21. Jahrhundert, als man erschreckt feststellte, dass immer mehr wissenschaftliche Institute der Stadt den Rücken kehrten, wieder auftauchte. Ende des 19. Jahrhunderts kollidierte die Vorstellungen, Teile der Universität könnten an den Rand der Stadt ausgelagert werden, jedoch noch mit der in Deutschland wirksamen Humboldtschen Vorstellung der »Einheitsuniversität«97, dem Bemühen, möglichst viele Funktionen der Universität in einem Gebäude zu vereinen.98 Entsprechend lösten die Überlegungen, Universitäten jenseits der Stadtgrenzen zu lokalisieren, zu dieser Zeit Widerstände, Bedenken und Proteste aus. Dies war auch in Tübingen der Fall, als in den 1840er Jahren die Entscheidung für den Standort des neu geplanten Universitätsviertels im Ammertal jenseits der Stadtumgrenzung fiel. Ein Großteil der Tübinger Professorenschaft hatte für eine Universitätserweiterung in der Tübinger Altstadt plädiert.99 Aufgrund der Raumknappheit, aber auch aufgrund der Störungen der Instrumente und technischen Geräte durch die städtische Umwelt wurden zu dieser Zeit gleichwohl, wie erwähnt, naturwissenschaftliche Institute an den Rand der Stadt verlagert. Zudem symbolisierte ein eher abgelegener Standort am Rande der Stadt eine ungestörte, nur der Forschung gewidmete Arbeitsweise. Wie Simon Schaffer formulierte: »No doubt bucolic epistemology accompanies the view that social withdrawal is a precondition of access to universal truths.«100 95 96 97

Vgl. B. v. Brocke, Die KWG. Vgl. M. Engel: Dahlem, S. 554. H.-D. Nägelke: Einheitswunsch, S. 7. vgl. auch Hans-Dieter Nägelke: Gelehrte Gemeinschaften und wissenschaftlicher Großbetrieb: Hochschulbau als Spiegel von Wissenschaftsidee und -praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 103-114. Nägelke weist in diesem Aufsatz darauf hin, dass die »Einheit der Universität« zwar in Festreden beschworen wurde, aber schon zur Jahrhundertwende baulich »kein Thema« mehr gewesen sei. hier S. 108. 98 H.-D. Nägelke: Einheitswunsch, S. 8. 99 Sylvia Paletschek: Die permanente Erfindung einer Tradition, Stuttgart 1997, S. 44. 100 Simon Schaffer: »Physics Laboratories and the Victorian Country House«, in: Crosbie Smith/Jon Agar (Hg.), Making Space for Science. 59

DIE KREATIVE STADT

Diese Abwanderung der Wissenschaft aus der Stadt wurde für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bald der übliche Weg, und in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg stand sie tatsächlich auch für eine Abkehr von der Stadt und damit auch für eine Abkehr von der Vorstellung, die Stadt sei der genuine Ort von Kreativität, Neuerungen, Innovationen und Wissenschaft. Man begann, Universitäten in der städtischen Peripherie, auf dem freien Feld, zumeist jedoch noch immer in der Nähe von Städten zu bauen. Seit den 1960er Jahren wurde diese »Suburbanisierung von Wissenschaft« zum neuen Leitbild, das mit einer Aufbruchsstimmung einherging, galten doch vor allem die universitären Neugründungen der 1960er und 1970er Jahre als »Experimentierfelder«.101 Bochum, Bremen, Bielefeld, Trier oder Konstanz sind heute die Symbole für solche Neugründungen am Stadtrand. Neben strukturpolitischen und regionalwirtschaftlichen Überlegungen im Hinblick auf die Ansiedlungen von Universitäten verweisen diese Suburbanisierungsprozesse von Wissenschaft vor allem auf deren raumgreifendes Wachstum und die fachliche Differenzierung. Gleichwohl versuchte man am »Idealbild des geschlossenen Zusammenhangs der verschiedenen Fakultäten«102 festzuhalten, wie sich vor allem auch an der Untersuchung dieses Suburbanisierungsprozesses in Garching zeigen wird. In diesem Moment erwies sich die Auswanderung aus der Stadt als geeignete Lösung, insofern sie zumindest die Verteilung universitärer Institute über die ganze Stadtfläche verhindern konnte. Auch Unternehmen begannen – und dies gilt auch für die Firma Siemens und das hier untersuchte Beispiel der »Forschungsstadt« Neuperlach – ihre Forschungsabteilungen als zentralisierte Abteilungen an den Rand der Städte ins Grüne zu verlegen, »insulating researchers from the distractions of the urban and commercial world«103. Dabei dienten ihnen Universitätsinstitute mit ihrer Grundlagenforschung als Vorbild. Anders als beispielsweise die frühen Forschungsabteilungen in den Gebäuden von General Electric, DuPont, General Motors oder AT & T, die von ihrer Architektur her als Fabrikgebäude auftraten und in der Nähe der Produktion zu finden waren, wurden Forschungsabteilungen nach dem Zweiten Weltkrieg isoliert, zentralisiert am Rande der Stadt erbaut. Territorial Themes in the Shaping of Knowledge, Basingstoke 1998, S. 149-180, hier S. 149. 101 So Hans Joachim Aminde, zitiert nach Stefan Muthesius: »Die Nachkriegsuniversität: »Stadt« vor der Stadt«, in: Die Alte Stadt 30 (2003), S. 20-31, hier, S. 30. 102 H.D. Nägelke: Einheitswunsch, S. 11. 103 Cyrus Mody: Crafting the Tools of Knowledge: The Invention, Spread, and Commerzialization of Probe Microscopy, 1960-2000. Dissertation, Cornell University, 2004, S. 130f. 60

DER TOPOS DER »KREATIVEN STADT«

Dies galt zu dieser Zeit als der ideale Platz für Forschung und Entwicklung.104 In München spiegelt sich diese Entwicklung deutlich wider. Garching, Martinsried, Neuperlach sind drei Beispiele für Konzentrationsbewegungen an den Rändern Münchens. Das Image Münchens als Wissenschafts- oder High-Tech-Stadt basiert auf der Entwicklung an ihren Rändern. Die Gründe hierfür werden untersucht werden, genauso wie der Frage nach dem Zustand der Stadt nachgegangen wird: Entwickelt sich München zur polyzentrischen Stadt? Welche Rolle kann die Stadt angesichts der mannigfachen Entwicklungen an den Rändern noch spielen? Stellt dies den Tod oder das Revival der Stadt dar? Diese Tendenzen, die sich in erster Linie auf die Naturwissenschaften beziehen, sind sowohl für Wirtschaft, Alltag und Kultur der Städte wie auch für die Wissenschaften und deren Selbstverständnis, ihre Arbeitsweise und ihren Forschungsalltag zweifellos von Bedeutung. Es handelt sich dabei um einen aus stadt- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wesentlichen Prozess. Nicht nur hat die Auslagerung wissenschaftlicher Institute aus der Stadt Konsequenzen für die Arbeitsund Lebensweise der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie für das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft. Umgekehrt verändern sich die Stadt und die städtische Struktur nachhaltig, wenn die Wissenschaft vor die Tore der Stadt zieht. Simon Schaffer konstatierte Ende der 1990er Jahre, dass eine vergleichende Geschichte von »urban and out-of-town sites« noch zu schreiben sei.105 In der Tat fehlt eine, vor allem international vergleichende Studie, die nach den praktisch-funktionalen Gründen, den politischen Interessen und eventuellen Streitigkeiten um Innenstadtflächen sowie nach den symbolischen Konnotationen der Wissenschaft innerhalb bzw. außerhalb der Stadt im historischen Wandel fragt und die Konsequenzen für die wissenschaftliche Praxis analysiert. Andererseits erweist die Betrachtung von Wissenschaftsstädten, High-Tech-Orten bzw. den »kreativen Städten« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass diese Unterscheidung von »urban and out-of-town sites« in gewisser Weise gar nicht mehr so klar zu ziehen ist. Im Vorhergehenden wurde schon deutlich, dass die suburbanen »kreativen Milieus« nicht nur in der Nähe von Städten bleiben, sondern sich dabei zunehmend selbst als »Städte« zu präsentieren suchen. Mit der Beschreibung der drei Orte Garching, Martinsried und Neuperlach wird dies deutlich werden. Anti-urbane Tendenzen vereinigen sich hier 104 Scott G. Knowles/Stuart W. Leslie: »Industrial Versailles. Eero Saarinen’s Corporate Campuses for GM, IBM, and AT & T«, in: ISIS 92 (2001), S. 1-33, hier S. 2. 105 Vgl. S. Schaffer: Physics Laboratories, S. 149. 61

DIE KREATIVE STADT

mit Urbanisierungstendenzen. Dies geschieht im Kontext stadthistorischer wie wissenschaftshistorischer Entwicklungen. Die Geschichten der drei Orte zeigen, wie sich das Verhältnis von Stadt und Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte und vor allem wie seit den 1970er Jahren – nachdem Wissenschaften bereits begonnen hatten in die Peripherie der Städte zu ziehen – der Topos der »kreativen Stadt« wiederentdeckt wurde und damit eine »Urbanisierung« des Suburbanen begann – wenn auch nur in einem sehr metaphorischen Sinne.

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3.

M Ü N C H E N S S P ÄT E E N T W I C K L U N G Z U R »H I G H -T E C H -S T AD T «

Um die Jahrtausendwende präsentierte sich München als erfolgreiche »Boomtown«, als eine »High-Tech-Stadt«. Die Arbeitslosenquote lag im Jahr 2001 bei 3,7%, und damit niedriger als in jeder anderen deutschen Großstadt. Die Zahl der gemeldeten offenen Stellen war dagegen höher als in vergleichbaren Städten. Ein Artikel in der Wochenzeitung »Die Zeit« beschwor im Jahre 2001 gar das »Geheimnis ökonomischen Wachstums« in München.1 Diese Entwicklung Münchens zu einer, so die heutige Wahrnehmung, prosperierenden High-Tech-Stadt hat eine – gemessen an der Geschichte der Stadt – ausgesprochen junge Geschichte. Trug München zwar seit dem 19. Jahrhundert das Etikett der »Kunst- oder Kulturstadt«, so setzten Industrialisierungsprozesse und schließlich die Entwicklung zu einer High-Tech-Stadt in München vergleichsweise spät ein. Im 19. Jahrhundert war München Deutschlands drittgrößte Stadt geworden. Im Jahr 1854 hatte es die Schwelle von 100.000 Einwohnern überschritten.2 München war damals Bürger-, Haupt- und Residenzstaat. Im Laufe dieses Jahrhunderts wurde es zudem zu einer Kultur- und Kunststadt.3 Vor allem König Ludwig I. ist eng verknüpft mit Münchens Ruf als Kulturstadt. Schon als Kronprinz hatte er die Glyptothek gegründet; zahlreiche »auf den klassisch-antiken Architekturkanon ausgerichtet Neubauten« folgten, und München erhielt den Namen eines 1 2 3

Vgl. Wolfgang Uchatius: »Das Geheimnis des Wachstums«, in: Die Zeit, Nr. 27, 28. Juni 2001. Vgl. Clemens Zimmermann: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt am Main 2000, 2. Auflage, S. 120. Vgl. ebd., S. 114f. 63

DIE KREATIVE STADT

»neuen Athens«.4 Um die Jahrhundertwende um 1900 herrschte eine »Kunststadteuphorie«; Künstlertum und Künstlergeist waren, so Richard Bauer, »elementare Bestandteile des urbanen Wachstumsprozesses geblieben.«5 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich München jedoch auch zu einer »Wissenschaftsstadt«. Stellte die Gründung der »Kurbayerischen Akademie der Wissenschaften« im Jahr 1759 noch einen zarten Anfang dar, zumal zu diesem Zeitpunkt die naturwissenschaftliche und auch die historische Forschung in Süddeutschland recht rückständig war,6 so entfaltete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein reges Forscherleben in der Stadt und ihrer Umgebung. Joseph von Fraunhofer entwickelte zu Beginn des 19. Jahrhunderts optische Geräte, vor allem Linsen, Justus von Liebig lehrte in München, Carl von Linde entwickelte die erste Eismaschine, Rudolf Diesel war in München tätig, genau wie Wilhelm C. Röntgen, der seit 1899 dort lehrte, und Max von Pettenkofer wirkte in enger Verbindung mit der städtischen Hygienebewegung in München. München war zudem – neben Berlin – die einzige deutsche Stadt, in der es eine Universität und eine Technische Hochschule gab. Um die Jahrhundertwende, genauer 1903, war es Oskar von Miller schließlich gelungen, ein Technikmuseum zu etablieren, das Deutsche Museum, mit dem der wissenschaftlich-technische Fortschritt zelebriert wurde.7 Hinsichtlich der industriellen Entwicklung wurde gleichwohl bis in die Zeit der Bundesrepublik hinein immer wieder Münchens vorindustrieller, zum Teil »dörflicher Charakter« betont, der zahlreiche Besucher verwundert hatte.8 Verstädterungs- und Urbanisierungsprozesse vollzogen sich in München langsamer als in vielen anderen Städten, vor allem verglichen mit klassischen Industriestädten wie Nürnberg oder Bochum.9 Eine Industrialisierung erfolgte in München in »gemäßigtem Tempo«10. Zwar kam es nach den Gründerjahren zu einem raschen Aufschwung Münchens als Gewerbestandort mit Großindustrie und Exportgewerbe, so dass ein »neuer Akzent im überkommenen München-Bild« gesetzt wurde.11 Aber auch wenn es dort seit dem 19. Jahrhundert traditionelles Gewerbe (Fahrzeug-, Eisenbahn- und Maschinenbau) gab sowie bedeutende Industrien, beispielsweise in der Feinmechanik, der Op4

Richard Bauer: Geschichte Münchens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2003, S. 107ff. 5 Ebd., S. 132. 6 Vgl. ebd., S. 84. 7 Vgl. ebd., S. 127f. 8 Vgl. C. Zimmermann: Zeit der Metropolen, S. 134. 9 Vgl. ebd., S. 117. 10 C. Zimmermann, Zeit der Metropolen, S. 140. 11 R. Bauer: Geschichte Münchens, S. 126. 64

MÜNCHENS SPÄTE ENTWICKLUNG ZUR »HIGH-TECH-STADT«

tik, dem Erzguss, der Brautechnik, dem Kältemaschinen-, Lokomotivenund Waggonbau, so handelte es sich bis nach dem Zweiten Weltkrieg nicht um eine Stadt mit vorwiegend industrieller Struktur. München war vielmehr Industrie-, Handels- und Verkehrsstadt Die Stadtforschung betonte, dass im Zuge der Industrialisierung München dem Typus der Zentralstadt zugerechnet werden kann, deren Hoheits-, Verkehrs- und Dienstleistungsaufgaben vermehrt wurden.12 Wie auch Bayern gehörte München bis Ende der 1950er Jahre zu den ökonomisch rückständigen und primär agrarisch geprägten Regionen.13 Bayern, und auch München, stellten Räume dar, aus denen die Menschen abwanderten.14 Die relativ langsame Entwicklung Münchens zu einer Industriestadt lag auch darin begründet, dass es im 19. Jahrhundert innerhalb Münchens immer wieder Stimmen gegeben hatte, die darauf drangen, das Wachstum der Stadt zu begrenzen und einen industriellen Ausbau zu vermeiden. Wie Clemens Zimmermann betonte, strebte die Mehrheit des Bürgertums eine »Kunststadt« an, die als unvereinbar mit einer Industrialisierung galt. Die städtischen Gremien befürchteten, die Entwicklung zu einer Industriestadt wirke sich negativ auf München als Kulturstadt aus.15 Eine Beschleunigung der Industrialisierung und eine sprunghafte Ausweitung des Dienstleistungsgewerbes setzten erst in den späten 1950er Jahren ein. Zu dieser Zeit begann in München eine gewerbliche und industrielle Entwicklung, die die Stadt in kurzer Zeit an die dritte Stelle der großen deutschen Industriestädte schob.16 »Die Stadt wurde

12 Vgl. Wolfgang R. Krabbe: Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 76. 13 Vgl. Stephan Deutinger: Vom Agrarland zum High-Tech-Staat. Zur Geschichte des Forschungsstandorts Bayern 1945-1980, München, Wien 2001. Vgl. vor allem auch das Projekt zu Politik und Gesellschaft in Bayern von 1949-1973, das am Institut für Zeitgeschichte angesiedelt war. Einen Überblick über die Zielsetzungen gibt: Thomas Schlemmer: Gesellschaft und Politik in Bayern 1949-1973, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 311-325. Vgl. auch Alfons Frey: Die industrielle Entwicklung Bayerns von 1925 bis 1975. Eine vergleichende Untersuchung über die Rolle städtischer Agglomerationen im Industrialisierungsprozess, Berlin 2003, vgl. auch Paul Erker: »Keine Sehnsucht nach der Ruhr. Grundzüge der Industrialisierung in Bayern 1900-1970«, in: Geschichte und Gesellschaft 17 (1991), S. 480-511. 14 Vgl. P. Erker: Sehnsucht, S. 487. 15 C. Zimmermann, Zeit der Metropolen, 137f. 16 Vgl. Stadtarchiv München, Plan.Ref. Abg 99013, Nr.4. Erläuterung der Planung vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Landesgruppe Bayern, 21. April 1967; vgl. auch 1200 Jahre Perlach: 7901990. Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte eines Münchner Stadtteils mit den Ortsteilen Perlach, Fasangarten, Michaeliburg, Waldperlach 65

DIE KREATIVE STADT

zum zentralen Ort einer ausgedehnten Stadtregion, die sich immer stärker als ein zusammengehöriger, aufeinander angewiesener Wirtschaftsraum erweist«.17 Damit fand München »eine neue Rolle als bayerisches und auch süddeutsches Industriezentrum«18. Zu dieser Zeit wurde die Stadt auch zu einem bekannten Forschungszentrum; in der Stadt arbeiteten Nobelpreisträger wie Adolf Butenandt, Werner Heisenberg oder Rudolf Mössbauer.19 In den folgenden Dekaden avancierte München zur einer so genannten »High-Tech-Stadt«. Wie Castells/Hall konstatierten, ist München allerdings auch als eine »High-Tech-Stadt«, verglichen mit anderen europäischen Städten dieser Art, ein recht junges Phänomen;20 ähnlich wie hinsichtlich der Industrialisierung der Stadt setzte auch diese Entwicklung relativ spät ein. In den 1980er Jahren erhielt München jedoch – von einem Journalisten – den Namen »Municon Valley«, was den Wandel der Stadt signalisierte. Seitdem konzentrieren sich dort »Wachstumsindustrien«. 1991 schrieb Hans-Dieter Haas: »München steht in vieler Hinsicht an der Spitze eines Süd-Nord-Gefälles im Bundesgebiet. Die Stadt gilt als Kommune, welche die meisten Wirtschaftsunternehmen [...] innerhalb ihrer Grenzen angesiedelt hat. Mit den großen, hier ansässigen Industrieunternehmen wie beispielsweise Siemens, BMW und MTU, den Versicherungsgesellschaften und Banken ist in München eine Wirtschaftskraft konzentriert, wie man sie kaum noch in einer anderen Stadt vorfindet.«21

Dabei wurden, so Haas weiter, immer mehr klassische Produktionsarbeitsplätze durch hochrangige Arbeitsplätze in der Entwicklung und Forschung sowie im Management ersetzt, es finde sich also eine »Tertiärisierung« und eine »Akademisierung« der Beschäftigtenstruktur.22 München verzeichnet seit den 1980er Jahren einen hohen Prozentsatz der Industriebeschäftigten in forschungs- und entwicklungsintensiven

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und Neuperlach (im Auftrag des Festrings Perlach e.V. hrsg. von Georg Mooseder und Adolf Hackenberg), S. 874. Münchner Stadtanzeiger, 12. Mai 1967, S. 1-4. R. Bauer: Geschichte Münchens, S. 211. Vgl. ebd., S. 213. Vgl. M. Castells/P. Halls: Technopoles, S. 173. Vgl. Hans-Dieter Haas: »München – Zentrum technologieorientierter Industrie im Süden Deutschlands«, in: Wolfgang Brücher/Reinhold Grotz/ Alfred Pletsch (Hg.), Industriegeographie der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs in den 1980er Jahren, Frankfurt am Main 1991, S. 175-198, hier S. 175. Vgl. ebd.

MÜNCHENS SPÄTE ENTWICKLUNG ZUR »HIGH-TECH-STADT«

Branchen des Investitionsgütergewerbes.23 Mit 14.088 Beschäftigten in Forschung und Entwicklung in High-Tech Sektoren nahm München, so Rolf Sternberg Mitte der 1990er Jahre, »nicht nur den ersten Rang unter 328 Kreisen der Bundesrepublik ein, sondern weist fast doppelt so viele Beschäftigte auf wie der Zweitplazierte, die Stadt Stuttgart«.24 Die Entwicklung basierte vor allem auf der elektrotechnischen Industrie, der Rüstungs-, der Luft- und Raumfahrtindustrie sowie dem Fahrzeugbau.25 In der Literatur finden sich verschiedene Versuche, diesen rasanten Wandel Münchens zu erklären.26 Häufig wird dabei der Firma Siemens, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Hauptsitz von Berlin nach München verlegte, eine besondere Bedeutung zugesprochen.27 Weiter werden verschiedene Faktoren ins Feld geführt, so das Fehlen »alter Industrien«, die hohe Zahl wissenschaftlicher Institute, die Rüstungsindustrie sowie die landschaftlich reizvolle Umgebung oder das kulturelle Umfeld.28 Die fehlende Revier- oder Seehafennähe, die früher ein deutlicher Nachteil für die Industrieentwicklung Münchens gewesen sei, hätte sich in einen Vorteil verwandelt, da München nicht – wie viele andere Standorte – ein ungünstiges Image als Industriestadt habe.29 Vor allem Rolf Sternberg betont die Bedeutung der Technologiepolitik als eine Ursache für Genese und Entwicklung der High-Tech-Region München. Bereits seit den 1950er Jahren habe sich die FuE-Politik des Bundes auf München positiv ausgewirkt. Die Standortentscheidung zur Ansiedlung wissenschaftlicher Institute seien in den 1950er und 1960er Jahren zugunsten Münchens gefallen und vor allem durch das Ministerium für Atomfragen betrieben worden. Mehrere der damals gegründeten staatlichen FuE-Einrichtungen der Region gehörten dem Bereich der Kernenergie und/oder der Rüstungsforschung an und verdanken ihren Standort in München laut Sternberg mindestens indirekt dem Einfluss des Verteidigungsministers Strauß.30 Stephan Deutinger widerspricht allerdings dieser Interpretation. Er hält dies für eine Überschätzung der Technolo-

23 Vgl. ebd. 24 Rolf Sternberg: Technologiepolitik und High-Tech Regionen - ein internationaler Vergleich, Münster 1998, 2. Auflage, S. 211. 25 Vgl. ebd., S. 236. 26 Vgl. z. B. M. Castells/P. Hall: Technopoles, sowie R. Sternberg: Technologiepolitik. 27 Vgl. dazu das Kapitel 6. 28 Vgl. z.B: M. Castells/P. Hall: Technopoles sowie H. Häußermann/W. Siebel: Neue Urbanität, S. 124ff. 29 Vgl. H-D. Haas: München, S. 193. 30 Vgl. R. Sternberg: Technologiepolitik, S. 241. 67

DIE KREATIVE STADT

giepolitik. Dagegen zeigt er ein Desinteresse der Politik auf und verweist auf historische Kontingenzen.31 Wenn in der vorliegenden Arbeit München im Mittelpunkt steht, dann geht es allerdings nicht darum, einen weiteren Versuch zu unternehmen, die Entwicklung Münchens zur High-Tech-Stadt zu erklären oder das »Geheimnis ökonomischen Wachstums« zu lüften. Vielmehr stellt die Stadt München ein geeignetes Untersuchungsfeld für Wandlungsprozesse im Hinblick auf Stadt und Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Münchens Image als Wissenschafts- oder High-Tech-Stadt basiert heute neben der Vielzahl der dort ansässigen Forschungsinstitute wesentlich auf den dort angesiedelten Technologien. Die Mikroelektronik gilt dabei, wie schon erwähnt, als »Schlüsselbranche« des High-TechOrtes München.32 Im Kontext der Mikroelektronik erhielt München den Namen »Municon Valley«. Darüber hinaus nehmen die Biotechnologie, die Rüstungsindustrie und eng verflochten mit dieser die Luft und Raumfahrtindustrie eine zentrale Rolle in Münchens Wirtschaftsstruktur dar. Mit der Ansiedlung der zentralen Technologien der Bundesrepublik, nämlich der Kernphysik, der Mikroelektronik und der Biotechnologie, bietet München erstens ein geeignetes Untersuchungsfeld, um den Wandel der gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaften und ihre Transformation in eine ökonomische Kategorie zu analysieren. Zweitens ermöglicht es die Existenz dieser Technologien die Haltung der Bevölkerung gegenüber Wissenschafts- und Technikansiedlungen zu untersuchen. Drittens erweist sich bei einem Blick auf die Topographie Münchens schnell, dass sich die Orte dieser Technologien in der Peripherie der Stadt befinden – ein typisches Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wie es sich auch andernorts finden lässt. Am Beispiel Münchens können daher auch Veränderungen der Stadtstrukturen durch »Suburbanisierungsprozesse« der Wissenschaften/Technologie sowie die Urbanisierungsbemühungen dieser suburbanen Wissenschaftsorte seit den 1970er Jahren analysiert werden. Garching, ursprünglich Ort der Kernphysik, und Martinsried als Ort der Biotechnologie, liegen beide ca. 15 km Kilometer entfernt von München, während sich Neuperlach, Ort der Siemens-Forschungsstadt (Mikroelektronik) an dessen äußersten südöstlichen Rand befindet. Alle drei Orte firmieren als »Wissenschaftsorte«, »Technopole«, oder »kreative Milieus«. Ihre Geschichten gilt es im Folgenden zu erzählen. 31 Vgl. S. Deutinger: Agrarland. 32 Vgl. R. Sternberg, Technologiepolitik, S. 239. 68

4.

G AR C H I N G : V O M D O R F Z U R »W I S S E N S C H AF T S S T AD T «

» ...Nun wäre an Garching wenig Bemerkenswertes hätte nicht ab 1956 die Zeit der Wissenschaft und Zukunftstechnik gerade hier besonders deutlich geschlagen, um alles zu verändern.«1

4 . 1 . D e u t s c h l a n d s » m o d e r n s t e s D or f « 2 Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied sich die Gemeinde Garching, 15 km nördlich des Münchner Stadtzentrums gelegen, kaum von vielen anderen bayerischen Dörfern. Die Bewohner führten ein recht beschauliches Leben, ihr eher bescheidenes Auskommen basierte auf der Landwirtschaft, die Einwohnerzahl war überschaubar, typisch dörfliche Strukturen dominierten den Ort. Bauernhäuser und Düngehaufen prägten das Ortsbild.3 Garching war ein Bauerndorf. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte sich dieses Bauerndorf allerdings »zu einem Schwerpunkt wissenschaftlicher

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»Garching: Eine Gemeinde sucht ihr Gesicht«, in: Stadtanzeiger, 17. August 1982, S. 6. »Gewitter in Garching«, in: Münchner Merkur (im Folgenden zitiert als MM), 17. November 1965. Vgl. Hans Stieglitz: Der Lehrer auf der Heimatscholle, München, Berlin 1909, S. 125. 69

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Forschung und Technologien mit internationaler Bedeutung«.4 Inzwischen nennt sich Garching eine »Wissenschaftsstadt«. 1990 wurde die Gemeinde aufgrund der Dichte ihrer universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen naturwissenschaftlicher Provenienz zur Stadt erhoben. Dies wurde am 14. September 1990 im Garchinger Bürgerhaus feierlich zelebriert. Dabei wurde die »untrennbare Verbundenheit Garchings mit Wissenschaft und Forschung« hervorgehoben.5 1997 schließlich wurde Garching offiziell zur »Universitätsstadt« gekürt, da dort, gemessen an der Studenten- und Beschäftigtenzahl, die Größenordnung einer kleineren Hochschule erreicht war. Seither ziert nun der Zusatz »Universitätsstadt« die Ortstafel Garchings.6 Den Beginn dieser Entwicklung markierte der 1957 errichtete erste bundesdeutsche Forschungsreaktor, der wegen seiner ellipsenartigen Form als »Atom-Ei« bezeichnet wird. Auch wenn zu dieser Zeit keineswegs abzusehen war, dass sich Garching zu einer »Wissenschaftsstadt« entwickeln würde, zeichneten sich die Bemühungen, Garching zu einem Forschungszentrum werden zu lassen, schon früh ab. Sukzessive siedelten sich seit den 1960er Jahren rund um den Reaktor Forschungsinstitute, vor allem der Max-Planck-Gesellschaft, Teile der Technischen Hochschule (TH; später TU)7 und auch der Ludwig-Maximilians-Universität sowie schließlich in jüngster Zeit Unternehmen an. Inzwischen ist Garching vor allem Naturwissenschaftlern aufgrund der Konzentration international renommierter Institute ein Begriff.8 Es ist eines der größten Forschungszentren Europas und gilt, so jedenfalls die Süddeutsche Zeitung 1990, als »eines der bedeutendsten Forschungszentren der Welt«9. Das Dorf Garching ist zu einem Synonym für einen Wissenschaftsstandort geworden. Die Geschichte dieses Ortes gilt es im Folgenden zu erzählen. Dabei wird – entsprechend dem Anliegen, Geschichte vom Raum her zu schreiben –, nicht nur eine Geschichte geschrieben, sondern es werden 4

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8 9 70

Gemeinde Garching b. München: Sitzungsvorlage (Dokumentation) zum Antrag auf Stadterhebung (im Folgenden zitiert als »Antrag auf Stadterhebung«), hier S. 22, in: Gemeindearchiv Garching. Süddeutsche Zeitung (SZ), 15./16. November 1990, S. 22. Stadt Garching b. München – Informationsbroschüre. Neuauflage 1998, S. 3. (im Folgenden als »Stadt Garching« zitiert). Vgl. auch das Protokoll der Stadtratssitzung Garching vom 21. November 1997 (im Folgenden zitiert als SRS). Die Technische Hochschule München wurde 1970 zur Technischen Universität. Daher ist im Folgenden von TH die Rede, wenn es sich um einen Zeitraum vor 1970 handelt. Für die Zeit danach wird die Abkürzung TU verwendet. Vgl. S. Deutinger: Garching, S. 223. SZ, 15./16. September 1990, S. 22.

GARCHING: VOM DORF ZUR »W ISSENSCHAFTSSTADT«

ganz unterschiedliche Geschichten erzählt, nämlich die der Transformation eines Dorfes, eine Geschichte des lokalen Protests bzw. der Wissenschaftsbegeisterung sowie die Geschichte eines Wissenschaftsstandortes, der sich seit den 1970er, vor allem aber seit den 1990er Jahren zu einem »kreativen Milieu« entwickeln sollte. Auffällig treten dabei Ungleichzeitigkeiten zu Tage. Die Überschreibung des Bauerndorfes mit städtischen Signaturen, das »Verschwinden des Dorfes«, das Nebeneinander von bäuerlicher Kultur und der »anderen Kultur« der Wissenschaftler stellen einen Strang der Erzählung dar. Hier geraten stadt- und dorfgeschichtliche Aspekte in den Blick. Der zweite Strang der Erzählung berührt die Haltung der Dorfbewohner gegenüber der Wissenschafts- und Technikansiedlung. Schließlich wird im dritten Strang, die Geschichte des Forschungsareals selbst, und damit der Wandel der gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaft und deren Ökonomisierung beschrieben. Diese Parallelgeschichten weisen jedoch – und dies zeigt das Potential einer Geschichtsschreibung vom Raum her – auch Gleichzeitigkeiten auf. Nicht nur die in allen drei Bereichen in den 1970er Jahren einsetzenden Wandlungsprozesse sind auffällig. Auch die Betrachtung der gleichzeitig einsetzenden »Urbanisierungsbemühungen« in Garching-Stadt sowie auf dem Forschungsgelände am Rande Garchings seit den 1970er eröffnet neue Erkenntnisse. Ging es einerseits darum, einen suburban geratenen Ort zu revitalisieren, das Gemeinwesen zu stärken, so gerieten Urbanisierungsversuche im Forschungsareal zu einem ökonomischen Instrument: Sie mündeten im Versuch, eine »kreative Stadt« am Rande eines suburbanen Ortes zu schaffen, um wissenschaftlich-technische Innovationen zu forcieren. Diese vielschichtigen Prozesse werden im Folgenden in der Geschichte Garchings anschaulich werden.

4 . 2 . D i e An s i e d l u n g d e s » At o m - E i « : Startpunkt der Entwicklung Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass sich ein unauffälliges Dorf wie Garching zu einer renommierten »Wissenschaftsstadt« entwickelte. Garching hatte mit seinen ländlichen Strukturen, den Düngehaufen und Bauernhäusern wenig zu bieten, was es für Wissenschaft und Forschung reizvoll gemacht haben könnte. Vielmehr wurde das Dörfliche über Jahrhunderte hinweg als Gegenbegriff zur Stadt und damit zu Kultur und Zivilisation wahrgenommen.10 Wenig überraschend trafen daher anfangs zwei Kulturen aufeinander: ein Bauerndorf und 10 Vgl. C. Zimmermann: Dorf und Stadt, S. 9. 71

DIE KREATIVE STADT

seine alteingesessene Bevölkerung waren mit der Ansiedlung von Wissenschaft und den anderen Lebensweisen der Wissenschaftler konfrontiert. Denn Garching gehörte nicht zu den Wissenschaftsorten, die wie beispielsweise die sibirische Stadt Akademgorodok11 am Reißbrett geplant und aus dem Nichts geschaffen wurden und damit auch eine weitgehend homogene, nämlich akademische Bevölkerung aufwiesen. Vielmehr vollzog sich die Transformation eines Bauerndorfes in eine »Wissenschaftsstadt« sukzessive. Ein Institut zog das nächste an, und phasenweise wurde der Ausbau Garchings gar unterbrochen bzw. gestoppt. 1967 resümierte eine Festschrift zum zehnjährigen Bestehen des »Atom-Ei«: »Als vor zehn Jahren der Reaktor in Betrieb genommen wurde, ahnte kaum jemand, dass sich um diese Außenstelle eines Hochschulinstitutes ein ganzes Forschungszentrum entwickeln würde.«12 Angesichts einer seit Jahrhunderten bestehenden Tradition, die Wissenschaft in das Zentrum von Städten zu platzieren, stellte ihre Ansiedlung vor den Toren der Stadt, am Rande eines Bauerndorfes zu dieser Zeit ein Novum dar, das im europäischen Raum nur auf wenige Vorläufer wie beispielsweise Berlin-Dahlem rekurrieren konnte. Anfänglich zwar aufgrund der Suche nach einem geeigneten Standort für einen Forschungsreaktor ausgewählt, kündigte sich gleichwohl sehr bald ein Trend zur Suburbanisierung der Wissenschaft an, wie er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem seit den 1960er Jahren typisch wurde.

4.2.1. Der Anfang: Streit um das erste Kernforschungszentrum Das so genannte »Atom-Ei«, der erste Forschungsreaktor der Bundesrepublik, markierte den Startpunkt der Ansiedlung wissenschaftlicher Institute in Garching. Als am 30. Oktober 1957 dort der erste Kernreaktor der Bundesrepublik in Betrieb genommen wurde, war dies allerdings nicht das Resultat eines stringent durchgeführten Plans, sondern das Ergebnis eines längeren Konfliktes um den Standort für das erste bundesdeutsche Kernforschungszentrum. Die Entscheidung, diesen Reaktor in Garching zu bauen, sowie der dem vorangehende Wettkampf um den Ort des ersten bundesdeutschen Kernforschungszentrums wurden in der

11 Vgl. P. Josephson: »New Atlantis«. 12 Festschrift zur Festwoche anläßlich des 10jährigen Bestehens des Atomreaktors Garching bei München. Garching 1967. o.S. 72

GARCHING: VOM DORF ZUR »W ISSENSCHAFTSSTADT«

Literatur schon vielfach analysiert und soll daher nur kurz skizziert werden.13 Schon zu Beginn der 1950er Jahre hatte in der Bundesrepublik, in Erwartung des Endes der alliierten Verbote, eine Debatte zur Kernenergiegewinnung eingesetzt. Eine unter Werner Heisenbergs Vorsitz einberufene Kommission für Atomphysik forderte im November 1952 die Errichtung eines vom Bund zu finanzierenden Zentrums für Reaktorforschung.14 Nach den Vorstellungen Heisenbergs sollte das erste Kernforschungszentrum zusammen mit dem Göttinger MPI für Physik unter seiner Leitung in der Nähe von München angesiedelt werden. Es entstand jedoch ein harter Wettbewerb zwischen Baden-Württemberg, das Karlsruhe vorschlug, und Bayern. Die Entscheidung fiel schließlich zugunsten Karlsruhes, was Adenauer mit sicherheitspolitischen Argumenten begründete, da München zu nahe am »eisernen Vorhang« liege.15 Nach München wurde nun lediglich das Göttinger MPI für Physik verlegt, während Heisenberg als Kompromiss die »Errichtung eines kleineren Reaktors für rein wissenschaftliche Zwecke« angeboten wurde – ein Gerät, das gemessen am Anspruch eines Kernforschungszentrum ein unbedeutendes Forschungsgerät darstellte und damit auch keineswegs Heisenbergs Vorstellungen entsprach.16 Daher lehnte er ab und konzentrierte sich auf den Ausbau des Instituts für Plasmaphysik bei Garching.17 Allerdings war von Seiten der bayersischen Regierung das Interesse an einem Kernreaktor noch immer erheblich, auch wenn es sich »nur« um einen Forschungsreaktor handelte. Daher wurde dem Direktor des Laboratoriums für Technische Physik der TH München, Hans 13 Vgl. Susan Boenke: Entstehung und Entwicklung des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik 1955-1971, Frankfurt, New York 1991, S. 93, Michael Eckert/Maria Osietzki: Wissenschaft für Macht und Markt. Kernforschung und Mikroelektronik in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 109ff, 129ff., 250ff. sowie Helmuth Trischler: »Nationales Innovationssystem und regionale Innovationspolitik. Forschung in Bayern im westdeutschen Vergleich 1945 bis 1980«, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.), Bayern im Bund, Band 3. Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973, München 2004, S. 117-194, hier S. 148ff., Rolf-Jürgen Gleitsmann: Im Widerstreit der Meinungen. Zur Kontroverse um die Standortfindung für eine deutsche Reaktorstation 1950-1955, Karlsruhe 1986, Ulrich Wengenroth: »Die Technische Hochschule nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem Weg zu High-Tech and Massenbetrieb«, in: ders. (Hg.), Die Technische Universität München. München 1993, S. 261-298 sowie S. Deutinger, Garching, S. 128ff. 14 Vgl. H. Trischler: Nationales Innovationssystem, S. 149. 15 Vgl. ebd., S. 153. 16 Vgl. U. Wengenroth: Technische Hochschule; M. Eckert/M. Osietzki: Wissenschaft, S. 74. 17 Vgl. ebd., S. 266. 73

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Maier-Leibnitz, der Forschungsreaktor angeboten. Auf diese Weise wurde das so genannte »Atom-Ei« zum Laboratorium für Technische Physik der TH München.18 Politische Streitigkeiten um den Standort für den ersten bundesdeutschen Kernreaktor, persönliche Interessen und die Entscheidung für Karlsruhe führten letztlich dazu, dass bei München ein Forschungsreaktor errichtet wurde: das »Atom-Ei«, das aus Sicht von Kerntechnikern und Industrie ein unbedeutendes Gerät darstellte, für die bayerische Landesregierung dagegen die Möglichkeit bot, Fortschrittlichkeit zu demonstrieren. Für dieses Symbol der Fortschrittlichkeit galt es, einen geeigneten Standort im Raum München zu finden.

4.2.2. Garchings »natürliche Ausstattung«: der geographisch-materielle Raum Zunächst hatte man daran gedacht, den Reaktor auf dem Gelände der Technischen Hochschule inmitten der Stadt München zu errichten. Um mögliche Widerstände zu umgehen, wurde jedoch bald beschlossen, die Anlage außerhalb Münchens zu platzieren. Im Januar 1956 entschied sich die Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern für das Gelände in den Isarauen bei Garching.19 Denn Garching bot materielle-geographische Bedingungen, die es als Standort für den Forschungsreaktor geeignet erscheinen ließ: Die Nähe der Autobahn und der Bundesstraße, der geologisch stabile Untergrund, der für Kühlzwecke notwendige Wasserlauf sowie genügend freie, zur Verfügung stehende Fläche. Zudem wurde die Lage im Nordosten der Stadt München als günstig angesehen, da in der Region üblicherweise Westwind vorherrscht und im Falle eines Störfalles die Münchner Bevölkerung weniger betroffen wäre.20 Die natürlichen Gegebenheiten Garchings waren mithin ein wichtiger Faktor, der dazu führte, dass das »Atom-Ei« am Rande des nördlich von München gelegenen Bauerndorfs errichtet wurde und damit den Ausgangspunkt für dessen Entwicklung zu einem bedeutenden Forschungszentrum darstellte. Ein weiterer Aspekt war allerdings die posi-

18 Vgl. M. Eckert/M. Osietzki: Wissenschaft, S. 74, U. Wengenroth: Technische Hochschule, S. 265ff. 19 Vgl. Der Forschungs-Reaktor München. Hg. anläßlich der Übergabe der Reaktorstation Garching des Laboratoriums für Technische Physik der THM. Verfaßt von Mitwirkenden an dem Projekt, hg. von H. Maier- Leibnitz. München 1958, S. 10. 20 Vgl. S. Deutinger: Garching, S. 231. 74

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tive Haltung Garchings gegenüber der Ansiedlung des »Atom-Ei«; doch dazu später. Mit der Errichtung des Forschungsreaktors 1957 verlagerte die Technische Hochschule München zugleich die ersten Fakultäten in die Peripherie Münchens. In den 1960er Jahren waren bereits erste Konzepte zur Verlagerung der gesamten TH nach Garching entwickelt worden. Ein wesentlicher Schritt für die Zentrierung vieler wissenschaftlicher Einrichtungen in Garching seit den 1960er Jahren war auch die Ansiedlung verschiedener Max-Planck-Instituts (MPI). Damit begann der Ausbau des Forschungszentrums bald »reaktorunabhängigen Notwendigkeiten« zu folgen. Die Zahl der Beschäftigten auf dem Forschungsgelände wuchs innerhalb von zehn Jahren von zunächst 20, die im Forschungsreaktor arbeiteten, auf insgesamt 1.200 im Jahr 1967. Und klar war damit, dass es »nicht mehr die Frage (ist), ob, sondern vielmehr wie schnell sich Garching zu einer ›Stadt der Wissenschaften‹ entwickeln wird«.21

4.3. Suburbanisierung von Wissenschaft Jenseits der Notwendigkeit, einen geeigneten Standort für einen Forschungsreaktor zu finden, der außerhalb des Stadtzentrums, jedoch in nicht allzu großer Entfernung Münchens liegen sollte, spiegelt der Aufbau eines Forschungszentrums vor den Toren der Stadt die »Suburbanisierung von Wissenschaft« wider. Waren zwar im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gerade naturwissenschaftliche Fakultäten bereits an den Stadtrand gebaut worden und hatte schon im 19. Jahrhundert die Ausdehnung von Universitäten oder Forschungsinstituten dazu geführt, dass deren Ausbau – wie in Tübingen oder Berlin-Dahlem – vereinzelt außerhalb der Stadtgrenzen stattfand, so stellte dies damals jedoch noch eine Ausnahme dar, die zudem auf Widerstand stieß. Seit den 1960er Jahren entwickelte sich die Verlagerung der Universitäten an den Stadtrand jedoch zu einem neuen Leitbild der Hochschulplanung. Suburbanisierungsprozesse, wie sie für die Wissenschaft im folgenden am Beispiel Garchings beschrieben werden, setzten in den 1960er Jahren, sowohl bundesweit als auch in München, verstärkt auch im Bereich Wohnen und Arbeit ein. Die Stadt München war in den 1960er Jahren einem ungewöhnlichen Anstieg der Bevölkerung ausgesetzt. In der Stadt gab es zu wenig Fläche für Wohnungen, für Industrie und für die Wissenschaft. 1963 hatte die Prognos AG angekündigt, der Raum München müsse im kommenden Jahrzehnt mit einem verstärkten Zu21 Festschrift zur Festwoche. 75

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strom an Bevölkerung rechnen, wobei dessen Schwerpunkt wohl das Gebiet des Landkreises München sein werde und weniger die Stadt München selbst.22 Die Situation auf dem Grundstücks- und Wohnungsmarkt innerhalb der Stadt führte dazu, dass die verkehrsgünstig liegenden Gemeinden in immer stärkeren Umfang von der Ausdehnung der Stadt und der Entwicklung der »Stadtregion« erfasst wurden. Die Überlastung der Stadt München war in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Thema der Stadtentwicklungspläne. Wohnen, Industrie und schließlich auch die Wissenschaft kehrten der Stadt den Rücken. Vor allem im industriellen Bereich waren Suburbanisierungsprozesse stark ausgeprägt. Der Münchner Raum, schreibt Haas, ist »seit den 60er Jahren durch intensive zentrifugale Verlagerungsprozesse gekennzeichnet«. Zwischen 1970 und 1980 kehrten 250 Betriebe mit mehr als 20.000 Arbeitsplätzen der Stadt den Rücken.23 Zwischen 1987 und 1994 fanden sich 50,3% aller Arbeitsplatzzuwächse außerhalb der Stadt, in den »Gemeinden der engeren Verdichtungszone«.24 Angesichts des Raummangels in München hatte der Regionalentwicklungsplan aus dem Jahr 1967 auch Garching ins Visier genommen und festgestellt, dass die Gemeinde »aufgrund ihrer topographischen Lage, ihrer Verkehrs- und Versorgungssituation sowie der sonstigen in ihr gegebenen Voraussetzungen für eine verstärkte Entwicklung von Wohn- und Arbeitsstätten« geeignet sei.25 In Garching wiederum hatten schon zuvor die mäßigen bis schlechtem Erträge der landwirtschaftlichen Böden, die immer höher steigenden Grundstückspreise sowie die Beschäftigungsmöglichkeiten in der gewerblichen Wirtschaft die Bereitschaft zur Aufgabe landwirtschaftlicher Betriebe gefördert.26 Zwar war Garching zu Beginn der 1960er Jahre noch bemüht, die »Landwirtschaft [...] solange wie möglich in ihrer Existenz zu erhalten«, doch befand sie sich bereits auf dem Weg in eines der suburbanen Zentren Münchens, das als »Industrie- und Wohnge-

22 Vgl. Gemeinderatssitzung (im folgenden GRS), 25. Januar 1963. Vor der Stadterhebung lautet die Abkürzung für die Gemeinderatssitzungen GRS, für die Zeit danach, also ab 1990, SRS (Stadtratssitzungen). 23 Vgl. H-D. Haas: München, S. 190. 24 Martin Karten/Hartmut Usbeck: »Gewerbesuburbanisierung – Die Tertiärisierung der suburbanen Standorte«, in: K. Brake/J. S. Dangschat/G. Herfert (Hg.), Suburbanisierung in Deutschland, Opladen 2001, S. 71-80, hier, S. 73. 25 Stellungnahme der Gemeinde Garching zum Regionalentwicklungsplan. Vgl. GRS, 17. 3. 1967. 26 Vgl. GRS, 4. Oktober 1963. 76

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meinde sowie vor allem als Sitz der Hochschul- und Forschungseinrichtungen« fungieren sollte.27 Auch innerhalb der Technische Hochschule München begannen – nach ihrem Ausbau in der Münchner Innenstadt im 19. Jahrhundert – in den 1960er Jahren Überlegungen über eine weitere Verlegung von Instituten aus der Innenstadt nach Garching. In den Jahren 1963/64 hatten die Rektoren der TH das Ziel einer langfristigen Verlagerung der gesamten Hochschule vom Stammgelände nach Garching formuliert.28 1965 verabschiedete der Senat der TH ein umfassendes Raumprogramm für die nach Garching zu verlagernde Hochschule, und das Kollegium bekräftigte den Beschluss, Garching als neuen Hochschulstandort zu erschließen.29 Die Instandhaltungsmaßnahmen auf dem Stammgelände wurden bereits auf das Nötigste reduziert, da nahezu sämtliche Investitionen in den Ausbau des Hochschulstandorts Garching flossen.30 Diese universitäre Suburbanisierung war begleitet von der Ansiedlung weiterer wissenschaftlicher Institute in Garching, vor allem solchen der Max-PlanckGesellschaft. Anders als bei den Neugründungen der bundesdeutschen Reformuniversitäten,31 verlief dieser Prozess allerdings nicht als Masterplan im Sinne eines großen Campus-Baus. Vielmehr wurde er mehrfach unterbrochen, gestoppt, war von kritischen Stimmen begleitet, um jeweils wieder aufgenommen zu werden. Gleichwohl, trotz aller Verzögerungen kündigte sich damit ein Trend an, Hochschulstandorte am Rande von Städten zu errichten, der bis heute wirksam geblieben ist. Verglichen mit universitären Reformprojekten wie Bremen, Bielefeld oder Bochum, die mit gesellschaftsreformerischen Ansprüchen einhergingen,32 lässt sich der Suburbanisierungsprozess der Münchner Naturwissenschaften einerseits als relativ pragmatisch und andererseits in der offiziellen Legitima27 Ebd. 28 Vgl. Denkschrift zur Verlagerung der Technischen Universität München von München nach Garching. Beschluss der ständigen Kommission für Hochschulplanung der TUM vom 19.3.1980 auf der Grundlage des Senatsbeschlusses vom 23.1.1980. Hrsg. im Auftrag des Präsidenten von der Bauabteilung 4 – Liegenschaften – der zentralen Verwaltung der TU München, im März 1980 (im Folgenden zitiert als »Denkschrift«), S. 3. 29 Vgl. ebd., S. 3. 30 Vgl. Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum, TU München (Hg.), Perspektive TUM Workshop. Der Student als Nomade, München 2001, S. 26. 31 Vgl. dazu das Schwerpunktheft: Die Alte Stadt 30 (2003), Schwerpunktheft Stadt und Universität, hg. von Johann Jessen. 32 Vgl. Robert Lemmen: »Die Universität in der Stadt. Beispiel Bremen – wechselnde Leitbilder und Lösungen«, in: Die Alte Stadt 30 (2003), S. 44-56, hier S.44. 77

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tionsrhetorik zugleich konzeptionell untermauert beschreiben. So knüpfte die Argumentation der TH an Ideale Humboldts und die Idee der »Einheitsuniversität« an. Für die Entscheidung, die Wissenschaft entgegen einer Jahrhunderte langen Tradition nicht in der Stadt auszubauen, sondern in der städtischen Peripherie, am Rande eines Bauerndorfes anzusiedeln, waren drei Faktoren ausschlaggebend: a) der Platz- und Raummangel innerhalb der Stadt München, b) die Orientierung an der humboldtschen Tradition, die die Universität als Ganzes, als Einheit betrachtete sowie c) der Faktor der Wirtschaftlichkeit. Zudem entsprach die Lage der Wissenschaft am Rande eines Dorfes, fernab der Stadt sowohl dem dominierenden Konzept der Stadtplanung der 1950er und 1960er Jahre, das den Maximen der Funktionstrennung folgte, als auch den zeitgenössischen Vorstellungen der gesellschaftlichen Rolle und Arbeitsweise von Wissenschaft.

a) Raummangel Angesichts der Ausdifferenzierung der Fächer und der steigenden Studentenzahlen der TH München33 wurden deren Raumprobleme seit den 1960er Jahren immer drängender. Im so genannten »Stammgelände« der Hochschule, mitten in einer Wohngegend gelegen, fehlte der Platz. Alle Überlegungen, Räume in der unmittelbaren Umgebung zu erhalten, zerschlugen sich, da diese Objekte von Seiten Dritter, wie beispielsweise dem Freistaat Bayern, beansprucht wurden.34 Für die TH wurde schließlich klar, dass gerade der Flächenbedarf der technischen Disziplinen mit ihren Raum beanspruchenden Forschungseinrichtungen kaum innerhalb Münchens befriedigt werden konnte.35 Wie auch bei Suburbanisierungsprozessen im Bereich Wohnen oder Industrie war daher der Mangel an frei verfügbarer Fläche sowie deren Kosten in der Stadt einer der Gründe für die Auslagerung wissenschaftlicher Institute. Garching bot eine Möglichkeit, alle akuten, dringenden Raumbedürfnisse zu befriedigen; die Fläche sei großzügig genug dimensioniert, um gegebenenfalls auch einer außerordentlichen Entwicklung der TH Rechnung tragen zu können, so die Überlegung.36 Der »Strukturplan Garching 1970« sah schließlich die Gesamtverlagerung der Hochschule von München nach Garching vor; dies wurde 1980 in einer Denkschrift noch einmal bekräf-

33 Dies stellte kein Spezifikum Münchens dar. Vgl. dazu U. Wengenroth: Technische Hochschule, S. 284. 34 Vgl. Denkschrift, S. 1f. 35 Vgl. ebd., S. 13. 36 Vgl. ebd., S. 2. 78

GARCHING: VOM DORF ZUR »W ISSENSCHAFTSSTADT«

tigt.37 Während hier allerdings davon die Rede war, es gäbe keine Alternative gegenüber der Fortsetzung der Verlegung der TU nach Garching, wurden die Pläne einer Gesamtverlagerung 1982 bereits wieder zurückgenommen. Der Wissenschaftsrat stoppte nämlich in seiner mittelfristigen Hochschulplanung alle entsprechenden Konzepte. Die TU, die noch im März 1980 die zügige Übersiedlung nach Garching mit einer Denkschrift zu forcieren versucht hatte, richtete sich nun auf einen »Verbleib in der Innenstadt auf längere Zeit« ein.38 Auch 1985 wurde die Entscheidung, die TU nicht nach Garching zu verlagern, mit Verweis auf die schlechte Haushaltslage noch einmal bekräftigt. Kultusminister Hans Maier hob hervor: »Eine geschlossene Verlagerung weiterer Fakultäten der TU nach Garching ist in den nächsten Jahrzehnten weder beabsichtigt noch realisierbar.«39 Allerdings versuchte man nun, zweigleisig zu verfahren, insofern man zumindest Teile der TU nach Garching zu verlagern plante. So wurde zunächst die Komplettierung der bereits weitgehend nach Garching verlagerten Fakultäten für Chemie, Biologie und Geowissenschaften sowie für Physik angestrebt.40 Die Suburbanisierung der Wissenschaft geriet mithin jeweils in das Fahrwasser von Haushaltslagen oder Begehrlichkeiten auf innerstädtische Raumflächen, die beispielsweise zwischen Wissenschaft und kulturellen Instituten ausgefochten wurden. Mitte der 1990er Jahre wurde ein solcher Konflikt um Innenstadtflächen schließlich zugunsten des Baus der »Neuen Pinakothek« entschieden.41 Gleichzeitig wurde der Ausbau Garchings nun wieder stärker forciert. Die Maschinenbaufakultät, die aufgrund von Raummangel ihre »ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben für Forschung und Lehre stark beeinträchtigt« sah,42 und die ursprünglich in der Innenstadt auf ein größeres Gelände ziehen sollte, wurde 1997 in Garching eröffnet. 1997 folgte zudem die Verlagerung des Grundstudiums Physik nach Garching,43 2002 des Instituts für Mathematik und Informatik und schließlich der Elektro- und Informations-

37 38 39 40 41

Vgl. ebd., S. 1. SZ, 21. Juli 1982, S. 13 SZ, 11. September 1985, S. 13. Ebd. Vgl. Technische Universität München, Fakultät für Maschinenwesen (Hg.), Die neue Fakultät. Maschinenwesen an der TU München. München 1997, S. 7. 42 SRS, 25. November 1992. 43 Vgl. TU-Bauamt, Garching, 5000, 1997. (Sämtliche im Folgenden genannten Akten des Bauamtes befinden sich im Keller des TU-Bauamtes, ungeordnet). 79

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technik. In München blieben lediglich die Hochschulleitung und die Baufakultäten Architektur und Bauingenieurwesen.44 Anders als bei den in den 1960er und 70er Jahren dominierenden Konzepten, wie sie sich in Neugründungen von Universitäten in Bochum, Bremen oder Bielefeld spiegelten, die mit einem Reformeifer einhergingen, der die neuen Universitäten zu einem »Experimentierfeld«45 am Rande der Stadt machte, verlief der Prozess in Garching zu einem nicht geringen Teil infolge pragmatischer Erwägungen; er war geprägt von Interessenskonflikten um die Nutzung wertvoller Flächen innerhalb der Stadt München sowie von der Haushaltslage, die den Prozess der Verlagerung der TU in den 1980er Jahren vorübergehend gestoppt hatte. Das Forschungsareal Garching ist nicht das Ergebnis eines kohärenten Masterplans, sondern eines historischen Prozesses, der zu Verzögerungen und Einschränkungen gemachter Pläne, einer Umkehr der Pläne sowie ihrer Wiederaufnahme führte. Gleichwohl fehlte es nicht an einer legitimatorischen Untermauerung.

b) Die Bedeutung räumlicher Nähe: Rekurs auf die Tradition Humboldts Die Wissenschaft kehrte also aus ganz pragmatischen Gründen des Raummangels der Stadt den Rücken. Damit ging eine starke Tendenz zur »polyzentrischen« Stadt einher, indem sich verschiedene, fachlich gebündelte Zentren, dezentral wie ein Gürtel um München ansiedelten. Die Stadt München weist mittlerweile kaum mehr naturwissenschaftliche Institute im Stadtbereich auf. Vielmehr befinden sich diese wie ein Ring um München herum gelagert. Neben der Raumknappheit in München spielte das Bedürfnis, eine Konzentration von fachlichen Schwerpunkten zu schaffen und starke örtliche Profile auszubilden, eine wesentliche Rolle. Dies zeichnete sich in München vor allem seit den 1980er Jahren immer stärker ab und führte im Hinblick auf die TU zu den Standorten Garching (technisch-naturwissenschaftlicher Schwerpunkt), Weihenstephan (life science) und Stadtmitte. Die Zentralisierung an verschiedenen Standorten in der Peripherie Münchens wurde – bis in die 1980er Jahre hinein – in eine spezifische historische Tradition gestellt. Man rekurrierte auf das Humboldtsche Ideal der »Universität als Ganzes«. In dem Moment, in dem die Univer44 Vgl. Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum, TU München (Hg.), S. 16. 45 So Hans Joachim Aminde, zitiert nach Stefan Muthesius: »Die Nachkriegsuniversität: ›Stadt‹ vor der Stadt«, in: Die Alte Stadt 30 (2003), S. 20-31, hier, S. 30. 80

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sität aufgrund der fachlichen Ausdifferenzierung und der anwachsenden Studierendenzahlen kein geschlossenes Areal in der Innenstadt mehr finden konnte, wurde die Humboldtsche Vorstellung am Stadtrand zu verwirklichen versucht. Mutet diese Referenz auf Humboldt angesichts der Zersplitterung der Hochschule in verschiedene fachlich gebündelte Zentren allerdings als eine Humboldtsche Schmalversion bzw. als die »Erfindung einer Tradition« an, so verweist sie doch auf die Priorität der Konzentration und Zusammenlegung fachlich verwandter Institute in der städtischen Peripherie, die deren möglicher Zerstreuung in der Stadt vorgezogen wurde. Dabei wurden die Vorteile bzw. die Notwendigkeiten räumlicher Nähe verschiedener Institute stark betont. Sowohl die dort ansässigen MPIs als auch die TH/TU hatten bei ihrer Entscheidung des Ausbaus des Standortes Garching mit dem Argument der Vorteile, die aus einer unmittelbaren Nachbarschaft vieler wissenschaftlicher Institute für die Forscher resultieren, argumentiert. Diese Begründung findet sich durchgängig in der Debatte um die Verlagerung der Institute nach Garching. So erhielt, um nur ein Beispiel zu nennen, 1986 das Bauamt der TU den Auftrag einer Standortstudie für die Errichtung eines Biologicums mit Gentechnologischem Zentrum. Dabei wurde hervorgehoben, dass die Nähe zur Chemie erwünscht sei, dass eine Verbindung mit den Chemischen Instituten angestrebt werden soll.46 Faktisch bedeutete dies, dass das Biologicum in Garching zu errichten sei, wo sich das chemische Institut seit Ende der 1970er Jahre befand. Der Verweis auf die Bedeutung räumlicher Nähe geschah deutlich in einer Sprache, die die Humboldtsche Tradition aufrief wie beispielsweise die Rede vom »funktionsfähigen Ganzen« und der »Universität als Ganzes«. Seitens der TH-Administration wurde argumentiert, die Fakultäten seien durch die räumliche Trennung in ihrer Funktion drastisch beeinträchtigt.47 Dies bezog sich beispielsweise – ganz im Sinne der Humboldtschen Tradition – auf die Einheit von Lehr- und Forschungsbetrieb: 1960, bei den ersten Überlegungen, Institute nach Garching zu verlagern, hatte die TH bereits die Gefahr beschworen, dass sich die Forschung und Lehre auf verschiedene, mehr oder minder zufällig greifbare Standorte verzetteln würden. Dies sollte verhindert werden. Ziel war vielmehr, »alles, was nicht am Stammgelände unterzubringen war, an einer Stelle konzentrieren«, damit »ein funktionsfähiges Ganzes (Hervorhebung M.H.) entstehen« konnte.48 Während beispielsweise das Bayerische Staatsministerium der Finanzen und der Bayerische Oberste 46 Vgl. Akten TU-Bauamt Garching, 5000, 1987. 47 Vgl. Denkschrift, S. 11. 48 Ebd., S. 1f. 81

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Rechnungshof die Frage aufgeworfen hatte, »ob nicht die Durchführung des Lehr- und Forschungsbetriebes an zwei Standorten auf Dauer möglich« sei,49 insistierten die Verantwortlichen der TU darauf, dass die Hochschule »ein komplexes Ganzes« sei, »das nicht beliebig teilbar ist. Alle Kernbereiche der Hochschule sind in Lehre und Forschung mehr oder weniger stark untereinander verbunden; [...] ebenso zwingend notwendig ist die unmittelbare Kommunikationsmöglichkeit zwischen fach- und sachverwandten Forschungsgebieten«.50 [...] »Die TUM trifft diese Feststellung mit ganz besonderem Nachdruck, und zwar als Resumé aus unsäglich vielen leidvollen Erfahrungen, die mit dislozierten Teilbereichen schon bisher gemacht werden mussten«.51

Dabei wurde zudem auf die Nachbarschaft zu weiteren wissenschaftlichen Einrichtungen von nationaler wie internationaler Bedeutung (z.B. den Instituten der MPG) verwiesen.52 Seit den 1980er Jahren findet sich darüber hinaus der Hinweis auf die notwendige Integration von Grundlagenforschung und anwendungsorientierter Wissenschaft. In den 1990er Jahren erhielt der Topos der räumlichen Nähe geradezu hysterische Priorität, die einher ging mit der Betonung informeller Kommunikation, kurzer Wege und spontaner Kontakte. Dies greift aber schon auf einen wesentlichen Punkt vor, den Wandel des Wissenschaftsstandortes Garching zu einem »kreativen Milieu«, der in den 1970er Jahren begann, sich aber vor allem in den 1980er und den 1990er Jahren beschleunigte. Zusammengefasst lautete das Argument, dass, wenn in der Stadt die Konzentration verschiedener Institute nicht mehr möglich ist, sondern sich hier eine Verteilung über die ganze Stadt entwickelt, dem eine Konzentration der Institute in der städtischen Peripherie vorzuziehen sei, womit freilich zugleich die Verflechtung mit der Stadt, ihren sozialen und kulturellen Einrichtungen verloren geht zugunsten einer monofunktionalen Ansiedlung im suburbanen Raum.

49 50 51 52 82

Ebd., S. 20. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 2.

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c) Wirtschaftlichkeit und technische Erfordernisse Ein weiteres zentrales Argument für die Zusammenlegung verschiedener Institute war und ist naheliegenderweise die Wirtschaftlichkeit, die sich aus der Konzentration der Hochschule an einem Standort ergibt.53 Zudem sind große technische Geräte im Stadtinnern nur schwer unterzubringen. Große Hallen und Werkstätten, technische Instrumente beanspruchen viel Platz. Auch ihre gemeinsame Nutzung durch verschiedene Institute war ein zentrales Argument.54 Schließlich spielte gerade für die Naturwissenschaften auch die Empfindlichkeit und Störanfälligkeit technischer Geräte, beispielsweise durch Erschütterungen, eine Rolle.

Forschungsstandort auf der grünen Wiese: Kritik Die Bemühungen zur Auslagerung wissenschaftlicher Institute in die Peripherie der Stadt München, die den 1970er Jahren zur Idee der dezentralen Stadt weitergedacht wurden und schließlich in den 1990er Jahren in der Vorstellung der Verschmelzung von Stadt und Umland mündeten,55 stießen auf Kritik und Vorbehalte. Für die Suburbanisierung von Wohnen, Industrie, Dienstleistungen und Freizeit wurde die Kritik in der Forschung schon vielfach geschildert. Im Hinblick auf die Auslagerung der Wissenschaft aus der Stadt erwachte vor allem in jüngster Zeit eine neue Sensibilität für die daraus möglicherweise entstehenden Probleme. So wurden angesichts des massiven Auslagerungsschubs der Universität in der letzten Dekade die Befürchtungen laut, die Innenstädte würden »ausbluten«, es entstehe in der Innenstadt eine Brache, während es zur »Trabantenbildung« komme.56 Während TU Präsident Herrmann dagegen – ganz im Sinne des Denkens in Stadtlandschaften bzw. Stadtregionen – von München als »Munich greater area« spricht, warnte Oberbürgermeister Ude kürzlich, die Münchner Universitäten würden zu »Briefkastenfirmen«. München dürfte seine Qualität als Hochschulstadt nicht einbüßen und die Hochschulen umgekehrt nicht das urbane Umfeld.57 Die Wiederbetonung der Bedeutung der (Kern)Stadt für die Wissenschaft wie umgekehrt der Rolle, die die Wissenschaft für die Stadt spielt, steht der Vorstellung der dezentralen Stadt, der Stadtlandschaft 53 Vgl. ebd. und S. 22f. 54 Vgl. SZ, 11. September 1985, S. 13; SZ, 18. November 2003, S. 37. 55 Im Stadtentwicklungskonzept der Landeshauptstadt München 1996 ist schließlich von der »Verschmelzung von Stadt und Umland als einheitlicher Wirtschafts- und Lebensraum« die Rede. Vgl. SRS, 14. Juni 1996. 56 Vgl. Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum, TU München (Hg.), S. 7. 57 Vgl. SZ, 2. November 2001, S. 49. 83

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entgegen; die beiden Modelle spiegeln die derzeitige stadtplanerische, politische wie soziologische Debatte über die Zukunft der Stadt wider. In München entschied man sich im Hinblick auf die Topographie der Wissenschaft deutlich für ein dezentrales Modell. Das Denken in Stadt-Regionen erwies sich jedoch – historisch betrachtet – angesichts schlechter Verkehrsanbindungen zumindest für den Fall Garching als eine Idee, deren Realisierung einige Hindernisse entgegenstanden. Garching war außergewöhnlich lange vom öffentlichen Schienenverkehr der Region abgeschnitten. Ein 1900 geplanter Bahnbau von München-Schwabing nach Freising über Garching wurde genauso wenig verwirklicht wie die 1939 erneut geplante Anbindung Garchings an das Eisenbahnnetz.58 Auch seit den 1960er Jahren war der Anschluss an das öffentliche Verkehrssystem Münchens immer wieder angedacht worden59 und seit den 1970er Jahren wurde er aufgrund der Entwicklung Garchings als Hochschulstandorts intensiv diskutiert. Doch blieb die Gemeinde letztlich auch beim Ausbau des S-Bahn-Netzes 1972 unberücksichtigt. Erst 1988 fasste der Gemeinderat den Beschluss, die Maßnahmeträgerschaft für den Bau der U-Bahn zu übernehmen. Im Oktober 1995 wurde die U-Bahnverlängerung der U 6 von Fröttmaning nach Garching-Hochbrück in Betrieb genommen – zu einem Zeitpunkt, zu dem der Standort Garching schon über 30 Jahre, nimmt man das »Atom-Ei« als Ausgangspunkt, sogar fast 40 Jahre bestand. Im gleichen Jahr, also 1995, einigten sich alle Beteiligten60 darüber, die U-Bahn in den nächsten Jahren bis Garching-Forschungsgelände zu verlängern, und stimmten die wesentlichen Finanzierungsmodalitäten ab.61 Diese Entscheidung bildete jedoch den Anfang einer schwierigen Phase, in der langwierige Planungen, Verhandlungen, Diskussionen und schließlich einen Bürgerentscheid62 den Baubeginn hinauszögerte. Ende April 2001 wurde die Baustelle schließlich eingerichtet. Im Jahr 2006 wurde die U-Bahn zum Forschungs- und Hochschulgelände eröffnet. Diese schlechte Verkehrsanbindung nach München brachte für die – zumeist pendelnden Wissenschaftler und Studierenden – Probleme. Mitte der 1970er Jahre wurden die langen Fahrzeiten (mit dem Bus) dafür verantwortlich gemacht, dass die Studierendenzahlen an der TU in eini-

58 Vgl. S. Deutinger: Garching. 59 Vgl. Erläuterungsbericht, Landeshauptstadt München Baureferat U-BahnBau, Stand: Oktober 1998, in: Stadtarchiv Garching. 60 Der Bayerische Staatsminister für Wirtschaft, Finanzen und Kultur, der Landrat des Landkreises München, der Präsident der TU München und der Bürgermeister der Stadt Garching waren die Beteiligten. 61 Vgl. SRS, 26. Oktober 1995. 62 Vgl. SRS, 7. Juli 1998. Der Bürgerentscheid fand am 27.09.1998 statt. 84

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gen Fächern zurückgegangen waren. Die Studierenden würden sich lieber an der LMU einschreiben, so wurde beobachtet. Während beispielsweise die Zahl der Studienanfänger im Fach Physik an der TU (Garching) innerhalb von drei Jahren um 15% zurückging (in Chemie innerhalb von zwei Jahren um 20%), stiegen die Immatrikulationen der Studienanfänger an der LMU um 30% (Physik) und knapp 25% (Chemie). »Studenten scheuen den Weg nach Garching« war Mitte der 70er Jahre ein Artikel der Süddeutschen Zeitung überschrieben.63 Dies führte bis zur bangen Frage, ob sich überhaupt noch genügend Studenten für das TU-Gelände in Garching finden ließen. Viele Studierende schienen nicht gewillt, die langen Entfernungen in Kauf zu nehmen: »Die Pendelei zwischen TU und Garching dauert alles in allem pro Tag über drei Stunden« wurde ein TU-Student zitiert. Ein Flugblatt, das Studierende während einer Demonstration verteilten, polemisierte: »Wer wird da nicht versuchen, auf eine Universität auszuweichen, die nicht so abgeschnitten ist?« Die Pendelei brachte für die Studierenden, vor allem wenn sie mehrere Fächer studieren, nicht nur einen großen Zeitverlust, sondern auch das Problem sich überschneidender Vorlesungen.64 Entsprechend wiesen, als im Juni 1978 in Garching Mensa und Chemikum der TUM eingeweiht wurden, fast alle Festredner darauf hin, dass wegen der schlechten Verkehrsanbindungen zwischen dem Stammgelände der TU und den Garchinger Hochschulinstituten letztere nicht voll ausgelastet seien.65 1980 pendelten rund 1.500 Studenten der TU zwischen Garching und dem Stammgelände, wobei der Schwerpunkt des Lehrangebots je nach Studiengang hier oder dort lag.66 Fast zehn Jahre später stand das Problem fast unverändert erneut auf der Agenda. Die Argumente wiederholten sich, das Szenario war ähnlich. Studierende berichteten, an manchen Tagen säßen sie länger im Omnibus als im Hörsaal. »Die Misere ist derart prekär, daß viele junge Leute inzwischen die TU meiden und einen Studienplatz an der LMU vorziehen. Jüngstes Beispiel: In Chemie besteht an der Universität ein NC. 314 Bewerber stehen 134 Studienplätzen gegenüber. An der TU, deren Chemie-Institute zwar weltweit einen hervorragenden Ruf genießen, aber in Garching liegen, gibt es mangels Studenten keine Zugangsbeschränkung.«67

63 64 65 66 67

Vgl. SZ, 2. September 1975, S. 9. Vgl. ebd. Vgl. SZ, 23. Juni 1978, S. 13. Vgl. Denkschrift, S. 10. SZ, 3. November 1988, S. 17. 85

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Heute ist Garching der größte Standort der TU.68 Die Süddeutsche Zeitung berichtete auch 2003 noch von den Mühen der Pendelei. Nach Vorlesungsschluss sei das Gelände menschenleer.69 Mehrfache Nachfragen bei der TU-Pressestelle über aktuelle Studierendenzahlen oder Einschätzungen zum »Pendelproblem« wurden leider nicht beantwortet. Ein Artikel der Süddeutschen Zeitung berichtet Anfang 2007, dass 95% der Studierenden pendeln.70 Die Kritik, die Mitte der 1970er und der 1980er Jahren an der Abgelegenheit, den weiten Wegen zum Forschungsgelände geäußert wurde, verweist vor allem auch darauf, dass der Wissenschaftsstandort vor den Toren Münchens lediglich zu einem Standort wurde, der Wissenschaftlern und Studierenden gute wissenschaftliche Arbeitsbedingungen bieten mag, der sich jedoch nicht zu einem Wohnort, zu einer lebendigen Wissenschaftsstadt entwickelte und der – zumindest phasenweise – aufgrund der weiten Anreise auch gemieden wurde. Bis in die 1970er Jahre hinein wurde dies jedoch nicht als Problem wahrgenommen; als problematisch galten lediglich die schlechte Verkehrsanbindung und die langen Anreisezeiten. Dass die Auslagerung der Wissenschaft aus dem städtischen Umfeld Münchens für die meisten Wissenschaftler und Studierenden die Trennung von Arbeit und Leben, und damit eine andere Lebensform und eine andere wissenschaftliche Arbeitsweise bedeutete, wurde lange Zeit nicht thematisiert. Was in der Gesellschaft der späten 1950er und 1960er Jahre noch einem Ideal des von der Gesellschaft separierten Wissenschaftlers entsprochen haben mag, geriet seit den 1970er Jahren jedoch zunehmend kritisch in den Blick, nämlich dass Garching als Wissenschaftsstandort keine soziale Infrastruktur bot, dass Studierende zum Wohnen, Freizeit und Arbeit auf München angewiesen waren.71 Zur gleichen Zeit wurden Versuche unternommen, den Ort, der sich zu einem typischen suburbia entwickelt hatte, wieder zu einer lebendigen, integrierten Gemeinde werden zu lassen. Die Entwicklung Garchings von

68 Vgl. SZ, 18. November 2003, S. 37. 69 Vgl. SZ, 18. November 2003, S. 47. Vgl. dazu auch SZ, 15. November 2002. Dort wird berichtet, dass sich in der Fachschaft für Mathematik und Informatik täglich »Hochschüler« beschweren. Einige würden seltenen zur Uni fahren und es vorziehen, zu Hause zu arbeiten. 70 »Aufschwung des Münchner Nordens. Garching – das explodierte Dorf«, in: Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 2007. 71 Wengenroth wies darauf hin, dass eine Campus-Mentalität fehle »oder genauer die Voraussetzung, unter der sie sich entwickeln könnte. Die finanzielle prekäre Situation der meisten Studenten läßt es oft gar nicht zu, daß sie sich allzuweit von den potentiellen Verdientsquellen im Stadtgebiet zu entfernen.« U. Wengenroth: Technische Hochschule, S. 296. 86

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einem Bauerndorf zu einem suburbanen Ort und die Versuche, diesen wieder zu »urbanisieren«, werden Thema der folgenden Abschnitte sein.

4.4. Transformationen des Dorfes 4.4.1. Garchings Entwicklung zum »Atom-Dorf« Suburbanisierungsprozesse, wie sie vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzten, veränderten die Raumstruktur der Bundesrepublik sowie die Lebensweisen und den Alltag der Menschen. Die Verstädterung der Landschaft, die Auflösung des scharfen Stadt-Land-Gegensatzes waren bereits häufig Thema der Forschung. Vor allem die Dörfer, die im Einzugsbereich von Großstädten lagen, waren diesem Verstädterungsprozess ausgesetzt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlor eine Vielzahl von Orten ihren dörflichen Charakter; sie wurden zu suburbanen Vorstädten. Clemens Zimmermann spricht von der »Urbanisierung des Landes«72. Geert Maks beschrieb diese Prozesse des »Verschwinden des Dorfes« in seinem Roman Wie Gott verschwand aus Jorwerd, in dem er das Vorrücken der Stadt, den Einzug der Maschinen und der Zugezogenen und den damit verbundenen Umbruch im Alltag und Leben der Dorfbewohner schildert.73 Zweifellos spiegelte sich in Garching dieser Trend wider. Gleichwohl vollzog sich der Wandel in Garching mit hoher Beschleunigung und aufgrund der Wissenschaftsansiedlung in spezifischer Weise. Ca. 15 Jahre nach Ansiedlung des Reaktors hatte Garching seinen dörflichen Charakter verloren. So konstatierte 1970 die Süddeutsche Zeitung: »Das Atom-Ei hat in Garching einen tief greifenden Strukturwandel hervorgerufen«.74 Und auch die Gemeinde Garching selbst betonte: »Das Forschungszentrum [...] hat die Entwicklung und die Struktur Garchings ganz erheblich beeinflußt und geprägt«.75 Garching war ein eher vergessenes Dorf in der Peripherie Münchens. 1910 erhielt die Gemeinde elektrisches Licht, 1911 eine zentrale Wasserversorgung, seit 1937 führte die Autobahn nach Berlin an Garching 72 Clemens Zimmermann: »Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Transformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte«, in: Werner Trossbach/Clemens Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 1998, S. 137-163, hier S. 159. 73 Vgl. Geert Maks: Wie Gott verschwand aus Jorwerd. Der Untergang des Dorfes in Europa, Berlin 1999. 74 SZ, 13. November 1970, S. 19. 75 Antrag auf Stadterhebung, S. 10. 87

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vorbei. War das Leben Jahrhunderte lang durch Geruhsamkeit, Stetigkeit und das Fehlen einschneidender Neuerungen charakterisiert, so ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch Expansion und rasanten Wandel gekennzeichnet: die Bevölkerungszahl, die Zahl der Wohnungen, der Geschäfte, der Betriebe und vor allem der Forschungsinstitute stieg rapide und stetig an.76 Abbildung 1: Bevölkerungsentwicklung Garching

Die Bevölkerungszahl wuchs seit den 1950er Jahren kontinuierlich. 1950 lebten in Garching 2.669 Menschen; 1961 waren es 3.518; 1970 war die Zahl auf 7.469 und 1987 auf 11.587 gestiegen. 1999 hatte Garching schließlich 15.244 Einwohner77 und am 31.Dezember 2003 wurden 15.433 vermeldet. Somit ist die Einwohnerzahl seit 1956 um rund 550% gewachsen.78 Mit dem Wachstum der Gemeinde ging vor allem ein sozialer und wirtschaftlicher Strukturwandel einher, der gerade im Hinblick auf das Verschwinden der Landwirtschaft wiederum typische bundesrepublikanische Entwicklungen spiegelt. In der Bundesrepublik ging der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft zwischen 1950 und 1975 von ca. 34% auf gut 7% zurück:79 76 Ein erster wesentlicher Schub für die Expansion und Veränderung der Gemeinde in der Nachkriegszeit war allerdings nicht die Wissenschaft, sondern die Ansiedlung vieler Flüchtlinge und Vertriebener aus den deutschen Ostgebieten, die die Bevölkerungszahl sprunghaft ansteigen ließ: von 736 im Jahr 1916 auf 2700 im Jahr 1948. Vgl. S. Deutinger: Garching. 77 Vgl. Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung. Statistik kommunal 2001, Stadt Garching bei München. 78 Vgl. Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03.2005, http://www.garching.de/verwaltung_politik/das_rathaus/stadtentwicklung/ bgv/garching_buergerversammlung_praesentation.pdf , 23. Juli 2007. 79 Vgl. Knut Borchardt: »Zäsuren in der wirtschaftlichen Entwicklung, Zwei, drei oder vier Perioden?«, in: W. Conze/R. Lepsius (Hg.), Sozialgeschichte, S. 20. 88

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»Zwischen 1950 und 1990 wurden fast zwei Drittel aller landwirtschaftlichen Betriebe in der Bundesrepublik aufgegeben. [...] Damit verschwanden familiär betriebene landwirtschaftliche Klein- und Nebenbetriebe ebenso wie dörfliches Kleingewerbe und in Verbindung damit eine gesamte dörflich-ländliche Lebensform.«80

In Garching hatte die Landwirtschaft zwar bis in die 1960er Jahre ihre Bedeutung als wichtigster Wirtschaftszweig behalten. Seitdem sanken die Zahl der bewirtschafteten Höfe sowie die Zahl der Hof- und Feldarbeiter jedoch ständig.81 Die landwirtschaftliche Prägung der Gemeinde verschwand sukzessive. 1953 gab es in Garching noch 63 Bauernhöfe, 1963 war die Zahl auf 45 gesunken, 1974 schließlich auf 36.82 1988 wurde die letzte Viehhaltung wegen Unrentabilität aufgegeben.83 Während sich die Gemeinde zu Beginn der 1960er Jahre noch bemüht hatte, »die Landwirtschaft [...] so lange wie möglich in ihrer Existenz zu erhalten« und ein »gesundes, harmonisch aufgebautes Gemeindegefüge« zu schaffen, mithin sicherzustellen, dass der Landwirtschaft nicht der »Lebensraum entzogen wird«,84 hatte man sich offensichtlich bereits Mitte der 1960er Jahre mit dem Niedergang der Landwirtschaft abgefunden und war nun lediglich um einen sanften Übergang bemüht: »Der überwiegend landwirtschaftliche Charakter der Gemeinde Garching wird im Laufe der Zeit verloren gehen. Die Planung ist jedoch darauf abgestellt, daß der Übergang zu einer Verstädterung der Gemeinde langsam geschehen kann, so daß ihre Struktur und damit der Kern des Ortes Garching nicht plötzlich Wandlungen unterworfen ist.«85

In die Bauernhäuser waren – so könnte man den Prozess metaphorisch beschreiben – Gewerbebetriebe eingezogen. Auch dies war eine Neuerung für Garching. Bis in die 1950er Jahre hinein hatte es in Garching nur wenig Gewerbebetriebe gegeben.86 Vor allem war das Dorf Münchens größer Milchlieferant. Zehn Jahre später, in den 1960er Jahren fanden sich zahlreiche Industriebetriebe, beispielsweise Fahrzeugbetriebe, Kies und Quetschwerke, eine Maschinenfabrik für Spezialmaschinen. Aufgrund seines Kiesvorkommens war Garching vor allem für die 80 81 82 83 84 85 86

A. Rödder: Bundesrepublik, S. 28. Vgl. Stadt Garching, S. 72. Vgl. S. Deutinger: Garching, S. 229. Vgl. Stadt Garching, S. 72. GRS, 25. Januar 1963. GRS, 4. Juni 1965. Vgl. Gemeinde Garching b. München (Hg.), Garching. Vom Heidedorf zum Atomzentrum, Garching 1964. 89

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Baubranche attraktiv. Zudem veranlasste der Autobahnanschluss Speditionen, sich in Garching anzusiedeln. Die von diesen Betrieben aufgebrachte Gewerbesteuer wurde in der Folgezeit zu einer wesentlichen Einnahmequelle der Gemeinde.87 Nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1987 waren im Gemeindebereich 518 Gewerbetriebe mit insgesamt 10.688 Beschäftigten ansässig. Dies bedeutet im Vergleich zu 1970 eine Steigerung der Betriebsstätten um 136,5% sowie der Zahl der Beschäftigten um 140, 9%.88 1998 bestanden im Garchinger Gewerbegebiet Hochbrück ca. 10.000 Arbeitsplätze.89 Betrachtet man das Verschwinden der Landwirtschaft und die Ansiedlung von Industriebetrieben lässt sich die Entwicklung Garchings allerdings noch kaum von anderen bundesdeutschen Gemeinden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Maßgeblich war jedoch vor allem die Ansiedlung der Forschungsinstitute. Dem Bau und der Inbetriebnahme des »Atom-Ei« 1957 waren sukzessive weitere wissenschaftliche Institute gefolgt. Bis in die 1980er Jahre handelte es sich hierbei in der Regel um stark grundlagenforschungsorientierte Institute, vor allem um Institute der TU München und der Max Planck Gesellschaft.90 In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre folgten schließlich anwendungsorientierte Institute der TU München, das Walter Schottky-Institut für Halbleiterforschung oder das Bayerisches Zentrum für Angewandte Energieforschung. In jüngster Zeit erfolgte eine Verlagerung weiterer natur- und ingenieurwissenschaftlicher Fächer der TU München wie beispielsweise des Maschinenbaus, der Medizintechnik und der Mechatronik. Schließlich finden sich inzwischen auch Unternehmen, beispielsweise General Electric, sowie ein Gründerzentrum auf dem Gelände. Auch derzeit expandiert das Hochschul- und Forschungsgelände kontinuierlich. Der Hochschulentwicklungsplan aus dem Jahr 2000 sah vor, Garching zum größten Teilstandort der TU auszubauen.91 87 Vgl. Antrag auf Stadterhebung, S. 3. 88 Vgl. ebd., S. 9. 89 Vgl. Erläuterungsbericht, Landeshauptstadt München, Baureferat, U-BahnBau, Stand Okt. 1998. Der Stadtteil Hochbrück entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Flüchtlingslager. Zur Zeit leben dort ca. 1.700 Einwohner. Vgl. Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03.2005, S. 28. 90 Wie z.B. die Max-Planck-Institute für Astrophysik, für extraterrestrische Physik, für Quantenoptik, die Europäische Südsternwarte. 91 Vgl. Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03.05, S. 39. Im November 2003 beauftragte die Stadt Garching die Planungsbüros »Planwerk Stadtentwicklung«, Nürnberg und »Dragomir Stadtplanung«, München mit der Durchführung eines Stadtentwicklungsprozesses, in dem Perspektiven für die nächsten fünfzehn Jahre aufgezeigt werden sollten. Zu Beginn wurde gemeinsam mit Garchinger Bürger/innen, Ver90

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Mitte der 1960er Jahre waren bereits 1.200 Menschen im Wissenschafts- und Forschungsbereich beschäftigt,92 während sich die Einwohnerzahl 1961 auf 3.518 belief.93 1975 war die Zahl auf 2.100 Personen gestiegen, 1983 arbeiteten ca. 4.000 Personen im Hochschul- und Forschungsgelände.94 Ende der 1990er Jahre war die Zahl der Beschäftigten (inklusive Studierenden) im Garchinger Forschungsareal auf ca. 7.000 angewachsen.95 2.005 arbeiteten etwas über 5.500 Beschäftigte auf dem Forschungsgelände und 8.250 Studierende waren für den Standort Garching eingeschrieben.96 Derzeit sind mehr als 9.000 Studierende der TUM an den Fakultäten in Garching eingeschrieben, die von über 2.000 Fakultätsmitarbeitern der insgesamt rund 3.300 TUM-Beschäftigten in Garching betreut werden. Neben diesen sind auch Studierende der Fakultät Physik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) auf dem Gelände angesiedelt. Die TU erwartet, dass sich Garching in den kommenden Jahren auf über 12.000 Studierende und 4.000 TUM-Beschäftigte ausweiten wird.97 Diese Ansiedlung wissenschaftlicher Institute prägte seit Ende der 1950er Jahre, wie im folgenden zu sehen sein wird, nicht nur das Selbstverständnis und die Identität der Gemeinde, auch ihre Sozialstruktur änderte sich und vor allem wandelte sich der einstmals dörfliche Alltag; die Überschaubarkeit dörflicher Strukturen ging verloren. So war die Expansion Garchings notwendigerweise begleitet vom stetigen Ausbau der Infrastrukturen. Neue Schulen wurden gebaut, Sportanlagen, Einkaufsmöglichkeiten, Freizeiteinrichtungen und ein Gemeindezentrum,98 so dass der dörfliche Charakter der Gemeinde immer mehr zurücktrat und von städtischen Strukturen überformt wurde. Mitte der 1970er Jahre hatte sich schließlich auch das architektonische Gesicht Garchings gewandelt: »Garching ist jetzt fast eine Stadt; gegenüber den Hochhäusern

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treter/innen von Interessensgruppen, Stadtverwaltung und Stadtrat ein Leitbild erarbeitet. Dazu wurde ein »Arbeitskreis Stadtentwicklugnsprozess« eingerichtet. (Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03.2005, S. 8) Vgl. S. Deutinger: Garching, S. 234. Vgl. Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung. Statistik kommunal 2001, Stadt Garching bei München. Vgl. Anlage zu Top 1 der GRS, 15. Juli 1983. Vgl. Erläuterungsbericht, Landeshauptstadt München, Baureferat, U-BahnBau, Stand Okt. 1998. Vgl. Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03.05, S. 40. Vgl. TU München, 12.03.2007, Pressemitteilung. Vgl. Antrag auf Stadterhebung, S. 3. 91

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und Wohnsiedlungen verschwinden die alten Bauernhäuser«, resümierte ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung die Entwicklung.99 Wie verhielt sich nun die Gemeinde? Wie reagierte Garching auf Wachstum und Expansion, mit welchen stadtplanerischen Konzepten gestaltete sie die Herausforderungen, denen sie ausgesetzt war? Und wie veränderte diese die Sozialstruktur, das Alltagsleben und das architektonische Gesicht der Gemeinde?

Das »Atomdorf« zwischen Euphorie und Gleichgültigkeit Im Januar 1957 wurde in Garching das Richtfest des Atommeilers gefeiert; es glich einer Inszenierung des »Atoms«, die heute angesichts des naiv wirkenden Humors schaudern lässt. Zum Richtfest wurde ein Richtschmaus serviert, die so genannte »Atom-Mahlzeit«: die Speisekarte bestand aus »Uranstäben« (Weißwürsten) mit Brötchen; »Vorfluterbrüher mit Kerneinlage« (Leberknödelsuppe), »Neutronenschlegel« (Kalbfleisch) mit Rahmsauce, einem Stück »Fettisotop« (Nachspeise), »radioaktivem Kühlwasser« (Bier) und Garchinger »Gammadunst« (Käse). Auch die feierliche Versammlung, die die Lieferung der Kiste mit den ersten Uranbrennstäbe zelebrierte sowie die triumphierende Geste, mit der Ministerpräsident Hoegner ein Brennelement hochhält, offenbart die erwartungsvolle Begeisterung angesichts des Atoms.100 Der Garchinger Ortspfarrer gab schließlich dem Geschehen seinen Segen, indem er die Atomenergie ein »Geschenk Gottes« nannte.101 Diese Haltung fügte sich nahtlos in die Atombegeisterung der frühen Bundesrepublik,102 in der eine Technikeuphorie, ein Glaube an Planund Machbarkeit sowie die Vorstellung einer engen Verbindung von Wissenschaft und Technik mit gesellschaftlichem Fortschritt beobachten lässt.

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SZ, 11./12. April 1974, S. 12. Vgl. Vom Heidedorf zum Atomzentrum, S.119f. Vgl. 40 Jahre Atom-Ei Garching o.O., 1997, S. 47. Vgl. z.B. Wolfgang Müller: Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, Joachim Radkau: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek bei Hamburg 1983, Ilona Stölken-Fitschen: »Der verspätete Schock – Hiroshima und der Beginn des Atomzeitalter«, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 139-155.

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Abbildung 2

Abbildung 3

Abbildung 4: Diese Inszenierung des einsamen Heroen, der entschlossen und sicher auf das Atom-Ei zusteuert, repräsentiert den zeitgenössischen Glauben an technischen Fortschritt.

Gleichzeitig findet sich jedoch auch in der frühen Bundesrepublik gegenüber Wissenschaft und Technik allgemein sowie gegenüber der Atomenergie eine kritisch-skeptische Haltung. Rufe von Mahnern und Kritikern begleiteten die wissenschaftliche und technische Entwicklung.103 So beklagten pessimistische Stimmen die Herrschaft der Tech103 Vgl. Rolf Peter Sieferle: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, S. 229. 93

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nik, prophezeiten – in guter kulturkritischer Tradition –, der Anbruch des technischen Zeitalters werde den Untergang der Kultur herbeiführen. Technik wurde als das »Dämonische« bezeichnet.104 Friedrich Georg Jünger warnte vor Hoffnungen auf ein besseres Leben durch »technischen Fortschritt«.105 Ein anderer Strang der Mahner beklagte die Konsequenzen einer technisch-industriellen Lebensweise, indem sie die Industriegesellschaft und ihren Umgang mit Natur und Umwelt kritisierten.106 Anton Metternich beispielsweise sprach von einem »Taumel der Überheblichkeit« und von einer Blindheit für »alle natürlichen Maßstäbe«107; die populärwissenschaftliche Darstellung von Erich Hornsmann warnte vor der »Missachtung der Gesetze« der Erde.108 Brüggemeier bezeichnete diese Stimmen als eine »grundsätzliche Kulturkritik«, als eine »Angst vor Auswüchsen der Industriegesellschaft« und nicht zuletzt vor der Masse Mensch.109 Die »Grüne Charta von Mainau«, ein Dokument, das im Jahr 1961 von Prominenten aus Politik, Wirtschaft und Kultur verabschiedet wurde, propagierte ein Menschenrecht auf »ein gesundes und menschenwürdiges Leben« und kritisierte den alarmierenden Verbrauch der natürlichen Landschaft.110 Bodo Manstein hatte zu Beginn der 1960er Jahre von der »dunkeln Kehrseite« naturwissenschaftlichen Fortschritts gesprochen und vor der Gefährdung der biologischen Grundlagen gewarnt.111 Trotz dieser warnenden Stimmen fühlten sich Technikkritiker als einsame Rufer in der Zeit.112 Auch Günther Anders beklagte, dass es prekär sei, im Verdacht zu stehen, ein Maschinenkritiker zu sein, denn man mache sich damit schnell lächerlich.113 Er beobachtete vielmehr »die robuste Wiederauferstehung des Fortschrittsbegriffs [...], von dem 104 Vgl. zum Beispiel Darmstädter Gespräch. Mensch und Technik. Erzeugnis – Form – Gebrauch, hg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch 1952 von Hans Schwippert, Darmstadt 1952. 105 Zitiert nach Axel Schildt: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedium und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 326. 106 Vgl. Franz-Josef Brüggemeier: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung, München 1998, S. 203ff. 107 Ebd., S. 202. 108 Ebd., S. 194. 109 Ebd., S. 204. Er betont, dass dieses Interesse an Natur mit konservativen, elitären Kulturkritik verknüpft gewesen. 110 Zitiert nach F-J. Brüggemeier: Tschernobyl, S. 200. 111 Vgl. Bodo Manstein: Im Würgegriff des Fortschritts, Frankfurt 1961. 112 Vgl. A. Schildt: Moderne Zeiten, 327. 113 Vgl. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1, Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1979 (Original 1956), S. 3. 94

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man unmittelbar nach der Katastrophe 45 den Eindruck gehabt hatte, dass er im Eingehen begriffen war«.114 Aber auch wenn sich Technikkritiker in der frühen Bundesrepublik einsam gefühlt haben mag, so war die Haltung der Gesellschaft gegenüber Technik nach wie vor ambivalent. Hohe Erwartungen an Fortschritt und Euphorie sowie Kritik, Warnungen und Furcht standen nebeneinander. So gab es in der frühen Bundesrepublik einerseits einen ausgesprochen euphorischen Atomdiskurs mit überbordenden Erwartungen an die Lösung aller Energieprobleme und dem Versprechen auf wirtschaftlichen Wohlstand, der sich auch in Garching widerspiegelte, wie der Atomschmaus und der Segen des Pfarrers zeigen. Die Möglichkeiten der friedlichen Atomnutzung wurden beispielsweise in einem Sammelband, zu dessen Mitarbeitern auch Werner Heisenberg gehörte, als »schlechthin unermesslich« für alle Gebiete des Lebens bezeichnet.115 Auch Ernst Bloch prophezeite in »Das Prinzip Hoffnung« die Atomenergie werde »aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling« machen. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordamerika, Grönland und die Antarktis zur Riveria zu verwandeln.«116 Vor allem im Kontext der Genfer Atomkonferenz 1955 waren Erwartungen geweckt und Zukunftsaussichten kolportiert worden: Die Presse berichtete von Ideen, mittels Kernenergie Schiffe, Flugzeuge, Weltraumraketen, Autos anzutreiben, von der Entsalzung des Meerwassers und der Bewässerung von Wüsten.117 Die Beheizung von Häusern durch an Ort und Stelle befindliche »Baby-Reaktoren« geriet scheinbar in den Horizont des Möglichen.118 Andererseits konnte dieser Diskurs nicht darüber hinwegtäuschen, dass »das Atom« angesichts der Atombombe gleichzeitig mit Vernichtung, Zerstörung und Tod verbunden war. 1948 prognostizierte Bertrand Russell in der Zeitschrift »Der Monat« im Hinblick auf die Atombombe drei Möglichkeiten, nämlich die atomare Vernichtung des menschlichen Lebens auf dem Planeten, einen Rückfall in die Barbarei oder aber eine »Weltregierung« mit atomarem Waffenmonopol.119 In den 1950er Jahren herrschte ein »weit verbreitetes Empfinden globaler Bedrohung und die nahezu sichere Erwartung eines dritten Weltkriegs«.120 1957 hatten achtzehn Wissenschaftler die »Göttinger Erklärung« unterzeichnet, in 114 115 116 117 118 119 120

Ebd., S. 4 Vgl. J. Radkau: Aufstieg, S. 79. Ebd., S. 81. Vgl. W. Müller: Geschichte der Kernenergie, S. 1. Vgl. J. Radkau: Aufstieg, S. 80. Vgl. A. Schildt: Moderne Zeiten, S. 325. Ebd. 95

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der sie kundtaten, dass keiner von ihnen bereit sei, sich an der Herstellung oder Produktion von Atomwaffen zu beteiligen.121 Dem folgte die Kampagne »Kampf dem Atomtod« gegen die nukleare Aufrüstung der Bundeswehr. Prominent waren vor allem die Interventionen Karl Jaspers und Günther Anders, die vor der existenziellen Gefahr, die mit der Atombombe verbunden war, warnten.122 Karl Jaspers betonte die neue Dimension der Zerstörung, die mit der Atombombe verbunden war: »… sie führt die Menschheit an die Möglichkeit ihrer eigenen totalen Vernichtung«123, das völlige Aussterben der Lebewesen auf der Erde sei somit in den Horizont der Menschen getreten.124 Zeichnete beispielsweise Jaspers angesichts der Atombombe die Möglichkeit der völligen Zerstörung der menschlichen Gattung, so schloss seine Kritik allerdings nicht die Wissenschaft ein. Auffällig ist überhaupt, dass sich eine viel stärkere Tradition der Technikkritik findet als eine Kritik an der Wissenschaft. Erst mit den »Schlüsseltechnologien« wie der Mikroelektronik, vor allem aber der Gentechnologie gerät auch die Wissenschaft stärker in die Kritik der Öffentlichkeit. Lange Zeit war Wissenschaft jedoch ausgesprochen positiv belegt. Jaspers verband sie gar untrennbar mit Humanität. Er schrieb: »Wissenschaftlichkeit und Humanität sind unlösbar verbunden. [...] Die Unwissenschaftlichkeit ist der Boden der Inhumanität.«125 Selbst bei seiner Diagnose des »Absturzes der deutschen Wissenschaft« im Nationalsozialismus und seiner Kritik der Wissenschaftler, die dem Regime gedient hätten, bezeichnet er dies als »Verbrechen der Forscher an der Wissenschaft«,126 mithin stilisierte er die Wissenschaft als ein abstraktes, reines und an sich gutes Projekt, das verunreinigt worden war.127 Eine ähnlich positive und äußerst respektvolle Haltung gegenüber der Wissenschaft zeigt sich auch in Garching und Martinsried in den 1950er und 1960er Jahren, wo man der Ansiedlung wissenschaftlicher Institute mit großer Achtung begegnete und den Wissenschaftlern Re121 Vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker: Bewusstseinswandel, München, Wien 1988, S. 384-386. 122 Vgl. G. Anders, Antiquiertheit. 123 Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München 1957, S. 7. 124 Vgl. ebd., S. 8. 125 Karl Jaspers: »Erneuerung der Universität«, in: ders.: Hoffnung und Sorge, München 1965, S. 31-40, hier S. 38. Der Aufsatz ist aus dem Jahr 1945. 126 Ebd., S. 44. 127 Vgl. Karl Jaspers: »Die Wissenschaft im Hitlerstaat«, 1947, in: ders.: Hoffnung und Sorge, S. 41-46 96

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spekt zollte. Dies sollte sich erst in den 1970er, vor allem aber in den 1990 er Jahren ändern. Entsprach die positive Haltung in Garching somit einerseits einer verbreiteten Atomeuphorie, so gab es vor allem zu Beginn der 1950er Jahre andererseits aufgrund der Atombombe eine grundsätzliche Skepsis gegen die Atomkraft sowie lokale Oppositionsbewegungen, die andernorts kerntechnische Anlagen attackierten und zu verhindern trachteten.128 Nicht alle Orte reagierten ähnlich positiv auf die Möglichkeiten der Atomkraft wie Garching. So ging der Bau der ersten Kernforschungszentren in Jülich und Karlsruhe129 mit Widerständen der lokalen Bevölkerung einher, während man in Garching den ersten bundesdeutschen Forschungsreaktor überschwänglich begrüßte. Was diese Widerstände auszeichnete, war, wie Radkau betonte, ihre Lokalität, das Fehlen einer Massenmobilisierung.130 Dabei ging es um lokale Belange wie die Erwärmung der Flüsse durch Abwässer oder die Zerstörung der Agrarlandschaft durch Industriekomplexe.131 Zudem korrespondierte die Haltung zur Kernkraft jeweils der spezifischen Situation des Ortes. So resultierte die frühe Opposition aus den lokalen Interessen.132 Radkaus Beschreibungen des Schwarzwald-Ortes Menzenschwand macht dies überdeutlich.133 Fürchtete man dort anfangs aufgrund vorgesehener Uranschürfungen einen Rückgang des Tourismus und die Invasion ausländischer Arbeiter und wehrte sich daher, so änderte der Ort seine Haltung, als die Idee entstand, die radioaktive Strahlung könne gar ein Mittel zur 128 Vor allem die Atombombe versah das Atom und die Atomkraft mit einem negativen, Ängste und Abwehr hervorrufendem Image. Vgl. dazu auch: Dieter Rucht: »The impact of anti-nuclear power movements in international comparison«, in: Martin Bauer (Hg.), Resistance to new technology. Nuclear power, information technology and biotechnology, Cambridge 1997, S. 277-291, hier S. 277 und 279. 129 Karlsruhe vermied es, sein lange gepflegtes Image einer »Stadt im Grünen« zu ändern und, wie Rakdau schrieb, »das Kernforschungszentrum zum Bestandteil der in Werbeprospekten präsentierten Stadt-Identität zu machen«. Vgl. J. Radkau: Aufstieg S. 441. 130 Vgl. Joachim Radkau: »Learning from Chernobyl for the fight against genetics«, in: M. Bauer (Hg.), Resistence, S. 335-355, hier S. 338f. 131 Vgl. J. Radkau: Aufstieg, S. 440. 132 Gabrielle Hecht zeigte, um ein weiteres Beispiel zu zitieren, wie man in Chinon Kernkraftwerke in die Tradition von Schlössern stellte, gewissermaßen als Kathedralen der Moderne. In Marcoule, einem Gebiet, dass ökonomischem Verfall ausgesetzt war, erhoffte man sich gleichermaßen einen Aufbruch in die Moderne und einen sozialen und ökonomischen Aufschwung. Vgl. Gabrielle Hecht: The Radiance of France. Nuclear Power and National Identity after World War II, Cambridge, London 1998, Kap. 6 und Kap. 7. 133 Vgl. J. Radkau: Aufstieg, S. 442ff. 97

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»Steigerung des Kurbetriebes« werden, indem Menzenschwand ein Radonbad werde.134 Garchings positive Haltung wiederum erklärt sich aus der Hoffnung des bis dahin bedeutungslosen Ortes, einen Aufbruch in die »technische Moderne«, in die Welt der modernsten Wissenschaften und vor allem einen wirtschaftlichen Aufschwung zu erfahren. Im Raum München waren allerdings diverse Widerstände gegen den Reaktor zu überwinden,135 die aber zum Teil eine Unbedarftheit und das Unwissen gegenüber der Atomphysik sowie die Dominanz praktisch-alltäglicher Probleme und Bedenken spiegelten. Einem jungen Assistenten des MPI für Plasmaphysik wurde von »seiner Münchner Hausfrau« fristlos gekündigt, als sie erfuhr, wo er arbeitet. Lieber wären ihr noch Flöhe als heimtückische Gammastrahlen, die man weder sehe noch rieche, wurde sie im Münchner Merkur zitiert.136 Der FKK-Klub Osiris, der in den »Isarauen seinem Vereinszweck nachging«, äußerte sich skeptisch gegenüber dem Bau des Atommeilers, unternahm aber keine Schritte. Der Verein Münchner Brauereien war in Sorge, es könne zu einer Verseuchung des Grundwassers und einer Schädigung des Hopfenwachstums in der nicht weit entfernten Hallertau kommen. Die benachbarte Gemeinde Ismaning befürchtete die Verstrahlung ihrer Kohlköpfe, die Münchner Naturschutzbehörde sorgte sich um die Erhaltung des Landschaftsbildes in den Isarauen.137 Die Studenten der Technischen Hochschule waren lediglich damit beschäftigt, der Reaktor könne auf dem ohnehin knapp bemessenen Gelände des Hochschulsportplatzes errichtet werden.138 In der bundesrepublikanischen Bevölkerung bestand, und dies spiegelt sich in den gerade referierten Äußerungen, eine hohe Unkenntnis bezüglich Fragen der Atomenergie. So zeigte eine Emnid-Umfrage 1958, dass zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung mit »Atomenergie« zunächst die Bombe assoziierten. Ein Drittel hatte von friedlicher Kernenergie noch nie etwas gehört. Zur gleichen Zeit registrierte eine Repräsentativumfrage des Allensbach-Instituts, dass nur 8% der Bevölkerung vorbehaltlos für die Atomenergie waren, während 17% befürchteten, die Atomenergie werde eines Tages zum Atomkrieg führen.139 Die

134 135 136 137 138 139 98

Vgl. ebd., S. 444. Vgl. S. Boenke: Entstehung, S. 93. Vgl. MM, 6. August 1963. Vgl. 40 Jahre Atom-Ei, S. 32. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. J. Radkau: Aufstieg, S. 89.

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meisten Menschen hatten kaum eine konkrete Vorstellung von einer friedlichen Nutzung der Kernenergie.140 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Garchinger Bevölkerung gleichfalls mit dem Begriff der Kernenergie wenig anzufangen wusste, dass die Ansiedlung eines Forschungsreaktors für die Einwohner des Dorfes etwas Unbekanntes, nicht Einzuschätzendes darstellte, um das von außen viel Aufhebens gemacht wurde.141 Als der Garchinger Gemeinderat vor die Entscheidung gestellt wurde, den ersten bundesdeutschen Forschungsreaktor auf Gemeindegrund zu errichten, verhielt er sich recht unspektakulär. In einer außerordentlichen Sitzung vom 16. Januar 1956 wurde die Abtretung von Gemeindegrund für den »Atommeiler« beschlossen.142 Noch in der gleichen Gemeinderatssitzung wandte man sich praktischen Angelegenheiten zu, so zum Beispiel der Frage, inwieweit mit einem höheren Wasserverbrauch zu rechnen sei.143 In einer weiteren Sitzung im November 1956 berichtete der Erste Bürgermeister, Josef Amon, was er »in der Schweiz (Genf und Zürich) bei den dortigen Atomzentren alles gesehen und beobachtet hat, und es wurde nochmals erklärt, dass irgendwelche schwerwiegenden Nachteile für die Gemeinde durch die Errichtung des Atomreaktors nicht gegeben sind.«144

Hintergrund dieser Aussage war die Reise Amons mit Vertretern der Landesbehörden und der Stadt München im Oktober 1956, um verschiedene im Bau befindliche Nuklearanlagen zu besichtigen: das Kernforschungszentrum CERN bei Genf und den Forschungsreaktor in Würenlingen bei Zürich.145 Diese Reise scheint ihn von der Ungefährlichkeit des Reaktors überzeugt zu haben, was er an seine Gemeinde weitergab und somit ihre Zustimmung einwarb. Hier funktionierte noch die Autorität des Bürgermeisters, dem man vertraute und der als zentrale Person für Entscheidungen in der Gemeinde angesehen war. Beim Bau des zweiten Forschungsreaktors in den 1990er Jahren sollte sich die Situation anders darstellen.

140 W. Müller: Kernenergie, S. 8 141 Auch Gabrielle Hecht beobachtete für die von ihr untersuchten Regionen Gard und Tourangeaux: »In the 1950s and 1960s most residents of these regions were neither ›for‹ nor ›against‹ nuclear power.« Vgl. G. Hecht: Radiance, S. 242. 142 Vgl. GRS, 16. Januar 1956. 143 Vgl. ebd. 144 GRS, 9. November 1956. 145 Vgl. 40-Jahre Atom-Ei, S. 47 99

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Zudem bescherten die Grundstücksverkäufe einigen Landwirten Reichtum,146 was eventuelle Vorbehalte zum Reaktor zurückgenommen haben könnte.147 Und schließlich weckten Atomzentren zu dieser Zeit die Erwartung an die Schaffung von Arbeitsplätzen und Hoffnungen auf Impulse für Wirtschaft und Industrie.148 Die Atomtechnik galt als eine »Schrittmachertechnik«.149 Eine eigene Atomindustrie wurde als eine Existenzgrundlage der deutschen Wirtschaft stilisiert.150 Nicht zuletzt war die Kerntechnik ein Symbol für Fortschritt und Modernität. So war der Freistaat Bayern auch aus Prestigegründen an Atomphysik interessiert. Ministerpräsident Hoegner bekannte anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Garchinger Forschungsreaktors: »Hinzu kam mein Ärger über den Satz, daß wir Bayern rückständig seien. Heute kann jeder Preuße, der aus dem Norden über die Autobahn zu uns kommt, gleich sehen, was bei uns los ist«.151 Ähnlich bestanden auch auf lokaler Ebene Erwartungen an einen wirtschaftlichen Aufstieg des Dorfes, einen Aufbruch in die wissenschaftlich-technische Moderne, einen Ausbruch aus der dörflichen Bedeutungslosigkeit. Hofften einige Lokalpolitiker mithin auf einen Aufschwung, so verhielt sich doch der Großteil der Bevölkerung eher gleichgültig, was dem schlechten Informationsstand der bundesrepublikanischen Bevölkerung generell entsprach und schließlich auch auf die Lebenswelt der Dorfbewohner verwies. Die Garchinger Bevölkerung war mit praktischen Fragen ihres Alltags mehr beschäftigt als mit dem Bau und Betrieb des Reaktors. Die Gemeinde hatte in den 1950er Jahren Probleme existenzieller Art wie die erhebliche Wohnungsnot, Fragen der Wasser- wie der Stromversorgung oder auch ganz bodenständige Sorgen: Der Münchner Merkur zitierte den Bauern Sepp H. der zum Atommeiler befragt worden war: »Was heißt da schon aufregend [...]. Uns regt’s mehr auf, daß der Garchinger Wirt fürs Bier 45 Pfennig verlangt. Anderswo kostet’s immernoch 40.«152

146 Vgl. »Aufschwung des Münchner Nordens. Garching – das explodierte Dorf«, in: Süddeutsche Zeitung, 8. Januar 2007. 147 So die Einschätzung des Bürgermeisters Helmut Karl, zitiert nach S. Deutinger: Garching, S. 231. 148 Vgl. auch 40 Jahre Atom-Ei, S. 25. 149 Vgl. auch Bernd-A. Rusinek: Das Forschungszentrum. Eine Geschichte der KFA Jülich von ihrer Gründung bis 1990, Frankfurt, New York 1996, S. 96. 150 Vgl. Gerhard A. Ritter: Großforschung und Staat in Deutschland. Ein historischer Überblick, München 1992, S. 61f. 151 Zitiert nach W. Müller: Kernenergie, S. 251. 152 40 Jahre Atom-Ei, S. 47. 100

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Betrachtet man die Themen, mit denen die Garchinger Bevölkerung, bayerische Politiker und die Wissenschaftler in den 1950er und 1960er Jahren beschäftigt waren, so lassen sich verschiedene Zeitschichten beobachten. Der Einzug der für die Zeit modernsten Naturwissenschaften, die Hoffnung, Bayern als fortschrittlich und modern präsentieren zu können, stand neben Fragen des bäuerlichen Lebens. Die beiden Sphären scheinen sich sich kaum berühret zu haben, sie bestanden unverbunden nebeneinander. Die Ungleichzeitigen im »Atom-Dorf« lassen sich nicht zuletzt an Problemen beobachten, die in den Gemeinderatssitzungen neben der Frage der Errichtung des Forschungsreaktors sowie weiterer Institute auf der Tagesordnung standen. Im Februar 1959 war der »im Besitz der Gemeinde befindliche Ziegenbock« Thema. Da für diesen nun schon seit August 1954 die Deckerlaubnis für die öffentliche Zuchtbenutzung bestand, wurde beantragt, infolge der langen Zeit, einen neuen Ziegenbock zu beschaffen.153 Fragen dieser rein lokal-bäuerlichen Bedeutung standen gleichberechtigt auf der Tagesordnung neben Themen wie der Errichtung des ersten bundesdeutschen Forschungsreaktors oder die Pläne für die Ansiedlung des Instituts für Plasmaphysik, denen der Gemeinderat gleichermaßen zustimmte. Insgesamt spiegelt sich der Bau des Atomreaktors in den Gemeinderatsprotokollen nur sporadisch wider. Taucht er in den 1950er und 1960er Jahren überhaupt als Thema der Sitzungen auf, dann weiterhin reichlich unspektakulär und in auffällig pragmatischen Kontexten, wie der Frage einer Zufahrtsstraße154 oder der Erweiterung des Atommeilergeländes.155 Garching war bis in die 1960er Jahre hinein durch dieses Nebeneinander dörflicher Strukturen und Problembereiche und der für die Zeit modernsten Wissenschaft charakterisiert. Und vielfach scheinen die Fragen des alltäglichen Lebens aus Sicht der Bewohner den Einzug einer neuen, auf Bundesebene geradezu euphorisch gefeierten Technik überlagert zu haben. Anders als in anderen Gemeinden156 oder später, beim Bau eines neuen Forschungsreaktors, des FRM II, wurde das »Atom-Ei« kaum beachtet oder positiv begrüßt. Erst mit der Formierung der Anti-AKW-Bewegung Mitte der 1970er Jahre sollte sich dies ändern und in den 1990er Jahren schließlich auch in Garching bemerkbar machen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstand dort massiver Protest gegen den Plan, den FRM II, zu bauen. Die Macht des Bürgermeisters war gebro-

153 154 155 156

Vgl. GRS, 13. Februar 1959. Vgl. GRS, 8. Mai 1959. Vgl. GRS, 14. August 1959. Vgl. zur lokalen Einstellungen bzw. Widerstand oder Protest: J. Radkau: Aufstieg, oder B. Rusinek: Forschungszentrum, hier vor allem S. 240ff. 101

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chen, eine Vervielfältigung der Akteure, die beanspruchten mitzuentscheiden, trat auf die Bühne, wie weiter unten ausgeführt werden wird.

Selbstvergewisserung im »Atomdorf« Wie erwartungsvoll oder wie indifferent die Haltung der Garchinger gegenüber der modernen Technik, dem Einzug des »Atoms« gewesen sein mag, angesichts dessen Bedeutung und des sich abzeichnenden Wandels – vor allem infolge der rasch folgenden Bemühungen, Garching zu einem großen Forschungszentrum auszubauen –, erhoben sich in den folgenden Jahren Stimmen, die eine Selbstvergewisserung über das Selbstverständnis und die Identität des Dorfes anmahnten. In einer Gemeinde-Chronik aus dem Jahr 1964 fragte die Gemeinde nach ihrer Identität, die – nach Jahrhunderten des gemächlichen bäuerlichen Lebens – einem radikalen Wandel ausgesetzt sei. Von einer »neuen Entwicklungsära«, einer »Zeitwende«157 war die Rede. Weiter war dort zu lesen: »Das Atomzeitalter hat überraschend für unser Garching ein weites Tor in eine unübersehbare Zukunft aufgestoßen. Noch stehen wir auf der Schwelle, gewärtig der Umwälzungen und ihrer Probleme, die gemeistert werden müssen. Und – ich sage es ohne Bitterkeit – vieles wird dahingehen, was uns vertraut war, um dem herandrängenden Neuen Raum zu geben. Aber wir dürfen uns dem pulsierenden Leben nicht verschließen.«158

Im Moment der rasanten Veränderung, der Ankunft des Neuen, das die alten Strukturen offensichtlich nachhaltig aufzubrechen drohte, zeigt sich neben der propagierten Offenheit zugleich aber der Versuch des Festhaltens, des Ausgleichs mit der Vergangenheit. Die Gemeinde war Spannungen ausgesetzt, Spannungen zwischen dörflichen und städtischen Strukturen, zwischen verschiedenen Lebensgewohnheiten, zwischen alt und neu: »Handwerk und Fabrik, Mittelstand und Großraumwirtschaft, altes Heimatgefühl und Ringen um Beamten- oder Arbeiter-Wohnplatz, diese und andere Gegensätze müssen von alten und neuen Bürgern verarbeitet werden.«159 Dabei wurde versucht, die Begrüßung der Zukunft mit der Bewahrung des Alten, der Tradition zu verknüpfen, wie es sich beispielsweise auch am Begriff des »Atom-Dorfes« bzw. des Wappens, das seit 1967 das »Atom-Ei« integrierte, zeigte.160 Das Gemeindewappen ist zweigeteilt und zeigt im oberen silbernen Feld 157 158 159 160 102

Vom Heidedorf zum Atomzentrum, S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 10. Vgl. ebd.

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ein rotes Wagenrad – Sinnbild der Heiligen Katharina, Schutzpatronin der alten Kirche Garchings, und Hinweis auf die ehemalige Poststation – zwischen zwei grünen Krüppelkiefern, die auf die ursprüngliche Heidevegetation hinweisen. Im unteren blauen Feld ist eine stilisierte Darstellung des Atom-Forschungsreaktors als Symbol für die Stadt der Wissenschaft zu sehen.161 Das Wappen steht mithin als neues Symbol Garchings für die gesuchte Verbindung von Tradition und Neuem. Abbildung 5: Das Garchinger Wappen

Die Konstruktion einer neuen Identität Insgesamt dominierte seitens der Garchinger Lokalpolitiker die Offenheit gegenüber dem Neuen, gegenüber der Möglichkeit, der modernen Wissenschaft einen Platz zu geben. So zeigte sich die Gemeinde auch im weiteren Verlauf der Entwicklung stets kooperativ. Der 1957 noch nicht absehbaren Erweiterung vom singulären Forschungsreaktor zu einer Ballung verschiedener Forschungsinstitute stellte sie sich nicht entgegen; vielmehr fand sich Garching schnell in die neuen Rolle und Funktion als Wissenschaftsstandort ein. Das offizielle Selbstverständnis begann sich zu wandeln. Die Gemeinde war außerordentlich bemüht, die Wissenschaft in Garching zu halten bzw. auszubauen und mögliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Garching schuf einen symbolischen Raum, indem es begann, eine neue Identität als Wissenschaftsstadt nicht nur anzunehmen, sondern bewusst zu gestalten. Mitte der 1960er Jahre begannen die verbindlichen Planungen, Garching zu einem exponierten Wissenschaftsstandort auszubauen. Die Dimensionen, die Garching nach diesen Planungen annehmen sollten, waren immens: Unter Berücksichtigung der geplanten Hochschulstadt und eines Industriegebietes sowie der geplanten Verlängerung der U-Bahn wurde mit ca. 50.000 Einwohnern gerechnet162 – bei einer tatsächlichen Einwohnerzahl von 3.518 im zu Beginn der 1960er Jahre. Der Flächen-

161 Vgl. Antrag auf Stadterhebung, S. 3. 162 Vgl. GRS, 13. November 1964. 103

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nutzungsplan der Gemeinde Garching 1967 explizierte schließlich »in Übereinstimmung mit maßgebenden Wissenschaftlern der TH München« die Erwartung, dass Garching Hochschulstadt und Standort zahlreicher wissenschaftlicher Institute werde.163 Die Gemeinde akzeptierte diesen neuen Status und begann, ihre Politik daran auszurichten. Mit einer kooperativen Praxis sowie verschiedensten symbolischen Handlungen schuf sie die Voraussetzungen und sicherte die stete Weiterentwicklung zu einer »Wissenschaftsstadt«. Als beispielsweise ein Bürger Garchings sein Grundstück nicht an die Max-Planck-Gesellschaft verkaufen wollte, fasste der Gemeinderat mit 14 gegen 1 Stimme den Beschluss, das Enteignungsverfahren einzuleiten.164 Anträge auf Erweiterungs- oder Neubauten von MPI oder Technischer Hochschule wurden wohlwollend behandelt, den Instituten keine Steine in den Weg gelegt, meist gab der Gemeinderat einstimmig seine Zustimmung.165 Über diese konkrete Praxis hinaus dienten symbolische Akte dazu, ein neues Selbstverständnis in der Gemeinde zu schaffen. Der Gemeinderat arbeitete an einer Identitätsstiftung Garchings als »Wissenschaftsstadt«. So wurden einstimmig Straßennamen beschlossen, die eine Tradition zu bekannten deutschen Physikern und Mathematikern stifteten: Röntgenstr., Einsteinstr., Max-Planck-Str., Heisenbergstr., Elise-Meitner-Weg, Eulerweg, Hertzweg, Gaußweg, Bunsenweg, Schrödingerweg, Sommerfeldweg, Mössbauerweg, Maier-Leibniz-Weg und Otto-Hahn-Str.166 Das örtliche Gymnasium erhielt den Namen Werner-Heisenberg-Gymnasium. Den Straßennamen folgte einige Jahre später der gerade erwähnte, weitere symbolträchtige Akt, ein stilisiertes Bild des Atommeilers in das Gemeindewappen zu integrieren. Auch das zehnjährige Bestehen des Forschungsreaktors war Anlass für eine symbolische Handlung, die zur Konstruktion der »Wissenschaftsstadt« beitrug. Bürgermeister Helmut Karl machte den Vorschlag, eine Festwoche abzuhalten, die in der »Wissenschaftsstadt« Garching ein neues Selbstbewusstsein manifestieren sollte. Die Konstruktion eines »symbolischen Raums« für die Wissenschaft setzte sich somit fort, indem »die Gemeinde im Rahmen dieser Festwoche ihre Bereitschaft, Garching zur Stadt der Wissenschaft zu machen, dokumentier(t)«. Zudem sollte, so der Vorschlag des Gemeinderats, ein Tag der offenen Tür beim Reaktor durchgeführt werden, um der Bevölkerung Gelegenheit zu geben, das

163 Vgl. Stellungnahme der Gemeinde Garching zum Regionalentwicklungsplan, 17. 3. 1967 (im Gemeindearchiv). 164 Vgl. GRS, 15. Juni 1961. 165 Vgl. GRS, 20. November 1970 und auch 5. Februar 1971. 166 Vgl. GRS, 15. Juni 1962. 104

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»Atom-Ei« kennen zu lernen.167 Es ist zu betonen, dass die Idee zu dieser Festwoche aus der Gemeinde Garching, nicht aus den Forschungsinstituten heraus entstand. In einer begleitend publizierten Broschüre wurde die positive Haltung der Gemeinde zur Wissenschaft noch einmal unterstrichen und hervorgehoben: Garching wünsche, »daß die Wissenschaft hier eine gute und dauerhafte Heimstatt finden werde und ist bereit, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um dieses Ziel zu erreichen.«168 Abbildung 6: Logo der Stadt Garching

Entsprechend dieser Ankündigung verlief der weitere Ausbau des Forschungsgeländes unproblematisch. Vor allem Anfang der 1970er Jahre summierten sich die Anträge der Institute auf Neubauten, die von der Gemeinde positiv und schnell behandelt wurden.169 Die enge und unauflösliche Verbindung Garchings mit der Wissenschaft wurde in den Folgejahren immer und immer wieder verbal hergestellt.170 Weitere symbolische Akte folgten: So erhielt Hans Maier-Leibnitz als Anerkennung seiner »Leistung für das Gemeinwohl« von der Gemeinde 1982 die Verdienstmedaille in Gold.171 Die Farben der 1989 angeschafften Gemeindefahne richteten sich nach den Symbolen des Garchinger Wappen, wobei die weiße Farbe den Atommeiler symbolisierte. Der mit der Stadterhebung 1990 neu entworfene Schriftzug Garchings stilisierte das A in Form des »Atom-Ei«.

167 Vgl. GRS, 9. Juni 1967. 168 Festschrift zur Festwoche. 169 Z.B. GRS, 23.7.1971. Vgl. auch: »Der Gemeinderat beschloß nach Aussprache einstimmig, dem Ersuchen stattzugeben und die Grundstücksflächen kostenlos der Gesellschaft für Plasmaphysik zu übereignen. Der Gesellschaft wird jedoch zur Auflage gemacht, die Benützung der Straße für den allgemeinen Verkehr, insbesondere für den landwirtschaftlichen Verkehr sicherzustellen und für eine stete Benutzbarkeit der Überfahrt über die Brücke bei den Grundstücken Sorge zu tragen.« Die kostenlose Überlassung der Grundstücksflächen ist durchaus bemerkenswert, in: GRS, 15. Dezember 1961. 170 Vgl. Anlage 3, Beschlußvorlage zur Punkt 5 der Tagesordnung der GRS, 18. Mai 1979. 171 Vgl. Stadtverwaltung Garching b. München (Hg.), Stadt Garching. Stadtführer. Garching 1990, S.45. 105

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Die Gemeinde Garching inszenierte sich mithin kontinuierlich als »Wissenschaftsstadt«; das Bauerndorf konstruierte eine neue Identität, die in symbolträchtigen Gesten, im Diskurs und in einer kooperativen Politik permanent unterstrichen und erneuert wurden. Gleichwohl ergab sich eine Kluft zwischen diesem diskursiv erzeugten Raum, der die Stadt Garching als Wissenschaftsstadt entwarf, und der Ebene des Alltags, der Praxis, auf der Garching kaum Merkmale einer Wissenschaftsstadt zeigte: Anfänglich stießen die Lebensgewohnheiten der Einheimischen mit denen der Wissenschaftler aufeinander; das Wissenschaftsareal befand sich am Rande der Gemeinde, ohne dass tatsächlich Verbindungen zwischen Stadt und Wissenschaft geschaffen wurden. Noch im Jahr 2003 wurde ein Garchinger Bürger in der Süddeutschen Zeitung zitiert: »Um die Universitätsstadt, die auf dem Ortschild steht, zu bemerken, muß ich schon zwei Kilometer radeln, bis ich beim Forschungsgelände bin«.172 Erst seit Mitte der 1970er Jahre erfolgten, wie noch zu sehen sein wird, einige Bemühungen, Garching und die Wissenschaften stärker miteinander zu verflechten. Die erste Phase der Entwicklung, die bis Mitte der 1970er Jahre reicht, kann jedoch als eine der »separierten Sphären« betrachtet werden.

Transformation eines bäuerlichen Dorfes in ein anonymes suburbia Das rapide Bevölkerungswachstum, der Einzug von Wissenschaft und Industrie, die Veränderungen in der Sozial- und Wirtschaftsstruktur, kurz, das »Verschwinden des Dorfes«, veränderten Alltag und Leben. Traditionelle Institutionen des Dorflebens wie Kirche, Schule, Wirtshaus verloren ihre integrierende Funktion, das Brauchtum bestimmte nicht mehr die Rhythmen des Dorflebens, die typisch dörfliche Sozialkontrolle verlor an Macht und Einfluss.173 Man kannte sich nicht mehr, die Anonymität nahm zu,174 die katholische Dominanz ließ nach, und nicht zuletzt die Wissenschaftler unterschieden sich in ihrem Lebensstil deutlich von den alteingesessenen Dorfbewohnern.175 Ein wesentlicher Faktor für diese Veränderungen war allein schon der Anstieg der Bevölkerungszahl, der zwangsläufig zu steigender Anonymität und zur Auflösung der alten Dorfstrukturen führte. Vor allem aber veränderte sich die Sozialstruktur: »In keiner Gemeinde des Landkreises München ist derzeit eine Umschichtung der Bevölkerung im 172 173 174 175 106

SZ, 15./16. November 2003, S. 51. Vgl. Vom Heidedorf zum Atomzentrum, S. 11f. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch S. Deutinger: Garching, S. 229.

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Gange wie im ›Atomdorf‹«, so ein Bericht des Münchner Merkurs 1973. Der Gemeinderat stellte über die Jahre hinweg immer wieder fest, dass das Wachstum des Forschungsareals zu steigendem Wohnungsbedarf führe und dass das Bevölkerungswachstum auf das Forschungsgelände zurückzuführen sei.176 Auch das Institut für Plasmaphysik hatte bis 1972 einen Wohnungsbedarf von ca. 700 Wohnungseinheiten angemeldet.177 Die ehemals sehr homogene – vor allem bäuerliche – Bevölkerung wurde nun mit Bevölkerungsgruppen und -schichten konfrontiert, die sich nicht nur vom Bildungshintergrund und Lebensstil unterschieden, sondern auch »Fremde« waren, insofern sie aus den verschiedensten Teilen der Republik kamen. Dies wurde vor allem in den Anfangsjahren thematisiert, als die Wissenschaftler in den noch eher dörflichen Strukturen als Fremdkörper auffielen, zumal sie in einer eigens für sie gebauten Siedlung wohnten. Denn 1959 wurde eine größere Fläche für die Beamten und Angestellten des Forschungsreaktors als Baugelände ausgewiesen,178 die Max-Planck-Siedlung entstand. Institutsmitarbeiter zogen in neu errichtete Hochhäuser, Reihenhäuser und Blocks, Wohnformen, die es zuvor in Garching nicht gegeben hatte. Diese »Neugarchinger«, wie sie vom Volksmund genannt wurden, waren zum größten Teil Physiker.179 Die meisten neuzugezogenen Familien wurden aus einem völlig andersgearteten Milieu nach Garching verpflanzt. Neu war für viele vor allem die dörfliche Atmosphäre. Bewunderten die »Neugarchinger« einerseits die »schöne Landschaft der Isarauen«, so fühlten sie sich andererseits isoliert und abgeschnitten von der Welt. Die schlechte Verkehrsverbindung nach München war für viele in den 1960er und 1970er Jahren ein Problem. An Wochentagen fuhr der letzte Bus von München-Freimann um 20 Uhr nach Garching. Auch ein Telefonanschluß war in den 1960er Jahren nicht selbstverständlich. Zudem gab es in den neugebauten Siedlungen keinen öffentlichen Fernsprecher, ein längerer Fußweg zur Telefonzelle beim »Neuwirt« war notwendig, wie die Neuzugezogenen beklagten. Auch die Straße und Wegeverhältnisse in der Siedlung wurden als katastrophal empfunden. Die Wege seien nicht asphaltiert, verwandelten sich bei Regen in Schlamm und be-

176 Vgl. Anlage 3 zum Protokoll der GRS vom 19. Mai 1978; GRS, 3. September 1971; auch GRS, 18. Juli 1969. 177 Vgl. ebd. 178 Vgl. GRS, 19. Juni 1959. 179 Vgl. »In Garching wimmelt es von Doktor-Titeln. Interview mit den Frauen der Wissenschaftler – Das Problem in der Max-Planck-Siedlung«, in: Der Landkreis München. Beilage des MM. 6./7. Juli 1963. 107

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deuteten nicht nur Dreck, sondern für Mütter mit Kinderwägen zudem eine Kraftanstrengung.180 Irritierte die Neu-Zugezogenen die dörfliche Atmosphäre, die verkehrsmäßige Abgeschiedenheit und die schlechten Straßen, die wiederum die Ungleichzeitigkeit im Atom-Dorf spiegeln, so waren umgekehrt für viele Alt-Garchinger die Akademikerfamilien Fremdkörper. Ebenso wie die in einiger Entfernung vom eigentlichen Ort aus dem Boden gewachsene »Forschungsstadt« selbst wurden auch die dort Tätigen als »Andere« empfunden. Am konventionellen öffentlichen Leben nahmen sie kaum Anteil; die traditionellen Faschingsbälle mieden sie. Dafür begannen sie, die Elternversammlungen in den örtlichen Schulen zu dominieren. Zudem entwickelten sie ein eigenes Vereinsleben. 1966 wurde der Sportverein Plasmaphysik e.V. gegründet, später kam eine Ortsgruppe Plasmaphysik des Deutschen Alpenvereins hinzu.181 Ende der 1960er Jahre hatten die Wissenschaftler zudem für ihre Kinder ein Versuchsgymnasium als Ganztagesschule gefordert,182 indem, so ihre Vorstellung, »moderne Lehrmethoden« verwendet werden sollten183 – ein Vorstoß, der die alteingessesene Bevölkerung befremdet haben dürfte. Auch Mitte der 1970er Jahre wurde noch festgestellt, dass die »Kooperation zwischen den alteingesessenen Garchingern und den ›Bildungsbürgern‹, die sich mit dem Aufbau der mehr als einen Kilometer vom Ortszentrum entfernen Hochschulviertel zunehmend hier ansiedeln, nicht optimal« sei.184 Die Frage, wie viele Wissenschaftler tatsächlich in Garching wohnen, welchen Anteil sie an der Bevölkerung stellen und wie sich ihre räumliche Verteilung in Garching darstellt, ist leider aufgrund fehlender Statistiken nicht zu ermitteln. Es scheint allerdings, dass vor allem in der Frühphase Wissenschaftler nach Garching zogen.

Maxime der Funktionstrennung: räumliche Separierungen Die Segregierung der Bevölkerungsgruppen spiegelte nicht nur soziale Trennungen und unterschiedliche Lebenswelten wider; sie verweist auch auf die räumliche Organisation nach den Prinzipien der Funktionstrennung, die damals die stadtplanerischen Konzepte dominierte. Die Entwicklung in Garching entsprach den städtebaulichen Leitbildern, wie sie auf nationaler und auch auf internationaler Ebene diskutiert wurden. So 180 181 182 183 184 108

Vgl. ebd. Vgl. S. Deutinger: Garching, S. 243. Vgl. GRS, 11. April 1969. Vgl. SZ, 11./12. April 1974, S. 12. Vgl. SZ, 22./23. November 1975, S. 17.

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dominierte in Garching in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg die Maxime der Funktionstrennung gemäß der Charta von Athen, die auch, wie noch zu zeigen sein wird, das Verhältnis von Wissenschaft und Stadt mitprägte, indem monofunktionale Wissenschaftsstandorte geschaffen und Wissenschaft als eine spezifische, von anderen zu separierende Funktion gedacht wurde. Die verschiedenen Funktionen einer Stadt wie Wohnen, Leben, Wissenschaft und Industrie befinden sich in Garching in drei von einander getrennten und in einiger Entfernung liegenden Stadtvierteln, deren verkehrsmäßige Verbindungen bis vor kurzem aus einem Linienbus bestand. Die einzelnen Funktionen wurden jeweils einzelnen Stadtteilen zugeordnet: Im Stadtteil Hochbrück befindet sich die Industrie; in Garching selbst das Wohnen und im von der Stadt separierten Forschungsstandort ist die Wissenschaft zentriert. In der Logik dieses stadtplanerischen Denkens war noch 1970 von den drei »Hauptfunktionen der Gemeinde« die Rede.185 Ziel war es, diese streng voneinander zu trennen.186 War die Logik der Funktionstrennung im Kampf gegen die chaotische, ungeordnete, unhygienische Stadt des 19. Jahrhunderts entwickelt worden, so dienten sie hier der »Ordnung« und Kontrolle des rasanten Wachstums eines Dorfes. Das vormals homogene und landwirtschaftlich geprägte Dorf entwickelte sich zu einer funktionsgetrennten Kleinstadt. Diese Wirkungsmächtigkeit der Funktionstrennung findet sich im Übrigen auch in anderen Wissenschaftsstädten und Technopolen, die vor den 1970er Jahren gebaut wurden. Das sibirische Städtchen Akademgorodok war genauso in verschiedene Zonen aufgeteilt wie das französische Sophie-Antipolis.187 In Garching konvergierte diese städtebauliche Funktionstrennung mit sozialen Trennungen – damit, dass ein Bauerndorf zur »Wissenschaftsstadt« gemacht werden sollte, damit dass zwei Welten, zwei Kulturen, zwei Lebensweisen aufeinander prallten. Ungeachtet dieser Separierung und der Desintegration bemühte sich der offizielle lokale Diskurs, Garching als Ganzes als »Wissenschaftsstadt« auszuweisen und dem Ort eine Identität zu geben. Diskursiv wurde seit den 1950er Jahren bis heute, Garching immer wieder als »Wissenschaftsstadt« dargestellt, die enge Verbindung symbolisch betont und mit Festen, Ritualen, Namensgebungen etc. hergestellt. Gleichwohl kontrastiert dem von Lokalpolitikern geschaffenen symbolischen Raum die alltägliche Erfahrung der Bewohner, die den Wandel Garchings vor allem als eine Verfrem185 Stellungnahme zum Truppenübungsplatz vom 12. Juni 1970, GRS, 12. Juni 1970. 186 Vgl. GRS, 20. Juli 1973. 187 Vgl. P. Josphson: New Atlantis, R. Wakeman: Planning. 109

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dung und als Trennungen erlebten. Für die Zeitgenossen war die Inszenierung Garchings als »Wissenschaftsstadt« einerseits und die Entwicklung gemäß der Prinzipien der Separierung der Funktionen andererseits kein Widerspruch, insofern die Maxime der Funktionstrennung den zeitgenössisch dominanten Idealen der Organisation einer Stadt entsprachen. Erst in den 1970er Jahren wurde konstatiert, dass sich die Gemeinde zu einer leblosen, desintegrierten Gemeinde entwickelt hatte.

4.4.2. Ort ohne Eigenschaften: Die Folgen von Wachstum und Funktionstrennung Bürgerhaus, Bürgerwoche und Feste: »Urbanisierung« des suburbanen Garchings Nachdem in Garching die anfängliche Euphorie und Aufregung über die Bedeutung, die die Gemeinde plötzlich erfahren hatte, verebbt war, hielt man inne und betrachtete den Wandel, dem der Ort in den letzten knapp zwei Dekaden ausgesetzt war. Mitte der 1970er Jahre stellte man fest, dass sich sein Bild völlig verändert hatte. Das Dorf hatte das Gesicht einer kleinen Stadt bekommen, Hochhäuser, Reihenhäuser und Einfamilienhäuser hatten die alten Bauernhäuser verdrängt.188 Während sich Garching als »Wissenschaftsstadt« inszenierte und eine neue Identität zu konstruieren bemüht war, kam man nun nicht umhin, zu bemerken, dass sich das Dorf zu einem eigenschaftslosen Ort entwickelt hatte, dessen symbolisch konstruierte Identität für das alltägliche Leben und Arbeiten dort wenig Auswirkungen zeitigte. In der rapiden Wachstumsphase, so nun die Kritik, habe die Gemeinde ihr Gesicht verloren. »Selbst bei großem Wohlwollen lässt sich nämlich in der von 2.670 (1950) auf 10.730 (1977) gewachsenen Gemeinde wenig Geordnetes feststellen.«189

188 Vgl. SZ, 11./12. April 1974, S. 12. 189 »Garching: Eine Gemeinde sucht ihr Gesicht«, in: Stadtanzeiger, 17. August 1982, S. 6. 110

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Abbildung 7-9: Ortsansichten Garchings

Daher bemühte sich Garching nun, »das achtlos entstandene im Nachhinein zu strukturieren«.190 Die baulichen Konsequenzen des schnellen Wachstums wurden nun gleichermaßen kritisiert wie die Separierung der einzelnen Funktionen. Garching stellte damit keinesfalls eine Besonderheit dar. Zum einen rückten zu dieser Zeit, wie Tilman Harlander schrieb, die »immensen Zerstörungen ins Bewusstsein, die ein über Jahrzehnte weitgehend unbeachteter, wie selbstverständlich als »Fortschritt« betrachteter Modernisierungs- und Urbanisierungsprozess im ländlichen Raum verursacht hatte.«191 Nun sah man schockiert, so Harlander weiter, die weitgehend irreversible Entwicklung, »der weite Teile der ländlichen historischen Bausubstanz und zugleich auch der traditionellen Dorfkultur zum Opfer gefallen war.«192 Zum anderen waren in den 1960er Jahren die Maxime der Funktionstrennung generell in die Kritik geraten.193 Es regte sich Widerstand. Die Eintönigkeit des Funktionalismus, die Trostlosigkeit und Menschenfeindlichkeit wurden kriti190 Ebd. 191 Tilman Harlander: »Wohnen und Stadtentwicklung in der Bundesrepublik«, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens. Von 1945 bis heute. Aufbau – Neubau – Umbau, Stuttgart 1999, S. 233-417, hier S. 354. 192 Ebd. 193 Vgl. T. Harlander: Wohnen und Stadtentwicklung, S. 253. 111

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siert. Zielscheibe der Kritik waren nun insbesondere die Ideale der Auflockerung und Entballung. Zu deutlich war spürbar, dass sie die Städte schleichend auflösten und dass damit auch etwas verloren ging. Wolf Jobst Siedlers Kritik am »Mord der Stadt« und Jane Jacobs Rede vom »Tod der Stadt« markieren die Besorgnis, die die gesellschaftlichen Debatten bestimmte. Alexander Mitscherlich polemisierte über die »Unwirtlichkeit der Städte«. Gefordert wurden dagegen »Leben, Vitalität, Fülle, Erfülltsein.«194 Dem »lag das Idealbild einer auf spontane und intensive Kommunikation erpichten Gesellschaft zugrunde, der die Gelegenheit dazu durch den bisherigen Städtebau versagt werde«, wie Albers betonte.195 Kommunikation, Austausch, Partizipation sowie bürgerlicher Tugenden im Sinne des am Gemeinwohl interessierten »Citoyen« rückten in den 1960er Jahren in den Mittelpunkt des bundesrepublikanischen Urbanitätsdiskurses, nicht zuletzt aufgrund der Intervention Edgar Salins auf dem Deutschen Städtetag 1960. Die Betonung, welche Bedeutung Kommunikation habe, das Bemühen, Möglichkeitsräume für Kommunikation und informellen Austausch zu schaffen, finden sich nicht nur in der städtebaulichen Diskussion, in der dieser Diskurs mit einer Besorgnis um den Zustand der Demokratie einherging. Gleichermaßen wurde in den Debatten um die Neuorganisation der Wissenschaft seit den 1970er Jahren auf die Notwendigkeit hingewiesen, kommunikative Räume zu schaffen, wie weiter unten zu sehen sein wird. Wurde im Bereich der Wissenschaft die Kommunikation von Wissenschaftlern, und späterhin auch von Wissenschaft und Industrie, im Hinblick auf die Hervorbringung wissenschaftlicher Erkenntnisse bzw. wissenschaftlichtechnischer Innovationen bezogen, so unterstrich die stadtplanerische Urbanitätsdiskussion die Bedeutung von Kommunikation, von Urbanität für ein demokratisches Gemeinwesen. Edgar Salin reflektierte in seinem Vortrag auf dem Deutschen Städtetag auf den Begriff der Urbanität, indem er dessen Geschichte schilderte und ihn anhand seiner historischen Entwicklung semantisch zu füllen suchte.196 Er verwies auf den Ursprung der Urbanität im klassischen Athen des Perikles.197 So erinnerte 194 Erich Kühn: »Zur Einführung«, in: Gesellschaft durch Dichte. Kritische Initiativen zu einem neuen Leitbild für Planung und Städtebau 1963/ 1964. In Erinnerung gebracht von Gerhard Boeddinghaus, Braunschweig, Wiesbaden 1995, S. 23. 195 Gerd Albers: »Perspektiven der Stadtplanung«, in: Deutsches Institut für Urbanistik (Hg.), Urbanität in Deutschland, Stuttgart u.a. 1991, S. 33-46. 196 Vgl. Edgar Salin: »Urbanität«, in: Erneuerung unserer Städte. Vorträge, Aussprachen und Ergebnisse der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, Augsburg, 1.-3. Juni 1960, Stuttgart, Köln 1960, S. 9-34. 197 Vgl. ebd., S. 9f. 112

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er seine Zuhörer – Architekten, Planer, Politiker – daran, dass die Stadt früher die Heimat der Demokratie gewesen sei und dass es nun die Aufgabe sei, die Stadtbewohner wieder zu Bürgern, zu politischen Menschen zu machen: »Auch die neue Stadt kann nur dann ihre Form finden, wenn es gelingt, ihre Einwohner am Stadtregiment zu interessieren, sie politisch zu erziehen und sie durch Mitverantwortung zu echten Bürgern werden zu lassen«198. Indem Salin den Begriff der Urbanität so stark an Demokratie und politische Partizipation band, wies er auf die Bedeutung der Stadt und insbesondere von Urbanität für die bundesrepublikanische Gesellschaft hin, gerade in Anbetracht der nationalsozialistischen Vergangenheit und der historisch schwach ausgeprägten demokratischen Traditionen. Der Zustand der Städte war mithin nicht nur die Angelegenheit von Stadtplanern und Lokalpolitikern, sondern eine genuin demokratische Frage. Und tatsächlich wurde Urbanität in diesem Sinne »sehr bald [...] als konkretes Ziel der Stadtplanung propagiert.«199 Auch Garching war bestrebt, Bedingungen zu schaffen, um bei den Einwohnern ein Verantwortungsgefühl für ihre Gemeinde zu wecken. Formen der Integration und des Zusammentreffens der Bürger standen auf der Agenda und wurden mit stadtplanerischen Mitteln wie Plätzen, Bürgerhäusern, aber auch mit Festen und Feiern zu verwirklichen versucht. Damit einher ging die Orientierung an städtebaulichen Kennzeichen, wie sie typisch für die Stadt des 19. Jahrhunderts gewesen waren, nämlich Verflechtung, Vermischung, Dichte, Zentralität und Kompaktheit. Urbanität war in den 1960er Jahren ein Aufbruchsbegriff, der im Kontext der Forderung nach demokratischen Strukturen zu sehen ist, die die bundesdeutsche Gesellschaft in den 1960er Jahren bewegte. Urbanität fungierte als ein politischer Begriff, als etwas, was mit baulich-räumlichen Strukturen ermöglicht oder gar hergestellt werden sollte. In Garching gehörte zum Beispiel die Entwicklung einer Fußgängerzone sowie einer neuen Ortsmitte zu den Zielen des Gemeinderates. Dies war schon zu Beginn der 1960er Jahre diskutiert worden, um eine »Identifikationsmöglichkeit mit der Gemeinde« zu ermöglichen.200 Zwar wurde bereits im Juni 1966 ein Bebauungsplan für das Ortszentrum aufgestellt201 und Anfang der 1970er Jahre war seine Bedeutung und Notwendigkeit als »politischer, gesellschaftlicher, kultureller und repräsentativer Kristallisationspunkt« der Gemeinde noch einmal betont worden.202 198 199 200 201 202

Ebd., S. 32. G. Albers, Perspektiven, S. 33. GRS, 15. Oktober 1962. Vgl. GRS, 16. September 1966. GRS, 19. Februar 1971. 113

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Doch erst 1977 wurde tatsächlich mit seiner Errichtung begonnen.203 Garching startete, wie es der Münchner Stadtanzeiger ausdrückte, nun »ernsthafte Bemühungen sich zu finden.«204 Zudem wurde ein »Bürgerhaus« errichtet.205 Grundgedanke war es, den Schlafstadtcharakter durch die Schaffung eines »lebensvollen Kristallisationspunktes für ein künftiges Ortszentrum« abzubauen.206 Das neue Ortszentrum und das Bürgerhaus sollten der »Überwindung des schlimmen Funktionalismus« dienen,207 der für den Verlust von Urbanität im politischen Sinne verantwortlich gemacht wurde. Die Dominanz von Begriffen wie »Identität«, »Kristallisationspunkt«, oder »Kontaktmöglichkeiten« im Diskurs signalisiert das Bemühen, den anonym und gesichtslos gewordenen Ort wieder zu einer lebendigen, integrierten Kommune werden zu lassen. Abbildung 10-12: Garchinger Fußgängerzone und öffentliche Plätze

Zu diesen Bemühungen gehörte auch eine Bürgerwoche, die seit 1972 jeweils 12 Tage lang gefeiert wird und ein »neuer Weg zu mehr Gemeindebewußtsein«208 sein sollte. Die Gemeinde hatte sie explizit mit dem Anliegen das »kulturelle und gesellschaftliche Leben in unserer 203 Stadt Garching (Hg.), Stadtführer, S. 13. 204 »Garching. Eine Gemeinde sucht ihr Gesicht«, in: Stadtanzeiger, 17. August 1982, S. 6. 205 Vgl. Stadt Garching (Hg.), Stadtführer, S. 32. 206 Ebd. 207 »Garching. Eine Gemeinde sucht ihr Gesicht«, in: Stadtanzeiger, 17. August 1982, S. 6. 208 Anlage 1 zum Protokoll der GRS vom 18.7. 1975, Halbzeitbericht des 1. Bürgermeisters vor dem Gemeinderat. 114

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Gemeinde« zu beleben, eingerichtet: »Sie fördert die Kontaktmöglichkeiten unserer Bürger untereinander und wirkt damit auch der Schlafstadtbildung entgegen«, so der Bürgermeister Helmut Karl in einer Gemeinderatssitzung im Jahr 1975.209 Dies verweist auf die typischen Entwicklungen suburbaner Orte, mit denen auch Garching konfrontiert war: Der Zuzug verschiedenster Menschen, die keine gemeinsamen Interessen verbindet, die ohne sozialen Zusammenhalt sind, die keine Beziehung zu ihrem Wohnort haben und dort vor allem wohnen, häufig jedoch weder dort arbeiten noch ihre Freizeit verbringen, lassen schwerlich ein gesellschaftliches Leben entstehen. Der Gemeinderat konstatierte, dass in Garching wegen der vielen Zuzüge der letzten Jahre gemeinsame Erfahrungen in der Vergangenheit fehlten und es daher schwierig sei, »gemeinsame Absichten für die Zukunft zum Anliegen Vieler zu machen.«210 Eine Vergangenheitslosigkeit, die zugleich – trotz der Bemühungen, eine neue Identität als »Stadt der Wissenschaft« zu gründen – eine Identitätslosigkeit bedeutete, führte in der Wahrnehmung der Kommune zu Problemen der Erhaltung und Stabilität des Gemeinwesens. Mag dies für suburbane Vororte, in denen Familien atomistisch nebeneinander leben, weniger ein Problem sein, so können für eine Kommune mit politischer Selbstverwaltung daraus Defizite für das Gemeindeleben entstehen. Der Versuch, ein »Gemeinschaftsbewusstsein« wieder herzustellen, die Kommunikation zwischen den Einwohnern zu fördern, verweist vor allem auf den Verlust eines Gemeinwesen, die Notwendigkeit, eine neue Identität zu stiften. Die Bürgerwoche »baut auf den örtlichen Bürgersinn und die Solidarität und lebt von Aktivität, die aus der örtlichen Gemeinschaft erwächst.« Die Garchinger Politiker betrachteten sie als einen »Beitrag zur Überwindung der Anonymität und zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Garchinger«.211 Die Einrichtung öffentlicher Plätze, die Ermöglichung eines öffentlichen Lebens, die Stimulierung der Kommunikation verschiedener sozialer Gruppen standen nun auf der kommunalen Agenda. Man bemühte sich um Re-Integration, um Vermischung, um die Herstellung eines urbanen Lebens, vor allem um den Bewohnern ein Gemeinschaftsgefühl zu vermitteln und um den Verlust eines gesellschaftlichen Zusammenhalts und Lebens vor Ort zu kompensieren. Diese Diagnose, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren gegangen war, entsprach ganz der Urbani-

209 Ebd. 210 Ebd. 211 Garching b. München: Gemeindechronik, 2. Band, Garching 1979. 201f. 115

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tätsdiskussion auf nationaler Ebene, die den Verlust des Gemeinsinns, des Citoyen, in den Städten beklagte. Ein weiterer Effekt des rapiden Wachstums Garchings und der zunehmenden Anonymität war, dass die »Andersartigkeit« der Wissenschaftler, ihr den Dorfbewohnern Ende der 1950er Jahre noch fremder Lebensstil, nun kein Thema mehr waren. Dies scheint vielmehr vor allem ein Phänomen der Frühphase gewesen zu sein, als viele der bei der Max-Planck-Gesellschaft Beschäftigten in die für sie eigens errichtete Siedlung zogen und damit auch gut sichtbar und in ihrer Fremdheit erfahrbar waren. War es anfangs so, dass die Wissenschaftler als neu auftauchende soziale Gruppe die Dorfbewohner irritierten, so fielen sie später in einer gewachsenen und unpersönlich gewordenen Kommune kaum noch auf. »Integration durch Anonymität« könnte man dies nennen: »Wenn sie in Garching wohnen«, sei kaum zu merken, »daß es Wissenschaftler sind«.212

Integration der Wissenschaftler in die Stadt Dass trotz der symbolischen Politik und der Identitätsstiftung im Sinne einer »Wissenschaftsstadt« die Wissenschaft kein integraler Bestandteil Garchings geworden war, wurde seit den 1970er Jahren als Manko empfunden. Die Redeweisen der Garchinger über die Wissenschaftler, wie »die da draußen«213 oder der Begriff der »Hochschulstadt«, der in den Köpfen schlichtweg das Forschungsgelände meinte, und gerade nicht den Ort Garching selbst, bezeugten die Distanz – wie auch umgekehrt der Ort selbst, so jedenfalls der Eindruck vieler Garchinger, von Seiten der Wissenschaftler kaum wahrgenommen wurde: »Die Garchinger kriegen von ihrem Forschungszentrum nicht viel mit – außer daß sich die Einwohnerzahl der Gemeinde in 20 Jahren versechsfachte [...] Die Forschung vollzieht sich still in größtenteils unscheinbaren Betonbauten.«214 Diese Abgeschiedenheit der Wissenschaft, ihre Trennung vom Ort korrespondierte nun, ganz anders als noch ein bis zwei Dekaden zuvor, nicht mehr den zeitgenössischen Vorstellungen; vielmehr wurde sie als Isolation wahrgenommen. So hatte sich beispielsweise der Flächennutzungsplan 1978 – neben anderem – die Verringerung der bestehenden Trennung zwischen Ortsbereich Garching und Hochschul- und For-

212 Interview mit Ingrid Wundrak (Mitglied der Bürgerinitiative) am 31.1.02 in Garching. 213 SZ, 15. /16. Nov. 2003, S. 51. 214 Abendzeitung, 24. Juni 1982, S. 14. 116

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schungsbereich zum Ziel gesetzt.215 Das Forschungsgelände wurde als »Ghetto«, die Universität als Fremdkörper bezeichnet. Daher bemühte sich die Gemeinde, den »Fremdkörper« mehr mit der Ortsmitte zu verbinden.216 Diese Bemühungen gipfelten schließlich in einem – etwas hilflosen – Plan, einen Wanderweg und eine Grünverbindung zwischen Garching und dem Hochschulgelände anzulegen.217 In einer ähnlichen Logik errichtete die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) 1988 ein Internationales Begegnungszentrum, das Werner Heisenberg-Haus, an einem Verbindungsweg zwischen dem Forschungsgelände und der Ortsmitte. Es sollte mit diesem Standort einerseits zwanglose Begegnungen mit den Wissenschaftlern ermöglichen, andererseits »den Übergang von der ländlichen Gemeinde zum Wissenschaftsstandort im Ballungsraum München sichtbar« machen. Auch die Baumaterialen sollten dies ausdrücken: Man verwandte eine Kombination von Materialien aus dem Regionalen (Holzverkleidungen) und aus dem »Urbanen« (außenliegende Stahltreppen).218 Das Ziel, das Forschungsgelände besser an Garching anzubinden, steht heute erneut auf der Agenda. Wieder wird betont, dass das Wissenschaftsareal stärker in Stadtstruktur von Garching integriert werden müsse.219 Ein »Stadtentwicklungsprozess« aus dem Jahr 2005 bemängelte, dass das studentische Leben außerhalb der TU »schwach ausgeprägt« sei. Noch immer bilde das Hochschul- und Forschungsgelände einen »Mikrokosmos, der mit den übrigen Stadtteilen räumlich und funktional kaum verbunden ist«. Die Stadt strebt daher erneut, »eine Verbindung des Hochschul- und Forschungsgeländes mit dem Stadtteil Garching an, um die Hochschul- und Forschungseinrichtungen besser in das städtische Leben zu integrieren«. 220 Der Stadtrat beschloss daher in Abstimmung mit der TU und der MPG im Jahr 2003, im Übergangsbereich eine »Kommunikationszone« einzurichten, in der studentische Wohnungen, Gastwissenschaftlerwohnungen, Gastronomie, Einzelhandel, kulturelle Einrichtungen sowie Sport- und Freizeiteinrichtungen platziert werden, die von der Garchinger Bevölkerung sowie von Wissenschaftlern gemeinsam genutzt werden sollen. Dies soll ein Schritt sein, um die bislang so gut wie gar nicht stattfindende Begegnung der »Arbeitsbevölkerung des Hochschul- und Forschungsgeländes mit der 215 216 217 218

Vgl. Antrag auf Stadterhebung, S. 5. Vgl. Anlage 3 zum Protokoll der GRS v. 19. Mai 1978. Vgl. GRS, 13. Mai 1977. Vgl. Hardo Braun (Hg.), Bauen für die Wissenschaft. Institute der Max-Planck-Gesellschaft, Basel, Berlin, Bosten 1999, S. 42. 219 Vgl. Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum, TU München (Hg.), S. 8. 220 Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03.2005, S. 40. 117

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Garchinger Wohnbevölkerung« zu forcieren. Zudem ist vorgesehen, einzelne Hochschul- und Forschungseinrichtungen bzw. ergänzende Einrichtungen zukünftig auch im Stadtzentrum Garchings anzusiedeln. Für den Planungsprozess wurden so genannte »Runde Tische« eingerichtet.221 Seit den 1970 und erneut wieder verstärkt seit den 1990er Jahren lassen sich mithin deutliche Versuche der Integration des Wissenschaftsareals in den Ort Garching einerseits sowie Versuche der »Urbanisierung« des suburban geratenen Dorfes andererseits beobachten. Entgegen der Maxime der Funktionstrennung wurde eine Vermischung der Funktionen propagiert, Plätze neu zu beleben, Kommunikation und Interaktion zwischen den Bürgern zu forcieren versucht. Die Entdeckung der Funktionsmischung, der Bedeutung öffentlicher Orte und Räume für die Entwicklung eines Bürgersinns waren die Antwort auf den Verlust einer dörflichen Identität und Gemeinschaft, die im Wachstum der Gemeinde und in ihrer Entwicklung entsprechend der Funktionstrennung verloren gegangen war. Darüber hinaus wurde nun auch das Forschungsareal selbst mit spöttischen Beschreibungen wie »Akademgorod«222 oder »Novigarchinsk«223 bedacht. Diese Bezeichnungen verweisen auf sowjetische Städte, die aus dem Boden gestampft wurden, und sind als Metapher für Unlebendigkeit, Künstlichkeit und Abgeschiedenheit zu lesen. Die Klagen über das Unlebendige häuften sich, und auch eine Denkschrift der TU spricht noch 1980 von der »Isolation der Garchinger«.224 Das Unbehagen kann an den sich wandelnden Konzepten abgelesen werden, mit denen die TU Administration seit den 1970er und 1980er Jahren versuchte, das »Gesicht« des Wissenschaftsareal, seine bauliche und organisatorische Struktur zu ändern und die, wie weiter unten zu sehen sein wird, kurz gesagt, als eine Urbanisierung des Standorts bezeichnet werden können – mithin eine ähnliche Entwicklung, wie sie im Ort Garching selbst zu beobachten war, wo die Kommune mit der Re-Etablierung eines öffentlichen Lebens befasst war, mit dem Versuch, dem Ort eine Identität, eine städtische Atmosphäre zu geben. Aber noch etwas anderes hatte sich seit den späten 1970er Jahren, vor allem aber seit den 1980/90er Jahren geändert, was vor den Bemühungen zur »Urbanisierung« des Forschungsareals geschildert werden soll, nicht zuletzt weil dies die Notwendigkeit einer Rückbindung der Wissenschaft an die Stadt für die beteiligten Akteure deutlich unter221 222 223 224 118

Vgl. ebd., S. 41ff. SZ, 22./23. November 1975, S. 17. U. Wengenroth: Technische Hochschule. Denkschrift, S. 13.

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strich: Die Zustimmung der 1950er und1960er Jahre, die überbordenden Erwartungen angesichts der Heilsversprechungen von Wissenschaft und Technik, wichen einer skeptischen Haltung, die sich vor allem angesichts der Bemühungen, einen neuen Forschungsreaktor in Garching zu bauen, zeigte.

4.5. Skepsis, Kritik und Verhandlungen Wurde das »Atom-Ei«, die Kernphysik oder die Ansiedlung der Wissenschaft in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in Frage gestellt, lediglich deren Einbettung in Traditionen gefordert bzw. das Vergehen alter Struktur mit einer gewissen Melancholie beschrieben, so entsprach dies, wie gezeigt, der für die frühe Bundesrepublik typischen, zumeist respektvollen Haltung gegenüber der Wissenschaft und den Erwartung an ihre positiven (ökonomischen) Effekte. Diese wurden jedoch spätestens in den 1970er Jahren massiv hinterfragt, wie vielfach in der Forschung betont. Die negativen Folgen von Wissenschaft und Technik wurden zunehmend kritisch thematisiert, die Wissenschafts- und Technikgläubigkeit erodierte grundsätzlich. War das Unbehagen an Technik, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg artikulierte, aus dem zerstörerischen militärischen Potential erwachsen, so stand nun die in den Horizont getretene Erschöpfung natürlicher Ressourcen und die Vernichtung der natürlichen Umwelt im Zentrum. Die Forschrittsgläubigkeit begann prinzipiell hinterfragt zu werden.225 Technik- und Wissenschaftskritik verbanden sich mit ökologischem Bewusstsein sowie mit einem grundsätzlichen Unbehagen an der Industriegesellschaft. Anti-Kernkraft-Bewegung, Umweltschutzgruppen, neue soziale Bewegungen sowie unterschiedlichste Intellektuelle wie Hans Jonas, Herbert Marcuse, Carl Amery, Hans Magnus Enzensberger oder Carl Friedrich von Weizsäcker – um nur wenige zu nennen – bildeten ein Geflecht von Interventionen und neuen Protesten, die die bislang unhinterfragten Entwicklungen grundsätzlich zu hinterfragen begannen. Vor allem die Diagnose des Club of Rome, publiziert in »Die Grenzen des Wachstums« im Jahr 1972, hatte einen der Wendepunkte dargestellt, der den Glauben »an uneingeschränkte Machbarkeit und [...] technokratische Zukunftsplanung«226 erschütterte. An »die Stelle von Modernisierungseuphorie und Zukunftsoptimismus traten Zivilisationsskep-

225 Vgl. Helga Nowotny: Kernenergie: Gefahr oder Notwendigkeit, Frankfurt 1979, S. 50. 226 A. Rödder: Bundesrepublik, S. 50. 119

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sis und Zukunftsangst ums Überleben.«227 Die Ölkrise 1973 und die darauf folgenden vier autofreien Sonntage in der Bundesrepublik machten erfahrbar, »wie sehr wir mit unseren Sozialstrukturen und Lebensgewohnheiten, von den technischen Erzeugnissen der Moderne abhängen, wie sehr unser Lebensrhythmus darauf aufbaut.«228 Es wurde deutlich, wie verletzlich diese Lebensbasis war und wie brisant eine Rohstoffknappheit sein könnte. »Wie sich die Zeiten geändert haben, zeigt sich auch daran, dass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nie so viel nach ›Alternativen‹ gefragt worden ist wie in letzter Zeit«, konstatierte Meyer-Abich 1981.229 Das Gefühl einer markanten und tiefen Zäsur angesichts wissenschaftlich-technischer Entwicklungen, die die Menschheit vor gänzlich neue Herausforderungen stellten, wird in den Schriften von Intellektuellen wie Hans Jonas, Carl Amery, Carl Friedrich von Weizsäcker sowie auch von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren und von Politikern unterschiedlicher Parteien wie Herbert Gruhl oder Erhard Eppler deutlich. Sie betonten einhellig eine existenzbedrohende Dimension, die der technische Fortschritt angenommen habe. Sein Erfolg gefährde zunehmend die Menschheit und ihre Lebensgrundlagen, so der Tenor. »Auch für die heutige Menschheit ergeben sich die größten Gefahren nicht aus ihren Mißerfolgen, sondern aus ihren Erfolgen«, schrieb Herbert Gruhl.230 Er konstatierte »Herausforderungen einer weltgeschichtlichen Situation, die es noch nie gab, solange Menschen auf diesem Planeten leben«.231 Erhard Eppler sprach 1975 von einer historische(n) Zäsur, deren Tiefe erst in einigem Abstand sichtbar werde: »Die Menschheit ist auf Grenzen gestoßen, von denen sie zumindest in den zwei Jahrhunderten zuvor nichts wusste oder wissen wollte«.232 Hans Jonas forderte eine neue Ethik, da in der technologischen Zivilisation traditionelle Ethiken nicht mehr adäquat seien: » [...] die moderne Technik hat Handlungen von so 227 Ebd. 228 Jens Hohensee: »Und sonntags wieder laufen… Die erste Ölkrise 1973/ 74 und ihre Perzeption in der Bundesrepublik Deutschland«, in: M. Salewski/I. Stölken-Fitschen (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 175-196, sowie: ders.: Der erste Ölpreisschock 1973/74: die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der arabischen Erdölpolitik auf die Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa, Stuttgart 1996. 229 Klaus M. Meyer-Abich/Bertram Schefold: Wie möchten wir in Zukunft leben. Der ›harte‹ und der ›sanfte‹ Weg, München 1981, S. 12. 230 Herbert Gruhl: Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt am Main 1975, S. 12. 231 Ebd., S. 11. 232 Erhard Eppler: Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 1975, S. 9. 120

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neuer Größenordnung, mit so neuartigen Objekten und so neuartigen Folgen eingeführt, dass der Rahmen früherer Ethik sie nicht mehr fassen kann«.233 Er forderte eine »Heuristik der Furcht«, die »Kultivierung einer Furcht in uns«.234 Ein Vertrauensverlust in die Wissenschaft wurde u.a. von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft in einer Meinungsumfrage beobachtet.235 Auch eine Auswertung des Archivmaterials des Instituts für Demoskopie in Allensbach zeigte eine deutliche Zunahme der Pessimisten in den Jahren 1967 bis 1975. Der Glaube an Fortschritt und eine bessere Zukunft ging von 60% (1972) auf 48% (1975) zurück.236 »Der Durchschnitt der Bevölkerung verhält sich in seiner allgemeinen Meinung gegenüber dem technischen Fortschritt in den letzten Jahren immer reservierter«.237 Auch langfristige Trendtabellen des Allensbacher Instituts über die Einstellung der Bevölkerung zu wissenschaftlichem Fortschritt und Technik zeigten seit 1966 eine kontinuierliche Abnahme derer, die annahmen, dass der Fortschritt der Technik das Leben für die Menschen immer einfacher mache. 1984 glaubten noch 41% der Bevölkerung, dass man bereit sein müsse, bestimmte Risiken bei der Anwendung von technischen Entwicklungen in Kauf zu nehmen. 1989 waren es nur noch 32%. Umgekehrt stieg die Zahl derer von 43% auf 51%, die schon bei einem geringen Risiko lieber auf die technische Entwicklung verzichten wollten.238 Tragische Unglücke wie der Reaktorunfall bei Harrisburg, vor allem die Katastrophe von Tschernobyl verdeutlichten, dass der Technik eine Zerstörungskraft innewohnt, die nicht mehr ihrem Missbrauch durch kriegerische Mächte zugeschrieben werden konnte. Seveso, Tschernobyl, die Ölkrise konnten jeden treffen. Günther Anders konstatierte in einem seiner letzten Interviews, die Menschheit habe heute, im Gegensatz zu 1945, viele Methoden sich umzubringen239 – eine Entwicklung,

233 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main 1979, S. 26. 234 Ebd. 235 Vgl. The Commission of the European Communities, Science and the Public Opinion, Brussels 1977. 236 Vgl. Bernd Meier: Die Mikroelektronik. Anthropologische und sozio-ökonomische Aspekte der Anwendung einer neuen Technologie, Köln 1981, S. 76. 237 Ebd. 238 Vgl. Kirsten Brodde: Wer hat Angst vor DNS? Die Karriere des Themas Gentechnik in der deutschen Tagespresse von 1973-1989, Frankfurt 1992, S. 16f. 239 Vgl. Ingeborg Breuer/Dieter Mersch/Peter Leusch: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, Deutschland, Hamburg 1996, S. 44. 121

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die Ulrich Beck in seiner Theorie der Risikogesellschaft beschrieb, in der er einen Bruch innerhalb der Moderne diagnostiziert.240 Somit lässt sich seit den 1970er Jahren eine tiefer werdende Ambivalenz gegenüber Wissenschaft und Technik sowie das Zunehmen von Protestbewegungen beobachten.241 So stellte das Städtebau-Institut 1971 fest, dass der Widerstand der Bevölkerung gegen umweltzerstörende Maßnahmen wachse. Ähnliche Entwicklungen waren in anderen europäischen Ländern, in Japan und den USA zu beobachten. In Japan verhinderteten Bauern und Studenten in monatelangen Kämpfen mit der Polizei den Bau eines Flugplatzes, in Stockholm setzten Hunderte aufgebrachter Bürger es durch, dass die Stadtverwaltung vom Plan abließ, eine Reihe alter Ulmen zu fällen.242 Nicht nur die Kernforschungszentren der 1950er Jahre, auch die Standortsuche für eine atomare Wiederaufbereitungsanlage Mitte der 1970er Jahre rief in den deutschen Gemeinden jeweils sehr schnell Widerstand hervor.243 Garching blieb von diesen Veränderungen allerdings noch ein bis zwei Dekaden unberührt. Man hatte sich vermutlich an das »Atom-Ei« gewöhnt, so dass es, seit über zwanzig Jahren bestehend, in den 1970er und 1980er Jahren kein Thema war. Im Laufe der Zeit hatte es lediglich vereinzelte Irritationen und Beunruhigungen in der Bevölkerung gegeben, so beispielsweise Ende der 1970er Jahre angesichts eines Brandes am Physikinstitut der TU, das in unmittelbarer Nachbarschaft zum »Atom-Ei« liegt, und der zehn Stunden lang von Feuerwehren und Spe-

240 Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986. S. 300. 241 Vgl. hierzu Friedhelm Neidhardt/Dieter Rucht: »Protestgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland«, in: Dieter Rucht (Hg.), Protest in der Bundesrepublik. Strukturen und Entwicklungen. Frankfurt am Main 2001, S. 27-70. Protest definieren Neidhardt/Rucht als »kollektive, öffentliche Aktion nicht-staatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringen und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden sind.« (S. 28). 242 Vgl. Kai Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950 – 1973), Stuttgart 2004, S. 329. 243 Vgl. Winfried Kretschmer/Dieter Rucht: »Beispiel Wackersdorf: Die Protestbewegung gegen die Wiederaufarbeitungsanlage. Gruppen, Organisation, Netzwerke«, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1987, S. 134-163, hier S. 137f., vor allem Fußnote 10; vgl. auch Dieter Rucht: Von Wyhl nach Gorleben. Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung, München 1980, S. 65 und Patrick Kupper: Atomenergie und gespaltene Gesellschaft. Die Geschichte des gescheiterten Projektes Kernkraftwerk Kaiseraugst, Zürich 2003. 122

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zialtrupps bekämpft werden musste.244 Dieser Vorfall hatte zu einer, allerdings nur vorübergehenden, Diskussion um die Gefährlichkeit des Forschungsreaktors geführt: »Wir werden einfach das Gefühl nicht los, daß die Allgemeinheit mit zweifelhaften Argumenten beschwichtigt werden soll. Die Angst, daß wir eines Tages, alle in die Luft fliegen, bleibt«, wurde ein Garchinger im Münchner Merkur zitiert.245 Darin drückte sich allerdings bereits ein neues Unbehagen aus, das in den 1990er Jahren schließlich bis zur Infragestellung des Wissenschaftsstandortes durch Teile der Bevölkerung führen sollte. Es entzündete sich am Plan für einen neuen Forschungsreaktor. Der bis dahin stets neu hergestellte symbolische Raum erodierte, er wurde nun von Garchinger Bürgern torpediert. Verstärkt seit den 1990er Jahren wurden Forderungen nach einer vorsichtig-abwägenden Planung, nach der Aufstellung von Entwicklungsplänen, der Lösung der zu erwartenden Verkehrsprobleme und der vorausschauenden Einschätzungen von Folgeproblemen angesichts der Verlagerung weiterer Fakultäten und des geplanten Ausbaus des Forschungsgeländes laut.246 Die Zeichen standen nicht mehr auf ungebremste Expansion. Garching hatte aus der Vergangenheit gelernt. Weder wollte man weitere, unübersehbare Folgekosten auf sich nehmen247 noch einem ungelenkten Wachstum zustimmen. An die Stelle des Respekts und des Stolzes als »Wissenschaftsstadt« ausgewählt worden zu sein, trat die Verteidigung des eigenen Lebensumfeldes, die selbstbewusst gegen die Interessen der Wissenschaft gestellt wurden. Der Stadtrat stellte nun klare Bedingungen. Beispielsweise insistierte er, dass der Verlagerung der Maschinenbau-Fakultät nur zugestimmt werden würde, wenn entweder der U-Bahnbau zum Hochschulgelände gesichert oder mittels der so genannten Westumgehung das zu erwartende Verkehrsproblem zu lösen sei.248 Zum Kernpunkt der Auseinandersetzungen wurden allerdings die Pläne, das »Atom-Ei« durch einen neuen Forschungsreaktor, den FRM-II, zu ersetzen. Die Atomeuphorie der Nachkriegszeit schlug nach 1970 in den meisten Industrieländern in eine weit verbreitete Aversion gegenüber dieser Technik um. Wyhl, Brokdorf, Gorleben sind die Sym244 Vgl. MM, 14. Mai 1979, S. 15. 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. SRS, 25. September 1991, Antrag der CSU; Anlage zu Top 7, Antrag vom 1. Nov. 1991. 247 Vgl. den letzten Abschnitt dieses Kapitels. Garching war seit den 1960er Jahren mit enormen Kosten konfrontiert, die aus der Ansiedlung der Wissenschaft und den notwendig gewordenen Folgeeinrichtungen und Infrastrukturen resultierten. 248 Vgl. SRS, 21. Februar 1992. 123

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bole der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung. Angesichts der sich seit Mitte der 1970er Jahren überregional formierenden AKW-Bewegung, der seitdem heftig umkämpften Atomenergie und vor allem nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl249 war es nicht sehr verwunderlich, dass Pläne zu einem neuen Forschungsreaktor auch in Garching auf Widerstände stoßen würden. Andreas Rödder sieht vor allem in den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Brokdorf in Gorleben oder im Kampf um die Startbahn-West in Frankfurt, eine »Fundamentalkritik gegenüber der modernen, auf Fortschritt und Wachstum setzenden Industriegesellschaft«.250 Radkau fasste dies im Hinblick auf die Kernkraftkontroverse mit den Worten zusammen, auch in der Bundesrepublik habe sich in der ersten Hälfte der 1970er Jahre ein Übergang von der »uneigentlichen« zur »eigentlichen« Kernkraftkontroverse abgezeichnet.251 Dagegen nannte er die Proteste der 1950er und 1960er Jahre »im Lokalbereich steckengebliebene Oppositionsbewegung«252. Dies wurde vor allem für die Anti-Atomkraft-Bewegung verschiedentlich nachgezeichnet, wobei die Frühphase, wie schon von Radkau angedeutet, als eine Phase gilt, in der das Sankt Florians Prinzip vorgeherrscht habe.253 Seit 1974 entwickelte sich der Protest gegen Atomkraftwerke dann über die örtliche Betroffenheit hinaus, der Widerstand gegen ein konkretes Projekt wurde zugleich als Widerstand gegen das gesamte Atomprogramm verstanden. Dabei, so Rödder, verband sich mit der Anti-Atomkraft Bewegung eine grundsätzliche Wendung gegen technische Großprojekte und industrielles Wachstum.254 Entsprechend bestand – anders als beim ersten Forschungsreaktor (FRM I) in den 1950er Jahren – nun in Garching nicht nur massiver Diskussions- und Beratungsbedarf, vielmehr formierte sich heftiger Protest, der über Jahre hinweg anhielt und im Ziel gipfelte, den zweiten Forschungsreaktor (FRM II) zu verhindern. Vor allem der Reaktorunfall in Tschernobyl hatte dazu beigetragen, die Bevölkerung zu sensibilisieren.255 Der historische Vergleich zwischen der Ansiedlung des FRM I in den 1950er Jahren und des Neubaus eines zweiten Reaktors in den 1990er Jahren veranschaulicht exemplarisch einen Paradigmenwechsel

249 250 251 252 253

Vgl. J. Radkau: Learning, S. 342f. A. Rödder: Bundesrepublik, S. 68. Vgl. J. Radkau: Aufstieg. Ebd., S. 459. »Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd andere an«. Vgl. D. Rucht: Wyhl, S 80. 254 Vgl. A. Rödder: Bundesrepublik, S. 67. 255 Interview mit Ingrid Wundrak am 31.1.02 in Garching. 124

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im Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Der Wandel in der Haltung gegenüber der Wissenschaft, deren steigende Legitimationsnotwendigkeit und der gestiegene Wissens- und Informationsstand der Bevölkerung sowie die komplexer gewordenen Entscheidungsprozesse treten bei der Betrachtung der Entwicklungen in Garching anschaulich zu Tage. Hatte die Ansiedlung des »Atom-Ei« in den 1950er Jahren innerhalb kürzester Zeit die Zustimmung der Gemeinde gefunden, so wurde der Bau eines neuen Forschungsreaktors in den 1990er Jahren ein langwieriger und hartumkämpfter Prozess.

4.5.1. Der Streit um den FRM II Im Januar 1989 hatte die TU München ein Konzept für einen neuen Forschungsreaktor in Garching erstellt; sehr schnell wurde das Vorhaben von unterschiedlichsten Akteuren – Wissenschaftlern, einem gegründeten Arbeitskreis »Alternativen zum Forschungsreaktor München II«, Bund Naturschutz, Teilen des Münchner Stadtrates, Elternbeiräte benachbarter Ortschaften, um nur einige zu nennen – kommentiert und kritisiert. Im September 1991 informierte die TU256 den Gemeinderat über ihre laufenden Forschungsprogramme und den geplanten neuen Reaktor. 1993 beantragten die TU und die Firma Siemens die atomrechtliche Genehmigung zum Bau eines Forschungsreaktors.257 Wie das »Atom-Ei« sollte auch der FRM II nicht der Energiegewinnung dienen, sondern Neutronen produzieren, die vor allem für die Grundlagenforschung benötigt würden. Der FRM II war als eine multidisziplinäre genutzte Forschungseinrichtung konzipiert, die Experimenten in der Physik, Chemie, Molekularbiologie und Medizin dienen sollte.258 Man versprach sich vom FRM-II neue Erkenntnisse in der Materialforschung, Biophysiker erhofften Forschungsmöglichkeiten im Hinblick auf den Zellaufbau und Maschinenbauer prognostizierten bessere Methoden, um Defekte – beispielsweise bei Flugzeugturbinen oder bei Radreifen von Eisenbahnen – festzustellen. Materialen für Brennstoffzellen und Katalysatoren, für Datenspeicher und Sensoren, für spezielle Legierungen und High-Tech -Keramiken sollten erforscht werden. Mediziner schließlich beabsichtigten, den FRM II für die Tumorbehandlung zu nutzen.259 Nach Bekanntgabe der Pläne erhob sich jedoch eine Welle von Anträgen, Eingaben, Nachfragen und Vorbehalten, Demonstrationen, Ak256 Präsident Meitinger, Prof. Dr. Gläser, Prof. Dr. Böning und Dr. Wolfgang Waschkowski. 257 Vgl. Anlage zur SRS, 11. Dezember 1998. 258 Vgl. SRS, 25. November 1991. 259 Vgl. SZ, 8. Februar 1999, L 3, SZ, 9./10. Juni 2004, S. 2. 125

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tionen bis hin zu Privatklagen. Massive Bedenken schlugen dem neuen Projekt entgegen. 1991 gründete sich in Garching eine Bürgerinitiative »Bürger gegen den Atomreaktor Garching e.V.«. Auf einer Bürgerversammlung wurden Anträge über Anträge formuliert und im Gemeinderat eingereicht; unzählige Protestaktionen, Veranstaltungsreihen, Informationsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen – beispielsweise zu »Traum oder Alptraum? Kerntechnik auf dem politischen Prüfstand« (September 1992 in Garching) – fanden statt. In Unterschriftaktionen wurden über die Jahre hinweg immer wieder Stimmen gegen den Reaktor gesammelt, die den entsprechenden politischen Stellen auf Landes- und Bundesebene übergeben wurden. Künstlerische Interventionen, Filmvorführungen, Infostände, Zeitung, Plakate und Flugblätter gehörten zu den vielfältigen Formen des Protests. 1992 zeigte die Bürgerinitiative beispielsweise auf einer Infoveranstaltung ein Filminterview mit einem russischen Physiker, der über die Aufräumarbeiten um den Reaktor Tschernobyl berichtet,260 der Film »Atomic-Cafe« wurde vorgeführt und ein Stammtisch eingerichtet.261 Sowohl die Protestformen waren vielfältig als auch die eingesetzten Medien. Die Bürgerinitiative gründete ein Infoblatt mit dem symbolischen Namen »Kuckucksei«, das erstmals im März 1992 in einer Auflage von 15.000 erschien. Die TU nutzte, so jedenfalls die Wahrnehmung der Bürgerinitiative, die »Nachbarschaftszeitung« als »Gegenblatt«.262 Das Regionalfernsehen, das Privatfernsehen, sowie die öffentlich-rechtlichen Anstalten berichteten vom Streit um den FRM II. Die Komplexität der Auseinandersetzung, die Vielzahl der beteiligten Akteure, der Protestformen, der eingesetzten Mittel sowie die Medienaufmerksamkeit wie auch die gezielte Mediennutzung steht in krassem Kontrast zu der Situation der 1950er Jahre, in der – so die immer wieder kolportierte Anekdote – der Garchinger Bürgermeister mit den Herren der TH und der bayersischen Landesregierung im Biergarten verhandelt hatte. Entscheidungsprozesse waren nun öffentliche Prozesse, an denen eine Vielfalt unterschiedlicher Akteure teilzunehmen beanspruchte. Anders als dies beispielsweise in Martinsried im Kontext des Ausbaus des Biotechnologiestandortes der Fall war, stellte der Streit um den FRM II zudem – angesichts der Politisierung der Debatte um die Kernenergie wenig verwunderlich – kein ausschließlich lokales Phänomen dar. Hatten die lokal begrenzten Widerstände gegen den Bau kerntechni260 Vgl. Chronik der Bürgerinitiative; zur Verfügung gestellt von Ingrid Wundrak, S. 14. 261 Vgl. ebd., S. 16. 262 Ebd., S. 14. 126

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scher Anlagen in den 1950er und 1960er Jahren, wie Radkau betont hatte, Aspekte in den Vordergrund gestellt, die keine Besonderheiten der Kerntechnik waren (Erwärmung der Flüsse durch Abwasser, Zerstörung der Agrarlandschaft), so war seit Mitte der 1970er Jahre in den Protestbewegung auf überregionaler Ebene die Kernkraft hinterfragt worden.263 Auch die Garchinger Bürgerinitiative war mit Vertretern der Anti-AKW vernetzt; Garchinger fuhren beispielsweise nach Augsburg, um die »Mox-Gruppe« zu unterstützen, wie umgekehrt die Garchinger Bürgerinitiative Unterstützung von anderen Gruppen erfuhr.264 Der FMR II war zu einem Politikum geworden, das weit über die Gemeindegrenzen Wellen schlug, auf Demonstrationen bundesweit zum Thema gemacht, in zahlreichen Fernsehsendungen, Zeitungsreportagen etc. diskutiert wurde. Prognostizierten die einen dabei dem Forschungsstandort München Weltruhm, sahen die anderen den Weltfrieden gefährdet.265 Strittig war in der bundesweiten und internationalen Diskussion um den Reaktor vor allem dessen Betreibung mit hoch angereichertem Uran (HEU), das atomwaffenfähig ist. Auch die USA kritisierten aus diesem Grund den Bau des Garchinger Reaktors.266 Auf lokaler Ebene wurden nun prinzipielle Fragen zur Radioaktivität vor Ort gestellt, die lange Zeit ungestellt geblieben waren. Beispielsweise verlangten die Grünen Anfang der 1990er Jahre Auskunft darüber, welche Einrichtungen auf dem Gebiet der Gemarkung Garching radioaktive Emission erzeugen und welche genehmigte Menge an Radioaktivität von jeder Einzeleinrichtung abgegeben werden dürfe.267 Während einer außerordentlichen Bürgerversammlung im Juli 1993, initiiert von der Garchinger Bürgerinitiative, erfolgte die Forderung, der Stadtrat möge beschließen, dass die Stadt Garching kontinuierlich die Radioaktivität in der Luft im Stadtgebiet Garching messe. Die Ergebnisse sollten zu jeder Zeit jedem Bürger zugänglich sein.268 Die Frage der Entsorgung radio263 264 265 266

Vgl. J. Radkau: Aufstieg, S. 440. Vgl. Chronik der Bürgerinitiative, S. 17, S. 21, S. 29. Vgl. SZ. 8. Februar 1999, Seite L 3. Vgl. SZ, 13. Januar 1999, S. L2; SZ, 26. Juni 2003, S. 39. Bund und Bayern einigten sich schließlich auf Umrüstung folgender Art: Bayern erklärt sich bereit, bis spätestens zum 31.12. 2010 den Betrieb des FRM II von Brennstoff hoher Anreicherung auf Leu (max. 50% Uran 235) umzurüsten. Bund und Land werden zusammenwirken, um den neuen Brennstoff zu entwickeln und zum Einsatz zu bringen. (Pressemeldung des Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst. Information, 25. Oktober 2001.) Vgl. auch: »Durchbruch zum Stillstand«, in: Die Zeit, 7. November 2002, S. 31f. 267 Vgl. Brief der Grünen, 9. Februar 1992 an den Stadtrat, Anlage zu Top 11 der SRS am 21. Februar 1992. 268 Vgl. SRS, 26. November 1993. 127

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aktiver Abfälle wurde genauso aufgeworfen wie die nach möglichen Flugzeugabstürzen oder die Forderungen nach der Publikation einer »Katastrophenbroschüre« erhoben, die Hinweise auf ein Verhalten im Unglücksfalle geben sollte.269 Man rechnete nun mit Unfällen, schätzte Radioaktivität, Kernenergie und Forschungsreaktoren als Gefahr ein.270 Solche Forderungen und Bedenken zeigen eine neue Selbstverantwortung der Bürger, die jetzt nicht mehr ungefragt der Autorität des Bürgermeisters vertrauen, sondern selbst Zugang zu Informationen verlangen, die selbst prüfen wollen und die die prinzipielle Frage aufwerfen, inwieweit eine solche Einrichtung überhaupt notwendig und sinnvoll ist. Die Bevölkerung reagierte hochsensibilisiert, stellte zahlreiche Fragen, wollte über Risiken informiert werden. Diese Entwicklung spiegelt zum einen den Wandel der Einstellung zur Atomkraft in der Bundesrepublik wider: von der Atomeuphorie über die Proteste und Widerstände durch die AKW-Bewegung bis zur massiven Infragestellung der Atomkraft nach Tschernobyl, der die Grenzen der Beherrschbarkeit schauerlich verdeutlicht hatte. Zum andern zeigt sich ein Wandel der Protestkultur. Autoritäten wie der Bürgermeister oder die Wissenschaftler sind keine unhinterfragbaren Respektpersonen mehr. Die Möglichkeit des Zugangs zu Wissen für Viele erhöhte nicht nur die Möglichkeit des Widerspruchs, sondern verkompliziert aufgrund der Vielzahl der Informationen, der Gutachten und der Uneindeutigkeit des Wissens die Entscheidungsprozesse. Nico Stehr sprach daher von der »Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften«. Anders als die Forschung zu »neuen sozialen Bewegungen«, die vor allem deren antiautoritären, basisdemokratischen und antiinstitutionellen Habitus betonen,271 bettet Stehr diese Entwicklung in den Kontext der »Wissensgesellschaft« ein. Indem er Wissen als Handlungsvermögen definiert,272 sieht er mit der zunehmenden Möglichkeit, Zugang zu Wissen zu erlangen, eine Vervielfältigung der Handlungsoptionen für mehr Akteure: Zu269 Vgl. Chronik der Bürgerinitiative, S. 26. Zur Debatte um Kernkraft vgl. Joachim Radkau: »Die Kernkraft-Kontroverse im Spiegel der Literatur. Phasen und Dimensionen einer neuen Aufklärung«, in: Armin Herrmann/Rolf Schumacher (Hg.), Das Ende des Atomzeitalters? Eine sachlich-kritische Dokumentation, München 1987, S. 306-334. 270 Vgl. SRS, 26. November 1993. So auch Kupper für die 1970er Jahre. Vgl. P. Kupper: Atomenergie. 271 Karl-Werner Brand: »Kontinuität und Diskontinuität in den neuen sozialen Bewegungen«, in: R. Roth/ D. Rucht (Hg.), Neue soziale Bewegungen, S. 30-44 sowie Joachim Raschke: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a. Main 1987, S. 74, zur Charakterisierung vgl. vor allem S. 411ff. 272 Vgl. Nico Stehr: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt 2001. 128

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wachs an Wissen führe zur Steigerung und Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten. »Zu diesen neuen Handlungsbedingungen gehört [...] die wachsende Fähigkeit des Individuums, nein zu sagen.«273 Damit sei, so Stehr, eine Perspektive obsolet, die Wissenschaft und Technik als etwas betrachtet, dem der einzelne ohnmächtig gegenübersteht. Vielmehr liefert die Wissenschaft nun selbst die Möglichkeit des Widerstands gegen Wissenschaft und Technik.274 Stehr sieht damit ein emanzipatorisches Potential von Wissen. Er betont einen »Machtgewinn« von kleineren Gruppen oder sozialen Bewegungen.275 Politische Entscheidungen, vor allem im Kontext von Wissenschaft und Technik, wurden schwieriger durchsetzbar.276 Der Konflikt um die Genehmigung um den FRM II war ein langwieriger Streit, in dem auch ein heftiger Konflikt um Gutachten entbrannte, der die »Demokratisierung der Experten«277 aufzeigt und in der Gemeinde zu außerordentlich heftigen Auseinandersetzungen führte. Von der Stadt Garching selbst in Auftrag gegebene Gutachten waren Anlass, Forderungen nach Nachbesserungen zu stellen, bevor man sich zu einer positiven Standortentscheidung entschließen wollte.278 Der Stadtrat argumentierte dabei ganz auf der Grundlage des Gutachtens, das der TÜV Südwest in Mannheim erstellt hatte und den er als neutralen Gutachter betrachtete. Als die Regierung von Oberbayern dagegen zu dem Ergebnis kam, dass der Bau des neuen Forschungsreaktors bei Beachtung von Maßgaben den Erfordernissen der Raumordnung entspreche, gab die Stadt Garching noch ein weiteres Gutachten in Auftrag.279 Die Vertreter der Bürgerinitiative und die Grünen lehnten dieses Gutachten jedoch als nicht unabhängig ab und wollten die daraus folgenden Entscheidungen nicht akzeptieren. Der Streit um die Einschätzung der Gutachten tobte. Die Vervielfältigung der Expertenmeinung zeigt die enge Verflechtung von Wissenschaft und Politik, die einer der Gründe für das Aufwei273 274 275 276

Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 15. Gleichwohl sind solche im Lokalen verankerten Proteste und Widerstände allerdings keine Neuheit der jüngsten Zeit, wenngleich ihre Zahl in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts massiv anstieg. Sie finden sich jedoch bereits im 19. Jahrhundert; dabei kämpften lokale Protestgruppen häufig für die Bewahrung des Bestehenden. Vgl. F.-J. Brüggemeier: Tschernobyl, S. 193. 277 P. Weingart, Stunde, S. 127-170; Alvin Weinberg: »Science and TransScience«, in: Minerva 10 (1972), S. 209-222 sowie Helga Nowotny: »Experten und Expertise. Zum Verhältnis der Experten zur Öffentlichkeit«, in: Zeitschrift für Wissenschaftsforschung 2 (1982), S. 611-617. 278 Vgl. SRS, 28. Mai 1993. 279 Vgl. Zusammenfassung des SRS, 21.7.1995. 129

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chen der Glaubwürdigkeit und des Respekts vor der Wissenschaft waren. Der Garchinger Stadtrat hatte seine Entscheidungen jeweils an die Aussagen der eingeholten Gutachten gekoppelt und die Entscheidungen damit mit wissenschaftlichen Aussagen zu legitimieren versucht, die, so wiederum die Kritik der Gegner, jedoch nicht unabhängig seien und mit Gegengutachten beantwortet wurden.

Das Bürgerbegehren: »Zeigt denen doch, dass ihr das Ding nicht wollt« Der Gutachtenstreit beendete die Auseinandersetzung um den FRM-II allerdings noch nicht. Die Proteste gipfelten schließlich im Versuch, den Forschungsreaktor mittels eines Bürgerbegehrens zu verhindern. Nach der Einführung des kommunalen Bürgerentscheids in Bayern am 1. November 1995 begann die Bürgerinitiative Bürger gegen den Atomreaktor Garching Unterschriften für zwei Bürgerbegehren zu sammeln. Im Mai 1996 wurden dem Stadtrat Unterschriften mit Antrag auf die Durchführung eines Bürgerentscheides mit dem Thema »Kein neuer Atomreaktor FRM-II« eingereicht. Ziel war es, den Bau des Reaktors zu verhindern.280 Der Stadtrat lehnte jedoch beide Begehren ab, worauf die Bürgerinitiative auf die Zulassung des Bürgerbegehrens klagte. Und tatsächlich wurde die Stadt Garching verpflichtet, das Bürgerbegehren zuzulassen. Bürgerbegehren 1 zielte darauf, die Stadt Garching zu verpflichten, im Falle einer Baugenehmigung für den Reaktor, Klage zu erheben und sich mit allen rechtlichen Mitteln gegen das Projekt zu wehren, während es in Bürgerbegehren 2 vor allem um den Erhalt des Auwaldes ging. Die Bürgerbegehren waren allerdings prinzipiell zu spät erfolgt. Da zum Zeitpunkt des Bürgerbegehrens am 7. März 1999 bereits zwei Teilgenehmigungen errichtet worden waren, war es rechtlich nicht mehr möglich, den FRM II zu verhindern. Denn Anfang April 1996 hatte das Bayerische Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen die erste Teilerrichtungsgenehmigung erteilt, der Bau des Reaktors wurde im August 1996 begonnen.281 Bestandteil der ersten Teilgenehmigung war die Einrichtung der Baustelle und der Beginn des Rohbaus. Die erste Teilgenehmigung implizierte vor allem ein »vorläufig positives Gesamturteil«282. Die zweite Teilgenehmigung, die das Bayerische Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen am 9. Ok280 Vgl. SRS, 29. Mai 1996. 281 Vgl. SZ, 11. Januar 1999, Seite L6. Vgl. auch: Pressemitteilung, FRMII, 6. September 2001. 282 Pressemitteilung, FRMII, 6. Septmber 2001. 130

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tober 1997 erlassen hatte, schloss die restlichen Gebäude und die gesamte schlüsselfertige Forschungsanlage inklusive der Grundausstattung an Experimentiereinrichtungen ein.283 Den Initiatoren der Bürgerbewegung war durchaus bewusst, dass der FRM II nach der 2. Teilgenehmigung nicht mehr zu verhindern war; gleichwohl ging es, so Ingrid Wundrak, um eine Signalwirkung. »Zeigt denen doch, daß ihr das Ding nicht wollt«,284 lautete die Parole. Das taten schließlich knapp über 50 Prozent derjenigen, die am Bürgerbegehren teilnahmen. Mit knapper Mehrheit sprachen sich die Garchinger Bürger gegen den geplanten FRM II aus. Bei einer Wahlbeteiligung von 42,27% votierten 50,54% der Abstimmenden dafür, dass »alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollen, um die dritte Teilgenehmigung zu verhindern« (Bürgerbegehren 1). Der Abstand zwischen Gegnern und Befürwortern war allerdings mit 45 Stimmen denkbar knapp. Im Hinblick auf Bürgerbegehren 2 plädierten 51,23% für einen Bebauungsplan, in dem detailliert festzuhalten sei, welche Projekte auf dem TU-Campus noch gebaut werden sollen. In den Reaktionen auf dieses Ergebnis wurde, sowohl von Bürgermeister Karl als auch von TU-Präsident Herrmann, betont, dass die dritte Teilgenehmigung nicht durch die Stadt anfechtbar sei, der Entscheid somit wenig Bedeutung habe;285 er sei »ohne Belang«, es handle sich um einen »Schönheitsfehler«.286 Allerdings folgte aus dem Bürgerbegehren 2 die Verpflichtung zur Erstellung eines Bebauungsplanes für das »Sondergebiet Wissenschaft«.287 Vor allem aber verdeutlichte der Widerstand, der in dieser Abstimmung gipfelte, die Notwendigkeit eines intensiveren Dialogs zwischen Wissenschaft und lokaler Öffentlichkeit. Zwar betonten Teile der Garchinger Bevölkerung nach wie vor, was die Stadt der Wissenschaft zu verdanken habe, – so wurde Bürgermeister Karl in der Süddeutschen zitiert: »Was wäre Garching ohne die TU? [...] Dann gäbe es hier doch nicht einmal geteerte Straßen«288 –, jedoch war unübersehbar, dass damit ein ablehnendes Signal seitens der Bevölkerung gesetzt worden war. Im Juni 2003 folgten weitere Privatklagen von Anwohnern, die

283 284 285 286

Vgl. ebd. sowie SRS, 21. November 1997. Interview mit Ingrid Wundrak am 31.1.02 in Garching. Vgl. SZ, 8. März 1999, S. L1 Pressemitteilung FRM II, 7. März 1999; Pressemitteilung FRMII: Bilanz 1999, 28.12.1999. 287 Ebd. 288 SZ, 4. März 1999, S. L1. 131

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jedoch den Reaktor genauso wenig verhindert konnten wie das Bürgerbegehren einige Jahre zuvor.289 Der vor allem von Bürgermeister, Stadtrat und Stadtverwaltung über Jahrzehnte hinweg geschaffene symbolische Raum war von Bürgern torpediert worden, die weder die Kernphysik noch die Wissenschaft allgemein als »Geschenk Gottes«, als Garant für Aufschwung und Fortschritt sahen, sondern – vor allem den FRM II – als nicht notwendige und unerwünschte Gefahr, die es zu verhindern galt. Die Wissenschaft konnte ihr Umfeld nicht mehr länger als Raum im Sinne eines Containers betrachten, in dem sie relativ autonom ihre Forschungen betrieb. Garchinger Bürger hatten diese Autonomie in Frage gestellt und klar gemacht, dass sich Stadt und Wissenschaft einen Raum teilen. Die scharfen Grenzen zwischen Wissenschaftsareal und Gemeinde waren eingerissen, eine neue Form des Dialogs notwendig geworden. So beobachtete der langjährige Bürgermeister Karl in jüngster Zeit eine »gegenseitige Zuwendung« zwischen Stadt und Wissenschaft.290 Inzwischen bestehen erste Anregungen für einen Stammtisch, für informelle Treffen zwischen Wissenschaftlern, Garchinger Politikern und Bürgern. Infolge des Bürgerbegehrens, das einen Bebauungsplan einforderte, erfolgte ein Strukturwettbewerb, der unter anderem das Zusammenwachsen der Hochschule und der Stadt fördern soll, wie oben bereits geschildert. Vor allem wurden im Jahr 2003 ein »Arbeitskreis Stadtentwicklungsprozess« eingerichtet, in dem Garchinger Bürger, Vertreter von Interessensgruppen, Stadtverwaltung und Stadtrat gemeinsam mit zwei Planungsbüros ein Leitbild erarbeiten.291 Trotz alledem: Anfang März 2004 produzierte der FRM II die ersten Neutronen. Damit sei, so TU-Präsident Wolfgang Herrmann, die »Inbetriebsetzung der weltweit modernsten Neutronenquelle« in das entscheidende Stadium getreten.292 Dem war eine fast 50jährige Geschichte des Forschungsareals vorausgegangen, die es im Folgenden zu schildern gilt.

289 Vgl. SZ, 26. Juni 2003, S. 39. 290 Interview mit dem langjährigen Bürgermeister Helmut Karl, 31.1.02 in Garching. 291 Vgl. Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03. 2005, S. 8. Die ersten Sitzungen des Arbeitskreises waren dabei »offen für alle interessierten Bürger«. Schließlich wurde in einer Bürgerversammlung das erarbeitete Leitbild vorgestellt. Der Bericht bezeichnete die »Diskussionskultur« im Arbeitskreis als »ausnehmend hoch«. (S. 11) 292 SZ, 4. März 2000, S. 43. 132

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4.6. Transformationen des Forschungsstandortes 4.6.1. Das Wissenschaftsareal in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg: Ort der Grundlagenforschung Mit der Entstehung des Wissenschaftsareals hatten wissenschaftliche Institute nicht nur der Stadt München den Rücken gekehrt. Zudem entwickelte sich das Forschungsareal in einiger Entfernung von Garching. Es befindet sich inmitten von Feldern und Wiesen. Man wählte die Trennung, die Separierung, die Abkehr von der Stadt. Die Stadt als Kontext der Wissenschaft spielte in den 1950er und 1960er Jahren keine Rolle. Ganz im Gegenteil entsprach der Bau des Forschungsareals dem Bild des von der Gesellschaft separierten, in klösterlicher Abgeschiedenheit forschenden Wissenschaftlers. Diese räumliche Separierung des Forschungsgeländes entsprach sowohl den stadtplanerischen Konzepten der Funktionstrennung, die die Entwicklung Garchings bestimmt hatten, als auch, wie im folgenden argumentiert werden soll, den zeitgenössischen Konzepten des Modus der Wissenserzeugung, der gleichfalls durch ein Denken in Trennungen und Dichotomien gekennzeichnet war: Wissenschaft und Industrie, Wissenschaft und Technik wurden als getrennte Pole gedacht. Jedenfalls stellte dieses dichotome Denken in den 1950er und 1960er Jahren ein sehr wirksames Konstrukt dar. Zwar ignorierte es die seit Ende des 19. Jahrhunderts gleichzeitig bestehenden Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Technik; gleichwohl determinierte es die Entwicklung des Garchinger Forschungsareals in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich. Abbildung 13: Luftbild Garching

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Abbildung 14: Karte Garching

Die Vorstellung einer Trennung von Wissenschaft und Technik, von Wissenschaft und Industrie, die Vorstellung, es handle sich um zwei von einander separierte und autonome Sphären, war eine wirkungsmächtige Denk-, Sprech- und Handlungsweise. Wissenschaft und Technik wurden mit einer Fülle dichotomer Abgrenzung assoziiert.293 Diese wurden dabei als unvereinbare Gegensätze gedacht und gingen zugleich mit Asymmetrien, mit einer Hierarchie einher: Theorie versus Praxis, Wahrheit versus Nützlichkeit, Erkenntnis versus Produkt, Wissenschaft versus Technik oder versus Industrie, Grundlagenforschung versus Anwendung, Wissensproduktion um der Erkenntnis willen versus Wissensproduktion um der Verwertung willen,294 öffentlich versus privat, autonome Bestimmung der Forschungsziele durch die Wissenschaft versus einer Bestimmung der angewandten Forschung durch die Ziele der Wirtschaft und Politik.295 Diese Unterscheidungen zwischen »reiner« und »angewandter« Wissenschaft seien allerdings, so Geoffry Bowker, eine historische Erfindung, »die mit der Gründung der wissenschaftlichen Disziplin im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts verknüpft ist.« Die Wissenschaftler selbst hätten die Unterscheidung nicht immer beachtet; heute jedenfalls verlöre sie immer mehr an Gültigkeit.296 Vor allem im Kon293 Vgl. Donald E. Stokes: Pasteur's Quadrant. Basic Science and Technological Innovation, Washington 1997, S. 7ff. 294 Vgl. W. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 155. 295 Vgl. P. Weingart: Stunde, S. 192. 296 Geoffrey Bowker: »Der Aufschwung der Industrieforschung«, in: Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt 2000, zweite Auflage, S. 829-867, hier S. 851. 134

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text der Schlüsseltechnologien ist die Rede davon, eine Grenze zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung könne von vornherein nicht scharf gezogen werden.297 Vielfach wird die Verwendung des Begriffs »Grundlagenforschung« der »Ideologie« bezichtigt, die darauf abziele, das Konstrukt einer autonomen Wissenschaft aufrecht zu erhalten. Grundlagenforschung war lange Zeit – und ist es bis heute in einem Allgemeinverständnis häufig noch immer – mit einem Bild des Forschers verbunden, der um der reinen Erkenntnis willen forscht, sich um ein tiefes Verstehen wissenschaftlicher Phänomene bemüht, ohne dabei nach dem Nutzen, der Anwendung zu fragen und der sich nicht mit konkreten ökonomischen, medizinischen Erfolgen oder Produkten legitimieren muss. Vielmehr erfährt er für seine Arbeit den Respekt und die Achtung der Gesellschaft. Ein solches Bild, das einem Humboldtschen Ideal von Wissenschaft entspräche, scheint jedoch im 20. Jahrhundert eher ein Mythos darzustellen, auch wenn es immer wieder reproduziert wurde.298 Im Kontext der Naturwissenschaften beschreibt es jedenfalls kaum die Realität der naturwissenschaftlichen Forschungen der 1950er und 1960er Jahre. Auch wenn diese stark grundlagenorientiert waren, so forschten Wissenschaftler doch nicht um der Forschung selbst willen, sondern erwarteten langfristig Anwendungen und »Fortschritte«, die der Menschheit zugute kommen würden. Üblicherweise wird daher, sobald die Wissenschaftspolitik und das Verhältnis Wissenschaft und Technik bzw. Wissenschaft und Industrie der ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick geraten, auf Vannevar Bushs »lineares Modell« verwiesen, nach dem aus der Grundlagenförderung technische Innovationen und ökonomische Prosperität resultieren.299 Zudem war im Hinblick auf Wissenschaftsorte, in denen sich Max-Planck-Institute ballen, wie eben Garching oder auch Martinsried, von einem neuen »Dahlem« 297 Vgl. P. Weingart: Stunde, S. 199f. 298 Die Autoren eines von Mitchell Ash herausgegebenen Sammelbandes kommen zu der Einschätzung, dass nicht erst mit der Entstehung der Massenuniversität in den 1960er Jahren Humboldts Ideen verabschiedet wurden. Vielmehr hatten sich »spätestens schon um die Jahrhundertwende [...] das Humboldt zugeschriebene Universitätsideal und die institutionelle Wirklichkeit an deutschen Universitäten sehr weit auseinanderentwickelt.« Vgl. Mitchell G. Ash: »Mythos Humboldt gestern und heute«, in: ders. (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten. Wien 1999 (original 1997 in eng.), S. 7-25. hier S. 10. Vgl. vor allem auch Sylvia Paletschek: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001. 299 Vgl. Vannevar Bush: Science. The endless Frontier. Report to the President on a Program for Postwar Scientific Research, Washington 1945. 135

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die Rede. Unbestritten stellte das Anknüpfen an Dahlem einen wesentlichen Faktor für die Ballung wissenschaftlicher Institute dar; im Kontext von Martinsried wurde der Vergleich gar explizit gezogen. Trotz der offensichtlichen Bemühungen einer Kontinuitätsstiftung mit der Referenz auf Dahlem seitens der Max-Planck-Institute und der unbestrittenen Wirkungsmächtigkeit Vannevar Bushs Vision soll im Folgenden jedoch ein anderes historisches Modell als Beschreibungskategorie für den Wissenschaftsort Garching dienen, und zwar Bacons Nova Atlantis.

Bacons »Haus Salomon« – eine Beschreibung des Garchinger Wissenschaftsareals In Bacons Utopie eines idealen Staates, die er in seiner Schrift Nova Atlantis entwarf, stellt das Haus Salomon, das allein dem Zweck der Wissenschaft dient, die zentrale Institution dar. Dort verfolgten die Wissenschaftler Studien mannigfacher Art, die von der Meteorologie, der Anatomie über Pflanzenzucht, über optische Versuche bis hin zur Medizin reichten. Dem Haus Salomon kommt in der von Bacon gezeichneten utopischen Gesellschaftsordnung eine zentrale Bedeutung zu, es nimmt in der Gesellschaft eine besondere Rolle in. Die Wissenschaftler leben getrennt von der Gesellschaft; vor allem die »Väter« der Hauses Salomon lassen sich selten in der Stadt sehen. Die Forschung im Haus Salomon war arbeitsteilig organisiert, an langfristigen Projekten orientiert, die über ein Menschenleben hinausgehen konnten.300 Zudem ist das Haus Salomon vom »Staat« eingerichtet worden, »mit dem Auftrag große und wunderbare Werke zum Wohle der Menschheit zu vollbringen«301. Den Weg, diese wunderbaren Werke zu vollbringen, stellten die Kenntnis und das tiefe Verständnis der Natur dar. Die Forschungen dienen der Vermehrung des Wissens, der Erkenntnis der Natur. Wie Lothar Schäfer betonte, wurzelt nach dieser Vorstellung die Macht des Menschen »im angemessenen Wissen von den Naturprozessen, von den ursächlichen Wirkfaktoren. Deshalb muß man zuerst die Wirkmechanismen der Natur erfassen«.302 Dabei steht Bacons Haus Salomon zweifellos für die Nützlichkeit der Wissenschaften: »Nicht nur Erkenntnisdrang, das Wesen der Natur und der Welt aufzuhellen, stand hinter dieser Methode, sondern auch ihre nutzbringende Anwendung. 300 Vgl. Ulrike Felt/Helga Nowotny/Klaus Taschwer: Wissenschaftsforschung. Eine Einführung, Frankfurt, New York 1995, S. 35. 301 R. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 135. 302 Lothar Schäfer: Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur, Frankfurt am Main 1999, S. 103. 136

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[...] Sie stellte gleichzeitig in Aussicht, die Natur zu verändern, sie dem Menschen untertan zu machen.«303

Wesentlich ist dabei die Einheit von Wahrheit und Nutzen. Bacon verfolgte – entgegen mancher Lesart – kein strikt utilitaristisches Modell, vielmehr betont er die Notwendigkeit, die Gesetze und Kausalitäten der Natur zu kennen, um sie zum Wohl der Menschheit anzuwenden.304 Die Wirkungsmächtigkeit des Baconschen Ideals der Wissenschaft – von Rolf Kreibich als »Wissenschafts-Technologie-Paradigma« bezeichnet – bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ist vielfach betont worden. Die Interpretation des Baconschen Werkes wandelte sich allerdings über die Jahrhunderte. Während beispielsweise das 18. und 19. Jahrhundert vor allem mit Bacon als Gründer der modernen Wissenschaft und mit seiner induktiven Methode beschäftigt war, erhielt im 20. Jahrhundert, nicht zufällig, Bacons Idee der untrennbaren Verbindung von wissenschaftlichem, technischen und gesellschaftlichem Fortschritt, mithin das Konzept der Wissenschaft als entscheidende Quelle für jedwede Art von Fortschritt neue Priorität.305 Paul Josephson zeigte die Wirkungsmächtigkeit der Baconschen Vorstellung für die Gründung der sowjetischen Wissenschaftsstadt Akademgorodok,306 und Ernst Bloch sprach in diesem Sinne von der Technischen Hochschule als einem Haus Salomon.307 Die Weiterschreibung dieses grundsätzlichen Gedankens findet sich schließlich in Vannevar Bushs so genanntem linearen Modell. Wenn im Folgenden Garching mit Bacons Haus Salomon verglichen wird, so geht es natürlich nicht darum, zu behaupten, die Bayerische Staatsregierung, die TH/TU oder lokale Politiker hätten in bewusster Referenz unmittelbar an Bacon, ein Haus Salomon zu gründen versucht. Vielmehr dient der Vergleich als analytisches Werkzeug, als Beschreibungsform, um zu einem Verständnis der dem Wissenschaftsort Garching zugrunde liegenden Vorstellungen der Rolle der Wissenschaft, ihrer gesellschaftlichen Aufgaben und ihrer Organisation in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg zu gelangen.

303 R. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 158. 304 Vgl. Gerd Irrlitz: »Einleitung«, in: Francis Bacon, Ausgewählte Essays, Leipzig 1969. S. 23. 305 Vgl. Wolfgang Krohn: Francis Bacon, München 1987. 306 Vgl. P. Josephson: New Atlantis. 307 Vgl. Ernst Bloch: Christliche Philosophie des Mittelalters, Philosophie der Renaissance. Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, Band 2, Frankfurt 1985. S. 207. 137

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Räumliche Separierung Ausgesprochen symbolträchtig befand sich das Forschungsareal nicht nur vor den Toren Münchens, sondern, wie schon erwähnt, in einiger Entfernung von Garching. Der Standort in der Nähe eines Dorfes bot keinerlei Voraussetzungen für wissenschaftliches Arbeiten, außer der verfügbaren Fläche. Straßen, Kanalisation oder sonstige Infrastrukturen bestanden nicht, geschweige denn eine stimulierende Atmosphäre. Das Forschungsareal wurde in den 1950er und 1960er Jahren als monofunktionaler Standort konzipiert, in dem nur wissenschaftliche Institute, bis in die 1980er Jahre hinein vor allem grundlagenorientierte Institute der TH/TU sowie der MPG wie beispielsweise das MPI für Plasmaphysik, das MPI für Astrophysik oder für extraterrestrische Physik, platziert waren. Die wissenschaftliche Arbeit war von lebensweltlichen Kontexten getrennt. Die Institute waren zudem nach dem Modell der aufgelockerten, gegliederten und durchgrünten Stadt jeweils in einigem Abstand geometrisch nebeneinander angeordnet.308 Weder Geschäfte, Büchereien, Restaurants oder Cafes, weder Wohnungen oder Freizeiteinrichtungen noch anwendungsorientierte Institute oder Unternehmen wurden geplant. Wissenschaftler konnten hier – ungestört von weltlichen Dingen, ohne Ablenkung durch den Alltag – ihre Grundlagenforschung verfolgen. Die räumliche Separierung spiegelt die Trennung der Wissenschaft vom Leben, der Welt, vom Alltag und auch von der Technik, von ihrer Anwendung wider. Separiert, mit Wissenschaft befasst und mit einer besonderen Aufgabe betraut, arbeiteten Wissenschaftler an ihren grundlagenorientierten Forschungen. Darin manifestiert sich vor allem der Anspruch auf eine Autonomie der Wissenschaft, ihr Anspruch, selbständig über Forschungsfragen und -richtungen entscheiden zu können – wie dies auch im Haus Salomon den dortigen Wissenschaftlern garantiert war. Diese sollten, so Bacons Modell, unabhängig vom Alltag und von direkten politischen und ökonomischen Zwängen ihre Forschungen verfolgen. Entsprechend war ihre Kommunikation, ihr Austausch mit der Stadt und deren Bewohner selten. Entsprachen diese Topographie vor der Stadt sowie die räumliche Organisation des Standortes selbst einerseits der städtebaulichen Maxime der Funktionstrennung, so repräsentierte sie also zugleich Vorstellungen von 308 Zur aufgelockerten und gegliederten Stadt vgl. Johannes Göderitz/Roland Rainer/Hubert Hoffmann: Die gegliederte und aufgelockerte Stadt, Tübingen 1957. Zu den ebenfalls in den 1950er Jahren kursierenden Konzepten der »organischen Stadt« (Reichow) sowie der »Raumstadt« (Schwagenscheidt) vgl. Dietmar Reinborn: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Köln 1996, S. 180ff. Das Buch von Göderitz war schon zwei Jahrzehnte vorher konzipiert worden. Vgl. dazu A. Schildt, Moderne Zeiten, S. 331. 138

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Wissenschaft und Technik bzw. von Wissenschaft und Gesellschaft als separierte Sphären und waren baulicher Ausdruck dichotomer Denkweisen. Diese räumliche Anordnung repräsentiert mithin eine bestimmte Zeit, ein spezifisches Konzept, das den Wissenschaften eine Sonderstellung in bzw. gar außerhalb der Gesellschaft einräumte. Die Idee vom Forscher in »Einsamkeit und Freiheit« wurde bis in die 1970er Jahre immer wieder reproduziert, während sie heute der Betonung der Verflechtung und Verschränkung von Wissenschaft mit gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen gewichen ist. Nicht zuletzt mit der Bedeutung von Schlüsseltechnologien im 20. Jahrhundert sind Vorstellungen von Wissenschaft als von der Gesellschaft abgetrennter Raum obsolet, Wissenschaften werden vielmehr als »Produktionsfaktoren« bezeichnet, als Faktoren, die unmittelbar zu wirtschaftlicher Prosperität beitragen sollen. Abbildung 15: Forschungsareal Garching in den 1960er Jahren

Gerade die Abkehr von der Stadt kann dagegen als Bild für die Absonderung und die Sonderrolle der Wissenschaft von der Gesellschaft, von Politik und Ökonomie gelesen werden – ohne dass dies empirisch betrachtet allerdings der Realität entsprochen hätte. Denn diese strikten Trennungen waren schon seit dem Kaiserreich obsolet,309 auch wenn in 309 Dies wurde in der Forschung mittlerweile vielfach betont. Vgl. dazu beispielsweise: Margit Szöllösi-Janze: »Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik«, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), 139

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den 1950er und 1960er Jahren das dichotome Bild der Trennung von Wissenschaft und Technik, von Wissenschaft und Gesellschaft wirkungsmächtig war. In Garching knüpfte man gerade an dieses Konzept dichotomer Sphären an, mithin an ein Konzept, das die Anwendungen von der Grundlagenforschung zu trennen beanspruchte. Die entsprechenden diskursiven und rhetorischen Strategien, vor allem der »Gründungsmythos der MPG«, der die Tradition der anwendungsfernen Grundlagenforschung betonte und damit auch von den Involvierungen während des Nationalsozialismus ablenkte, korrespondierte mit der räumlichen Abgeschiedenheit des Standortes, die dies gewissermaßen baulich »vor Augen führte«.310 Dieses Narrativ vom ungestörten, und vor allem vom unpolitischen Grundlagenforscher wurde immer wieder bemüht, nicht zuletzt nach der Zeit des Nationalsozialismus, in der die Wissenschaften gerade nicht diese Rolle eingenommen hatten.311 Das Bild des Forschers der sich kontemplativ, in »Einsamkeit und Freiheit« der Erkenntnisgewinnung widmet und »in bewußter Distanz zum Geist der Industrie und Technik« tätig ist, stellte eine immer wieder, und vor allem in den 1950er und 1960er Jahren perpetuierte Grundlage des Wissenschaftssystems dar.312 Diese räumlichen und sozialen Trennung ging mit der Orientierung der wissenschaftlichen Institute an der Grundlagenforschung einher, Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 60-74, U. Felt/ H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung, S. 185ff., G. Ritter: Großforschung, Margit Szöllösi-Janze/Helmuth Trischler (Hg.), Großforschung in Deutschland, Frankfurt, New York 1990, M. Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft, Ulrich Wengenroth: »Der aufhaltsame Weg von der klassischen zur reflexiven Moderne in der Technik«, in: Thomas Hänseroth (Hg.), Technik und Wissenschaft als produktive Kräfte in der Geschichte (Rolf Sonnemann zum 70. Geburtstag), Dresden 1998, S. 129-140. 310 Hohn/Schimank kamen zu der Einschätzung, dass sich die MPG erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Organisation der Grundlagenforschung entwickelt hätte. Vgl. Hans-Willy Hohn/Uwe Schimank: Konflikte und Gleichgewichte im Forschungssystem. Akteurkonstellation und Entwicklungspfade in der staatliche finanzierten außeruniversitären Forschung, Frankfurt a. Main 1990, S. 83, S. 93. 311 Vgl. Michael Schüring, »Ein Dilemma der Kontinuität. Das Selbstverständnis der MPG und der Umgang mit den Emigranten in den 1950er Jahren«, in: R. vom Bruch/B. Kaderas (Hg.), Wissenschaften, S. 453-463; vgl. auch Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002. 312 Vgl. R. Kreibich, Wissenschaftsgesellschaft, S. 325. 140

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während die Verwertung der Erkenntnisse, ihre unmittelbare technische Anwendung tendenziell einer anderen Sphäre – der der Technik, der Ingenieure, der Wirtschaft – zugeordnet wurde, die auf dem Garchinger Forschungsareal nicht zu finden war. Dies entsprach der Rolle, die der Wissenschaft in den ersten beiden Dekaden der Bundesrepublik häufig zugeschrieben wurde,313 und die sich wiederum metaphorisch mit der Rolle der Forscher in Bacons Nova Atlantis beschreiben lässt.

Rolle und Aufgaben der Wissenschaften in der Gesellschaft Als einer der »Väter« des Hauses Salomon nach zwölf Jahren wieder die Stadt besuchte, erhielt er feierlich Einzug. Er wandelte in einem Zug, der einer Prozession glich, durch die Stadt; die »städtischen Behörden« und bestimmte Bruderschaften folgten ihm. Dies verweist auf die leitende Rolle, die Wissenschaftlern in der Gesellschaft zugeschrieben wurde. Sie beanspruchte die Politik und Gesellschaft anzuführen, der Menschheit zu dienen und große und wunderbare Werke »zum Nutzen der Menschheit« hervorzubringen.314 Wissenschaft wurde als Quelle des Wohlstands gedacht und den Wissenschaftlern eine führende Rolle zugebilligt. Sie nehmen in dieser Logik eine leitende Position in der Gesellschaft ein. Wie Daniel Bell metaphorisch zusammenfasste, ist in Bacon’s »Nova Atlantis« nicht der Philosoph der König, wie es bei Platon der Fall war, sondern der Wissenschaftler.315 Auch in Garching zeigte sich eine enorme Achtung vor den Wissenschaftlern. Die Ehrungen der Wissenschaftler durch die Gemeinde, sei es in Form von Namensgebung von Straßen oder Schulen, sei es durch Verdienstmedaillen etc., verweisen auf den Respekt, die Ehrfurcht, die man ihnen entgegenbrachte. Betrachtet man nun exemplarisch Werner Heisenbergs Vorstellungen im Kontext der Debatte um das Kernforschungszentrum, trifft man auf das Bild der die Gesellschaft anführenden Wissenschaft, die diesen Respekt verdient. Auch wenn die frühen Debatten um das Kernforschungszentrum auf die Verflechtungen von Wissenschaft, Technik und Politik hinweisen, so wurde der Wissenschaft hierin jedoch eine besondere Rolle zugewiesen. Keineswegs sollte sie direkt und unmittelbar für die technische und kommerzielle Verwertung zuständig sein, vielmehr sollte sie dieser aus ihrer privilegierten Stellung heraus den Weg weisen. 313 Dies stellt allerdings, wie bereits erwähnt, nur einen Strang der Entwicklung dar, denn das Bild einer autonomen Wissenschaft, der »reinen« Grundlagenforschung war gleichzeitig von vielfältigen Verflechtungen von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik begleitet. 314 Vgl. Francis Bacon: Neu-Atlantis, Stuttgart 2001, S. 3. 315 Vgl. D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, S. 54. 141

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So wollte, um beim Beispiel Heisenberg zu bleiben, dieser zwar die Reaktorentwicklung innerhalb der MPG, genauer am Institut für Physik, das zu diesem Zweck von Göttingen nach München umziehen sollte, ansiedeln316 und stellte sich dabei eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Institut und einem neu zu gründenden Zentrum für Atomtechnik vor.317 Das geplante Kernforschungszentrum sollte jedoch dazu dienen dass »die Physiker und die Ingenieure, allgemeiner die deutsche Industrie, die technischen Probleme des neuen Gebietes kennenlernen konnten«.318 Die Aufgabe der Wissenschaft sei selbstverständlich die Grundlagenforschung. Die Industrie sollte dagegen erst beim Bau herangezogen werden, so die Vorstellung Heisenbergs, der mithin Wissenschaft und Technik als getrennte Sphären dachte und dabei offensichtliche Hierarchien setzte.319 Wie Radkau schrieb, war allerdings mit der Entscheidung, die Reaktorentwicklung nach Karlsruhe zu verlegen, »(d)er Wunschtraum, dass an der Spitze der Atomforschung eine Elite von Gelehrten stehen sollte, [...] zerstört.«320 Viele der damaligen Wissenschaftler dachten entsprechend dem Baconschen Ideal, dass die Wissenschaft die Grundlage jeglichen Fortschritts sei und daher an der Spitze der Gesellschaft stehe und eine Sonderrolle einnehme. Die Wirkmächtigkeit des Baconschen Denkens zeigt sich beispielsweise in Heisenbergs Sprache, in seinen Äußerungen zur Rolle der Wissenschaft. Nachdem er Vorstellungen zitierte, die behaupten, es gäbe wichtigere Aufgaben sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art als den Fortschritt der Naturwissenschaft, schreibt er: »Aber wer so denkt, verkennt dabei, dass in der heutigen Welt das Leben der Menschen weitgehend auf dieser Entwicklung der Wissenschaft beruht.«321 Seine Rolle als Wissenschaftspolitiker beschreibend, argumentiert er: »Es war ja leicht zu erkennen, dass die aus dem wissenschaftlichen Fortschritt entstehende Technik eine außerordentlich wichtige Rolle, nicht nur beim materiellen Aufbau der Städte und der Industrie, sondern darüber hinaus auch in der ganzen sozialen Struktur unseres Landes und Europas spielen würde«.322

316 Vgl. J. Radkau: Aufstieg, S. 48. 317 Vgl. Werner Heisenberg: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München, Zürich 1996. S. 257. 318 Ebd, S. 256. 319 Vgl. G. Ritter: Großforschung, S. 64. 320 J. Radkau: Aufstieg, S. 44f. 321 Vgl. W. Heisenberg: Teil, S. 228. 322 Ebd., S. 238. 142

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Mit diesem Bild der vorangehenden Wissenschaft, der Wissenschaft als Quelle des Fortschritts, korrespondierte die Erwartung an eine Autonomie der Wissenschaft sowie der »Pflege der Grundlagenforschung«.323 Der Vorrang der Grundlagenforschung in Garching erklärt sich zudem auch daraus, so Susan Boenke, dass die meisten der in der Frühphase maßgeblichen Wissenschaftler aus der theoretischen Physik kamen, was ein spezifisches Wissenschaftsverständnis förderte. Allerdings meinte dies nicht, dass man den Anspruch hatte, im Humboldtschen Sinne um seiner selbst willen zu forschen, fern jeglicher Anwendung. Naturwissenschaftler unterschieden sich von der humanistisch-idealistischen Tradition, insofern der Nutzen, der aus dieser Forschung resultieren würde, betont wurde. Auch Heisenberg unterstrich bei der Gründung des Instituts für Plasmaphysik (1960), dass es sich mit thermonuklearen Fusionsprozessen beschäftigen werde, um die Grundlage für eine »größere technische Entwicklung auf diesem Gebiet [...] zu schaffen.«324 Wahrheit und Nützlichkeit sind hier ganz im Baconsche Sinne eins, indem aus der Beschäftigung mit Erkenntnis, aus dem tiefen Verständnis der Grundlagen die »Keimzelle« für die Anwendung gelegt wird, ohne dass die Anwendung unmittelbar voraussehbar oder in kürzester Zeit zu erwarten wäre. Mag dies auch Legitimationsrhetorik gewesen sein, so hatte sie einerseits, falls es sich um eine solche handelte, den Zweck, die ungestörte Forschung zu sichern; andererseits führten solche Versprechungen und Erwartungen, die von Wissenschaftlern in den Nachkriegsdekaden gemacht und geweckt wurden, dazu, wie vor allem Chadarevian für die Molekularbiologie zeigte, dass angesichts knapper werdender öffentlicher Kassen, die versprochenen »Produkte« schließlich auch eingefordert wurden. Nicht zuletzt die lokalen Politiker sowie die Landespolitiker hatten den Forschungsreaktor und den Ausbau des Forschungsareals auch aufgrund der Annahme, aus der Wissenschaftsansiedlung resultiere ökonomische Prosperität, euphorisch begrüßt. Die Erwartungen, die Etablierung von Forschungseinrichtungen ziehe Industrie nach sich, hatte das Handeln mitbestimmt. Damit stand die Kommune keineswegs allein, da

323 Heisenberg, zitiert nach: W. Müller: Kernenergie, S. 73. Zu Bemühungen in den frühen 1950er Jahren, die Bedeutung der Grundlagenforschung für die Wirtschaft zu betonen, siehe auch B. Rusinek: Forschungszentrum, S. 50f. sowie Soyara de Chadarevian: Designs for Life. Molecular Biology after World War II, Cambridge 2002. Heisenberg wie Maier-Leibnitz waren in erster Linie an Grundlagenforschung interessiert. Dazu auch: M. Eckert/M. Osietzki: Wissenschaft, S. 87f. 324 Zitiert nach S. Boenke: Entstehung, S. 101. 143

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der Diskurs um die Kernenergie mit dem permanenten Verweis auf Arbeitsplätze und ökonomisches Wachstum einherging. Vom Bau des Reaktors erhoffte man sich, so die Rhetorik, »erhebliche Auswirkungen auf das bayerische Wirtschaftspotential«325, die Nutzung der Kernenergie für friedliche Zwecke sollte, so die Hoffnung, der Bundesrepublik ein Fortdauern des »Wirtschaftswunders« sichern.326 Dass es sich beim Garchinger »Atom-Ei« um einen Forschungsreaktor handelte, von dem keine Arbeitsplätze zu erwarten waren und auch kein Wirtschaftswachstum für den Ort oder die Region, stellten die Garchinger jedoch bald fest.327 Die Erwartung, die grundlagenorientierte Forschung sei gleichsam automatisch der Urquell wissenschaftlicher Prosperität erwies sich generell als Illusion. Diese Einsicht führte in den 1970er Jahren zu Bemühungen, das klösterliche, elfenbeinturmartige Forschungsareal in ein »kreatives Milieu« zu transformieren.

4.6.2. Die »Verwertungsstelle«: die 1960er und 1970er Jahre – Wandlungsprozesse Die 1960er und 1970er Jahre stellen im Hinblick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Industrie, von Wissenschaft und Wirtschaft den Beginn eines nachhaltigen Wandels dar. Die Orientierung an der Grundlagenforschung, die auf eher abstraktem Niveau versprach, ökonomische, technologische Innovationen hervorzubringen, geriet zunehmend unter Legitimationsdruck. Wie es in den Mitteilungen der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften formuliert wurde, sehe sich die Grundlagenforschung zuweilen »genötigt, auf [...] spektakuläre Fortschritte zu verweisen, um ihre Existenzberechtigung gegenüber engem ökonomischen Ertragsdenken zu behaupten«.328 Die Spannung zwischen Baconschen Wissenschaftsverständnis, das Geduld und blindes Vertrauen in Wissenschaft und die aus ihr resultierenden Fortschritte einfordert, und den steigenden gesellschaftlichen Erwartungen an konkrete ökonomische, soziale Ergebnisse prägte diese Phase des Wandels. Die Wissenschaft, so formulierte bereits 1963 Staatsekretär im BMwF, Cartellieri, recht deutlich, »ist ebenso ein unmittelbar wirkendes Element der Wirtschaftspolitik, in deren Rahmen die Ausgaben für Wis325 326 327 328

144

Ebd., S. 93. Vgl. W. Müller: Kernenergie, S. 12. Vgl. dazu den letzten Abschnitt dieses Kapitels Heinrich Kuhn: »Garching Instrumente. Gesellschaft zur industriellen Nutzung von Forschungsergebnissen«, in: Mitteilungen aus der MaxPlanck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Göttingen, Heft 6/1970. S. 395-399, hier S. 395.

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senschaft und Forschung als volkswirtschaftlich nutzbare Kapitalbildung zu betrachten sind.«329 Das Vertrauen in den Erfolg, der automatisch aus der Grundlagenforschung resultierte, begann zu erodieren und ging zudem einher mit der Einsicht der Wissenschaftler, dass »die öffentlichen Forschungsausgaben nicht mehr in der Höhe und Großzügigkeit fließen werden, wie dies in der Vergangenheit schon fast zur Gewohnheit wurde«.330 Dominique Pestre beschrieb für die Mitte der 1970er Jahre einen Wandel, gar das Ende einer Ära. Ein neues »Regime der Wissenschaftsproduktion und Regulierung« sei seit den 1970er Jahren entstanden. Es sei – unter anderem – charakterisiert durch eine Verschiebung von einem Gleichgewicht zwischen Wissenschaft als öffentlichem Gut und Wissenschaft als einem privaten/industriellen Gut hin zur Wissenschaft als einem Produktionsfaktor, in einem System »in which a financial and market-oriented appropriation of scientific knowledge« zentral sei. Zwar, so Pestre zu Recht, sei die Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert selbstverständlich mit politischen und ökonomischen Interessen verwoben. Auch die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts sei keine »reine Grundlagenforschung gewesen« – und natürlich auch nicht die Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Gleichwohl verschoben sich die Gewichtungen, die Erwartungen an die Wissenschaft in den 1970er Jahren.331 So betonte auch Trischler, dass, »die neben dem Ersten Weltkrieg wohl wichtigste Zäsur im Verhältnis von Wissenschaft und Politik nicht der Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkrieg ist, sondern die späten sechziger und frühen siebziger Jahre«.332 329 Zitiert nach S. Boenke: Entstehung, S. 61. 330 Helmut Zeitträger: »Auf dem Wege zum Technologietransfer«, in: Facetten. Festgabe für Dr. jur. Ernst-Joachim Meusel zum 60. Geburtstag/ Deutschland-Gesellschaft e.V, Bonn 1992, S. 121. 331 Vgl. Dominique Pestre, »A New Regime of Produktion and Regulation in Society Today? A Reflection on the Last Three Decades and on our Future.« Vortrag während der Konferenz Science and Technology in the 20th Century: Cultures of Innovation in Germany and the United States. Conference at German Historical Institute, 15./16. Oktober 2004, Washington. 332 Helmut Trischler: Nationales Innovationssystem, S. 121. Von Seiten der Universitätsgeschichte wurde von Peter Moraw eine Dreiteilung der deutschen Universitätsgeschichte vorschlagen: eine vorklassische Phase (vor 1800), eine klassische Phase seit dem frühen 19. Jahrhundert und eine nachklassische Phase seit 1960/70. Vgl. dazu auch: Rüdiger vom Bruch: Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810-1945, in: M. Ash (Hg.), Mythos, S. 29-57, hier S. 29. Zur Universitätsgeschichte siehe auch: Walter Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa. Band III. Vom 19. Jahrhundert zum Zweiten Weltkrieg 1800-1945, München 2004. 145

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Der gesellschaftlich-ökonomische Hintergrund für den Wandel in den 1970er Jahren wurde schon vielfach geschildert. Dazu gehören die wirtschaftliche Rezession Mitte der 1960er Jahre, die in der Bundesrepublik eine lange Phase des Wachstums ablöste, die Ölkrise der 1970er Jahre sowie vor allem auch die Diskussion einer »technologischen Lücke«, also eines wahrgenommenen Rückstands Europas gegenüber den USA, der als »amerikanische Herausforderung«333 bezeichnet wurde und die Technologiepolitik in der Bundesrepublik wesentlich bestimmte.334 Zudem ging seit den 1970er Jahren der Trend zur Massenuniversität mit einer gleichzeitig abnehmenden Finanzkraft der Länder einher, was zu einer Legitimationskrise der Hochschulen führte. Universitäten müssen sich seitdem zunehmend ökonomisch legitimieren.335 Unter Forschungsminister Gerhard Stoltenberg (1965-1969) kam es schließlich zu einer bewussten Forschungsplanung.336 Stoltenberg betonte die Rolle von Forschung und Technologie als »drittem Produktionsfaktor« neben Kapital und Arbeit.337 Sie sollten gezielt als Innovationspotential für den Strukturwandel von Wirtschaft und Gesellschaft eingesetzt werden.338 Ulrike Felt u.a. konstatierten, dass gerade im Kontext der Debatte um den Technologievorsprung der USA internationale ökonomische Wettbewerbsfähigkeit mit Leistungsfähigkeit im High-TechSektor gleichgesetzt wurde.339 Die Förderung »neuer Technologien« und die Bemühungen, den Technologietransfer zu verbessern, wurden Schwerpunkte der Technologiepolitik, um auf diese Weise die nationale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.340 Insgesamt findet sich eine »intensivierte Rückbindung der Wissenschaft an das Kriterium der wirtschaft-

333 Jean-Jacques Servan-Schreiber: Die amerikanische Herausforderung, mit einem Vorwort von Franz-Josef Strauß, Hamburg 1968. Vgl. auch: Johannes Bähr: Die ›amerikanische Herausforderung‹. Anfänge der Technologiepolitik in der Bundesrepublik«, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 115-130. 334 Vgl. H. Trischler, Das bundesdeutsche Innovationssystem, S. 49. 50, 63 sowie M. Szöllösi-Janze: Forschung. 335 Vgl. Ulrich Schmoch/Georg Licht/Michael Reinhard (Hg.), Wissensund Technologietransfer in Deutschland, Stuttgart 2000, S. 75. 336 Vgl. G. Ritter, Großforschung, S. 91. 337 Vgl. M. Szöllösi-Janze: Forschung, S. 44. 338 Vgl. Ebd., S. 45. 339 Vgl. U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung, S. 216. 340 Zur Technologiepolitik vgl. R. Sternberg: Technologiepolitik vor allem S. 213 sowie Rolf Sternberg: »Wie entstehen High-Tech-Regionen? Theoretische Erklärungen und empirische Befunde aus fünf Industriestaaten«, in: Geographische Zeitschrift. 83 (1995), S. 48-63. 146

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lichen Nützlichkeit«341. Wissenschaftspolitik wurde Technologiepolitik und damit unmittelbar Wirtschaftspolitik. Entsprechend wurde dieser »Nutzen« unmittelbar eingefordert, Lösungen für konkrete Probleme erwartet und messbare wirtschaftliche Ergebnisse eingeklagt. 1975 hatte der Wissenschaftsrat in seinen grundlegenden Empfehlungen zur Organisation, Planung und Förderung der Forschung festgestellt, dass »[...] der Umsetzungsprozess (von Wissen in Produkte, M.H.) in vielen Fällen nicht so problemlos und zügig abläuft, wie dies im gesamtwirtschaftlichen Interesse wünschenswert wäre«.342 Entsprechend floss, wie Peter Weingart zusammenfasste, in den 1960er und 1970er Jahren viel Tinte über die Frage nach dem Verhältnis von »reiner Forschung« und »Technologie.«343 Die Forschungspolitik war bemüht, den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in öffentlichen Forschungseinrichtungen gewonnen wurden, in Unternehmen und damit in Produkte, zu verbessern. Damit begann die Zeit des gezielten »Technologietransfers«. Dessen Kerngedanke bestand darin, das an Universitäten, Hochschulen und Forschungseinrichtungen vorhandene Wissen effizient für technische Innovationen zu nutzen. Die Forschungsergebnisse aus der Wissenschaft sollten kommerziellen Nutzungen zugänglich gemacht und die Innovationsaktivitäten von Unternehmen durch die Verbesserung ihres Zugangs zu externen Wissensquellen erhöht werden.344 Die Schnittstelle zwischen Universität und Industrie geriet damit in den Fokus der Technologiepolitik.345 Dabei wandelten sich diese Institutionen und Formen des Technologietransfers seit den 1970er Jahren bis heute. Verlief der übliche Weg des Wissenstransfers aus den Hochschulen in die Industrie über Personen und Publikationen, so entstanden seit den 1970er und vor allem seit den 1980er Jahren neue Einrichtungen wie Technologietransferstellen, Vermittlungsbüros, Patentbüros, Lizenzvergaben oder Technologiezentren bis hin zur Errichtung von Wissenschaftsparks oder gar Neugründungen von Wissenschaftsstädten. Dieser Wandel lässt sich exemplarisch an der von der Max Planck Gesellschaft gegründeten »Verwertungsstelle«, der »Garching Instrumente. Gesellschaft zur industriellen Nutzung von Forschungsergebnissen«, einer Institution des Technologietransfers nachzeichnen. Anfang 341 342 343 344

H. Trischler: Amerikanische Herausforderung, S. 15. R. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 647. P. Weingart: Stunde, S. 173. Vgl. U. Schmoch/G. Licht/M. Reinhard (Hg.), Wissens- und Technologietransfer, S. xxv. 345 Vgl. ebd., S. xv und S. 333 sowie U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung, S. 221. 147

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der 1970er Jahre sprach Ernst Guilino, erster Geschäftsführer des wissenschaftlich-technischen Bereichs dieser 1970 gegründeten »Verwertungsstelle« in den »Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft« davon, dass es zu den »Verpflichtung« der Forschungseinrichtungen gehöre, »dazu beizutragen, dass im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit gewonnenes, wirtschaftlich verwertbares technisches Wissen der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird.«346 Guilino referierte das wachsende Interesse der öffentlichen Hand am Technologietransfer und damit daran, »die Forschung in höherem Maße als bisher zur Lösung aktueller gesellschaftspolitisch relevanter Probleme heranzuziehen«.347 Ernst-Joachim Meusel, Geschäftsführer des Instituts für Plasmaphysik erinnert sich an ein »Problembewusstsein«, das zu dieser Zeit innerhalb der Wissenschaft bestand.348 Mithin konnten die Wissenschaftler innerhalb der MPG kaum umhin, auf sich wandelnde gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen zu reagieren. Entsprechend wurde Ende der 1960er Jahre innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft, genauer seitens des Instituts für Plasmaphysik (IPP), überlegt, wie die bei der wissenschaftlichen Arbeit angefallenen Erfindungen und das know-how kommerziell verwertet werden könnten. Verstärkt wurden diese Überlegungen dadurch, dass Ende der 1960er Jahre immer wieder kleinere und mittlere Unternehmen, aber beispielsweise auch die Firma General Electric, an das IPP herangetreten waren, um für patentrechtlich geschützte Entwicklung eine ausschließliche Lizenz zu erwerben. Dabei hatte sich jedoch herausgestellt, dass das IPP häufig weder die technischen Fähigkeiten noch die Bonität der Interessenten und auch nicht den kommerziellen Wert der eigenen Entwicklung beurteilen konnte.349 Hinzu kam die seit dem Ende der 1950er Jahre bestehende Erwartung, dass die Kernfusion in ca. 20 Jahren als Energiequelle nutzbar würde und die industrielle Verwertung dieses antizipierten neuen Energiesystems im Horizont des Möglichen zu liegen schien. Mithin bestanden nun auch seitens der Wissenschaft Überlegungen zur Verwertung ihrer Erkenntnisse. Nicht zuletzt stießen sie darauf, dass sie selbst den ökonomischen Wert ihrer Forschungen nicht einschätzen konnten, also keine betriebswirtschaftlichen und ökonomischen Kompe346 Ernst Guilino: »Zur Frage der Notwendigkeit ausschließlicher Lizenzen«, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft, Heft 5/1973, S. 335-347, hier S. 336. 347 Ebd. 348 Ich habe Michael Eckert ausdrücklich zu danken, der mir die autorisierten Mitschriften eines Interviews mit Dr. Meusel (10/27/1987) sowie wertvolles Quellenmaterial zur Verfügung stellte. Das Interview wird im Folgenden zitiert als: Interwiew Eckert – Meusel. 349 Interwiew Eckert – Meusel. 148

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tenzen besaßen, was neben anderen Faktoren zu den Überlegungen der Gründung einer Gesellschaft führte, die den Wissenschaftlern diese Aufgaben abnahm. Zeigt sich hier einerseits ein Wandel, indem das Fehlen ökonomisch-betriebswirtschaftlicher Kompetenzen überhaupt erst einmal wahrgenommen wurde, so wurden diese Kenntnisse jedoch einer anderen Institution übertragen. In den 1990er Jahren sollte sich dies, zumindest vom Anspruch her, nachhaltig geändert haben: der Unternehmer-Wissenschaftler betrat in den 1990er Jahren die Bühne, wie in der Beschreibung Martinsrieds zu sehen sein wird. Angesichts der sich wandelnden Erwartungen an die Wissenschaften und knapper werdender öffentlicher Mittel für die Grundlagenforschung sowie auch angesichts ähnlicher »Verwertungsbemühungen« anderer wissenschaftlicher Institute im In- und Ausland350 begann das IPP die Gründung einer eigenen Verwertungsgesellschaft zu initiieren, mit dem Ziel, den Gewinn in die »freien Mittel« der MPG abzuführen, aus denen dann erforderlichenfalls auch das IPP einmal unterstützt werden könne.351 Allerdings war Umsetzung dieser Idee nicht einfach. Vom Bundesforschungsministerium wurde auf das »Problem der ausschließlichen Lizenz, die im Interesse der Industrie aber im Gegensatz zur Öffentlichkeit der Grundlagenforschung steht« hingewiesen – womit ein Problem angesprochen wurde, das vor allem aktuell unter dem Schlagwort des »Wissens als Ware« oder »Privatisierung von Wissen« diskutiert wird. Das damalige BMwF vertrat den Standpunkt, die Forschungseinrichtungen sollten keine eigene Patentpolitik betreiben, insbesondere nicht aus fiskalischen Gründen; vielmehr wurde die allgemeine Förderfunktion gegenüber der Wirtschaft in den Vordergrund gestellt.352 350 Im In- und Ausland fanden sich ähnliche Einrichtungen. Insbesondere in den USA hatten sich, so berichtete die MPG, »in persönlicher und sachlicher Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen eigene Industriebetriebe zur direkten Verwertung von Forschungsergebnissen gebildet«. Vgl.: H. Kuhn: Mitteilungen der MPG zur Förderung der Wissenschaften, S. 397. Rolf Kreibich verweist auf Institutionen, die in Großbritannien und Frankreich bestanden, vgl. R. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 648. Auch andere Forschungseinrichtungen, z. B. Jülich und Karlsruhe, hatten Patentverwertungsstellen geschaffen, so Ernst Guilino: Mitteilungen der MPG zur Förderung der Wissenschaften, Göttingen, Heft 5/1973, S. 336. 351 Meusel selbst betonte in einem Interview im Oktober 1987: »Auf diesen Gedanken war ich gekommen, nachdem wir gehört hatten, dass eine französische Firma gezielt Erfindungen und Know-how aus staatlichen Einrichtungen sammelte und versuchte, diese am Markt zu verwerten.« (Interview Eckert – Meusel). 352 Vgl. H. Zeitträger: Auf dem Wege, S. 125. 149

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Im März 1970 gründete die MPG schließlich mit einem Stammkapital von 500.000 DM die »Garching Instrumente. Gesellschaft zur industriellen Nutzung von Forschungsergebnissen mbh«. Die Gesellschaft wurde nun als Wirtschaftsunternehmen in organisatorischer und personeller Trennung von der MPG errichtet und sollte bei der Überführung von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen in den wirtschaftlichen Anwendungsbereich tätig sein.353 Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Lizenzvermittlung zwischen Forschung und Industrie zu übernehmen, die »Erfinder« über Schutzfähigkeit und Verwertbarkeit zu beraten und die wissenschaftlichen und technischen Arbeiten der Institute unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit zu prüfen. Gleichzeitig oblag ihr die Aufgabe, Marktanalysen durchzuführen, um potentielle Kunden aufzuspüren. Darüber hinaus sollte die »Garching Instrumente«, falls sich ein Gerät oder Verfahren noch nicht für eine wirtschaftliche Verwertung eignete, auch in der Lage sein, die Weiterentwicklung bis zur Verwertbarkeit oder Serienreife zu übernehmen, um sie anschließend zu verkaufen. Die Erlöse sollten den Instituten direkt zufließen.354 In den ersten Jahren machten der Geräte-Transfer und die Auswertung von Patenten der MPG und der sich daran anschließende Verkauf von Lizenzen die Haupttätigkeit aus.355 Seit 1993 nennt sich das Institut »Garching Innovation«. Seine zentrale Aufgabe besteht noch immer darin, Erfindungen aus MPIs aufzuspüren und zu versuchen, sie zu verkaufen. Garching Innovation informiert interessierte Firmen über den aktuellen Stand der Forschung in den Max-Planck-Instituten und versucht, Kontakte zwischen Wissenschaft und Industrie zu fördern.356 Mit der »Garching Instrumente Gesellschaft« reagierte eine Institution der Grundlagenforschung wie die MPG zwar auf die gewandelten Anforderungen an soziale, technische und ökonomische Erträge aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit, doch entsprach dieses Modell des Technologietransfers den Interessen der Grundlagenwissenschaftlern, insofern die Verwertung ihrer Arbeit einer anderen Institution oblag. Denn die ökonomische Verwertung von Wissenschaft und Forschung, so das Verständnis, sollte nicht unmittelbar Sache der Hochschulen und der öf-

353 Mitteilungen der MPG zur Förderung der Wissenschaften, Göttingen, Heft 6/1970, S. 396f. 354 Vgl. H. Kuhn: Mitteilungen, S. 397f und Geburtstagschrift Meusel, S. 126; vgl. auch R. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 657. 355 Vgl. R. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 657. 356 Vgl. Garching Innovation GmbH (Hg.), Between Science and Industry. München 2002. 150

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fentlich geförderten Forschungsinstitute sein.357 Entsprechend formulierte Ernst Guilino zwar die Verpflichtung der Forschungseinrichtungen, »dazu beizutragen, dass im Rahmen ihrer Forschungstätigkeit gewonnenes wirtschaftlich verwertbares technisches Wissen der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird,«358 allerdings betonte er gleichzeitig: »Die Arbeitsrichtung von Max-Planck-Instituten orientiert sich am wissenschaftlichen Interesse; sie strebt nicht die Füllung technischer oder technologischer Marktlücken an.«359 Das dominierende Konzept getrennter Sphären, der Separation der Grundlagenforschung von Fragen der Anwendung, zeigt sich gleichermaßen deutlich in folgendem Zitat: »Wo sich jedoch Möglichkeiten ergeben, Ergebnisse der Grundlagenforschung ohne störenden Einfluß auf die Forschungsarbeiten wirtschaftlich zu nutzen, (Hervorhebung M.H.) sollte sie konsequent wahrgenommen werden. Daß hier erhebliche Werte nicht realisiert werden, liegt an dem komplizierten Mechanismus der Umsetzung von Forschungsergebnissen in den Anwendungsprozeß. Vermittlungshilfe zwischen beiden Bereichen ist nur beschränkt möglich. Nur in Ausnahmefällen sind Ergebnisse der Grundlagenforschung ohne Weiterentwicklung zum industriellen Einsatz bereits geeignet. Die Grundlagenforschung betrachtet diese Weiterentwicklung mit Recht nicht als ihre Aufgabe, selten ist sie auch dazu sachlich in der Lage.«360

Mithin diente die »Verwertungsgesellschaft« dazu, den veränderten gesellschaftlich-ökonomischen Ansprüchen Rechnung zu tragen, zugleich jedoch die Arbeit der Grundlagenforscher unangetastet zu lassen. »Garching Instrumente« stellt eine Institution dar, die zwei von einander getrennte Pole verband. Die Wissenschaft blieb dabei, zumindest unmittelbar, unberührt von Erfordernissen der Industrie. Dies ließe sich gleichfalls mit dem historischen Analogon des Hauses Salomon beschreiben, in dem die Forschung streng arbeitsteilig organisiert ist. Neben den zwölf Lichtkäufern, die in ferne Länder reisen, um »Bücher, Zusammenfassungen und Musterstücke von Erfindungen zu besorgen«,361 gibt es zudem, neben weiteren Gruppen, drei »Leuchten«, deren Aufgabe es ist, »auf Grund des nunmehr vorliegenden Materials – von einem höheren Gesichtspunkt aus – neue Versuche anzuregen

357 Vgl. R. Kreibich: Wissenschaftsgesellschaft, S. 651. 358 Ernst Guilino: »Zur Frage der Notwendigkeit ausschließlicher Lizenzen«, in: Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft, Heft 5/1973, S. 335-347, hier S. 336. 359 Ebd., S. 338. 360 H. Kuhn: Mitteilungen, S. 396. 361 F. Bacon: Nova Atlantis, S. 54. 151

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und zu leiten, die tiefer in die Natur eindringen sollen«.362 Drei »Erklärer der Natur« sollen allgemein gültige Regeln und Grundsätze formulieren. Die Wohltäter sind schließlich – ähnlich wie die Verwertungsgesellschaft – mit der Aufgabe betraut, »die Versuche ihrer Kollegen zu überprüfen und daraus diejenigen Entdeckungen herauszusuchen oder herzuleiten, die sich für die praktische Verwertung im täglichen Leben eignen oder dem Fortschritt der Wissenschaft dienen.«363 Die »Garching Instrumente« sind damit ein typisches Phänomen eines Wandlungsprozesses, indem sich hier Neues, die Einsicht der Wissenschaftler in die erwartete gesellschaftliche und ökonomische Verwertung ihrer Forschungen, mit Altem, der Vorstellung der von ökonomisch und gesellschaftlichen Anforderungen unberührten Grundlagenforschung, verbindet. Die Phase vom Ende der 1960er Jahre bis zu Beginn der 1980er Jahre stellt damit eine Umbruchphase dar. Die Ökonomisierung der Wissenschaft sollte sich in den 1980er Jahren noch weitaus stärker entfalten, wie weiter unten, aber vor allem im Kapitel zur Biotechnologie in Martinsried zu sehen sein wird. Die Max-Planck-Institute konnten allerdings nach wie vor ihre Stellung als Grundlagenforschungsinstitute weitgehend halten. Schmoch kommt hinsichtlich der Rolle der MPG zu der Einschätzung: »Das Verständnis des Wissenschafts- und Technologietransfers, wie es offiziell über die Generalverwaltung geprägt wird, hat sich in den letzten Jahren etwas verändert, ohne sich radikal gewandelt haben. Nach wie vor ist die MPG eine in der Hauptsache und im Selbstverständnis grundlagenorientierte Wissenschaftseinrichtung, die unter freier Themenwahl zunächst der Erkenntnis verpflichtet ist und deren wissenschaftliche Mitarbeiter der Logik der Grundlagenforschung folgen.« 364

Gleichwohl ist in den letzten Jahren, so Schmoch, »eine Öffnung der Gesellschaft in Richtung eines verstärkten Wissens- und Technologietransfers erkennbar«. Dies zeigt sich in einer größeren Bereitschaft, Projekte mit industrieller Finanzierung durchzuführen, sowie in einer verstärkten Ausgründung von Unternehmen.365 Vor allem baue sich die » für die MPG früher für typisch gehaltene Distanz zwischen Wissenschaft und Industrie [...] langsam ab. Jüngere Wissenschaftler sind deut-

362 Ebd., S. 55. 363 Ebd. 364 U. Schmoch/G. Licht/M. Reinhard (Hg.), Wissens- und Technologietransfer, S. 173. 365 Ebd., S. xx. 152

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lich anwendungsmotivierter und industrieoffener als früherer Wissenschaftlergenerationen«.366 Das Ausmaß der Veränderung, denen die einzelnen Institute unterlagen, hängt jedoch wohl stark von ihrer fachlichen Ausrichtung ab. Denn am Beispiel Martinsried und dem MPI für Biochemie ist zu sehen, dass »die MPG in einem wissenschaftlich-industriellen Campus eine zukunftsweisende Zusammenarbeit von ausgegründeten Unternehmen und Mutterinstitutionen geschaffen hat.«367 Etwas, was im Kontext der extraterrestrischen Physik oder der Astrophysik weniger nahe liegend scheint.

4.6.3. Entwicklung zum »kreativen Milieu« Repräsentierte die Verwertungsstelle der »Garching Instrumente« also eine Technologietransfermodell, das typisch für eine Transformationsphase ist, indem es neue Tendenzen mit alten Gewohnheiten verbindet, so radikalisierte sich die Entwicklung in Garching seit den 1980er Jahren. Über das beschriebene, die Grundlagenforschung noch ungestört lassende Technologietransfermodell hinaus bemühten sich Wissenschaftsadministration und die Technologiepolitik des Landes seitdem, die beiden zuvor als getrennte Bereiche gedachten Sphären zu verflechten und damit auch räumlich zu integrieren. Der Prozess wurde seit den 1980er Jahren stark forciert. So hatte die TU 1980 die räumliche Trennung der ingenieurwissenschaftlichen Fächer und der Grundlagenfächer bemängelt und konstatiert, diese seien dadurch in ihrer Funktion drastisch beeinträchtigt.368 »Der jetzige Zustand ist in höchstem Maße unbefriedigend, da der notwendige wissenschaftliche Austausch zwischen den Grundlagenwissenschaften (in Garching) und den technischen Disziplinen (in München) erschwert ist«.369

Anwendungsbezogene Institute, wie beispielsweise das Walter-Schottky-Halbleiterforschungszentrum, in dem Forschung und Industrieumsetzung gekoppelt sein sollten und in dem sich auch das Siemens-Unternehmen engagierte, folgten.370 In den 1990er Jahren entstanden neue Fakultäten und Institute, die deutlich auf einen Wandel verweisen. Exemplarisch können hier das Institut für Mechatronik sowie für Medizin-

366 367 368 369

Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Vgl. Denkschrift, S. 11. Ebd., S. 12 sowie Arbeitsgruppe Flächenausbau Garching (AFG). Abschlußbericht 8.12.1997. 370 Vgl. MM, 14. Juli 1988, S. 17. 153

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technik genannt werden. Beide sollten Fakultätsgrenzen aufheben, und beide wurden von vornherein mit der Industrie verbunden, sie ignorierten von vornherein die Unterscheidung von Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung. Die Verbindung der Medizin mit dem ingenieur- und naturwissenschaftlichen Fächern der TU war bereits dreißig Jahre zuvor ein wesentlicher Grund für die Gründung der Fakultät für Medizin gewesen. Ende der 1990er Jahre stellte man jedoch fest, dass eine solche Kooperation nicht im wünschenswerten Umfang stattgefunden hatte. Die Einrichtung des Lehrstuhls für Medizintechnik sollte daher nun als »Kristallisationskeim der gewünschten Aktivitäten über Fakultätsgrenzen hinweg« dienen und »zum Bindeglied zwischen den medizinischen und den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten werden«. Zur Kommerzialisierung der Entwicklungen des Hochschulinstituts wurde ein »An-Institut« gegründet.371 Das Anwenderzentrum für Medizintechnik sowie das Anwenderzentrum des Forschungsreaktors sollen dem Technologietransfer dienen.372 Ende der 1990er Jahre wurde das Innovations- und Gründerzentrum für Mechatronik und Software wurde von Gemeinde Garching und TU errichtet, um eine neue »Gründerkultur« zu forcieren.373. Im November 2003 waren mehr als 50% der Räume belegt; rund 70% der Mieter waren Software-Entwickler oder Dienstleister, 15% kamen aus der Mechatronik, die anderen aus verschiedenen High-Tech-Bereichen. Gemeinsame Konferenzräume, Gründerabende zum Kontakteknüpfen; eine Lounge im ersten Stock, wo sich »Jungunternehmer zum Billard, Bier oder zum Erfahrungsaustausch« treffen sollen, fehlen nicht.374 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts etablierte schließlich General Electric seine Forschungsabteilung in Garching. Diese Bemühungen, Wissenschaft und Unternehmertum eng zu verschränken, die Ökonomisierung der Wissenschaft ging einher mit der Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt«. In dem Moment, in

371 Vgl. Staatsministerium am 04.01.1999 an Finanzministerium: Übermittlung des Bauantrages. Begründung TU-Bauamt, Akte Garching, 5000, 1999. 372 Vgl. Stadt München b. Garching – Stadtentwicklungsprozess, 10.03. 2005, S. 39. 373 Der Kanzler der TU schreibt an das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst TU-Bauamt, Akten Garching 5000, 1998. Weitere Beteiligte sind die Bayerische Landesanstalt für Aufbaufinanzierung, die Bayerische Landesbank, die IHK für München und Oberbayern, die Kreissparkasse München-Starnberg, die TUM-Tech GmbH, das Forum Innovativer Technologieunternehmen e.V. sowie der Landkreis MÜ. Vgl. Pressemitteilung der Stadt Garching, 18.12. 2000. 374 SZ, 20. November 2003, S. 41 154

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dem anwendungsorientierte Institute, Unternehmen und eine neue »Gründerkultur« in Garching Einzug erhielten, begannen die Versuche, den einstmals abgeschiedenen und monofunktionalen Forschungsstandort zu »urbanisieren«. Die Abkehr von der Stadt, die in den 1950er und 1960er Jahren gewollt war, hatte dazu geführt, dass ein urbaner Kontext fehlte. Man pendelte zu den Instituten, um am Ende des wissenschaftlichen Arbeitstages, während dessen man in völliger Abgeschiedenheit geforscht hatte, den Ort wieder zu verlassen. Der Wissenschaftsstandort Garching hatte sich zu einer isolierten Forschungsenklave entwickelt. In den 1970er Jahren wurde nun kritisiert, dass dort »Gesicht und Atmosphäre« fehlten.375 Es wurde versucht, das »Städtische« auf dem Gelände zu entwickeln. Dies impliziert zum einen Forderung nach Einrichtung verschiedener Infrastrukturen, die eine lebendige Atmosphäre schaffen sollten. So entstanden in den 1970er Jahren erste Pläne, die noch ganz bescheidene Schritte darstellten, z.B. der Antrag auf den Einbau einer Cafeteria mit Aufenthaltsraum für Studierende im Neubau des physikalischen Institutes, der 1971 vom Bauamt der TU München gestellt worden war.376 1972 folgten Überlegungen, Studentenwohnheime, Einkaufsmöglichkeiten, Sporteinrichtungen auf dem Forschungsareal einzurichten.377 Doch noch 1997, mehr als zwanzig Jahre später, stellte man fest, dass es an Sport- und Freizeitanlagen, Aufenthaltsräumen und Einkaufsmöglichkeiten fehle. Der Standort Garching habe »zur Zeit noch deutliche Schwächen in der Infrastruktur«.378 Daher kam es in den 1990er Jahren wiederum zu Forderungen nach einer besseren Infrastruktur, nach Maßnahmen, um einen kommunikativen und lebendigen Standort zu errichten – kurz: nach einer »Urbanisierung« des Garchinger Wissenschaftsgeländes. Dazu gehörte auch das starke Bemühen um eine Identitätsbildung. Die Vorstellungen erinnern auffällig an die Debatten im Ort Garching in den 1970er Jahren, als die fehlende Identität und ein mangelndes Zughörigkeitsgefühl problematisiert wurden. Im Hinblick auf das Forschungsgelände besann man sich – zumindest Anfang der 1990er Jahre – noch immer auf den Ausgangspunkt der Entwicklung: Das »Atom-Ei« sollte nach wie vor das Wahrzeichen des Garchinger Wissenschaftsareals darstellen, so jedenfalls die Vorstellung der Stadt Garching sowie obersten Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Inneren, die die TU im Kontext der Pla-

375 Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum, TU München (Hg.), S. 8. 376 Vgl. GRS, 29. April 1971. 377 Vgl. Denkschrift, S. 2. 378 TU-Bauamt, Akte Garching 5000, 1997. 155

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nungen für die Verlegung der Fakultät für das Maschinenwesen aufforderte: »Die Höhenentwicklung sollte vier Geschosse über Gelände nicht überschreiten. Dies entspricht auch den Vorstellungen der Stadt Garching. Der bestehende Reaktor (Atomei) sollte als Wahrzeichen und Identifikationspunkt erhalten bleiben und nach Möglichkeiten nicht durch höhere Baukörper überragt werden«.379

Um eine »Identität«, ein »Gesicht« des Forschungsareals herzustellen, wurden zudem Überlegungen angestellt, eine Mitte mit zentralen Einrichtungen wie U-Bahn-Haltestelle, Mensa, Hörsaalzentrum, Bibliothek, verschiedenen Infrastrukturen etc. anzustreben. Darüber hinaus konstatierte man, dass eine »Steigerung des Erlebniswertes des Geländes« notwendig sei. Ziel war eine »überregionale Erkennbarkeit«, »eine unverwechselbare Identität« und eine »eigene visuelle Erscheinungsform«.380 Im Jahr 2003, nach der Veranstaltung eines Ideenwettbewerbs, sah der Entwurf des Preisträgers ein so genanntes »Kommunikationszentrum« für die Mitte des Forschungsareals vor.381 Eine hochschulinterne Arbeitsgruppe hatte zudem einen Nutzungsmix auf dem Gelände empfohlen.382 Dem entsprach die seit Mitte der 1990er Jahren umfassende Infrastrukturplanung, nach der Läden, Buchhandlung, Bürozeichenbedarf, Lebensmittel, Zeitschriften, Kiosk, Bank, Friseur, Obsthändler, Backwaren, Imbiss, Copy-Shop, Pils-Pub, Gästeappartments, Studentenunterkünfte, Ärzte, Kinderkrippe, Sporteinrichtungen etc. auf dem Wissenschaftsareal entstehen sollten.383 Die Konzepte zum Wandel des Forschungsareals orientieren sich offensichtlich an der Idee der »kreativen Stadt«, die sich zugleich am Ideal der europäischen Stadt anlehnt, wie es in der Stadtplanung seit circa ei-

379 Akten TU-Bauamt, Garching, 5000, 1991. Ob das nach der Debatte um FRM II noch immer die Vorstellung ist, ist mir nicht bekannt. 380 TU-Bauamt, Garching, 5000, 1997. Vgl. dazu auch erneut: Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03.2005, S. 40f.: Um die künftige städtebauliche Struktur des Hochschul- und Forschungsgeländes zu bestimmen, wurde im Jahr 2000 ein Ideenwettbewerb durchgeführt. Für den Bereich der »zentralen Mitte« wurde 2003 ein Ideenwettbewerb veranstaltet. 381 Vgl. Stadt Garching b. München – Stadtentwicklungsprozess, 10.03. 2005, S. 41. 382 Vgl. TU-Bauamt, Garching 5000, 1999. 383 Vgl. Akten TU-Bauamt, Garching, 5000, 1996 (Arbeitsgruppe Fächenausbau Garching (AFG). Abschlußbericht 8.12.1997) 156

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ner Dekade wieder intensiv diskutiert wird:384 die Schaffung einer Mitte mit zentralen Einrichtungen, einer Identität, »ein Nutzungsmix«, die sozialen Infrastrukturen und die öffentlichen Plätze stellen Charakteristika dar, wie sie typischerweise im Kontext der Debatte um die Zukunft und das Schicksal der europäischen Stadt im Zentrum stehen. Die Wissenschaft hat damit die Stadt – wenn auch in einer ganz spezifischen Weise –, als Kontext wieder entdeckt. Münchens Stadtbaurätin Christiane Thalgott sprach von der »Stadt als anregendes, manchmal provozierendes Umfeld.. Die ›splendid isolation‹ dagegen berge die Gefahr, dass sich die Wissenschaft vom Alltag einer (Stadt)Gesellschaft entferne, während die Verbindung mit der Stadt den dort Studierenden und Beschäftigten klar macht, dass sie als Teil der Gesellschaft eine Verantwortung für diese übernehmen«.385

Entgegen der Konzepte der späten 1950 und der 1960er Jahre sollte Forschung nicht mehr im sozial isolierten Raum vonstatten gehen, sondern im urbanen Umfeld. Die Einbindung in die »Stadt« steht dabei für die Vergesellschaftung der Wissenschaft. Eng verbunden mit diesen Bemühungen der Integration urbaner Elemente, der Funktionsmischung und der Schaffung einer Mitte ist die Bedeutung, die der wissenschaftlichen Kommunikation in verstärktem Maße spätestens seit den 1980er Jahren zugewiesen wurde. Kommunikationsräume wurden architektonisch hergestellt, in der Hoffnung, sie würden die spontane, informelle Kommunikation zwischen Wissenschaftlern stimulieren. »Öffentliche« Plätze innerhalb der Gebäude gehören genauso dazu wie Leseräume oder Cafeterien in den Instituten.386 Der 1979 fertig gestellte Bau für Astrophysik sollte einen »Ort der Sammlung und Versammlung« schaffen; das Gebäude erhielt einen »kommunikativen Grundriss«, der aus den »Bedürfnisse(n) intensiv kommunizierender Forschungsgemeinschaften gewonnen« worden war.387 Auch die Architektur der neuen Fakultät für Maschinenwesen

384 Vgl. Werner Rietdorf: »Einleitung: Die Europäische Stadt auf dem Prüfstand – ein Leitbild wird hinterfragt«, in: ders. (Hg.), Auslaufmodell Europäische Stadt? Neue Herausforderungen und Fragestellungen am Beginn des 21. Jahrhunderts? Berlin 2001, S. 1-18; W. Siebel: europäische Stadt, H. Kaelble: Besonderheit; Peter Hall: »Die europäische Stadt – Vergangenheit und Zukunft«, in: Die Alte Stadt, 24 (1997), S. 18-3 4; D. Hassenpflug: Die europäische Stadt. 385 Zitiert in: Lehrstuhl für Planen und Bauen im ländlichen Raum, TU München (Hg.), S. 18. 386 Vgl. SZ, 6. Mai 1981. 387 Hardo Braun: »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Bauen, S. 23ff. 157

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zielte darauf, Kommunikation entstehen zu lassen und zu fördern.388 Eine Vorgabe war es, Räume zu bauen, in denen Gespräche zwischen den einzelnen Fachrichtungen entstehen können. Architekt Henn formulierte dies folgendermaßen: »[...] oberstes Prinzip der Planung war, die Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm herauszuholen und die Kommunikation [...] zu fördern.«389 Bei der Zuweisung der Baukörper zu den Instituten und Lehrstühlen wurde großer Wert auf deren Kommunikationsbeziehungen gelegt: »So wurde erreicht, daß die höchstfrequente Kommunikation auf möglichst kurzem Wege erfolgen kann. Aber auch die zufällige Begegnung der Professoren, der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Studenten wurde regelrecht programmiert.« 390

Der Unterschied zu funktionalistischen Konzepten, in denen Wege zielgerichtet, ohne Umwege, die einzelnen Zonen verbanden und lediglich als Mittel gesehen wurden, um möglichst effizient von einem Ort zum anderen zu gelangen, ist auffällig. Die Funktion der Wege hat sich geradezu umgekehrt; sie wurden zu Kommunikationsplätzen. Von dieser Forcierung des Zufalls, wie man dies bezeichnen könnte, versprach man sich, die »wissenschaftliche Leistungsfähigkeit zu steigern«391. Diese »Programmierung« der Kommunikation, die Forcierung des informellen Austausches, die Planung der Spontaneität bezog sich sowohl auf den Austausch unterschiedlicher Fachrichtung, mithin auf das interdisziplinäre Gespräch, als auch auf die Kommunikation zwischen Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie zwischen Universität und Industrie. Das Konzept der Separierung verschiedener Sphären, das auch eine räumliche Trennung beinhaltet hatte, war seit den 1970er Jahren nicht nur in stadtplanerischen Diskursen, sondern auch im Hinblick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Technik, auf Universität und Industrie, auf Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung in die Kritik geraten.

388 Vgl. TU-Bauamt, Akte Garching 5000, 1997. 389 SZ, 14. Mai 1997, S. 41. 390 Technische Universität München, Fakultät für Maschinenwesen (Hg.), S. 19f. 391 Ebd. 158

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Abbildung 16-19: Gebäude für Maschinenwesen, Garching

Die räumliche Integration von Wissenschaft und Wirtschaft, die Versuche, eine »Gründerkultur« zu etablieren, verweisen unübersehbar auf die Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt«. Die Fokussierung auf Vermischung, auf die Integration von Wissenschaft und Wirtschaft, die Orientierung an informellem Austausch, die Betonung der Bedeutung der Kommunikation, zufälliger Begegnungen, die Schaffung öffentlicher Räume sowie das Bemühen um »Kristallisationspunkte« und um »Identität« folgen einer stilisierten Idee des Städtischen. Es zeigt sich die Tendenz zur »Urbanisierung der Wissenschaft«. Man rekurriert auf das Städtische als stimulierendes Umfeld, Eigenschaften wie Kommunikation, Austausch, Dichte, Informelles, Heterogenität im Sinne der Auflösung disziplinärer Monokulturen, Verflechtung, Nutzungsmischung werden zu neuen Idealen der Organisation des Wissenschaftsgeländes. Der Topos der Stadt als Ort der Kreativität entwickelte zu Ende des 20. Jahrhunderts seine Wirkungsmächtigkeit noch einmal ganz neu.

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DIE KREATIVE STADT

Gleichwohl handelt es sich um eine Metapher des Städtischen. Schließlich wird das Städtische weit ab von der Stadt selbst, im suburbanen Raum, inszeniert und zu imitieren versucht. Dabei wird Urbanität zum Instrument der Wirtschaftspolitik: Das »kreative Umfeld« soll technische Innovationen und damit wirtschaftliche Prosperität und Arbeitsplätze hervorbringen. Die Legitimationsrhetorik bedient sich daher bis heute des Hinweises auf die wirtschaftliches Wachstums und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese Argumente, die schon in der Anfangszeit des Standortes zentral waren, finden sich erneut. Wieder gilt die Wissenschaft als Quelle der Prosperität, der Innovation und damit des Fortschritts, der für Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sorgt. Gleichwohl hat sich etwas Wesentliches geändert: die Wissenschaft ist stärker rückgekoppelt an die Gesellschaft, an ihre Anwendungen, an ihre ökonomische Verwertbarkeit. Die Erfolge dieser Versuche, das Forschungsareals zu urbanisieren sowie Garching-Stadt und den Wissenschaftsstandort zu integrieren, lassen allerdings zu wünschen übrig. Trotz dieses Diskurses um eine »Urbanisierung« der Wissenschaftsareale, trotz neuer Einsichten in die Rolle und Bedeutung der Stadt für Wissenschaft gibt es eine auffällige Kluft zwischen den Planungen, die sich in den 1970er Jahren, den 1990er Jahren und heute erneut finden und die sich dabei jeweils sehr ähneln, die also gewissermaßen immer neu aufgenommen werden – und ihrer Realisierung. Denn ein Besuch des Forschungsareals konterkariert den Planungsdiskurs geradezu. Einige versprengte, »mobile« Kaffee- und Imbissstände, der Einbau kleiner Kioske in die Fakultät für Maschinenwesen oder den Neubau für Informatik wirken eher wie bescheidene Oasen in einer Beton- und High-Tech-Architektur-Wüste. Mit gutem Willen kann man davon sprechen, dass Änderungen zu erkennen sind, doch die geplanten Geschäfte, Restaurants, Buchläden etc. sind noch nicht einmal zu erahnen. Vielmehr gleicht das Forschungsareal nach wie vor der additiven Ansammlung von einzelnen Bauten, dem Modell der gegliederten und durchgrünten Stadt. Eine Reportage in der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2003 konstatierte: »Hier kann man studieren und forschen, sonst nichts.«392 Und Anfang 2007 zitierte die Süddeutsche Zeitung einen Studierenden mit einer ganz ähnlichen Aussage: »Das ist noch Wüste da draußen«.393

392 SZ, 15./16. November 2003, S. 51. 393 »Aufschwung des Münchner Nordens. Garching – das explodierte Dorf«, in: SZ, 8. Januar 2007. 160

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Abbildung 20-25: Ansichten des Forschungsgeländes

Die Analyse dieser Kluft zwischen Planung und Realisierung, die im Kapitel zu Neuperlach überdeutlich wird, ist auffällig. In der Regel wird auf Finanzierungsschwierigkeiten hingewiesen. Gleichwohl sind auch diese häufig nicht so unvorhersehbar wie suggeriert. Oder planen hier unterschiedliche Gruppierungen innerhalb der Instiutionen, ohne dass es auf höchster Ebene konsensfähig wäre? Oder handelt es sich um Mechanismen der systematischen Fehlplanung bzw. sind diese Planungen von vornherein eher ein Diskurs, der nicht zuletzt dem Image oder der Legitimation dient – oder in den Phantasien von Politikern und Stadtplanern wurzelt, die aufzeigen, wie es sein sollte?

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DIE KREATIVE STADT

4.7. Geschichtskonstruktion: D a s » At o m - E i « a l s M a g n e t Garching ist zweifellos zu einer bekannten »Wissenschaftsstadt« geworden. Das Wahrzeichen des Ortes, das »Atom-Ei«, – ein Symbol, das für die Fortschrittsgläubigkeit und die hohen Erwartungen an die Kernenergie der 1950er Jahre steht – war Ausgangspunkt der Entwicklung und Symbol der Identitätsstiftung. Nicht zuletzt ranken sich um das »Atom-Ei« lokale Geschichtskonstruktionen. Das »Atom-Ei« wurde als »Magnet« stilisiert. Die Geschichtsschreibung der Gemeinde Garchings sowie der TU München betonten immer wieder, die dynamische Entwicklung Garchings sei auf die Ansiedlung der Forschungsinstitute zurückzuführen, der erste bundesdeutsche Forschungsreaktors wird – noch 1990 – als wesentlichster Wachstumsimpuls, als Auslöser und Katalysator der Entwicklung bezeichnet.394 Hinsichtlich des Wachstums der Bevölkerung, der sozialstrukturellen Veränderungen und der Transformation des Bauerndorfes in einen Wissenschaftsstandort ist dies zweifellos zutreffend. Zugleich hob der lokale öffentliche Diskurs allerdings die wirtschaftlichen Impulse hervor: »Für Garching, das von diesem neuen Forschungsboom profitiert, ist es vor allem wichtig, daß der Gemeinde«, so betont Bürgermeister Karl Mitte der 1970er Jahre, »Entwicklungsimpulse gegeben und daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden«.395 In der Gemeindechronik war zu lesen: »Innerhalb von nicht einmal zehn Jahren wurde das einstige vergessene Heidedorf Garching zum gesuchten Industriegebiet. Die Erklärung ist einfach: Das ›Atom-Ei‹ wirkte als Magnet.«396 Auch nach einer Broschüre der TU zum 40. »Jahrestag« des »Atom-Ei« schrieb der Präsident der TU: »So wie der Forschungsreaktor eine Quelle für Neutronen ist, gab das Garchinger Atom-Ei nicht nur der Region positive Impulse für die Wissenschaft, für die Wirtschaft und vor allem für die Menschen, die hier arbeiten«.397 Und in der Tat, anfangs schienen sich die positiven Erwartungen zu bestätigen. So wurde versucht, das nichtwissenschaftliche Personal für den Reaktor aus der Gemeinde selbst zu rekrutieren. 140 Personen arbeiteten im Reaktor, einschließlich Schreibkräfte, Pförtner usw.398 Zudem wurden die Impulse für die Bauwirtschaft, die Gastronomie etc. betont, ohne dass diese Aussagen aber empirisch gestützt wären. 394 395 396 397 398 162

Vgl. Antrag auf Stadterhebung, S. 2. SZ, 5. Dezember 1975. Chronik, 1964, S. 117. 40 Jahre Atom-Ei, Vorwort. Vgl. MM, 6. August 1963.

GARCHING: VOM DORF ZUR »W ISSENSCHAFTSSTADT«

Stephan Deutinger hatte dagegen darauf hingewiesen, dass sich die industrielle und die wissenschaftliche Entwicklung Garchings aus zwei ganz verschiedenen Wurzeln speisen und kein Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen bestehe. »Ein kausaler Zusammenhang mit der naturwissenschaftlichen Forschung vor Ort war eine Chimäre.«399 Vielmehr bedeutete Wissenschaftsansiedlung enorme Kosten für die Gemeinde. Denn entgegen der ursprünglichen Erwartungen war die Ansiedlung der wissenschaftlichen Institute ein enormer Kostenfaktor, aus dem keine Einnahmen resultierten. Hieß es noch 1957 in der Gemeinderatssitzung, es entstünden keine Nachteile aus der Errichtung des Atomreaktors vor Ort, so war die Gemeinde Mitte der 1960er Jahre vor allen mit den infrastrukturellen Folgekosten durch Schulhausbau, Straßen etc. konfrontiert.400 Die finanziellen Belastungen waren in den folgenden Jahren immer wieder und sehr massiv ein Thema sein, das die Gemeinde umtrieb. Die Vielzahl der örtlich zu leistenden Aufgaben stand in keinem Verhältnis zur Einnahmeseite. Wie Deutinger betonte, litt eine von der Bevölkerungszahl her schnell expandierende Gemeinde wie Garching unter der Finanzverfassung der BRD, die die Kommunen nur unzureichend am Gesamtsteueraufkommen beteiligte, während das Gros an Bund und Länder ging. Die Bayerische Gemeindeordnung vom 25. Januar 1952 verpflichtete das Land zwar zur Unterstützung der Gemeinden, doch hatten sich diese überwiegend aus der Gewerbesteuer, ergänzt durch Grundsteuern, zu finanzieren. Gewerbesteuer erhielt Garching aus den Forschungsinstituten jedoch nicht.401 Der Gemeinderat kämpfte daher immer wieder um Unterstützung durch Land oder Bund und konnte manche Förderung erreichen.402 Dabei erhielt er Rückendeckung von den wissenschaftlichen Instituten. Das Institut für Plasmaphysik hatte an das Bundesforschungsministerium geschrieben. Dieses Schreiben, das von Professoren der MPG, der Bayerischen Akademie der Wissenschaft, der TH unterzeichnet wurde, forderte für die Gemeinde eine Finanzhilfe, um die Einrichtungen und die Infrastruktur den Bedürfnissen des Forschungszentrums anpassen zu können.403 Auch beteiligte sich beispielsweise das Max Planck Institut an den Kosten für die Kanalisation und 1960 wurde ein Vertrag mit MPG über die Zahlung von Nachfolgelasten geschlossen.404 Aber solche Entlastungen waren eher geringfügig. Die Kosten für die Gemeinde wurden 399 400 401 402 403 404

S. Deutinger: Garching, S. 237. Vgl. Vom Heidedorf zum Atomzentrum, S. 64. Vgl. S. Deutinger: Garching. Vgl. GRS, 26. Juni 1964. Vgl. GRS, 17. Januar 1967. Vgl. GRS, 18. März 1960 sowie Anhang in GRS, 9. September 1960. 163

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Mitte der 1960er Jahre vielmehr untragbar. Die Hilferufe und Forderungen Garchings gegenüber verschiedenen Behörden verliefen aber weitgehend im Sand: »Sämtliche zuständigen Behörden bedienten sich einer sehr bewährten Verzögerungstaktik«, so der Vorwurf des Gemeinderates, der daher die »Flucht in die Öffentlichkeit« suchte; was eine Pressekonferenz meinte, die die Nöte und Probleme der Gemeinde öffentlich formulierte.405 Auch die Festwoche zum zehnjährigen Bestehen des Reaktors nahm Bürgermeister Amon zum Anlass, um darauf hinzuweisen, dass Garching an die Grenze seiner finanziellen Belastbarkeit gestoßen war.406 Trotzdem hielt Garching immer an der Unterstützung der Wissenschaftsansiedlung fest. Der symbolische Raum wurde – entgegen jeglicher materieller Schwierigkeiten – unentwegt neu konstituiert und noch in der größten Krise betont. Und stets wurde der Mythos des »Atom-Ei« als Magnet aufrechterhalten. Die Bürgerinitiative gegen den FRM II erinnerte jedoch an die ausgebliebene Ansiedlung von Industrie rund um das »Atom-Ei« und kehrte das Versprechen, das sich nie erfüllte, um, indem sie es als ein Argument gegen den Reaktor verwandte,407 denn auch im Kontext des FRM II wurden in der öffentlichen Legitimationsrhetorik Arbeitsplätze und wirtschaftliches Wachstum für die Gemeinde versprochen. Entgegen des Bildes vom »Atom-Ei« als Magnet war die Gemeinde, die unter den Folgekosten der Wissenschaft litt, vielmehr darauf angewiesen, Industrieansiedlung zu forcieren, um mit den Gewerbesteuern überhaupt Einnahmen zu erzielen. Die Industrieansiedlung scheint daher als eine Kompensation der Wissenschaftsansiedlung. Zum zehnjährigen Bestehen des Reaktors hieß es in einer Broschüre: »Da die Forschungsinstitute für die Gemeinde keinerlei Einnahmen abwarfen, andererseits aber erhebliche finanzielle Mittel zum Schulhausbau, zur Kanalisation etc. erforderlich waren, verfiel man auf den Gedanken, durch Ansiedlung von Industriebetrieben Abhilfe zu schaffen. Diese Betreibe erschließen als Einnahmequelle die Gewerbesteuer, durch welche in Zukunft die finanzielle Grundlage der Gemeinde gesichert werden soll«.408

Ob der Wandel des Wissenschaftsareals in ein »kreatives Milieu«, in dem Wissenschaft und Industrie, Grundlagenforschung und Anwen405 Vgl. GRS, 16. September 1966. 406 Vgl. MM, 10. November 1967, S. 11, SZ, 13. November 1970. 407 Vgl. Broschüre, Wir sagen Ja zu Garching. Für eine lebenswerte Zukunft in Garching! 408 Festschrift zur Festwoche. 164

GARCHING: VOM DORF ZUR »W ISSENSCHAFTSSTADT«

dungsorientierung tendenziell in eins gehen, in dem die Schaffung urbaner Strukturen stets postuliert und angekündigt wird, nun ökonomisches Wachstum bringen wird, wie es die derzeitigen Diskurse um die »kreative Stadt« versprechen, wird die Zukunft weisen.

165

5.

M AR T I N S R I E D

AL S

»G E N E V AL L E Y «

Die Wissenschaftsansiedlung bringt vielleicht »Ruhm, aber ansonsten nur Kosten«.1 »Es ist zu einer Verschmelzung von Kommerz und Forschung gekommen«.2

5 . 1 . V o m D o r f z u m » G e n e V a l l e y« Ganz ähnlich wie Garching in den 1950er Jahren war Martinsried bis in die letzte Dekade des 20. Jahrhunderts eine kleine Ortschaft wie viele andere, ein Ort von allenfalls regionaler Bekanntheit. In jüngster Zeit erlangte es allerdings als eines der viel versprechenden und dynamischen Zentren der deutschen Biotechnologie ungeahnte Prominenz. Martinsried avancierte zu einem Synonym für einen erfolgreichen Biotechnologiestandort, der Ortsname wurde zu einem »geflügelten Wort« in der Biotechnologiebranche.3 Vom »Medicon Valley«, vom »Bio Valley«, vom »Gene Valley«, »Biotop für Gründer« etc. ist die Rede. Weltweit haben sich ca. vierzig so genannte »BiotechnologieCluster« herausgebildet;4 die Region München zählte um die Jahrtau-

1 2 3 4

So die Gemeinde Planegg in den 1960er Jahren. Erwin Chargaff: »Naturwissenschaft als Angriff auf die Natur«, in: Ästhetik und Kommunikation 18 (1988), S. 14-22, hier S. 20. Wirtschaft. Das IHK-Journal für München und Oberbayern, 1. November 2000, S. 14. Ernest & Young, European Life Science 98. Continental Shift, London 1998; dazu auch: David Audretsch/Phil Cooke: Die Entwicklung regiona167

DIE KREATIVE STADT

sendwende zu den drei »Spitzenstandorten« in Europa.5 Martinsried wiederum galt als Zentrum der Bio-Tech-Region München und ist ein Teil dessen, was München zu einer High-Tech-Stadt macht und ihr Image heute wesentlich bestimmt. Zugleich ist es noch immer ein Dorf von ca. 5.000 Einwohnern. Martinsried, an der südwestlichen Stadtgrenze Münchens gelegen, 15 km vom Stadtzentrum entfernt, ist ein Stadtteil der Gemeinde Planegg, die aus zwei Ortsteilen besteht, die in ca. 2,5 km Distanz voneinander liegen: dem Hauptort Planegg und Martinsried. Während sich Planegg aufgrund seiner günstigen Lage zwischen Starnberger See und der Landeshauptstadt München schon früh zu einem typischen Münchner Vorort der bevorzugten Wohnlage entwickelte,6 blieb Martinsried, dünn besiedelt, landwirtschaftlich geprägt, ganz der bäuerlichen Lebensweise verhaftet. Die Ansiedlung des Max-Planck-Instituts für Biochemie im Jahr 1973 bedeutete den Beginn der Expansion des Dorfes, die sich vor allem in den 1990er Jahren enorm beschleunigen und schließlich auch an ihre Grenzen stoßen sollte. Allerdings ahnte in den 1970er Jahren noch niemand, wie Martinsried dreißig Jahre später aussehen sollte. Ende der 1970er Jahre nannten Promovenden, die nach Martinsried ans MPI fuhren, den Ort noch »Martinsruh«. In den 1980er Jahren folgten sukzessive weitere Institute, so das MPI für Psychiatrie, heute MPI für Neurobiologie, und das Genzentrum der LMU. In den frühen 1990er Jahren siedelten sich dann die ersten biotechnologischen Firmen an. Vor allem das 1995 errichtete Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IZB) dynamisierte die Entwicklung des ehemaligen Bauerndorfes. Während 1991 in Martinsried noch kein Bio-Technologie-Unternehmen existierte, waren es im Jahr 1997 bereits 27 und ein Jahr später 44. Zur Jahrtausendwende fanden sich über 50 Firmen innerhalb eines Quadratkilometers. In den Jahren 1997 und 1998 wurde alle vierzehn Tage ein neues Unternehmen gegründet. 90% waren Ausgründungen aus den Münchner Max-Planck-Instituten, dem Genzentrum oder den Universitätsfakultäten für Chemie und Biologie. Fanden Anfang 1997 in Martinsried etwa 125 Beschäftigte einen Arbeitsplatz in einem der Biotech-Unternehmen, so

5 6

ler Biotechnologie-Cluster in den USA und Großbritannien, Stuttgart 2001. Vgl. Christian Schüle: »Bioboom im Bauernstadl«, in: Die Zeit, 5. April 2001, S. 37-38. Gemeinde-Archiv Planegg, Gemeinderatssitzung (im folgenden GRS), 4. November 1968, Anhang. Erläuterungsbericht des Flächennutzungsplanes der Gemeinde Planegg.

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MARTINSRIED ALS »GENE VALLEY«

waren es 2005 bereits über 1.200 bei ca. 1.900 in der gesamten Region München.7 Ähnlich wie in Garching lässt sich in Martinsried die Transformation eines Bauerndorfes über einen reinen Wissenschaftsstandort bis hin zum Technologiestandort, zu einem »kreativen Milieu« beobachten. Die städtischen Überformungen des Ortes sind noch heute sichtbar: der alte Dorfkern duckt sich förmlich vor den neueren Wohnbebauungen, er bildet einen auffälligen Kontrast zu einem architektonisch vernachlässigtem Gewerbegebiet und dem Forschungsareal. Der Biotechnologiestandort Martinsried verkörpert geradezu Ungleichzeitigkeiten. Die alte Dorfkirche, der neben ihr stehende Maibaum, die Bauernkaten, die den alten Dorfkern noch ahnen lassen, sind nicht nur von mehrstöckigen Wohnhäusern umgeben, die so gar nicht in die dörfliche Struktur passen wollen; zudem beginnt nur wenige Gehminuten entfernt von der Dorfkirche das Forschungsareal, das sich in klassisch moderner Architektur, wie das MPI für Biochemie, und vor allem in der postmodernen Architektur der neueren Bauten mit viel Glas, Aluminium, künstlich angelegten Plätzen und Wegen präsentiert. Verschiedene Zeitschichten treffen aufeinander: ein Nebeneinander von bäuerlichen Lebensgewohnheiten und modernster Wissenschaft, wie es bereits für Garching beschrieben wurde. Auch in Martinsried laufen noch Gänse übers Feld – unweit der Biotechnologielabore. Die Lebenswissenschaften und die Biotechnologie, eine der Schlüsseltechnologien für das 21. Jahrhundert, sind aufs Land gezogen. Um die Biotechnologie ranken sich vielerlei Erwartungen und Befürchtungen ökonomischer, medizinischer, ökologischer wie ethischer Art. Dabei stellte die rekombinante DNA, also die Möglichkeit der Neukombination von Genen, eine wesentliche Zäsur dar, nämlich den Beginn einer neuen, wissensbasierten Technologie, der als »Zukunftstechnologie« vor allem in ökonomischer Hinsicht international enorme Bedeutung zugeschrieben wird, die aber zugleich vielerlei ethische Fragen aufwirft. So beschäftigt die Bio- und die Gentechnologie Theologen und Philosophen, die sich ethischen Fragen widmen, gleichermaßen wie Ökonomen, Wirtschaftsgeographen und Soziologen, die nach den Mustern und Strukturen des Innovationssystems fragen. Wissenschaftstheoretiker und -soziologen wiederum analysieren den Modus der Wissensproduktion. Wissenschaftshistoriker fragen nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Molekularbiologie und der Biotechnologie als kulturellem

7

http://www.bio-m.de/bio-tech/cp_bio_tech.html, 20. Dezember 2005. 169

DIE KREATIVE STADT

Phänomen im 20. Jahrhundert, nach Forschungspraxen, nach Denk- und Handlungsweisen von Wissenschaftlern. Mit der historischen Betrachtung eines Dorfes, das gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem gefeierten Biotechnologiestandort wurde, gelangen diese verschiedenen Perspektiven in den Blick und werden um eine stadthistorische Dimension erweitert.

5.2. Suburbanisierung der Wissenschaft: Z u m Au s z u g d e r L e b e n sw i s s e n s c h a f t e n aus der Stadt Wie Garching befindet sich auch Martinsried in der Peripherie Münchens. Der Auszug wissenschaftlicher Institute an den südlichen Stadtrand fügt sich in den bereits im vorherigen Kapitel beschriebenen Trend zur Dezentralisierung der Städte, ihrem Wachstum an den Rändern. Die Entwicklung Martinsrieds zu einem Wissenschaftsstandort begann, wie gerade erwähnt, mit der Ansiedlung des MPI für Biochemie zu Beginn der 1970er Jahre. Sie gipfelte nicht nur in der Konzentration der Münchner Biotechnologie-Unternehmen, sondern auch in der seit kurzem angestrebten, und zum Teil bereits erfolgten Verlagerung der lebenswissenschaftlichen Fakultäten der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) an den südöstlichen Stadtrand Münchens. Wie in Garching, so gab es auch in Martinsried keinen Masterplan für diese Entwicklung, die sich vielmehr sukzessive vollzog, und die um die Jahrtausendwende, wie weiter unten noch beschrieben wird, schließlich an ihre räumlichen Grenzen und an die Grenzen der lokalen Akzeptanz stieß. Ähnlich wie in Garching, wo die langfristige Entwicklung zu einer »Wissenschaftsstadt« in der Anfangsphase noch nicht im Horizont der beteiligten Akteure lag, so ahnte auch zum Zeitpunkt der Ansiedlung des MPI für Biochemie in Martinsried niemand, dass sich der Ort bis zum Ende des Jahrhunderts zu einen modernen Wissenschafts-Technologie-Cluster entwickeln würde. Die Gründe für die Suburbanisierung der Wissenschaft sind wiederum ähnlich wie in Garching. Sie liegen im Raummangel innerhalb der Stadt, in einem Wandel der Organisation wissenschaftlicher Arbeit sowie dem Ziel, eine größere Wirtschaftlichkeit zu sichern.

a) Raummangel Der Raummangel wissenschaftlicher Institute in der Stadtmitte war einer der zentralen Faktoren für die Entwicklung des Dorfes Martinsried zu 170

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einem Wissenschaftsort. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre hatten Pläne zur Erweiterung verschiedener Münchner Max-Planck-Institute, nämlich des MPI für Zellchemie und des MPI für Eiweiß- und Lederforschung, deren Bedarf an Raum steigen lassen. Die Situation verkomplizierte sich, da die Institute zum Teil in den Gebäuden der LMU beheimatet waren, die jedoch gleichermaßen unter erheblichen Raummangel litt und diese daher bat, die Räume wieder der Universität zu überlassen.8 Dies koinzidierte mit Plänen der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), drei MPIs, nämlich das MPI für Eiweiß- und Lederforschung, das MPI für Zellchemie und das MPI für Biochemie zusammenzulegen und ein biochemisches Zentrum zu errichten.9 Seit Mitte der 1960er Jahre war die MPG daher auf der Suche nach einem geeigneten Grundstück für ein neu zu errichtendes Institut für Biochemie. Mehr als hundert Grundstücke wurden in Betracht gezogen; zahlreiche Ortsbesichtigungen und Besprechungen mit Gemeinden, Landratsämtern und dem Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum, der Regierung von Oberbayern und dem Wasserwirtschaftsamt folgten.10 Martinsried erschien ein geeigneter Standort, weil dort eine große, zusammenhängende Fläche zur Verfügung stand und Martinsried direkt vor den Toren Münchens sowie in unmittelbarer Nähe zum geplanten Großklinikum Großhadern lag.11 Im Juni 1964 bat die Max-Planck-Gesellschaft die Gemeinde Planegg, ein Sondergebiet für die Errichtung eines biochemischen Institutes auszuweisen. Außer der verkehrsgünstigen Lage, der Fläche und der Nachbarschaft zum Klinikum Großhadern hatte der ausgewählte Standort allerdings wenig zu bieten. Wie auch in Garching gab es keinerlei infrastrukturelle Voraussetzungen, keine Kanalisation, keine Stromanschlüsse, auch nicht genügend Straßen. So begann die Geschichte des Biotechnologiestandorts Martinsried gleichfalls als Gründung eines wis-

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Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (im Folenden MPG) (Hg.), Berichte und Mitteilungen, Max-Planck-Institut für Biochemie (1977) Heft 2, S. 15. 9 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft (im Folgenden MPG-Archiv), Niederschrift über die 50. Sitzung des Senats der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. am 12. März 1965, 9.30 Uhr in Berlin im Hause der Berlin Bank AG. Das Max-Planck-Institut für Biochemie, das im März 1973 eingeweiht wurde, entstand aus der Zusammenlegung dreier Institute: Vgl. MPG (Hg.), Berichte, S. 11ff. Zur Vorgeschichte und der Debatte um die Standorte der Institute vgl. H. Trischler: Nationales Innovationssystem, S. 186ff. 10 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102. 11 Vgl. Brief der MPG an Dr. Albert Heizer vom 5. Juni 1964. in: Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102. 171

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senschaftlichen Instituts auf der grünen Wiese in unmittelbarer Nähe eines alten Bauerndorfes.

b) Der Wandel der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und die Notwendigkeit räumlicher Konzentration Der Trend zur Suburbanisierung der Wissenschaft lässt sich allerdings nicht allein mit dem gestiegenen Flächenbedarf erklären. Die bereits für Garching geschilderten Überlegungen zur Konzentration wissenschaftlicher Institute finden sich auch hier wieder. Wie in Garching, wo die Suburbanisierung der Technischen Hochschule mit der Referenz auf das Humboldtsche Ideal einherging, so vollzog sich die Zusammenlegung der drei Max-Planck-Institute in Martinsried gleichermaßen mit der Betonung wissenschaftlicher Notwendigkeiten. Die Vereinigung dreier Institute unter einem Dach geschah mit dem Bemühen, die wissenschaftliche Arbeitsorganisation zu verändern: es sollten neue Kommunikationsstrukturen und die Möglichkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit geschaffen werden. Dies machte die räumliche Konzentration verschiedener Abteilungen zueinander notwendig und schuf damit den enormen Flächenbedarf, der in der Stadt nicht befriedigt werden konnte. In den 1960er Jahren waren innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft Stimmen laut geworden, die konstatierten, dass München zwar nach 1945 durch die Übersiedlung der MPIs für Biochemie und für Eiweißund Lederforschung und der Gründung des MPI für Zellchemie zu einem neuen Schwerpunkte der MPG geworden sei,12 dass man es dabei allerdings versäumt hätte, diese in räumlicher Nähe zueinander zu positionieren: »…das hat ihr Zusammengehörigkeitsgefühl nicht gefördert und gemeinsame wissenschaftliche Arbeiten erschwert.« Man hatte es verpasst, so die Selbstkritik der MPG, ein großes zusammenhängendes Gelände zu erwerben, »damit alle nach Dahlemer Vorbild zusammen sein können.«13 Dass man nun gerade zu diesem Zeitpunkt auf die Dahlemer Tradition rekurrierte und bemüht war, wenigstens »ein kleines Dahlem« biochemischer Ausrichtung zu schaffen,14 hing mit der gerade erwähnten Beobachtung einer notwendigen Neuorganisation wissenschaftlicher Arbeit zusammen. Auffällig ist hierbei, dass die Technische Hochschule im Kontext der Suburbanisierung auf die Humboldtsche Tradition verwies, während die Max-Planck-Gesellschaft auf ihre eigene Vorgeschichte in Dahlem referierte. In beiden Traditionsstiftungen spielten die Betonung der Notwendigkeit von räumlicher Zentralisierung und 12 Vgl. Max-Planck-Gesellschaft (Hg.), Berichte. 13 Ebd., S. 15 14 Vgl. ebd., S. 18. 172

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räumlicher Nähe für wissenschaftliches Arbeiten eine maßgebliche Rolle. Dies verweist zum einen auf die je spezifische »Erfindung einer Tradition«, die mit den Suburbanisierungsprozessen der Wissenschaft einherging, zum anderen auf einen Wandel bisheriger Organisationsformen wissenschaftlicher Arbeit. Sowohl in Garching als auch in Martinsried wurden fortan die Konsequenzen eines historischen Ausdifferenzierungs- und Spezialisierungsprozesses von Wissenschaft zu korrigieren versucht. Denn seit dem 19. Jahrhundert hatte sich das Wissenschaftssystem in zahlreiche Einzeldisziplinen differenziert, die zunehmend inhaltlich und methodisch »ohne besondere Kontaktfläche und institutionell klar voneinander getrennt«15 waren. »Die Forscher und Techniker arbeiteten zumeist einzeln oder in fachlich eng spezialisierten Teams isoliert von einander. Brücken zwischen den Wissenschaftlern gab es nur schmale in den Universitäten und den wissenschaftlichen Gesellschaften.« Das Know-how zur Bearbeitung besonders komplexer Probleme war daher weit verstreut und institutionell voneinander getrennt.16 Dies hatte dem so genannten »Harnack-Prinzip« entsprochen, das innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft das wesentliches Organisationsprinzip dargestellt hatte, also dem »Primat des einzelnen Wissenschaftlers, um den herum und nach dessen speziellen Wünschen ein Institut auch räumlich konzipiert wurde«17. Adolf Harnack hatte zu Beginn der Entwicklung der Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Institute den einzelnen hochqualifizierten Forscher in den Mittelpunkt gestellt, um den – geradezu im Sinne des Wortes – die Gebäude »herumgebaut« wurden. Entsprechend hatte sich dieses Modell auch in der Architektur der Gebäude materialisiert. Die Institutsgebäude in Dahlem glichen – je nach Geschmack des Institutsleiters – meist großbürgerlichen Villen, repräsentativen Gebäuden oder Gutshöfen.18 Dieses Organisationsprinzip wurde nun mit der Wahrnehmung einer Notwendigkeit zu interdisziplinärer Zusammenarbeit seit den 1960er Jahren organisatorisch wie architektonisch verabschiedet. Organisatorisch erfolgten die Institutsleitungen der MPIs nicht mehr unter der »direktoralen Leitung« eines einzelnen.19 Damit wurde auf das 15 R. Kreibich, Wissenschaftsgesellschaft, S. 324. 16 Ebd., S. 324. 17 Hubert Markl: »Geleitwort«, in: H. Braun (Hg.), Bauen, S. 11. Vgl. dazu H. Trischler: Nationales Innovationssystem, S. 192ff. 18 Vgl. H. Markl: Geleitwort, S. 9. 19 Eine neue Satzung aus dem Jahr 1964 ließ nun eine kollegiale Leitung zu. Vgl. H. Braun: Einleitung, S. 21. Trischler verweist auf die Einflüsse der US-amerikanischen Diskussion um Departmentstrukturen, die auch als Begründung herangezogen wurden, als Butenandt dem Senat in dessen Ju173

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Wachstum des wissenschaftlichen und technischen Personals, die komplexer werdenden Forschungsaufgaben sowie die zunehmend multidisziplinär ausgerichteten Forschung zu reagieren versucht.20 Um die Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Wissenschaft zu überwinden, privilegierte die MPG nun die »Kombination von kleinen Institutseinheiten unter einem Dach«.21 Diese sollten zwar in ihrem »Eigenleben« nicht gestört, »wohl aber (sollte) die Möglichkeit zur gemeinsamen Arbeit zwischen mehreren Abteilungen wesentlich erleichter(t)« werden.22 Lässt sich diese zunehmende Problematisierung der Spezialisierung und Ausdifferenzierung sowie die Notwendigkeit des Austausches im Hinblick auf verschiedene Disziplinen seit den 1960er und 70er Jahren generell beobachten, so galt dies in den 1960er Jahren erst recht für die Biochemie, die sich per se im Grenzgebiet zwischen Chemie, Medizin und Biologie befindet. Schon aufgrund ihrer Fragestellungen23 ist sie eng mit vielen Nachbardisziplinen verbunden: der organischen, physikalischen Chemie und der Kolloidchemie, der Physiologie, Pharmakologie, der Medizin, Botanik, Zoologie, der Mikrobiologie, der Zellbiologie, der Genetik und der Molekularbiologie – um nur einige zu nennen.24 Ihre Grenzen sind daher durchlässig und beweglich.25 Kamminga betonte: »The boundaries of biochemistry have been extraordinarily fluid«.26 Die Biochemie hatte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts überhaupt erst zu einer wissenschaftlichen Disziplin konstituiert.27 Die Entwicklung dieser »hybrid discipline«, so Abir-Am, begann im ersten Drittel

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biläumssitzung vom März 1965 zwei weitreichende Konzepte der lokalen Konzentration von Ressourcen präsentierte. Vgl. H. Braun: Einleitung, S. 18. MPG (Hg.), Berichte, S. 20. Ebd., S. 21. Die Biochemie versucht ein chemisches Verständnis traditionell biologisch definierter Funktionen wie Wachstum, Atmung, Ernähung, Verdauung, Bewegung oder Reproduktion. Vgl. Harmke Kamminga: »Biochemistry, Molecules and Macromolecules«, in: John Krige/Dominique Pestre (Hg.), Companion to Science in the Twentieth Century. London, New York 2003, S. 525-546, hier S. 525. Die Biochemie untersucht die Zusammensetzung, Struktur und Beschreibung der organischen Naturstoffe einschließlich der Enzyme, Vitamine, Hormone, Proteine, Träger der Erbinformation u.a. Vgl. ebd., S. 527. Vgl. ebd., S. 528. Ebd., S. 545. Zur Frühphase der Biochemie im 19. Jahrhundert vgl. Robert E. Kohler: From medical chemistry to biochemistry, Cambridge 1982.

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des 20. Jahrhunderts.28 In den 1960er Jahren fanden sich schließlich an fast allen Universitäten weltweit biochemische Institute oder Lehrstühle.29 Ohnehin von »multidisziplinärem Charakter«30 war die Biochemie in den 1960er Jahren in zahlreiche Teilgebiete und Untergruppen gegliedert, die, so die Einsicht innerhalb der MPG, »nur in enger Zusammenarbeit einen umfassenden Einblick in die chemischen Zusammenhänge des Lebendigen ergeben. Je spezialisierter eine Wissenschaft wird, umso nötiger ist der Ausbau der Nachbarschaftsbeziehungen.«31 Entsprechend sollten die geplanten einzelnen Abteilungen des neu zu gründenden Instituts auf verschiedenen Teilgebieten der Biochemie arbeiten. Dieser »sich aus der Sache ergebende Zwang zur engen Kooperation« war, wie Fedor Lynen formulierte, einer der Hauptgründe für die MPG, zu überlegen, wie verschiedene Institute und Abteilungen in einem Institut für Biochemie zusammengeführt werden können.32 Ihre räumliche Konzentration sollte diese Zusammenarbeit gewährleisten33 – und bedeutete zugleich aufgrund des damit verbundenen Flächenbedarfs ihren Auszug aus der Stadt.

c) Wirtschaftlichkeit Zudem spielten, wie schon im Falle Garchings skizziert, auch in Martinsried wirtschaftliche Erwägungen eine Rolle für die Zusammenlegung verschiedener Institute am Stadtrand. Die kostspieligen Geräte und Einrichtungen wie eine Großrechenanlage und eine Zentralbibliothek, eine Zentralwerkstatt, Tierstallung, Gewächshaus, Mensa, Konferenzsaal etc. sollten gemeinschaftlich von möglichst vielen Wissenschaftlern genutzt werden können.34 Diese gemeinsame Nutzung verschiedener Einrich28 Vgl. Pnin B. Abir-Am: »Molecular Transformation of twentieth-century biology«, in: J. Krige/D. Pestre (Hg.), Companion, S. 495-524, hier S. 497. 29 Vgl. H. Kamminga: Biochemistry, S. 525. 30 Ebd., S. 526 31 MPG-Archiv, II/1A-IB, Biochemie; Ruhenstroth-Bauer: Das Martinsrieder Projekt, 1969. 32 Vgl. MPG-Archiv, Entwurf der Ansprache von Prof. Lynen beim Richtfest für das Biochemische Zentrum Martinsried am 19. November 1970 sowie Ruhenstroth-Bauer: Das Martinsrieder Projekt (1969 - II/ 1a-IB, Biochemie). Vgl. auch Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102, Brief der MPG an den Bürgermeister der Gemeinde vom 5. Juni 1964. 33 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2103, Ausschreibung eines Ideenwettbewerbes zur Erlangung von Entwürfen für Institutsneubauten eines Biochemischen Zentrums. 34 Vgl. MPG-Archiv, Entwurf der Ansprache von Prof. Lynen (1969 - II/ 1a-IB, Biochemie. 175

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tungen bot »Möglichkeiten, über die ein kleines Institut niemals verfügen kann von denen aber die Erfolge moderner Forschung abhängen.«35 Diese Argumente, nämlich die Notwendigkeit einer räumlichen Zentralisierung verschiedener Institute und Abteilungen, die die interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglichen sollte, einerseits, sowie die Wirtschaftlichkeit einer zentralen Einrichtung andererseits, spielten auch in der Folgezeit bei der Suburbanisierung weiterer wissenschaftlicher Institute nach Martinsrieds eine entscheidende Rolle, wie beispielsweise hinsichtlich des Genzentrums zu Beginn der 1980er Jahre und vor allem auch angesichts der Pläne, die Fakultäten Biologie, Chemie, Physik, Geowissenschaften sowie große Teile der Medizin der LMU vor die Stadttore nach Martinsried zu verlagern. Wie die TU, die ihre Fakultäten nach Garching oder Weihenstephan auslagerte, plante die LMU Ende der 1990er Jahre in Martinsried langfristig, »einen modernen, naturwissenschaftlichen Campus wie in Garching zu schaffen, den später rund 5.000 Studenten nutzen werden«.36 In Martinsried sollte, so waren sich bayerische Landespolitiker und LMU einig, ein großer Komplex von Forschungsseinrichtungen für die Lebenswissenschaften, Biologie, Chemie und Medizin entstehen. Die sich wandelnde Organisation wissenschaftlichen Arbeitens beeinflusste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts somit die Stadtentwicklung. Die stark expandierende Wissenschaft und deren Ausdifferenzierung und Spezialisierung hatten zu dem Bedürfnis der Wissenschaftsadministrationen sowie der Wissenschaftspolitik geführt, Institute räumlich zu konzentrieren, um die Trennungen der Disziplinen und ihre »Sprachlosigkeit« untereinander zu überwinden. So blieb keine andere Wahl, als vor die Tore der Stadt zu ziehen und damit den Wandel hin zu einer dezentralen Zentralisierung einzuleiten. Vor der Stadt entstanden autonome und zentralisierte Wissenschaftsorte. Auffällig ist dabei, dass – wie schon in der Geschichte Garchings deutlich wurde – in den 1960er der Stadt als Umfeld der Wissenschaft keine Bedeutung beigemessen wurde. Während man in der internen Wissenschaftsorganisation begann, Funktionalisierungen, Spezialisierungen und räumliche Trennungen unterschiedlicher Abteilungen zu überwinden, blieb man im Hinblick auf deren gemeinsamen Standort einem funktionalistisch-separatistischen Denken verhaftet und baute monofunktionale, auf fachliche Schwerpunkte konzentrierte Wissenschaftsorte. Bis in die jüngste Zeit wurde der Auszug aus der Stadt kaum reflektiert, die Wissenschaft blieb auf sich selbst bezogen. Sie glaubte, ge35 MPG (Hg.), Berichte, S. 21. 36 SZ, 26. Juni 1996, S. 41, SZ, 22. Juni 1999, S. 39. 176

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trennt von der Stadt, ihre Aufgabe erfüllen zu können. Wie in Garching und wie in vielen anderen Orten in Europa und in den USA auch platzierten sich wissenschaftliche Institute außerhalb der Stadt, zum Teil am Rande kleiner Dörfer, die keinerlei Voraussetzungen boten für wissenschaftliches Arbeiten außer der Fläche, die man bebauen kann. Während dies in den 1950er und 1960er Jahren den zeitgenössischen Konzepten, dem Verständnis der Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft entsprach, änderte sich dies seit den 1990er Jahren auch in Martinsried, wo sich – wie schon für Garching beschrieben – gleichermaßen Bestrebungen finden, das Wissenschaftsareal zu »urbanisieren«. Darauf wird noch zurückzukommen sein.

5.3. Martinsried: Vom Dorf zum suburbanen Biotechnologiestandort In Martinsried erwies sich die Ansiedlung der Wissenschaft nicht als gleichermaßen unkompliziertes Unterfangen wie in Garching. Zwar stimmte der Planegger Gemeinderat – nach einigen Kontroversen – dem Bau des MPI für Biochemie in seiner Sitzung vom 30. Juli 1964 zu.37 Doch hatte die Gemeinde auf das Anliegen der MPG, 37 ha für die Ansiedlung eines biochemischen Instituts zu erwerben, keineswegs euphorisch reagiert, sondern vielmehr zurückhaltend, vorsichtig abwägend, mit Skepsis und Vorbehalten: die Angelegenheit wurde »eingehend debattiert«,38 die Folgen zu antizipieren versucht und mit der MPG hartnäckig verhandelt. Anders als in Garching, wo die Ansiedlung des »Atom-Ei« mit einer Mischung aus Euphorie, Fortschrittsgläubigkeit und dörflicher Gleichgültigkeit aufgenommen worden war, wägte man hier ab und stellte Bedingungen. Die Wissenschaft traf nicht auf einen Ort, der sich von ihrer Ansiedlung eine Aufwertung und vor allem einen ökonomischen Aufschwung und den Eintritt in die Moderne versprach, sondern die Gemeinde Planegg insistierte, dass sie etwas zu verlieren habe, dass die Wissenschaftsansiedlung Belastungen verschiedenster Art mit sich bringen und die dörfliche Struktur ihres Ortsteiles Martinsrieds verloren gehen würde. Die Wissenschaft, das wurde klar gesehen, würde Martinsried nachhaltig verändern, sie würde aus einem Dorf einen Wissenschaftsstandort machen. Nüchtern stellte man fest: »Trotz allem Verständnis für die Belange der Wissenschaft standen wir vor einer schweren Entscheidung. Denn außer dem Ruhm vielleicht einmal neben

37 Vgl. GRS, 30. Juli 1964. 38 GRS, 16. Juli 1964. 177

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München als Ort einer wissenschaftlichen Niederlassung der MPG genannt zu werden, standen dem nur Nachteile gegenüber.«39

Entsprechend thematisierte die Gemeinde die Kosten und Verluste.40 Denn wie eingangs erwähnt, musste auch Martinsried als Wissenschaftsstandort völlig aus dem Nichts geschaffen werden. Infrastrukturen waren überhaupt erst herzustellen, Ortsstraßen auszubauen und neue Straßen zu schaffen etc. Zudem rechnete die Kommune mit einem Zuwachs an Einwohnern, denn es sei zu erwarten, »daß viele einmal [...] versuchen werden, in der Nähe ihrer künftigen Arbeitsstätte [...] eine Wohnung zu erhalten.«41 Man ging von einem solch enormen Wachstum an Einwohnern aus, dass man glaubte, es würde notwendig, in Martinsried eine eigene Schule mit Turnhalle, einen Kindergarten, ein größeres Feuerwehrhaus und einen Sportplatz zu bauen. Die Gemeinde antizipierte gar, dass der Planegger Friedhof zu klein werde und erweitert werden müsse.42 Die Skepsis resultierte auch daraus, dass Planegg – anders als Garching – als eine Gemeinde mit hohem Wohnwert galt. Sie befürchtete, die Ausweisung eines Wissenschaftsareals im Ortsteil Martinsried könne diesen mindern. Denn Planegg, südwestlich Münchens gelegen, befinde sich, so die Eigenwahrnehmung der Gemeinde, in »reizvoller landschaftlicher Lage« und sei eine bevorzugte Wohngegend.43 Sich dessen gewiss, stand der Bevölkerung kaum der Sinn nach Veränderung. Dies zeigte sich gleichermaßen an einem anderen Beispiel, nämlich der Haltung der Kommune im Hinblick auf einen Bauantrag einer pharmazeutischen Fabrik, um die lange Debatten geführt wurden. Obwohl das Areal durch Gemeinderatsbeschluss ohnehin schon als Gewerbegebiet ausgewiesen war, brachten Bürger eine Petition gegen das Vorhaben ein. Sie sprachen darin von »unerträglichen« Störungen und Belästigungen, denen sie durch die Fabrik ausgesetzt seien und behaupteten, dass damit die bisherige Wohngemeinde Planegg zu einer »Industriegemeinde«

39 Gemeinde-Archiv Planegg, Brief an die MPG vom 3. Juli 1967 sowie GRS vom 30. Juli 1964. 40 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Gemeinde Planegg an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 7. September 1966. 41 Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102. 42 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102, Gemeinde Planegg an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 7. September 1966. 43 Gemeinde-Archiv Planegg, Anhang zur Gemeinderatssitzung, 4. November 1968. Erläuterungsbericht des Flächennutzungsplanes der Gemeinde Planegg. 178

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degradiert würde.44 Es war gar vom »Gespenst Industriegemeinde« die Rede.45 Kurz, die Bereitschaft, Industrie, Gewerbe oder auch wissenschaftliche Institute anzusiedeln, war gering. Zudem hatte die Ansiedlung der Wissenschaft im Vergleich zur Industrie den Nachteil, dass sie keine Gewerbesteuereinnahmen brachte, sondern darüber hinaus vielmehr den Wegfall der Option, das anvisierte Areal als Gewerbegebiet auszuweisen46 und damit »einen erheblichen Ausfall (der Gewerbesteuer bedeute, M.H.) und dazu für alle Zeiten«47. Planegg betonte dies deutlich und verwies, darauf »welches Opfer die Gemeinde bewußt brachte«.48 So stellte die Gemeinde Bedingungen an die MPG, bevor sie der Errichtung eines neuen biochemischen Instituts zustimmte: Sie verlangte eine Ausgleichszahlung und beharrte, dass sie »aus eigener Kraft« die Mittel für diese notwendigen Investitionen nicht aufbringen könne.49 Planegg formulierte deutlich, daß die Bereitschaft, ein Sondergebiet Wissenschaft auszuweisen, ein Entgegenkommen sei, das die finanziellen Mittel der »steuerschwache(n) Gemeinde Planegg« überfordere, während dieses Problem nicht entstehen würde, wenn man sich entschieden hätte, auf dem für die MPG vorgesehen Gelände Industrieoder Gewerbebetriebe anzusiedeln. Es müsse deshalb, so die Forderung, ein Weg gesucht und gefunden werden, der der Gemeinde eine finanzielle Hilfe bringe.50 Man einigte sich schließlich auf eine Zahlung von vier DM pro verkauften qm.51 Auch die privaten Eigentümer des Grundstücks verhielten sich widerspenstig,52 einige sträubten sich, ihre Grundstücke an die MPG zu verkaufen.53 Überzeugungsarbeit war nötig.54 Einige forderten bei44 Vgl. Würmtal-Bote, Nr. 28, vom 7. März 1967 (vorhanden in GemeindeArchiv-Planegg). 45 Ebd. 46 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102. 47 Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102, Entwurf eines Briefes an die MGP 10. Mai 1967. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102, Gemeinde Planegg an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 7. September 1966. 51 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102, Brief an die MPG vom 3. Juli 1967. 52 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 3. Februar 1967. 53 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102, Brief an die MPG vom 3. Juli 1967. 54 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102, Gemeinde Planegg an das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 7. September 1966. 179

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spielsweise Tauschgrundstücke im Gemeindebereich, andere machten die Vermittlung eines Ersatzbauernhofes in Oberbayern zur Bedingung für den Verkauf.55 Trotz der zu erwartenden Nachteile und trotz der von einzelnen Gemeinderatsmitgliedern vorgebrachten Bedenken und Widerstände stimmte der Gemeinderat jedoch schließlich zu und verwies dabei auf das Interesse der Allgemeinheit, auf ein Pflichtgefühl gegenüber den Belangen der Wissenschaft, denen man sich nicht verschließen dürfe.56

Lernprozesse: das Negativbeispiel Garching Dass man so vorsichtig und in den Verhandlungen auch hartnäckig agierte, hing wesentlich mit dem – aus kommunaler Sicht – Negativbeispiel Garching zusammen. Die Erfahrungen der Wissenschaftsgemeinde im Norden Münchens waren genau beobachtet worden. Im Gemeinderat wies man immer wieder darauf hin, dass – wie Garching zeige – die Ansiedlung der Wissenschaft folgenreich sei und vor allem Kosten bringe:57 »Am Beispiel der Gemeinde Garching, wo sich bereits Institute der MPG befinden, ist ersichtlich, welche Folgen mit einer solchen Niederlassung verbunden sind. Diese Gemeinde kam durch den damit verbundenen Bevölkerungszuzug in größte finanzielle Schwierigkeiten«.58

Es fand mithin innerhalb von München ein Lerneffekt statt, die Gemeinde im Süden zogen ihre Lehren aus den Erfahrungen Garchings, das sich in den 1950er Jahren noch relativ unerfahren für die Ansiedlung der Wissenschaft ausgesprochen und daraus einen ökonomischen Aufschwung für die Gemeinde erhofft hatte. Dies verdeutlicht, wie sehr die Haltung gegenüber der Ansiedlung der Wissenschaft von der konkreten Situation des Ortes abhängt. In Planegg, das sich aufgrund seine geographischen Lage prinzipiell als bevorzugt betrachtete, zeigte sich eine Abneigung gegen eine »Industrialisierung« des Ortes sowie gegen seine Überformung durch den Bau wissenschaftlicher Institute. Wie bei den meisten lokalen Oppositionsbewegungen der frühen Bundesrepublik ging es dabei in keinster Weise um eine fundamentale Wissenschafts- oder Technikkritik. Vielmehr wurde »die Wissenschaft« prinzipiell positiv betrachtet; man brachte ihr auch 55 56 57 58

Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102. Vgl. GRS, 30. März 1967. Vgl. GRS, 29. Juni 1964 sowie GRS, 16. Juli 1964. Gemeinde-Archiv Planegg, Brief an die MPG vom 3. Juli 1967.

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in Planegg höchsten Respekt entgegen. Zudem hatte die Max-PlanckGesellschaft »einen guten Namen«. Biochemie wiederum war den Menschen vor Ort zudem eher ein abstraktes Gebiet, unter dem man sich kaum etwas vorstellen konnte und das somit schlichtweg unter die für die meisten dort Ansässigen eher fremde Rubrik »Wissenschaft« fiel. Als Gerhard Ruhenstroth-Bauer, Zellchemiker am MPI, vor dem Gemeinderat über die biochemische Arbeit einen Vortrag hielt und erläuterte, welche wissenschaftlichen Themen in den fünfzehn Abteilungen behandelt werden würden, wurde ihm herzlichst gedankt, dass er »seine Zeit geopfert« habe, um den Anwesenden einen Einblick in das »Wesen der Biochemie« zu geben.59 Ex-Bürgermeister Naumann erinnerte sich: »Wir haben nicht viel verstanden, aber es war sehr imposant«.60 Nach der Ansiedlung des MPI für Biochemie begann eine gewisse Identifizierung der Kommune mit der Wissenschaft, die allerdings nie so weit reichte wie in Garching. Die Gemeinde übte sich nach der Eröffnung des MPI in symbolischen Gesten. So benannte man gleichfalls Straßen nach Wissenschaftlern, häufig nach Biologen und Medizinern, wie Sauerbruchstraße, Louis-Pasteur-Str., Alexander-Fleming-Str.61 Feodor Lynen erhielt einen Kupferstich von der Hofmark Planegg, während er sich in das »goldene Buch« der Gemeinde eintrug.62 Das neue naturwissenschaftliche Gymnasium erhielt den Namen Feodor-Lynen-Schule. Als Professor Robert Huber, geschäftsführender Direktor des MPI, den Nobelpreis in Chemie erhielt, ehrte ihn die Gemeinde in einer Sondersitzung des Gemeinderats.63 Das MPI wiederum veranstaltete jährlich einen Tag der offenen Tür.

Das Verschwinden des Dorfes Diese beginnende, wenn auch eher verhaltene Identifizierung mit der Wissenschaft, die sich – wie in Garching auch – in symbolischen Gesten und damit der Schaffung eines symbolischen Raums ausdrückte, zeigte Veränderungen, einen beginnenden Wandel der Gemeinde Planegg bzw. des Ortsteil Martinsried an. Gleichwohl kreuzten sich auch hier verschiedene Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei ist zwischen der Hauptgemeinde Planegg und dem Ortsteil Martinsried zu unterscheiden. Vor allem in Planegg spiegeln sich typische Entwicklungen der Suburbanisie59 60 61 62 63

GRS, 26. Januar 1967. Interview mit Richard Neumann, 15. Juli 2002 in Planegg. Vgl. GRS, 22. Juli 1974. Vgl. GRS, 21. Oktober 1974. Vgl. GRS, 20. Oktober 1988. 181

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rung und des Verschwinden des Dorfes wider. Aufgrund des raschen Wachstums der Region Münchens sah sich Planegg seit den 1960er und insbesondere seit den 1970er Jahren einem starken Siedlungsdruck ausgesetzt. Der Gemeinderat beobachtete, wie sich ein neuer Lebensstil verbreitete und Auswirkungen auf die Umlandgemeinden Münchens zeitigte, nämlich: » Arbeiten in der Stadt, Wohnen im ›Vorort‹«64. Mithin wurde die Entwicklung Planeggs, ebenso wie die der angrenzenden Gemeinden, durch das rasche Wachstum Münchens bestimmt. Gerade die Gemeinden im Südwesten der Region Münchens waren dem Expansionsprozess der Stadt in starkem Maße ausgesetzt, da sie als bevorzugte Wohngegend galten. Vor allem Menschen, die die großstädtische Lebensweise nicht gänzlich aufgeben, jedoch zugleich ruhig »im Grünen« leben wollten, siedelten sich dort an.65 Bereits Anfang der 1970er Jahre orientierten sich alle wichtigen Lebensbeziehungen der Gemeinde Planegg und seiner Bevölkerung ausschließlich in Richtung München, in die täglich ca. 85% aller Auspendler zur Arbeit fuhren.66 Martinsried blieb von diesen Entwicklungen jedoch unberührt. Noch 1970 war es ein Dorf mit nicht einmal 500 Einwohnern. Erst die Ansiedlung des MPI bedeutete den Beginn einer Überformung. Wie schon angedeutet, hatte der Gemeinderat aufgrund der Ansiedlung des MPI Planungen gemacht, um den zu erwartenden Veränderungen entsprechen zu können. Dabei ging man von – aus Sicht des dörflichen Ortes – geradezu gigantischen Zahlen aus. So glaubte man Anfang der 1970er Jahre langfristig mit einer Bevölkerung von 9.000 bis 10.000 Einwohner rechnen zu müssen. Etwas später wurden die Zahlen auf 7.500 reduziert. Tatsächlich wohnten Ende der 1980er Jahre 3.700 Menschen in Martinsried.67 Heute leben ca. 5.000 Menschen in dem noch immer kleinen, und sehr dörflich wirkenden Ort. Gemessen an den 440 Einwohnern im Jahr 1950 verzehnfachte sich zwar die Einwohnerzahl innerhalb von 50 Jahren, wobei diese Entwicklung vor allem nach 1970 einsetzte. Allerdings blieb sie weit unter den Planungen, die im Kontext der Ansiedlung des MPI gemacht wurden. Das Wachstum und die Veränderungen Martinsrieds verliefen ohne größere Konflikte, ohne jenen »clash of cultures«, wie er in den 1960er Jahren in Garching stattfand, als die Wissenschaftler auf die bäuerliche 64 GRS, 1. April 1976, Anlage 1: Gemeinbedarfszentrum Planegg. Unterlagen für das städtebauliche Plangutachter Verfahren. 65 Vgl. Planungsgutachten für die Gemeinde Planegg. Möglichkeiten der Integration der Ortsteile Planegg und Martinsried, Entwurf, Dezember 1972. Gemeindearchiv Planegg. 66 Vgl. GRS, 6. September 1971. 67 Vgl. SZ, 26 /27. August 1989. 182

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Bevölkerung stießen. Dies hatte letztlich den simplen Grund, dass die Wissenschaftler weitgehend ausbleiben. Zwar gibt es auch hier keine Statistiken über die Zahl der Wissenschaftler, die dort wohnen; ihre Zahl scheint jedoch eher gering.68 Da es sich bei der Gründung des MPI für Biochemie um eine Zusammenlegung dreier bereits in München existierender Institute handelte, war im Grunde genommen die Wahrscheinlichkeit, dass die Wissenschaftler umzogen, anstatt in das am Stadtrand von München liegende Martinsried einzupendeln, von vornherein nicht sehr hoch. Eine Erhebung aus dem Jahr 2002 ergab zudem, dass kaum eine/r der Biotech-Firmen-Mitarbeiter/innen in Martinsried selbst wohnte.69 Letztlich wurde Martinsried damit zu einem suburbanen Wohn- und Schlafort im Süden Münchens, dessen Bewohner nach München pendeln, während sich an dessen Rande ein modernes »High-Tech-Cluster« und zukünftig ein Campus »Lebenswissenschaften« entwickelte. Gleichwohl gab es viele Überlegungen zu dem, was da erwartet wurde. Dabei verweisen die Konzepte, die Planegg entwarf, um der erwarteten Expansion des Dorfes Martinsried begegnen zu können, deutlich auf den historischen Zeitpunkt, zu dem sie entworfen wurden. Denn Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre hatten sich die stadtplanerischen Konzepte bereits gewandelt, die Maxime der Funktionstrennung waren hinterfragt und wurden zu überwinden versucht. Entsprechend wurde in Martinsried von Anfang an überlegt, wie man eine Auseinanderentwicklung der beiden Stadtteile Planegg und Martinsried sowie einen »clash of cultures« vermeiden und statt dessen die zu erwartenden Neubürger integrieren könne. Es ist offensichtlich, dass man auch hier Konsequenzen aus der Entwicklung Garchings zog, dass wiederum ein »innerregionaler« Lernprozess stattgefunden hatte und die Gemeinde Planegg die Separierung zwischen Wissenschaftlern und alteingesessener Bevölkerung erst gar nicht entstehen lassen wollte. So plante man, zwischen den Ortsteilen Einrichtungen »als Angebot einer Kommunikation zwischen den Bürgern beider Ortsteile« zu errichten.70 Verschiedene bauliche Maßnahmen sollten Martinsried an Planegg anbinden, so die Errichtung eines Schulzentrums, eines Gemeindebedarfszentrum und verschiedener Freizeiteinrichtungen. Diese sollten von beiden Ortsteilen

68 Interview mit Dr. Ulrike Höfer am 25. Juni 2002, 1. Bürgermeisterin der Gemeinde Planegg während der entscheidenden Ausbauphase um 2000. 69 Es wurde eine eigene Erhebung durchgeführt, in dem ein Fragebogen an 52 in Martinsried ansässige Unternehmen verschickt wurde. Siehe dazu weiter unten. 70 GRS, 17. August 1978, Anlage. Begründung zum Bebauungsplan. 183

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genutzt werden und auf diese Weise zu deren Integration beitragen.71 Damit findet sich hier das gleiche Konzept, wie es in Garching in den 1970er Jahren mit dem etwas hilflosen Versuch des Wanderweges zu realisieren versucht wurde und wie es auch heute ganz ähnlich mit einer »Kommunikationszone« zwischen Wissenschaftsareal und Ort auf der Agenda steht. Hintergrund der Überlegungen war auch in Martinsried die Annahme, dass die zuziehende Bevölkerung, nämlich die Wissenschaftler, nicht nur den »größten Teil der Wohnbevölkerung ausmachen«, sondern vor allem »die soziale Struktur bestimmen« würden. Dabei thematisierte man das – aus kommunaler Sicht entstehende – Problem, dass sich Zugezogene dieser sozialen Schicht nicht der Gemeinde verbunden fühlen würden. Überlegungen, wie eine solche »soziale Ortsbezogenheit« zu erreichen sei, bestimmten die Debatten im Gemeinderat der frühen 1970er Jahre. Schulen seien beispielsweise eine »intensive Ebene der Begegnung«. Zudem dachte man an ein Einkaufszentrum als einen wesentlichen »Kristallisationspunkt des Zusammentreffens der Bürger«. Dies wurde als die Herstellung einer »urbanen Situation« bezeichnet.72 Ähnlich wie in Garching, wo in den 1970er Jahren verschiedenste Überlegungen bestanden, wie ein Gemeindeleben und ein Zugehörigkeitsgefühl, eine lokale Identität, die über dem schnellen Wachstum verloren gegangen war, wieder belebt werden könnte, finden sich auch in Planegg bzw. in Martinsried solche Bemühungen. Mit der Errichtung von Infrastrukturen, wie einem Bürgerhaus, Freizeiteinrichtung, öffentlichen Plätzen sollte ein »urbanes« Leben im Sinne eines lebendigen, die Bevölkerung integrierenden Alltags geschaffen werden. Auffällig ist dabei, dass seit den 1970er Jahren in der Regel ein Einkaufszentrum als Möglichkeit des »Zusammentreffens der Bürger« gedacht wird. Dies findet sich auch bei den Planungen für die »Entlastungsstadt« Neuperlach und im übrigen auch an vielen anderen Orten. Einkaufszentren sind scheinbar die (post)moderne Form der Agora, des Marktes: sie sollen, wie einst der Markt, der als Mittelpunkt der Stadt für ein urbanes Geschehen stand, nun diese Aufgabe erfüllen – ohne dass allerdings die modernen Einkaufszentren, seien sie noch so urban inszeniert, in irgendeiner Weise als »Kristallisationspunkte des Zusammentreffens der Bürger« in Sinne von »Urbanität« als politischer Kategorie bezeichnet werden könnten.

71 Vgl. ebd. sowie GRS, 1. April 1976, Anlage 1: Gemeinbedarfszentrum Planegg. Unterlagen für das städtebauliche Plangutachter Verfahren. 72 Gemeinde-Archiv Planegg, Planungsgutachten für die Gemeinde Planegg. Möglichkeiten der Integration der Ortsteile Planegg und Martinsried, Entwurf, Dezember 1972. 184

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Wie deutlich wurde, hatte die Gemeinde Planegg versucht, Wandlungen und Überformungen, die mit der Ansiedlung von Wissenschaft einhergehen könnten, zu antizipieren und somit zu steuern. Viele der in den 1970er Jahren gemachten Pläne verweisen auf die in der Bundesrepublik typischen Diskurse dieser Zeit, so die Bemühungen der Integration in der Gemeinde, der Stiftung einer »Gemeindeidentität« oder die Herstellung einer informellen Gemeindeöffentlichkeit. Abbildung 26-29: Ortszentrum mit Kirche und Maibaum, Hinweisschilder auf die Forschungseinrichtung und Blick auf das Forschungsareal vom Ortsrand aus.

Wie auch in Garching (und in Neuperlach) zeigt sich aber auch hier eine enorme Kluft zwischen Planungen und Konzeptionen einerseits und deren Realisierung andererseits. Auch in Martinsried wurden viele dieser Konzepte nicht verwirklicht. Betrachtet man den kleinen Ort heute, so präsentiert er sich letztlich als funktionsgetrennter Ort. Am Rande Martinsrieds befindet sich ein großes Gewerbegebiet mit den üblichen suburbanen Ausstattungen wie Baumärkten, einzelnen Unternehmen, einem Fitnessstudio etc. Die Ortsmitte, die sich um die alte Dorfkirche drängt, ist von Wohnhäusern dominiert und am östlichen Rand schließlich liegt das Forschungsareal, in Sicht- und Laufweite und vom Ort Martinsried nur durch einige Äcker getrennt – aber doch eine ganz andere Welt.

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Die bauliche Herstellung eines »städtischen Charakters« Da man zu Beginn der Entwicklung in Martinsried davon ausging, dass dort viele Wissenschaftler wohnen würden, hatte man den Bau neuer Wohnungen geplant, und dabei eine Bebauung »mit städtischem Charakter« vorgesehen, denn, so die Überlegung, das MPI werde eine »vorwiegend städtische Bevölkerung« anziehen.73 Ende der 1960er Jahre hatte man die Neue Heimat beauftragt, Wohnungen zu bauen. Die Pläne sahen eine ausgesprochen dichte Bebauung (ca. 9.000 Einwohner auf ca. 50 ha) vor und standen damit in völligem Kontrast nicht nur zu den existierenden Bauernhäusern, sondern auch zur Bebauung in Planegg, die als »locker und anspruchsvoll« bezeichnet wurde.74 In der Tat umzingeln heute die vier- bis sechsstöckigen Wohnhäuser, die dicht gedrängt stehen, den alten Ortskern. Zuweilen steht ein kleineres, altes Gebäude zwischen ihnen – als würde es trotzig der Verstädterung Widerstand leisten. Abbildung 30-33: Wohnhäuser in Martinsried, Blick auf das Gewerbegebeit

Die »städtische Bauweise« spiegelt wiederum typische Bau- und Stadtplanungskonzepte der späten 1960er wider, als die Hochhäuser das Land erreichten. So wie auch in Garching für die Wissenschaftler die »MaxPlanck-Siedlung« mit mehrstöckigen Häusern errichtet wurde, baute 73 GRS, 10. Mai 1973. 74 Ebd. 186

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man in Martinsried Ende der 1960er Jahre, Anfang der 1970er Jahre Hochhäuser. Schon Mitte der 1970er Jahre wurde dies allerdings kritisiert, vor allem da man darin die Gefahr der »Abtrennung Martinsrieds von Planegg« sah, die Gefahr, die beiden Ortsteile würden sich völlig auseinander entwickeln, wenn Martinsried in dieser »städtischen« Weise verändert würde.75 Kurze Zeit später, in den 1980er Jahren war die »Großstadteuphorie«, die Versuche der »Verstädterung« des Dorfes ohnehin Vergangenheit; die städte- und wohnungsbaulichen Konzepte änderten sich erneut: es wurde beschlossen, dass sich Neubauten wieder dem bäuerlichen Stil anpassen müssten. Dies entsprach einem neu erwachten Interesse an der »Dorf-Thematik«, wie Tilman Harlander formulierte, die mit einer neuen Wertschätzung des Dorfes einherging.76 Damit einher ging die Wiederentdeckung »historisch überkommener Qualitäten«77. So wurde in Martinsried beispielsweise die Anpassung an die ursprüngliche ländliche Struktur des Kirchenumfeldes gefordert, der Gemeinderat legte Wert auf »Hofbildung« und auf stilistische Anpassung der künftigen Neubauten an die einstige bäuerliche Bauweise.78 Dass man sich in Planegg bzw. in Martinsried so vieler Gedanken gemacht, wie die erwarteten Wissenschaftler in das Gemeindeleben zu integrieren seien, wie viele in Martinsried wohnen und welche Bauweise sie bevorzugen würden, ist angesichts der anfänglichen Skepsis gegenüber der Wissenschaftsansiedlung durchaus bemerkenswert, zumal die Planungen die Überschreibung ländlicher Strukturen mit städtischen Elementen mit einer hohen Zahl von dort wohnenden Wissenschaftler zu akzeptieren schien. Im Folgenden soll die Haltung der lokalen Bevölkerung und der Gemeindevertreter betrachtet und deren Argumentationsmuster, Interesse und Ziele gegenüber dem Ausbau ihres Ortes zu einem Biotechnologiestandort analysiert werden. Dabei geht es wesentlich darum, diese »lokalen Technik- und Wissenschaftsdiskurse« mit Debatten um die Biotechnologie/Gentechnologie auf nationaler und internationaler Ebene zu kontrastieren. Insbesondere soll zwei Fragen nachgegangen werden: erstens, inwieweit sich lokale Technik- und Wissenschaftsdiskurse von nationalen und internationalen Diskursen unterscheiden bzw. inwieweit sie in einem rein lokalen Geltungshorizont verharren. Zweitens soll untersucht werden, wie Wissenschaftler und Bevölkerung miteinander kommunizierten, wie sich das Verhältnis von Wissenschaft und Öffent75 Ebd. 76 Vgl. T. Harlander: Wohnen und Stadtentwicklung, S. 356. 77 Werner Durth: Die Inszenierung der Alltagswelt. Zur Kritik der Stadtgestaltung, Braunschweig, Wiesbaden 1988, 2. Auflage, (1. Auflage 1977). 78 Vgl. SZ, 26./27. August 1989, S. 22. 187

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lichkeit auf lokaler Ebene gestaltete und vor allem, ob und wie es sich historisch wandelte.

5.4. Die Debatte um Gentechnologie: Zur Räumlichkeit von Wissenschaftsund Technikdiskursen Martinsried ist ein Standort der so genannten »roten«, das heißt, der auf medizinische Zwecke gerichteten Biotechnologie, im Gegensatz zur »grünen« Biotechnologie, die sich mit Fragen der Landwirtschaft, der Ernährung beschäftigt. Üblicherweise wird auf eine Definition der OECD zurückgegriffen, wonach Biotechnologie verstanden wird als »Anwendung von wissenschaftlichen und technischen Prinzipien zur Herstellung von Materialien mit Hilfe biologischer Prozesse, um Waren und Dienstleistungen anzubieten«.79 Wie vielfach in der Forschung betont, stellt die Biotechnologie eine sehr alte Kulturtechnik dar.80 Üblicherweise wird auf schon bei den alten Ägyptern stattfindende Fermentationsprozesse oder auf die Anwendung biologischer Prozesse wie der Hefe-, Sauerteig-, der Bier-, Wein- und Käseherstellung im Altertum verwiesen.81 Dies wird heute als die »klassische« Biotechnologie bezeichnet. Dem folgte die »moderne« Biotechnologie, die auf mikrobiellen Prozessen basierte. Die theoretischen Grundlagen wurden durch die Arbeiten Pasteurs Mitte des 19. Jahrhundert gelegt. Wie Robert Bud schrieb, prägte der ungarische Agraringenieur Karl Ereky den Begriff Biotechnologie im Jahr 1917 im Kontext seiner Bemühungen, die traditionelle bäuerliche Wirtschaft durch eine kapitalistisch orientierte Landwirtschaft zu ersetzen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierte.82 In den späten 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Biotechnologie in große deutsche Enzyklopädien wie Meyers Lexikon und 79 Zitiert nach Robert Bud: Wie wir das Leben nutzbar machten. Ursprung und Entwicklung der Biotechnologie, Braunschweig, Wiesbaden 1995 (engl. Original 1993), S. 2. 80 Einen Überblick über die sozialwissenschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Forschung zur Biotechnologie bietet Inken Rebentrost: Das Labor in der Box. Technikentwicklung und Unternehmensgründung in der frühen deutschen Biotechnologie, Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte. Band 16, München 2006, S. 13ff. 81 Vgl. Luitgard Marschall: Im Schatten der chemischen Synthese. Industrielle Biotechnologie in Deutschland (1900-1970), Frankfurt, New York 2000, S. 16. 82 Vgl. R. Bud: Leben, S, 41ff. 188

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Brockhaus aufgenommen. Dabei betonte man die Bedeutung von Mikroorganismen für Produktionsprozesse.83 Seitens der deutschen chemischen Industrie bestand lange Zeit kein Interesse an biotechnologischen Verfahren.84 Erst in späten 1960er Jahren wurde die industrielle Biotechnologie85 und in den 1980er Jahren schließlich die Gentechnologie zum Objekt der Technologiepolitik und ausgeprägter ökonomischer Interessen. Ihre Brisanz erhielt die Biotechnologie mit der Entdeckung der Technik der rekombinanten DNA, die nicht nur eine tief greifende Zäsur in der Geschichte der Molekularbiologie86, sondern, wie man ohne Übertreibung sagen kann, der Menschheit darstellt. Herbert W. Boyer von der University of California in San Francisco und Stanley N. Cohen von der Stanford University gelang es, einzelne Abschnitte aus dem Erbgut von Bakterien auf andere Bakterien zu übertragen. In verschiedenen Versuchen glückte es ihnen, das Erbsubstanzmolekül DNA an bestimmten Stellen aufzuschneiden, die DNA-Bruchstücke in das Erbgut anderer Organismen einzuschleusen und dort aktiv werden zu lassen. Dieses Schlüsselexperiment veröffentlichten sie im November 1973 in »Science«. Dieser gezielte Transfer von Erbmaterial wird als »Geburtsstunde der Gentechnik« bezeichnet.87 Dies stellt zugleich die Grundlage einer neuen Biotechnologie dar,88 die nun nicht mehr mit existierenden Mikroorganismen arbeitet, um Produkte herzustellen, sondern neue, in der Natur nicht existierende herstellt. Mit der Technik der rekombinanten DNA ist es möglich geworden, Eingriffe über Artgrenzen hinweg vorzunehmen, systematisch in die Genotypen von Organismen einzugreifen und Faktoren zu verändern, die bislang als weitgehend unveränderbar galten: Man kann in biologische Gegebenheiten konstitutiv nach eigenen Erfordernissen eingreifen und sie modifizieren.89 Robert Bud 83 Vgl. ebd., S. 46. 84 Vgl. L. Marschall: Schatten. 85 Die industrielle Mikrobiologie beschäftigt sich mit der Nutzung von Mikroorganismen für die Produktion bestimmter Nahrungs-, Genuss- und Arzneimittel. 86 Vgl. S. Chadarevian: Designs, S. 362. Einen Überblick über die Geschichte der Molekularbiologie bietet Hans-Jörg Rheinberger: »Kurze Geschichte der Molekularbiologie«, in: Ilse Jahn (Hg.), Geschichte der Biologie, Heidelberg, Berlin 2000 (3. Auflage), S. 642-663 und Michel Morange: A History of Molecular Biology, Oxford 1998. 87 Vgl. Michael Emmerich: »Vorwort«, in: ders. (Hg.), Im Zeitalter der Bio-Macht. 25 Jahre Gentechnik – eine kritische Bilanz, Frankfurt am Main 1999, S.9 88 Vgl. R. Bud, Leben, S. 214. 89 Vgl. Hans-Jürgen Aretz: Kommunikation ohne Verständigung. Das Scheitern des öffentlichen Diskurses über die Gentechnik und die Krise des 189

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sprach daher im Hinblick auf die neue Biotechnologie von der »Hochzeit« der modernen Biotechnologie mit der Genetik.90 Kurz zusammengefasst, geht die neue Biotechnologie damit auf zwei wesentliche Stränge zurück: die »klassische« Biotechnologie, die über Fermentenationsprozesse und schließlich mit ihrer Verwissenschaftlichung seit dem 19. Jahrhundert mikrobiologische Prozesse zur Produktion zu nutzen versuchte, sowie andererseits auf die Entdeckung der Technik der rekombinanten DNA. Die neue Biotechnologie beschränkt sich mithin nicht mehr darauf, vorhandene mikrobiologische Prozesse industriell zu verwerten, sondern greift in die Gene selbst ein, um mit manipulierten Organismen industrielle Produkte zu fertigen. Der Grundgedanke bzw. die Kontinuität biotechnologischer Verfahren, die historisch verschiedene Ausformungen und verschiedene Reichweiten erfuhren, besteht dabei darin, das Lebendige als Maschine einzusetzen, Organismen als »Fabriken« zu nutzen. Dies reicht von der Idee des bereits erwähnten Erekys, das Schwein sei eine Maschine, die sorgfältig berechnete Futtermengen in Fleisch umwandelte (»eine biotechnologische Arbeitsmaschine«)91 über die Vorstellung, Bakterien zur biologischen Abwasserreinigung zu nutzen, oder mit biotechnologischen Verfahren Medikamente oder neues Gewebe herzustellen. Entsprechend der Brisanz solcher Forschungstätigkeiten führte die Gentechnologie zu heftigen Kontroversen um die Sicherheit dieser neuen Technologie sowie zu einer ethischen Debatte über die Grenzen dessen, was Wissenschaft darf, wie menschliches Leben zu definieren sei, darüber ob das »Leben« etwas sei, was unantastbar oder vielmehr gestaltbar ist. In der Bevölkerung rief sie vielfach Ängste und Befürchtungen hervor. Gentechnologie hat(te) in Deutschland kein positives Image;92 in der Zeit von 1980 bis 1987 wurde das »Meinungsklima gegenüber der Gentechnologie« sogar »zunehmend negativer«. Neben militärischen Technologien und friedlicher Kernenergienutzung war die Akzeptanz gegenüber keiner anderen technischen Entwicklung so gering wie gegenüber der Gentechnologie.93 In Martinsried stellte das Institut für Biochemie zu Beginn der 1970er Jahre den Ausgangspunkt für die Entwicklung zu einem Bio-

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Technokorporatismus in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt 1999, S. 29. Vgl. R. Bud: Leben, Kapitel 8. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 275. Vgl. K. Brodde: Angst, S. 19. Vgl. sehr differenziert zur Frage der Einstellung der Bevölkerung zur Gentechnik: Jürgen Hampel/Uwe Pfennig: »Einstellungen zur Gentechnik«, in: Jürgen Hampel/Ortwin Renn (Hg.), Gentechnik in der Öffentlichkeit. Wahrnehmung und Bewertung einer umstrittenen Technologie, Frankfurt, New York 1999, S. 28-55.

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technologie-Cluster dar, ohne dass dies damals allerdings auch nur zu ahnen war. Aus Sicht der Bevölkerung hatte die Max-Planck-Gesellschaft »einen guten Namen« und man brachte ihr und ihrem wissenschaftlichen Tun keine Skepsis entgegen. Entsprechend verhielt sich die Bevölkerung hinsichtlich der Wissenschaft als solcher unaufgeregt. Die Entscheidung, sich letztlich den »Notwendigkeiten einer Wissenschaftsansiedlung« zu beugen, um sich nicht gegen das Gemeinwohl zu sperren, wie die Gemeinde selbst betonte, spiegelt vielmehr die Achtung vor der Wissenschaft als Institution und ihre Einschätzung als einer Institution des Gemeinwohls, der lokale Interessen unterzuordnen seien. 1984 wurde in Martinsried ein Genzentrum eröffnet, in den 1990er Jahren folgte die Transformation zu einem Biotechnologie-Standort. Der Wissenschaftsort wurde zu einem Technologieort, ohne dass allerdings die Biotechnologie als solche zu einem wesentlich umstrittenen Thema einer öffentlichen Debatte geworden wäre. Bei der Eröffnung des Genzentrums wurde Ernst-Ludwig Winnacker in der Süddeutschen Zeitung mit der Versicherung zitiert, dass die Gentechnik »bestimmte Wege nicht zu gehen, die entsprechenden Grenzen nicht zu überschreiten« vorhabe. Dazu gehörten, so Winnacker, der Verzicht auf die »Manipulation an Keimbahnen des Menschen und Versuche der Klonierung von Menschen«.94 Die Martinsrieder Bevölkerung nahm von solchen Aussagen, die brisante Themen berührten, keine Notiz. Soweit es die öffentliche Berichterstattung, die Gemeinderatsprotokolle und die geführten Interviews erkennen lassen, kam es weder zu weiteren Nachfragen noch zu Auseinandersetzungen, Erklärungsnotwendigkeiten oder gesteigerten Legitimationsnotwendigkeiten seitens der Wissenschaft. Nicht zuletzt die Versicherung, dass man nicht klone, verwies jedoch bereits auf das Potential der Wissenschaft, die in Martinsried angesiedelt war und die in den USA knapp ein Jahrzehnt zuvor zu heftigen Kontroversen um die Sicherheit dieser neuen Technologie geführt hatte. Unruhe, Besorgnis und Fragen nach der Sicherheit der Wissenschaft kamen in Martinsried erst in den 1990 auf, als die Zahl der biotechnologischen Unternehmen rasant anstieg. Martinsried spiegelte damit die in Deutschland spät einsetzende Diskussion um die Gentechnologie wider. Trotz verschiedener, Aufsehen erregender Debatten in den USA wurde sie in Deutschland erst in den 1980er Jahren zum Thema.95 Nach einer Repräsentativumfrage der For94 SZ, 9. Mai 1984, S. 6. 95 Im Juni 1979 wurde die Abteilung Sozialwissenschaft des Battelle-Instituts mit der Ausrichtung einer Anhörung zur Neukombination von Genen beauftragt. Vgl.: Chancen und Gefahren der Genforschung. Protokolle und Materialien zur Anhörung des Bundesministers für Forschung 191

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schungsgruppe Wahlen für das ZDF im Jahr 1985 kannten 85% der Bevölkerung das Wort »Gentechnologie« sogar nicht.96 Um die Jahrtausendwende erhielt sie jedoch im Kontext spektakulärer Ereignisse wie der Entzifferung des Gens, der Klonung Dollys und der Stammzellenforschung völlig neue Aufmerksamkeit. Gleichwohl verblieben die Diskurse in Martinsried, wie zu zeigen sein wird, auch in den 1990er Jahren eher im lokalpolitischem Horizont. Man war mit lokalpolitischen Fragen beschäftigt und beschränkte sich auf diese.

5.4.1. Diskurse um die Gentechnologie Am Diskurs um die Gentechnologie waren und sind Mediziner, Naturwissenschaftler, Juristen, Philosophen, Theologen, Sozialwissenschaftler, Sprecher von Behindertenverbänden, Frauenbewegung sowie lokale Akteure mit ihren lokalen Sorgen beteiligt. Eine Diskursgeschichte der Biotechnologie bzw. der Gentechnik, die die verschiedenen Akteure und Ebenen, also offiziell-politische Texte, Zeitungen, Zeitschriften, wissenschaftliche Veröffentlichungen, Populärwissenschaft, Romane, Bilder oder Film untersucht und im historischen Wandel analysiert, wäre erst noch zu schreiben.97 Gleichwohl sind einige wegweisende Studien erschienen. Beachtung fand z.B. die Sprache des Diskurses, seine Metaphern. Evelyn Fox-Keller, Lily Kay und Christina Brandt setzten sich mit der Schrift- und Informationsmetaphorik der Genetik auseinander.98 Auf die Verbindung der Gentechnik mit religiösen Bildern, mit Göttlichkeit, Schöpfungsmythen sowie mit prämodernen Elementen wurde hingewiesen.99 Nelkin/Lindee untersuchten »das Gen« als »kulturelle Ikone«, seine häufig essentialistische Konnotationen in der Populärkul-

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und Technologie in Bonn, 19. bis 21. September 1979, hg. von J. Schariot/R. v. Gizycki. München, Wien 1980. Vgl. K. Brodde: Angst, S. 18. Zu verweisen ist hier auf Robert Bud, der den Wandel des Begriffes »Biotechnologie« im Laufe des 20. Jahrhunderts untersuchte, vgl. R. Bud, Leben. Vgl. Christina Brandt: Zum Gebrauch von Metaphern und Symbolen. Metaphorologische und historische Notizen zum Schrift- und Informationsdiskurs in den Biowissenschaften, Göttingen 2004, Evelyn Fox-Keller: Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert, München 1998, Thomas von Schell/Rüdiger Seltz (Hg.), Inszenierungen zur Gentechnik, Wiesbaden 2000, Lily Kay: »Wer schrieb das Buch des Lebens? Information und Transformation der Molekularbiologie«, in: Michael Hagner (Hg.), Objekte, Differenzen und Konjunkturen. Experimentalsysteme im historischen Kontext, Berlin 1994, S. 151-179. Vgl. Linus S. Geisler: »Träume und Visionen von Biowissenschaftlern«, in: T. v. Schell/R. Seltz: Inszenierungen, S. 132-141.

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tur, in der es als Essenz von Identität, als Schlüssel aller menschlichen Beziehungen, Verhaltens und sozialer Unterschiede erscheint: »Narratives of genetic essentialism are omnipresent in popular culture«.100 Des Weiteren wurde die Darstellung der Gentechnologie in Medien untersucht oder die Einstellung der Bevölkerung zu ihr.101 Eine Diskursgeschichte müsste allerdings auch historisch vorgehen, indem sie die Diskurse um die Biotechnologie seit dem 19. Jahrhundert beobachtet und ihre Kontinuitäten und Brüche untersucht. Vor allem wäre der Frage nachzugehen, welche Zuschreibungen, Assoziationen, Legitimationsmuster, Hoffnungs- und Schreckenszenarien, welche gesellschaftlichen und ökonomischen Kontexte im gesamten 20. Jahrhundert jeweils mit der Bio- bzw. der Gentechnologie verbunden waren. Insbesondere wäre dabei zu fragen, was im öffentlichen Diskurs nicht gesagt wird bzw. worüber die Medien nicht berichten. Denn viel häufiger werden in den Medien Erfolge als Misserfolge gemeldet.102 Eine Geschichte der fehlgeschlagenen Experimente wäre ein Horrorszenario, das zumeist nicht erzählt wird und an Virilios Idee erinnert, ein Museum der Unfälle zu gründen – das auf wenig Gegenliebe der Politik stieß. Es ist hier jedoch nicht der Ort, eine umfassende Diskursgeschichte der Biotechnologie oder auch nur der Gentechnologie zu schreiben,103 vielmehr soll im folgenden ein skizzenhafter Überblick über Zuschreibungen, Assoziationen, Hoffnungen und Befürchtungen, mit denen die gentechnisch basierte Biotechnologie einhergeht, gegeben werden, um anschließend nach den lokalen Argumentationsmustern im Kontext des Ausbaus eines Biotechnologiestandortes zu fragen. 100 Dorothy Nelkin/M. Susan Lindee: The DNA Mystique. The Gene as a Cultural Icon, New York 1995, S. 198. Vgl. auch José von Dijck: Imagination. Popular Images of Genetics, New York 1998. 101 Vgl. z.B. international vergleichend: John Durant/Martin W. Bauer/ George Gaskell (Hg.), Biotechnology in the Public Sphere, London 1998; George Gaskell/Martin W. Bauer (Hg.), Biotechnology 1996-2000, London 2000. Zur Gentechnologie in den Medien stammen viele Untersuchungen aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaft, so etwa: K. Brodde: Angst, S. 53ff. Zur parlamentarischen Biotechnologiedebatte vgl. Christa Lang-Pfaff: »»Dem Gen auf der Spur«: Biotechnologiepolitik und Sprache in der Bundesrepublik Deutschland. Eine politikwissenschaftliche Analyse der Biotechnologiedebatte 1984-1988«, in: Manfred Opp de Hipt/Erich Latniak (Hg.), Sprache statt Politik? Opladen 1991, S. 91-121, Siegfried Jäger/Margret Jäger: »Der biopolitische Diskurs in deutschen Printmedien. Ergebnisse einer diskursanalytischen Untersuchung«, in: T.v. Schell/R. Seltz: Inszenierungen, S. 246-266, vgl. J. Hampel/O. Renn (Hg.), Gentechnik. 102 Vgl. D. Nelkin: DNA Mystique. 103 Wesentlich hierzu die bereits mehrfach erwähnte Arbeit Robert Buds. 193

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Zur Ambivalenz einer Technologie Die Gentechnologie wurde zum Hoffnungsträger für die Lösung und Beseitigung ganz existentieller Probleme. Die Heilung von Krankheiten, die Verschiebung des Todes, das Ende des Hungers in der Welt, die Lösung von Ressourcenproblemen schienen in den Horizont des Möglichen zu geraten. Darüber hinaus offenbaren sich Machbarkeitsphantasien von der Auswahl und dem Design von Babys, von der Verschönerung und »Optimierung« der Menschheit. Die euphorischen Versprechungen sind mithin nicht minder utopisch als bei der frühen Atomdiskussion. In Deutschland begann eine Debatte um die Gentechnik Mitte der 1980er Jahre.104 Sie veranschaulicht überdeutlich eine tiefe Ambivalenz gegenüber Wissenschaft und Technik, die seit den 1970er Jahren eine neue Dimension erfahren hatte. Prinzipielle Ablehnung, grundsätzliche Befürchtungen, diffuse Ängste standen den hochfliegenden Erwartungen an ganz neuartige Potentiale zur Lösung verschiedenster Probleme gegenüber. So ging die Gentechnologie einher mit Hoffnungen auf eine ökologisch verträgliche und sanfte Technologie sowie auf die Beseitigung von Hunger und auf die Lösung von Ressourcenproblemen. Gerade im Kontext der entstehenden Umweltbewegungen wurde die »natürliche« Biotechnologie zum Hoffnungsträger einer umweltfreundlichen, rohstoffschonenden Technologie.105 Stichworte waren die Verwendung nachwachsender Rohstoffe und die biologische Abbaubarkeit aller Neben-, Zwischen- und Endprodukte. Die Verbesserung der Natur, die »Verbesserung« der Pflanzen und ihre effizientere Ausnutzung sollten Hunger und Krankheiten beseitigen helfen. War schon die moderne Biotechnologie der späten 1960er und der 1970er Jahre mit solchen Hoffnungen verbunden, so steigerten sich diese Erwartungen mit der gentechnisch basierten Biotechnologie. In den 1980er und 1990er Jahren wiederholten sich die Versprechungen, Hungerprobleme sowie ökologi-

104 Nach einer ersten Anhörung zum Thema Gentechnik im Jahr 1979 (Chancen und Gefahren der Genforschung, 1980) hat der Bundestag 1984 eine Enquetekommission unter dem Motto »Chancen und Risiken der Gentechnik« eingesetzt. Dazu siehe: Chancen und Risiken der Gentechnologie. Dokumentation des Berichts an den Deutschen Bundestag. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, Hg. von WolfMichael Catenhusen/Hanna Neumeister, München 1987. Zur Zusammensetzung der Kommission siehe H.J. Aretz: Kommunikation, S. 229. Interessant ist der Sprachwandel von Gefahren zu Risiken. 105 Vgl. R. Bud: Leben, S. 163 und 192f., L. Marschall: Schatten, S. 11. 194

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sche Probleme könnten mittels Gentechnologie gelöst werden.106 Man hoffte z.B. Bakterienstämme entwickeln zu können, die ausgelaufenes Erdöl in Eiweiß verwandeln, umkonstruierte Mirkoorganismen sollten organische Abfälle aus Schlachthöfen in nutzbringende Produkte verwandeln.107 Die als zu gering betrachtete »Energieausbeute der meisten Nutzpflanzenarten bei der Photosynthese« sollte verbessert werden.108 Gentechnologie wurde gar als Lösung für die von der Studie »Grenzen des Wachstums« aufgezeigten Probleme gesehen. Die Grenzen könnten nun überwunden werden, so der damalige Forschungsminister Riesenhuber,109 der damit das gleichzeitig kritisierte Fortschrittsparadigma weiterführte. Die neue Technologie galt als Lösung für die Probleme der Industriegesellschaft, die sich gerade mit den Folgen von Technik und Wissenschaft auseinandersetzte. Die Gentechnologie wurde in diesem Kontext als »Umweltverbesserer« stilisiert.110 Politiker sparten nicht mit Hinweisen auf eine »verfeinerte Technik der Zukunft«, die in Gegensatz gestellt wurde zur »groben Technik« der Vergangenheit. Das Ende von Krankheit und Hunger, das Aufschieben des Todes sowie die Schaffung eines Füllhorns nie endender Ressourcen stellen mithin eine Konstante des biotechnologischen Diskurses dar.111 Mit anderen Worten: Die Palette der üblichen Hoffnungen wurde und wird aufgerufen. Und nicht wenige Wissenschaftler argumentierten damit, dass es geradezu eine moralische Pflicht und gesellschaftliche Verantwortung sei, die Möglichkeiten der Gentechnik zur Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse zu nutzen.112 Gleichzeitig fanden sich Ängste vor Chimären, Riesenschweinen, kahlen Agro-Industrielandschaften oder »Tomoffeln« (eine Kreuzung aus Tomaten und Kartoffeln), aber auch vor nicht rückholbaren Viren 106 Vgl. Robert Bud: »Molecular Biology and the Long-Term History of Biotechnology«, in: Arnold Thackray (Hg.), Private Science. Biotechnology and the Rise of the Molecular Sciences, Philadelphia 1998, S. 3-19, hier S. 4. Vgl. auch H.-J. Aretz: Kommunikation, S. 154. 107 Vgl. Jost Herbig: Die Gen-Ingenieure. Durch Revolutionierung der Natur zum Neuen Menschen? München, Wien 1978, S. 20f. 108 Vgl. ebd., S. 22. 109 Wie Aretz betont, der die Grundzüge der Forschungspolitik von CDU/ CSU analysiert, sah Riesenhuber in der internationalen Konkurrenz den Ausgangspunkt und in der internationalen Konkurrenzfähigkeit das Ziel der Forschungspolitik. H.-J. Aretz: Kommunikation, S. 224. 110 Vgl. Engelbert Schramm: »Die Antworten der Gentechnik auf die Umweltproblematik«, in: P. Kruse (Hg.), Gen-Welten, S. 102-108. 111 Vgl. Thomas von Schell: »Die Welt ist kompliziert geworden. Wer wollte das leugnen?«, in: T.v. Schell/R. Seltz (Hg.), Inszenierungen, S. 12-32, hier S. 19. 112 Vgl. dazu H-J. Aretz: Kommunikation, z.B. S. 145 oder S. 159. 195

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oder Bakterien mit Folgen, die einen atomaren Supergau in den Schatten stellen könnten.113 Vor allem die Partei der Grünen machte die Gentechnologie verstärkt zum Thema der Politik. Sie thematisierten die möglichen Folgeprobleme unabsehbaren Ausmaßes in ökologischer und gesundheitlicher Hinsicht und lehnten eine Förderung der Gentechnologie grundsätzlich ab.114 Diskutiert wurde die Frage der Beherrschbarkeit technischer Risiken und des militärischen Missbrauchs; die Gefahren einer »Menschenzüchtung« wurden gezeichnet sowie grundsätzliche Zweifel an der ethischen Legitimität dieser Eingriffe in die genetischen Grundlagen geäußert.115 Diese Hoffnungen und Versprechungen, die mit der Gentechnologie einhergehen, sind jedoch uralte, die mit der Technik der rekombinanten DNA neue Nahrung fanden. Konzepte der »systematischen Verbesserung« des Menschen und seiner Lebensbedingungen präsentieren sich als eine Konstante der Moderne. In Bacons Nova Atlantis finden sich bereits utopische Hoffnungen auf die Heilung von Krankheiten oder darauf »in manchen Fällen das Leben zu verlängern«116. Einer der Väter des Hauses Salomon verkündet seinen Besuchern gar stolz, dass die Forscher »auf künstlichem Wege [...] manche Tiere größer und schlanker (machen) als sie es ihrer Natur nach sind, während wir andere in Zwergformen umwandeln [...]. Wieder andere machen wir fruchtbarer oder zeugungsfähiger, als es ihrer Natur entspricht, andere dagegen unfruchtbarer und zeugungsunfähig. Auch in bezug auf Farbe, Körperform und Aktivität können wir sie auf verschiedene Weise verändern.«117

Die Idee Bacons, die Menschheit derart zu kontrollieren und zu verändern, findet sich kontinuierlich in verschiedenen Ausformungen auch im 20. Jahrhundert. Gleichwohl erhielt der Grundgedanke der Gestaltung des Menschen, der Veränderung seiner »natürlichen Ausstattung«, der Tiere und der Pflanzen historisch unterschiedliche Ausprägungen und Ausrichtungen. Lily E. Kay analysierte die seit den 1930 und 1940er Jahren in den USA bestehende »molecular vision of life«, wie sie unter Wissenschaftlern bestanden hätte, die glaubten, in der Molekularbiologie einen

113 Vgl. Thomas Kluge: »Haltlose Ethik«, in: Ästhetik und Kommunikation 18 (1988), S. 47.-54. 114 Vgl. Engelbert Schramm: »Grüne Gene«, in: ebd., S. 39f. 115 Vgl. Chancen und Risiken der Gentechnologie, S. IX. 116 F. Bacon: Neu-Atlantis, S. 44. 117 Ebd., S. 47. 196

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Schlüssel zur Kontrolle der »human physiology« zu finden.118 Besonders krasse Ausformung der Eugenik stellte die Rassenhygiene im nationalsozialistischen Deutschland dar.119 Trotz der grausamen eugenischen Versuche und Ziele der Nationalsozialisten war die Vorstellung der Verbesserung des Menschen mittels der Ausnutzung erbbiologischer Kenntnisse damit nicht aus der Welt. Der Biochemiker Edward Tatum, forderte bereits 1950 zum Nachdenken über die Chancen der Genetik auf und hoffte auf die Möglichkeit, Erbkrankheiten beseitigen zu können.120 Über das Ciba-Symposium »Man and His Future« zu Beginn der 1960er Jahre, das zum Nachdenken über die Möglichkeit anregen wollte, »…to use the immense creative opportunities for a happier and healthier world«,121 wurde in der Forschung bereits vielfach berichtet. Auf diesem Symposium äußerten sich Wissenschaftler wie Julian Huxley, H.J. Muller, J.B.S. Haldane optimistisch über die Möglichkeiten der Manipulationen am menschlichen Erbgut.122 Viele der Beiträge des Ciba-Symposiums zeichneten sich durch einen ungebrochen Optimismus der Machbarkeit aus. Man hoffte, die Evolution »verbessern« zu können,123 man glaubte, an die positive Macht des Wissens als Quelle von Verbesserungen,124 hoffte die Qualität der menschlichen Gene mittels eugenischer Methoden erhöhen zu können, die Gesundheit, den IQ der Menschheit zu steigern.125 Die Vorschläge reichten von der Lizenzierung von Geburten bis zur Sammlung gefrorenen Spermas von ausgewählten Spendern.126 Erwin Chargaff bezeichnete die auf dem Symposium geäußerten Ideen als einen »Musterkatalog der Hölle«.127 Die Möglichkeiten der rekombinanten DNA eröffneten solchen Konzepten der Verbesserung des Menschen völlig neue Horizonte und 118 Vgl. Lily E. Kay: »Problematizing Basic Research in Molecular Biology«, in: A. Thackray (Hg.), Private Science, S. 20-38, hier S. 24. 119 Vgl. dazu: Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, Paul Weindling: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, Cambridge 1993. Zur eugenischen Bewegung in USA siehe: R. Rushton: Genetics and Medicine in the United States, Baltimore 1994. 120 Vgl. R. Bud: Leben, S. 219. 121 Man and His Future. A Ciba Foundation Volume. Ed. By Gordon Wolestenholme. Boston, Toronto 1963. Preface, V. 122 Vgl. R. Bud: Leben, S. 219. 123 Vgl. Julian Huxley: »The Future of Man – Evolutionary Aspects«, in: Man and His Future, S. 1-22, hier S. 6. 124 Vgl. ebd., S. 7. 125 Vgl. z.B. dazu: Joshua Lederberg: »Biological Future of Man«, in: Man and His Future, S. 263-273. 126 Vgl. S. Chadarevian: Designs, S. 349. 127 E. Chargaff: Naturwissenschaft, S. 17. 197

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führten daher zu einer Diskussion ethischer Fragen. In Deutschland entbrannte eine Debatte in den 1980er Jahren. Eine Anhörung des Bundesforschungsministerium Forschung und Technologie aus dem Jahr 1979 hatte sich bereits mit »Nutzen und Risiken«128 befasst und griff die Frage nach der »wissenschaftlichen Verantwortung der Gen-Forscher gegenüber der Gesellschaft« auf, die es während der Anhörung auszuloten galt, um der Frage nachzugehen, ob die Forschungsarbeiten »sozial, ethisch und politisch zu verantworten sind«.129 Diesem Themenkomplex wurde allerdings nur ein Zeitraum von neunzig Minuten gewidmet – angesichts der fundamentalen ethischen Fragen ausgesprochen wenig Zeit.130 Zudem entstand sogleich zu Beginn ein Streit darüber, ob die Diskussion in eine breitere Fortschrittsdebatte einzuordnen sei, was, so einer der Teilnehmer, jedoch als ein »philosophisches und kulturelles Problem« zu weit führe.131 Debattiert wurden schließlich die Freiheit von Wissenschaft und Forschung, die Problematik genetischer Diagnosemöglichkeit, die Frage von Gesetzen und Richtlinien sowie die Mitwirkung der Öffentlichkeit. Es folgten Mitte der 1980er Jahre Enquetekommissionen des Bundestages bis hin zum umstrittenen nationalen Ethikrat, den Bundeskanzler Schröder einrichtete. Angesichts der Dynamik, die die Gentechnologie in der jüngsten Zeit entfaltete, stehen derzeit wieder ethische Grundpositionen zur Debatte, die sich mit ganz fundamentalen Fragen nach dem Menschsein befassen und Fragen nach dem »Anfang des Lebens«, der Würde des Embryos stellen.132 Bayertz und Runtenberg unterschieden drei Typen ethischer Argumentation: den »kategorischen« Argumentationstyp, der die Gentechnik als Grenzüberschreitung kritisiert (z.B. Jonas, Eibach, Löw), den »pragmatischen« Argumentationstyp, der die Bedingungen zu formulieren versucht, die die Anwendung der Gentechnik zulässig mache und der es als unverantwortlich ansieht, sie den Kranken vorzuenthalten, und schließlich der »gesellschaftspolitische« Argumentationstyp, der sich mit sozialen und politischen Folgen der Gentechnologie, beispielsweise der Möglichkeit der »Gendiskriminierung«, der Diskriminierung von Behinderten oder der vorgeburtlichen Diagnostik befasst.133 128 129 130 131

Volker Hauff: »Eröffnungsansprache«, in: Chancen und Gefahren, S. 1. Ebd., S. 1 Vgl. Chancen und Gefahren, S. 207. Vgl. Prof. Dr. F. Cramer, MPI für experimentelle Medizin in: Chancen und Gefahren, S. 212 132 Vgl. T. Kluge: Ethik. 133 Vgl. Kurt Bayertz/C. Runtenberg: »Gen und Ethik«, in: Marcus Elstner (Hg.), Gentechnik, Ethik und Gesellschaft, Berlin, Heidelberg 1997, S. 107-121. 198

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5.4.2. Die Stimme der Bevölkerung: Vom Diskurs der Wissenschaftler zu einem Topos der öffentlichen Debatte Lassen sich also im Hinblick auf Hoffnungen zur Überwindung von Krankheit, Alter, Hunger und Tod und hinsichtlich der Konzepte einer Optimierung von Mensch und Natur Kontinuitäten finden, die sich keineswegs auf das 20. Jahrhundert beschränken, so stellte die Möglichkeit der rekombinanten DNA (rDNA) zweifellos eine scharfe Zäsur in der gesellschaftlich Bedeutung der Biotechnologie dar. Koinzidierte die Entwicklung der rDNA Anfang der 1970er Jahre mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in den USA und Europa, die ohnehin auf eine größere politische Partizipation drängten, so erhielt die Gefahr, die mit der Möglichkeit der Genmanipulation einherging, eine Dimension, die den Ausschluss der Öffentlichkeit kaum mehr möglich machte. Die Konferenz von Asilomar im Jahr 1975 markiert den Beginn einer wissenschaftlichen, öffentlichen und politischen Debatte über die Regulierung eines Forschungsfeldes.134 Oder wie Krimsky formulierte: «Since the early 1970s, scientists have become more attentive to public opinion. The rDNA affair represents a milestone in the establishment of a new dialogue between biomedical science and society.«135 Die Konferenz von Asilomar wird in der Geschichtsschreibung als Zäsur betrachtet und als »wissenschaftsgeschichtlich einmaliges Ereignis gefeiert«, so Radkau,136 der allerdings kritisiert, dass bereits 1975, also »in statu nascendi« anhand der Dokumentation der Tagung eine Geschichtsschreibung der Konferenz entstand, die zur Hauptgrundlage der Literatur wurde.137 Das Experimentieren mit rekombinanter DNA wird in der Geschichte der Risikodebatten um Technik insofern als ein besonderes Ereignis dargestellt, als Wissenschaftler damals selbst auf die Gefahren und ungeklärten Sicherheitsprobleme der neuen Technik verwiesen, mit ihren Bedenken an die Öffentlichkeit traten und ein Forschungsmoratorium 134 Vgl. Stefan Böschen: »Wissenschaftsfolgenabschätzung: Über die Veränderung von Wissenschaft im Zuge reflexiver Modernisierung«, in: Stefan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hg), Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 193-219, hier S. 201. 135 Sheldon Krimsky: Genetic Alchemiy. The Social History of the Recombinant DNA Controversy, Cambridge, London 1982, S. 179. 136 Joachim Radkau: »Hiroshima und Asilomar. Die Inszenierung des Diskurses über die Gentechnik vor dem Hintergrund der Kernenergie-Kontroverse«, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 329-363, hier S. 334. 137 Vgl. ebd., S. 33. 199

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forderten: Im Juli 1974 hatten elf führende Molekularbiologen unter dem Vorsitz von Paul Berg einen offenen Brief an die Zeitschrift Science geschrieben, in dem sie ihre Kollegen zu einem freiwilligen Moratorium aufriefen.138 Sie forderten Zeit für eine Diskussion der Sicherheitsfragen.139 In Folge des Aufrufes trafen sich vom 24. bis 27. Februar 1975 140 Wissenschaftler auf einem internationalen Kongress in Asilomar, um die Sicherheitsproblematik zu diskutieren.140 Das Ergebnis waren Sicherheitsprinzipien (vor allem eine Klassifizierung von Risiken), die in den folgenden Jahren vom National Institutes of Health zu detaillierten Sichherheitsrichtlinien ausgearbeitet wurden. Man definierte vier Risikostufen und dementsprechend vier Kataloge von Sicherheitsvorkehrungen.141 In den darauf folgenden Jahren wurde in den USA eine intensive Diskussion über die Rekombinationstechnologie geführt, die sich allerdings auf Sicherheitsfragen beschränkte, obgleich einige Kritiker darauf hinwiesen, dass die grundsätzliche Problematik mit der Auffassung, es sei ein reines Sicherheitsproblem, verkannt werde.142 Die Sicherheitsdebatte bewegte die Öffentlichkeit jedoch in der Frühphase des Gentechnikdiskurses weitaus mehr als beispielsweise ethische Probleme.143

138 Vgl. R. Bud: Leben, S. 228f., S. Chadarevian: Designs, S. 333f. 139 Verschiedene Sicherheitsbedenken rankten sich um die Arbeit mit rekombinanter DNA. So befürchtete man, es könne zur Schaffung von DNA mit unvorhersehbaren Eigenschaften kommen, neue bislang unbekannte Bakterien, Viren usw. entstehen, die unvorstellbare Auswirkungen haben könnten, wenn sie unkontrolliert in die Umwelt gelangen. Zudem war man skeptisch, inwieweit unbeabsichtigt neue Krankheitserreger erzeugt werden könnten, deren Virulenz von keinem natürlichen Feind gehemmt werden könnte. Vgl. Radkau, Hiroshima, S. 335. Vgl. auch H-J. Aretz: Kommunikation, S. 90. 140 Vgl. Stephan Falk: Die Geschichte der Molekularbiologie im Spannungsfeld zwischen reiner und angewandter Forschung, Frankfurt 1984. Es handelte sich um mehrere Konferenzen: die erste mit Sicherheitsfragen in der Biochemie/Molekularbiologie befasste Konferenz war die sogenannte Asilmor I Konferenz im Jahr 1973. Die breit rezipierte Asilomar Konferenz im Jahr 1975 war Asilomar II. Vgl. ausführlich dazu: H-J. Aretz, Kommunikation S. 88ff. 141 Vgl. H.-J. Aretz: Kommunikation, S. 93. 142 Vgl. S. Falk: Geschichte, S. 37. 143 Vgl. S. Krimsky: Genetic Alchemy. Er schildert, wie Sicherheitsfragen Biologen schon zu Beginn der 1970er Jahre beschäftigten. Auch er betont, dass Wissenschaftler vor allem selbst entscheiden wollten und sehr skeptisch gegenüber einer Öffnung der Debatte an die Öffentlichkeit waren. 200

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Auch wenn, wie Rifkin sarkastisch in seinem populärwissenschaftlichen Buch kolportiert, der finanzielle Eigennutz der Forscher sowie ihre Angst vor Schadensersatzforderungen zu den Sicherheitsrichtlinien geführt habe,144 oder wenn Krimksy die Konferenz von Asilomar vor allem als einen Versuch der Wissenschaftler darstellte, die Kontrolle zu behalten, indem sie ihr Verantwortungsbewußtsein präsentierten,145 so war die Konsequenz ihres Schrittes – ob sie das wollten oder nicht –146 ein enormes öffentliches Interesse, »an explosion of media attention«,147 das zu einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie Forderungen nach Mitentscheidungsmöglichkeiten führte.148 Hatten die Wissenschaftler in Asilomar noch versucht, die Medien als »pipeline« zu benutzen, um wie Nelkin betonte, ihre Autonomie zu bewahren und selbst über Fragen der Sicherheit zu entscheiden,149 so ließ es sich jedoch nicht verhindern, dass eine breite öffentliche Debatte entstand: »The debate burst into public view with the convening of the Asilomar conference in 1975«.150 Der Konferenz folgte eine Reihe lokaler Initiativen in verschiedenen Universitätsstädten. An vielen Orten entstand ein Diskurs, wurden Aushandlungsprozesse geführt, die nicht zuletzt Fragen der Neuabstimmung zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit aufwarfen. Zum ersten Mal wurden Bürgerforen eingerichtet.151 Diese erhoben ihre Stimme und forderten, bei der Frage der Sicherheit von Laboren, die mit rDNA arbeiten, in die Entscheidungen miteinbezogen zu werden.152 Mithin das bekannteste Beispiel stellt die Stadt Cambridge, Massachusetts, dar, in der Mitte der 1970er Jahre eine heftige lokale Debatte um die Einrichtung von Labors für rekombinierte DNA an der Harvard University und am MIT entbrannte.153 Nach Protesten des Bürgermeisters

144 Vgl. Jeremy Rifkin: Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Gentechnik, München 2000, S. 13ff. 145 Vgl. S. Krimsky, Genetic Alchemy sowie Dorothy Nelkin: »Beyond Risk. Reporting about genetics in the post-Asilomar press«, in: Perspectives in Biology and Medicine 44, 2 (2001), S. 199-207, hier S. 199. 146 Viele Forscher erschraken über die Diskursdynamik und sahen ihre Hoheit über die Definition von Problemen in Gefahr. Vgl. S. Böschen/I. Schulz-Schaeffer: Wissenschaft, S. 201. 147 S. Krimsky: Genetic Alchemy, S. 161. 148 Vgl. S. Falk: Geschichte, S. 21, 302 149 Vgl. D. Nelkin: Beyond Risk, S. 199 150 Nicholas Wade: »Biotechnology and its Public«, in: Joseph G. Perpich: Biotechnology in Society. Private Initiatives and Public Oversight, New York u.a. 1986. S. 165-169, hier S. 166. 151 Vgl. S. Böschen/I. Schulz- Schaeffer: Wissenschaft, S. 201. 152 Vgl. S. Krimsky: Genetic Alchemy, S. 294ff. 153 Dies ist hier sehr verkürzt geschildert. Vgl. ausführlich S. Krimsky: Genetic Alchemy, S. 298ff. und R. Bud: Leben, S. 233 sowie: J. L. Sullivan: 201

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gegen den Bau eines solchen Labors wurde ein »Cambridge Experimentation Review Board« eingerichtet, ein aus Cambridger Bürgern zusammengesetzter Untersuchungsausschuss, der sich in die Materie einarbeiten und die endgültige Entscheidung des Stadtrates zur Frage der Einrichtung des Labors vorbereiten sollte. Dieser Ausschuss sollte die Bevölkerung in Cambridge repräsentieren: So arbeiteten beispielsweise eine Krankenschwester, ein Heizölhändler, ein Bauingenieur, eine Hausfrau, eine Sozialarbeiterin, ein Soziologe, ein Arzt und eine Sekretärin in diesem Ausschuss, der darüber entscheiden sollte, ob und unter welchen Bedingungen in Harvard und am MIT mit rekombinierter DNA gearbeitet werden durfte. Der Untersuchungsausschuss nahm seine Arbeit sehr ernst; er traf sich zweimal wöchentlich von 16.30 bis 19. 00 Uhr, um die Sicherheitsfragen intensiv zu diskutieren. Schließlich stimmte der Ausschuss mit einigen wesentlichen Auflagen dem Bau eines Labors zu.154 Cambridge gilt in der Forschung als ein Präzedenzfall für die Involvierung gesellschaftlicher Gruppen in die Fragen der Wissenschafts- und Technikentwicklung: »The 1976 Cambridge rDNA controversy represented the birth of public involvement in genetic engineering. Prior to that, the issues were debated exclusively in professional groups and on university campuses, notably the University of Michigan.«155 Laien arbeiteten sich in eine komplizierte Materie ein und machten sich damit zu Experten. Die starre Grenze von Wissenschaftlern und passiver Bevölkerung, die lediglich über Gefahren von Wissenschaft und Technik »aufgeklärt« wird, wurde hier durchbrochen. Man vertraute nicht mehr dem Urteil der Wissenschaftler, sondern nahm die Anstrengung der Einarbeitung in wissenschaftliche Fragen auf sich, um selbst mitentscheiden zu können. So häufig der Cambridge-Fall jedoch zitiert wird, so sehr stellte er doch eine Ausnahme für die Einbindung von Bürgern in Entscheidungsprozesse zur Gentechnologie dar. Wie Krimsky schreibt, war es einfach, die Ereignisse zu romantisieren als »body politic against the intelligentsia, the ordinary folk against the elites«156. Aus dem Entscheidungsprozess über die nationalen Sicherheitsrichtlinien blieb die Öffentlichkeit jedoch, wie kritisiert wurde, weitgehend ausgeschlossen.157

154 155 156 157

202

»Beitrag zum Themenkreis 7 »Wissenschaft, Staat, Gesellschaft«, in: Chancen und Risiken der Genforschung, S. 241. Vgl. J. L. Sullivan: Beitrag, S. 243ff. S. Krimsky: Genetic Alchemy, S. 108. Ebd., S. 298. Vgl. N. Wade, in: Chancen und Risiken der Genforschung, S. 251. Vgl. vor allem: S. Krimsky: Genetic Alchemy.

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Gleichwohl, seit den 1970er Jahren werden verschiedene Konzepte einer Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen diskutiert wird.158 Dazu gehören Verfahren wie Mediation, so genannte »Konsensus-Konferenzen«,159 die Planungszelle160, Bürgerforen161 oder »scientific citizenship«162. Während in den USA eine öffentliche Diskussion um die Sicherheit der Gentechnologie geführt wurde, blieb in Deutschland der Diskurs über dieses Thema bis in die 1980er Jahre jedoch ausschließlich auf die betroffenen Fachkreise und die mit Sicherheitsvorschriften befassten wissenschaftlichen Stellen oder Wissenschaftsorganisationen beschränkt.163 Joachim Radkau warf die Frage auf, warum die Konferenz von Asilomar, die ungefähr zeitgleich mit Wyhl stattfand, in der AKW-Bewegung in Deutschland keine Resonanz fand.164 Er kommt schließlich zu der Einschätzung, dass die deutsche Öffentlichkeit zu sehr von der Kernkraft-Diskussion absorbiert war, um sich mit Fragen der Gentechnologie zu befassen.165 Dies verweist im übrigen auf das auffällige Phänomen der Verspätung der Diskurse um Wissenschaft und Technologie. Häufig setzen sie zu einem Zeitpunkt ein, zu dem sowohl die technisch-wissenschaftliche Entwicklung als auch eine ökonomische Dynamik so voran158 Vgl. den Überblick bei Niels Gottschalk/Marcus Elstner: »Technik und Politik: Überlegungen zu einer innovativen Technikgestaltung«, in: M. Elstner (Hg): Gentechnik, S.143-179. 159 Vgl. N. Crosby/J.M. Kelly/P. Schaefer: »Citizen Panels: A New Approach to Citizen Participation«, in: Public Administration Review 46 (1986), S. 170-178. 160 Vgl. Peter C. Dienel: Die Planungszelle. Eine Alternative zur Establishment-Demokratie, Opladen 1992, 3. erweiterte Auflage. 161 Vgl. D. Garbe: »Diskurse als Strategie rationaler Konfliktbearbeitung in modernen Gesellschaften«, in: M. Elstner (Hg.), Gentechnik, S. 191-209. 162 Vgl. z.B. U. Felt, Scientific Citizenship. 163 Vgl. dazu in: Chancen und Gefahren. S. 2, S. 18 und S. 24. Ähnliches beobachtet Kai Hünemörder für die Perzeption und den Diskurs der globalen Umweltkrise, der bis 1972 »im wesentlichen auf einen (allerdings anwachsenden) Kreis von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten sowie Teile der politischen Öffentlichkeit beschränkt« blieb, was sich erst im Frühjahr 1972 aufgrund aufsehenderregender Publikationen und Konferenzen veränderte. Kai F. Hünemörder: Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950-1973), Wiesbaden, Stuttgart 2004, S. 14. 164 Vgl. J. Radkau: Learning S. 341. 165 Vgl. ebd., S. 345. Radkau geht der Frage eines Zusammenhangs bzw. »historischen Verknüpfungen der Debatte um Atomkraft und Gentechnik« nach. Er verweist darauf, dass die »Parallelisierung von Atom- und Gentechnik« am Anfang der rDNA-Kontroverse stand und untersucht vor allem die Debatte um Sicherheit/Risiken bei beiden Technologien. Vgl. auch J. Radkau, Hiroshima. 203

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geschritten sind, dass der Diskurs immer ein wenig den Entwicklungen hinterher zu hinken scheint. In den 1980er Jahren hatte die Gentechnologie dann »schneller und in größerem Ausmaß als ursprünglich erwartet« Eingang in öffentliche und industrielle Forschungslaboratorien in Deutschland gefunden,166 was das Bundesministerium für Forschung und Technologie bewegte, eine Anhörung zur Neukombination von Genen zu veranstalten. Diese hatte explizit das Ziel, die Öffentlichkeit »mit der bisher weitgehend auf die beteiligten Wissenschaftler beschränkten Diskussion über die Möglichkeiten und Gefahren einer neuen Wissenschaftsdisziplin vertraut« zu machen.167 Dabei sollten die »Notwendigkeit bzw. Nachteile staatlicher Eingriffe in Form von Richtlinien und Gesetzen in die Freiheit dieser Wissenschaftsdisziplin« erörtert werden.168 Man verstand dies als einen Beitrag zur Initiierung einer »möglichst rationalen öffentlichen Diskussion«. Gerade die frühzeitige Diskussion von Nutzen und Gefahren der Gentechnologie biete, so die Vorstellung, die Chance, die Öffentlichkeit in laufende Entscheidungsprozesse einzubeziehen und eine Emotionalisierung der Haltung der Bevölkerung gegenüber dieser Wissenschaft zu vermeiden, wie mit Seitenblick auf die Konflikte um die Kernenergie argumentiert wurde.169 Der Versuch seitens der Bundesregierung, mit der Öffentlichkeit in einen »Dialog« zu treten, verweist wiederum auf die Merkmale einer Transformationsphase: Einerseits zeigt sich das Bemühen um eine »öffentliche« Debatte, um einen Dialog mit der Bevölkerung, mit dem man heftige, lang anhaltende und konfliktreiche Auseinandersetzungen verhindern wollte. Andererseits spiegelten gerade diese Versuche die traditionelle Auffassung, die abwehrende Haltung der Bevölkerung wurzele in einem Informationsdefizit. Die Vorstellung, ein mehr an Wissen, eine »Aufklärung« der Bevölkerung, führe zu mehr Zustimmung, findet sich in den Überlegungen170 genauso wie Klagen der Wissenschaftler, die »Öffentlichkeit« sei »unberechenbar, sie neigt entweder zum Verdrängen oder zur Hysterie«171. Dass ein »Mehr an Wissen« jedoch nicht zwangsläufig zu mehr Akzeptanz führt, sondern häufig eher das Gegenteil der Fall ist, wurde in der Forschung mittlerweile häufig betont. Gleichwohl zeigt sich gerade am Beispiel Martinsried, dass »Aufklä166 167 168 169 170 171

204

Vgl. dazu in: Chancen und Gefahren, 1980, S. 2. Vgl. ebd., S. xi. Ebd. Vgl. ebd., S. xii. So Riesenhuber in: Bild der Wissenschaft 4/1984, S. 122-128. Vgl. Prof. Dr. F. Cramer vom MPI für experimentelle Medizin, in: Chancen und Gefahren, S. 4.

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rungsversuche« mit neuen Formen der Wissenskommunikation Hand in Hand gehen und diese nicht einfach ablösen.

5.4.3. Lokale Diskurse: Praktische Belange, Sicherheitsfragen und der Streit um den Bannwald Wurde die Gentechnologie in Deutschland erst Mitte der 1980er Jahre zu einem Thema der öffentlichen Auseinandersetzung, so hatte auch die Einrichtung eines Genzentrums in Martinsried im Jahr 1984, wie bereits erwähnt, noch keine Reaktionen der dortigen Bevölkerung hervorgerufen. Die entscheidende Wende stellten die 1990er Jahre dar, in denen Martinsried als Biotechnologiestandort ausgebaut werden sollte. »Hier musste Überzeugungsarbeit geleistet werden«, so die Bürgermeisterin Ulrike Höfer.172 Ließ sich in Garching ein deutlicher Wandel in der Haltung der Bevölkerung gegenüber der Ansiedlung von Wissenschaft feststellen, indem sich die euphorische bis gleichgültige Haltung in eine ausgesprochen kritische, den Standort schließlich gar in Frage stellende wandelte, so kann man ähnliches in Martinsried beobachten, wenngleich das Pendel der Zustimmung wie auch der Ablehnung jeweils weit weniger extrem ausschlug. Dabei bildete die Martinsrieder Öffentlichkeit keineswegs eine homogene Stimme. Während sich in den 1990er Jahren einerseits Skepsis hinsichtlich der Sicherheit biotechnologischer Unternehmen bemerkbar machte, waren andere schlichtweg mit der praktischen Umsetzung des Ausbaus des Biotechnologiestandortes beschäftigt, während wieder andere eine blühende Zukunft der Gemeinde antizipierten und hofften, Martinsried würde sich zu einem bedeutenden und zukunftsträchtigen Biotechnologiestandort entwickeln. So gab es Stimmen, die die Zukunftsträchtigkeit der Biotechnologie betonten: »Im Osten (Martinsrieds, wo das Forschungsareal liegt, M.H.) liegt die Zukunft«, so lautete beispielsweise eine Stellungnahme. Das Argument der Biotechnologie als lokalem Wirtschaftsfaktor sowie Erwartungen an Arbeitsplätze und Gewerbesteuer wurde in den 1990er Jahren innerhalb der Gemeinde zu einem zentralen Bestandteil des Diskurses. Zwar war man sich bewusst, dass dies nicht in Kürze zu erwarten war, da die biotechnologischen Firmen nicht in unmittelbarer Zukunft Gewinne machen würden. Gleichwohl erwartete man innerhalb von fünf bis zehn Jahren erhebliche finanzielle Vorteile.173 172 Interview mit Dr. Ulrike Höfer. 173 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Protokoll der Bürgerversammlung, Mittwoch, 7. Juli 1999. 205

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Die unmittelbare Herausforderung für die Gemeinde bestand angesichts des geplanten Ausbaus Martinsrieds zu einem Technologiestandort darin, diese Zukunft stadtplanerisch zu gestalten. Wie schon in den 1960er Jahren bemühte sich der Gemeinderat, die Interessen der Gemeinde zu sichern. Die stadtplanerische Aufgabe wurde in der Bewältigung der zu erwartenden Verkehrsprobleme, dem möglichen Wohnungsmangel gesehen sowie dem Schutz der »Atmosphäre«, des Ambientes des Ortes. Man wollte sicherstellen, dass der Dorfkern erhalten bleibe bzw. »noch besser herausgearbeitet« würde.174 Vor allem die angekündigte Verlegung der naturwissenschaftlichen Fakultäten der LMU, die auf lange Sicht, nämlich in etwa fünfzig Jahren, einen Raumbedarf von ca. 130.000 qm bedeute,175 und die mit Erwartungen einherging, dass bis zum Jahr 2010 täglich bis zu 10.000 Studierende und Angestellten nach Martinsried einpendeln würden,176 veranlasste den Gemeinderat, die Durchführung des Bebauungsplanverfahren davon abhängig zu machen, dass eine U-Bahn nach Martinsried gebaut werde.177 Zudem forderte man, dass sämtliche Kosten für die Planung und Erschließung des Geländes, Nachfolgelasten und weiter noch zu erwartende Kosten (z.B. Straßen-, Wasser-, Abwasserbereiche, Brandschutz) vom Freistaat Bayern getragen würden. Weitere Forderungen bezogen sich auf eine Verkehrsentlastung von Martinsried mittels einer örtlichen Umgehungsstraße,178 den Bau eigener Kinderbetreuungseinrichtung für die Wissenschaftler und Unternehmer bis hin zur Bereitstellung einer Ausrüstung der Freiwilligen Feuerwehr.179 Diese praktischen, die lokale Organisation oder das »Management« des Ausbaus des Standortes betreffenden Belange waren allerdings, anders, als in den 1960er Jahren als das MPI für Biochemie angesiedelt werden sollte, nun nicht mehr die einzigen Diskussionspunkte. Sicherheitsaspekte beunruhigten die Bewohner Martinsrieds.

Sicherheitsaspekte und neue Kommunikationsformen Waren die einen mithin schon mit der Gestaltung des Prozesses beschäftigt und hofften andere auf einen ökonomischen Aufschwung des Ortes, 174 175 176 177

Vgl. ebd. Vgl. GRS, 24. Juni 1996. Vgl. Münchner Abendzeitung, 6. September 2000. Vor allem der Bau einer U-Bahnanschlußtrasse war wesentliches Anliegen der Gemeinde. GRS, Technischer Ausschuß, 5.5.1997. 178 Vgl. GRS, 11. Juli 1996. 179 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Entwurf der Gemeinde Planegg. Städtebaulicher Vertrag zwischen Freistaat Bayern und Gemeinde P. Pflichten des Freistaates Bayern. 206

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so kam es zudem mit der Ansiedlung der ersten biotechnologischen Unternehmen und den Planungen für die Errichtung eines Innovations- und Gründerzentrums Biotechnologie zu skeptischen Nachfragen; Vorbehalte wurden formuliert und Ängste geäußert. Die Debatte beschränkte sich dabei – wie in den 1970er Jahren in den US-amerikanischen Städten – auf lokale Sicherheitsaspekte. Die Gentechnik löste in der Bevölkerung Ängste und Abwehr aus, der Informationsbedarf stieg.180 In Gemeinderatssitzungen wurden nun nach der Anzahl der mit gentechnisch veränderten Organismen arbeitenden Unternehmen sowie deren Sicherheitsstufen gefragt.181 Allerdings drehte sich die Debatte in den 1990er Jahren um die grüne Biotechnologie, da die Bevölkerung fälschlicherweise davon ausging, in Martinsried werde zur grünen Biotechnologie geforscht. Diffuse Vorstellungen über Gentomaten, Angst vor Freisetzungsversuchen gentechnisch veränderter Pflanzen schürten die Diskussion und führten zu einer ablehnenden Haltung.182 Die Tatsache, dass Martinsried ein Standort der roten Biotechnologie war, beruhigte, wie übrigens auch andernorts, die Gemüter. Bestätigt wird diese Einschätzung dadurch, dass beim Bau der Fakultät für Biologie, wo auf Freiflächen Pflanzenversuche geplant waren, die Debatte wieder aufkochte. Man war bereit, die Medikamentenherstellung zu akzeptieren, nicht jedoch genmanipulierte Pflanzen.183

Formen der Kommunikation zwischen Wissenschaft und lokaler Öffentlichkeit Die Situation der 1990er Jahre zeigt nicht nur die bereits im Garching-Kapitel beschriebene gewandelte Haltung gegenüber der Wissenschaft, deren Autorität und deren Nutzen nun in Frage gestellt wurden, 180 Vgl. SZ, 15. November 1999, S. 27. 181 Vgl. GRS, 21. November 1997. Die Antwort lautete, zurzeit gäbe es in Martinsried 37 gentechnische Anlagen, in denen mit genetisch veränderten Organismen gearbeitet wird. Es handelt sich hierbei um 27 Anlagen in der Sicherheitsstufe 1, 9 Anlagen in der Sicherheitsstufe 2 und eine Anlage in der Sicherheitsstufe 3 (MPI). Vgl. GRS, 18. Dezember 1997. Es gibt vier Sicherheitsstufen: S1 (kein Risiko), S 2 (geringes Risiko), S. 3 (mäßiges Risiko), S 4 (hohes Risiko). 182 Interview mit Dr. Ulrike Höfer. 183 Vgl. J. Durant/M. Bauer/G. Gaskell (Hg.), Biotechnology. Sylvia Kotting-Uhl betont gleichermaßen, dass die grüne Gentechnik in Deutschland nur geringe Akzeptanz findet, während die rote Gentechnik unhinterfragt akzeptiert werde. Vgl. Sylvia Kotting-Uhl: »Das Gen-WeltenProjekt: Ein überzeugender Versuch öffentlicher Dialoge? Aspekte des politisch-gesellschaftlichen Umfelds«, in: T. v. Schell/R. Seltz: Inszenierungen, S. 118-130, hier S. 119. 207

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vor allem wenn ganz unmittelbar eigene Interessen betroffen waren. Damit wurden Entscheidungen über die Ansiedlung biotechnologischer Firmen zugleich zu einer »öffentlichen Angelegenheit«. Darüber hinaus lassen sich neue Formen der Kommunikation von Wissenschaft und Öffentlichkeit beobachten. Bereits bei der Betrachtung der Geschichte Garchings wurde deutlich, dass es schwieriger geworden ist, politische Entscheidungen durchzusetzen, dass ihnen vielfach lokaler Widerstand selbstbewusst entgegentritt, was Nico Stehr mit der »Zerbrechlichkeit der Gesellschaft« beschrieben hatte. Damit einhergehen veränderte Formen der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Die Forschung zur Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie zur Wissenspopularisierung vervielfältigte sich daher nicht zufällig in den letzten Jahren. Eine lange dominierende Vorstellung, die heute kritisch als »Einbahnstraßen-Modell« bezeichnet wird, ging davon aus, dass wissenschaftliche Kenntnisse in einem hierarchischen Verhältnis von Wissenschaftlern in vereinfachter Form an die Laien vermittelt und diesen damit Ängste vor Technik und Wissenschaft genommen würden.184 Die jüngere Forschung betont dagegen, dass das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit als Aushandlungsprozess, als Kontinuum zu fassen sei.185 Zu verweisen ist vor allem auf den Sammelband von Terry Shinn und Richard Whitley, die erstmals eine dezidiert interaktionistische Sicht und die Vorstellung einer wechselseitigen Kommunikation verschiedenster Gruppen vertraten und damit die Dichotomien von Experten versus Laien, von Wissenschaft versus Gesellschaft auflösten.186 Entsprechend wird auch das Verhältnis Wissenschaft und Öffentlichkeit als eines, das durch einen Aushandlungs-

184 Vgl. H. Nowotny: Kernenergie. Das Buch untersucht eine »Informationskampagne zur Kerntechnologie« in Österreich in den Jahren 1976/77. Von der Bundesregierung wurden Wissenschaftler als Experten eingeladen, und zwar Befürworter und Gegner. Die Argumente sollten öffentlich gemacht werden. Hintergrund war die Vorstellung, dass mehr Wissen in der Bevölkerung zu mehr Zustimmung führt. (Aufklärungsgedanke). 185 Vgl. z.B. U. Felt/H. Nowotny/K. Taschwer: Wissenschaftsforschung, Stephen Hilgartner: »The Dominant View of Popularisation: Conceptual Problems, Political Uses«, in: Social Studies of Science 20 (1990), S. 519-539; Terry Shinn/Richard Whitley (Hg.), Expository Science. Forms and Functions of Popularisation. Yearbook in the Sociology of the Sciences, Dordrecht 1985. 186 Vgl. T. Shinn/R. Whitley: Expository Science. 208

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prozess zwischen verschiedenen Akteuren – Wissenschaftlern, Politikern, Laien, Mediatoren – bestimmt ist, gedacht.187 Dies gibt verschiedenen Autoren Anlass zu Hoffnungen auf zivilgesellschaftliche Veränderungen. So verwiesen Gibbons u.a. 1994 auf die Rolle öffentlicher Kontroversen für die Wissensproduktion und sprachen von »hybriden Foren«. Diese betrachteten sie als »meeting places for discussion«, in denen verschiedenste Akteure aufeinander trafen.188 In ihrer Publikation »Wissenschaft neu denken«189 führten sie in diesem Kontext einen neuen Terminus ein, den der »Agora«. Sie bezeichnen damit einen sozialen Raum, in dem Kontroversen um Wissenschaft und Technik stattfinden: »The agora is the public space in which ›science meets public‹ and in which the public ›speaks back‹ to science.«190 Wird Wissenschaft zum Aushandlungsprozess, an dem Wissenschaftler, Politik, Medien sowie Laien und Laienwissen gleichermaßen mitwirken,191 dann wird nicht mehr wissenschaftlich objektives oder »reliable knowledge«, sondern »socially robust knowledge« hergestellt.192 Allerdings zeichnen die Autoren ein sehr positives, hoffnungsfrohes Bild und nicht zufällig verwenden sie den Begriff der »Agora«. Das Konzept der Agora präsentiert sich hier eher als ein normatives denn ein empirisch nachgewiesenes Konzept, das im Kontext der Debatte um eine Zivilgesellschaft zu sehen ist, das aber zweifellos noch empirisch in detaillierten Studien zu prüfen ist. Ganz ähnlich, jedoch ganz offensichtlich normativ, präsentiert sich das Konzept der »post-normal science« von Ravetz und Funtowicz. Auch sie betonen, Wissen werde von vielen hergestellt, von der Hausfrau, dem Wissenschaftler, Politikern etc. Wissen sei nicht mehr allein im Besitz einer wissenschaftlich-technischen Elite und dies sei auch notwendig.193

187 Z.B. auch: Martin Bauer/E. Richards: »Scientific Knowledge, Controversy, and Public Decision Making«, in: Sheila Jasanoff/G.E. Markle/J.C. Petersen/T. Pinch (Hg.), Handbook of Science and Technology Studies, Thousand Oaks 1995, S. 506-526. 188 Vgl. M. Gibbons, u.a.: New Production, S. 67. 189 Vgl. H. Nowotny/P. Scott/M. Gibbons: Wissenschaft. 190 H. Nowotny: Re-thinking science, S. 28f. 191 Häufig genanntes Beispiel sind die Schafzüchter aus der Grafschaft Cumbria in Nordwestengland, die sich beschwerten, dass die amtlichen Experten bei der Einschätzung der Schäden durch Tschernobyl ihr lokales Wissen nicht berücksichtigten. Vgl. Helga Nowotny/Peter Scott/ Michael Gibbons: Wissenschaft, S. 259. vgl. auch: H. Nowotny: Rethinking, S. 14. 192 Vgl. ebd., S. 19, S. 28. 193 Vgl. Jerome Ravetz/Silvio Funtowicz: »Post-Normal Science – an insight now maturing«, in: Future 31 (1999), S. 641-646, hier S. 642. 209

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Ulrike Felt wiederum fragte, was der Begriff der »scientific citizenship« im Kontext einer erodierten Autorität von Wissenschaft meinen könne. Das Konzept des »scientifi citizen«, so Felt, bedeute Rechte und Pflichten für die Bürger, nämlich einerseits das Recht mitzureden und mitzuentscheiden, andererseits die Pflicht sich zu informieren, sich auseinanderzusetzen und verantwortlich im Sinne eines Kollektivs zu handeln. Dabei ginge es darum, »die Kommunikation von und über Wissenschaft zwischen Wissenschaftlerinnen und Bürgern nicht zu einem Akt der Überzeugung, Zähmung und Beugung Letzterer verkommen zu lassen, sondern ganz im Gegenteil darum, den von BürgerInnen in Aushandlungsverfahren mit Wissenschaft erarbeiteten Positionen eine Stimme zu geben, im Sinne einer vielleicht aufwändigen, doch extrem wichtigen und stabilisierend wirkenden neuen Form der ›wissenschaftlichen Demokratie‹, die den Herausforderungen einer voranschreitenden Wissensgesellschaft gerecht wird.«194

Die Geschichte Martinsrieds macht in der Tat deutlich, dass sich die Formen der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit seit dem Zweiten Weltkrieg wesentlich veränderten. Wie auch in Garching seit den 1990er Jahren vervielfachte sich die Zahl der Akteure, die den Anspruch erhoben, »mitreden« zu wollen und zu können. Wissenschaftler sahen sich in weitaus größerem Ausmaß gezwungen, in Kommunikation mit den Bewohnern vor Ort zu treten, sich zu erklären und ihre Arbeit und auch sich selbst vorzustellen, zu rechtfertigen und auf Bedenken und Kritik zu reagieren. Seit den 1990er Jahren musste sich die Wissenschaft in Martinsried stärker legitimieren als das noch in den späten 1960er Jahren der Fall war. Die Kommunikation mit der Bevölkerung wurde zu einem integrativen Bestandteil von Wissenschaftspolitik. Dabei changierte sie zwischen traditionellen Konzepten der Aufklärung, der »Popularisierung« von Wissen, also einem linearen Modell, nach dem die Wissenschaftler den Laien erklären, was sie tun, sie damit aufklären und ihnen, so die Vorstellung, die Angst nehmen, einerseits und einer neuen Form von »Dialog« im Sinne der Herstellung eines informellen Austausches und von runden Tischen, in denen ausgehandelt wurde, andererseits. Wissenschaftler des MPI, der Fraunhofer-Gesellschaft und aus dem 1995 gegründeten Innovations- und Gründerzentrum hielten Vorträge, in denen sie die Biotechnologie vorstellten und »erklärten«. Diese »Aufklärungsarbeit« betonte vor allem die hohen Sicherheitsstandards sowie die Vorteile, beispielsweise unter dem Motto »Vom Gen zum Medika194 U. Felt: Scientific Citizenship. 210

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ment«; ein fahrbares Forschungsmobil sollte über die Arbeit der Wissenschaftler »aufklären«.195 Wissenschaftler hoben die Potentiale der Biotechnologie hervor, indem sie Hoffnungen auf Medikamente und die Heilung von Krankheiten weckten.196 Die biotechnologischen Firmen und MPI machten gezielte Öffentlichkeitsarbeit, z.B. einen Tag der Offenen Tür; von einem »offenem Dialog«197 war die Rede, man war bemüht, der Bevölkerung etwas über die eigene Arbeit mitzuteilen.198 Es wurden Kontakte zwischen Wissenschaftlern und lokaler Bevölkerung herzustellen versucht,199 im Rathaus wurde ein »Abend zum Kennenlernen« mit Vertretern der Biotec-Firmen, den Würmtal-Bürgermeistern, den Gemeinderäten und Amtsleitern veranstaltet.200 Wissenschaftler sprachen dabei über Krankheiten, die sie bekämpfen, über Medikamentenentwicklung und ihre Pläne, Therapeutika herzustellen. Dabei wurden auch die Vorstellungen entkräftet, dies bedeute, dass große Fabrikhallen in Martinsried entstünden.201 Letzteres verweist wiederum auf die diffuse Gemengelage von Widerständen und Ängsten, die einerseits in einer Angst vor Gefahren, vor allem der grünen Biotechnologie bestanden, andererseits, wie schon in den 1960er Jahren, in einer Ablehnung einer »Industrialisierung«, d.h. z.B. der Bau großer Fabrikgebäude. Die Wissenschaftler konnten die Ängste, die auf Bürgerversammlungen und in Gemeinderatssitzungen laut wurden, weitgehend abbauen. Ihre Antworten auf die Fragen, Bedenken und Skepsis waren für die Bevölkerung beruhigend: Es gäbe sehr hohe Sicherheitsstandards, die Genforschung finde hauptsächlich im medizinischen Bereich statt, und Freilandexperimente mit genveränderten Pflanzen gäbe es nicht in Martinsried. So hätten sich, so ein Zeitungsbericht der Süddeutschen Zeitung, die Menschen bei der jüngsten Bürgerversammlung zwar über den Verkehr beklagt und für möglichst niedrige Neubauten plädiert, hinsichtlich der Gentechnologie seien jedoch kaum Sorgen geäußert worden, oder zumindest konnten sie schnell wieder ausgeräumt werden:202 »Bei Anwohnerversammlungen sind schon mal besorgte Fragen wegen des Genzentrums gestellt worden. [...] Professor Winnacker hat sie beantwortet, und offenbar war das ausreichend, denn eine Bürgerinitiative ist nicht 195 Vgl. MM, 14. Juni 1999. 196 Vgl. z.B. AZ, 6. September 2000. 197 In einer Pressemitteilung des IZB vom 3. Juli 2002 ist die Rede vom offenen Dialog, den die Wissenschaftler mit der Öffentlichkeit suchen. 198 Vgl. MM, 14. Juni 1999. 199 Interview mit Dr. Ulrike Höfer: 200 Vgl. GRS, 25. März 1999. 201 Interview mit Dr. Ulrike Höfer: 202 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Protokoll der Bürgerversammlung, Mittwoch, 7. Juli 1999. 211

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gegründet worden«, wurde ein Anwohner zitiert.203 So stimmte der Gemeinderat schließlich dem Bau des Innovations- und Gründerzentrums zu, was den Startschuss für den Ausbau des Biotechnologie-Standortes bedeutete. Dies ist insofern interessant, da einerseits eine Zäsur im Verhältnis Wissenschaft und Gesellschaft zu beobachten ist, insofern die Bevölkerung ihr Unbehagen äußerte, Bedenken hinsichtlich ihrer Sicherheit formulierte und die Ansiedlung von Wissenschaft damit nun, anders als in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren als solche in Frage stellte. Andererseits scheint die »Autorität« der Wissenschaft zugleich noch funktioniert zu haben, da die Vorträge und »Aufklärungsarbeit« die Widerstände und Vorbehalte verstummen ließen. Mithin scheint auf einen ersten Blick eine »Aufklärung« der Bevölkerung, die Ängste beseitigt, durchaus Wirkung zu zeigen. Man könnte allerdings vermuten, dass es dabei vor allem um die Zuwendung seitens der Wissenschaft, das Ernst nehmen der Bedenken der Bevölkerung geht und erst in zweiter Linie um die fachlichen Fragen, die den meisten Anwohnern ohnehin vermutlich nicht leicht erschließbar waren. Eine Untersuchung der Dialogangebote von Unternehmen kam zu dem Schluss, dass ein großer Teil von Unternehmensdialogen vor allem der Versuch von Konsensfabrikation sei.204 Wesentlich ist demnach die Art der Kommunikation und des Verhältnisses von Wissenschaftlern und lokaler Öffentlichkeit. Ähnlich betonte Ulrike Felt die Bedeutung von Vertrauen: »In der Tat werden wir immer öfter in konkreten Situationszusammenhängen mit Nachdruck darauf verwiesen, dass es im Grunde in der Beziehung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit mehr um Vertrauen denn um Wissen per se geht. Die Haltungen, die Menschen etwa in wissenschaftlich-technischen Kontroversen einnehmen, bauen weniger auf der genauen Nachvollziehbarkeit des wissenschaftlichen oder technischen Wissens auf, sondern vielmehr auf deren Erfahrungen mit und Wahrnehmungen von involvierten Institutionen, WissenschaftlerInnen und KommunikatorInnen. Damit geht es zentral um jene Institutionen, die eine Kontrollfunktion gegenüber Wissenschaft innehaben.«205

Gleichwohl zeigt sich, dass das »Aufklärungsmodell« nicht einfach von zivilgesellschaftlichen, partizipatorischen Prozessen abgelöst wurde, wie

203 Vgl. SZ, 20. Januar 1998, S. 30. 204 Vgl. Judith Richter: »Unternehmensdialoge: Offene Gespräche oder Konsensfabrikation?« in: T. v. Schell/R. Seltz: Inszenierungen, S. 186-200. 205 U. Felt. Scientific Citizenship. 212

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vielfach in der sozialwissenschaftlichen Forschung behauptet. Vielmehr läuft beides parallel, zeigt sich auch hier eine »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«.

Debatte um Bannwald: Ökonomie versus Ökologie In Laufe der 1990er Jahren wuchs die Zahl biotechnologischer Firmen in Martinsried in einem Umfang, dass es schließlich zu einem Mangel an Fläche für den weiteren Ausbau kam. Firmen, die beispielsweise aus dem Gründerzentrum auszogen und einen Firmensitz in der Nähe bevorzugt hätten, mussten in andere Kommunen ausweichen. Die Überlegungen, wie diese Unternehmen in Martinsried gehalten werden könnten, resultierten schließlich – nach Beratungen mit dem Planungsverband Äußerer Wirtschaftsraum, Beratungen mit angrenzenden Gemeinden sowie einer Reise führender Lokalpolitiker in die USA, in der man sich über die Organisation von Technologiestandorten informierte – in einem Strukturkonzept, das die Ausweitung des Biotechnologie-Standortes bejahte und zu diesem Zweck die »Umwandlung« – ein euphemistischer Ausdruck für die Abholzung – von 20ha Bannwald vorsah. Ziel des Konzeptes war die Entwicklung einer »Bio-Regio« im Würmtal, die im Einzugsbereich von fünf Gemeinden liegen und deren Zentrum Martinsried darstellen sollte.206 Begründet wurde dieser Schritt mit der Notwendigkeit der räumlichen Konzentration von Firmen und wissenschaftlichen Institute. Kern des Konzepts war die Zentralisierung, die Konzentration fachlich verwandter Institute und Firmen: die Biotechnologie sollte nicht über verschiedene Standorte in und um München verteilt sein, sondern sich zentralisiert an einem Ort befinden:207 »Die Verknüpfung zwischen Forschung und Anwendung bedingt eine enge räumliche Zuordnung der bestehenden Einrichtungen,« hieß es im Strukturkonzept.208 Diese Pläne stießen allerdings auf heftigen Widerstand, der sich jedoch nicht gegen die Biotechnologie an sich richtete, sondern ökologisch motiviert war. Denn der Bannwald stellt ein Landschaftsschutzgebiet dar. Die Konfliktlinie in dieser Auseinandersetzung, die schließlich den weiteren Ausbau des Standortes Martinsried verhinderte, verlief im Spannungsfeld von lokaler Ökonomie versus Ökologie. Nachdem die Biotechnologie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Martinsried als lokaler Wachstumsfaktor entdeckt worden war, unter-

206 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Strukturkonzept »BioRegio Würmtal«. 207 Vgl. ebd. 208 Ebd. 213

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strichen die Befürworter209 des Strukturkonzeptes das Argument der Biotechnologie als Wachstumsmarkt.210 Kernbegriffe dieses Diskursstranges war beispielsweise die Einordnung der Biotechnologie als eine der »führenden Zukunftstechnologien«, ihre »Zukunftsträchtigkeit« sowie die »Chance zur langfristigen Sicherung und Entwicklung von hochwertigen Arbeitsplätzen«, »wirtschaftliche Vorteile und soziale Impulse« für die Gemeinde.211 »Mit diesem Konzept verbunden, ist die Chance zur langfristigen Sicherung und Entwicklung von hochwertigen Arbeitsplätzen, die zur Struktur der Bevölkerung im Würmtal passen. Für alle fünf Gemeinden der ›Bio-Regio‹ können daraus wirtschaftliche Vorteile und soziale Impulse erwachsen.«212

Hier wurden typische Argumente, die sich auch auf nationaler Ebene finden, nämlich die Sicherung von Arbeitsplätzen und von wirtschaftlichem Wachstum auf lokaler Ebene reproduziert und als Vorteile für den Standort angepriesen. Wohlstand, Arbeitsplatzsicherheit und die Partizipation an einer wissenschaftlich-technischen Zukunft lauteten die Versprechen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene.213 Gleichzeitig reflektierte das Strukturpapier selbst den enormen Eingriff in die Natur, der mit dieser erhofften Zukunfts-, und Arbeitsplatzsicherung einherging. Es versuchte daher, ein Konzept zu entwickeln, das die abgeholzte Bannwald-Fläche mit Grünzügen kompensiert oder lediglich eine lockere Bebauung in parkähnlicher Landschaft zulassen würde.214 Trotz dieser Bemühungen formierte sich massiver Widerstand. Die Landesgrünen, die lokale SPD, der BUND und der Landesbund für Vogelschutz protestieren gegen die Abholzung des geschützten Bannwaldes. Im November 2000 konstituierte sich eine »Pro-Bannwald-Initiative«, die verschiedene Kritikpunkte anführte: Zum ersten wurde betont, man benötige in Martinsried keine neuen Arbeitsplätze.215 Zum zweiten wurde die Notwendigkeit des Flächenausbaus hinterfragt. Die Bedarfs209 Das waren vor allem die CSU mit der damaligen Bürgermeisterin Höfer, auch die »Freien Wähler« in Planegg und die Bayerische Staatsregierung. 210 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Strukturkonzept. 211 Vgl. ebd. 212 Ebd. 213 Vgl. GRS, 25. September 2000; vgl. auch: Gemeinde-Archiv Planegg, Flugblatt der Freien Wähler Planegg, »Bannwald oder mehr Biotechnologiegelände?« November 2000. 214 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Strukturkonzept. 215 Vgl. C. Schüle, Bioboom. 214

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ermittlung an Biotech-Labor- und Büroflächen sei nicht mit einer umfassenden Untersuchung, sondern lediglich aufgrund von Befragungen der IZB-Mieter geschätzt worden. Mithin wurde die fehlende systematische Einschätzung des Bedarfs kritisiert und stattdessen wissenschaftlichere Erhebungsmethoden gefordert. Des Weiteren kritisierte die Bannwaldinitiative das Konzept der räumlichen Nähe und Fußläufigkeit. Der im Strukturpapier hervorgehobenen face-to-face-Kommunikation wurde mit dem Hinweis auf Informations- und Kommunikationstechnologien geantwortet und die Bedeutung räumlicher Nähe in Frage gestellt.216 Während Wissenschaft, Politik und Wirtschaft auf das Konzept der »kreativen Stadt«, der »kreativen Milieus« mit ihren vielfältigen informellen Kontakten, Plätzen der Begegnung, der Zufälligkeit, der Entstehung von Ideen und Kreativität aufgrund von face-to-face-Kommunikation, kurz auf die »soft infrastructure« der »kreativen Stadt«, rekurrierten und daher die Notwendigkeit der räumlichen Nähe, von unmittelbarer Nachbarschaft und persönlicher Begegnungen als unabdingbar betrachteten und diese zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Argumentation machten,217 verwies die »Pro-Bannwaldinitiative« auf die Möglichkeiten moderner Informations- und Kommunikationstechnologien und schmetterte diese Idee ab: »Das Argument der stimulierenden Kontakte und der gegenseitigen Befruchtung [...] kann nicht so weit gehen, dass die Belange des Naturschutzes und Ziele des Regionalplans einfach ignoriert werden und das Ganze auch noch zu einer Belastung der ansässigen Bevölkerung führt.«218 Oder etwas drastischer, wie die lokale Zeitung ein SPD-Mitglied zitierte: »Die Kaffee-Diskussion zwischen Wissenschaftler kann doch nicht als Grund für die Rodung des Bannwaldes ernst genommen werden«.219

Forderte die Bannwald-Initiative einerseits systematischere (wissenschaftlichere) Erhebungen hinsichtlich des langfristig zu erwartenden Flächenbedarfs, so verweigerte sie andererseits die Plausibilität des Konzepts der »kreativen Stadt« wie es die Diskurse der Stadtplanung, der Wissenschafts- und Technologiepolitik bestimmte. Die Autorität der Wissenschaft ist brüchig geworden; die »Laien« entscheiden selbst, wann ihnen die Argumentation der Wissenschaft oder der Einsatz wissenschaftlicher Methoden sinnvoll erscheint. Vertrauten sie einerseits 216 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Pro Bannwald, Bürgerinitiative für die Erhaltung des Bannwalds. 217 Vgl. Strukturkonzept, GRS, 25. September 2000. 218 Gemeinde-Archiv Planegg, Offener Brief an alle Bürgermeister und Gemeinderäte, Bannwaldinitiative. 22.1.2001. 219 MM, 26. Januar 2001. 215

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den »Aufklärungen« der Wissenschaftler vor Ort, die über ihre Arbeit berichteten, so misstrauten sie den Konzepten, die die Bedeutung räumlicher Nähe, die Bedeutung »kreativer Milieus« betonten. Bemühte sich die Wissenschafts- und Technologiepolitik, unterstützt von den Erkenntnisen der Regionalökonomie und Soziologie, um den Aufbau von kreativen Milieus am Stadtrand, so wurde dies von lokalen Initiativen torpediert, indem man die Notwendigkeit einer Konzentration der Biotechnologie in Martinsried nicht einsah und forderte, die Biotechnologie solle sich andernorts ansiedeln.220 Wie Nico Stehr betonte, multiplizierte und intensivierte die Wissenschaft die Widerstandsmöglichkeiten gegen von ihr ausgelöste Entwicklungen.221 Wissen, so Stehr, biete die Chancen, die Mächtigen zu beeinflussen, Autoritäten zu demystifizieren, weshalb gesellschaftliche und politische Unsicherheit und Fragilität zunehmen.222 So veranstaltete de Pro-Bannwald-Initiative Info-Abende, Vorträge, organisierte Demonstrationen. Dabei blieben die Formen des Protestes moderat. Als Reaktion auf die Proteste wurden von der Gemeinde Bürgerversammlungen einberufen. Eine dieser Bürgerversammlungen votierte mit überwältigender Mehrheit für die Wiederaufnahme der Standortsuche, um ein anderes Areal für die Biotechnologie zu finden und forderte den Gemeinderat damit auf, nach Alternativen zur Abholzung des Bannwaldes zu suchen. Daraufhin wurde ein »runder Tisch« eingerichtet, an dem sich in einem ersten Schritt der Gemeinderat, die »Pro Bannwaldinitiative« und Vertreter der Lokalen Agenda 21 trafen. Die Aufgabe des runden Tisches wäre nun gewesen, den Antrag der Bürgerversammlung auf die Suche nach anderen Standorten in konkrete Anweisung umzusetzen.223 Die Wissenschaftler sollten schließlich im zweiten Schritt einbezogen werden – doch soweit kam es nicht, da die Entscheidung, den Bannwald nicht abzuholzen, bald fiel.224 Denn die Frage des Ausbaus des biotechnologischen Standortes war zu einem zentralen Thema des Wahlkampfes im Vorfeld der Kommunalwahlen im Jahr 2002 geworden. Während die CDU den weiteren Ausbau des Standortes nach wie vor befürwortete, fassten die SPD und die Grünen ihre Haltung mit dem Motto »Wir brauchen hier keine Arbeitsplätze« zusammen – und gewannen die Wahl.225

220 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Offener Brief, sowie SZ, 30. November 2000. 221 Vgl. N. Stehr: Arbeit, S. 40. 222 Vgl. ebd., S. 40 223 Interview mit Anja Niejaki und Herbert Stepp am Montag, 14. Oktober 2002 in Planegg. 224 Ebd. 225 Vgl. Spiegel, Nr. 34, 19.8.2002, S. 58. 216

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Die lokale Opposition verhinderte die Abholzung des Bannwaldes und damit die Möglichkeit der weiteren Ausweisung von Gewerbeflächen und in der Folge die Expansion des Biotechnologiestandortes Martinsried. »Es war politisch nicht durchsetzbar«, so die damalige Bürgermeisterin Höfer,226 die als Befürworterin des Ausbaus des Biotechnologiestandortes die Wahl verlor.

Lokale Proteste: »Heimatschutz« und keine »Maschinenstürmerei« Auffällig an dieser Auseinandersetzung um die Erweiterung des Biotechnologiestandortes war, dass die Gegner sich aus rein lokalen Motiven einem weiteren Wachsen der Gemeinde entgegenstellten. Man wandte sich gegen »Siedlungsdruck, Flächenverbrauch und Bannwaldeingriff.«227 Ziel war es in erster Linie, die Lebensqualität vor Ort zu sichern und sich gegen eine »Industrialisierung« zu wehren. Die Widerstände in Martinsried richteten sich also nicht gegen die Biotechnologie an sich. Vielmehr war es den Opponenten stets wichtig zu betonten, dass sie nicht prinzipiell gegen Biotechnologie seien. Sie legten Wert auf die Feststellung, sie seien keine »Maschinenstürmer«228. Keineswegs gehe es um eine Fundamentalopposition.229 Man protestiere nicht prinzipiell gegen die Biotechnologie.230 Entsprechend thematisierte die Opposition vor Ort die Technologie, ihre grundsätzlichen Probleme und ethischen Fragen in keinster Weise. Die Frage nach der Wünschbarkeit dieser Technologie wurde nicht gestellt. Vielmehr handelte es sich um eine lokale bzw. regionale Opposition, die ihre ökologische Lebenswelt verteidigte. Auf lokaler Ebene vollzog sich ein klassischer Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie, ein Konflikt zwischen Schonung und Erhalt der Natur versus Schaffung von neuen Unternehmen und Arbeitsplätzen. Dies bedeutet aber auch, dass die Involvierung der lokalen Bevölkerung im Kontext der Ansiedlung biotechnologischer Forschung auf rein lokale Diskurse und lokale Problemhorizonte beschränkt blieb und somit vn der Technologie selbst abstrahierte. Auch in Cambridge waren »social and ethical issues« bewusst außen vor gelassen worden. Man hatte 226 227 228 229

Interview mit Dr. Ulrike Höfer. Gemeinde-Archiv Planegg, Offener Brief. SZ, 16. November 2000, S. L7. So der SPD-Sprecher Friedmann, in: »Nachgefragt«, in: SZ, 17. November 2000. 230 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Offener Brief der Pro Bannwald Bürgerinitiative, 22.1.2001. 217

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den Eindruck, mit Sicherheitsfragen schon mehr als genug zu tun zu haben.231 Gleichwohl war in Cambridge angemahnt worden, dass die Technik der rekombinanten DNA eine gesellschaftliche Frage sei und dass diese gleichermaßen zu diskutieren sei.232 Lokale Technikdiskurse sind jedoch geprägt von den Ängsten und direkten Interessen der Betroffenen. Sie drehen sich um lokale und regionale Verkehrsprobleme, um Wohnungsfragen, um Sicherheitsfragen, um Arbeitsplätze und Naturschutz. Die Brisanz liegt dabei allerdings in einer Asymmetrie. Denn während die Bürger vor Ort lokal argumentieren, ihre lokalen Interessen verfolgen, indem sie ihren Lebensraum, ihre Umwelt schützen und dabei die grundsätzliche Frage nach der Technologie gar nicht stellen wollen, so geht die Wirkung, die sie mit ihrem Verhinderungspotential entfalten über das Lokale hinaus. Immerhin galt der Biotechnologiestandort Martinsried zu dieser Zeit als einer der dynamischsten in Deutschland und Europa; auf sein Potential wurde von Seiten der Landesregierung sowie auf nationaler Ebene große Hoffnungen im Hinblick auf Innovationen und wirtschaftliche Entwicklungen gesetzt. Das Lokale hat, auch wenn es »nur« lokale Interessen verfolgt, weitaus größere Verhinderungskraft. Abermals verweist dies, um noch einmal Nico Stehr zu zitieren, auf die »Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften.«

5.5. Vom Ort der Grundlagenforschung z u m » k r e a t i ve n M i l i e u « Die Entwicklung Martinsrieds zu einem Wissenschaftsort und schließlich zu einem »kreativen Milieu« hatte mit dem MPI für Biochemie, und damit mit einem grundlagenorientiertem Institut begonnen. Mit seiner Ansiedlung wurde zugleich der Grundstein für die Entwicklung Martinsrieds zu einem Schwerpunkt der roten Biotechnologie gelegt. Seine Dynamik als »kreatives Milieu« entfaltete Martinsried in den 1990er Jahren als es zu einem modernen »Biochtechnologie-Cluster«, zu einem »kreativen Milieu« wurde, dessen weiterer Ausbau schließlich, wie gerade gezeigt, jüngst verhindert wurde. Martinsried ist, wie auch Garching, ein Beispiel dafür, wie sich ein an Grundlagenforschung orientierter Standort, den man in Analogie zu Bacons Haus Salomon beschreiben könnte, zu einem am Leitbild eines »urbanen Standortes«, eines »kreativen Milieus« orientierten Biotechnologie-Cluster transformierte.

231 Vgl. S. Krimsky: Genetic Alchemy, S. 307. 232 J. L. Sullivan, in: Chancen und Risiken, S. 242f. 218

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Wollte man anfangs einen neuen »Kommunikationsraum« für Wissenschaftler herstellen, der die Sprachlosigkeit, die aufgrund zunehmender Spezialisierung und Differenzierung zwischen verschiedenen (Sub-) Disziplinen entstanden war, beiseitigen sollte, um die Erforschung der »Chemie des Lebens« voranzubringen, so hatten sich spätestens seit den 1990er Jahren die Vorstellungen über die Akteure, die in diesem Wissenschaftsstandort kommunizieren sollten, nachhaltig verändert: nun sollten Wissenschaft und Unternehmen, bzw. die neue entstandene Hybridform des »Wissenschaftler-Unternehmens« auf engem Raum in intensiver Kommunikation wissenschaftlich-technische Innovationen hervorbringen. Begann die Geschichte des Standortes Martinsried also mit einer Neuorganisation wissenschaftlicher Arbeit im Bereich Biochemie, so wandelte sich der Wissenschaftsort seit den 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren in ein ökonomisch viel versprechendes »kreatives Milieu« einer neuen Schlüsseltechnologie. Einher ging dieser Wandel mit der Abkehr von der Abgeschiedenheit der Forscher hin zu einem Wissenschaftsstandort, der sich bemühte, sich urban zu präsentieren, der jedoch gleichwohl an der Peripherie der Stadt München und am Rande des Dorfes Martinsried sein Eigenleben führt. An diesem Beispiel lässt sich die mit der Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt« einhergehende Ökonomisierung wissenschaftlicher Forschung, ihre Transformation in einen unmittelbaren Wirtschaftsfaktor exemplarisch und zugleich anschaulich nachzeichnen.

5.5.1. Martinsried als Ort der Grundlagenforschung Bis in die 1980er Jahre hinein forschte man in Martinsried, ohne dass die unmittelbare ökonomische Verwertung der wissenschaftlichen Arbeit ein Thema gewesen wäre. Das MPI für Biochemie widmete sich den chemischen Vorgängen im lebenden Organismus, untersuchte die Grundlagen der Vererbung, beschäftigte sich mit Krebsbehandlung und anderen Bereichen der Medizin.233 Dies meinte – wie dies auch für Garching beschrieben wurde – keine zweckfreie Forschung im Sinne Humboldts, die um ihrer selbst willen verfolgt wurde. Vielmehr war gerade die Biochemie immer auch mit der klinischen Medizin verbunden.234 Im Baconschen Sinne sollte die Vertiefung wissenschaftlicher Erkenntnisse der Heilung von Krankheiten dienen und war damit an der langfristigen Lösung von Problemen orientiert. Diese Forschungen in Martinsried waren in den 1960er Jahren mit einer Neuorganisation der Wissenschaft

233 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 24./25.März.1973, S. 11. 234 R. E. Kohler: Medical Chemistry. 219

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einhergegangen. Deren Neuartigkeit zeigte sich auch darin, dass sich die wissenschaftlichen Mitglieder des MPI für Biochemie »Martinsrieder Kreis« nannten und sich als Pioniere eines neuen Konzeptes der Organisation der Forschung fühlten.235 Diese neue Wissenschaftsstruktur lässt sich mit einem Blick auf die Architektur des Instituts für Biochemie genauer betrachten. Die Konzepte der Organisation von Wissenschaft materialisierten sich in der Architektur wie sie gleichzeitig, so jedenfalls die Vorstellung der Architekten und Bauherren, einen neuen Stil des wissenschaftlichen Arbeitens hervorbringen sollen. Das neue Gebäude sollte die Kommunikation der verschiedenen Abteilungen zueinander erleichtern und gemeinsame Projekte ermöglichen. Ziel der MPG war es, ein Gebäude zu erstellen, das auf der einen Seite »die geforderten engen räumlichen Beziehungen der wissenschaftlichen Abteilungen untereinander und zu den gemeinsamen Institutseinrichtungen (gewährleistet), auf der anderen Seite die Selbständigkeit der einzelnen Abteilungen baulich erkennbar werden (lässt), ohne daß dabei die Einheit des Gesamtinstitutes verloren geht«.236

Die Aufgabe der Architekten bestand darin, die »Individualität der Einzelabteilungen« zu sichern und zugleich eine »Gemeinsamkeit der verschiedenen Abteilungen« herzustellen.237 Dieses Spannungsfeld zwischen Selbständigkeit der Abteilungen und der Notwendigkeit ihrer Zusammenarbeit bildete die Maßgabe für den Bau des Instituts, wobei letzterem Priorität eingeräumt wurde. Welche Bedeutung der Kommunikation beigemessen wurde, zeigte sich in einer Antwort auf eine Nachfrage eines der Teilnehmer des Architektenwettbewerbs: »Was ist wichtiger: Die Abgeschlossenheit und Ruhe innerhalb einer Abteilung oder die enge Beziehung zu entsprechenden Nachbarabteilungen?« Die Antwort betonte deutlich die kommunikativen Aspekte: »Wichtiger ist die enge Beziehung der einzelnen Abteilungen zu einander«238.

235 236 237 238 220

Vgl. MPG (Hg.), Berichte, S. 20. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2103. Vgl. MM, 21. Dezember 1966. Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2102.

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Abbildung 34: Grundriss des MPI

Die Ermöglichung der Kommunikation und des Austausches der Forscher verschiedener Abteilungen war mithin Kern des neuen Wissenschaftskonzepts. Dabei bezog sich diese Forcierung der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Forschungsrichtungen – im Unterschied zu den 1980er und den 1990er Jahren – auf die Kommunikation der Wissenschaftler untereinander, jedoch nicht auf eine Verbindung zur Industrie. Ökonomische Überlegungen spielten in dieser Frühphase der Entstehung des Wissenschaftsortes Martinsried keine Rolle. Gleichzeitig reflektierte die Ausschreibung des Architekturwettbewerbs eine weitere Herausforderung der wissenschaftlichen Forschung. So forderte der Ideenwettbewerb »neun Abteilungen, die in fest umrissenen Arbeitsrichtungen«, und sechs Abteilungen, deren »Arbeitsrichtung in einzelnen noch nicht festgelegt ist«.239 Diese Überlegungen zur Flexibilität finden sich zu dieser Zeit auch in der Stadtplanung und sie wird uns auch in den architektonisch/stadtplanerischen Entwürfen für das Siemens-Forschungszentrum in Neuperlach wiederbegegnen. Dort war die Forderung nach einer Architektur, die Flexibilität sowie die Möglichkeit gewährt, sich ständig wandelnden Forschungsaufgaben und -anforderungen auch räumlich anpassen zu können, zentral. Sowohl in der grundlagenorientierten Forschung zur Biochemie wie auch in der unternehmerischen Forschung im Kontext der Datenverarbeitung in Neuperlach spielten die Versuche, ein Gebäude zu errichten, das eine flexible Organisation zulässt, eine wesentliche Rolle. Sie entsprachen einem 239 Vgl. Gemeinde-Archiv Planegg, Akte 2103. 221

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Gefühl der Beschleunigung, der sich permanent wandelnden Bedingungen und Anforderungen. Flexibilität, Kommunikation und Austausch, ermöglicht durch räumliche Nähe und architektonische Strukturen, die Ausrichtung auf Grundlagenforschung sowie die Ferne von der Stadt waren die zentralen Merkmale der Konzepte für den Bau eines neuen Forschungsinstituts in Martinsried. Die Kommunikation war als eine der Wissenschaftler untereinander gedacht, die vor den Toren der Stadt ihre wissenschaftliche Forschung verfolgen sollten, in klösterlicher Abgeschiedenheit, auf dem Land. Entsprechend befand sich auch das MPI für Biochemie, wie das Garchinger Forschungsareal, abgesondert vom Ort Martinsried, in geradezu idyllischer Ruhe, fernab den Ablenkungen von Alltag und Leben. Abbildung 35-36

Inwieweit die neue Architektur, die sich im Stil klassischer Moderne präsentiert, sowie die Pläne zu einer Zusammenarbeit der Wissenschaftler tatsächlich zur Kommunikation und Zusammenarbeit innerhalb des MPI führten, ließ sich aus den verfügbaren Quellen leider nicht erschließen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich in der Architektur materialisierte Konzepte von den Menschen umgewendet oder ignoriert werden. Der Traum des Architekten, mittels neuer Architektur den neuen Menschen, neue Lebensstile, und hier neue Formen der Kooperation zu formen, ist alt und selten in Erfüllung gegangen. Das MPI selbst betonte einige Jahre später in den Berichten und Mitteilungen der MPG, dass das neue Modell von Erfolg gekrönt sei. »Daß sich innerhalb von vier Jahren seit der Einweihung des Instituts nicht weniger als 18 Forschungsthemen ergeben haben, an deren Lösung zwei oder mehr Abteilungen gemein-

222

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sam arbeiten, ist ein erfreuliches Zeichen für die Richtigkeit der Grundkonzeption«.240

5.5.2. Das Genzentrum: eine Institution des Technologietransfers – Wandlungsprozesse Einen ersten Schritt zu einer neuen Forschungskultur bedeutete die Ansiedlung des Genzentrums. Damit wurde wissenschaftliche Forschung in einen ökonomischen Kontext gestellt, der Austausch und die Kommunikation von Wissenschaft und Unternehmen angestrebt. Der Kommunikationsraum und seine Akteure änderten sich. Das Genzentrum, 1984 gegründet, stellt eine Signatur für diesen Wandel dar. Außer in Martinsried wurden in Berlin, Heidelberg und Köln Genzentren eingerichtet. Sie waren technologiepolitischer Ausdruck des Bestrebens, eine neue, flexible Form der Kooperation von Hochschulen, MPIs und der Industrie zu fördern. Die Genzentren waren eine Form des Technologietransfers, genau wie die »Garching Instrumente«, die im Wissenschaftsareal in Garching den Wandel eingeläutet hatte. Genzentren repräsentieren jedoch eine andere Form des Technologietransfers. Sie sollten je einem Chemiekonzern die Möglichkeit bieten, durch intensive Kontakte der eigenen Forschungsabteilung mit Wissenschaftlern eines solchen Zentrums neue wissenschaftliche Ergebnisse schnell zu erfahren und auszunutzen. In Martinsried waren die LMU, das MPI für Biochemie sowie die Firmen Hoechst und Wacker am Genzentrum beteiligt.241 Die Ziele dieser Genzentren lagen in der Stärkung der »anwendungsorientierten Grundlagenforschung«, in der »Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Forschungsinstitutionen und Wirtschaftsunternehmen zur Verbesserung des Technologietransfers« sowie in der »Heranbildung von Nachwuchskräften für Industrie und Wissenschaft«.242 Kurz gesagt, sollten die Genzentren – Gemeinschaftseinrichtungen von Unternehmen, Universität und Forschungsinstituten und wesentlich finanziert vom Staat – gentechnisches Wissen für Unternehmen bereitstellen und die »collaboration between industry and research centers« forcieren, wie es ein OECD-Bericht zusammenfasste.243 Sie sind Institu240 MPG (Hg.), Berichte, S. 21. 241 Vgl. H-J. Aretz: Kommunikation, S. 136. 242 Wolf-Michael Catenhusen: »Ansätze für eine umwelt- und sozialverträgliche Steuerung der Gentechnologie, in: Ulrich Steger (Hg.), Die Herstellung der Natur. Chancen und Risiken der Gentechnologie, Bonn 1985. S. 29-47, hier S. 34. 243 OECD (Hg.), Biotechnology and the Changing Role of Government, Paris 1988. S. 88. 223

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tionen des Technologietransfers, die das Tempo der Vermittlung von Erkenntnissen der Grundlagenforschung in industrielle Innovationen beschleunigen sollten. Ziel war dabei in erster Linie, die Konkurrenzfähigkeit vor allem der deutschen chemischen Industrie langfristig zu sichern.244 Im Unterschied zu Bemühungen, wie sie in Garching mit der »Garching Instrumente Gmbh« etabliert wurden, die noch dem Modell der dichotomen Sphären von Wissenschaft und Industrie entsprachen, indem die wissenschaftliche Forschung ungestört bleiben sollte, lässt sich hier ein anderes Konzept beobachten: Wissenschaft und Wirtschaft wurden räumlich in einem Gebäude, und vor allem in einer Institution integriert, man setzte auf ihre Kommunikation und Kooperation innerhalb eines »Genzentrums«. Zwar handelt es sich – im Unterschied zu den in 1990er Jahren in Martinsried auftauchenden »Wissenschaftler-Unternehmer« – noch nicht um eine Auflösung der Sphären von Wissenschaft und Wirtschaft, um ihre personale Integration. Vielmehr ging es darum, diese beiden Sphären unmittelbar in Kontakt zu bringen und ihre Kommunikation zu forcieren. Hintergrund dieser Entwicklung war zum einen der generelle Wandel in der Technologiepolitik, die stärkere Rückbindung wissenschaftlicher Forschung an ökonomische Ergebnisse und die Hervorbringung technisch-wissenschaftlicher Innovationen.245 Zum zweiten, und eng damit verbunden, entstanden – infolge der Entdeckung der Technik der rekombinanten DNA – konkrete Erwartungen, die Biotechnologie würde zur neuen Schlüsseltechnologie. 1979 wurde sie in den USA von den Medien und der Wall Street entdeckt und weckte bei allen Beteiligten große Hoffnungen auf ökonomische Erfolge.246 Ihr wurde in Marktanalysen eine erfolgreiche Zukunft vorausgesagt.247 Wie Krimksy formulierte: »In anticipation of massive biotechnology markets, investment fever over biotechnology intensified during the 1980s.«248 Die Ökonomisierung der Biotechnologie zeigte sich vor allem in der Gründung biotechnologischer Firmen, die versuchten die Möglichkeit der rekombinanten DNA kommerziell zu nutzen, wie das erste »start-up« Unternehmen der Biotechnologie, die amerikanische Firma Genentech.249 Robert 244 W.-M. Catenhusen: Ansätze, S. 34. 245 Vgl. hierzu den Überblick bei Inken Rebentrost zur Förderung der Biotechnologie durch die deutsche Technologiepolitik: I. Rebentrost: Labor, S. 53-85. 246 Vgl. R. Bud: Leben, S. 237. 247 Vgl. ebd., S. 250. 248 S. Krimsky: Genetic Alchemy, S. 26. 249 Vgl. Susanne Giesecke: Von der Forschung zum Markt. Innovationsstrategien und Forschungspolitik in der Biotechnologie, Berlin 2001, S. 51. 224

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Swanson, ein Master of Business Administration der Harvard University, und Herbert Boyer, Professor an der University of California at San Francisco, gründeten das Unternehmen 1976.250 In der Bundesrepublik setzte die Gründung von Gen-Firmen in den 1980er Jahren ein. Seit 1981 arbeitete der Hamburger Biochemieprofessor Hubert Köster in seiner Firma »Biosyntech-Biochemisches Synthesetechnik GmbH & Co«; von 1982 bis zum Jahr 1984 wurden fünf gentechnologische Firmen ins Heidelberger Handelsregister eingetragen, deren Gründer meist Wissenschaftler der Universität Heidelberg oder benachbarter Forschungsinstitute waren.251 Gleichzeitig begann sich die Zusammensetzung von Konferenzen zu verändern. Dort fanden sich zunehmend nicht mehr nur Wissenschaftler, sondern auch Ingenieure, Manager, Unternehmer und Patentanwälte.252 Entsprechend wurde die Biotechnologie nun auch in der Bundesrepublik eng mit Kategorien wie ökonomischem Wachstum, wirtschaftlichem Wohlergehen einer Nation, mit Wettbewerbsfähigkeit, »Wachstumschancen«253 verknüpft. Dabei wurde vor allem mit dem »bedrohten Standort« Deutschland argumentiert und die Gefahr der Bedeutungslosigkeit Deutschlands, der Abwanderung von Forschern oder der Verlagerung von Forschungs- und Produktionskapazitäten ins Ausland beschworen.254 1984 verglich der Bundesforschungsbericht die Biotechnologie im Hinblick auf ihre zukünftige Bedeutung mit der Mikroelektronik und der Computertechnologie.255 Die textuellen Strategien bestanden darin, die Biotechnologie eng mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, mit ökonomischen Wachstum und internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu verknüpfen, wie dies auch in Martinsried auf lokaler Ebene in den 1990er Jahren geschah. Das ökonomische Potential der Biotechnologie trat in den Vordergrund der Diskurse, sie wurde zum Objekt von Ökonomen, Marktanalysten und

250 251

252 253 254 255

Vgl. auch den Kommentar von Krimsky: »New biotechnolgoy firms began forming in the mid-1970s. Genentech is generally credited as being the first rDNA-based venture capital company.«, in: S. Krimsyk: Genetic Alchemy, S.30. Vgl. ausführlich H-J. Aretz: Kommunikation, S. 103. Vgl. S. Giesecke: Forschung, S. 126. Vgl. H-J. Aretz: Kommunikation, S. 137. Vgl. vor allem die Arbeit von Inken Rebentrost (I. Rebentrost: Labor), die die Geschichte des deutschen Biotech-Unternehmen Diagen minutiös schildert und in den zeitgenössischen Kontext einordnet. Vgl. S. Chadarevian: Designs, S. 361. Vgl. W.-M. Catenhusen: Ansätze, S. 35. Vgl. S. Giesecke: Forschung, S. 19. Vgl. W.-M. Catenhusen: Ansätze, S. 34. 225

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Wirtschaftspolitikern. Radkau sprach für die Mitte der 1980er vom »Deutschland erwache-Motiv«.256 Dieser die Biotechnologie ökonomisierende Diskurs findet sich mit den gleichen Begriffen und Argumentationsmustern auf der lokalen, der landesweiten, der nationalen und übernationalen Ebene. Auch das Weißbuch der Europäischen Kommission nannte die Biotechnologie »eine der vielversprechendsten und grundlegendsten Technologien für eine dauerhafte ökonomische Entwicklung im nächsten Jahrhundert«. Schließlich wurde die Biotechnologie gar als »Autoindustrie des 21. Jahrhunderts« apostrophiert.257 Analogien wie diese veranschaulichen, wie die Ökonomisierung der Naturwissenschaften im wirtschaftspolitischen Kontext von den Inhalten dieser Technologie abstrahiert: Wissenschaft bzw. die Technologie wird zu einer Kategorie, die sie ausschließlich zum ökonomischen Instrument macht. Ein Drittes ist neben der generellen Tendenz zur stärkeren ökonomischen Rückkopplung der Wissenschaft sowie der Entdeckung der Biotechnologie als Schlüsseltechnologie zu erwähnen. Denn es gab es einen unmittelbaren Anlass für die Gründung von Genzentren: der so genannte »Hoechst-Schock«. Die Firma Hoechst hatte Anfang der 1980er Jahre entschieden, einen Millionenbetrag in das renommierte Massachusetts General Hospital in den USA zu investieren, um mit den dortigen Wissenschaftlern auf dem Gebiet der medizinischen und pharmazeutischen Biotechnologie zu kooperieren.258 Diese Entscheidung für eine amerikanische Institution hatte in der Bundesrepublik eine Signalwirkung und beschleunigte den Wandel der Forschungspolitik. Wie Catenhusen formulierte, setzte das »Hoechst-Geschäft mit Harvard« das Bundesforschungsministerium unter Druck, »die Forschungslandschaft stärker und breiter auf anwendungsorientierte Grundlagenforschung in enger Kooperation mit der Industrie zu orientieren«.259 Die Genzentren stellten hierbei ein wichtiges Element dar. Vor dem Hintergrund dieses Wandels der Forschungs- und Technologiepolitik bildet das Genzentrum einen Wendepunkt in der Entwicklung Martinsrieds hin zum Technologiestandort, zum »kreativen Milieu«. Das Genzentrum ist eine neue Form des Technologietransfers, die die beiden Sphären Wissenschaft und Industrie in ein engeres Verhältnis zu bringen bemüht war, einen neuen Kommunikationsraum schuf, der nun nicht mehr ausschließlich für Wissenschaftler gedacht war, sondern die Kooperation und den Austausch zwischen Wissenschaft und Indus256 257 258 259 226

Vgl. J. Radkau: Hiroshima, S. 330. So Ministerpräsident Stoiber in: SZ, Freitag, 16. Januar 1998, S. 35. H. Trischler: Nationales Innovationssystem, S. 194. Vgl. W.-M. Catenhusen: Ansätze, S. 33.

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trie forcieren sollte. Zu Beginn der 1990er Jahre radikalisierte sich diese Entwicklung, wie im folgenden zu sehen sein wird. In Martinsried wurden unzählige Biotechnologiefirmen gegründet, ein neuer Typus, der »Wissenschaftler-Unternehmer« betrat die Bühne – und das Forschungsareal wurde in eine »kreatives Milieu« zu transformieren versucht. Vor allem zeigt sich auch hier, wie schon in Garching, der enge Zusammenhang der Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt« mit der Ökonomisierung der Wissenschaft.

5.5.3. »Kreative Milieus«: Die Biotechnologie und die Entstehung einer neuen Forscherkultur Das erste biotechnologische Unternehmen in Martinsried wurde 1992 gegründet: Drei Forscher des MPI für Biochemie und des Genzentrums gründeten die Firma MorphoSys, um eine künstliche Antikörperbibliothek für die Medikamentenforschung aufzubauen.260 Ein Jahr später, 1993, folgte die Firma MediGene, die mit Antitumorwirkstoffen und Medikamenten zur Behandlung von Herzversagen befasst ist und die eine Ausgründung des universitären Genzentrums darstellte. Mitte der 1990er Jahre wuchs die Zahl der Biotechnologie-Firmen in Martinsried rasant. Angesichts dieser dynamischen Entwicklung avancierte Martinsried zum – zweifelsohne auch stilisierten – Symbol einer erfolgreichen »Gründerkultur«; Metaphern wie »idealer Nährboden« oder »Brutstätte« bezeichneten eine neue Kultur der Firmengründung aus wissenschaftlichen Institutionen heraus. Martinsried hat sich damit gewandelt von einer Grundlagenforscherenklave hin zu einem »kreativen Milieu«, das an ökonomischen Kriterien gemessen wird. Dabei ist die jüngere Entwicklung in Martinsried zu einem wesentlichen Anteil das Produkt einer gezielten Technologiepolitik, einer forcierten Planung, wie im Folgenden zu sehen sein wird. Martinsried lässt sich damit in eine Reihe von verschiedenen im 20. Jahrhundert zu beobachtenden Versuchen einordnen, Wissenschaftsstädte ex nihilo neu zu gründen, die sich durch die Vorstellung der Machbarkeit und Gestaltbarkeit auszeichnen.261 Hinsichtlich des Modells des »kreativen Milieus« geschieht dabei etwas geradezu Paradoxes: Dieses Instrument der Technologiepolitik setzt vor allem auf die Planung, die Herstellung von Spontaneität, von zufälligen Begegnungen, auf die Forcierung des Zufalls, des informellen Austausches, aus dem Kreativität hervorgehen soll. Dies wird architektonisch und städtebaulich in der Imitation städti-

260 Vgl. S. Giesecke: Forschung, S. 225. 261 Vgl. M. Heßler: Stadt. 227

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scher Strukturen zu materialisieren versucht und dabei der Topos der »kreativen Stadt« zu einem Werkzeug zur Erzeugung wissenschaftlich-technischer Innovationen und ökonomischen Wachstums degradiert.

Die Rolle der Technologiepolitik: »Cluster« als Modell der 1990er Jahre Die Wissenschaft- und Technologieentwicklung ist natürlich spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch immer Ergebnis ihrer politisch-staatlichen Förderung. Gleichwohl wandelte sich die Bedeutung der Technologiepolitik in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren maßgeblich, indem sie wissenschaftliche Forschung zu einem unmittelbaren Wirtschaftsfaktor zu machen versuchte. Die Entwicklung Martinsrieds verdeutlicht die Bedeutung der Wissenschafts- und Technologiepolitik für die Konstituierung eines Forschungsfeldes bzw. dessen Transformation in ein Objekt der Wirtschaftspolitik. Soraya de Chadarevian hatte bereits darauf hingewiesen, wie wichtig beispielsweise die Wissenschaftspolitik für die Entwicklung der Molekularbiologie in Großbritannien war.262 Ähnliches lässt sich – nicht zuletzt am Beispiel Martinsried – für die 1980er und 1990er Jahre für die Biotechnologie in Deutschland beobachten. Vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklung der Biotechnologie zu einer »Schlüsseltechnologie« sowie der bundesdeutschen Technologiepolitik vollzog sich ein Wandel Martinsrieds hin zu einer »Technopolis« oder einem »kreativen Milieu«. Dies stellt gleichwohl keinen Prozess dar, in dem die Wissenschaften ausschließlich das Objekt der Wissenschafts- und Technologiepolitik gewesen wären. Chadarevian hatte betont, wie die Wissenschaftler als »Wissenschaftspolitiker« in der britischen Nachkriegszeit dazu beitrugen, dass die Molekularbiologie Thema der politischen Agenda wurde und wie sie selbst die Erwartungen, Krankheiten heilen zu können, weckten und damit schließlich langfristig einen »commercial turn« vorbereiteten. Molekularbiologen, so ihre Argumentation, nutzten die Wissenschaftspolitik für ihre Zwecke und ebneten damit späteren Erwartungen und Wandlungsprozessen den Weg.263 Der »commercial turn« ist mithin nicht nur das Ergebnis der Technologiepolitik, sondern Wissenschaftler sind »co-producer« dessen.264 Die Entstehung des »Wissenschaftler-Unternehmers«, die Ausgründungen von Unternehmen aus wissenschaftlichen Instituten, wie sie auch in Martinsried seit den 1990er Jahren zu finden ist, unterstreicht die

262 Vgl. S. Chadarevian: Designs. 263 Vgl. ebd., S. 303. 264 Vgl. ebd. S. 16 und Kapitel 10. 228

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Rolle der Wissenschaftler in diesem Prozess. Darauf wird am Ende dieses Kapitels zurückzukommen sein. Technologiepolitische Maßnahmen, die für die Transformation Martinsrieds zu einem »kreativen Milieu« eine wesentliche Rolle spielten, waren zum einen die so genannte »High-Tech-Offensive« der bayerischen Landesregierung, die im Oktober 1999 begann und die Förderung von Schlüsseltechnologien zum Ziel hatte. Ca. 1,4 Mrd. Euro sollten investiert werden. Dabei sollte, so die Vorstellung der Staatsregierung, Bayern zum »Biotechnologiestandort Nr. 1 in Europa« gemacht werden.265 Zum anderen war Martinsried, neben dem Rheinland266 und dem Rhein-Neckar Dreieck um Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen, Gewinner des Bio-Regio-Wettbewerbs, einem neuen Instrument der Technologiepolitik.267 Dieser war 1995 vom BMBF ausgeschrieben worden und hatte es zum Ziel, »Modellregionen«, die besonders gute Bedingungen für Existenzgründungen und die Entwicklung biotechnologischer Firmen boten, zu fördern.268 1996 erhielt die Region München 50 Millionen DM Förderung und zur Unterstützung von BiotechGründern. Der Bio-Regio-Wettbewerb, der explizit auf die Förderung von innovativen Regionen setzte, verweist schon auf das technologiepolitische Leitbild, das die Wissenschafts- und Technologieentwicklung in den 1990er Jahren wesentlich bestimmen sollte: Die Bildung von »kreativen Milieus«. Die Förderung von solchen »kreativen oder innovativen Milieus« wurde zu dem technologiepolitischen Leitbild der 1990er Jahre, zum Zauberwort der Technologiepolitik. Die Konzentration von forschenden, entwickelnden und vermarktenden wissenschaftlichen Einrichtungen und Wirtschaftsunternehmen auf engem Raum und deren intensive wechselseitigen Beziehungen wurden als Erfolgsfaktoren stilisiert. Stellt die Ballung von Unternehmen ein Konzept vor, das Alfred Marshall schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Terminus »Industrial 265 Vgl. High-Tech-Offensive. Arbeits- und Lebensperspektiven für das 21. Jahrhundert. Regierungserklärung des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Edmund Stoiber am 12. Oktober 1999 vor dem Bayerischen Landtag, hrsg. von der Bayerischen Staatskanzlei, München, o.J. Vgl. auch: Otto Wiesheu: »Das IZB – eine bayerische Erfolgsstory«, in: Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie IZB (Hrsg.) Das Tor zur Biotechnologie, o.O., o.J, S. 2. 266 Köln, Wuppertal, Düsseldorf, Jülich, Aachen. 267 Dirk Dohse: »Technology policy and the regions - the case of the BioRegio contest«, in: Research Policy, 29 (2000), 9, S, 1111-1133, hier S. 1112. 268 Ebd., S. 1112f. 229

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Districts« propagiert hatte und das den Vorteil niedriger Transaktionskosten sowie der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte innerhalb einer Branche aufwies, so trat im Kontext wissensbasierter Technologie der Austausch und Fluss von Information, das Entstehen neuen Wissens ins Zentrum dieses Konzepts. Das Konzept der »kreativen Stadt« oder »kreativer Milieus« geht einher mit der Vermischung von privat und öffentlich, von privat und geschäftlich. Als maßgeblicher Faktor gilt der intensive Austausch, die Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern und Unternehmen. Das Argument der räumlichen Nähe, das schon in den 1960er Jahren eine wesentliche Rolle spielte, sich damals aber noch auf die Kommunikation von Grundlagenforschern bezog, wurde zum zentralen Topos der Technologiepolitik, und sollte nun nicht mehr wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern ökonomische Erfolge garantieren. Unübersehbar manifestierte sich in diesem Konzept die Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt«. Wissenschaft wird in einem urbanen Modus konzipiert, der sich in der Organisation der wissenschaftlichen Arbeit sowie in der architektonischen und räumlichen Organisation der Wissenschafts-Technologiestandorte spiegelt. Wie es auch für Garching zu beobachten war, wurde versucht, eine urbane Atmosphäre herzustellen, Charakteristika städtischen Lebens, wie die zufälligen Begegnungen, Heterogenität, der informelle Austausch, Kommunikation gelten seit den 1990er Jahren als zentrale Faktoren, die Erfolg garantieren. Die Rede von den »kurzen Wegen«, den zufälligen Begegnungen und spontanen Gesprächen wurde zu einem Mythos, der seitens der Wissenschaft, von Lokalpolitikern, Architekten sowie Wissenschafts- und Technologiepolitik gebetsmühlenartig reproduziert und mittel urbaner »Atmosphäre« zu materialisieren versucht wird.

Die Konstruktion eines »kreativen Milieus« in Martinsried In Martinsried wurden gezielt Institutionen, Foren und Orte geschaffen, die ein »kreatives Milieu« konstituieren sollten. Man stellte eine soziale, kommunikative und architektonische Infrastruktur her (»soft« und »hard infrastructures«), die die Möglichkeit zufälliger Kommunikation, informellen Austauschs sowie die Bildung von Netzwerken eröffnen sollte. Ein Kernelement ist das Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IZB), das im Kontext der »Offensive Zukunft Bayern II« mit Unterstützung des Landes entstand.269 Nachdem von der Fraunhofer Management Gesellschaft ein Konzept entwickelt worden war, begann 269 Träger sind der Freistaat Bayern, der Landkreis München und die Gemeinde Planegg. 230

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dessen Bau im April 1995. Im Oktober 1995 zogen die ersten Unternehmen ein.270 In der Folgezeit wurde das IZB mehrfach erweitert bis zur »Westerweiterung«, die im Jahr 2002 eröffnet wurde. Damit wuchs das Zentrum von 1000m2 und sechs Mietern im Jahr 1995 auf knapp 15.000 m2. Im Jahr 2002 arbeiteten fast 400 Menschen im IZB, 2003 knapp über 400.271 Das Innovations- und Gründerzentrum kann als eine entscheidende neue Phase im Verhältnis von Wissenschaft und Technologie gelesen werden. Es überwand das dichotome Denkmodell, Grundlagenforschung hier, Anwendung dort. Nun sollten Wissenschaftler selbst zu Unternehmern werden, sie sollten verkaufbare Produkte entwickeln und von vornherein mit Blick auf industrielle Verwertbarkeit und Vermarktbarkeit forschen. Die Firmen, die dort »einziehen« möchten, müssen sich bewerben. Diejenigen, die zugelassen werden, müssen einen Geschäftsplan vorlegen und sich vor allem gleichzeitig als Forscher und Unternehmer präsentieren und dementsprechend Kenntnisse in beiden Sphären aufweisen – Anforderungen, die bislang innerhalb der universitären Ausbildung keine Rolle spielten. Entsprechend wurden in Martinsried Einrichtungen gegründet, die Wissenschaftlern, die ein Unternehmen gründen möchten, Unterstützung anbieten. So existiert in Martinsried eine Beratungs-, Vermittlungs- und Finanzierungsagentur, die BioM AG. Zu ihren wesentlichen Aufgaben zählen unter anderem die Unterstützung bei Projektförderanträgen, Informationsveranstaltung und PR-Arbeit, Ansiedlungsunterstützung für in- und ausländische Firmen, Beratungsgespräche mit potentiellen Unternehmensgründern, die Vermittlung von Finanzierungs- und Risikokapital.272

»Urbanisierung« des Biotechnologiestandorts Solche Institutionen oder Agenturen wie das IZB oder die BioM AG gehören zu technologiepolitischen Bemühungen, ein »kreatives Milieu« entstehen zu lassen, das Informelle zu institutionalisieren. Die Schaffung von lokalen Netzwerken, eines informellen Austauschs, von Kooperationen und Kontakten, die »soft infrastructure« steht dabei im Mittelpunkt. Dies geht einher mit der architektonisch und stadtplanerischen Gestaltung des Areals, der »hard infrastructure«, die gleichermaßen eine »Infrastruktur des Zufalls« herzustellen versucht und sich dabei urbaner Strukturen bedient: eine Kneipe, ein Cafe, ein italienischer Laden, eine »Piazza« vor dem Gebäude des IZB, auf dem sich die Wissenschaft270 Vgl. SZ, 18. /19. Mai 1996, S. 43. 271 http://www.izb-online.de/german_online/home.php , 23. Juli 2007 (siehe unter Standort Martinsried, Chronik). 272 http://www.bio-m.de/cp_start.html 20. Dezember 2005 231

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ler-Unternehmer in der Mittagspause treffen sollen.273 Das IZB-Gebäude selbst ist als »offene Struktur« konzipiert und verfügt über eine flexible Raumaufteilung. Wie einer der Geschäftsführer, Peter Hanns Zobel, formulierte: »Wir hatten die Vorstellung von einer kleinen Schweiz mit italienischem Flair: die Außenanlagen des IZB-West zeigen einerseits die verwirklichte Idee einer Piazza mit Brunnen als Ruhe- und Erholungsplatz, und zum anderen bieten sie dort eine neutrale Kommunikationsfläche für Grundlagenforscher (MPIs), Vertreter der Lehre (LMU), Firmen und Gründer«.274

Wie schon in Garching zeigt sich auch hier, wie die wissensbasierte Technologie mit der Betonung eines urbanen Modus der Organisation ihres Standortes einhergeht. Öffentliche Plätze, kurze Wege, eine soziale Infrastruktur, die Betonung von Kommunikationsmöglichkeiten, des zufälligen Aufeinandertreffens werden zu Instrumenten, mit denen ein »kreatives Milieu« hergestellt werden soll und mit dem an den Topos der Stadt als Ort der Kreativität angeknüpft wird. Betrachtet man die Selbstdarstellungen sowie die zahlreichen Berichte in Zeitungen, Zeitschriften, Reportagen, die von Nature über Focus, Spiegel, ZEIT gehen, und die von der enormen Medienaufmerksamkeit zeugen, so fällt auf, wie stark Martinsried als ein Kommunikationsraum verschiedener Akteure beschrieben wird, als ein Raum, in dem sich verschiedene Wissensformen begegnen und gegenseitig befruchten können. Analysiert man die Sprache, achtet auf die Schlüsselbegriffe in den Beschreibungen Martinsrieds, stößt man immer wieder auf Begriffe wie »immenser Gründergeist«275, Martinsried wird als »innovatives« oder »kreatives Milieu« bezeichnet, die »unmittelbare Nähe« unterstrichen, vom »Gesetz der kreativen Dichte«276 ist die Rede, von einer »ideale Brutstätte für neue Ideen und Unternehmenspläne«277, von einem »äußerst fruchtbarem Umfeld«.278 Dabei wird ein Bild entworfen, das die Vermischung von Privatem und Geschäftlichem betont. Jeder kenne jeden, bis in die späten Nachtstunden, so eine Reportage, sitze man in der »Szenepizzeria« und diskutiere die neuesten Forschungspro273 Vgl. Wirtschaft. IHK-Journal. 6/99, S. 17. Pressemitteilung des IZB vom 3. Juli 2002. 274 Vgl. Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie IZB (Hg.), Das Tor zur Biotechnologie – Festschrift. Martinsried 2002, S. 11. 275 C. Schüle: Bioboom. 276 Ebd. 277 Wirtschaft. IHK-Journal 6/99. 278 »Bayern soll Europas Spitzenstandort für Gen-Technologie werden«, in: SZ, 18. /19. Mai 1996, S. 43. 232

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bleme.279 Es fällt auf, wie stark das hier gezeichnete Bild dem Wunschbild der Wissenschafts- und Technologiepolitiker, und damit dem Topos der »kreativen Stadt« von einem »signpost of a dynmic and vibrant lifestyle.«280 entspricht. Die Berichte in den Medien reproduzieren die Ideale der Technologiepolitik, sie betonen die Vorteile räumlicher Nähe, spontaner Treffen, der Dichte verschiedener Institutionen und tragen damit zu deren Mythisierung bei. In der Medienberichterstattung wurde Martinsried so zum Synonym für Erfolg, ein Ort, der immer neue Forscher anzieht. Der Ruf Martinsrieds als erfolgreicher Biotechnologiestandort lebt mithin nicht nur von der materiellen Infrastruktur, sondern auch vom genius loci. Die permanente Betonung des Erfolgs reproduziert sich selbst, insofern dies weitere Unternehmen und Wissenschaftler anzieht. Man könnte dies auch als autopoietisches System bezeichnen oder als ein »magisches Karussell«, das sich ständig selbst neuen Schwung verleiht.281 In der Forschung finden sich jedoch skeptische Stimmen, die betonen, dass das Erfolgsrezept nicht automatisch funktioniert. Castells/Hall kamen in ihrer Studie »Technopoles of the World« zu dem Schluss, dass die räumliche Nähe allein nicht ausreiche, um tatsächlich Innovationen hervorzubringen. Sie stießen auf zu viele Beispiele, die zeigen, dass sich Institute und Unternehmen zwar nebeneinander befinden, auf dem selbem Gelände in unmittelbarer Nachbarschaft arbeiten, jedoch trotzdem nicht miteinander kommunizieren.282 Rosemary Wakeman beobachtete gleiches für Sophie-Antipolis. Während das Konzept dieser »kreativen Stadt« auf »cross-fertilization« zwischen Wissenschaft und Industrie und zwischen Unternehmen gesetzt und die entsprechenden »soft« und »hard infrastructures« etabliert hatte, kam Wakeman zu der Einschätzung: »Yet it was nearly impossible to breach the walls hat surrounded large corporations such as DOW or IBM, which hat little need for local interaction.« Wakeman konstatierte sehr deutlich: »Each of the three examples of technopolis – Sophia Antipolis, the ZIRST de Meylan, and Rangueil-Lespinet – was largeley unable to scale the difference in institutional cultures between scientific research and industry.«283 Ein Artikel in der Zeitschrift »Nature« wiederum äußerte sich fast schon sarkastisch über die »dreams of building a vibrant high-tech ›cluster‹ «. Während rund um die Welt, Politiker versuchen würden, die wenigen existierenden success stories zu kopieren, sieht der Autor »just one small pro279 280 281 282 283

Vgl. Wirtschaft. IHK-Journal, 6 /99 sowie Schüle, Bioboom. Vgl. J. Tay, Creative Cities, S. 220. Vgl. Wirtschaft. IHK-Journal. 6/99. Vgl. M. Castells/P. Hall: Technopoles. R. Wakeman: Planning, S. 264. 233

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blem. Despite the promise of thousands of new jobs, cluster development schemes rarely work. Success stories are the exception, not the rule. [...] Yet nobody really knows how to start a successful cluster from scratch.«284 In Martinsried sind jedenfalls die Bemühungen, eine urbane Atmosphäre zu schaffen – wie auch in Garching – bislang nur bedingt erfolgreich. Die Betrachtung des Forschungsstandortes Martinsried verweist wiederum eher auf eine auffällige Kluft zwischen Diskurs und Konzepten einerseits und der tatsächlichen Atmosphäre vor Ort andererseits, die man auch mit großem Wohlwollen kaum als urban oder »mit italienischem Flair« beschreiben kann. Die großen, sich in postmoderner Architektur präsentierenden Gebäude wie die Institute der LMU und das IZB stehen, so kommt man kaum umhin festzustellen, doch eher auf dem Acker, verbunden durch neu angelegte Wege, verschönert mit künstlich angelegten Landschaften und Plätzen vor den Gebäuden, die jedoch weniger zum Verweilen und Diskutieren zu dienen scheinen als zum raschen Überqueren. Cafés, Restaurants oder Geschäfte gibt es nicht. Die großplakatierte Anzeige des »Café Freshmaker« auf dem Areal scheint seine Leblosigkeit eher noch zu unterstreichen. Bislang stellt sich auch Martinsried als monofunktionaler Biotechnologiestandort dar, zu dem die Wissenschaftler, Studierenden und Unternehmer an- und abreisen.

284 Vgl. Nature, Vol. 428, 11 March 2004, 121. 234

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Abbildung 37-42: Ansichten des Forschungsareals (Piazza, IZB, LMU)

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Martinsried – ein kreatives Milieu? Um die alltägliche Praxis der wissenschaftlich-unternehmerischen Arbeit in Martinsried tatsächlich einschätzen, um hinter die in der Öffentlichkeit gezeichneten plakativen Bilder eines außerordentlich dynamischen, lebendigen und kommunikativen Forschungsareals blicken zu können, wäre eine umfassende soziologisch-ethnologische Studie notwendig, die sich auch des Instruments der »teilnehmenden Beobachtung« bedient. Hier geht es jedoch weniger um die ausführliche Analyse des status quo derzeitiger Forschungs- und Unternehmenspraxis als um das Aufzeigen eines historischen Wandels der Konzepte und der Aufgaben von Wissenschaft und ihres sich wandelnden Verhältnisses zur Stadt. Gleichwohl war es, um die Neuartigkeit der Forschungskultur in Martinsried und damit einen Wandel überhaupt beschreiben zu können, notwendig, in einer heuristischen empirischen Untersuchung Daten über die Unternehmen in Martinsried zu erheben, um beispielsweise die Herkunft der Jungunternehmer, ihr Selbstverständnis, die Bedeutung, die einem Ort wie Martinsried für die Entwicklung einer Biotechnologiefirma zugesprochen wird, zu eruieren. Jenseits der darüber hinaus notwendigen Analysen soll damit ein erster Versuch unternommen werden, einschätzen zu können, inwiefern von einer neuen Kultur wissenschaftlich-unternehmerischer Forschung seit den 1990er Jahren gesprochen werden kann und worin die Kontraste zu den früheren Dekaden liegen könnten. Ende Juli 2002 wurden daher Fragebögen an die 52 in Martinsried beheimateten Biotech-Firmen versandt. Drei kamen mit dem Hinweis »umgezogen« zurück. Von den 49 verbleibenden Fragebögen wurden 18 ausgefüllt zurückgesandt. Die Ziele des Fragebogens waren folgende: Erstens sollte eruiert werden, warum sich Unternehmen in Martinsried ansiedeln. Was sind ihre Motive und in welchem Verhältnis stehen diese zu den technologiepolitischen Konzepten? Spielen die von der Technologiepolitik betonten und geförderten Elemente für die Wissenschaftler-Unternehmer gleichfalls eine große Rolle? Zweitens gilt es das Konzept des »kreativen Milieus«, das in den Beschreibungen so betont wird, das sich geradezu zu einem Mythos entwickelt hat und von Medien und Technologiepolitik immer wieder reproduziert wird, zu hinterfragen: Welche Rolle spielen informelle Kontakte tatsächlich, wer kommuniziert mit wem über was? Resultieren tatsächlich neue Ideen, Innovationen aus der räumlichen Nähe? Drittens: Welche Bedeutung spielt das Lokale, der Ort Martinsried und in welchem Sinne? Viertens: Wer sind diese Firmengründer? Wo waren sie zuvor tätig? Verstehen sie sich als Wissenschaftler oder als Unternehmer? 236

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Konzentration des Wissens und eine »gute Adresse« Als Motiv für die Gründung oder die Ansiedlung eines biotechnologischen Unternehmens in Martinsried wurde an erster Stelle die Existenz zahlreicher anderer biotechnologischer Firmen genannt. Eine ähnlich große Rolle spielten zudem, nach den Aussagen der Befragten, die Existenz der wissenschaftlichen Institute wie das MPI (das am häufigsten (10x) genant wurde), das Klinikum in Großhadern, das IZB sowie bereits existierende persönliche Kontakte in Martinsried. Die Zentralisierung und Ballung fachlich verwandter wissenschaftlicher Institute und Unternehmen war daher ein maßgeblicher Faktor für die Firmengründer, ihr Unternehmen in Martinsried zu lokalisieren. In der Wahrnehmung biotechnologischer Unternehmensgründer hat Martinsried zudem einen »guten Ruf«, es steht für eine »gute Adresse«, was als Vorteil dieses Standortes genannt wurde. So halten es die meisten der Befragten für wichtig, ihren Firmensitz in Martinsried zu haben (14 Unternehmen). Gleichermaßen wichtig erschienen den Befragten die bayerische Forschungs- und Technologiepolitik und das Vorhandensein von Risikokapital, das die Region München als Standort für eine Firmengründung attraktiv macht. Weiche Faktoren wie die Möglichkeit der Erholung, der Freizeitwert Münchens etc. fielen dagegen kaum ins Gewicht. Auffällig ist zudem, dass die meisten der in Martinsried ansässigen Unternehmer und Unternehmerinnen bereits zuvor im Raum München beschäftigt waren. Es handelt sich somit häufig um regionale Wanderungsbewegungen, und es ist daher anzunehmend, dass in Martinsried viele Kontakte bestehen, die bereits früher existierten. Kurz zusammengefasst wurden die bayerische Technologiepolitik, das Vorhandensein von Risikokapital sowie vor allem die Dichte der Institute und Firmen und damit die Zentralisierung fachlich ähnlicher Institute und Firmen als zentraler Faktoren für die Entscheidung, sich in Martinsried anzusiedeln, genannt. Kommunikation- und Informationsaustausch Spielt die Existenz anderer Unternehmen sowie wissenschaftlicher Institute für die Ansiedlung in Martinsried eine bedeutende Rolle, so ist anzunehmen, dass dort tatsächlich eine hohe Kommunikationsdichte besteht. In der Tat gaben alle befragten Unternehmen an, Kontakte zu anderen Biotechnologie-Firmen in Martinsried zu haben, wobei sie diese Kontakte als »regelmäßig«, »häufig« und »sehr häufig« bezeichneten. Informelle wie auch formelle Kontakte (in Form von Kooperationen und Geschäftsbeziehungen) innerhalb Martinsrieds spielen gleichermaßen eine Rolle. So haben zwei Drittel der Befragten Geschäftsbeziehungen 237

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zu anderen biotechnologischen Firmen in Martinsried. Knapp die Hälfte der Befragten (7 Unternehmen) verfügt über mehr Kontakte in Martinsried, etwas mehr als die Hälfte (9 Unternehmen) dagegen über mehr überregionale, nationale und internationale Kontakte, bei zweien war das Verhältnis ausgeglichen. Die Bedeutung informeller Kontakte wird als hoch eingeschätzt. Sie geschehen vor allem auf persönlicher Ebene, und die Mehrheit gab an, dass sich Privates und Geschäftliches mischen. Interessant ist allerdings, dass die informelle Kommunikation in hohem Maße dem Informationsaustausch über ökonomische und geschäftliche Fragen sowie der gemeinsamen Nutzung von Instrumenten und technischer Infrastruktur dienen, eher selten jedoch der expliziten Diskussion von Forschungsproblemen. Offensichtlich scheint weniger die fachliche Debatte als die gegenseitige Hilfestellung im Neuland des »business« eine große Rolle zu spielen, also Informationen über Investoren und Firmenentwicklungschancen, Risikokapitalgeber etc. Zudem wurde die Möglichkeit des »networking« als zentraler Vorteil des Ortes angesehen, wobei auch die Pflege politischer Kontakte als wichtig angesehen wird. Damit lässt sich ein erheblicher Wandel hinsichtlich der Kommunikationsmuster im Wissenschaftsort Martinsried beobachten. Diente der Neubau eines biochemischen Instituts in den 1960er Jahren noch der Kommunikation von Wissenschaftlern verschiedener Forschungsrichtungen, um wissenschaftliche Probleme zu diskutieren, so treten in den 1990er Jahren wirtschaftlich-administrative Fragen in den Vordergrund. Das mag an der Neuheit des Typus des »Wissenschaftler-Unternehmers« liegen, der Notwendigkeit, sich in ein neues Feld – das der Unternehmensführung – einzuarbeiten. Und keineswegs ist damit gesagt, dass man nicht mehr über wissenschaftliche Fragen diskutiert. Es treten jedoch Fragen und Themen ganz neuer Art in den Horizont der einstigen Wissenschaftler, über die mit »Gleichgesinnten« ein intensiver Austausch besteht. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass Martinsried von den dort ansässigen Forschern und Jungunternehmern als »kreatives Milieu« wahrgenommen wird, wobei sich dies nicht nur auf die Möglichkeit des fachlichen Austausches, des Zugangs zu Information oder der gegenseitigen Beratung in betriebswirtschaftlichen Fragen bezieht, sondern zu einem maßgeblichen Teil auch auf die Atmosphäre, die Dynamik, eine leistungsorientierte Kultur, die motiviert und vorantreibt.

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Bedeutung des Lokalen Hat das Biochtechnologie-Cluster in Martinsried als Standort, als Ort der formellen und informellen Kontakte sowie als »gute Adresse« für die dort ansässigen Firmen eine hohe Bedeutung, so wird dagegen der Ort Martinsried von den Wissenschaftler-Unternehmern kaum wahrgenommen.285 Der Ort und das Forschungsareal sind damit, wie dies auch in Garching der Fall war, unverbunden; sie existieren eher nebeneinander als miteinander. Wissenschaftler und Jungunternehmer bewegen sich damit am Rande eines Dorfes, ohne dies wahrzunehmen.286 Zu einem ähnlichen Ergebnis kam ein von Olivier Crevoisier und Roberto Camagni herausgegebener Sammelband, der das Verhältnis von Stadt und innovativem Milieu untersuchte.287 Eine Frage, neben anderen, war es, in welchem Zusammenhang solche »innovativen Milieus« zu der Stadt, dem Ort, in dem sie sich befinden, stehen. Einige Fallstudien zeigten, daß innovative Milieus von der urbanen Atmosphäre profitieren oder sich gar die gesamte Stadt als innovatives Milieu auswirkt.288 Andere Untersuchungen machten jedoch deutlich, dass es zwischen Stadt und innovativem Milieu keinen Zusammenhang gibt. Rémy fasste dies zusammen: »La ville, le milieu, l’innovation sont des ensembles relativement autonomes. Ils peuvent se superposer plus ou moins fort, d’après les moments et les types de problèmes«.289 Der »Wissenschaftler-Unternehmer«: Protagonist einer neuen Forscherkultur? »Bis vor ein paar Jahren ist man in die Wissenschaft wie in ein Kloster eingetreten.«290

Das Martinsried der jüngsten Zeit bildet mit dem Versuch der Imitation einer urbanen Struktur einen Technologiestandort, der offensichtlich im Kontrast zu den Räumen der Wissenschaft steht, wie sie in den 1950er 285 So Hanns Zobel in einem Gespräch während einer Besichtigung des IZB am 16. September 2002. 286 Vgl. dazu auch die Ergebnisse der Forschung von GREMI, dazu: Heßler, Stadt. 287 Vgl. Olivier Crevoisier/Roberto Camagni (Hg.), Les milieux urbains: innovation, systèmes de production et ancrage, Neuchatel 2000. 288 R. Camagni: Das urbane Milieu, S. 294. 289 Jean Rémy: »Villes et milieux innovateurs: une matrice d’interrogations«, in: O. Crevoisier/R. Camagni (Hg.), milieux urbains, S. 33-43, hier S. 43. 290 Erwin Chargaff: »Man sollte lieber beten«, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen, Köln 2001, S. 261-264, hier S. 262. 239

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und 1960er Jahren konzeptualisiert wurden, als ein Bild der Wissenschaftler, die fern vom Alltag, von politischen und unmittelbaren Erfordernissen ihre Forschungen betreiben, dominierte. Ruft man sich die Beschreibungen des Garchinger Forschungsareals in den späten 1950er und 1960er Jahren in Erinnerung, so entsteht das Bild eines abgeschiedenen, rein auf wissenschaftliche Forschung orientierten Raums vor den Toren der Stadt, abseits weltlicher Belange. Ähnlich war das MPI für Biochemie in seiner isolierten Lage am Rande Martinsrieds von den Promovenden als »Martinsruh« wahrgenommen worden. Im Kontrast dazu scheint sich an Orten wie Martinsried eine neue Kultur der Wissenschaft, im Sinne anderer Kommunikations- und Kooperationsformen, anderer Ziele und Werte zu entwickeln. Die Ökonomisierung der Wissenschaft geht mit einem neuen Wissenschaftstyp einher, einer neuen Generation von Forschern, deren wissenschaftlicher Alltag von anderen Normen und Werten bestimmt wird als das in den Dekaden zuvor der Fall war. Von ihrer Herkunft her kommen die Martinsrieder Firmengründer zum Großteil (zwei Drittel der Befragten) aus der »Institution Wissenschaft«.291 Die Unternehmen sind Ausgründungen aus der Universität und Forschungsinstituten. Es handelt sich mehrheitlich um Akademiker aus naturwissenschaftlichem Milieu, nur wenige waren zuvor bereits Unternehmer, Abteilungsleiter, Unternehmensberater oder Mitarbeiter im Vertrieb. Die Anzahl der Promovierten (11) übersteigt deutlich die der habilitierten Wissenschaftler (3) und der Professoren. Nur drei der Befragten waren zuvor als Professoren beschäftigt. Zumeist sind die Firmengründer zwischen 30 und 40 Jahren alt.292 Die Frage, wodurch die Entwicklung ihres Produktes/der Technologie motiviert sei (Mehrfachnennung war möglich), beantworteten 13 mit »früherer Grundlagenforschung«, 12 mit »Orientierung am Markt« und

291 Für die Region München wurde im Oktober 2001 konstatiert, dass sich im Bereich Gentechnik 9 Firmen aus der Gesellschaft für Gesundheit und Umwelt, 13 Firmen aus dem MPI für Biochemie, 11 Firmen aus dem Genzentrum der Universität ausgegründet haben. Vgl. Rede Dr. Reinhard Dörfler, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für München und Oberbayern anlässlich der Jahrestagung des Ausschusses für Regionaltheorie und -politik des Vereins für Socialpolitik: »Existenzgründungen in Hightech-Sektoren und technologieintensive Dienstleistungsbranchen in der Region München – bleibt Munich-Valley die herausragende Hightech-Region?« am 25.Oktober 2001, 18:30 Uhr Kammersaal der IHK. 292 Ein Grund könnte sein, dass es sich hierbei um eine Generation handelt, die vor dem Problem der Aussichtslosigkeit einer dauerhaften universitären Beschäftigung steht. 240

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drei mit »Suche nach Produktlücken mit Aussicht auf einen lukrativen Absatzmarkt«. Sie bezeichnen sich selbst als Wissenschaftler und Unternehmer, nur wenige verstehen sich als reine Unternehmer und ebenso wenige als reine Wissenschaftler. Somit nehmen sie sich selbst als ein neuer, hybrider Forschungstypus war: ein Unternehmer-Wissenschaftler, der – zumindest im Falle Martinsrieds – mehrheitlich die Institution Wissenschaft verließ, um nun als Unternehmer wissenschaftlich zu arbeiten. Die Kompetenzen des Unternehmers mussten sich die Wissenschaftler dabei erst aneignen; zwei Drittel der befragten Unternehmen hatten zuvor keine unternehmerische Erfahrung. Nicht alle waren erfolgreich.293 Ein Merkmal der Forscherkultur in Martinsried ist die Vermischung von Arbeit und Leben, die die befragten Wissenschaftler-Unternehmer selbst betonen. Auch die Einrichtung einer Kinderbetreuungsstätte »Bio-Kids« für Kinder ab sechs Monate lässt sich in den Kontext einer neuen Forschungskultur einordnen. Die Kindertagesstätte wurde in direkter Nachbarschaft zum IZB gebaut; sie geht auf eine Initiative des IZB, dreizehn weiteren Biotech-Unternehmen und der BioM Ag zurück. Das Konzept sieht vor, dass dort auch Schulkinder betreut werden, die mit ihren Eltern in der IZB-Kantine zu Mittag essen können – auch dies ein Indiz für die stärkere Vermischung von Arbeit und Leben.294 Das IZB selbst betont dieses Anliegen: »Der Kindergarten ist neben der kürzlich eröffneten Gastronomie »Freshmaker« ein Beitrag, das IZB in einen Campus zum Leben und Arbeiten zu verwandeln«.295 Dies verweist auf gesellschaftliche Veränderungen, die sich im Forschungsstandort widerspiegeln, auf den Wandel der Lebensstile, die im Kontrast stehen zu der in den 1950er Jahren noch häufig vorherrschenden Rollenverteilung. Die Kinderbetreuung wurde zu einem in die Wissenschafts- und Unternehmenswelt zu integrierendem Element. Von soziologischer Seite wurde unter dem Stichwort »double squeeze« auf eine neue »Doppelbelastung« von zumeist männlichen Managern hingewiesen, die nicht nur einem hohen Leistungsdruck und extrem langen Arbeitszeiten in der beruflichen Sphäre ausgesetzt seien, sondern zugleich offensiveren Forderungen und neuen Ansprüchen seitens ihrer Partnerinnen und der Familie. Nicht zuletzt erheben sie an sich selbst den Anspruch, noch ausreichend Zeit mit der Familie zu verbringen und Zeit für 293 Die Referenten einer Tagung zur Biotechnologie waren sich einig, dass viele junge Biotechnologie-Unternehmen aufgrund mangelnder betriebswirtschaftlicher Kenntnisse gescheitert seien, so ein Bericht in der SZ, 11.Oktober 2002, S. 40. 294 Vgl. SZ-Beilage für den Landkreis, 18. Oktober 2001. 295 Vgl. Pressemitteilung des IZB, vom 10.6.2002. 241

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Soziales und Freizeit zu haben. Auf diese Weise geraten sie von zwei Seiten zunehmend unter Druck – eine Situation, die für berufstätige Frauen schon länger thematisiert, nun aber auch im Hinblick auf die Situation von Männern wahrgenommen wird und zu neuen Überlegungen in der Managementsoziologie und wohl teilweise auch bei Unternehmen führt. Die Erosion des traditionellen Familienmodells, nach dem Frauen und Familie als Ressource zum »Auftanken« zur Verfügung standen, führt demnach zu Veränderungen in der Arbeitswelt.296 Eine Vermischung von Arbeit und Leben, die Schaffung eines »urbanen Standortes« wären daher auch in die Tradition einer Human-Relation-Bewegung zu stellen, die mit »soft factors« versuchte, die Arbeitszufriedenheit und die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter zu erhöhen. Ein ähnliches Bemühen, einen Wissenschaftsstandort zum Arbeiten und Leben zu schaffen, findet sich in der Siemens-»Forschungsstadt« in Neuperlach, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird. Ähnlich wie in Neuperlach erweisen sich die Bemühungen, einen Ort »zum Leben und Arbeiten« zu schaffen, angesichts des suburbanen, monofunktionalen Standortes jedoch als tendenziell paradoxes Unternehmen. Ein Forschungsareal, das am Rande der Stadt München und am Rande eines Dorfes nur aus »Orten der Arbeit«, nämlich den wissenschaftlichen Instituten und einem Gründerzentrum, besteht, erzwingt letztlich einen Leben- und Arbeitsstil, der konträr zu den diskursiv propagierten Konzepten steht: die Forscher und Forscherinnen pendeln nach Martinsried ein, um dort zu arbeiten und zu forschen. Infrastrukturelle Möglichkeiten für ein soziales Leben bietet das Forschungsareal nicht. Trotz aller Betonung der Überwindung der Funktionstrennung, der Bemühungen, einen lebendigen Standort zu schaffen, präsentiert sich das »kreative Milieu« Martinsried eher als kontinuierliche Fortsetzung der isolierten Wissenschaftsareale der 1960er Jahre – wenngleich nun im postmodernen Kleid. Ein weiteres wesentliches Merkmal der Forschungskultur des Standortes in Martinsried ist die positive Haltung gegenüber der Ökonomisierung der Wissenschaften. Dies ist zwar bei Wissenschaftlern, die Unternehmen gründen, nicht überraschend, doch war dies aus Sicht des »Systems Wissenschaft« bis in die 1980er Jahre nicht selbstverständlich mit dem Wissenschaftlerethos vereinbar. Klaus Amann u.a. nannten in den 1980er Jahren vor allem zwei Gesichtspunkte, die öffentliche Forschungseinrichtungen »anfällig« für ihre Ökonomisierung machten: zum einen die finanzielle Situation der Hoch296 Vgl. Peter Ellguth/Renate Liebold/Rainer Trinczek: » ›Double Squeeze‹. Manager zwischen veränderten beruflichen und privaten Anforderungen«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 517-535. 242

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schulen, die sich aufgrund der andauernden Rezession nach vielen Jahren großzügiger Forschungsfinanzierung erheblich verschlechtert habe,297 zum anderen »de(n) politische(n) Druck auf die Universitäten, aktiv zu einer Effektivierung des als unzureichend empfundenen Technologietransfers beizutragen«.298 Etzkowitz verwies darüber hinaus darauf, dass Wissenschaftler entdeckten, dass sie mit ihren Forschungen Geld verdienen könnten. Wie Etzkowitz, Webster und Healey betonten, war es zwar auch in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht genug, dass Wissenschaftler, die staatliche Gelder einwarben, auf ihre Forschungsleistungen, ihre Publikationen und ihre Reputation hinwiesen. Vielmehr mussten sie »at least project a future ›product‹ from their research such as cure for a desease or an economically relevant technology.« Trotzdem waren vor allem Universitäten in den beiden ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg noch stärker auf die Bereiche Lehre und Forschung konzentriert, während das Bild dominierte, sie würden in einem allgemeinen, jedoch nicht in einem unmittelbaren Sinne zur gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung beitragen.299 Chadarevian wie auch Etzkowitz, Webster und Healey betonten aber, dass die Versprechungen und Ankündigungen über die langfristigen Erträge der Wissenschaft schließlich zur unmittelbaren Forderung nach ökonomischer Verwertbarkeit geführt hätten: »Now the bill has become due and those earlier promises, whether they were meant to be taken literally or not, have become a contributing factor to changing the purpose of the university.«300 Heute ist von der »Kommerzialisierung«, der »Ökonomisierung« oder »Privatisierung« der Wissenschaften die Rede.301 1988 hatte der Wissenschaftsrat festgestellt, es gäbe den Wunsch »die Forschung (zu) instrumentalisieren und primär als Mittel zur Wohlstandssteigerung im weitesten Sinne anzusehen«.302 Auch hier handelt es sich allerdings nicht um eine historisch völlig neue Entwicklung, jedoch um wesentli-

297 Vgl. Klaus Amann u. a.: Kommerzialisierung der Grundlagenforschung. Das Beispiel Biotechnologie, Bielefeld 1985, S. 7. 298 Ebd., S. 7. 299 Vgl. Henry Etzkowitz/Andrew Webster/Peter Healy (Hg.), Capitalizing Knowledge. New Intersections of Industry and Academia, Albany 1998, Foreword, S. Xii. 300 Vgl. H. Etzkowitz/A. Webster/P. Healey: Introduction, S. 4. 301 Vgl. Henry Etzkowitz:»Entrepreneurial Science in the Academy: A Case of the Transformation of Norms«, in: Social Problems 36 (1989), S. 14-28, hier S. 14. 302 G. Ritter: Großforschung, S. 113. 243

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che Verschiebungen, die seit den 1970er und vor allem den 1990er Jahren zu beobachten sind.303 Die Rede von der Ökonomisierung der Wissenschaft umfasst verschiedene, eng verflochtene Dimensionen. Sie meint zum einen den Verkauf von Wissen, dessen Privatisierung. Dazu gehören vor allem die Neugründungen von Firmen durch Wissenschaftler. Zum zweiten impliziert es die Produktion von verwertbarem Wissen; dies bedeutet die Ausrichtung öffentlicher Forschungseinrichtungen an Markterfordernissen. Zum dritten impliziert eine Ökonomisierung der Wissenschaft den Wandel der Aufgaben der Universitäten. 1997 forderte beispielsweise die Bundesregierung in ihrem Entwurf zur Novellierung des Hochschulrahmengesetztes explizit, die Aufgabe der Hochschulen sei auch der Wissens- und Technologietransfer.304 Öffentliche Forschungseinrichtungen erhielten damit offiziell neben Forschung und Lehre einen neuen Auftrag. Etzkowitz u.a. hatten für die USA konstatiert, dass seit den 1980er Jahren Universitäten über ihre traditionellen Pflichten wie Forschung und Lehre hinaus, aufgefordert waren, einen Beitrag zur ökonomischen Entwicklung zu leisten. »A new common form of academic institution is emerging in the late twentieth century. From its medieval origin as a corporation of scholars or students, the university is evolving into the contemporary entrepreneurial university.«305 Viertens ist die Ökonomisierung der Wissenschaften von einem Wandel der Normen und Wertevorstellungen begleitet. Die Rolle des Wissenschaftlers, so Etzkowitz, habe sich über die Jahrhunderte gewandelt von einer »gentlemanly activity undertaken by disinterested amateurs« über das Konzept einer Tätigkeit im Sinne einer »Berufung«, aufgrund derer sich der Wissenschaftler ganz der Entdeckung und der wissenschaftlichen Arbeit hingab, bis hin zum »entrepreneurial scientist«, der in den letzten Dekaden die wissenschaftliche Bühne betrat.306 Der Wissenschaftler, der Forschung im Sinne einer Berufung praktizierte, entsprach dem Bild, das Merton in seiner klassischen Arbeit von 1942 303 »The transformation of science into economic good is not new. Certainly most technological knowledge derives from industrial practice. [...] There have also been significant instances of the transformation of scientific ideas into industrial use since the advent of the Industrial Revolution. [...]. What is new is the intensification of this process, including the time span between discovery and utilization, and increased reliance of industry on knowlegde originated in academic institutions. Vgl. H. Etzkowitz/ A. Webster/P. Healey: Introduction, S. 2. 304 Zitiert nach U. Schmoch/G. Licht /R. Reinhard (Hg.), Wissens- und Technologietransfer, S. 76, Fußnote 31. 305 Vgl. H. Etzkowitz/A. Webster/P. Healey: Introduction, S. 1. 306 Vgl. ebd. S. 204. 244

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zeichnete und nach dem der Wissenschaftler als ein unparteiischer, keine politischen, kommerziellen oder egoistischen Interessen verfolgender Forscher arbeitet, als jemand, der sein Wissen als öffentliches Gut betrachtet, das von seiner peer group bewertet wird.307 Mertons Bild des Wissenschaftlers war, wenn es überhaupt jemals eine treffende Beschreibung darstellte, schon untergraben, als er sein Buch schrieb. Gleichwohl, zum einen formen Bilder Wirklichkeit: die kulturellen Zuschreibungen, die die Rolle des Wissenschaftlers erfährt, prägen die Selbstwahrnehmung mit und stecken in gewisser Weise den Rahmen des Möglichen ab. Zum anderen ist der Wandel solcher Bilder sehr aufschlussreich. So war das Bild eines Wissenschaftlers, der die Möglichkeit des Verkaufs seiner Forschungsergebnisse als mit dem wissenschaftlichen Ethos unvereinbar ansah, lange Zeit, und auch nach 1945, zentral für das Selbstverständnis von Wissenschaftlern.308 Reputation erwarben sich Wissenschaftler über Publikationen, nicht über Geld. Während es, so fasste Etzkowitz dies für die US-amerikanische Entwicklung zusammen, das traditionelle Ethos der Wissenschaft nicht zuließ, die Grenze zwischen Wissenschaft und »private, profit-seeking business« zu überschreiten, wurden solche Beschränkungen in den 1980er Jahren nicht mehr als notwendig oder richtig angesehen. Etzkowitz zitiert einen interviewten Wissenschaftler, der feststellte: «I never realized I had a trade. […] I can do good science and make money«.309 Das »kreative Milieu« Martinsried der 1990er Jahre zeigt, wie vor allem jüngere Wissenschaftler die Ökonomisierung der Wissenschaft nicht nur als Anforderung von außen, sondern vor allem auch als Chance wahrnehmen. Die Vorstellung, dass dies nicht mit dem Ethos eines Wissenschaftlers vereinbar sei, ist ihnen fremd. Die zahlreichen Neugründungen biotechnologischer Firmen, zumeist von Wissenschaftlern, verweist auf einen solchen Wandel der Normen. Einige postulieren diesen Wandel ganz offensiv. Kommerzialisierung wird dann als Motor der Forschung gesehen. Es ist die Rede davon, dass Biomedizin »Big Business« ist. Im Innovationsprozess gehe es darum, »Wissen in Geld umzuwandeln«310. 307 Robert K. Merton: Entwicklungen und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, Frankfurt am Main 1985 (engl. 1973). 308 H. Etzkowitz: Entrepreneurial Science, S. 14. 309 Ebd., S. 26. 310 Horst Domdey: »Biotechnologie in der Region München«, in: Europäische Städte: Wachstumsmotoren auf dem Weg ins III. Jahrtausend. Konferenz in München, 04.-05. März 1999. Hg. von Landeshauptstadt München, Referat für Arbeit und Wirtschaft. München 1999, S. 131-136, hier S. 131. 245

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Welche gesellschaftlichen, ökonomischen und wissenschaftlichen Konsequenzen diese sich abzeichnende neue Kultur haben wird, lässt sich noch nicht absehen. Kritisch diskutiert werden derzeit vor allem die Entwicklung des Wissens zur Ware, die Privatisierung des Wissens und die damit einhergehende Kultur der Geheimhaltung von Forschungsergebnissen, die in krassem Gegensatz zu einer Kultur der Offenheit und des freien Wissensaustausches steht. Wie Robert Merton konstatierte: »Secrecy is the antithesis of this norm, full and open communication its enactment.«311 Paul Berg klagte bereits 1979: »…no longer do you have this free flow of ideas. You go to scientific meetings and people whisper to each other about their company’s products. It’s like a secret society.«312 Entsprechend konstatierte Susan Wright in ihrer Untersuchung der Auswirkungen der Kommerzialisierung auf das »Ethos« der Forschung: »The most obvious effect of this change in the treatment of knowledge was the secrecy that began to inhibit the sharing of information and materials among researchers.«313 Die Entwicklungen in Martinsried, einem Standort der Biotechnologie, sind zweifellos ein Beispiel für die Prozesse der Ökonomisierung der Wissenschaft: Die Wissenschaft wurde zu einer Kategorie der Technologiepolitik, zu einem unmittelbaren Instrument, um ökonomische Innovationen und ökonomische Prosperität hervorzubringen. Mithin lässt sich seit den 1970er Jahren ein Wandlungsprozess beobachten, der sich seit den 1990er Jahren radikalisierte, in dessen Verlauf sich die Naturwissenschaften weit mehr als zuvor gesellschaftlich legitimieren mussten und stärker als zuvor in ökonomische Kontexte gestellt wurden. Nicht zuletzt bildet sich eine neue Generation von Forschern und Forscherinnen heraus, die sich selbst als Wissenschaftler-Unternehmer verstehen und dementsprechend den Wandlungsprozess zu einer Ökonomisierung der Wissenschaft forcieren. Während die Vorstellungen, wissenschaftliche Erkenntnis ging mit gesellschaftlichem Fortschritt einher, seit den 1970er Jahren erodierte, das Fortschrittsparadigma ins Wanken geriet und Wissenschaft und Technik in der Öffentlichkeit schärfer kritisiert und hinterfragt wurden, gilt dies allerdings nicht für die Verbindung von Wissenschaft und Ökonomie. Wissenschaftlich-technischer »Fortschritt« wird mehr denn je mit Hoffnungen auf ökonomisches Wachstum verknüpft. Hier ist vielmehr eine Radikalisierung zu beobachten, die sich schließlich im Typus des »Wissenschaftler-Unternehmers« kristallisiert. 311 Susan Wright: »Recombinant DNA Technology and Its Social Transformation, 1972-1982«, in: Osiris 2 (1986), S. 303-360, hier S. 356. 312 Ebd., S. 357 313 Ebd. 246

MARTINSRIED ALS »GENE VALLEY«

Die langfristigen Auswirkungen auf das System der Wissensproduktion werden zuletzt auch davon abhängen, welchen Stellenwert, welche Bedeutung die Ökonomisierung und Privatisierung von Wissen im Gesamtsystem der Wissenschaft erfährt, ob sie also stark auf akademische Forschungspraxen an Universitäten zurückwirkt und vor allem inwieweit sie wissenschaftliche Forschung, die weniger am Markt orientiert ist und auch nicht sein kann – Fächer beispielsweise, die sich kaum als Schlüsseltechnologien eignen –, in Bedrängnis bringen wird oder ob beide parallel existieren werden. Was auf den ersten Blick vielleicht nicht ersichtlich ist, ist, dass diese Ökonomisierung der Wissenschaft in engem Zusammenhang mit stadthistorischen Entwicklungen steht. Eine dermaßen ökonomisierte Wissenschaft entdeckte den Topos der Stadt als kreativen Ort wieder, nachdem die Wissenschaft zuvor aufs Land gezogen war, abseits jeglichen Trubels, jeglicher Fragen nach ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit. Geht dies im gegenwärtigen Diskurs um die »kreative Stadt« mit Hoffnung auf eine Renaissance des Städtischen einher, so handelt es sich jedoch aus zwei Gründen gerade nicht um ein Revival urbaner Qualitäten und urbaner Standorte: Zum einen kehren wissenschaftliche Institute und High-Tech-Unternehmen der Stadt den Rücken; sie siedeln sich in der Peripherie der Städte an. Zum anderen wird diese Peripherie nur scheinbar urbanisiert, indem Signaturen und Codes von Urbanität, wie öffentliche Plätze, Foren der Begegnung, »Infrastrukturen des Zufalls«, kurz: »hard and soft infrastructures« der »kreativen Stadt« zu etablieren versucht werden, die jedoch bislang keine wirkliche urbane Qualität entfalten, sondern vielmehr artifizielle, weitgehend leblose Orte darstellen.

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6.

N E U P E R L AC H : »E N T L AS T U N G S S T AD T « U N D »F O R S C H U N G S S T AD T «

»….sich trotz aller modernen Bebauung beim Einkaufsbummel wie in einer italienischen Stadt fühlen.«1 »Das Zentrum einer Wissenschaftsindustrie kann nicht in einer Provinzstadt entstehen.«2

Wurde Garching im Norden Münchens zu einem Synonym für einen renommierten Wissenschaftsstandort, der seinen Anfang in den 1950er Jahren mit der Atomphysik nahm, und gilt Martinsried im Süden als erfolgreiches »kreatives Milieu« der Biotechnologie der 1990er Jahre, so symbolisiert Neuperlach im Osten heutzutage zweierlei: den Schrecken einer Trabantenstadt, die Sünden der Stadtplanung der 1960er Jahre einerseits sowie die »Forschungsstadt« der Firma Siemens, erbaut in den 1970er Jahren, andererseits. Aus heutiger Sicht handelt es sich dabei um zwei Phänomene, die, zwar am gleichen Ort, jedoch ohne Verbindung nebeneinander existieren. Dies entsprach allerdings keineswegs den zeitgenössischen Planungen der Stadt München. Diese sahen vielmehr vor, dass der Forschungsstandort der Firma Siemens (auch räumlich) ein integraler Bestandteil der neuen »Entlastungsstadt« Neuperlach sein sollte.

1 2

Süddeutsche Zeitung, 26. Juli 1968, S. 15. Münchner Merkur, 7./8. März 1970, S. 9. 249

DIE KREATIVE STADT

Beide Phänomene, »Entlastungsstadt« und »Forschungsstadt«, stellen Beispiele für die Wiederentdeckung der Stadt zu dieser Zeit dar: sie waren beide als eine »Stadt vor der Stadt« konzipiert. Anfang der 1960er Jahre setzten die Planungen für die »Entlastungsstadt« Neuperlach ein, die das Bemühen um Urbanität und Identität betonten und die ein Stadtzentrum, Kinos, Restaurants, Einkaufsmöglichkeiten, gar Kanäle und vor allem Arbeitsplätze für die dort wohnende Bevölkerung vorsahen. Gleichwohl prägen heute mächtige Hochhäuser das Bild. Hochhäuser, die die gepflegten Rasenflächen und schmalen Fußwege einzwängen; breite Autostraßen, die Dominanz des Betons sowie die Menschenleere sind mittlerweile zu den negativen Merkmalen der »Entlastungsstadt« geworden: Neuperlach ist eine der typischen Wohn-Schlafsiedlungen am Stadtrand geworden, die man gerade vermeiden wollte. Gleichzeitig ist Neuperlach ein Symbol für einen High-Tech-Standort, für Datentechnik, Datenverarbeitung und Mikroelektronik. Die Firma Siemens baute dort in den 1970er Jahren eine »Forschungsstadt«3, deren Bau sich gleichfalls an »urbanen« Konzepten orientierte, am Topos der »kreativen Stadt«. Neuperlach unterscheidet sich als Standort der Mikroelektronik von den beiden anderen untersuchten Orten, Garching und Martinsried, in dreifacher Hinsicht: Erstens ist die Mikroelektronik weniger geographisch konzentriert als dies beispielsweise für die Biotechnologie im Münchner Raum zu beobachten ist. In München residieren – über die Stadt verteilt – große nationale und internationale Unternehmen wie Siemens, Philips, Nixdorf, Digital Equipment oder Apple und viele weitere Computerfirmen. Darüber hinaus nahmen, einer Untersuchung der TU München zufolge, von Mitte der 1970er bis ca. Mitte der 1980er Jahre rund 2.500 Mikroelektronik-Unternehmen im Raum München ihre Geschäfte auf.4 Zu dieser Zeit befanden sich zwei Drittel im eigentlichen Stadtgebiet, ein Drittel im Einzugsgebiet des Verkehrsverbundes. Kleine, neu gegründete Unternehmen herrschten vor. Von diesen Firmen war allerdings nur knapp ein Drittel in der Mikroelektronik im engeren Sinne tätig; zwei

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Siemens Archiv München (im folgenden SAA): ZB-Rundschreiben Nr. 3/79, D-Rundschreiben Nr. 14/79, 7.9.1979, gez. Peisl und Günther. Vgl. Bayern – Magnet der Computerindustrie, Vortrag auf der Jubiläumsveranstaltung des Bayerischen Werbe-Fach-Verbandes e.V. am Donnerstag den 12. Nov. 1987, München. von Dr. Werner Poschenrieder, Mitglied des Vorstands der Siemens AG; (Unterlagen zur Verfügung gestellt von der IHK-München). Vgl. auch H.-D. Haas: München, S. 178.

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Drittel arbeiteten in der Mikroelektronik-»Peripherie«, z.B. als Vertriebs- und Serviceniederlassungen.5 München gilt nicht nur als ein oder gar das bedeutendste Elektronik-Zentrum Deutschlands,6 sondern umgekehrt ist auch die Bedeutung der Mikroelektronik für den Strukturwandel Münchens (und Bayerns) zu betonen. Im Kontext der Mikroelektronik erhielt München in den 1980er Jahren den Namen »Municon Valley«7. 1986 waren in Bayern von insgesamt 1,4 Millionen Industriebeschäftigten allein 254.000 in der Elektro- und Elektronikbranche beschäftigt. Gut 40% davon hatten ihren Arbeitsplatz bei Siemens.8 Die Forschungen über Münchens Aufstieg zur High-Tech-Stadt messen der Firma Siemens daher eine enorme Bedeutung bei.9 Haas konstatierte beispielsweise 1991, dass von 30.000 Siemens-Mitarbeitern, die mit Forschung und Entwicklung befasst waren, allein 12.000 ihren Arbeitsplatz in München hatten.10 Zudem war Siemens mit weitem Abstand der bedeutendste Abnehmer für die hohe Zahl der Münchner Mikroelektronikfirmen. Vier von fünf Unternehmen zählten Mitte der 1980er Jahre Siemens zu ihren Großkunden.11 Schließlich wird Siemens eine Rolle als »Magnet« zugewiesen: andere Unternehmen zogen in die Nähe Münchens, so beispielsweise 1965 Texas Instruments.12 Die Entscheidung der Firma Siemens, ihren Hauptsitz von Berlin nach München zu verlegen, ist bereits häufig geschildert worden.13 Schon zu Beginn des Jahres 1945 beschlossen die Vorstände von Siemens & Halske und der Siemens-Schuckert-Werke aufgrund der unsicheren politischen und militärischen Lage, die zentralen Abteilungen aus Berlin auszulagern. Im April 1949 wurde offiziell die Umsiedlung der Firmensitze von Siemens & Halske nach München und der Sie5 6 7 8 9 10 11

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Vgl. »Was München zum Elektronikzentrum machte«, in: Industrie und Handel 9 (1985). Vgl. H.-D. Haas: München, 178. Vgl. M Castells/P. Hall: Technopoles, S. 173. Vgl. H.-D. Haas: München, S. 177. Vgl. ebd. S. 178, R. Sternberg: Technologiepolitik, S. 238, M. Castells/P. Hall: Technopoles. Vgl. H.-D. Haas: München, S. 178. Vgl. Standortanalyse von Unternehmen der Mikroelektronik im Großraum München. Diplomarbeit an der betriebswirtschaftlichen Fakultät der LMU von Carsten Schmeißer. 28. 2.1985, S. 73. Vgl. ebd. und M. Castells/P. Hall: Technopoles, S. 174f. Vgl. 150 Jahre Siemens. Das Unternehmen von 1847-1997, München 1997, hg. von der Siemens AG sowie Wilfried Feldenkirchen: Siemens von der Werkstatt zum Weltunternehmen, München Zürich 1997, M. Castells/P. Hall: Technopoles, S. 179f., R. Sternberg: Technologiepolitik, S. 238. 251

DIE KREATIVE STADT

mens-Schuckert-Werke nach Erlangen beschlossen. Im Laufe der folgenden Dekaden entwickelten sich in München verschiedene Standorte (Hofmannstraße, Balantstraße sowie Fertigungsstätten im Münchner Norden), die allesamt Ende der 1960er Jahre an die Grenze ihrer Raumkapazitäten stießen.14 Dies führte unter anderem, wie weiter unten gezeigt werden wird, zum Neubau der »Forschungsstadt« am Rande Neuperlachs. Mitte der 1980er Jahre gab es zudem eine privatwirtschaftliche Initiative, die versuchte, in Neuperlach in unmittelbarer Nachbarschaft zu Siemens ein »Technologiezentrum« zu errichten. Die Idee war, dass sich um die Firma Siemens herum zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen, Jungunternehmen und Institute ansiedeln, und somit ein »kreatives Milieu« entstehen würde, in dem die Unternehmen untereinander kooperieren und konkurrieren und das zur Brutstätte für Innovationen und wirtschaftliche Prosperität werden würde.15 Die Münchner Presse kündigte das neue Technocenter euphorisch an,16 und auch in der Forschung wurde es gegenüber der Siemens-Denkfabrik in Neuperlach erwähnt und auf die hohen Erwartungen im Hinblick auf die Entwicklungen eines »Municon Valley« verwiesen.17 Die Spuren dieses Technocenters verlaufen sich jedoch im Sande. Heute weiß jedenfalls niemand mehr etwas von diesen Plänen. Wie auch immer, Neuperlach stellt mit der Siemens-»Forschungsstadt« gewissermaßen ein Herzstück der Mikroelektronik in München dar, weshalb es im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird. Zweitens handelt es sich im Unterschied zu Garching und Martinsried hier um den Forschungsstandort eines Unternehmens. Dies ermöglicht den Vergleich von Standorten, deren Ausgangspunkt wissenschaftliche Institute waren und die zu einem Technologiestandort, zu einem »kreativen Milieu« überformt wurden, mit einem Standort der Industrieforschung, die sich selbst als »Wissenschaftsindustrie« bezeichnet – und gleichfalls darauf abzielte, ein (siemenseigenes) »kreatives Milieu« zu etablieren. Drittens siedelte sich diese »Wissenschaftsindustrie« nicht am Rand kleiner Dörfer, sondern an der Peripherie einer neu gebauten »Entlastungsstadt« an. Dies wirft nicht nur Fragen nach dem Verhältnis von 14 Vgl. technik+münchen. Mitteilungsblatt der Technisch-Wissenschaftlichen Vereine Münchens, Juni 1980, Siemens in München-Perlach, S. 47 (vorhanden in IHK München). 15 »Isarmetropole will zum Municon Valley »avancieren««, in: Computerwoche Nr. 3, 18.01.1985. 16 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 8. Februar 1985, S. 3. 17 Vgl. H.-D. Haas: München, S. 171f., S. 196. 252

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»Forschungsstadt« und »Entlastungsstadt« auf, sondern auch nach dem des Unternehmens Siemens zur Stadt München oder allgemeiner nach dem Verhältnis der »Wissenschaftsindustrie« zur Stadt. Die Geschichte Neuperlachs verkörpert geradezu exemplarisch das Zusammenwirken von Stadt- und Wissenschaftsgeschichte. Gerade im Begriff der Urbanität, im Konzept der »kreativen Stadt« verbinden sich stadt- und wissenschaftshistorische Aspekte, insofern »Entlastungsstadt« und »Forschungsstadt« ursprünglich nicht nur als integrierte Einheit gedacht waren, sondern auch weil sich viele Parallelen, Gleichzeitigkeiten in den Konzepten ihrer Entstehung finden. Diese gilt es im Folgenden aufzudecken.

6.1. Die »Entlastungsstadt« Neuperlach: D i e » S t a d t vo r d e r S t a d t « 6.1.1. Ausgangssituation: Expansion der Stadt, Suburbanisierung und der »Tod« der Stadt Der Bau der »Entlastungsstadt« Neuperlach kann als ein Versuch der Stadt München gelesen werden, auf drei zentrale Probleme der 1960er Jahre zu reagieren: erstens, auf die Expansion und das Wachstum der Stadt, zweitens auf starke Suburbanisierungstendenzen sowie drittens auf die Kritik an den Ergebnissen der Funktionstrennung und am Verlust von »Urbanität«. Neuperlach steht – auch wenn dies heute geradezu paradox erscheint – für die Wiederentdeckung des Topos der Stadt im Kontext der Kritik am Funktionalismus. Die moderne, funktionalistische Stadtplanung und die Konzepte moderner Architekten waren außerordentlich wirkungsvoll, bis dahin, dass sie schließlich späterhin für den Tod der Stadt wesentlich verantwortlich gemacht wurden. Hier setzten auch die Planungen der Entlastungsstadt Neuperlach an. Die vielfach als tot bezeichnete Stadt sollte revitalisiert, das Trauma des Funktionalismus überwunden werden.

Wachstum und Expansion Münchens Die Stadt München wuchs seit den 1950er Jahren im industriellen Sektor enorm.18 Gleichzeitig war sie mit einem rapiden Anstieg der Bevölkerung konfrontiert. 1967 berichtete der Münchner Stadtanzeiger alar18 Vgl. Stadtarchiv München (im Folgenden: StadtA Mü), Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Erläuterung der Planung vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Landesgruppe Bayern, 21. April 1967. 253

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miert: »In den letzten 16 Jahren stieg die Zahl der Stadtbewohner um 414.000 auf 1,24 Millionen.«19 Allein im Jahr 1969 war München um fast 44.000 Einwohner gewachsen.20 Entsprechend war die Situation auf dem Wohnungsmarkt dramatisch. Mit diesem anhaltenden Bevölkerungswachstum stellte München in der Bundesrepublik eine Ausnahme dar. Zwar hatten viele deutsche Großstädte bereits 1950 wieder ihre Vorkriegseinwohnerzahl erreicht und wuchsen auch danach weiter.21 Doch bald geriet das Bevölkerungswachstum in den meisten Großstädten ins Stocken. Sie verzeichneten gar zwischen 1961 und 1970 einen negativen Wanderungssaldo, während ihr Umland zu wachsen begann. In München dagegen stiegen die Bevölkerungszahlen in diesem Zeitraum nicht nur im Umland, sondern auch in der Kernstadt um ca. 300.000 Einwohner.22 Eine »neue Stadt« an der Peripherie Münchens sollte diese daher »entlasten«.23 Bereits zu Beginn der 1960er Jahre hatte die Stadt den »Münchner Plan zur Behebung der Wohnungsnot« aufgestellt,24 den Stadtentwicklungsplan, der 1963 verabschiedet wurde. Er leitete eine »fieberhafte Bauepoche« (Luther) ein, in der München durch den »verkehrsgerechten« Straßenausbau, die Anlage von Parkhäusern, den S- und U-BahnBau, die Anlage erster Fußgängerzonen, die Bauten für die Olympiade 1972 und schließlich durch die Errichtung von »Trabantenstädten« nachhaltig umgestaltet wurde.25 Die Pläne zum Bau von »Entlastungsstädten« wurden zudem durch Gutachten, die die Prognos AG Basel und 19 Münchner Stadtanzeiger, 12. Mai 1967, S. 1-4. 20 Vgl. Schriftenreihe des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Versuchs- und Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. München-Neuperlach. Großformen und Differenzierung. 01.058, S. 7. 21 Vgl. Karolus Heil: »Neue Wohnquartiere am Stadtrand«, in: Wolfgang Pehnt (Hg.), Die Stadt in der Bundesrepublik. Lebensbedingungen, Aufgaben, Planung, Stuttgart 1974, S. 181-200, hier S. 183. Noch in den 1960er Jahren stieg die Bevölkerung in den bundesrepublikanischen Stadtregionen um jährlich 1%. Vgl. Wulf Tessin: »Zum Entstehungskontext der Stadtteilsiedlungen in den sechziger Jahren«, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Massenwohnung und Eigenheim. Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt, New York 1988, S. 494-512, hier S. 496 22 Vgl. T. Harlander: Wohnen und Stadtentwicklung, S. 291. 23 Vgl. Betreff: Stadtteil Perlach. Planung für das Stadtteilzentrum und die Wohnquartiere Mitte und West. Anhang zum Beschlussvortrag des Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsausschusses vom 9. Dezember 1970, Gutachten der Arbeitsgruppe für Sozialforschung München. 24 StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Baureferat, Bekanntgabe im Stadtplanungsauschuß vom 11. Juli 1968. 25 Vgl. T. Harlander, Wohnen und Stadtentwicklung, S. 293. 254

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das Ifas-Institut in Bad Godesberg aufgestellt hatten, bestärkt. Denn diese hatten für die Region München eine Einwohnerzahl von drei Millionen im Jahr 1990 errechnet.26

Suburbanisierung / Ausdehnung der Stadt Der Handlungsdruck war daher groß. Zudem wurde er durch den Wandel Münchens zu einer »ausgedehnten Stadtregion«, die immer weiter ins Umland wucherte, verstärkt.27 Ein Suburbanisierungstrend, wie er generell zu dieser Zeit in der Bundesrepublik zu verzeichnen war, ließ auch München an den Rändern wachsen. Die Kritik an diesem Ausufern der Städte war einhellig.28 Alexander Mitscherlich hatte mit seiner Polemik gegen den Egoismus des deutschen Eigenheims die möglichen ökologischen und sozialen Folgen überdeutlich gezeichnet und in die gesellschaftliche Debatte gebracht.29 Gerade München war geprägt von einem starken Gegensatz von »dicht bebautem und in allen Funktionen überlasteten Stadtzentrum und einer niedrigen, aufgelockerten, städtebaulich unwirtschaftlichen Stadtrandzone«.30 Um diese Entwicklung zu stoppen, strebten die Konzepte zur Stadtentwicklung »an einigen geeigneten Punkten dieser Randzone eine besondere städtebauliche Verdichtung« an. Mit einer solchen »punktförmigen Konzentration am Stadtrand«, wie dies formuliert wurde, sollte dem »breiartigen Auseinanderfließen«, dem »unbefriedigenden Zerfließen der Stadt« entgegengewirkt und den »Auswucherungen Einhalt« geboten werden.31 Mithin war es ein wesentliches Ziel, mit dem 26 Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Erläuterung der Planung vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Landesgruppe Bayern, 21. April 1967 sowie Stadtbaurat Edgar Luther: »Entlastungsstadt Perlach. Teil der städtebaulichen Entwicklung Münchens«, in: Entlastungsstadt Perlach in München. München 1967, S. 32. 27 Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Baureferat, Bekanntgabe im Stadtplanungsauschuß vom 11. Juli 1968. 28 Vgl. Wolfgang Hartenstein: »Zum Thema«, in: Katrin Zapf/Karolus Heil/Justus Rudolpf (Hg.), Stadt am Stadtrand, Bremen 1969, S. 10. 29 Vlg. Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt 1965. 30 Vgl. StadtA Mü, Baureferat Gruppe Stadtplanung, München, 27. Januar 1967 (Aufgabe des Wettbewerbs), StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4 Baureferat, Bekanntgabe im Stadtplanungsauschuß vom 11. Juli 1968, 4. 31 Vgl. StadtA Mü, Baureferat Gruppe Stadtplanung, München, 27. Januar 1967 (Aufgabe des Wettbewerbs) sowie Baudirektor Dr. Ing. Egon Hartmann, »Städtebauliche Grundsätze der Wohngebiete Nord und Nordost«, in: Entlastungsstadt Perlach in München. Die Neue Heimat Bayern, Gemeinnützige wohnungs- und Siedlungsgesellschaft mbH, München, eine Gesellschaft der Unternehmensgruppe Neue Heimat, Hamburg, berichtet 255

DIE KREATIVE STADT

Bau einer neuen Stadt am Stadtrand, diesen Gegensatz zwischen überlastetem Stadtzentrum und den »weiten, München umspannenden Einfamilienhausgebiete« aufzuheben.32 Die Kritik am suburbanen Zerfließen wurde mit der Bildung von »Außenzentren« beantwortet.33 Mit dem Bau Neuperlachs sollte sich ein neuer Schwerpunkt entwickeln, der auch für die Gemeinden der Stadtregion mit seinen Arbeitsplätzen und Freizeitangeboten attraktiv sein und daher zu einem »gesellschaftliche(n) und kommerzielle(n) Kristallisationspunkt des Münchner Ostens«34 würde. Ziel war es, damit die gesamte Münchner Stadtstruktur zu »verbessern«. München favorisierte mithin in den 1960er Jahren das Konzept der »dezentralen Zentralisierung«. Dies entsprach den Randwanderungsbewegungen der Wissenschaft, wie sie in den beiden vorhergehenden Kapiteln geschildert wurden. Auch hier war, nicht zuletzt aufgrund der Überlastung der Innenstadt, der Weg zu einer »dezentralen Zentralisierung« eingeschlagen worden. Dieses Modell der Stadtplanung implizierte nun als ganz maßgeblichen Aspekt und als Herausforderung die Gestaltung dieser Zentren in der Peripherie.

»Tod« der Stadt / Verlust der Urbanität So reflektierte das Konzept zur »Entlastungsstadt Neuperlach« die in den 1960er Jahren aufkommende Kritik am »Mord oder »Tod« der Stadt (Jobst Siedler, Jane Jacobs) und am Verlust von Urbanität. Die Wettbewerbsausschreibung und die Planungen waren stark von diesen Debatten und dem Versuch, die Funktionstrennung zu überwinden, geprägt; die Begriffe »Urbanität«, »Funktionsmischung«, »Dichte« dominierten. Dies zielte allerdings eben nicht auf die Kernstadt, sondern auf die Randzonen. Galten diese als »vielfach langweilig, ungestaltet und seelenlos«35, so war es nun der Anspruch, sie nach einem »Idealmodell« der

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über die Errichtung von 25.000 Wohnungen in der Entlastungsstadt Perlach, München 1967, S. 60. Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4 Baureferat, Bekanntgabe im Stadtplanungsauschuß vom 11. Juli 1968, 4. Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Erläuterung der Planung vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Landesgruppe Bayern, 21. April 1967. StadtA Mü, Bü u Rat 3926-3927 sowie vgl. weiter: Betreff: Stadtteil Perlach. Planung für das Stadtteilzentrum und die Wohnquartiere Mitte und West. Anhang zum Beschlussvortrag des Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsausschusses vom 9. Dezember 1970, Gutachten der Arbeitsgruppe für Sozialforschung München. E. Hartmann: Städtebauliche Grundsätze, S. 66.

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Kernstädte zu formen. Die neuen Zentren am Rande stellten den Versuch der Kopien der Stadtzentren dar, kleine Klone sozusagen, die dem Bild einer historisch gewachsenen Stadt und gleichzeitig der neuen Zeit entsprechen sollten: denn sie sollten großstädtisch sein, urban und mit der historisch gewachsenen Stadt vergleichbar: »Es sollten Städte am Rande der Städte (kursiv im Original) entstehen, kleinere Duplikate der Stadtmitte, mit viel Eigenleben, urbaner Gesinnung und dennoch reichlich Platz«.36 Das Modell Neuperlach bedeutete also den paradoxen Versuch, die historische Stadt von der Peripherie her wieder zu stärken, indem sie dort, am Rande, neu erbaut wurde. Es handelte sich um die Idee einer stadtplanerischen Umgestaltung Münchens, die sich auf die Gestaltung der Ränder konzentrierte und dort »richtige« Städte errichten wollte. Entsprechend betonten die an der Planung der »Entlastungsstadt« Neuperlach beteiligten Architekten, Stadtplaner, lokale Politiker sowie die Neue Heimat, ihr Ziel eine »Stadt vor der Stadt« zu bauen.37 Angesichts der geschilderten drei Problemkreise – Expansion/ Wachstum, Suburbanisierung, »Tod« der Stadt – erschien das Konzept der Entlastungsstadt geradezu als Befreiungsschlag. Zudem schienen weitere Faktoren, wie das knapp verfügbare und damit teure Bauland in der Innenstadt sowie die Wirtschaftlichkeit der infrastrukturellen Erschließung einer kompakten Fläche das Modell der verdichteten neuen Stadt vor den Toren der Stadt plausibel zu machen.38 Dabei waren sich die Planer allerdings der Gefahr der Monotonie und des Scheiterns bewusst. So wurde betont: »Keiner von uns will die Stadt aus der Retorte.«39 Die Problematik der Aufgabe bestehe vor allem in der Notwendigkeit, einen sehr großen Siedlungskomplex so zu planen, dass »die Gefahr steriler Monotonie als beherrschender Gesamteindruck« vermieden werde.40 36 W. Hartenstein: Zum Thema, S. 10. Auch Hans-Paul Bahrdt hatte in seiner soziologischen Studie »Die moderne Großstadt« mit Referenz auf das Mittelalter gleiches favorisiert: »Zum Beispiel war man sich in der Vergangenheit deutlicher als heute bewusst, dass eine Stadterweiterung nur dann glückt, wenn sie in ›Quantensprüngen‹ vor sich geht, wenn man z.B. auf einen Schlag an die Altstadt eine vollständige, mit nahezu allen öffentlichen Einrichtungen versehene Neustadt angliedert.« Vgl.: Hans-Paul Bahrdt: Die moderne Großstadt, Soziologische Überlegungen zum Städtebau, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 97. 37 Vgl. MM, 11. Mai 1971, S. 11. 38 Vgl. W. Tessin: Entstehungskontext, S. 498. 39 E. Mücke: Die städtebauliche Funktion, S. 37. 40 StadtA Mü, Bü u Rat 3926-392, Stellungnahme von Professor Herbert Jensen, TH Braunschweig zum Entwurf des Bebauungsplanes für den neuen Stadtteil München-Perlach. 18. November 1965. 257

DIE KREATIVE STADT

Das neue Stadtmodell der »Stadt vor der Stadt« Anfang der 1960er Jahre begannen die Planungen für die »Entlastungsstadt Perlach«, damals das größte städtebauliche Projekt der Bundesrepublik. »Großzügig, modern und bewohnerfreulich« sollte sie werden,41 nur sieben km Luftlinie vom Münchner Rathaus entfernt. 80.000 Menschen sollten nach der Fertigstellung dort wohnen, leben und arbeiten. 30.000 Arbeitsplätze, Industrie- und Gewerbegebiete, kleine Einkaufzentren, ein getrenntes Fußweg- und Autostraßensystem sowie weite Grünflächen, so das Konzept, würden Neuperlach zu einer autarken Einheit, einem eigenständigen und lebendigen Stadtgebiet machen.42 Der Münchner Stadtanzeiger titulierte die Form und Zielsetzung »als einzigartig in der Bundesrepublik«43. Die geplante neue Stadt, die aus dem Nichts entstehen sollte, entsprach etwa der Größe Ingolstadts bzw. der Größe der Münchner Innenstadt.44 1962 wurde das Baugebiet Perlach im Flächennutzungsplan ausgewiesen. Am 3. April 1963 entschied der Münchner Stadtrat, einen Maßnahmeträgervertrag zum Bau der Entlastungsstadt Perlach mit der Neuen Heimat Bayern abzugleichen.45 Die offizielle Grundsteinlegung fand am 11. Mai 1967 statt.46 1968 wurden die ersten Wohnungen bezogen und innerhalb der nächsten rund 25 Jahre entstand eine Großwohnsiedlung für ca. 55.000,47 statt der geplanten 80.000 Einwohner.

41 Münchner Abendzeitung, 11./12. Januar 1992, S. 8. 42 Vgl. ebd. Die genannte Zahl der geplanten Arbeitsplätze variiert. Heidede Becker schreibt, 1974 seien 14.000 Arbeitsplätze angestrebt gewesen, von denen 1974 erst 4.000 realisiert wurden. Vgl. Heidede Becker: »Großsiedlungen am Stadtrand als sozialräumlicher Siedlungstyp, in: dies./K. Dieter Keim (Hg.), Gropiusstadt: Soziale Verhältnisse am Stadtrand. Soziologische Untersuchung einer Berliner Großsiedlung, Stuttgart 1977, S. 19-50, hier S. 31. 43 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 12. Mai 1967, S. 1-4. 44 Vgl. Gesamtplan zur Behebung der Wohnungsnot in München. Münchner Plan. Abschlußbericht, München 1969; SZ, 12./13. Oktober 1963, S. 9 sowie Münchner Stadtanzeiger, 12. Mai 1967, S. 1-4. 45 Zur Neuen Heimat vgl. Andreas Kunz (Hg.), Die Akte Neue Heimat. Krise und Abwicklung des größten Wohnungsbaukonzerns Europas 19821998, Frankfurt, New York 2003. 46 Vgl. Versuchs- und Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. München-Neuperlach. Großformen und Differenzierungen. Schriftenreihe des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, S. 9. 47 So die Angabe zur Einwohnerzahl zu Beginn der 1990er Jahre auf der Homepage: http://www.neuperlach.info/ 8. August 2007. 258

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»…wie in einer italienischen Stadt…«: Das Konzept der Stadt Die Planer hatten, wie gesagt, bewusst den Begriff »Entlastungsstadt« gewählt, um die Orientierung ihres gigantischen Bauvorhabens an einer Stadt zu unterstreichen. Die Vorstellungen von dem, was eine Stadt ist bzw. sein soll, wandeln sich allerdings historisch. Der Begriff war im 20. Jahrhundert äußerst unterschiedlich konnotiert: die aufgelockerte und gegliederte Stadt, die zum Teil auch noch für die ersten »New Towns« leitend war, entspricht gänzlich anderen Konzepten gesellschaftlicher Organisation der Arbeits- und Lebensweisen als die historische Stadt des 19. Jahrhunderts oder beispielsweise die so genannten »Edge Cities« in der Peripherie amerikanischer Großstädte am Ende des 20. Jahrhunderts, die weder eine Geschichte aufweisen noch einen Bürgermeister haben.48 Für die Entwicklung des Konzeptes der »Entlastungsstadt« Neuperlach lassen sich zwei wesentliche Leitbilder ausmachen: a) die Orientierung an den stadtplanerischen Diskursen der 1960er Jahre und ihrer Kritik an der verloren gegangenen Urbanität sowie b) die englischen New Towns49. Gleichzeitig wirkten jedoch c) die Maxime der Funktionstrennung fort. Nicht zuletzt erweist sich Neuperlach als Ergebnis typisch moderner Mach- und Planbarkeitsphantasien und einer Ökonomisierung der Bauwirtschaft. a) Die historischen Stadt im modernen Gewand Ein zentraler Punkt der Planungen Neuperlachs war es, »einen neuen Stadtbereich mit einem charakteristischen Stadtbild, mit städtischen Grundformen, städtischen Dimensionen und einer städtischen Atmosphäre« zu schaffen. In Neuperlach sollte sich »städtisches Leben« entfalten können und die Bewohner sich als Städter fühlen und nicht als »vom Leben des Alltags abgeschobene Menschen«.50 Die auffällige Häufung des Begriffs »städtisch« in den Beschreibungen des Projektes unterstreicht die Bedeutung, die man diesem Ziel einer »richtigen« Stadt beimaß. Neuperlach, das wurde immer wieder betont, sollte weder eine Schlafstadt, weder eine reine Wohnsiedlung noch ein reines Geschäftsund Verwaltungszentrum sein.51 Vielmehr war die Vermischung all dieser Funktionen das Ziel. Mit der »Produktion« eines »urbanen« Charak48 Vgl. J. Garreau: Edge Cities. Life on the New Frontier, New York 1992. 49 Vgl. StadtA Mü Bü u Rat 3926-3927, Entlastungsstadt Perlach, Arbeitsgemeinschaft Stadtentwicklungsplan München. 50 E. Mücke: Die städtebauliche Funktion. 51 Vgl. Schriftenreihe des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Versuchs- und Vergleichsbauten und Demonstrativmaßnahmen. München-Neuperlach. Großformen und Differenzierung. 01.058 259

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ters, der durch eine vielfältige Funktionsmischung und ein breites Angebot verschiedenster Einrichtungen hergestellt werden sollte, glaubte man, die häufig beklagte Monofunktionalität und Einseitigkeit anderer Siedlungen überwinden zu können.52 Entsprechend plante man für die vorgesehenen 80.000 Bewohner alle kommerziellen, kulturellen, sozialen, kirchlichen Institutionen sowie Verwaltungseinrichtungen einer modernen Stadt.53 Alle Schultypen, Kindertagesstätten, Jugendfreizeitheime, Spielplätze, Sportanlagen, ein Schulzentrum mit Internat, Kirchen, ein Krankenhaus, ein Bürgerhaus, Kinos, Freizeitheime, Eislaufhalle, ein Hallenbad, Ausstellungsräume – all dies sollte die neue Stadt erhalten. Die Bewohner würden sich – und dies war ein gewagtes Versprechen – »trotz aller modernen Bebauung beim Einkaufsbummel wie in einer italienischen Stadt fühlen«.54 Die Gestaltung eines Zentrums galt dabei als entscheidend. Das »Herz der Entlastungsstadt« sollte ein Marktplatz mit dreizehn Ladengruppen, einem Verwaltungszentrum, Feuerwehr und Polizei darstellen.55 Die Stadtmitte sollte öffentlichen Charakter haben und auch Nicht-Perlacher anziehen.56 Auch außerhalb der Haupteinkaufszeiten sollte sich dort ein »reges Leben« abspielen.57 Kurz, das Bild der europäischen Stadt mit ihrem Zentrum, der Funktionsmischung und einer urbanen Atmosphäre dienten als Folie für die Planungen Neuperlachs. Der Rekurs auf die Vergangenheit ging jedoch mit einer als modern erachteten Bauform einher, den Hochhäusern. Hatten Corbusier und Hilberseimer bereits in den 1920er Jahren riesige Hochhausstädte geplant, so wurden die ersten Wohnhochhäuser Europas im Jahr 1945 in Schweden gebaut.58 Fred Forbat, der für die Stockholmer Planung ver-

52 Vgl. Betreff: Stadtteil Perlach. Planung für das Stadtteilzentrum und die Wohnquartiere Mitte und West. Anhang zum Beschlussvortrag des Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsausschusses vom 9. Dezember 1970, Gutachten der Arbeitsgruppe für Sozialforschung München. 53 Vgl. Gesamtplan zur Behebung der Wohnungsnot in München. Münchner Plan. Abschlußbericht, München 1969. 54 SZ, 26. Juli 1968, S. 15. 55 Vgl. SZ, 12./13. Oktober 1963, S. 9. vgl. auch: E. Mücke: Die städtebauliche Funktion, S. 38. 56 Zum Ideenwettbewerb für den »kommerziellen und gesellschaftlichen Mittelpunkt für den Südostraum Münchens« vgl. Entlastungsstadt Perlach in München. Die Neue Heimat Bayern, Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft mbH, München, eine Gesellschaft der Unternehmensgruppe Neue Heimat, Hamburg, berichtet über die Errichtung von 25.000 Wohnungen in der Entlastungstadt Perlach, München. 1967, S. 76. sowie Münchner Stadtanzeiger, 12. Mai 1967, S. 1-4. 57 Vgl. E. Hartmann: Städtebauliche Grundsätze, S. 76. 58 Vgl. Bauwelt 76 (1985), Heft 48, S. 323. 260

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antwortlich war, erklärte die »Modernität« der Hochhäuser in geradezu futuristischer Manier: »Unsere Städte haben sich endlos ausgebreitet, ein Großteil unserer Menschen bewegt sich in der Stadt mit dem Auto, in einer Geschwindigkeit, die andere optische Bilder erfordert, als wenn ich mich zu Fuß oder mit dem Pferd fortbewege. Die flüchtige Perspektive des Menschen, der in der Schnellbahn sitzt oder auf der Autobahn ist, verlangt eine andere optische Wirkung, nämlich eine große, weiträumige, auf die Entfernung erkennbare, um eine Vorstellung von Stadt zu bekommen«.59

In Deutschland stellten die Grindelhochhäuser in Hamburg die ersten Wohnhochhäuser dar, sie wurden bereits während der britischen Besatzungszeit gebaut.60 Bis Ende der 1950er Jahre gab es in fast allen größeren Städten das so genannte »Punkthochhaus«, das sich an skandinavischen und amerikanischen Vorbildern orientierte und als »spannungserzeugende städtebauliche Dominante«61 betrachtet wurde. Zu dieser Zeit war das Wohnen im Hochhaus jedoch noch quantitativ vernachlässigbar – von ca. 16 Millionen Wohnungen Gesamtwohnbestand lagen 1961 nur etwa 0,3% der Wohnungen in Häusern mit mehr als acht Geschossen; gleichwohl gab es zu dieser Zeit eine heftige Hochhausdebatte, in der die Frage der Mehrkosten, der Zielgruppe und die Veränderung der Wohndichte diskutiert wurden.62 Mitte der 1960er Jahre hatten WohnHochhäuser schließlich ihre relativ kurze »Hochzeit«, in der sie als »modern« und »großstädtisch« galten – wie auch im Bau von Hochhäusern in den Dörfern Garching und Martinsried zu beobachten war. In Neuperlach wurden die Hochhäuser zumeist als Blockrandbebauung errichtet. Hatte in den 1920er Jahren der Zeilenbau, der Licht, Luft und Sonne garantieren sollte, als Reaktion auf die enge, schmutzige, dunkle und stickige Stadt des 19. Jahrhunderts dominiert, so hatte man sich in Neuperlach trotzdem bewusst für die Blockrandbebauung mit Wohnhöfen entschieden, vielleicht auch, weil der Zeilenbau mit der Architektur der Moderne und ihrer Favorisierung des Funktionalismus verbunden war. Da die Blockrandbebauung jedoch lange Zeit ein bevorzugtes Angriffsziel der Stadtkritik und der Stadtplaner gewesen war und mit schlechten Wohn- und Lebensverhältnissen in Verbindung gebracht

59 Ebd. 60 Vgl. Axel Schildt: »Die ersten deutschen Wohnhochhäuser. HamburgGrindelberg 1945-1956«, in: A. Schildt/ A. Sywottek (Hg.), Massenwohnung, S. 382-408. 61 T. Harlander: Wohnen und Stadtenwicklung, S. 277. 62 Vgl. ebd. S. 277. 261

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wurde,63 betonte man, dass man die Innenräume nun im Gegensatz zu den Höfen der Gründerzeit sonnig gestalten, sie bepflanzen und mit Sitzgruppen versehen werde.64 Man glaubte, auf diese Weise sowohl dem Ruhebedürfnis der älteren Generation zu entsprechen sowie einen »Spielraum« für jüngere Bewohner zu schaffen. Die Innenhöfe seien gegen den »Lärm der Außenwelt geschützt«.65 Sie sollten, so die Vorstellung, ein neues Wohngefühl vermitteln und gleichzeitig das Bedürfnis nach Privatheit und den Wunsch nach Kommunikation untereinander erfüllen.66 Sie sollten zu lebendigen Plätzen der neuen Stadt werden, Räume, in denen sich die Bewohner treffen und austauschen konnten. Auch hier klingt das Ideal von »Urbanität« im Sinne eines lebendigen Gemeindewesens an, das die Diskurse der 1960er Jahre wesentlich beeinflusst hatte und das auch in den beiden vorangegangenen Kapiteln in seiner Wirkmächtigkeit für die Bemühungen einer »Urbanisierung« Garchings und Martinsrieds in den 1970er Jahren deutlich wurde. Allerdings unterschied sich die Blockrandbebauung der 1960er und 1970er Jahre des 20. Jahrhunderts von der des 19. Jahrhunderts durch die Maßstäbe: in Neuperlach wurden Hochhäuser gebaut, die Innenhöfe waren keine kleinen, dunklen, übersichtlichen Plätze, sondern riesige Flächen zwischen den Häusern – und letztlich stärkten sie daher eher die später viel beklagte Anonymität als dass sie zu einem lebendigen, nachbarschaftlichem Zusammensein beitrugen. Wolle sich der einzelne im Sommer in die Sonne legen, so ein Artikel im Münchner Stadtanzeiger, könne er sich der aufmerksamen Blicke der anonymen Masse sicher sein.67 Gleichwohl schienen die Hochhäuser zu dieser Zeit noch aus einem weiteren Grund angemessen. Hans-Paul Bahrdt hatte argumentiert: »Wo der Geschoßbau unumgänglich ist, z.B. in Großstädten, die nicht ins Unermessliche wachsen dürfen, bleibt als »Privateigentum unter freiem Himmel« nur der Balkon. [...]. Will man erreichen, dass einer größtmöglichen Zahl von Familien ein privater Garten oder Wohnhof am Haus zur Verfügung steht, so muß man für die andern Hochhäuser bauen, in denen man übrigens mehr freie Luft genießt und privater lebt als in Mietshäusern herkömmlicher Bauart.«68

Mit ihren Balkonen ermöglichten die Hochhäuser »Privateigentum unter freiem Himmel«, waren mithin Ersatz für den Garten des Einfamilien63 Vgl. Werner Hegemann: Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskaserne der Welt, Berlin 1930. 64 Vgl. MM, 9. Juni 1972, S. 12. 65 Münchner Stadtanzeiger, 27. Juni 1972. 66 Vgl. MM, 9. Juni 1972, S. 12. 67 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 30. Oktober 1987, S. 3. 68 H.-P. Bahrdt: Großstadt, S. 116. 262

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hauses, das mit seinem immensen Flächenverbrauch in die Kritik geraten war. In der Vorstellung der Stadtplaner ließen sich mithin Wirtschaftlichkeit, die Herstellung von Urbanität sowie die Abkehr vom »breiartigen Auswuchern« der Städte mittels der riesigen Hochhauskomplexe verbinden, indem man rational und ökonomisch, für eine extrem hohe Zahl von Bewohnern bei geringem Flächenbedarf baute. Nicht zuletzt galten die Hochhäuser als großstädtisch und schließlich war in Neuperlach eine »möglichst intensive, großstädtische Lebensform« das Ziel69 – und dem schien das Leben im Hochhaus zu entsprechen. Und paradoxerweise glaubte man zugleich, »trotz der modernen Bebauung«, sprich der Hochhäuser, lasse sich eine Atmosphäre »wie in einer italienischen Stadt« erzeugen. Dass sich diese Vorstellungen in ihrer materialisierten Form als nicht richtig erwiesen und sich vielmehr ins Gegenteil des Intendierten verkehrten, wurde in der Literatur schon vielfach betont. Vor allem dass die wiederentdeckte Urbanität mittels Dichte hergestellt werden sollte und schließlich als eine ökonomisch sich rechnende Dichte der Hochhäuser umgesetzt wurde und damit vor allem den Interessen der Baugesellschaften entsprach, war kritisiert worden.70 So schrieb Adelheid von Saldern: »In der Praxis wurde außerdem das Urbanitätskonzept inhaltlich verflacht, indem es allein mit quantitativer baulicher Dichte gleichgesetzt wurde, womit die eigentliche städtepolitische Grundidee mehr oder weniger verschüttet wurde.«71 Werner Durch resümierte Mitte der 1980er Jahre: »Der Begriff der Urbanität wurde in der Praxis der Planer bald in eine quantifizierbare Kombination von Versorgungs- und Infrastruktureinheiten umgedeutet, deren Realisierung weiteren Verlust an Urbanität nach sich zog.«72 Tatsächlich war sehr bemerkt worden, dass weder die Dichte noch die Gigantomanie geeignet waren, um die Ziele einer Revitalisierung von Urbanität zu erreichen. Gleichwohl, in den 1960er regierte der Glaube an »Größe«. Rückblickend konstatierte Friedrich Spenglin hinsichtlich der Frankfurter Nordweststadt: »Ich sage das nur, um die Zeit zu erklären. Das Zentrum war groß in der Nordweststadt, die Straßen waren groß, die Schulen waren groß, die Häuser waren groß, alles war groß. Fortschritt musste immer groß sein«.73 69 Münchner Stadtanzeiger, 12. Mai 1967, S. 1-4. 70 Vgl. z.B. W. Tessin: Entstehungskontext. 71 Adelheid von Saldern: Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, Bonn 1995, S. 354. 72 Werner Durth: »Vom Sieg der Zahl über die Bilder«, in: Bauwelt 76 (1985), S. 362-368, hier 366. Durth kritisiert, Urbanität sei zu einer Leerformel geworden. 73 Bauwelt 76 (1985), Heft 48, S. 334. 263

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b) Das Vorbild der »New Towns« Ein zentrales Element der Planungen der »Entlastungsstadt« Neuperlach war deren Eigenständigkeit,74 schließlich sollte sie zu einem Subzentrum der Stadt München werden und alle Funktionen der Stadt – Wohnen, Arbeiten, Freizeit – vereinen. Die Ansiedlung von Arbeitsplätzen war daher eines der wesentlichen Ziele. Dies erinnert an die New Towns in England, die für viele europäische Stadterweitungsprojekte, und so auch für Neuperlach, einflussreich waren. In Großbritannien wurden nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb von 25 Jahren rund vierzig neue Städte gebaut. Entsprechend wurden die englischen New Towns zu dem wohl am meisten diskutierten Modell der Stadtplanung:75 »...new towns have become a central feature of regional plans for the future of many big cities such as Paris, Moscow and Tokyo«.76 Auch die »New Towns« sollten den Überschuss der Bevölkerung sowie Industrie aus den Metropolen aufnehmen.77 Kernelement war deren Selbständigkeit, ihr »self-containment«: »Self-containment refers to the degree to which the economy of a new town both produces and consumes all that it needs. [...] A community should provide both places of residence and places of work and, therefore, should not become a dormitory community.«78

Die ersten, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen New Towns entsprachen noch einem funktionalistischen Denken; Urbanität oder Vermischung standen nicht auf der Agenda. Man sprach von »Stadtlandschaft« und teilte die neuen Städte in Funktionszonen ein. Orientierte man sich anfangs an der Charta von Athen sowie an Ebenezer Howards Gartenstadt, so lässt sich auch hier der Wandel in der Stadtplanung hin zur Wiederentdeckung der Urbanität beobachten. Für die »zweite Welle« der Neuen Städte, so Albers, strebte man eine kom-

74 Dies meinte allerdings keine autonome Verwaltungseinheit; Neuperlach ist verwaltungstechnisch Teil der Stadt München. 75 Vgl. Gert Kähler: »Reisen bildet. Der Blick nach außen«, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens. Von 1945 bis heute. Aufbau – Neubau – Umbau, Stuttgart 1999, S. 949-1036, hier S. 966. 76 Gideon Golany: New-Town Planning: Principles and Practice, New York u.a. 1976. Foreword (Peter Self), S. vii. 77 Vgl. G. Kähler: Reisen, S. 969f. 78 G. Golany: New-Town Planning, S. 26, vgl. auch Jürgen Joedicke: Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Von 1950 bis zur Gegenwart, Stuttgart, Zürich 1990. S. 180. 264

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pakte Struktur an.79 Schweden, um ein anderes europäisches Beispiel zu erwähnen, baute an die Großstadt angebundene Trabanten mit Unterzentren, so genannte ABC-Städte, die Arbete (Arbeit), Bostadt (Wohnen) und Centrum verbinden sollten.80 Die Analogien zur Planung Neuperlachs sind offensichtlich. Vor allem die Idee des self-containment spiegelt sich in der Betonung der Autonomie Neuperlachs: die Entlastungsstadt sollte eine »autonome Entität« werden, die die Großstadt München entlasten sollte.81 Wie in den »ABC«-Städten Schwedens und den New Towns Großbritanniens stellte das Bemühen, Arbeitsplätze für die Neuperlacher Bevölkerung zu garantieren, daher einen zentralen Aspekt der Planungen dar. Ca. 14.000 Arbeitsplätze im Produktionssektor sollten geschaffen werden, um sicherzustellen, dass Neuperlach »eine gesunde Funktionsmischung erhält und keine neue Schlafstadt wird«.82 Die Planung sah dabei »von Anfang keine absolute Trennung der Arbeitsstätten von den Wohnstätten vor«.83 Da Arbeitsplätze in erster Linie für Bewohner und Bewohnerinnen der Entlastungsstadt sein sollten, wurde es angestrebt, sie in günstiger Entfernung zu den Wohnsiedlungen zu lokalisieren. Im Südteil Neuperlachs sollten »möglichst nahe am Zentrum und am Wohnen [...] saubere, hochwertige Industriebetriebe« angesiedelt werden.84 Dabei dachte man vor allem an Teilzeit-Arbeitsplätze für Frauen.85 Die Pläne zur räumlichen Anordnung der Industrie in Neuperlach sind dabei uneinheitlich. Einmal sind sie stärker in der Sprache der neuen Konzepte der Durchmischung formuliert, »möglichst nahe am Zentrum«, »keine absolute Trennung der Arbeitsstätten von den Wohnstätten«, das andere Mal überwiegt die Vorstellung einer separierten Ar-

79 Vgl. Gerd Albers: Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa. Begegnungen, Einflüsse, Verflechtungen. Braunschweig, Wiesbaden 1997, S. 64. 80 Vgl. ebd., S. 957. Es ist jedoch kaum gelungen, dort genügend Arbeitsplätze anzusiedeln; es wurden vielmehr Wohnsiedlungen mit Wohnfolgeeinrichtungen gebaut. Eine der ersten Siedlungen war Vallingby, etwa 20 km im Nordwesten Stockholms, für 25.000 Einwohner geplant (1953-1959), die, so Kähler, mit der Bielefelder Sennestadt vergleichbar sei. 81 Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Erläuterung der Planung vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Landesgruppe Bayern, 21. April 1967. 82 E. Luther: Entlastungsstadt Perlach, S. 36. 83 StadtA Mü, Bü u Rat, 3929, Entlastungsstadt Perlach, hier: Stand der Planung und der Vollzugsmaßnahmen.13. März 1968. 84 Vgl. StadtA Mü Bü u Rat 3926-3927. 85 Vgl. StadtA Mü, Bü u Rat, 3929, Entlastungsstadt Perlach, hier: Stand der Planung und der Vollzugsmaßnahmen.13. März 1968. 265

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beitszone. Ende der 1960er Jahre ist wiederum von einem »Gewerbegebiet« die Rede, das »unmittelbar« »an das Zentrum« herangeführt werden soll. Dahinter stand nicht nur die Idee, Neuperlacher Bewohner/innen Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, sondern auch die Vorstellung, den Beschäftigten des anvisierten Industriebetriebes, nämlich Siemens, eine »unmittelbare Gelegenheit zum Einkauf im Zentrum zu geben«.86 Dabei wurde in klassisch industriegesellschaftlich-modernen Kategorien geplant: angesiedelt werden sollte Produktion in Form eines Industriebetriebes; die Arbeitsplätze waren für Frauen, die Teilzeit arbeiten, gedacht. Dahinter stand ein traditionelles Familienmodell, nach dem Frauen bzw. Mütter allenfalls Teilzeit beschäftigt sein sollten;87 um ihnen dies zu ermöglichen, mussten die Arbeitsplätze nah am Wohnort sein. Das Unterfangen stieß jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten, denn es fanden sich keine Unternehmen, die Interesse hatten: die relativ hohen Grundstückspreise und die unbefriedigende Verkehrssituation aufgrund der noch nicht vorhandenen Straßen und der noch fehlenden öffentlichen Verkehrsmittel hielten die meisten Unternehmen von einer Entscheidung für eine Ansiedlung in Neuperlach ab.88 Auch die Firma Siemens, mit der die Stadt München frühzeitig verhandelt hatte, entschied sich zuerst einmal aufgrund der zu hohen Grundstückspreise für einen anderen Standort in München.89 Im Frühjahr 1968 war man allerdings doch wieder zuversichtlich, dass »die baldige Errichtung eines größeren elektrotechnischen Werkes im Bauquartier Süd [...] so gut wie sicher angesehen werden« könne.90 Aus Sicht der Stadtverwaltung erfreulich, zeigte sich Siemens »unter veränderten Voraussetzungen« im 86 StadtA MÜ Planungsref. Abg. 9013, Nr.5, Beschluß des Stadtplanungsausschusses vom 26. März 1969. 87 Vgl. Christina von Oertzen: Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969, Göttingen 1999. 88 Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Erläuterung der Planung vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Landesgruppe Bayern, 21. April 1967. sowie Betreff: Stadtteil Perlach. Planung für das Stadtteilzentrum und die Wohnquartiere Mitte und West. Anhang zum Beschlussvortrag des Stadtentwicklungs- und Stadtplanungsausschusses vom 9. Dezember 1970, Gutachten der Arbeitsgruppe für Sozialforschung München. 89 Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 99013, Nr. 4, Erläuterung der Planung vor der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, Landesgruppe Bayern, 21. April 1967. 90 Vgl. StadtA Mü, Bü u Rat, 3929, Entlastungsstadt Perlach, hier: Stand der Planung und der Vollzugsmaßnahmen, 13. März 1968. 266

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Herbst 1968 am Standort Neuperlach wieder interessiert.91 So hoffte man Ende der 1960er Jahre schließlich erneut, zusammen mit den Arbeitsplätzen im Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich nahezu einen Arbeitsplatz pro Wohnung zu schaffen.92 Der Münchner Stadtrat genehmigte 1969 schließlich die Ausweisung eines Geländes im südöstlichen Bereich Neuperlachs – fern des geplanten Zentrums – als Industriegebiet.93 Der Bau der »Forschungsstadt«, der dort erfolgen sollte, wird weiter unten das Thema sein.

c) Das Weiterwirken der Funktionstrennung Neben der Orientierung an der historischen Stadt in der baulich »modernisierten« Form der Hochhäuser sowie den New Towns zeigte sich gleichzeitig, wie gerade schon angedeutet, das Weiterwirken der Idee der Funktionstrennung in Neuperlach. So wurden ganze Bauabschnitte – trotz der Betonung der Funktionsmischung – nach den Prinzipien der Funktionstrennung errichtet, so z.B. der Bauteil Nord (1970). Dort waren die Einkaufszentren »durch einen mehrere hundert Meter langen »Gebäuderiegel« auch »optisch vom eigentlichen Wohn- und Verkehrsbereich – Straßen, Zufahrtswege zu den Häusern und Kinderspielplätze – abgeschlossen.« Die Funktionen Einkaufen und Wohnen waren nicht integriert, sondern lagen nebeneinander. Straßen und Wege hatten nur Zulieferaufgabe94 – und entsprachen damit klassisch funktionalistischen Konzepten. Zwischenfazit: Die Wiederentdeckung der Stadt in der Stadtplanung Das Projekt Neuperlach stellte in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren keinen Einzelfall dar. Vielmehr standen zu dieser Zeit »Satellitenstädte«, »Trabantenstädte« oder »Großwohnsiedlungen«, wie sie in der Literatur zumeist bezeichnet werden, auf der stadtplanerischen Agen-

91 Vgl. StadtA Mü, Plan.Ref. Abg 9013, Nr. 4, Baureferat. Beschluß des Stadtplanungsausschusses vom 26. März 1969. 92 Vgl. Gesamtplan zur Behebung der Wohnungsnot in München. Münchner Plan. Abschlußbericht, München 1969. 93 Vgl. Ungeordnetes Archiv der Firma Siemens am Standort Neuperlach (im folgenden SAA-Neuperlach), Siemens München – Entwicklung auf Expansionskurs, o.O., o.J. 94 Vgl. Petra Dorsch: Eine neue Heimat in Perlach. Das Einleben als Kommunikationsprozeß. München 1972, S. 52. 267

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da.95 Allein in München lebten zu Beginn der 1970er Jahre rund 200.000 Menschen in mehr als zwanzig neu erbauten »Großsiedlungen«.96 »Das verflossene Jahrzehnt (die 1960er Jahre, M.H.) hat das Gesicht der meisten Großstädte unseres Landes stärker verändert als die gesamte Zeit seit der Jahrhundertwende, ausgenommen die Verwüstungen, die der Bombenkrieg brachte«, so Karolus Heil in einem Aufsatz aus dem Jahr 1974.97 »Wo früher die Stadt in ihr Umland zerlief«, so schreibt er, »entstand in wenigen Jahren ein Kranz neuer Wohnquartiere: Trabantensiedlungen, Parkwohnanlagen, neue Stadtteile, Großsiedlungen in der Sprache der Planer; Wohnsilos, Retortenstädte, Hausfrauengettos in den Augen der Kritiker«.98 Eine »neue Gründerzeit«99 nannte Heil die 1960er Jahre, in denen »Satellitenstädte«100, »Entlastungsstädte« oder Großwohnsiedlungen wie Berlin-Märkisches Viertel, Bonn-Meckenheim oder Köln-Chorweiler entstanden. Gert Kähler konstatierte etwas sarkastisch, im Europa der 1960er Jahre seien »neue Stadtteile im Jahresrhythmus« gebaut worden.101 Diese neuen gigantomanischen Projekte unterschieden sich von den Wohnsiedlungen der 1950er und frühen 1960er Jahre in ihrer Größe, Dichte und ihrer städtebaulichen Gestaltung, wie Wulf Tessin hervorhob.102 Statt der niedrig geschossigen, aufgelockerten, durchgrünten und so wenig urban wirkenden Zeilensiedlungen der 1950er Jahre entstanden nun kompaktere, verdichtete Siedlungsformen. Tessin betonte den »quantitativ-qualitativen Sprung«103. So wurden erstens nie zuvor Siedlungen in dieser Größenordnung gebaut und zweitens grenzte man sich vom Wohnsiedlungskonzept ab und postulierte ein »Stadtteilkonzept«104, also die Errichtung gänzlich neuer Stadtteile.

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Vgl. Ulfert Herlyn/Adelheid von Saldern/Wulf Tessin (Hg.), Neubausiedlungen der 20er und 60er Jahre. Ein historisch soziologischer Vergleich, Frankfurt / New York 1987. Vgl. K. Heil: Wohnquartiere, S. 182. Ebd., S. 181. Ebd. Ebd. Der Begriff der Satellitenstädte geht auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Nach Gerd Albers bezeichnete eine eigenständige Stadt mit etwa 30.000 bis 100.000 Einwohnern. Merkmale waren, dass sie alle ökonomischen, sozialen und kulturellen Charakteristika einer Stadt besitzen sollte. Vgl. Albers: Stadtplanung, S. 289. G. Kähler, zitiert nach H. Becker: Leitbild, S. 380. Vgl. W. Tessin: Entstehungskontext, S. 494. Wulf Tessin: »Die Neubausiedlungen der Sechziger/Siebziger Jahre«, in: U. Herlyn/A. Saldern/W. Tessin (Hg.), Neubausiedlungen, S. 75-101, hier S. 77. Ebd., S. 76.

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Der Vergleich der Konzepte, des Baus und der jeweiligen Aneignungen der »Wohnsiedlungen« der 1950er Jahre und der Satelliten- und Entlastungsstädte bzw. neuer Stadtteile in den 1960er Jahren macht den Wandel städtebaulicher Konzepte anschaulich.105 Folgen diese zeitlich zwar relativ rasch aufeinander, so basieren sie auf gänzlich unterschiedlichen Vorstellungen von »Stadt«. Großwohnsiedlungen wie die Gropiusstadt oder die Nordweststadt erhielten das Attribut »Stadt« obgleich sei von vornherein als monofunktionale Wohnsiedlungen konzipiert waren. Die Nordweststadt in Frankfurt (Wettbewerb 1959) beispielsweise spiegelt noch die Konzepte der »gegliederten und aufgelockerten Stadt« der fünfziger Jahre.106 Sie zeigt entsprechend dieses Leitbildes eine konsequente Trennung der Bereiche für verschiedene Nutzungen.107 Auch die Gropiusstadt in Berlin108 war, noch ganz den Maximen der Charta von Athen verhaftet, als reine »Wohnstadt« konzipiert.109 Es sollte sich um ein »ganz ruhiges Wohngebiet« handeln, »in dem kein Platz für Gewerbetreibende irgendeiner Art ist«.110 »Industrie- und Arbeitszentren« seien in »Groß-Berlin« zu finden.111 Neuperlach dagegen repräsentiert den Wandel der Stadtplanungskonzepte: die »Entlastungsstadt« verkörpert das Bemühen, entsprechend der neuen stadtplanerischen Leitbilder der 1960er Jahre zu bauen. Neuperlach ist mithin in vieler Hinsicht eine Materialisierung des Zeitgeistes: Die Wiederentdeckung von Stadt und Urbanität in den 1960er Jah105 Dazu: A. Schildt/A. Sywottek: Massenwohnung sowie U. Herlyn/A. Saldern/W. Tessin (Hg.), Neubausiedlungen. 106 So Ralf Lange: Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Planen und Bauen in der Bundesrepublik und der DDR von 1960 bis 1975, Bonn 2003, S. 97. 107 Vgl. Dietmar Reinborn: Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Köln 1996, S. 213. 108 Die ersten Vorgespräche begannen bereits 1955, die konkreten Planungen erfolgten ab 1958 und schließlich wurde die Gropiusstadt zwischen 1962 und 1974 gebaut. Der langwierige Planungsprozess ist dokumentiert in: Hans Bandel/Dittmar Machule (im Auftrag des Senators für Bau- und Wohnungswesen Berlin): Die Gropiusstadt. Der städtebauliche Planungs- und Entscheidungsvorgang, Berlin 1974. Vgl. auch Kerstin Federbusch: GropiusStadt. Entstehung und Entwicklung der Berliner Großsiedlung. Kassel 1997, S. 19. 109 Vgl. Heidede Becker/K. Dieter Keim (Hg.), Gropiusstadt: Soziale Verhältnisse am Stadtrand. Soziologische Untersuchung einer Berliner Großsiedlung, Stuttgart 1977, Thomas Dierich: »Zu einzelnen Aspekten der Neubausiedlungen aus den Zwanziger und Sechziger Jahren«, in: U. Herlyn/A. Saldern/W. Tessin (Hg.), Neubausiedlungen, S. 127-156, hier S. 147. 110 Zitiert nach Kerstin Federbuch: Gropiusstadt, S. 31. 111 Beide Zitate aus: H. Bandel/D. Machule: Gropiusstadt, S. 36. 269

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ren ging einher mit der Orientierung an der historischen Stadt, die man zuvor so massiv abgelehnt hatte. Der Blick in die Akten aus der Planungszeit Neuperlachs offenbart eine Aufbruchstimmung, die Hoffnung auf die Wiedergewinnung von Urbanität und auf eine Arbeit und Leben verflechtende neue Stadt, mithin auf einen erfolgreichen Neuentwurf – all die euphorisch-enthusiastischen Erwartungen, die viele Stadtneugründungen, die als Konstruktionen aus dem Nichts entstanden, begleiteten und die zumeist bitter enttäuscht wurden. So manifestierten sich in Neuperlach die dem Machbarkeitsglauben verhaftete Vorstellung gleichsam völlig neu ansetzen zu können. Man bemühte sich nicht um die Altstädte, die Kernstädte, sondern versuchte, diese am Rande der Städte zu kopieren, sie damit einerseits zu entlasten aber andererseits auch, sie neu zu schaffen. Des Weiteren wurde die Gigantomanie, die Vorstellung, Größe symbolisiere Fortschrittlichkeit und Modernität in bauliche Formen gegossen. Gleichermaßen findet sich eine Ökonomisierung des Wohnungsbaus, die fatale Folgen zeitigen sollte. Die 1960er und 1970er Jahre präsentieren sich mithin auch am Beispiel der »Entlastungsstadt« Neuperlach im Hinblick auf die Stadtplanung und die Vorstellungen von Stadt und Urbanität als eine Zäsur, als einen Wendepunkt, indem bis dahin gültige und dominierende Konzepte verabschiedet wurden. Die europäische Stadt kehrte nun als positiv besetztes Bild der Funktionsmischung, der Urbanität und Heterogenität wie auch bürgerlicher Tugenden wieder.112 Gleichzeitig wirkten allerdings funktionalistische Ideen weiter, etwa die Trennung von Fußgänger und Autos, riesige Straßen, die das Konzept der autogerechten Stadt materialisieren, oder die Trennung von Wohnen und Einkaufen. So kann diese Phase als Transformationsphase bezeichnet werden, in der neue Konzepte gedacht wurden, jedoch – sowohl sprachlich als auch in ihrer baulichen Umsetzung – gleichzeitig alte Ideen weiterwirkten.

6 . 2 . W i d e r s t ä n d e : Abw e h r g e g e n e i n e »Industrialisierung« Neuperlachs Während der Münchner Stadtrat die Ausweisung eines Industriegebiets in Neuperlach genehmigte und die Siemens AG einen Wettbewerb ausschrieb, formierte sich gegen die Pläne des Unternehmens Widerstand. Dieser richtete sich jedoch nicht, wie gleich zu sehen sein wird, gegen das sich herauskristallisierende Technologiefeld der Mikroelektronik, oder 112 Vgl. Dr. Otto Schedl, Bayerischer Minister für Wirtschaft und Verkehr: »Die Bedeutung der Landesplanung des Freistaates Bayern für die Landeshauptstadt München«, in: Entlastungsstadt Perlach in München, S.18. 270

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spezifischer der Daten- bzw. Computertechnik, die Anlass für die neugegründete »Forschungsstadt« der Firma Siemens in Neuperlach war. Ohnehin begann in der Bundesrepublik erst seit Mitte der 1970er Jahre eine Debatte um die Mikroelektronik,113 die vielfach betonte, dass die auf dem Mikroprozessor (Chip) basierenden Computertechnologien die Arbeitsund Lebensbedingungen erheblich beeinflussen würden: »Die Mikroelektronik (wird) unser Leben grundlegend verändern und sich in nahezu allen Lebensbereichen auswirken: am Arbeitsplatz, im Privatbereich, in Politik und Wissenschaft, im Krieg und im Frieden,« 114 so Günter Friedrichs und Adam Schaff in einem Bericht an den Club of Rome. Ende der 1970er Jahre existierten allerdings nur wenige Geräte, deren mikroelektronische Merkmale direkt erkennbar waren, wie die Digitaluhr, der Taschenrechner, elektronische Spiele oder Anzeigen für Textverarbeitungsgeräte. Viele Chips blieben dagegen unsichtbar.115 Faktisch, so King, habe die Mikroelektronik jedoch bereits damals schon Einzug in Wirtschaft und Gesellschaft, im Haushalt, im Büro, in der Fabrik, in der Freizeit erhalten.116 Die öffentliche Debatte um die Mikroelektronik war Ende der 1970er und in den 1980er Jahren sehr stark mit den Diskursen um Veränderungen der Arbeitswelt verbunden. Mitte der 1970er Jahre hatte eine heftige Diskussion um eine Automatisierung in Wirtschaft und Verwaltung begonnen.117 Aus Sicht von Unternehmen waren die Möglichkeit der Verbesserung der Kontrolle und Steuerung des Produktionsablaufes 113 Dabei wurde diese vor allem im Hinblick auf ihre vielfältigen Anwendungsfelder diskutiert, nämlich Daten- bzw. Computertechnik, Telekommunikation, Industrieelektronik (Meß-, Steuer- und Regelungstechnik Automatisierung), Konsumelektronik (Videospiele, Bildschirmtext, Computer, elektronische Medien), Fahrzeugelektronik, Militärelektronik, Medizinische Elektronik sowie Informations- und Kommunikationstechnologien. Vgl. Anke Gorres u.a.: Das magische Dreieck. Harmonieund Konfliktpotential sozialökologischer Technikentwicklung am Beispiel der Mikroelektronik, Opladen 1991. 114 Günter Friedrichs/Adam Schaff: »Vorwort«, in: dies. (Hg.), Auf Gedeih und Verderb. Mikroelektronik und Gesellschaft. Bericht an den Club of Rome, Wien 1982, S. 7. Vgl. auch: Ulrich Steger: o.T., in: ders./Günther R. Koch (Hg,), Industriepolitik für Spitzentechnologien – das Beispiel der Mikroelektronik. Vorträge vor dem Gesprächskreis »Politik und Wissenschaft« des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn 1984, S. 7. 115 Vgl. Alexander King: »Einleitung: Eine neue industrielle Revolution oder bloß eine neue Technologie?«, in: G. Friedrichs/A. Schaff (Hg.), Gedeih und Verderb, S. 11-47, hier S. 11. 116 Vgl. ebd., S. 12. 117 Vgl. Bernd Meier: Die Mikroelektronik. Anthropologische und sozioökonomische Aspekte der Anwendung einer neuen Technologie, Köln 1981, S. 9. 271

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(Fertigungssteuerung), die Rationalisierung von Arbeitsgängen und Verfahren (Produktivitätssteigerung) und die Automatisierung von Produktionsabläufen ein Vorteil, den sie zu nutzen wünschten.118 Unternehmen und Verwaltung beschrieben Rationalisierungschancen durch die Nutzung neuer Informationstechnologien als notwendig, unabwendbar und begründeten dies mit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik119 – ein Argumentationsmuster, das uns schon im Hinblick auf die Atomphysik und die Biotechnologie begegnete und das auch im Kontext der Mikroelektronik zentral war. Dabei ging der Hinweis auf die Potentiale der Produktivitätssteigerung mit Versprechungen einher, anstrengende körperlicher Arbeit abzuschaffen sowie völlig neue Freiheiten im Bereich Freizeit und damit Zeit zur »Selbstverwirklichung« zu gewinnen.120 Von gewerkschaftlicher Seite wurden allerdings Fragen nach Arbeitsplatzsicherheit und der Sozialverträglichkeit gestellt und vor einer weiteren Taylorisierung der Arbeit gewarnt.121 Es entbrannte eine heftige Diskussion um die sozio-ökonomischen Konsequenzen der Mikroelektronik, um die Möglichkeit der Dequalifizierung bzw. einer möglichen Qualifikationspolarisierung.122 Soziologische Untersuchungen konstatierten den Verlust von Arbeitsplätzen in der Großindustrie aufgrund der Mikroelektronik als Automatisierungstechnik.123 Insgesamt war die Mikroelektronik eng verknüpft mit Vorstellungen vom Ende der Industriegesellschaft. Dies bezog sich nicht nur auf die Möglichkeiten körperlicher Entlastung der Arbeit und die zunehmende Bedeutung von Information und Wissen, sondern auch auf ökologische Fragen. Als Hauptvorteil der Mikroelektronik wurde ihr Potential zu einem ökologisch verträglicheren Handeln, d.h. vor allem zur Reduzierung des Energie- und Rohstoffverbrauches sowie zu verbesserten Umweltkontrollen und Überwachungsmöglichkeiten gesehen. Man erwartete ökologisch verträglichere Produktion und Konsum.124 Auch hier begegnet uns erneut ein Bild, das bereits im Kontext der Biotechnologie aufgerufen wurde. Wie diese wurde auch die Mikroelektronik mit Hoffnungen auf eine ökologisch verträgliche Technik verbunden. Das Bild 118 Vgl. A. Gorres, u.a.: Dreieck, S. 167. 119 Vgl. B. Meier: Mikroelektronik, S. 10. 120 Vgl. A. Gorres, u.a.: Dreieck, S. 195, Stefan M. Gergely: Mikroelektronik. Computer, Roboter und Neue Medien erobern die Welt, München, Zürich 1983, 2. Auflage, S. 12, sowie A. King: Einleitung, S. 37. 121 Vgl. A. Gorres, u.a.: Dreieck, S. 179. 122 Vgl. B. Meier: Mikroelektronik, S. 10. 123 Vgl. Horst Kern/Michael Schumann: Das Ende der Arbeitsteilung, München 1984. 124 Vgl. A. Gorres, u.a.: Dreieck, S. 315. 272

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der Mikroelektronik als »saubere Technologie« kontrastiert gleichwohl mit der Herstellung der Mikrochips, bei der umweltschädigende Materialien eingesetzt und umweltbelastende Verfahren angewandt wurden.125 Ein weiterer, übermächtiger Topos, der vor allem in den 1980er Jahren zu heftigen Debatten führte, war die Möglichkeit einer völlig neuen Dimension der Bürokratisierung und Überwachung der Gesellschaft mittels Informationstechnologien, die das »menschliche Verhalten ganz und gar strukturiert und kontrolliert«.126 Fragen des Datenschutzes führten zu vehementen Auseinandersetzungen, die sich in der Bundesrepublik nicht zuletzt in Protesten gegen die Volkszählung im Jahr 1983 manifestierten. Die Vorstellung, dass Daten von Bürgern in unzähligen Datenbanken gespeichert und verwendet werden könnten,127 löste Unbehagen aus und rief das Bild einer total überwachten Gesellschaft auf. George Orwells »Big Brother« wurde immer wieder als Symbol für die aufschimmernden Gefahren der überwachten Gesellschaft zitiert. Der elektronischen Überwachung der Tätigkeiten und Gedanken128 als Schreckensvision standen jedoch auch aufklärerische Hoffnungen auf freien Zugang zur Information und neuen Möglichkeiten der Bildung und damit neuen Erwartungen an eine demokratischere Gesellschaft gegenüber.129 Die Informations- und Kommunikationstechnologien und die neuen Medien führten zudem in den 1990er Jahren – und auch heute noch – zu Visionen einer neuen Raum- und Körperlosigkeit, die sich nicht zuletzt auch auf die Auflösung von Städten bezog. Andere sehen jedoch statt der befreienden Potentiale vielmehr die Gefahr einer Isolation und Selbstentfremdung, der Verarmung von menschlichen Kontakten – Bedenken, die schon in den 1970er Jahren geäußert worden waren.130 Auch hier zeigt sich wieder eine tiefe Ambivalenz gegenüber Technik.

Der lokale Diskurs Diese Debatten um die verschiedenen Anwendungsfelder der Mikroelektronik spielten in München jedoch keine Rolle. Das mag, da die Debatten und Planungen um die Ansiedlung der Firma Siemens zeitlich vor der bundesdeutschen Mikroelektronik-Diskussion lag, nicht überra125 Vgl. ebd., S. 184. 126 Klaus Lenk: »Informationstechnik und Gesellschaft«, in: G. Friedrichs/A. Schaffer (Hg.), Gedeih S. 289-326, hier S. 326. 127 Vgl. S. Gergely: Mikroelektronik, S. 253 f und 260 ff. 128 Vgl. A. King: Einleitung, S. 38. 129 Vgl. A. Gorres, u.a.: Dreieck, S. 195. 130 Vgl. A. King: Einleitung, S. 39. 273

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schen. Wie auch im Hinblick auf die Atomphysik sowie die Gentechnologie zu beobachten, war der Informationsstand der Bevölkerung in der jeweiligen Frühphase der Schlüsseltechnologien gering. Gleiches gilt für die Mikroelektronik. Eine Umfrage aus dem Jahr 1979 ergab, dass der Begriff Mikroelektronik der Mehrheit der 2.000 repräsentativ befragten Personen ab 14 Jahren, nämlich 55%, nicht bekannt war.131 Erneut zeigt sich eine chronische Verspätung öffentlicher Diskurse über Technologien. Häufig, jedenfalls fällt dies sowohl bei der Atomphysik als auch bei der Gentechnologie auf, setzten diese erst ein, wenn die Technologiepolitik, Forschung und Industrie die Weichen schon gestellt hatten. Die Proteste gegen Siemens in Neuperlach waren ganz anderer Art. Sie unterstreichen, wie stark die Argumente noch industriegesellschaftlichen Kategorien verhaftet waren. Zum einen gab es, wie die Münchner Presse berichtete, Debatten über den Grundstückspreis. Während Siemens darauf verwies, dass das Unternehmen ein Vielfaches dessen bezahlt hätte, was in anderen Städten zu zahlen gewesen wäre,132 wurde in einer Stadtratsdebatte Missfallen geäußert, bis hin zu einer Petition gegen Siemens wegen eines angeblichen Steuererlasses.133 Neben diesen finanziellen Fragen, über die allerlei Gerüchte im Umlauf waren, wurden zum anderen grundsätzliche Vorbehalte geäußert, die sich gegen den Bau einer Produktionsstätte richteten. Die Idee, weitere Produktionsbetriebe in München zu errichten, wurde in einer Stadtratsdebatte kritisiert, und es wurde darauf gedrungen, die Stadt München solle diese Entwicklung zur Industriestadt nicht weiter anheizen.134 Kritikpunkte waren die »Industrialisierung« des »urbangeprägten Wohnstadtteils« Neuperlachs sowie »eine zunehmende Abhängigkeit der Stadt München von der Firma Siemens«135. Dies entsprach im übrigen einer langen historischen Tradition Münchens. Immer wieder hatte es seit der Industrialisierung Proteste und Widerstände gegen eine Industrialisierung der Stadt gegeben, die sich lieber als Kulturstadt sehen wollte. Stattdessen, so die Forderung, solle Siemens sein Werk im Ruhrgebiet bauen, um dort Arbeitsplätze für die arbeitslosen Bergarbeiter zu schaffen.136 Eine »Industrialisierung von Perlach« wurde scharf attackiert: Die Ansiedlung der Firma Siemens mit 20.000 Arbeitsplätzen würde Neuperlach zu einer »Bela131 Vgl. B. Meier: Mikroelektronik, S. 94. 132 Vgl. »Eine halbe Siemens-Milliarde für Perlach«, in: SZ, 8./9. November 1969. 133 Vgl. Industriekurier Nr. 169, 8. November 1969. 134 Vgl. »Die Stadtratsdebatte: Wurde Siemens nach Perlach gelockt?«, in: Münchner Stadtanzeiger, 17. Februar 1970, 135 »Kritik am Siemens-Großprojekt, Münchner Bürgerrat gegen die »Industrialisierung von Perlach«, in: Münchner Merkur, 23. Januar 1970. 136 Vgl. ebd. 274

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stungsstadt« anstatt einer »Entlastungsstadt« machen. Explizit abgelehnt wurde zudem »ein unnötiges Anwachsen der Gastarbeiterzahl«137, von der man befürchtete, sie werde zu »einer gefährlichen und extremen Veränderung in der Sozialstruktur« führen.138 Die Widerstände, die in München gegen ein neues Siemens-Werk in Neuperlach geäußert wurden, sind in einer stark »industriegesellschaftlichen« Argumentation und Logik formuliert: der Hinweis auf die »Industrialisierung Neuperlachs«, die mit der Vorstellung einhergeht, dies gefährde die Urbanität, der Hinweis auf das Ansteigen der Zahl der Gastarbeiter, die man ablehnt, eine Abhängigkeit von der Firma Siemens. Genau diese traditionellen Bilder der Industrie, die Stadt und Urbanität gefährde, riefen negative Reaktionen hervor.139 Man dachte in den Kategorien der Produktionsarbeit, der unqualifizierten Arbeit, der Verschmutzung und Belastung von Städten durch Industrie. Eine ähnliche Ablehnung fand sich, wie beschrieben, auch in Martinsried. Dem Ausbau und der Transformation der Orte wurde mit Widerstand begegnet, den man mit einem Unbehagen an industriegesellschaftlichen Entwicklungen begründete; statt dessen beharrte man auf der Bewahrung des Ortes, der Tradition, dörflicher und regionaler Kulturen. Eine ähnliche Abwehr erfuhr die Firma Siemens zu Beginn der 1970er Jahre auch in Oberhaching, einem Münchner Stadtteil. Die Pläne des Unternehmens, dort im neuen Gewerbegebiet ein Werk zu bauen, »erhitzte die Gemüter im Oberhachinger Gemeinderat«. Dieser forderte, »der gemütliche Lebensraum Oberhaching« solle für »einen Großbetrieb gesperrt werden«.140 Die Einwände gipfelten in der Formulierung: »Wir wollen ein gemütliches Oberhaching«.141 Der Gemeinderat hatte zudem Bedenken gegen eine mögliche »Fremdsteuerung der Gemeinde« geäußert.142 Darüber hinaus zeigte sich die Gemeinde besorgt, dass die Wasserversorgung knapp werde und dass mit einer starken Zunahme des Kraftzeugverkehrs, einem Anwachsen der Bevölkerung und der Gefährdung der Erholungsgebiete im Süden Münchens zu rechnen sei.143 Um diese Bedenken gegen eine weitere »Industrialisierung« Münchens zu zerstreuen, korrigierte einer der Vorstandsvorsitzenden des Unternehmens öffentlich diese Vorstellung einer Industrieansiedlung: »Was 137 MM, 23. Januar 1970. 138 »Kritik am Siemens-Großprojekt, Münchner Bürgerrat gegen die »Industrialisierung von Perlach«, in: Münchner Merkur, 23. Januar 1970. 139 Vgl. ebd. 140 »Oberhaching spricht mit Siemens. Im Gemeinderat Furcht vor Fremdsteuerung«, in: SZ, 12. Oktober 1973. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Vgl. SAA, 68 Lr 546: Wir planen einen neuen Standort. 275

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in Perlach gebaut wird, ist keine Fabrik«. »Wir werden dort praktisch überhaupt keine Fertigung vornehmen«. Vielmehr werde eine »Denkfabrik« entstehen, ein Zentrum für Datentechnik, das in erster Linie mit Forschungs- und Entwicklungsarbeiten befasst sein werde. Er reagierte unmittelbar auf die Ablehnung von Industriebetrieben, indem er betonte, dass die Elektroindustrie keine Belästigung der Umwelt mit sich bringe: »Wir haben in ganz München nur einen einzigen Kamin«144. In diesem plakativen Bild nimmt er die Vorstellung industriegesellschaftlich überlasteter Städte auf; der Kamin symbolisierte Produktion, Luftverschmutzung und Umweltbelastung; dem wurde das Image der »sauberen« Elektroindustrie gegenübergestellt. Die Widerstände verschwanden daraufhin in der Tat – soweit sich das aufgrund der verfügbaren Quellen verfolgen lässt. Die Befürchtungen der Stadt München, die Bemühungen um die Ansiedlung von Unternehmen in Neuperlach würden scheitern, waren aus dem Weg geräumt. In der Frühphase der Planung schein es auch, als würde sich Siemens, wie es geplant war, in die neue »Entlastungsstadt« integrieren. Ein Vorstandsmitglied der Siemens AG wurde mit der Äußerung zitiert, in Perlach würden Arbeitsplätze für die dortige Bevölkerung entstehen.145 Die Presse meldete, ein Teil der bei Siemens Beschäftigten könne in Neuperlach wohnen; Neuperlach würde somit keinen Schlafstadtcharakter erhalten.146 Gleichzeitig versuchte Siemens allerdings in seinen Pressemitteilungen den Eindruck, Neuperlach werde zu einer neuen Siemensstadt, zu zerstreuen. Von den 25.000 Wohnungen in Neuperlach würden, so versicherte das Unternehmen, Siemens Mitarbeiter allenfalls 8-9% in Anspruch nehmen. Diese rund 2.000 Wohnungen werde man vorsorglich reservieren.147 Und schließlich, so wurde in der Süddeutschen Zeitung berichtet, solle das Projekt »im Gegensatz zu anderen Industrievierteln kein geschlossenes und umzäuntes Gebäude werden, das an Abenden und Wochenenden als Sperrriegel wirkt. Es solle, nach den Plänen des Architekten, verschiedene Gemeinschaftseinrichtungen wie Schwimmbad, Vortragssäle, Läden und Casino enthalten.«148

144 »Siemens baut »Denkfabrik« in Perlach«, in: SZ, 7./8. März 1970. 145 Vgl. »Siemens muß für Perlach neu planen«, in: MM, 9. Februar 1974. 146 Vgl. »Eine halbe Siemens-Milliarde für Perlach«, in: SZ, 8./9. November 1969 sowie SAA, Siemens-Presseinformation, 2.1.1970. Siemens baut in Perlach. 147 Vgl. MM, 7./8. März 1970, S. 9 sowie »Neu-Perlach wird keine »Siemens-Stadt««, in: Münchner Stadtanzeiger, 20. März 1970. 148 »Der neue Siemens-Stadt-Plan«, in: SZ, 17. Dezember 1971. 276

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Doch bald sollte sich zeigen, dass all diese Überlegungen, Hoffnungen und Bedenken hinfällig waren. In Neuperlach wurden keine »Frauen-Arbeitsplätze« geschaffen, die Mitarbeiter zogen nur selten in die »Entlastungsstadt«, und schließlich baute Siemens am Rande Neuperlachs eine eigene, von der Umgebung abgeschirmte »Forschungsstadt«, ein siemenseigenes »kreatives Milieu« in dem hochqualifizierte Akademiker beschäftigt sind.

6.3. Suburbanisierung der »Wissenschaftsindustrie« Seit Herbst 1975 entstand in fünf Bauabschnitten bis 1988 die »Forschungsstadt« der Firma Siemens.149 Sie beherbergt die Unternehmensbereiche Daten- und Informationssysteme, außerdem die Zentralbereiche Technik, Organisation, Vertrieb, Personal und Zentrale Dienste.150 Im August 1977 zogen die ersten Mitarbeiter aus den Münchner Standorten an den Rand der »Entlastungsstadt« Neuperlach. 1990 arbeiteten rund 10.000 Menschen dort, wobei mehr als die Hälfte, nämlich 6.500, im Bereich Daten- und Informationstechnik beschäftigt waren.151 Siemens baute diesen neuen Standort, die »Forschungsstadt«, bewusst an die Peripherie der Stadt München.

6.3.1. Die Bedeutung der Stadt München für die unternehmerische Wissensproduktion 1976 brachten Münchner Tageszeitungen Schlagzeilen über die Errichtung einer »Siemens-Denkfabrik« und betitelten dabei München als »vielseitige deutsche Kulturmetropole« und als »Weltstadt«, die »modernen Wissenschaftsindustrien« eine geeignete Atmosphäre biete.152 Vorstandsvorsitzender Tacke wurde zitiert: »Das Zentrum einer Wissenschaftsindustrie kann nicht in einer Provinzstadt entstehen. Wir brauchen Universität, TH, MPG und kulturelle Umwelt.«153 Jenseits der (Selbst-)Inszenierungen Münchens als Weltstadt und als »deutsche Kulturmetropole« verweisen diese Slogans auf die Bedeutung einer »wissenschaftlichen Infrastruktur«, die Großstädte als Standort für 149 Vgl. SAA-Neuperlach, Hauspost, Siemens Presseinformation, Siemens München – Entwicklung auf Expansionskurs. 150 Vgl. Siemens-Geschäftsbericht 1978, S. 16. 151 Vgl. 1200 Jahre Perlach: 790-1990, S. 944. 152 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 20. März 1970. 153 MM, 7./8. März 1970, S. 9. 277

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Unternehmen bedeutend macht, die »hard infrastructure«, die »kreative Städte« auszeichnet. Denn wie einleitend geschildert, verschob sich mit der Entstehung wissensbasierter Technologien die industrielle Geographie: »new industrial spaces« entstanden, die sich in der Nähe von Großstädten herausbildet. So suchte Siemens im Kontext des neuen Unternehmensbereichs Datentechnik die Nähe zur Großstadt, speziell zu München. Dabei verfolgte Siemens die Strategie einer Arbeitsteilung von Stadt und Land: Seit Beginn der 1970er Jahre siedelte das Unternehmen Forschungsstandorte in der Großstadt an, während die Fertigung aufs Land bzw. in kleinere Städte oder ins Ausland verlagert wurde.154 So konzentrierte sich die Forschung im Bereich Datentechnik in Neuperlach,155 während die Produktion von Computern und anderen Geräten der Datentechnik außerhalb Münchens, etwa in Augsburg und Braunschweig, platziert wurden.156 Insgesamt sollte die Fertigung innerhalb Münchens verringert werden. Billigerer Boden, billigere Abgaben sowie billigere Arbeitskräfte außerhalb der Stadt gaben hierfür den Ausschlag. Die Standorte jedoch, so Siemens in einer Presseinformation, die den »Charakter einer Wissensindustrie« haben, seien in Großstädten anzusiedeln.157 Da die Datentechnik einen besonders hohen Anteil an wissenschaftlichen Mitarbeitern erforderte, legte man Wert darauf, die »Denkfabrik« in München anzusiedeln,158 wo »das Reservoir von Naturwissenschaften, Ingenieuren und Technikern« außerordentlich hoch sei.159 Dies bezog sich auf die wissenschaftlichen Institutionen wie die drei Münchner Universitäten, die Max-Planck-Gesellschaften, die Fraunhofergesellschaft oder die FH.160 München gehörte zudem – neben Darmstadt und Göttingen – zu den drei Orten, an denen in der Nachkriegszeit die Rechnerentwicklung vorangetrieben wurde: An der TU München war das In154 Häußermann/Siebel beobachteten, dass in den 1960er Jahren viele Großunternehmen ihre Produktion in »verlängerten Werkbänken« in ländlichen Standorten verrichten ließen. Vgl. H. Häußermann/W. Siebel: Neue Urbanität, S. 48f. 155 Vgl. W. Feldenkirchen: Siemens, S. 306. 156 Vgl. »Siemens baut »Denkfabrik« in Perlach, Eigentliche Produktion an andere Orten«, in: SZ, 7./8. März 1970. 157 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens-Presseinformation, 2. Januar 1970. Siemens baut in Perlach. 158 Vgl. ebd. 159 Vgl. Sigfrid von Weiher/Herbert Goetzler: Weg und Wirken der Siemens-Werke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847-1980. 3. Auflage, Wiesbaden 1981, S. 152. 160 Vgl. Klaus H. Knapp: »Innovatives Perlach – ein Standortname steht für High-Tech«, in: Siemens-Zeitschrift, Special Forschung und Entwicklung, Frühjahr 1990, S. 30. 278

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stitut für Elektronische Nachrichtentechnik mit Robert Piloty beheimatet.161 Diese Institutionen sicherten eine hohe Anzahl wissenschaftlich qualifizierter Arbeitskräfte.162 Damit erwies sich München auch für Kontakte und Kooperationen mit Forschungsinstitutionen und Universitäten, also die »soft infrastructure« einer »kreativen Stadt« als günstiger Standort.163 Gerade die »Verwissenschaftlichung der Industrie«, ihr stärkerer Forschungsanteil machte geographische Nähe, die Nähe zu wissenschaftlichen Ressourcen und damit zur Stadt aus Sicht der Unternehmen zu einem wertvollen Faktor.

Industrieforschung und Stadt Die Elektroindustrie gehörte neben der Chemieindustrie seit ihren Anfängen zu den forschungsintensiven Bereichen. In den 1880er Jahren verfügten alle größeren Chemie- und Elektrounternehmen über Forschungsabteilungen. Edisons Laboratorien, Generel Electric, die Bell Laboratorien oder Du Pont sind häufig zitierte Beispiele für die Entstehung der Industrieforschung.164 Der Erste Weltkrieg bedeutete in Westeuropa und den USA für die noch kaum institutionalisierte Industrieforschung einen deutlichen Wendepunkt.165 In Deutschland, England, den Niederlanden und den USA stieg die Zahl der Industrielaboratorien in der Zwischenkriegszeit stark an. Bis Mitte der 1930er Jahre waren aus den anfangs noch mit wenigen Technikern und Wissenschaftlern besetzten Prüfungs- und Experimentierlaboren personalintensive, hoch entwickelte und systematisch arbeitende betriebliche Forschungs- und Entwicklungsabteilungen geworden.166 Ein Charakteristikum sei, so betonte Weingart, dass deren Forschung vom unmittelbaren Tagesgeschäft abgeschirmt war, aber dennoch auf die langfristigen Ziele des Unternehmens hin orientiert blieb.167 161 Vgl. Lothar Hack: Technologietransfer und Wissenstransformation. Zur Globalisierung der Forschungsorganisation von Siemens, Münster 1998, S. 310. 162 Vgl. technik+münchen. Mitteilungsblatt der Technisch-Wissenschaftlichen Vereine Münchens, Juni 1980, Siemens in München-Perlach, S. 47. 163 Vgl. SAA 86/Lr 546, Siemens in München. o.J. 164 Vgl. Jost Halfmann: Die Entstehung der Mikroelektronik, Frankfurt, New York 1984, hier S. 80f. 165 Vgl. Paul Erker: »Die Verwissenschaftlichung der Industrie. Zur Geschichte der Industrieforschung in den europäischen und amerikanischen Elektrokonzernen 1890-1930«, in: GUG 35 (1990), S. 73-94. S. 75ff. Zur Industrieforschung bei Siemens siehe Ferdinand Trendelenburg: Aus der Geschichte der Forschung im Hause Siemens, Düsseldorf 1975. 166 Vgl. P. Erker: Verwissenschaftlichung, S. 73. 167 Vgl. P. Weingart: Stunde, S. 201. 279

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Siemens hatte zu den Vorreitern der Integration von Wissenschaft in die Industrie gehört,168 1903 war das erste Zentrallabor eingerichtet worden.169 In München etablierte die Firma in den späten 1950er und Anfang der 1960er Jahre neue zentrale Forschungslaboratorien. Zudem hatte Siemens in den 1950er Jahren den Grundstein für die Mikroelektronik in München gelegt: 1954 begann die Bauelementeherstellung,170 1955 wurde das Zentrallaboratorium der S&H gegründet.171 Mitte der 1960er Jahre wurden innerhalb der Firma Siemens »die unaufhaltsamen Forschungskosten« bereits als »das größte Problem« der Unternehmensforschung bezeichnet. Innerhalb eines Jahrzehnts (von 1956/57 bis 1965/66) hatten sich die jährlichen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen mehr als verdoppelt.172 Allein innerhalb eines Jahres, zwischen 1968 und 1969, war der FuE-Aufwand von 617 Millionen DM um 16% auf 718 Millionen DM gestiegen.173 Im Zeitraum von 1968 bis 1996 wuchsen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bei Siemens von etwa 600 Millionen DM pro Jahr auf mehr als 7,3 Milliarden. Der Prozentsatz der FuE-Aufwendungen pendelte seit Mitte der 1970er Jahre bei etwa 8-9% des Umsatzes, Ende der 1980er Jahre und Anfang der 90er Jahre bei mehr als 11%.174 Auch wenn die Elektroindustrie seit ihren Anfängen zu den forschungsintensiven Bereichen gehörte, so seien die Aufwendungen in den letzten Jahren, wie Feldenkirchen 1997 resümierend feststellte, überproportional gestiegen.175 Offensichtlich wurde schließlich, dass ein erheblicher Teil der für die weitere technologische Entwicklung unerlässlichen Forschung nicht mehr von der Industrie allein betrieben bzw. finanziert werden konnte.176 Stellte von wissenschaftlicher Seite unter anderem das Sinken der staatlichen Forschungsförderung ein Motiv für eine engere Zusammenarbeit mit Unternehmen dar, waren umgekehrt für die Unternehmen ihre steigenden Forschungskosten ein Problem: »Man kann sich nicht mehr so viel Parallelität in der Grundlagenforschung wie bisher leisten. Kein Industrieunternehmen ist heute in der Lage, bei der Entwicklung einer neuen Technologie autark zu sein. Dazu fehlen die Ressourcen. [...] Auch Hochschulforschung schafft solche Autarkie nicht mehr. Was wir 168 169 170 171 172 173 174 175 176 280

Vgl. ebd., S. 201. Vgl. P. Erker: Verwissenschaftlichung; Trendelenburg, Geschichte. Vgl. S. Weiher/H. Goetzeler: Weg und Wirken, S. 130. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. L. Hack: Technologietransfer, S. 53. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. W. Feldenkirchen: Siemens, S. 322. Vgl. ebd., S. 321. Vgl. L. Hack: Technologietransfer, S. 218.

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brauchen, ist eine verlässlich konzertierte Aktion, in der Wirtschaft und Wissenschaft arbeitsteilig vorgehen.«177

Entsprechend stieg die Zusammenarbeit von Unternehmen mit anderen Unternehmen oder mit Forschungseinrichtungen.178 Um die Lasten von FuE-Aufwendungen zu verteilen, vereinbarte Siemens Kooperationen mit anderen Firmen wie IBM, Toshiba oder Motorola sowie im Hochschulbereich. 1996 kooperierte Siemens weltweit in rund 1.000 Projekten mit Hochschulen in Deutschland, USA, Japan, Osteuropa und China.179 Verweist dies einerseits auf die zunehmende Globalisierung der »Wissenschaftsindustrien«, so war und ist die Firma Siemens dabei zugleich auf vielfältige Weise mit den Münchner Universitäten und wissenschaftlichen Instituten verflochten. Mitte der 1960er Jahre war bei Siemens die Intensivierung des Kontaktes zu den Münchner Universitäten gefordert worden.180 Die Kooperationen zwischen Siemens und den Münchner wissenschaftlichen Instituten nahmen die verschiedene Formen an. Hochschullehrer waren zu Gast im Siemenslaboren,181 gemeinsame Veröffentlichungen wurden geschrieben,182 Diplomanden und Doktoranden fertigten in der Firma Siemens ihre Arbeiten an,183 Mitarbeitern arbeiteten nebenamtlich als Dozenten an Universitäten und FHs,184 Rahmenvereinbarungen zwischen der TU München und Siemens über die Zusammenarbeit auf bestimmten Forschungsgebieten und die Förderung von besonders qualifizierten technisch-naturwissenschaftlichen Nachwuchskräften durch Stipendien und Ferienakademien wurden getroffen.185 Mitte der 1980er Jahre konstatierte man bei Siemens, dass sich die Kooperation mit den Hochschulen sehr intensiviert hatte.186 1984 wurde zwi-

177 Zitiert nach L. Hack: Technologietransfer, S. 218. 178 Vgl. U. Schmoch/G. Licht/M. Reinhard (Hg.), Wissens- und Technologietransfer, S. 304. 179 Vgl. W. Feldenkirchen: Siemens, S. 322. 180 Vgl. »Industrie-Forschung zwischen gestern und morgen. Eine Diskussion über die Motive und die Perspektiven der Forschung im Hause Siemens«, in: Siemens-Zeitschrift, Heft 12/1966, S. 856-861, hier S. 860. 181 Vgl. ebd. 182 Vgl. ebd. 183 Vlg. K. H. Knapp, Innovatives Perlach, S. 31. 184 Vgl. Siemens-Mitteilungen, 4/1987, S.12. 185 Vgl. »TUM forscht gemeinsam mit Siemens«, in: Siemens-Zeitschrift 58 (1984), S. 16. 186 Vgl. »Der MEGA-Chip. Ein Gespräch mit Prof. Karl Heinz Beckurts, Mitglied des Vorstands der Siemens AG«, in: Bild der Wissenschaft, Heft 11/1985, S. 18. 281

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schen Siemens und TU München ein Kooperationsvertrag formuliert.187 Zudem engagierte sich die Firma Siemens bei der Errichtung des Walther-Schottky-Instituts in Garching.188 Siemens selbst stellte sein Engagement bezüglich des Walther-Schottky-Instituts in den »Siemens-Mitteilungen« folgendermaßen dar: »Um die Grundlagenforschung für die Halbleitertechnik und Mikroelektronik zu fördern, hat unser Unternehmen für die TU München in Garching ein Institut errichtet. Diese Forschungsstätte – Kosten 17 Millionen DM – könne zu einem Integrationskern innovativer Halbleitertechnik in München werden«.189

Mit dieser Zunahme von Hochschulkooperationen und der Angewiesenheit von Unternehmen auf Forschung und externe »Wissensquellen« stieg die Bedeutung der räumlichen Nähe von Universität und Unternehmen.190 Hatten beispielsweise General Electric, General Motors oder AT & T zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Forschungsabteilungen in die Nähe der Produktionsanlagen platziert, so rückte nun die Stadt mit ihrer »hard und soft infrastructure« als Ort der »Wissenschaftsindustrie« zunehmend in den Vordergrund.

6.3.2. Die Wissenschaft am Stadtrand: Gründe für die Suburbanisierung der Industrieforschung Obgleich die Bedeutung der Stadt mit ihrer »wissenschaftlichen Infrastruktur« aus Unternehmenssicht stetig stieg, entschied sich das Unternehmen seinen neuen Forschungsstandort am Rande der Stadt zu platzieren. Ende der 1960er Jahre hatte sich Siemens mit der Frage des geeigneten Ortes für das geplante Forschungszentrum beschäftigt.191 Ergebnis dieser Erkundungen im In- und Ausland war, dass man sich von einem ursprünglich ausgewählten Grundstück für einen Forschungsstandort innerhalb Münchens verabschiedete.

187 Vgl. L. Hack: Technologietransfer, S. 218. Weingart fasste die Kooperation von Siemens mit Universitäten auf der Grundlage der Selbsteinschätzung der Forschungsstrategen zusammen (ohne dass dies auf München beschränkt wäre). Vgl. P. Weingart: Stunde, S. 204. 188 Vgl. L. Hack: Technologietransfer, S. 216. 189 »Neue Halbleiterforschungsstätte«, in: Siemens-Mitteilungen, 9/1988, S. 18. 190 Vgl. L. Hack: Technologietransfer, S. 216. 191 Vgl. SAA-Neuperlach, ZBA 1 Betriebsabteilung, München, den 19.3. 1970; Behrens – 3049, ZFE – neuer Standort für Forschungslaboratorium München. 282

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Erstens wurde darauf hingewiesen, dass sich – international betrachtet – neue industrielle Forschungsstandorte mit wenigen Ausnahmen außerhalb geschlossener Siedlungsgebiete befänden. Entfernungen von 10-20 km von Großstädten seien üblich.192 Zweitens lägen Forschungszentren durchweg in der Nähe von Autobahn- oder Schnellstraßenausfahrten und seien gleichzeitig in 10-20 Minuten Fahrzeit von der Stadt aus zu erreichen. Zugleich seien in der Regel günstige Verbindungen zu benachbarten Wohngebieten in der Randzone von Großstädten gegeben. Die zitierte Studie verwies darauf, dass die Mitarbeiter von Forschungsabteilungen zumeist PKW-Fahrer seien, zudem einen suburbanen Lebensstil bevorzugten, insofern sie in Eigenheimen lebten und familienorientiert seien. Drittens würde eine Randlage sicherstellen, dass Störungen wie Luftverunreinigungen, Straßenlärm oder Erschütterungen, z.B. durch die U-Bahn, die wissenschaftlich-technische Arbeit nicht beeinträchtigten.193 Viertens seien außerhalb des Stadtgebietes die Grundstückskosten erheblich niedriger, wenn auch die Erschließungskosten höher. Siemens folgte dieser intern erstellten und auf internationalen Beobachtungen beruhenden Studie. Ergänzt wurde sie durch die Überlegung, dass sich die Münchner Siemens-Standorte überwiegend im Süden der Stadt befänden, weshalb ein Standort im Süden oder zumindest im Süd-Osten Münchens empfohlen wurde.194 Neuperlach bot, so die Einschätzung, eine günstige Verkehrslage nahe der Autobahn sowie eine geplante Schnellstraßenverbindung. Öffentliche Verkehrsmittel würden am Werk halten.195 Diese Überlegungen spiegeln typische Faktoren für Suburbanisierungsprozesse im Bereich der Industrie wider, wie sie sich in geradezu paradigmatischer Form in den »Edge Cities« finden. Gleichwohl lassen sich im Hinblick auf die Suburbanisierung der »Wissenschaftsindustrie« weitere Motive finden, die denen der Universitäten und Forschungsinstitute, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln geschildert wurden, ähneln. So spielten auch für den Bau des Forschungsstandorts der Firma Siemens zugleich »wissenschaftsinterne« Entwicklungen sowie die Be-

192 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens-Forschungslaboratorien in MünchenPerlach. 193 Vgl. SAA-Neuperlach, ZBA 1 Betriebsabteilung, München, den 19.3. 1970; Behrens – 3049, ZFE – neuer Standort für Forschungslaboratorium München. 194 Vgl. ebd. 195 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens-Presseinformation, 2.1.1970. Siemens baut in Perlach. 283

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deutung der Datentechnik eine maßgebliche Rolle bei der Entscheidung, einen suburbanen Standort zu bevorzugen. Denn wie schon für Garching und Martinsried beschrieben, stellte auch bei Siemens das Bemühen um räumliche Konzentration der über die Stadt verstreuten Standorte Ende der 1960er Jahre ein zentrales Anliegen dar. Die Forschungsabteilungen waren nach der Übersiedlung nach München zuerst in den Hauptstandorten Hofmannstraße und Balantstraße untergebracht. Als deren Raumkapazitäten an Grenzen stießen, begann man, zahlreiche Objekte in der Umgebung der Standorte anzumieten. Ende der 1960er Jahre war die gemietete Fläche auf ca. 120.000 qm angestiegen.196 Das Unternehmen Siemens war mithin über die ganze Stadt verteilt. Zunehmend empfand man diese Zersplitterung als unwirtschaftlich und unproduktiv.197 Sie erschwere, so wurde betont, den Arbeitsablauf erheblich. Daher entschloss sich das Unternehmen, die Münchner Forschungslaboratorien zusammenzuführen und in München-Perlach anzusiedeln198 – eine ganz analoge Entwicklung zu den Wissenschaftsstandorten Garching und Martinsried, wo gleichfalls über die Stadt verstreute Institute räumlich zentralisiert wurden. Rund 4.000 Mitarbeiter, deren Arbeitsplätze zuvor in über 80 Mietobjekten im gesamten Münchner Stadtgebiet lagen, bezogen ab Herbst 1977 schließlich ihren neuen Arbeitsplatz in Neuperlach, dem neuen Zentrum für Datentechnik.

Zur Bedeutung der Datentechnik Die Entstehung des Forschungszentrums Neuperlach ist untrennbar mit der Bedeutung der Datentechnik verknüpft. Mit der Gründung des Unternehmensbereichs »Daten- und Informationssysteme« im Oktober 1976, ein Jahr bevor der neue Forschungsstandort bezogen wurde, machte Siemens deutlich, dass »die Datenverarbeitung als Kerngebiet unseres Unternehmens« ausgebaut werden sollte.199 Die Anfänge der Datenverarbeitung bei Siemens reichen in die Mitte der 1950er Jahre zurück.200 War Siemens anfangs auf den Bereich der 196 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens München – Entwicklung auf Expansionskurs. 197 Vgl. ebd. 198 Vgl. SAA-Neuperlach, Bauen für die Forschung. Das neue Laborgebäude der Siemens AG in München-Perlach. 199 Vgl. Siemens-Geschäftsbericht 1977, S. 16. 200 Zum Folgenden vgl. M. Eckert/M. Osietzki: Wissenschaft sowie: Rolf Zellmer: Die Entstehung der deutschen Computerindustrie. Von den Pionierleistungen Konrad Zuses und Gerhard Dirks’ bis zu den ersten Serienprodukten der 50er und 60er Jahre, Köln 1990. 284

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Nachrichten-Verarbeitung konzentriert, so verschob sich bereits 1955 – angesichts des Konkurrenten IBM – die Orientierung auf das Gebiet der Elektronenrechner. Das Gebiet der Computertechnik bildet eines der wichtigsten Anwendungen der Mikroelektronik.201 In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wandte sich Siemens der Entwicklung mathematisch-wissenschaftlicher Rechner zu. 1957 hatte die DFG Siemens beauftragt, drei Digitalrechner zu entwickeln. Das Ergebnis war der »2002«, der an die RWTH in Aachen, das Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung in Berlin und das Mathematische Institut der Universität Tübingen geliefert wurde. Auch wenn dieser Digitalrechner technologisch rasch überholt war, markierte er firmenintern den Beginn des neuen Bereichs Datenverarbeitung. Der DFG-Auftrag hatte eine Expansion der »Dienststelle für Nachrichtenverarbeitung« nach sich gezogen, die erst zu einer Abteilung (1958), zur Werksabteilung (1961) und schließlich zum Werk (1965) und zum »Geschäftsbereich Datentechnik« (1969) ausgebaut wurde. Unterstützt und forciert wurde diese Entwicklung durch die Technologiepolitik. Ende der 1960er Jahre war auch für das Gebiet der Datenverarbeitung eine »technologische Lücke« zu den USA wahrgenommen worden, worauf das Bundesforschungsministerium 1967 das Förderprogramm zur Datenverarbeitung beschloss; die deutschen Computer- und Halbleiterunternehmen, vor allem Siemens und AEG Telefunken, erhielten dabei erhebliche finanzielle Unterstützung.202 Dabei wurde ein doppeltes Ziel verfolgt: zum einen die Entwicklung von Datenverarbeitungsprogrammen für Verwaltungsaufgaben, »um die Nachfragekraft der öffentlichen Hand für die Aufholjagd zu nutzen, sowie [...] die direkte Technologieförderung der deutschen Computer- und Halbleiterindustrie, vor allem Siemens, um sie gegen die US-Hersteller konkurrenzfähig zu machen«.203 Damit wurde die Mikroelektronik seit Mitte der 1960er 201 Vgl. Pierre Lévy: »Die Erfindung des Computers«, in: Michael Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt/Main 1994, S. 905-944, Norbert Bolz/Friedrich A. Kittler/Christoph Tholen (Hg.), Computer als Medium, München 1994, Michael Friedewald: Computer als Werkzeug und Medium. Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, Berlin 1999, Walter Kaiser: »Technisierung des Lebens seit 1945«, in: Hans-Joachim Braun/Walter Kaiser (Hg.), Propyläen Technikgeschichte. Energiewirtschaft, Automatisierung, Information seit 1914, Berlin 1994, vor allem 340-391. 202 Vgl. Alexander Gall: »Von ›IBM‹ zum ›Silicon Valley‹. Leitbilder der Forschungspolitik zur Mikroelektronik in den siebziger und achziger Jahren«, in: G. Ritter/M. Szöllösi-Janze/H. Trischler (Hg.), Antworten, S. 135-155, hier S. 137. 203 Margit Szöllösi-Janze: »Einführung«, in: G. Ritter/M. Szöllösi-Janze/H. Trischler (Hg.), Antworten, S. 43-49, hier S. 49. 285

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Jahre als Schlüsseltechnologie definiert, die »einen zentralen Platz in der Auseinandersetzung um das Innovationssystem der Bundesrepublik« einnahm.204 Die Planungen für Neuperlach hatten zudem in engem Zusammenhang mit dem so genannten »Unidata-Projekt« gestanden:205 dem Versuch, eine Kooperation europäischer Computerfirmen aufzubauen, um der amerikanischen Konkurrenz begegnen zu können. Dieses Projekt scheiterte jedoch sehr bald. 206 Der Standort Neuperlach wurde daher – ohne die geplante Kooperation mit europäischen Firmen – weiter geplant und gebaut.

6.4. Die »Denkfabrik«: Eine »Forschungsstadt« Für Martinsried und für Garching wurde bereits gezeigt, wie die in den 1950er und 1960er Jahren noch nach den Maximen der Funktionstrennung gebauten Wissenschaftsareale seit den 1970er und vor allem seit den 1990er Jahren zu »kreativen Milieus« transformiert werden sollten, die das Städtische zu imitieren suchten. Auch das Unternehmen Siemens folgte beim Bau seines Forschungsstandortes in Neuperlach in den 1970er Jahren dem Leitbild der »Urbanität« – wenngleich in sehr metaphorischer Form, wie deutlich werden wird. Dem ging allerdings eine – für eine historische Betrachtung – sehr aufschlussreiche Planungsphase voraus. Die kurze Baugeschichte des Standortes Neuperlach ist hinsichtlich sich wandelnder Konzepte der Organisation einer unternehmerischen Forschungsstätte außerordentlich

204 A. Gall: Deutsche Silicon Valleys? 205 So Josef Limmer, Chef der Standortverwaltung und als Projektleiter seit Beginn des Projekts: »Zur Entstehungsgeschichte. Das Riesenprojekt einer Denkfabrik auf der Grünen Wiese war schon konzipiert worden als man in Europa noch an Unidata glaubte«, in: SZ, 2./3. Juni 1984, S. 17. 206 Im März 1969 trafen sich Vertreter von AEG-Telefunken, Compagnie Internationale pour l’Informatique (CII), Olivetti, Philips und Siemens zu einer Besprechung in Brüssel. Im April 1970 begannen Gespräche »über eine Kooperation europäischer Firmen auf dem Gebiet der GroßRechenanlagen«. (W. Feldenkirchen: Siemens, S. 344) Unter dem Namen »Unidata« sollten die Datenverarbeitungsbereiche der Unternehmen zusammenarbeiten und damit eine der größten Computergruppen außerhalb der USA bilden. (Vgl. Siemens-Geschäftsbericht, 1972/73, S. 16) Allerdings begannen bereits im Sommer 1975 – bevor Siemens in Neuperlach eingezogen war – schon wieder die Verhandlungen über die Auflösung der Unidata-Verträge zwischen den drei Firmen CII, Philips und Siemens. Vgl. L. Hack: Technologietransfer, S. 344ff. und W. Kaiser: Propyläen, S. 378, 380. 286

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erhellend. Seit dem ersten Wettbewerb Ende der 1960er Jahre bis zum Baubeginn 1975 hatte sich, so die Beobachtung bei Siemens, »die Welt verändert«. So ist die Planungsgeschichte durch eine auffällige Zäsur Anfang/Mitte der 1970er Jahre gekennzeichnet: die Abkehr vom großen, monolithischen Gebäuden hin zu kleinen Einheiten, die sich am städtischen Modell orientieren. Dies ist nicht nur im Kontext der Stadtgeschichte interessant, insofern es erstens die Abkehr von der »Großform«, vom Hochhaus widerspiegelt; und zweitens insofern es die Adaption eines Modells der Stadt, eines spezifischen Ideals von Urbanität durch die Wissenschaft bzw. die »Wissenschaftsindustrie« zeigt und einer Erklärung bedarf. Es verweist zugleich auf wissenschaftsgeschichtliche Fragestellung, indem es veränderte Vorstellungen über den Kontext und die Bedingungen der Produktion von Wissen anzeigt. Die Architektur von Wissenschafts- oder Unternehmensgebäuden eröffnet den Blick auf die Konzeptionen wissenschaftlicher/unternehmerischer Organisation, auf die Versuche, möglichst ideale Bedingungen zur Wissensproduktion mittels der baulichen Struktur herzustellen. Es bestand die Vorstellung, die Gebäude strukturierten und beeinflussten die Verhaltensweise der Beschäftigten:207 »Fertigungsstätten, Labors und Verwaltungsbauten eines Unternehmens wirken prägend auf Mitarbeiter und Öffentlichkeit«.208 Die Vorstellung, dass die materielle Umgebung Einfluss auf Mitarbeitermotivation, Arbeitsabläufe, die Organisation etc. nimmt, war bei Siemens präsent und beeinflusste die Planungen für den neuen Forschungsstandort.

6.4.1. »Die Welt hat sich verändert.« Zur Planungsgeschichte der Forschungsstadt Erste Überlegungen für einen neuen Standort am Rande der »Entlastungsstadt« Neuperlach gingen bis in die 1960er Jahre zurück. Nachdem die Strukturplanung des südöstlichen Bereichs von Neuperlach, also das für Siemens vorgesehene Gelände, durch den Stadtrat 1969 genehmigt worden war, schrieb die Siemens AG einen beschränkten Wettbewerb aus, zu dem Architekten aus Deutschland und auch James Stirling aus London eingeladen waren.209 Stirlings Entwurf, ein Hochhausbau mit 207 So Dr. Herman Franz, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Siemens AG, »«Vorwort, in: Wolfgang Schäche (Hg.), 150 Jahre Architektur für Siemens, Berlin 1997. 208 »Arbeiten in einem jungen, dynamischen Standort«, in: Siemens-Zeitschrift, Heft 2/1987, S. 26. 209 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens München – Entwicklung auf Expansionskurs. 287

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über 15 Stockwerken, gewann zwar den Wettbewerb, doch, wie Siemens kurz darauf lakonisch formulierte, führte der Wettbewerb nicht zum Erfolg.210 Stirlings Entwurf wurde rasch verworfen; er galt als zu groß, als zu »bombastisch«. Die Jury kommentierte den Entwurf folgendermaßen: »Wie wohl Siemens eine Selbstdarstellung anstrebt, scheint der vorliegende Entwurf diesen Gesichtspunkt zu übersteigern.«211 Er entspreche, so die Überlegung, nicht den Repräsentationsvorstellungen der Firma.212 1971 setzte daher eine neue Planung ein. Siemens vergab nun einen Direktauftrag an die niederländische Architektengemeinschaft van den Broek en Bakema.213 Abbildung 43: Entwurf van den Broek en Bakema

Obgleich deren neuer Vorschlag internationale Aufmerksamkeit erhalten hatte und bereits erhebliche Mittel für Planung und Bauvorbereitung aufgewendet worden waren, wurde auch dieser Entwurf seitens der Firma Siemens verworfen.214 Er galt immer noch zu sehr einer »Monumentalarchitektur« verhaftet: »Überdimensionierte Verkehrsebenen und Hochhäuser mit »Gipfeln« wurden den Erwartungen von Siemens nicht gerecht.215 Zudem sah der Entwurf einen zusammenhängenden Gebäudekomplex und Großraumbüros vor.216 210 Vgl. ebd. 211 »Das Siemens Verwaltungs- und Laborgebäude in München-Perlach«, in: Baumeister 9/79, 865-874, hier S. 866. 212 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens München – Entwicklung auf Expansionskurs. 213 Vgl. ebd. 214 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 26. September 1978, S. 4. 215 Vgl. »Das Siemens Verwaltungs- und Laborgebäude in München-Perlach«, in: Baumeister 9/79, S. 865-874, hier S. 866. 216 Vgl. SAA-Neuperlach, Text der Hauptabteilung Bauten und Anlagen, Siemens AG, Siemens Perlach – Entwicklung des Bedarfs, Planungsgrundlagen. 288

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Mittlerweile habe sich aber, so die Feststellung bei Siemens, »die Welt verändert«. Mitte der 1970er Jahre schienen die Zielvorgaben, die wenige Jahre zuvor gemacht worden waren, bereits nicht mehr den Erfordernissen der Zeit zu entsprechen: Die Großraumeuphorie217 der 1960er Jahre war genauso abgeklungen wie die Begeisterung für große Bauten, wie sie noch die Planung und den Bau der »Entlastungsstadt« Neuperlach geprägt hatte.218 Zudem betonten organisationssoziologische Untersuchungen nun, dass spontane Kommunikation nur in kleinen Gruppen (5-12 Personen) stattfinden könne. Weder Großraumbüros noch Hochhäuser galten jedoch als kommunikativ. Die Hauptabteilung Bauten und Anlagen der Siemens AG entwarf daher 1974 in enger Zusammenarbeit mit der Architektengemeinschaft van den Broek und Bakema ein neues Konzept.219 Dies übernahm zwar das Grundrissschema des ersten Entwurfs der Architektengemeinschaft, doch wich es vor allem in einem zentralen Punkt von diesem ab: Anstelle der »Großform« entschied man sich für kleine bauliche Einheiten, an die Stelle des Gesamtbaus trat die Addition von Einzelbauten. Der zentrale Gedanke, der mit dieser kleinteiligen Lösung Hand in Hand ging, war die Idee, eine »Forschungsstadt«220 zu bauen.

6.4.2. Die »Forschungsstadt« Neuperlach Betritt man den Forschungsstandort Siemens Neuperlach, so fällt zuerst dessen farbliche Gestaltung auf. Die den Fassaden vorgehängten weißen Aluminiumbleche sind durch rote, grüne, blaue und gelbe Farbelemente unterbrochen. Die Farben sind dabei nicht willkürlich gesetzt, sondern sie signalisieren verschiedene Funktionen: die so genannten »Kommunikationselemente« (Treppenhäuser, Brücken und Wege zwischen den Gebäuden) sind gelb; rot zeigt Installationen an, blau sind die Einrichtungen für Klima und Belüftung; grün schließlich verweist auf »Informationen« (z.B. Hinweisschilder).221 Diese Anklänge an eine »HighTech«-Architektur die – wie beim Centre Pompidou in noch viel auffäl-

217 Vgl. R. Lange: Architektur, S. 21. 218 Zur Kritik am »Großen« vgl. auch E. F. Schumacher: Small is beautiful. Eocnomics as if People Mattered, London 1973. 219 »Siemens-Perlach – der schimmernde Riese«, in: Regionalbeilage der SZ, 26.9.1978. 220 »Forschungs- und Verwaltungszentrum der Siemens AG, MünchenNeuperlach«, in: Bauen+Wohnen 7-8, 1979. 221 Vgl. »Arbeiten in einem jungen, dynamischen Standort«, in: SiemensZeitschrift, Heft 2/1987, S. 26. 289

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liger Form – die »Innereien des Gebäudes«222, die üblicherweise versteckten technischen Funktionsweisen sichtbar macht, mag man als Hinweis darauf lesen, dass es sich um einen Standort der für diese Zeit modernsten Technik handelte. Das Forschungszentrum galt als HighTech-Zentrum, was den Planern vermutlich diese »technizistische« Ästhetik als adäquat erscheinen ließ. Diese auffällige ästhetische Gestaltung geht jedoch mit einem weitaus zentralerem Element einher: der Konzeption des Forschungsstandortes als »Stadt«. Der Standort basiert auf einer netzartigen, diagonalen Struktur.223 Dabei sollte die Addition von Einzelbauten, die als Module jederzeit erweitert werden konnten, ein Gesamtbild ergeben. Dieses Konzept beruhte auf kreuzförmigen Einzelgebäuden und deren Verkettung. Auf diese Weise entsteht eine Art unregelmäßiges Netzwerk.224 Versucht man sich einen Überblick über den Baukomplex zu verschaffen, so ist dies, zumindest auf Anhieb, nur über das Modell des Lageplanes möglich. Dort offenbart sich allerdings das Raster, die Ordnung des Baus ist klar erkennbar. Aus der Vogelperspektive entdeckt man den kreuzförmigen, streng geregelten Grundriss, der jedoch immer wieder unterbrochen wird, so dass Höfe, Wege, kleine Wiesen entstehen.225 So wie Stadtbilder durch eine Folge von Plätzen und Räumen, durch von Gebäuden begrenzte Straßen und durch zahlreiche Verbindungswege geprägt sind, sind die Gebäude auf dem Siemensgelände als begrenzende Elemente gebaut und lassen so offene Räume entstehen.226 Unterschiedliche »städtische Höfe« wurden gebildet; Höfe, die man durch die Erdgeschosszone betreten konnte227 und die mit kleinen Wiesen und Bäumen gestaltet, einzeln und alleenförmig angeordnet sind. Dabei stehen die netzförmig miteinander verwobenen Flachbauten im Wechsel mit höheren Gebäuden; sie sind durch Brücken und Wege auf verschiedenen Ebenen miteinander verknüpft.228 Kein Bau gleicht

222 Jürgen Pahl: Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit-Räume, München, London, New York 1999, S. 217. 223 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens München – Entwicklung auf Expansionskurs. 224 Vgl. »Arbeiten in einem jungen, dynamischen Standort«, in: Siemens-Zeitschrift, Heft 2/1987, S. 26, »Siemens in München-Perlach 1969-1985«, in: Baumeister 10/1985, S. 55-60; Münchner Stadtanzeiger, 26. September 1978, S. 4. 225 Vgl. SAA 86/Lr 546, München-Perlach. Eine Dokumentation. 1979. 226 Vgl. »Forschungs- und Verwaltungszentrum der Siemens AG, München-Perlach«, in: Bauen+Wohnen 7-8, 1979. 227 Vgl. Münchner Stadtanzeiger, 26. November 1978, S. 4. 228 Vgl. SZ, 2./3. Juni 1984, S. 17. 290

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dem anderen; vielmehr wurden die Grundelemente vielfältig variiert, was das Bild einer Stadt fördern sollte.229 Insgesamt stellt die Forschungsstadt eine kompakte städtebauliche Einheit der kurzen Wege dar. Die Kompaktheit, die verschiedene Abteilungen an einem Ort konzentrieren sollte, ging mit Bemühungen einher, einen urbanen Standort zu schaffen, indem ein kleiner Laden, eine betriebsärztliche Dienststelle, Fach- und Werkbücherei, Seminarräume sowie ein »Sozialgebäude« mit vielfältigen Einrichtungen gebaut werden sollte. Kantine, Gästespeisezimmer, Bibliothek, Vortragssaal wiederum sollten ein »soziales Leben« am Standort ermöglichen.230 Ein »Kommunikationszentrum«, das Forum, sollte die »Kontaktwelt« des Standortes darstellen.231 Der Entwurf war stark darauf angelegt, Kommunikation zu fördern. Es war gar die Rede von einer »Sozialstraße« und einer »Fußgängerzone«.232 Dabei galt es als eine wesentliche Anforderung, mit der Gestaltung »neue Formen des betrieblichen und menschlichen Zusammenlebens zu fördern und die Kluft zwischen dem privaten Lebensraum und der Arbeitswelt zu überbrücken.«233 Von einem Arbeitsteam zur Vorbereitung der Büroplanung in Neuperlach waren zudem »Trimmzentren« vorgesehen; diese Idee wurde allerdings wieder zurückgestellt – sie ging offensichtlich zu weit. Eine mit Bleistift geschriebene Anmerkung kommentierte dies etwas sarkastisch: »Dort wo notwendig, wird am Arbeitsplatz »getrimmt« (z.B. Locherei!!)«.234 Die Vorstellung, »die Kluft zwischen privatem Lebensraum und der Arbeitswelt zu überbrücken«, erinnert zum einen an den Lebens- und Arbeitsstil von Wissenschaftlern, bei denen Arbeitszeit- und Freizeit häufig nicht klar getrennt sind. Bereits in den frühen Industrieforschungslabors wurde versucht, eine »Universitätslabor«-Atmosphäre zu schaffen.235 Das Bestreben, mittels der Verbindung von Arbeit und Leben in einer lebendigen, urbanen Umgebung, kreative Potentiale freizusetzen, wurde zum anderen in den 1970er und verstärkt in den 1990er 229 Vgl. »Arbeiten in einem jungen, dynamischen Standort«, in: Siemens-Zeitschrift, Heft 2/1987, S. 26. 230 Vgl. SAA-Neuperlach, Hauspost, Siemens Presseinformation; Baumeister 9/79, S. 865-874. 231 Vgl. »Siemens in München-Perlach«, in: technik+münchen, Mitteilungsblatt der Technisch-Wissenschaftlichen Vereine Münchens, Juni 1980, S. 48. 232 SAA-Neuperlach, Planungsbüro Perlach, 4.10.1971, Stellungnahme zum Entwurf von Bakema. 233 SAA, Erläuternde Bildunterschrift, Foto von Neuperlach. 234 SAA-Neuperlach, Büroplanung Neuperlach o.O, o.J. 235 Vgl. P. Erker: Verwissenschaftlichung, S. 85. 291

DIE KREATIVE STADT

Jahren, wie dies auch im Falle Garchings und Martinsried zu sehen war, zu einem maßgeblichen Element stadtplanerischer, wissenschaftspolitischer und unternehmerischer Konzepte. Dies stellt, wie in Kapitel 2 beschrieben, keineswegs nur ein deutsches oder europäisches Phänomen dar, sondern lässt sich gleichermaßen in Asien oder USA beobachten. Robert Kargon, Stuart Leslie und Erica Schoenberger stellten dieses Phänomen in eine Reihe mit anderen Versuchen der Human-Relations-Bewegung. Anders als der Taylorismus, der vom Arbeiter als homo oeconomicus ausging und deshalb finanzielle Anreize einsetzte, strebte diese die Steigerung der Arbeitsproduktivität über die Verbesserung der räumlich-hygienischen Arbeitsbedingungen und vor allem der sozialen Faktoren an. Soziale Energien und gesellschaftliche Ressourcen, mithin der ganze Mensch sollten auf diese Weise für Forschung und Industrie genutzt werden.236 Ein solches Konzept findet sich in den 1970er Jahren nicht nur in der Industrieforschung, sondern auch in Verwaltungsgebäuden, in denen gleichfalls die Verknüpfung von Privatheit, Freizeit und Arbeitswelt suggeriert wurde. So hatte die Hamburg-Mannheimer VersicherungsAG zu dieser Zeit ein reiches Angebot an Freizeiteinrichtungen im Verwaltungsgebäude eingerichtet: Sporthallen, Kegelbahnen, Fitness-Räume und eine Cafeteria.237 Ein Verwaltungsgebäude in Apeldoorn wurde gleichfalls explizit mit einer Stadt in der Stadt verglichen.238 Es zeichnete sich ganz ähnlich wie das Siemens-Gebäude durch die Addition kleiner Gebäude, eine »hausähnliche« Bürostruktur, »Pausennischen«, Kaffeebars, Post- und Bankservice sowie einen kleinen Einkaufsmarkt aus.239 Auffällig ist dabei, dass der Architekt Hertzberger zur gleichen Gruppe von Architekten gehörte wie van den Broek und Bakema. In einer Kritik des Gebäudes in Apeldoorn sprach Inge Boskamp von einem »Altstadt-Imitat« und einem »Stadtersatz« für die Mitarbeiter.240 Ähnliches lässt sich für das Siemens-Areal konstatieren. Auch Siemens sprach von einer »Forschungsstadt« – ohne dass das Unternehmen 236 Vgl. Robert H. Kargon/Stuart W. Leslie/ Erica Schoenberger: »Far Beyond Big Science: Science Regions and the Organization of Research and Development«, in: Peter Galison/Bruce Hevly (Hg.), Big Science. The Growth of Large-Scales-Research, Standford 1992. S. 334-354, hier S. 334f. 237 Vgl. Werner Durth: Die Inszenierung der Alltagswelt. Zur Kritik der Stadtgestaltung, Braunschweig/Wiesbaden 1977, 2. Auflage 1988, S. 121, Fußnote 66. 238 Vgl. ebd., S. 121. 239 Vgl. Inge Boskamp: »Das Verwaltungsgebäude der Central Beheer in Apeldoorn«, in: Der Architekt, Heft 5/1975, S. 232-235. 240 Vgl. ebd. S. 233 und 235. 292

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allerdings eine Stadt entworfen hätte, in der die Beschäftigten tatsächlich leben, wohnen und arbeiten sollten. Abbildung 44-47: »Forschungsstadt« Siemens

Der Strukturalismus in der Architektur Es war kein Zufall, dass Siemens mit dem niederländischen Büro van den Broek en Bakema zusammenarbeitete.241 Jacob Berend Bakema (1914 -1981) war 1947 der Architektenvereinigung CIAM beigetreten und später der Gruppe Team X (oder Team Ten), die auf dem letzten CIAM-Kongress 1959 in Otterlo die Maxime der Charta von Athen kritisiert hatte. Team X, zu dem Georg Candilis, Shadrach Woods, Alison und Peter Smithson, Jacob Bakema und Aldo von Eyck gehörten, betonte, die moderne Stadt sei »zerstückelt, eine Anzahl lebensloser Spezialismen«. Dem versuchten sie, »eine Empfänglichkeit für das Leben in seiner Totalität« entgegenzusetzen, um die Stadt wieder zu einem »lebendigen Organismus« zu machen.242

241 Auffälliger Weise finden sich in der Literatur keine Hinweise auf van den Broek; im Mittelpunkt steht Bakema. 242 Zitiert nach Arnulf Lüchinger: Strukturalismus in Architektur und Städtebau, Stuttgart 1981, S. 20, 22. 293

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Bakema hatte seine Vorstellungen in einer Reihe von Publikationen, z.B. »Architektur-Urbanismus«, dokumentiert. Er arbeitete von 19481970 mit Hendrik van den Broek (1898-1978) zusammen. Ihr Büro, die »Architectengemeenschap van den Broek und Bakema«, ist der Strömung des Strukturalismus in der Architektur und im Städtebau zuzuordnen.243 Die »Stadt der Forschung« in Neuperlach gilt als eines der größten, je realisierten strukturalistischen Architekturkomplexe.244 Der Strukturalismus erfuhr bisher in der Architekturgeschichte vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit. Zudem zeichnet sich seine Geschichtsschreibung durch eine große, teils auch persönliche Nähe und Sympathie der Autoren zu den Protagonisten und den Ideen des Strukturalismus aus.245 Viele der Publikationen erscheinen eher als Versuch, die eigene Geschichte zu schreiben und dabei die Bedeutung des Strukturalismus in der Architekturgeschichte zu manifestieren.246 Mit dem Strukturalismus hatte Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre innerhalb der modernen Architektur in Verbindung mit der Gruppe »Team X« eine Kritik an der Moderne eingesetzt.247 Der letzte, vom Team X organisierte Kongress des CIAM in Otterlo wird zugleich als Geburt des »strukturalistischen Denkens« in der Architektur und im Städtebau gesehen.248 Das Team X war selbst Teil des CIAM. Es handelte sich also um Architekten, die zunächst in der Tradition des Funktionalismus gestanden hatten249 und nun bemüht waren, die Dogmen der Funktionstrennung, wie sie in der Charta von Athen formuliert und lange Jahre wirkungsmächtig waren, zu überwinden. Nicht zuletzt auf Bakema gehen

243 Vgl. Jürgen Joedicke/Egon Schirmbeck: Architektur der Zukunft. Zukunft der Architektur, Stuttgart 1982, S. 140ff. 244 Vgl. W. Schäche (Hg.), 150 Jahre Architektur, S. 86. 245 Entsprechend bezeichnet beispielsweise Lüchinger den Strukturalismus in der Architektur und im Städtebau »als wichtigste Architektur-Strömung von 1960 bis heute«. Vgl. A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 8. Dies steht aber in auffälligem Widerspruch zur geringen Aufmerksamkeit, die der Strukturalismus in vielen Darstellungen der Architektur des 20. Jahrhunderts erfährt. 246 Vgl. vor allem die Dokumentation: The Emergence of Team 10 out of C.I.A.M. Documents – compiled by Alison Smithson, London 1982. 247 Vgl. Alison Smithon: team 10. primer, Cambridge 1968. 248 Vgl. A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 8. 249 Vgl. Oscar Newman: »Preface«, in: ders.: CIAM ǥ50 in Otterlo. Arbeitsgruppe für die Gestaltung soziologischer und visueller Zusammenhänge,Stuttgart 1961, S. 7. 294

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Initiativen und Ansätze zurück, die über den CIAM hinausführten und zur Gründung des Team X führten.250 Die Begriffe »Struktur« und »Strukturalismus« tauchten 1966 bei Kenzo Tange in einer Selbstbeschreibung seines »intellektuellen« bzw. architektonischen Werdegangs auf, den er als einen Wandel von einer funktionalistischen hin zu einer strukturalistischen Denk- und Bauweise schilderte. Tange ging bei seiner Argumentation vom Funktionalismus aus, der spezifische Räume für spezifische Funktionen forderte und grenzte davon den »Strukturalist« ab, der die Beziehung zwischen Raum und Nutzer nun nicht mehr statisch und deterministisch sehe. Vielmehr solle, so eine wesentliche Forderung, der Raum und seine Form offen für Wandel und Veränderung sein und stets neue Nutzungen anregen. Tange wies vor allem darauf hin, dass es zum »Funktionalen noch einen Prozeß der Gliederung« bedürfe, »der die funktionalen Einheiten verbindet«251. Eines der Kennzeichen des Strukturalismus ist deshalb die Betonung bestimmter Anordnungsprinzipien. Dabei bezeichnet Tange das, was die Räume verbindet, was ihnen Struktur verleiht, als Kommunikation. Kommunikationselemente in diesem Sinn sind für Tange horizontale Verbindungswege im Gebäude und die Erschließungswege zwischen den Gebäuden: »Der Prozeß, diesen kommunikativen Tätigkeiten und Strömungen zwischen Räumen Form zu geben, heißt architektonischen und städtischen Räumen Struktur zu verleihen.«252 In Anlehnung an strukturalistische Denksysteme in der Philosophie, Linguistik und der Anthropologie bezeichnet der Begriff Strukturalismus in der Architektur bzw. im Städtebau einerseits die Vorstellung einer grundlegenden Ordnung, einer Ordnung, die Wohnen, Leben, das Städtische allererst konstituiert, sowie andererseits deren unterschiedliche individuelle Aneignung. Herman Hertzberger, einer der Strukturalisten, rekurrierte explizit auf Saussure, der zwischen langue und parole unterscheidet.253 Während Saussure langue, die Sprache, als ein System der gegebenen Ordnung, als ein System von Unterscheidungen, als eine konstituierende Struktur bezeichnet, entspricht parole der gesprochenen Rede, mithin der Nutzung der Ordnung, ihrer Interpretation, Aneigung und Verwendung. Entsprechend sollten strukturalistische Bauten nach Hertzberger zu Ver-

250 So jedenfalls die Einschätzung von Jürgen Joedicke/Egon Schirmbeck: Architektur der Zukunft, S. 140. 251 Ebd. 252 J. Joedicke: Architekturgeschichte, S. 141, vgl. auch A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 12 und S. 50. 253 Vgl. A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 18. 295

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änderungen durch die Bewohner anregen.254 Kernpunkt für alle Strukturalisten war dabei das Bewusstsein der permanenten Veränderung und des Wandels von Grundbedingungen der Planung.255 Das Verhältnis von Ordnung und Chaos spielte daher für die Strukturalisten eine zentrale Rolle. Die Komponente Ordnung zeigte sich jeweils im Raster strukturalistischer Baukonzepte, und dies ist auch in der Forschungsstadt »Neuperlach« deutlich zu sehen, die nach einem strengen, rasterartigem Grundriss gegliedert ist. »Chaos« soll durch die Unterbrechung des Rasters, der Ordnung erzeugt werden.256 Nach Vorstellung der Strukturalisten sollten die Bauten und Baukomplexe eine »labyrinthischen Klarheit« aufweisen. Diese »labyrinthischen Klarheit« findet sich tatsächlich in Neuperlach wieder. Selbst der Münchner Merkur beobachtete: »Auf den ersten Blick ein unüberschaubares Labyrinth, auf den zweiten ein ausgeklügeltes System von Architektur und Technik.«257 Aus diesen Grundüberlegungen folgten verschiedene Konsequenzen für die Entwürfe und Bauten:

Erstens: Die Abkehr von der Großform »Groß dürfen Dinge nur als Vielfalt von an sich kleinen Einheiten (sein) … Indem man alles zu groß, zu leer und dadurch zu weitab und zu unantastbar macht, werden Architekten vor allem Produzenten von Abstand und Unherbergsamkeit«.258 Dieses Zitat von Herman Hertzberger aus dem Jahr 1973 repräsentiert die für den Strukturalismus typische Abwendung von der baulichen Großform hin zu kleineren Einheiten, die in sich stimmig, abgeschlossen, zu größeren Ganzheiten addiert werden können.259 »Einheitlichkeit des Ganzen und Mannigfaltigkeit der Teile« wie Bakema betonte.260 Dies beschreibt zugleich prägnant den Bau der »Forschungsstadt« Neuperlach, der diesen strukturalistischen Maximen

254 Vgl. J. Joedicke: Architekturgeschichte, 141, A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 50. 255 Vgl. J. Joedicke: Architekturgeschichte, S. 141, A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 42. 256 Vgl. A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 36. 257 »Siemens-Bau der Superlative«, in: MM, 13. Oktober 1978, S. 13. 258 Vgl. J. Joedicke: Architekturgeschichte, S. 142. 259 Vgl. Paulhans Peters: »Die Jahre von 1960 bis 1977«, in: Leonardo Benevolo: Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 2, München 1978, S. 601. 260 Architektur-Urbanismus. Architectengemeenschap van den Broek en Bakema. Dokumente der modernen Architektur. Hg. von Jürgen Joedicke. Stuttgart 1976, S. 11. 296

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folgte und bei dem die kleinen, überschaubaren Einheiten insgesamt ein Ganzes ergeben.

Zweitens: Die Offenheit der Funktion Ein weiteres Prinzip des Strukturalismus wandte sich, wie bereits kurz erwähnt, gegen die Idee des Funktionalismus, Gebäude und Räume für bestimmte Funktionen zu bauen. Stattdessen lautete die Maxime, Gebäude zu bauen, in denen jeder Raum praktisch jede Funktion ermöglicht.261 Weder die einzelnen Gebäude noch die Räume sollten festgelegte Funktionen haben. Ziel war es, das Unfertige, Deutbare, die nicht bestimmte Form zu errichten, mithin ein Gebäude so zu entwerfen, dass es eigentlich niemals fertig gestellt ist.262 Der polyvalente Raum war zentral für die Entwürfe der Strukturalisten. Bakema hatte programmatisch Sullivans These »form follows function« in »form evokes function« umgewandelt.263 Nicht zuletzt die vielen kleinen Bauten boten die Möglichkeit des permanenten An- und Umbaus, ließen Raum für mögliche Veränderungen. So hatte Bakema in früheren Arbeiten das Konzept des »wachsenden Hauses« entwickelt.264 Auf diese Offenheit der Funktion und die damit einhergehende Erwartung an Flexibilität der Nutzung wird noch zurückzukommen sein, da sie zu den zentralen Forderungen von Siemens gehörte.

Drittens: Das »Gestalt gewordene Zwischen« Weiter betonten die Strukturalisten die Bedeutung von Plätzen und Orten zwischen den Gebäuden, die »Kontaktgemeinschaften« ermöglichen sollten und als »Schlüssel für das Gefühl von Verbundenheit« in einer Gemeinschaft betrachtet wurden. Die Gebäudekomplexe wurden mit Wegen und Höfen verbunden, und diese »Kommunikationsnetze« sollten mit »dem Netzwerk sozialer Beziehungen« übereinstimmen.265

Viertens: Der Nutzer als Mitbauer Das Unfertige der Bauten betrachteten die Strukturalisten als Aufforderung an den Benutzer.266 Sie kehrten das Bild, das der Funktionalismus 261 262 263 264 265 266

Vgl. P. Peters: Jahre, S. 602. Vgl. J. Joedicke: Architekturgeschichte, S. 153. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. ebd., S. 155. Zitiert nach A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 30. Vgl. J. Joedicke: Architekturgeschichte, S. 144. 297

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vom Nutzer hatte, nämlich die Vorstellung, man müsse bestimmte Funktionen für den Nutzer festlegen, gewissermaßen um und legten keine Nutzung fest, sondern verantworteten den Bewohnern/Nutzern eine individuelle und subjektive Interpretation der ordnenden baulichen Struktur.267

Fünftens: die Einheit von Architektur und Städtebau Programmatisch hatte Bakema vom »Architektur-Urbanismus« gesprochen. Eine Unterscheidung zwischen Architektur und Städtebau galt als obsolet, sie bildeten vielmehr, so sein Plädoyer, eine Einheit,268 insofern die Prinzipien des Städtebaus – nämlich das Offensein gegenüber Wandel, die Möglichkeit vielartiger Verwendbarkeit, das permanente Weiterbauen, der Sinn für Plätze, Orte und Kommunikationsräume – sowohl für einzelne Gebäude als auch für Städte gültig sein sollte: »Ein Haus wie eine Stadt, eine Stadt wie ein Haus«.269 In diesen Konzepten der Strukturalisten spiegeln sich einerseits typische gesellschaftliche Debatten der 1960er und 1970er Jahre wider: die Kritik am Funktionalismus und die Bemühungen um eine Re-Urbanisierung – in der Sprache der Strukturalisten, die Überwindung der »Zerstückelung und Spezialismen« der Stadt. Weiter die Forderung nach Partizipation der Nutzer, der Bewohner; die Betonung von Kommunikation; das Ende der Planungseuphorie; mithin die Forderung, keine in ihrer Nutzung festgelegten Gebäude mehr zu errichten, sondern solche, die einem permanenten Wandel unterworfen sein könnten. Andererseits waren die architektonischen Konzepte des Strukturalismus, die seit den frühen 1960er Jahren entworfen wurden, im Hinblick auf einige Entwicklungen, wie die Forderung nach Partizipation und vor allem die Abkehr von Planbarkeit vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen voraus. Der Planungsboom, vor allem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre,270 die Orientierung an Großbauten (Hochhäusern), wie es sich auch noch in der Entlastungsstadt Neuperlach zeigte, 267 Vgl. ebd. 268 Architektur-Urbanismus: S. 6 und S. 11. 269 Vgl. J. Joedicke: Architekturgeschichte, S. 159, A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 68. 270 Vgl. Michael Ruck: »Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie – Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre«, in: A. Schildt/D. Siegfried/K C. Lammers: Dyamische Zeiten, S. 362-401. Zur Planungsgeschichte in der Bundesrepublik vgl. auch: Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005. 298

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wurden in den strukturalistischen Konzepten schon ca. eine Dekade zuvor verworfen. Die Gruppe der Strukturalisten, die erst ex-post so bezeichnet wurden, ist nicht klar abgrenzbar. Viele ihrer Gedanken oder sehr verwandte Konzepte finden sich beispielsweise auch bei den japanischen Metabolisten, die in ihren Projekten Architektur als etwas nicht Festgefügtes, nicht endgültig Fixiertes, sondern als einer ständigen Wandlung Unterworfenes betrachteten. Sie waren bemüht, Wege zu ersinnen, um »Probleme unserer sich schnell ändernden Gesellschaft zu bewältigen und gleichzeitig stabilisiertes menschliches Leben zu gewährleisten«.271 Viele Architekten beschäftigten sich mit der Idee, nicht nur einzelne Gebäude, sondern gar ganze Siedlungen je nach aktuellem Bedarf aus vorgefertigten Elementen zu ergänzen. Auch nach der Fertigstellung der Gebäude sollten diese in alle Richtungen problemlos erweiterbar sein. Daher wurden Module entwickelt, die sich sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung beliebig miteinander kombinieren ließen. Die Konzepte, die hierzu entworfen wurden, reichten von Elementen, die nach dem Baukastenprinzip zusammengeführt werden sollten, bis zu der Idee eines selbsttragenden Gerüstes, in das komplette Raumeinheiten eingesetzt werden.272 Dieses galt als »plug-in-« bzw. »clip-on-Prinzip«, Begriffe, die auf Peter Cook von der Architektengruppe Archigram zurückgehen und der dieses Konzept 1964 entwickelt hatte: »Die Plug-in City besteht aus einem großmaßstäblichen Tragwerk, das alle technischen Dienste und alle Erschließungswege zu jedwedem Ort enthält. In dieses Tragwerk werden alle Wohneinheiten mit allen Funktionen eingehängt. Diese Wohneinheiten sind so geplant, dass sie, wenn sie veralten, entfernt werden können. Sie werden durch Kräne bewegt, die von Schienen oberhalb des Tragewerks aus manövriert werden.«273

Ein erster Versuch, dieses Baukastenprinzips umzusetzen, war Anfang der 1960er Jahre der Ausbau der Universität Marburg. Seine Grundlage bildete ein »Tisch« aus vier Eckstützen, einem Deckenrost und einer Deckenplatte, der aus Stahlbeton gefertigt wurde und beliebig aneinandergereiht bis zu acht Einheiten hoch gestapelt werden konnte.274 Obgleich diese Lösungsvorschläge zum Teil recht technizistisch anmuten und gerade die Idee der Module sowie die Grundrisse stark an Computerbauteile, vor allem an Chips erinnern, scheint dies – zumindest 271 272 273 274

J. Joedicke: Architekturgeschichte, S.112ff. Vgl. R. Lange: Architektur, S. 16. P. Cook (Hg.), Archigram. Basel, Bosten, Berlin 1991, S. 38f. Vgl. R. Lange: Architektur, S. 17. 299

DIE KREATIVE STADT

was die niederländischen Strukturalisten angeht – auf die falsche Spur zu führen. Die holländischen Strukturalisten, zu denen Bakema zu zählen ist, widmeten sich nämlich in ihrer Unzufriedenheit mit den architektonischen und städtebaulichen Programmen der Moderne dem Studium archaischer Kulturen, unter anderem in Afrika und Amerika. Beeinflusst war dies vom anthropologischen Strukturalismus Lévi-Strauss’.275 Die holländischen Architekten/Stadtplaner waren auf der Suche nach dem Archetypischen des Menschen und orientierten sich dabei an der Vergangenheit – im krassen Gegensatz zu den jegliche Traditionen und Vergangenheit ablehnenden modernen Architekten.276 In der »Forschungsstadt Neuperlach« materialisierten sich diese strukturalistischen Architekturkonzepte, wie gezeigt wurde. Es bleibt zu fragen, in welchem Zusammenhang diese Konzepte mit den Erfordernissen der unternehmerischen Wissensproduktion standen.

6.5. Die »Wissenschaftsindustrie« und das Städtische Welche Eigenschaften wurden der Kategorie der »Urbanität«, dem Städtischen seitens des Unternehmens zugeschrieben und wie verknüpfte man dies mit der Wissensproduktion?277 Drei wesentliche Motive lassen sich hier nennen: erstens, die als neu wahrgenommenen, steigenden Anforderungen an Flexibilität, zweitens, die Betonung der Notwendigkeit von Kommunikation und Austausch und deren Verbindung mit Kreativi275 Vgl. A. Lüchinger: Strukturalismus, S. 12. Die Metabolisten erhielten ihre Anregung aus der Kybernetik, während die niederländischen Strukturalisten sich an den Forschungen der Ethnologen ausrichten. 276 Die einleitenden Bilder zu einer Darstellung des holländischen Strukturalismus in der Zeitschrift FORUM (7/1959) zeigten entsprechend Bilder von indigenen Stämmen. 277 Im Siemens-Archiv finden sich auf diese Fragen leider keine unmittelbaren Hinweise. Es existieren kaum Akten, aus denen Strategien, Konzepte und der Blick des Unternehmens auf gesellschaftlich-ökonomischen Wandel und die als notwendig erachteten Reaktionen im Hinblick auf die Organisation der unternehmerischen Wissensproduktion abzulesen wären. Die folgenden Ausführungen basieren daher im wesentlichen auf Geschäftsberichten und Pressemitteilungen der Firma Siemens sowie auf der Durchsicht der firmeneigenen Zeitschriften, und somit auf der firmeninternen- und -externen Kommunikation des Unternehmens, sowie auf ungeordneten Akten aus dem Standort Neuperlach selbst, die mir freundlicherweise ganz unkonventionell von den dortigen Mitarbeitern zur Verfügung gestellt wurden. Diese Selbstdarstellungen des Siemenskonzerns werden im Hinblick auf die diskursiven Verknüpfungen analysiert, die der Standort Neuperlach erfuhr 300

NEUPERLACH: »ENTLASTUNGSSTADT« UND »FORSCHUNGSSTADT«

tät sowie, drittens eng damit zusammenhängend, die Hervorhebung interdisziplinärer und projektbezogener Arbeitsstile. Der Blick soll im Folgenden vor allem darauf gelenkt werden, inwieweit und warum damit der Bau einer »Forschungsstadt« einhergeht.

6.5.1. Das Ende der Planungseuphorie: Möglichkeitsräume für Flexibilität Die Entscheidung für eine städtische Struktur, die sich – unter anderem – in einer Vielzahl von Einzelbauten materialisierte, wurde von Siemens selbst in einen engen Zusammenhang mit neuen Anforderungen an Flexibilität gebracht. Aus der Wahrnehmung einer stark notwendig gewordenen Anpassungsfähigkeit des Unternehmens an sich ständig wandelnde Aufgaben und Markterfordernisse wurden viele, kleine Einzelbauten anstelle eines großen Gesamtbaus präferiert. Denn dies ermögliche eine »Anpassung an veränderte Bedürfnisse«, indem man jederzeit »Einzelgebäude anderer Größenordnung« hinzufügen könne.278 Darüber hinaus wurden 30% der Gesamtfläche von vornherein als »reversible Räume« konzipiert. Innerhalb der Gebäude wurden keine festen Wände eingebaut, vielmehr konnten die Wände ohne großen Aufwand montiert und demontiert werden. Durch diese mobilen Trennwände, die in jedem Geschoss zwischen Decke und Fußboden »eingeklemmt« werden konnten, sah man die Möglichkeit gegeben, in kurzer Zeit Großräume oder Platz für Kleingruppen oder Einzelpersonen zu schaffen.279 Dieses »Baukastensystem« sollte die Möglichkeit der »leichten De- und Wiedermontage« sichern, um eine »schnelle Anpassung an neue Aufgabenstellungen« zu ermöglichen.280 Dem entsprach das modulare Prinzip des Entwurfes von van den Broek en Bakema. Diese Wandlungsfähigkeit der Räume war aus Sicht des Unternehmens notwendig, da nicht von Anfang an feststand, wer im einzelnen die Nutzer des neuen Forschungsstandorts sein würden, weshalb man eine

278 Forschungs- und Verwaltungszentrum der Siemens AG, München-Perlach, in: Bauen+Wohnen 7-8, 1979; eine Siemens-Presse-mitteilung unterstricht, dass das Gebäude jederzeit in kleinen Schritten ausgebaut und verändert werden könne. Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens-Presseinformation, 28. 10.1976 sowie SAA, 86/Lr 546. München-Perlach. Eine Dokumentation. 1979. 279 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens-Presseinformation, 28. 10.1976, sowie SAA-Neuperlach, Mitarbeiter-Information der Betriebsleitung München-Perlach, Perlach 1977. 280 Vgl. SAA-Neuperlach, Bauen für die Forschung. Das neue Laborgebäude der Siemens AG in München-Perlach. 301

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»Mehrbereichsnutzung« sicherstellen wollte.281 Auch war nicht einmal bei Planungsbeginn in vollem Umfang bekannt, welche Themenfelder bei Bezug bearbeitet würden, und schon gar nicht war abzusehen, was in zehn oder zwanzig Jahren an Aufgaben zu bewältigen sei. Deshalb könne man nicht, so die Firmenleitung, von einer augenblicklichen Organisationsform, einer konstanten Mitarbeiterzahl oder von dem derzeitigen Aufgabenspektrum und damit einem festen Belegungsplan ausgehen.282 Hintergrund dieser Überlegungen waren die »schnell wechselnden Themen«, die die Konstitution neuer Arbeitsgruppen, den Umbau eines Bürogebäudes mit Labornutzung oder die Umwandlung von Kleinlaboratorien in Großlaboratorien notwendig machten, so die Einschätzung des Unternehmens:283 »Eine explosionsartige technologische Weiterentwicklung und eine zunehmende Spezialisierung in der Forschung führten zu neuen Kooperationsformen innerhalb eines Forschungsbetriebes. Daraus folgten auch neue Bedingungen für die Organisation und den Arbeitsablauf, die wiederum Rückwirkungen auf das bauliche und einrichtungstechnische Konzept von Laborgebäuden haben. [...] Die enge Verknüpfung von Wissenschaft und Technik fordert für die räumliche Gestaltung eines Forschungsgebäudes eine Lösung, die auch schnell wechselnden Themen technisch flexibel angepasst werden kann [...] daraus entwickelte sich ein Baukastensystem.«284

Ähnlich hatte Robert Venturi die Erfordernisse für Wissenschaftsbauten zusammengefasst: »This is more and more relevant in science buildings in particular and in architecture in general, to accommodate change that is more characteristically revolutionary than evolutionary and that is dynamically wide in its range: spatial, programmatic, perceptual, technical, iconographic. In our time, functional ambiguity rather than functional clarity can accommodate the potential for ›things not dreamt of in your philosophy‹«.285

In der Tat hatte sich diese Forderung nach einer flexiblen Architektur bereits im letzten Kapitel bei der Beschreibung des Max-Planck-Instituts

281 Vgl. Baumeister 9/79, S. 865-874. 282 SAA-Neuperlach, Siemens-Forschungslaboratorien in München-Perlach. 283 SAA-Neuperlach Bauen für die Forschung. Das neue Laborgebäude der Siemens AG in München-Perlach. o.j., o.V. 284 Ebd. 285 Robert Venturi: »Thoughts on the Architecture of the Scientific Workplace: Community, Change, and Continuity«, in: P. Galison/E. Thompson (Hg.), Architecture of Science, S. 385-398, hier S. 390. 302

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für Biochemie gezeigt. Zudem war die Forderung nach Flexibilität auch in der Stadtplanung präsent, wie Gerd Albers zusammenfasste: »Zugleich führte das Bewusstsein, in einer schnell sich wandelnden Welt zu leben, zu der Einsicht, dass statische, auf einen Endzustand gerichtete Planungen nicht angemessen seien. Der Schwerpunkt der Planungsdiskussion verlagerte sich von der Ausführung von Plänen auf die ständige Steuerung des Entwicklungsprozesses und damit auf eine Vervollkommnung eben dieses Prozesses als Garantie für das bestmögliche Planungsergebnis. So ging es offenbar nicht mehr darum, den besten Plan zu finden, um erwartete künftige Entwicklungen sinnvoll aufzufangen, sondern es ging um eine Auswahl aus möglichen alternativen Entwicklungen für die Zukunft, [...] eine Auswahl also aus verschiedenen Zukünften«.286

Nach einer Phase der Planungseuphorie war diese an ihr Ende gekommen, schon für kurze Zeiträume schien eine Planung nicht mehr möglich. In der Stadtplanung hatte sich dafür gar ein Schlagwort entwickelt: SIKS: Stadtplanung in kleinen Schritten.287 Dieses »Ende der Zuversicht«288, das Ende der Planbarkeit spiegelte sich in den Forschungsstandorten wider. Die flexible Nutzung, die in den baulichen Strukturen ermöglicht werden sollte, war mithin auch ein wesentliches Element des neuen Forschungsstandorts von Siemens, mit dem auf sich wandelnde gesellschaftliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Entwicklung reagiert wurde. Die kleinteilige Struktur der »Forschungsstadt«, die Vielzahl unterschiedlicher Einzelgebäude schien diesen neuen Erfordernissen zu entsprechen. Ähnlich wie die Stadt, die kein statisches Gebilde darstellt, die vielmehr nie fertig ist, permanent umgebaut, angebaut, niedergerissen, neugebaut wird, die ständigem Wandel unterliegt und dauernd auf Veränderungen reagiert, versuchte sich die »Wissenschaftsindustrie« nun flexibel, wandelbar, unfertig und reaktionsbereit zu organisieren.

286 Gerd Albers: »Der Städtebau seit 1945«, in: Lothar Juckel (Hg.), Haus. Wohnung. Stadt. Beiträge zum Wohnungs- und Städtebau 1945-1985, Hamburg 1986, S. 25-40, hier S. 32. 287 Vgl. Gerd Albers: »Städtebau und Utopie im 20. Jahrhundert«, in: Die Alte Stadt 23 (1996), S. 56-67, hier S. 65. 288 Vgl. Wolfgang Pehnt: Das Ende der Zuversicht. Architektur in diesem Jahrhundert. Ideen – Bauten – Dokumente, Berlin 1983. 303

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6.5.2. Wissen und Kreativität »Wir erwarten durch die Zusammenlegung einen wachsenden Einfallsreichtum«289

In dem Moment, in dem Wissen für technische Innovationen eine zunehmend größere Bedeutung erfuhr, erhielt, wie schon an den Beispielen Martinsried und Garching zu sehen war, ein urbanes Modell für die räumliche Organisation der Wissensproduktion zunehmend an Bedeutung. Damit wird auf das Bild der Stadt als Ort der Kreativität rekurriert, als Ort des Austausches von Wissen, als Handelsplatz, an dem durch Kommunikation und Austausch, durch spontane Begegnungen neue Ideen, Innovationen entstehen. Wie in Garching und Martinsried standen auch in Neuperlach die Hoffnungen auf Kreativität, die aus der Kommunikation und dem Austausch der Mitarbeiter resultieren würde, im Zentrum der Planungen. Wie oben bereits angeführt, war die räumliche Konzentration verschiedener, über die Stadt München verstreuter Standorte ein wesentliches Motiv der Neugründung. Ziel war es, »die Kommunikation und Arbeit zu erleichtern«.290 Der Siemens-Vorstand betonte die Bedeutung der Zusammenlegung verschiedener Abteilungen, die Kreativität hervorbringen sollten: »Ein Physiker, ein Ingenieur, ein Mathematiker brauchen Anregungen, das Gespräch mit Fachkollegen, die Bibliothek, richtige Räume und Arbeitsmittel, damit er optimal arbeiten kann.« Man erwarte sich durch die Zusammenlegung und die besseren Kommunikationsmöglichkeiten eine größere Effizienz und Einfallsreichtum, so Plettner.291 Daher galt die kompakte Struktur, die Zusammenführung und Zentralisierungen von Abteilungen, vor allem von solchen die auf benachbarten Gebieten tätig sind, als wesentlich. Die Forderung nach »Flexibilität und Kommunikationsfreundlichkeit der Gesamtbauten« stand ganz oben auf der Agenda der Planungen der Forschungsstadt, und gerade die »netzförmige Verflechtung der Einzelbauten betrachtete man als kommunikationsfreundlich«292. Gespräch, Austausch und Kommunikation avancierten hier zu »Instrumenten« der Optimierung der Industrie-Forschung. Der persönliche Kontakt, so wurde betont, sei noch immer »das wirkungsvollste Transportmittel für Ideen.«293 Kreativität wurde eng an Kommunikation gekoppelt. Dass die 289 Siemens-Mitteilungen, Heft 11/1976, S. 6. 290 Vgl. technik+münchen, Mitteilungsblatt der Technisch-Wissenschaftlichen Vereine Münchens, Juni 1980, S. 47. 291 Vgl. Siemens-Mitteilungen, Heft 11/1976, S. 6. 292 SAA 86 / Lr 546, München-Perlach. Eine Dokumentation. 1979. 293 Zitiert nach: L. Hack: Technologietransfer, S. 461. 304

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neugebaute Forschungsstadt eine bessere Kommunikation und engere Zusammenarbeit ermöglichen solle, wurde den Mitarbeitern auch per Hauspost mitgeteilt.294 Wie bereits gezeigt, konvergierten diese Erfordernisse mit der Betonung der Kommunikation, wie sie sich im architektonischen bzw. städtebaulichen Strukturalismus findet. Nicht die Funktion stand im Vordergrund, sondern die Relationen, die Verbindungen der einzelnen Elemente. Die Einsicht, dass Wissen »in der Zusammenarbeit der Menschen wirksam« werde, wurde bei Siemens immer wieder betont, weshalb man alle Bedingungen für einen »internen Wissens- und Erfahrungsaustausch« bereitstellen wollte.295 Die Architektur war ein Mittel dazu.

6.5.3. Interdisziplinarität und Projektarbeit Dass die Kommunikation der Mitarbeiter, ihr Austausch und das Gespräch so vehement betont wurden, hing grundsätzlich mit den dem Wissen eigenen Charakteristika und der ihm zugeschriebenen, wachsenden Bedeutung für Innovationen zusammen.296 Wesentlich ist dabei, dass die Forderung nach Interdisziplinarität, und damit nach dem Austausch verschiedener Wissensarten, im Mittelpunkt stand. Wurde schon bei der Gründung des MPI für Biochemie in Martinsried die Notwendigkeit eines interdisziplinären Austausches hervorgehoben und als wesentliches Motiv der Zusammenlegung verschiedener Institute unterstrichen, so findet sich auch im Hinblick auf Neuperlach die Betonung interdisziplinärer Kommunikation, die mit dem Verweis auf die Notwendigkeit projektbezogenen Arbeitens einherging. Herkömmliche Aufteilungen nach Disziplinen, nämlich in physikalische, chemische und elektronische Labors, galten als obsolet; sie seien nur noch teilweise möglich, denn »bei einer Forschung, die in eine technische Entwicklung mündet und die selbst die technologischen Prozesse der Fertigung mit berücksichtigen muss, ist die Raumnutzung allein projektbezogen«.297 Die Beschwörung der Interdisziplinarität findet sich zunehmend Mitte der 1960er Jahre und wurde seitdem kontinuierlich stärker betont. In294 Vgl. Geschäftsbericht 1976, S. 8 und SAA-Neuperlach, Hauspost, Siemens Presseinformation. 295 Vgl. Geschäftsbericht 1998. Spezial: Wissen, Deckblatt 296 Vgl. hier vor allem den Unterschied von Information und Wissen und die daraus resultierenden Unterschiede im Hinblick auf technisch vermittelte Kommunikation. Siehe: Martina Heßler: Vernetzte Wissensräume. Zur Bedeutung von Orten in einer vernetzten Welt. in: Technikgeschichte 70 (2003), S. 235-253. 297 Vgl. SAA-Neuperlach, Siemens-Forschungslaboratorien in MünchenPerlach. 305

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nerhalb des Unternehmen Siemens wurde Mitte der 1960er Jahre unterstrichen: »Dann braucht man eben die volle Breite von Chemie, physikalischer Chemie, Physik und theoretischer Physik in einer Zusammensetzung.«298 In den 1980er Jahre ist in einer ähnlichen Formulierung von »neuen Denkstrukturen« die Rede: »…das neue Arbeitssystem macht doch auch neue Denkstrukturen bei Physikern, Informatikern und Ingenieuren notwendig, weil vor allem die interdisziplinäre Arbeit im Mittelpunkt stehen wird.«299 Gerade Neuperlach wird in den siemenseigenen Publikationen als Ort der interdisziplinären Arbeitsweise hervorgehoben.300 Denn im Bereich der Datentechnik seien die Aufgaben »nur durch ein interdisziplinäres Zusammenwirken« wirtschaftlich zu lösen: »Informatiker, Mathematiker, Physiker sowie Ingenieure arbeiten zusammen [...] mit Wirtschaftswissenschaftlern, deren Fachwissen bei der Lösung vielfältiger technischer, organisatorischer und betrieblicher Aufgabenstellung gefragt ist«.301 Halfmann konstatierte, die interdisziplinäre Organisation von Forschungsprozessen sei ein Kennzeichen einer »industrialisierten Wissenschaft« wie der Mikroelektronik.302 Gibbons et. al. sprechen in ihrer Charakterisierung des »mode 2« der Wissenschaft gar von Transdisziplinarität als einem der wesentlichen Kennzeichen des neuen Modus der Wissensproduktion. Wie man dies auch immer beschreiben möchte, das zentrale Argument hier ist, dass die Wahrnehmung der Firma Siemens, sie stünde vor neuen, sich permanent wandelnden Herausforderungen, die in interdisziplinärer Projektarbeit gemeistert werden müssten, zu einer neuen Betonung räumlicher Nähe, räumlicher Konzentration und der Bedeutung einer »hard und soft infrastructure« führte. Damit veränderte sich nicht nur die industrielle Geographie, sondern auch die räumliche Organisation der Industrieforschung – die damit »städtisch« wurde. Es bleibt die Frage offen, inwieweit diese architektonischen Strukturen nun wiederum zurückwirkten auf die Praxis der unternehmerischen Wissensproduktion, inwieweit sich die Beschäftigten in der SiemensForschungsstadt – im Sinne der Strukturalisten – die gebauten Strukturen aneigneten, interpretierten und nutzten. Dies lässt sich aufgrund der 298 Vgl. »Industrie-Forschung zwischen gestern und morgen. Eine Diskussion über die Motive und die Perspektiven der Forschung im Hause Siemens«, in: Siemens-Zeitschrift, Heft 12/1966, S. 856-861, hier S. 858f. 299 Vgl. »Der MEGA-Chip. Ein Gespräch mit Prof. Karl Heinz Beckurts, Mitglied des Vorstands der Siemens AG«, in: Bild der Wissenschaft Heft 11/1985, S. 18. 300 Vgl. K. H. Knapp, Innovatives Perlach, S. 31. 301 »Arbeiten in einem jungen, dynamischen Standort«, in: Siemens-Zeitschrift, Heft 2, 1987, S. 28. 302 Vgl. J. Halfmann: Entstehung, S. 206, P. Weingart: Stunde, S. 203. 306

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Quellenlage leider nicht beurteilen. Ein Artikel in der Zeitschrift »Baumeister« sprach davon, die vorgegebene Flexibilität der Gebäude, die Nutzungsänderungen auffange, habe sich bewährt.303 Hier ging es allerdings ohnehin eher darum, den Wandel in der Stadtplanung und der Wissenschaftsorganisation, die durch die Wiederentdeckung von Urbanität eng verknüpft sind, zu betrachten. Ein letztes ist hierzu noch zu erwähnen: Gerade im Hinblick auf die Mikroelektronik wurde in der Literatur, noch viel stärker als im Kontext anderer Technologien, auf das Vorbild Silicon Valley verwiesen. Auch Siemens rekurrierte Mitte der 1980er Jahre auf das Silicon Valley und betonte, dass dessen neue Organisationsform mit kleinen Einheiten der der »alten, konservativen Häuser der Ostküste« überlegen sei.304 Als Stärken der Unternehmen im Silicon Valley wurden die offenen Organisationsund Kooperationsformen, die sich von den hierarchisch strukturierten, vertikal organisierten Industrieunternehmen unterschieden, wahrgenommen.305 Gleichwohl, die Inszenierung einer urbanen Forscherumwelt, wie sie in den 1970er Jahren angestrebt und baulich zu materialisieren versucht wurde, ging der breiten Rezeption des Silicon Valley in der Bundesrepublik zeitlich voraus. Darüber hinaus ähnelt sie dem stilisierten Konzept des Städtischen auffällig. Denn dieses spiegelt als Modell der kurzen Wege, der Dichte, der hohen Kommunikation und des informellen, spontanen Austausches die typischen Eigenschaften der Stadt wider, die seit alters her im Kontext der Stadt als Ort der Kreativität genannt wurden. Gerade die Betonung der Interdisziplinarität, des Austausches über Fachgrenzen und verschieden Denkrichtungen hinweg, erinnern an die Heterogenität des Wissensaustausches in Städten. Gleichwohl ist das Städtische auch hier lediglich eine Metapher.

6.6. »Datasibirsk«: Grenzen des Konzepts Seit den 1960er bzw. den 1970er Jahren lässt sich also, wie an den Geschichten der drei Orte Garching, Martinsried und Neuperlach gezeigt, eine starke Orientierung an »Urbanität« sowohl in der Stadtplanung als auch in der Wissenschaftspolitik bzw. der unternehmerischen Wissenschaftsorganisation beobachten, wobei Urbanität hier ganz unterschiedlich konnotiert ist. Einmal meint Urbanität die Stärkung des Gemeinwe303 Vg. »Siemens in München-Perlach 1969-1985«, in: Baumeister 10/1985, S. 55-60. 304 Zitiert nach L. Hack: Technologietransfer, S. 96. 305 Vgl. A. Gall: »IBM«, S. 140, S. 142. 307

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sens, die Bindung der Bürger an ihren Ort, wie es im Stadtplanungsdiskurs der 1960er und 70er Jahre debattiert wurde; das andere Mal ist Urbanität zu einem Werkzeug geworden, mit dem spezifische Eigenschaften der Stadt imitiert werden, um wissenschaftlich-technische Innovationen hervorzubringen. Auffällig ist dabei in beiden Bereichen, vor allem aber im Wissenschaftsbereich, eine enorme Kluft zwischen Planung, Konzeptionierung und Diskurs und der Realisierung dieser Konzepte. In Garching und Martinsried wurden diese Ansätze bislang vor allem debattiert und propagiert, jedoch haben sie weniger zu nachhaltigen Veränderungen der Wissenschaftsstandorte geführt. Die »Entlastungsstadt« Neuperlach sowie die »Forschungsstadt« der Firma Siemens entstanden dagegen als bauliche Strukturen bereits in den 1960er bzw. in den 1970er Jahren. Aber auch hier sind Einschränkungen zu machen. Zwar baute Siemens einen städtisch strukturierten Standort mit flexiblen Raumeinheiten, mit kleinen Gebäuden, Plätzen und Wegen, doch wurden auch in der »Forschungsstadt« viele der angekündigten Infrastrukturen nicht gebaut. Kleine Läden, die »Fußgängerzone« etc. gibt es dort nicht. Die Akten gaben wiederum keinen Aufschluss über die Gründe. Neben der Nichtfinanzierbarkeit, die so häufig eine Rolle spielt, liegt es aber nahe, dass diese Konzepte und Ideen für ein privatwirtschaftliches Unternehmen letztlich doch zu weit gingen. Während der Arbeitszeit kaffeetrinkende und einkaufende Siemensmitarbeiter entsprechen vermutlich doch nicht der Unternehmenskultur. Die »Forschungsstadt« teilt damit das Schicksal der »Entlastungsstadt« insofern, als es eine Kluft zwischen Planung und Anspruch einerseits und Realisierung andererseits gibt. Zudem stieß das Projekt bei Mitarbeitern der Firma Siemens, die ihre städtischen Standorte in Richtung Peripherie verlassen sollten, anfangs nicht auf Begeisterung. Es war gar vom »Stadtrand-Problem«306 die Rede. Die Mitarbeiter tauften den Standort, den sie im Winter beziehen mussten, »Datasibirsk«307. Wie die Siemens-Zeitschrift rückblickend schrieb, betrachteten sich die ersten dort hinziehenden Mitarbeiter fast als »Pioniere in einer neuen, weltfernen Region«. So hielt zwar die S-Bahn alle 20 Minuten am Werkseingang, die Straßenbahn endete jedoch einen Kilometer stadteinwärts, und die Busanbindung an das neue Gelände war »auch nicht gerade ideal gelöst«.308 Die Neuperlacher 306 Siemens-Zeitschrift Special Forschung und Entwicklung, Frühjahr 1990. Innovatives Perlach – ein Standortname steht für High-Tech. Von Klaus H. Knapp, S. 30. 307 Perlach, 790-1990, S. 942. 308 K. H. Knapp, Innovatives Perlach, S. 30. 308

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Wohnhochhäuser, in ihrer Monumentalität und Größe an osteuropäische Wohnsiedlungen erinnernd, mögen den Eindruck eines »Datasibirsk« noch verstärkt haben. Die anfänglich seitens der Stadt München angestrebte Integration von »Entlastungsstadt« und dem neuen Standort der Firma Siemens verwirklichte sich nicht. Weder entstanden im nennenswerten Umfang Arbeitsplätze für die Bewohner Neuperlachs309 noch stießen die neu errichteten gigantischen Hochhäuser auf das Interesse der Siemensmitarbeiter. Auch wenn Zeitungsberichte vereinzelt Gegenteiliges zu suggerieren versuchten, indem sie gar die Frage aufwarfen, ob Neuperlach »auf dem Weg zum Akademiker-Viertel« sei, da Mitarbeiter die »langen Fahrten zur Arbeit satt« hätten,310 so kann davon keine Rede sein. Zwar liegen auch hier keine Statistiken vor, wie viele Wissenschaftler dort wohnen, doch scheint die Zahl gering. Trotz der Tatsache, dass zwischen 1975 und 1977 in Neuperlach der Arbeiteranteil bei 19% lag, der Anteil der Angestellten und Beamten dagegen bei 58%, erhielt Neuperlach, wie die meisten Großwohnsiedlungen, ein negatives Image und wurde mit Sozialwohnungen und Ausländerwohnen assoziiert. Die meisten Großwohnsiedlungen hatten unmittelbar nach der Fertigstellung und Erstbezug einen schlechten Ruf, obgleich es sich in den meisten, was ihre Erstbelegung betrifft, um eine »gesunde Mischung« handelte.311 Eine ungeschickte »Belegungspolitik der Wohnungsämter« sowie die spezifischen Wohnungsmarkbedingungen führten dazu, dass zum Teil sehr homogene Gruppen, beispielsweise Spätaussiedler oder Sanierungsverdrängte in großer Anzahl in die Siedlungen zogen.312 Und in der Tat wurde bald kritisiert, die soziale und altersmäßige Mischung sei nicht gelungen.313 Zwischen Siemens und Neuperlach entwickelte sich somit kaum Kommunikation, weder durch die Bewohner noch durch gemeinsam genutzte öffentliche Einrichtungen. Anders als in Garching und Martinsried bestand keine Verbindung zwischen Siemens und seinem lokalen Standort Neuperlach. Siemens hat eine eigene Identität als »Denkfabrik«, die »Forschungsstadt« stellt ein autarkes Gebilde dar, das nur nach einer Kontrolle und mit einem konkreten Anliegen zugänglich ist.

309 Vgl. SZ, 3./4. August 1974, S. 13 f. 310 Münchner Abendzeitung, 2. September 1983, S. 29. 311 W. Tessin: Neubausiedlungen, S. 94. Vgl. auch: U. Herlyn: »Lebensbedingungen und Lebenschancen in den Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre«, in: U. Herlyn/A.v. Saldern/W. Tessin (Hg.), Neubausiedlungen, S. 102-126, hier S. 105ff. 312 Vgl. W. Tessin: Neubausiedlungen, S. 95. 313 Vgl. Wolfgang Hartenstein: »Zum Thema«, S. 11. 309

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Der Stadtbegriff wurde von vornherein in einem metaphorischen Sinne für eine bestimmte Form der räumlichen und wissenschaftlichen Organisation verwendet, die auf Flexibilität, Kleinteiligkeit, Kompaktheit, Dichte, Kommunikation und Austausch, das Aufeinandertreffen verschiedener Wissensformen zielte. Das Städtische steht hier als Metapher für einen Modus der Organisation, der Informelles, Kommunikation, Heterogenität in den Mittelpunkt stellt. Wie auch im Falle der Wissenschaftsorte Garching und Martinsried ist der Begriff des Städtischen ein reduzierter, ein Imitat, das Kreativität, ein soziales Leben, eine urbane Atmosphäre erzeugen sollte, ohne dass es sich um eine Stadt handeln würde, in der Menschen wohnen, leben, ihre Freizeit verbringen. Neuperlach wurde zu einem monofunktionalen Arbeitsplatz-Standort für zumeist hochqualifizierte Akademiker; ein abgeschotteter Ort, ein privater Platz, der das Städtische imitierte. Man könnte von einer firmenbezogenen, instrumentalisierten Urbanität sprechen. Am »urbanen Konzept« hält Siemens auch in jüngster Zeit fest. Das, was in Neuperlach gar nicht intendiert wurde, ist nun für den seit 1927 existierenden Standort Hofmannstraße in München geplant. Dort sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heute überwiegend in den Feldern Dienstleistung, Vertrieb, Forschung und Entwicklung tätig. Größter Arbeitgeber ist der Bereich »Information and Communication Networks«. Das riesige, bislang eingezäunte Werksgelände, auf dem 105 Gebäude stehen, sollte bis ca. 2012 zu einem offenen Stadtviertel mit einem Park, zwei neuen Hochhäusern, Bürogebäuden, Freizeiteinrichtungen und Wohnungen umgestaltet werden. Der Projektleiter Uwe Nienstedt erläuterte: »Die existierende Struktur wird abgelöst durch eine moderne Arbeitswelt, die aufs Engste verzahnt ist mit Wohnen, Freizeit, Einkaufen, Gastronomie und Sport.«314 Das neue Stadtviertel sollte in mehrere Bauquartiere mit einer Mischung aus Wohn- und Büronutzung entlang eines Parks eingeteilt werden; aus einem monofunktionellen Großstandort sollte wieder eine Stadt entstehen mit »einer vitalen Mischung«315. Die Arbeits- und Wohnumgebung, die geplant ist, gilt, so kommentierte es jedenfalls Siemens im Jahr 2002 selbst, als beispielhaft für den Wandel in der Arbeits- und Lebenswelt.316 Ein wenig erinnert das Projekt wiederum an bereits erwähnte Multifunctionpolis bei Adelaide. Urbanität wurde in den letzten zwei Dekaden zu einem »Zauberwort«, zu einem Phänomen, das sowohl ökonomische Prosperität, technische Innovationen als auch gesellschaftliche Integration und die Renaissance des Städtischen garantieren soll. 314 Siemens Welt 4/02, S. 7. 315 Ebd. 316 Vgl. ebd. 310

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Allerdings, so die allerneueste Meldung, sind auch diese Pläne des Unternehmens bereits wieder zurückgenommen. »Eines der ehrgeizigsten Städtebau-Projekte ist nun endgültig ad acta gelegt [...] Von den großartigen Ideen ist so gut wie nichts übrig geblieben«, berichtete die Süddeutsche Zeitung Ende April diesen Jahres. Ein Mitglied des Stadtrates kommentierte dies folgendermaßen: »Dass nach so vielen Jahren des Planens und Diskutierens alles über den Haufen geworfen wird, macht uns alles andere als glücklich.« Zwar wird das Gelände saniert, was aber aus dem Anspruch wird, das Firmengelände für alle zu öffnen, ist derzeit unklar.317 Derzeit verhandeln die Stadt München und das Unternehmen Siemens um die Neustrukturierung des Areals.318

6.7. Die »Entlastungsstadt«: Keine Stadt vor der Stadt War der Begriff der Urbanität, die Idee einer Forschungsstadt bei Siemens von Anfang an ein metaphorischer, so waren die Planer der »Entlastungsstadt« dagegen mit dem Anspruch angetreten, eine »richtige« Stadt vor der Stadt zu gründen. Urbanität war dabei nicht zuletzt eine politische Kategorie. Die große Diskrepanz zwischen Hoffnungen und Erwartungen und dem, was aus den Planungen wurde, ist offensichtlich und wurde bereits häufig kritisiert. Spätestens in den 1980er Jahren wurden die »Großsiedlungen« zu einem vieldiskutierten Thema in Politik, soziologischer Forschung und öffentlichem (Zeitungs-)Diskurs.319 Die Liste der Beanstandungen, die nun formuliert wurde, war lang: die bauliche Monotonie wirke deprimierend; es werde zu wenig an Kinder und Mütter gedacht, es gäbe eine zu geringe soziale und altersmäßige Mischung; die Errichtung eines »Zentrums« ließ gleichermaßen zu lange auf sich warten wie der Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel zur Innenstadt.320 Den ambitionierten Plänen, eine neue Stadt vor der Stadt aus dem Nichts zu errichten, hatten schon früh skeptische Stimmen gegenübergestanden, die mahnten, dass die gewünschte Urbanität durch Planungen 317 Vgl. SZ, 28. April 2005, S. 34. 318 Auskünfte über den Prozess erteilt das Unternehmen Siemens nicht. Leider werden auch keine Unterlagen über die ursprünglichen Planungen, die nun überarbeitet werden, zur Verfügung gestellt. (Telefonat mit Gerhard Vilsmeier am 16. März 2006). 319 Vgl. Ulf Herlyn: »Problemstellung und Anlage der Untersuchung«, in: U. Herlyn/A.v. Saldern /W. Tessin (Hg.), Neubausiedlungen, S. 13-27, hier S. 13. 320 Wolfgang Hartenstein: Zum Thema, S. 11. 311

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nicht zu erreichen sei. Neuperlach wurde kritisiert als »geplante steinerne Auswüchse, die das kranke, großartige München durch eine vorgesetzte Puffer- oder Filterzone heilen sollen«321 oder als »Architektur, die es erzwingen«322 wolle. Die Münchner Zeitungen betitelten die neue »Entlastungsstadt« bereits in der Planungs- und Bauphase als ein »unmenschliches Vorhaben«, eine »bedauerliche Fehlplanung«,323 eine «Betonwüste«324, als »steinernen Albtraum«325, als »Geisterstadt«326, als »Reißbrettstadt« oder »Stadt aus der Retorte«327. Plätze seien grundsätzlich rechteckig, quadratisch und gepflastert, bis dahin, dass selbst eine Sonnenuhr aus Beton sei. Alles sehe fatal nach »Abstandsflächen-Mathematik« aus und habe kaum etwas mit der Individualität eines »Zuhause« zu tun.328 Ein Stadtbild, so die Kritik, könne man nicht planen.329 Das Unbehagen an der Entwicklung Neuperlachs betraf vor allem den ausbleibenden urbanen Charakter. Bereits 1971 kritisierte der Münchner Merkur, Neuperlach sei keine Stadt geworden, vielmehr handele es sich um eine undifferenzierte Addition von Wohngebieten.330 Auch Staatssekretär Kiesl vom bayerischen Innenministerium machte während einer weiteren Grundsteinlegung für den Wohnring im Jahr 1974 keinen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber solchen Großbauprojekten: »Ich glaube, es ist uns deutlich geworden, dass dort, wo Städte aus dem Boden gestampft werden, wo die Wohnung als engste Einheit persönlicher Identifizierung zur vorgefertigten Fließbandware wird, wo Kreativität des persönlichen Gestaltens nicht möglich ist, dass sich in einer solchen Umgebung nur schwer Identität, Heimatgefühl und Wohlbehagen entwickeln.«331

Ende der 1970er Jahre, zehn Jahre nach dem Einzug der ersten Bewohner, ging eine Reportage in der Süddeutschen Zeitung scharf mit den Entwicklungen ins Gericht, wobei das Fehlen eines städtischen Charakters im Mittelpunkt stand. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob »solch 321 Zeitungsartikel, vermutlich aus der SZ, gefunden im StadtA Mü, Bü u Rat 3926-3927. Die Angabe dort lautet: 29.8.1968, Futurismus im Städtebau. Die Entlastungsstadt Perlach für München. Von Eberhard Schulz. 322 Ebd. 323 MM, 25./26. Januar 1969, S. 9. 324 SZ, 3./4. August 1974, S. 13f. 325 Ebd. 326 Ebd. 327 Ebd. 328 Vgl. MM, 25./26. Januar 1969, S. 9. 329 Vgl. StadtA Mü, Bü u Rat, 3930. 330 Vgl. MM, 14. Juni 1971, S. 13. 331 SZ, 29./30. Juni 1974, S. 15. 312

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ein Gebilde den Namen Stadt verdient. Und das nicht nur, weil diesen neuen Lebensräumen Tradition und Geschichte mit all ihren von der Vergangenheit erzählenden Zeichen und Formen fehlen.« Vor allem die in der »Entlastungsstadt« noch vorhandenen »scharfen Trennungen« wurden problematisiert, so beispielsweise die »strenge Trennung von Verkehr, Versorgung, Wohnung«.332 Die besorgte Frage, die in den 1970er Jahren auf der Agenda stand, war, inwieweit in einer solchen Umgebung ein »Bewusstsein für Öffentlichkeit« für »Rechte und Pflichten, die ein jeder hat« entstehen könne.333 Das Revival des Urbanitätsbegriffs in den 1960er und 1970er Jahren hatte sich schließlich wesentlich in einem politischen und gesellschaftlichen Kontext vollzogen; Urbanität war als politische Kategorie konnotiert, die mit Vorstellungen des Citoyen, mit Bürgersinn, gesellschaftlicher Verantwortung und Beteiligung einherging. Gerade diese Erwartungen wurden aber in solchen Großprojekten wie Neuperlach enttäuscht. Einer der drei praktischen Ärzte in Neuperlach wurde 1970 in der Münchner Stadtzeitung als Kronzeuge für die Gefahren, die für die isolierten, vereinsamten und ohne gesellschaftliche Kontakte lebenden Neuperlacher bestünden, zitiert: »Als Arzt beobachte ich Abreaktions-Phänomene und merkwürdig deplazierte Aggressionen, die es in einer ›normalen‹ Gesellschaft nicht gibt.« Das Fehlen von gesellschaftlichen Kontakten und Auseinandersetzungen führe zu Spannungen in der Familie, die Isoliertheit habe Depressionen zur Folge.334 Karin Zapf stellte in einer soziologischen Untersuchung fest, dass es, verglichen mit den Bewohnern alter Münchner Stadtteile, in vier Großwohnsiedlungen am Rande Münchens einen deutlichen »Rückzug der Siedlungsbewohner aus der öffentlichen Sphäre« gäbe. Zwar war Neuperlach in diese Untersuchung nicht einbezogen war, doch urteilte Petra Dorsch in ihrer Analyse der Kommunikationsbeziehungen in Neuperlach ähnlich: »Raumstruktur und Architektur in Neu-Perlach wecken Zweifel, ob sich unter diesen Bedingungen Öffentlichkeit entfalten kann«.335 Ähnlich konstatierten zeitgenössische Studien, die die Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen innerhalb bundesdeutscher Großsiedlungen untersuchten, dass diese eher gering seien.336

332 SZ, 5./6./7. Januar 1979. 333 Vgl. ebd. 334 »Neu-Perlacher wollen sich nicht mehr langweilen«, in: Münchner Stadtzeitung, S. 13. 335 P. Dorsch: Heimat, S. 67. 336 Vgl. A. v. Saldern: Häuserleben, S. 379ff. 313

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»Kann unter solchen Bedingungen öffentliches Interesse, soziale Verantwortlichkeit, bürgerschaftlich-politisches Bewusstsein und Spontaneität überhaupt noch entstehen? Oder wachsen in den neuen normierten Wohnfabriken am Stadtrand die total vereinzelten, jeder sozialen Aktivität feindlichen, angepassten, apolitischen Konsumenten von morgen heran?«

fragte Karolus Heil eher rhetorisch.337 Dass sich in den Anfangsjahren kein urbanes Leben, nur wenige Kommunikationsbeziehungen sowie eine geringe Anteilnahme am öffentlichen Leben entfaltete und damit die Sorgen um die Ausbildung »bürgerlicher« Tugenden groß war, hing nicht zuletzt mit der fehlenden sozialen und kulturellen Infrastruktur zusammen. Diese hinkte dem Einzug der Bewohner erheblich hinterher. Der Bau von kulturellen Einrichtungen, etwa Schulen, Kirchen, Freizeitzentren und Kinos und der gewerblichen Zentren, wie Geschäften oder Gaststätten, hatte mit der schnellen Fertigstellung von Wohnungen nicht Schritt gehalten.338 Als die ersten 200 Menschen ihre neuen Wohnungen bezogen – im Frühjahr 1968 – waren die früheren Äcker und Viehweiden, auf denen die neue Stadt gerade entstand, eine riesige Baustelle. Keine Straßen, keine Geschäfte, keine Schulen, keine Verkehrsverbindung in die Stadt, nur Wohnungen.339 Der 66jährige Fritz Hild, der 1984 interviewt wurde und zu diesem Zeitpunkt bereits zwölf Jahre in Neuperlach wohnte, erzählte: »Am Anfang war’s hier wirklich zum Aufhängen. Wir kamen hier raus, kannten niemanden, es gab keine Straßen, keine Busverbindung, keine Läden. Wir haben geschimpft und gejammert – natürlich jeder für sich, hinter verschlossenen Türen«.340

1969 beurteilten 84% der Bewohner Neuperlachs in einer Befragung die Einkaufsmöglichkeiten als »schlecht« bis »sehr schlecht«.341 Vor allem die ersten Jahre in Neuperlach waren durch fehlende soziale und öffentliche Einrichtungen sowie fehlende Einkaufsmöglichkeiten geprägt, was aber – entgegen aller Besorgnisse – letztlich doch zu einer spezifischen Form der Kommunikation, der Öffentlichkeit und der Partizipation führte. 1969 diskutierten beispielsweise 800 Neuperlacher mit Kommunalvertretern über ihre Situation.342 Eine Bürgerinitiative organisierte sozia-

337 338 339 340 341 342 314

Vgl. K. Heil: Wohnquartiere, S. 199. Vgl. MM, 11. Mai 1971, S. 11. Vgl. P. Dorsch: Heimat, S.40. MM, 30. Juni 1984, S. 18. K. Heil: Wohnquartiere, S. 191. Vgl. P. Dorsch: Heimat, S. 40.

NEUPERLACH: »ENTLASTUNGSSTADT« UND »FORSCHUNGSSTADT«

le Einrichtungen wie Flohmärkte oder Frauentreffen.343 Rasch war ein »Freier Bürgerverein Neu-Perlach« gründet worden, der sich um die Belange der Bewohner kümmerte und die Missstände öffentlich anprangerte.344 Der Bürgerverein gestand der Stadt zwar zu, dass es Schwierigkeiten geben möge, »gleichzeitig mit den Wohnungen alle Gemeinschaftseinrichtungen endgültig bereitzustellen«, doch forderte er, zumindest ausreichende Provisorien zu installieren. Vor allem bezogen sich diese Forderungen auf die fehlenden Lebensmittelgeschäfte, Schreibwarenläden, Gaststätten, Zeitungskioske, Drogerien, Apotheken oder eine Post. Es sei, so die Kritik, nicht einmal möglich, frische Brötchen zu bekommen. Vor allem führte die Monopolstellung der wenigen Geschäftsleute zu absurd hohen Preisen. Die Mängelliste des Bürgervereins war jedoch noch viel länger: Beklagt wurde ebenfalls die ungenügende Unratbeseitigung der Abfälle, die eine Rattengefahr bedeute, das Fehlen von Schulen – 80 Schüler wurden in einem Bus mit einer Kapazität von 40 Personen nach Altperlach gefahren345 – die mangelnde Kapazität des Kindergartens, das Fehlen einer Polizeistation und die schlechten Verkehrsverbindungen in die Innenstadt, die angesichts der fehlenden sozialen und kulturellen Infrastruktur weiterhin der Bezugspunkt blieb – entgegen der ursprünglichen Pläne, Neuperlach solle zu einem »Subzentrum« für das südöstliche Umland München werden und die Innenstadt entlasten.346 Das einzige öffentliche Verkehrsmittel war zu Beginn ein Bus, der in großen zeitlichen Abständen fuhr, »oft unregelmäßig und nicht in die gewünschte Richtung« 347. Der Anschluss an die Innenstadt war dementsprechend schlecht. 1970 dauerte der Weg hin und zurück mit dem Bus rund zwei Stunden.348 343 Vgl. Petra E. Dorsch: »Nur wer gesund ist, schafft es. Vor zehn Jahren zogen die ersten Bewohner in Neu-Perlach ein – Europas modernster Entlastungsstadt«, in: SZ, 5./6./7. Januar 1979. 344 Der »Freie Bürgerverein Neu-Perlach e.V.« wurde am 30.4.1969 gegründet. Am 4. Mai hatte der Verein bereits 191 Mitglieder. Der Verein bot der Stadtverwaltung in einem Brief an, sie in den »kleinen Dingen« zu unterstützen. Dabei ging es um das Fehlen von Einkaufsmöglichkeiten, sozialer Infrastruktur etc. StadtA Mü, Bü u Rat 3930, Freier Bürgerverein Neu-Perlach e.V. an den Oberbürgermeister, 4.5, 1969. 345 Vgl. StadtA Mü, Bü u Rat, 3930, Veranstaltung des Kreisverbandes der CSU in Perlach zum Thema Entlastungsstadt Perlach, 22. Januar 1969; MM, 25. /26.1. 1969, S. 9. 346 Vgl. StadtA Mü, Bü u Rat, 3930, Bericht von Herrn Dr. Steinkohl, 5. Mai 1969 (Er nahm als Beobachter der Stadtverwaltung an der Gründung des »Freien Bürgervereins N-P« teil.) 347 Vgl. StadtA Mü, Bü u Rat, 3930, Veranstaltung des Kreisverbandes der CSU in Perlach zum Thema Entlastungsstadt Perlach, 22. Januar 1969. 348 »Neu-Perlacher wollen sich nicht mehr langweilen«, in: Münchner Stadtzeitung, S. 13. 315

DIE KREATIVE STADT

Anfang/Mitte der 1970er Jahre war das – aus Sicht der Stadtplaner fatale – Urteil gefallen: Neuperlach sei eine Schlafstadt ohne städtisches Leben: »Abends zwischen zehn und elf gehen hier alle Lichter aus. Dann ist Neuperlach eine Geisterstadt.«349 Auf den Verlust der ursprünglichen Zielsetzungen zugunsten einer immer stärkeren Gewichtung vordergründiger wirtschaftlicher Interessen wurde bereits häufig hingewiesen:350 »Es gab die Entstellung und die Instrumentalisierung der ursprünglichen Konzepte durch die wirtschaftlichen Interessen der Träger und die Baubürokraten,«351 so beispielsweise Harlander. Zudem führte die Finanzmisere der Großstädte zu massiven Einsparungen bei vielen der geplanten Ausstattungen der Neubausiedlungen.352 In München taten sich bereits 1972 erhebliche Finanzierungsprobleme auf: Die Stadt München stellte für Baumaßnahmen statt der angekündigten 4,1 Mrd. für die nächsten vier Jahre nur 1,1 Mrd. zur Verfügung.353 So standen weiterhin einige der Kritikpunkte auch noch Ende der 1970er Jahre auf der Agenda: die zeitraubenden Wegen zwischen Innenstadt und Neuperlach aufgrund der fehlenden direkten Verbindung mit einem Massenverkehrsmittel, das Fehlen von Fachgeschäften, die geringe Zahl der Gaststätten etc.354 Von einer »Defizit-Stimmung« in Neuperlach, die die Bewohner allerdings mit den Bewohnern ähnlicher Satellitenstädte in der ganzen Welt teilen würden, war die Rede. Die riesigen Neubauprojekte, waren sie als Großwohnsiedlung oder als »Stadt« geplant, erhielten nach wie vor eine schlechte Presse.355 Diese Kritik war typisch für die Großsiedlungen, Satelliten- oder Entlastungsstädte, die in den 1960er und 1970er Jahren entstanden; ihre mangelhafte Ausstattung mit Versorgungseinrichtungen, der fehlende städtische Charakter, die Vereinsamung der Bewohner wurden häufig beklagt und mit Begriffen wie »Seelenlosigkeit, Vermassung, Entpersönlichung« beschrieben.356 Als problematisch erwies sich häufig auch die soziale Schichtung, die keine wirkliche Mischung darstellte.357 Vor allem die Situation der »Nur-Hausfrauen« angesichts der schlechten Infrastruktur, ihre Schwierigkeiten bei der Beaufsichtigung der draußen 349 Vgl. SZ, 22. /23. April 1972, S. 13; SZ, 3./4. August 1974, S. 14; MM, 11. Mai 1971, S. 11. 350 Vgl. T. Harlander, Wohnen und Stadtplanung, S. 314. 351 Ebd., S. 321. 352 Vgl. K. Heil: Wohnquartiere, S. 189. 353 Vgl. P. Dorsch: Heimat, S. 130f. 354 Vgl. P. Dorsch: Nur wer gesund ist. 355 Vgl. SZ, 19. November 1982, S. 19. 356 Vgl. K. Heil: Wohnquartiere, S. 188. 357 Vgl. P. Dorsch: Heimat, 1972, S. 48ff. 316

NEUPERLACH: »ENTLASTUNGSSTADT« UND »FORSCHUNGSSTADT«

spielenden Kinder, die aus dem zehnter Stock naturgemäß nicht einfach war, ihre Isolierung am Stadtrand (Stichwort »grüne Witwen«358), wurden in soziologischen und historischen Untersuchungen wie in der Presse diskutiert.359 Gleichwohl, viele der Neuperlacher Bewohner nahmen und nehmen ihren Wohnort anders war. Die Homepage des Ortes konzediert zwar, dass Neuperlach anfangs viele Mängel und Unzulänglichkeiten und entsprechend eine schlechte Presse hatte. Heute dagegen habe Neuperlach fast alles, was zu einer mittelgroßen Stadt gehöre: Wohnungen und Arbeitsplätze, Schulen und Sportplätze, Kindergärten und Altersheime, Kirchen und Pfarrzentren, Gaststätten und Einkaufsmöglichkeiten, den Ostpark. Wie Heil konstatierte, waren trotz der vielfach geäußerten Kritik viele Bewohner schon in der Anfangsphase, als es noch viele Mängel gab, zufrieden.360 Adelheid von Saldern wies darauf hin: »In den Neubausiedlungen der 60er und 70er Jahre deuteten die Menschen ihre Lebenswirklichkeit bei weitem nicht nur in negativer Weise. Im Gegenteil, zahlreiche Bewohner und Bewohnerinnen gaben bei Befragungen an, mit ihre Wohnsituation zufrieden zu sein.«361 Der anfänglich heftigen Kritik und Verurteilung vieler Großwohnsiedlungen oder Entlastungsstädte ist mittlerweile ein differenzierter Blick gewichen. Die Qualität der Siedlungen unterscheidet sich je nach Größe, Lage, Entstehungszeit.362 Zwar gibt es in vielen Siedlungen eine hohe Fluktuation,363 gleichwohl wurden und werden die Wohnungen selbst vor allem wegen ihrer Größe und ihres modernen Ausstattungsstandards in der Regel geschätzt und von den meisten als Verbesserung ihrer Wohnverhältnisse angesehen.364 Auch wenn es sicherlich übertrieben wäre, davon zu sprechen, dass Neuperlach zu einem lebendigen Stadtteil mit öffentlichen, auf Straßen und Plätzen stattfindenden Leben geworden wäre, so entwickelte sich jedoch ein Vereinsleben: zwei Bürgervereine, Theatergruppen, Volksmusik- und Gesangsgruppen, ein Posaunen- und ein Kammerchor.365

358 Vgl. Abendzeitung, 11./12. Januar 1992, S. 8. 359 Zum Leben in Neubausiedlungen vgl. A. v, Saldern: Häuserleben, S. 379ff: sowie U. Herlyn: Wohnverhältnisse in den Neubausiedlungen in den sechziger Jahren, in: A. Schildt/A. Sywottek (Hg.), Massenwohnung, S. 513-536. 360 Vgl. K. Heil: Wohnquartiere, S. 193. 361 A. v. Saldern: Häuserleben, S. 384. 362 Vgl. T. Harlander: Wohnen und Stadtentwicklung, S. 321. 363 Vgl. ebd. S. 322. 364 Vgl. ebd., S. 321. 365 Vgl. MM, 30. Juni 1984, S. 18. 317

DIE KREATIVE STADT

Zudem wird bereits seit 1970 jährlich ein Bürgerfest organisiert.366 1979 wurde schließlich das große Einkaufszentrum, die »Perlacher Einkaufs-Passagen« (PEP) gebaut und 1981 eröffnet.367 Neuperlach hat ein kleines Theater (Theater in der Kreide) und ein Kunstzentrum.368 Abgesehen davon, dass sich – zumindest in Neuperlach – ein soziales und kulturelles Vereinsleben entwickelt hat, scheint für die Bewohner Urbanität, ein öffentliches Leben, das bürgerliche Tugenden, Partizipation und öffentliche Verantwortung impliziert, häufig kein wesentliches Auswahl- und Bewertungskriterium ihres Wohnumfeldes zu sein. Dies zu ändern, waren die Planer und Soziologen allerdings gerade angetreten. Die bauliche Umwelt, die Schaffung einer neuen, urbanen Stadt sollte das Bewusstsein für bürgerliche Tugenden, für eine Anteilnahme an öffentlichen Angelegenheiten in der Gesellschaft stärken – dieses Ziel wurde mit Neuperlach allerdings nicht erreicht.

6 . 8 . D i e P e r f o r m a t i vi t ä t d e s U r b a n e n Neuperlach bezeichnet heute niemand mehr als Stadt, das Konzept ist insofern zweifellos gescheitert. Weder entstand eine »richtige« Stadt mit urbaner Atmosphäre noch ein Subzentrum für den Münchner Osten, das zu einem Magnet für die Region geworden wäre. Vielmehr wurde Neuperlach eine typische Wohn-Schlafssiedlung, also genau das, was man eigentlich verhindern wollte. Nicht zufällig wurde der Bau solch großer Wohnprojekte am Stadtrand Mitte der siebziger Jahre eingestellt. 1975 vollzog die Bundesregierung in ihrem Städtebaubericht die Abkehr von Großwohnungsprojekten außerhalb der Stadt. Im gleichen Jahr signalisierte das Europäische Denkmalschutzjahr eine Zäsur; die Geschichtlichkeit der Stadt wurde wieder entdeckt.369 Man konzentrierte sich erneut auf die Innenstädte.370 Entsprechend entstanden in den 1980er Jahren keine neuen Großsiedlungen mehr,371 während die 1990er Jahre wiederum eine Phase der Stadterweiterung darstellen. Die Zahl der großen Stadterweiterungen, 366 Vgl. Sonderveröffentlichung der SZ, 3. Mai 1990, S. I, II. 367 Vgl. SZ, 25. Juni 1979, S. 13. Vgl. http://www.neuperlach.info/ 8. August 2007. 368 Vgl. MM, 30. Juni 1984, S. 18. 369 Vgl. Ingeborg Flagge: »Zwischen Leitbild und Wirklichkeit«, in: dies. (Hg.), Geschichte des Wohnens, S. 861. 370 T. Harlander: Wohnen und Stadtentwicklung, S. 336. 371 Mit Ausnahme der Hamburger Siedlung Allermöhe-Ost, die allerdings keine Hochhäuser mehr enthielt. Vgl. T. Harlander: Wohnen und Stadtentwicklung, S. 362. 318

NEUPERLACH: »ENTLASTUNGSSTADT« UND »FORSCHUNGSSTADT«

die in den 1990er Jahren fertig gestellt werden, lasse sich jedoch, so Johann Jessen, an einer Hand abzählen. Dazu gehört Berlin Karow-Nord, Berlin Falkensee, Potsdam Kirchsteigfeld, Hamburg Allermöhe-West, Hannover Kronsfeld, während andere, wie München-Riem, die noch im Bau sind.372 Inzwischen ist diese Welle der Stadterweiterung wieder abgeklungen, auf eine Bilanz und vor allem auf einen Vergleich mit den Konzepten der 1920er, 1950er, 1960er und 1970er Jahre müssen wir noch warten, wie Jessen feststellt. Eine detaillierte Fehleranalyse der megalomanischen Projekte der 1960er und 1970er Jahre mag die verschiedenen Faktoren aufzählen wie die absurde Vorstellung, »Urbanität durch Dichte« mit riesigen Hochhausbauten zu verwirklichen, die nicht konsequent verwirklichte Mischung sozialer Schichten und von Funktionen, die Ökonomisierung der Urbanitätsvorstellung, die Dichte rein quantitativ bestimmte, Fehlplanungen, die zu einer Ungleichzeitigkeit von Wohnungen und Infrastruktureinrichtungen führte. Fatal war zweifellos, dass die Wiederentdeckung der Urbanität mit dem Glauben an Planbarkeit und einer Begeisterung für Größe, für Großprojekte einherging. Das Bild der italienischen Stadt, das in der Planungsphase in Neuperlach evoziert wurde, enthält keine riesigen Hochhauskomplexe und beruht auf allem anderen als auf Planung. Die gigantischen Projekte waren Experimente, Labore für 80.000 Menschen, für die in wenigen Bauphasen Urbanität erzeugt werden sollte. Wie sehr man auf diese problematische Konzeption und auf die konkret auszumachenden Fehler auch verweisen mag, so wenig kommt man umhin festzustellen, dass sich »kreative Milieus«, die Urbanität verbürgen sollen, sei es in einem politischen Sinne zur Stärkung des Gemeinwesens, sei es in einem ökonomischen Sinne der effizienten Wissensproduktion, ihrer Erzwingung, ihrer Planung schlichtweg widersetzen. Architektur mag einen Möglichkeitsraum schaffen, letztlich bleibt Urbanität allerdings performativ: Die Menschen müssen sie zuallererst durch ihre Handlungen, ihre Aneignungen herstellen. »… pulsierende und vibrierende Punkte sind sie (die Städte, M.H.) nur, weil sie Tag für Tag im gesellschaftlichen Lebensprozess neu erschaffen werden.«373

372 Vgl. Johann Jessen: »Europäische Stadt als Bausteinkasten«, in: W. Siebel (Hg.), Europäische Stadt, S. 92-104, hier S. 95. 373 K. Schlögel: Raum und Geschichte, S. 34. 319

7.

P L ÄD O Y E R

FÜR

ORTE

Geschichtsschreibung aus der Perspektive des Ortes Mit einem Plädoyer für Orte wollte Wim Wenders daran erinnern, »dass uns auch die Gabe gegeben ist, die Geschichten, die Orte uns erzählen können, zu dechiffrieren, offen zu legen und weiterzugeben«1. Er spricht von »places, von Schauplätzen [...], Plätzen, die sich zur Schau stellen.« Für diese möchte er eine Lanze brechen und den Blick auf »unsere Fähigkeit, auf Orte zu achten, sie (zu) beachten«2 lenken. Das Entziffern und Dechiffrieren der Geschichten, die die drei hier betrachteten Orte Garching, Martinsried und Neuperlach »uns erzählen können«, brachte verschiedene Erzählungen zum Vorschein, die sich als eng verflochten erwiesen und die durch die Wiederentdeckung des Städtischen, insbesondere des Topos der »kreativen Stadt« verbunden sind. In ihnen spiegelt sich die Geschichte der Stadt wider; die Ideen und Konzepte der Stadtplaner und Lokalpolitiker, die in ihnen materialisiert wurden, haben sie verändert. Als Orte der Wissenschaft erlebten sie zudem deren Wandel, wie gleichzeitig die Ansiedlung der Wissenschaft/Technologie die Orte transformierte, sie immensen Veränderungen ausgesetzt hat. Schließlich schrieben die Bewohner der Orte mit ihrem Verhalten gegenüber der Wissenschafts- und Technologieansiedlung die Geschichte ihrer Orte mit, indem sie die Wissenschaften euphorisch begrüßten, sie zuließen oder auch ablehnten.

1

2

Wim Wenders: »Auf der Suche nach Bildern – Orte sind meine stärksten Bildgeber«, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.), Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 283-302, hier S. 296. (Hervorhebung im Original) Ebd., S. 285. 321

DIE KREATIVE STADT

Mit der Betrachtung der Orte geriet zudem die Zeit, die Frage des historischen Wandels, in den Blick. Raum und Zeit sind untrennbar verbunden. So überschrieb Karl Schlögel jüngst sein Buch in Anlehnung an den Geographen Friedrich Ratzel mit »Im Raume lesen wir die Zeit«. Der Ort definiert sich »durch die Gleichzeitigkeit des Erscheinens und Auftretens«.3 Geht es Schlögel dabei um eine »Hermeneutik des Räumlichen« und somit um einen Widerstand gegen die Linearität der Erzählung, den Ausbruch aus dem »Kerker einer ausschließlichen Temporalität« (Edward Soja), so diente die Betrachtung von Orten hier gleichermaßen dem Aufzeigen von synchronen Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten sowie von diachronen Wandlungsprozessen. Gerade die Fokussierung auf die Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt« bringt auch die Frage der Zeit im Sinne von Diskontinuitäten, Brüchen und Wandlungen in unterschiedlichen Feldern und deren tiefgründigen Verbindungen und Zusammenhängen in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Geschichtsschreibung vom Ort lässt damit sowohl das Nebeneinander, als auch das Nacheinander in den Blick geraten.

Die Neuerfindung der »kreativen Stadt« »Kreative Städte«, »kreative Milieus« werden derzeit mit einer Fülle positiver Zuschreibungen bedacht. »Spaces you want to be in, places to be seen«, «vibrant centers«, «Einfallsreichtum«, «Toleranz«, »Weltoffenheit«, »ökonomischer Erfolg«, »Renaissance des Städtischen« sind nur einige der Attribute, mit denen der Topos konnotiert ist. Deutlich wurde in der kritischen Auseinandersetzung mit der »kreativen Stadt« allerdings dreierlei: Erstens: Dieses Konzept ist ein historisch uraltes, das sich seit der Antike findet. Zweitens: Es erlebte historisch seine Konjunkturen und Gegenbewegungen; eine der Konjunkturen – seine Wiederentdeckung in den 1970er Jahren – wurde am Beispiel dreier Orte aufgezeigt. Drittens: Die Versuche, kreative Milieus neu zu schaffen, sie zu etablieren, zu inszenieren, sind nur bedingt erfolgreich. Das unterscheidet sie von den historisch gewachsenen »kreativen Städten«, wie New York oder Wien, wie sie Jed Perl oder Janik/Toulmin beschrieben. Der Blick in die Geschichte »kreativer Milieus« oder »kreativer Städte« zeigt, wie dieser Topos in den 1970er und vor allem in den 1990er Jahren in einer spezifisch historischen Konstellation wiederentdeckt wurde. Der Wandel der gesellschaftlichen Rolle der Wissenschaften, ihre Ökonomisierung gehörten genauso dazu wie veränderte und sich schnell wechselnde Marktbedingungen, Wandlungen in der Techno3

K. Schlögel: Im Raume, S. 48.

322

PLÄDOYER FÜR ORTE

logiepolitik, aber auch Versuche innerhalb der Wissenschaft, Spezialisierungen und enge Disziplinenbildungen zu überwinden, ferner stadthistorische Aspekte wie die Abkehr vom Funktionalismus und die Wiederentdeckung von Urbanität als Qualität eines funktionierenden Gemeinwesens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Geschichtsschreibung vom Ort her ermöglicht es, das Zusammenspiel dieser Faktoren zu betrachten und damit die Wiederentdeckung des Topos zu einer bestimmten Zeit in einer spezifischen Form zu erklären. Gleichzeitig gestattet es die Geschichtsschreibung vom Ort her, in den drei Geschichten allgemeine Entwicklungen sowie lokal spezifische Phänomene und Situationen aufzuzeigen. Denn auch wenn sich »kreative Milieus« als Orte der Erzeugung technisch-wissenschaftlicher Innovationen in Europa, USA und Asien in ganz ähnlicher Ausprägung finden, so werden doch bestimmte Orte zu »kreativen Milieus« umgeformt, andere nicht. So erzählen die drei Orte einerseits Geschichten, wie sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall zu finden sind; andererseits liegt in ihnen etwas Spezifisches, was mit ihrem Ort, dessen Geschichte, der Geographie, den Menschen zu tun hat. Es sind bestimmte Städte, die zu »kreativen Städten« zu transformieren versucht werden. Die lokale Tradition, die Haltung der Bevölkerung, ihre Bereitschaft, einen »symbolischen Raum« für Kreativität zu schaffen, die Geschichte, aber auch Zufälle spielen eine große Rolle. Wie deutlich wurde, hat vor allem die ökonomische Situation des Ortes wesentlichen Einfluss auf die Bereitschaft der Bevölkerung, die Ansiedlung von Wissenschaft und Technologie zuzulassen, sie zu unterstützen oder abzulehnen. Lokale Protestbewegungen können die Entstehung »kreativer Milieus« verhindern; sie haben nach wie vor große Bedeutung für gesellschaftliche Entwicklungen und bilden einen Paralleldiskurs zu nationalen und internationalen Technikdiskursen und Protestbewegungen, auch wenn die sozialwissenschaftliche und historische Forschung dazu neigt, sie zu unterschätzen. Die Elemente einer NIMBY4-sierung, die nicht über den Kirchturm hinausblickt, wurde in den Geschichten der drei Orte jedoch deutlich, und sie verweisen auf die von Nico Stehr beschriebene »Zerbrechlichkeit moderner Gesellschafen«. Aber auch materielle Faktoren, wie die geographische Lage, die Verfügbarkeit von Fläche, also der »materielle Raum«, spielten eine Rolle für die Entstehung »kreativer Milieus«. Ein Faktor verbindet wiederum nicht nur die hier untersuchten drei Orte, sondern fast alle seit den 1970er Jahren entstandenen Technopole, »kreativen Milieus« oder »kreativen Städte«: ihre Lage in der Peripherie 4

Not in my backyard. 323

DIE KREATIVE STADT

von Städten. Dabei entwickeln die „kreativen Milieus« ihre eigenen »soft« und »hard infrastructures; gleichzeitig bietet die Stadt, an deren Rändern sich diese »kreativen Milieus« ansiedeln – dies wurde vor allem am Beispiel Neuperlach deutlich – eine »hard und soft infrastructure«, die zumal aus Unternehmenssicht ein Reservoir an wissenschaftlich ausgebildeten Arbeitskräften liefert. Wissensbasierte Technologien platzieren sich daher vor allem in der Nähe von Großstädten, allerdings eben zunehmend in deren Peripherie. Wissen stellt den »Rohstoff« dar, der zu einer neuen industriellen (bzw. postindustriellen) Geographie führte und in dessen Kontext das Elfenbeinturmmodell der Forschung vom Topos der (suburbanen) »kreativen Stadt« abgelöst wurde.

Vom Elfenbeinturm zur »kreativen Stadt« Wird die »kreative Stadt« häufig als Topos benutzt, um Hoffnungen auf eine »Renaissance des Städtischen«, vor allem auf eine Revitalisierung der Innenstädte zu schüren, so finden sich die wissenschaftlich-technischen »kreativen Milieus« in der Peripherie der Städte. Diese Lage entsprach in den 1950er und 1960er Jahren der Vorstellung einer von der Gesellschaft separierten Wissenschaft. Zu dieser Zeit hatte die Wissenschaft der Stadt den Rücken gekehrt, ohne dabei explizit über die Folgen für die Stadt oder einen möglichen Zusammenhang von Stadt und Wissenschaft zu reflektieren. Vielmehr entsprach es dem Bild des von der Gesellschaft getrennten Forschers, dass er sich am Rande der Stadt befand, weltfern in seine Forschungen vertieft. Diese räumliche Trennung hatte durchaus symbolischen Gehalt, indem sie das Ideal der freien Wissenschaft unterstrich. In Garching und Martinsried wurde damit an einen Mythos der autonomen Wissenschaft angeknüpft und dieser räumlich manifestiert. Gerade nach der engen Verflechtung von Wissenschaft mit Politik und Ökonomie im Ersten Weltkrieg und im Nationalsozialismus schien diese räumliche Trennung die Unabhängigkeit und Nicht-Involviertheit der Wissenschaft in alltägliche, politische und ökonomische Kontexte umso deutlicher zu signalisierten. Damit entsprach das Forschungsareal in Garching oder das MPI für Biochemie in Martinsried in den späten 1950er Jahren und 1960er Jahren dem Elfenbeinturmmodell oder – wie beschrieben – Bacons Haus Salomon. Nach dieser Vorstellung wurde Wissenschaft in klösterlicher Abgeschiedenheit, ungestört von alltagsweltlichen Einflüssen zum Wohle der Menschheit betrieben, nicht jedoch im Sinne unmittelbarer Nutzbarkeit. So begannen die Geschichten Garchings und Martinsrieds als Orte der Grundlagenforschung, in denen fernab der Stadt, fernab von Alltag und lebensweltlichen Zusammenhängen geforscht wurde. 324

PLÄDOYER FÜR ORTE

Seit den 1970er, vor allem aber in den 1990er Jahren wurde jedoch versucht, diese Orte zu »kreativen Milieus« zu transformieren. Anwendungsorientierte Institute und Unternehmen wurden sukzessive in die Orte integriert. Die räumliche Nähe, die räumliche Zentralisierung verschiedener Institute, die sich zuvor auf die Kommunikation zwischen Wissenschaftlern bezogen hatte, wandelte sich nun zu einer Kommunikation zwischen Wissenschaft und Industrie. Technologietransferstellen unterschiedlicher Logiken, wie die »Garching Instrumente« oder das Genzentrum, signalisieren die Ökonomisierung der Wissenschaft, ihre Rückbindung an gesellschaftliche und ökonomische Erfordernisse, wie sie technologiepolitisch und gesellschaftlich seit den späten 1960er und 1970er Jahren gefordert wurden. In allen drei Orten ähnelten sich die Entwicklungen seit den 1970er Jahren. Ihre Geschichte macht diesen historischen Wandel anschaulich, insofern er sich in den Orten mit der Ansiedlung neuer Institute manifestierte und insofern er sich auch architektonisch, räumlich und stadtplanerisch materialisierte. Die vormals stark mit Grundlagenforschung befassten Orte Garching und Martinsried, die die Frage der Anwendung ihrer Erkenntnisse nicht als ihre Aufgabe betrachtet hatten, wurden ökonomisiert, die Frage der Anwendung und Verwertung wurde räumlich mit der Ansiedlung neuer Institutionen integriert. Die Firma Siemens wiederum baute einen Forschungsstandort, der sich an den gleichen Konzepten orientierte wie die zu »Technopolen« werdenden Wissenschaftsorte, nämlich an einem »urbanen Modus« der Organisation wissenschaftlicher Arbeit. In den Forschungsarealen in Garching und Martinsried sowie in der Siemens-»Forschungsstadt« wurden Orte, Plätze, Räume etabliert, in denen sich die unterschiedlichen Gruppen treffen soll(t)en, ob nun die unterschiedlichen Fachrichtungen der Wissenschaften oder Unternehmen und Forschungsinstitute, ob auf den Fluren in den Gebäuden, auf den Piazzen, in den Cafeterien oder in den Pausennischen und Sitzecken der Gebäude: »hybride Räume«, die verschiedene Gruppen zusammenführen, in denen sie sich zeitweise mischen sollen und die Grenzen zwischen ihnen aufgehoben sind. Seit den 1970er Jahren wurde mithin versucht, den Elfenbeinturm der Wissenschaft zu »urbanisieren«. Der gesellschaftlich und ökonomisch rückgebundene, kommunikative, im Austausch mit anderen Forschungsrichtungen, mit Wirtschaft und Gesellschaft stehende Wissenschaftler wurde zum neuen Idealbild. Architektonisch und städtebaulich spiegelt sich dieser Wandel in einem Bewusstsein für öffentliche Plätze und Räume, für Kommunikation stiftende Architekturen und für Funktionsmischung auf dem Forschungsgelände wider. Mit langen Fluren, die jetzt nicht mehr nur in funktionalistischer Logik effiziente Wege si325

DIE KREATIVE STADT

chern sollten, sondern Kommunikationszonen, wurde Begegnen, Austausch und Kommunikation zu programmieren versucht. Die Hoffnung auf unvorhersehbares Aufeinanderstoßen, auf ein produktives Chaos, auf die Forcierung des Zufalls bestimmten die Konzepte. Dies ging auch mit Überlegungen zur Schaffung eines räumlichen Zentrums, einer Mitte sowie einer baulichen Identität der Forschungsareale einher. Kurz, ein spezifisches Idealbild der Stadt wurde handlungsleitend. Das Urbane fungiert hier allerdings als eine Metapher; es wird zum Instrument, um Einfallsreichtum und Kreativität und damit Innovationen und ökonomischen Erfolg zu garantieren. Denn das zweite Versprechen, das derzeit – neben der Renaissance des Städtischen – im Kontext der »kreativen Stadt« kolportiert wird, ist das einer neuen ökonomischen Prosperität. Historisch lässt sich beobachten, wie sich Wissenschaft im Kontext der geforderten, stärkeren Rückbindung an ökonomische Erfordernisse im »urbanen Modus« organisiert und damit an den uralten Topos der Stadt als Ort der Kreativität anknüpft. Hintergrund dessen ist zum einen ein makroökonomischer Strukturwandel, der in einem Bedeutungsverlust klassischer Industriezweige (Eisen, Stahl, Maschinenbau, Kohle etc.) zugunsten wissensbasierter Industrien seit den 1980er Jahren begründet liegt. Parallel dazu diagnostizierten Autoren wie Burkart Lutz5 oder Michael J. Piore und Charles F. Sabel6 das Ende der standardisierten Massenproduktion, ein postfordistisches Zeitalter, in dem sich die Organisationsformen der Unternehmen hin zu kleinteiliger, informeller und netzwerkorientierten Formen wandelten. Es wurde also in dem Moment an den Topos der Stadt als Ort der Kreativität angeknüpft, in dem wissenschaftliches Wissen für technische Innovationen eine ganz zentrale Rolle spielte, in dem die steigende ökonomische Bedeutung wissensbasierter Technologien einen Strukturwandel anzeigten und das Ende der Industriegesellschaft diagnostiziert wurde. Von der Wissenschaft wurde nun konkret eine Problemlösungskapazität erwartet. Die Stadt mit den ihr jahrhundertelang zugeschriebenen Eigenschaften der Heterogenität, der Begegnung mit dem Fremden, dem Unvorhersehbaren, dem Austausch und der Kommunikation, das Städtische als ein stilisiertes Modell des Ortes der Kreativität entspricht den Erfordernissen derzeitiger Wissensökonomien: Die Forderung nach Kommunikation, Interdisziplinarität, Flexibilität und Kreativität korrespondieren einem spezifischen Bild des Städtischen, insofern die Stadt 5 6

Vgl. Burkart Lutz: Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am Main/New York 1984. Vgl. Michael J. Piore/Charles F. Sabel: The Second Industrial Divide. Possibilities for Prosperity, New York 1984.

326

PLÄDOYER FÜR ORTE

ein nichtplanbares, flexibles, reaktionsfähiges, tendenziell chaotisches Gebilde darstellt, in der verschiedene Arten des Wissens aufeinander stoßen, und so zwangsläufig neue Ideen entstehen. Die Bemühungen um Interdisziplinarität, um Kommunikation zwischen verschiedenen Gruppen, die Notwendigkeit der Projektarbeit machen veränderte Formen der Kommunikation und der Zusammenarbeit notwendig. Eine Kommission »Wissenschaftslandschaft Bayern 2020« betonte kürzlich in ihren Reformvorschlägen: »Die traditionelle Einteilung in Fakultäten der Physik, Chemie, Biologie und Mathematik verhindert Innovationen, die heute vor allem zwischen den Disziplinen stattfinden.«7 Wenn also Wissen, und insbesondere das Zusammenwirken unterschiedlicher Arten und Formen des Wissens, als zentral für Kreativität, für Innovationen erachtet werden, dann wird auch die räumliche Nähe und räumliche Konzentration dieser unterschiedlichen Wissensformen erforderlich sowie eine Organisation, die ihren Austausch, ihre Kommunikation, ihr Aufeinandertreffen fördert – mithin ein urbaner Modus, der gleichwohl hier nur eine Metapher, ein stilisiertes Modell darstellt. Die Stadt wurde seit den 1970er, vor allem aber seit den 1990er Jahren, als Organisationsmodell für wissenschaftliches Arbeiten entdeckt, und zwar umso mehr, je stärker es in Anwendungskontexte gestellt wurde, je mehr es ökonomisiert und auf gesellschaftliche und ökonomische Problemlagen bezogen wurde. Neben diesen Wandlungsprozessen in der Wissenschaft und des Wandels ihrer gesellschaftlichen Rolle beeinflussten zum anderen stadthistorische Entwicklungen die Wiederentdeckung des Topos der »kreativen Stadt«. Stadtplanerische Diskurse wirkten auf Wissenschaftsareale, einmal ganz simpel weil Architekten und Stadtplaner beteiligt sind. So entsprach sowohl die Konzeption der Wissenschaftsareale der 1950er und 1960er Jahre mit ihrer Isolierung und Separierung nicht nur dem Modell der von der Gesellschaft und Ökonomie getrennten Wissenschaft, sondern auch dem der Funktionstrennung und dem Modell der aufgelockerten und gegliederten Stadt; gleiches gilt für die Versuche seit den 1970er Jahren, diese Forschungsorte zu »urbanisieren«, die parallel zu beobachten sind zu den stadtplanerischen und gesellschaftlichen Diskursen der Kritik am »Tod der Stadt« und den Bemühungen, sie zu revitalisieren. Diente dies in den Forschungsarealen der Steigerung des Innovationsoutputs, so bildete für alle drei Orte Urbanität seit den 1960er und 1970er Jahren auch als politische Kategorie in den Wohnorten selbst, im Hinblick auf das Zusammenleben der dortigen Bevölkerung, der Bürger, 7

Vgl. SZ, 6. April 2005, S. 34. 327

DIE KREATIVE STADT

eine zentrale Rolle. Urbanität war hier klar politisch konnotiert; Ziel war die Stärkung eines Gemeinsinnes, der Identität mit der Gemeinde, eines Verantwortungsgefühl für deren Belange – kurz: der »Citoyen«, der in der suburbanen Anonymität verloren gegangen war, sollte wiedererstehen. Bürgerhäuser, Fußgängerzonen, eine Ortsmitte, ein Zentrum etc. sollten die Orte wieder zu lebendigen Gemeinden werden lassen. Diese Urbanisierungsprozesse stehen in engem Zusammenhang mit Tendenzen der Suburbanisierung. Die Auswanderung der Wissenschaft, der Industrie und der Bevölkerung aus der Stadt ließen Garching und Martinsried expandieren und diese ehemaligen Dörfer zu identitätslosen und zu schnell gewachsenen Orten werden, räumlich organisiert nach den Prämissen der Funktionstrennung,– ohne Gesicht, ohne Eigenschaften und ohne Atmosphäre. Dies machte die gezielten Urbanisierungsbemühungen überhaupt erst notwendig, die im Sinne einer Reanimation eine Antwort auf die Folgen von Suburbanisierung darstellten. Es handelte sich dabei um die Urbanisierung des Suburbanen. Die »Entlastungsstadt« Neuperlach wiederum sollte als »richtige Stadt« am Rande Münchens deren Ausufern und ihren Wucherungen Einhalt gebieten. Als Kopie der alten Stadt sollte in der Peripherie eine neue, urbane Stadt entstehen. Auch hier ging es um die Urbanisierung der Ränder. Historisch lässt sich somit ein Wandel des Verhältnisses von Stadt und Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten, der sich durch die Abkehr von der Stadt seit den 1950er und 1960er Jahren auszeichnet, eine Abkehr, die sich seitdem in einer Suburbanisierung der Wissenschaft bis hin zur Ausbildung neuer Zentren am Rande der Städte manifestiert. Dabei, so die zentrale Argumentation, wird die Stadt als Modell wieder entdeckt; die suburbanen Orte wurden urban zu inszenieren versucht. In der Peripherie der Städte sollen Imitate des Städtischen entstehen, sowohl in den ehemaligen Dörfern und der Entlastungsstadt als auch in den abgesondert liegenden Forschungsarealen. Indem Unternehmen und Wissenschaftsadministrationen von der Komplexität der Stadt als eine Gesellschaftsform, als eine Form menschlichen Zusammenlebens abstrahierten und die »Stadt« in einen anderen Kontext transferierten, nämlich in den Kontext der Wissensproduktion, der Erzeugung technischer Innovationen, geriet die Stadt jedoch zum Topos, gar zu einer Metapher. Die tatsächlich hoch komplexe reale Stadt, von der im Singular zu sprechen, bereits die erste Typisierung bzw. Stilisierung bildet, stellte in ihrem antiken Ursprung als Polis, ein genuin soziales und politisches Gebilde dar. Die »Wissenschaftsstadt«, die »kreative Stadt« ist dagegen keine reale Stadt. Vielmehr ist sie ein abstrahiertes Konzentrat, bestehend aus rhetorischen Figuren. Das meint, dass bestimmte Eigenschaften der Stadt ausgeschlossen, andere dagegen 328

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eingeschlossen werden; die Stadt als komplexes, widersprüchliches Gebilde wird von allen »Verunreinigungen« befreit, überhöht und stilisiert. Unübersehbar ist dabei, dass zumindest wissenschaftlich-technische »kreative Städte«, wie sie sich in der Peripherie der Städte entwickeln, nicht zu der erhofften Renaissance des Städtischen führen werden. Weniger weil sie nicht zu einer Revitalisierung der Innenstädte beitragen und stattdessen vielmehr – wie es im Kontext der postfordistischen Stadt beobachtet wird – der großstädtischen Peripherie zu einem neuen Entwicklungsschub verhelfen, insofern sie an deren Ränder angesiedelt sind, wo sie im Sinne einer polyzentrischen Stadt oder einer dezentralen Zentralisierung neue Orte der Kreativität werden könnten. Vielmehr steht der »Renaissance des Städtischen« entgegen, dass sie Imitate des Städtischen darstellen. Sie sind noch immer monofunktionale Orte für hochqualifizierte Wissenschaftler, teils separiert und unzugänglich wie Standorte großer Unternehmen, teils offen zugänglich – aber auch dann: niemand außer den Wissenschaftlern hat einen Grund dorthin zugehen.

Wandlungsprozesse: »Im Raume lesen wir die Zeit« In der zeithistorischen Forschung wurde, wie in der Einleitung skizziert, bereits vielfach auf die 1960 und 1970er Jahre als Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik hingewiesen. »Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gingen viele Zeitgenossen selbstverständlich davon aus, daß man sich auf der Schwelle einer neuen Gesellschaft befand und die zurückliegende Zeit bilanzieren durfte«, so Schildt.8 Viel größere Unsicherheit bestehe dagegen, so Schildt weiter, hinsichtlich »…der Bestimmung und Beschreibung der Elemente dieses Übergangs zu einer neuen Stufe postindustrieller Modernität oder – je nach Definition – einer ›Postmoderne‹, und der Bewertung der Resultate des Transformationsprozesses der 60er Jahre«.9 Auch hinsichtlich der drei hier untersuchten Topoi – Stadt, Wissenschaft/Technik und Technikkritik – erweisen sich die späten 1960er und die 1970er Jahre als Phase des Wandels. In der Tat stellt sich allerdings die Frage der genauen Kategorisierung und Bestimmung der Wandlungsprozesse. Auffällig bleibt, dass sich diese Wandlungsprozesse in ganz unterschiedlichen Bereichen beobachten und dabei auf jeweils empirisch unterschiedliche Ursachenkonstellationen zurückführen lassen.

8

9

Axel Schildt: »Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik«, in: A. Schildt/D. Siegfried/K. C. Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten, S. 21-53, hier S. 21. Ebd., S. 23f. 329

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In der Geschichte der Stadtplanung findet sich seit den 1960er und den 1970er Jahren ein Wandel hin zur »Urbanisierung«, zur Mischung der Funktionen, der auf die Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Funktionstrennung zurückgeht und die Zerstörung der Städte anprangerte, ihren »Tod« diagnostizierte. In der Geschichte der Wissenschaften findet sich eine scharfe Tendenz zu deren Ökonomisierung, die vor dem Hintergrund der Rezession, der Ölkrise, dem Sinken der staatlichen Forschungsförderung, der Einsicht, dass die wissenschaftliche Grundlagenforschung nicht selbstverständlich zu ökonomischer Prosperität führte, sowie der internationalen Wettbewerbsituation (Stichwort Wahrnehmung einer »technologischen Lücke«) zu erklären ist. Im Hinblick auf die Haltungen der Bevölkerung gegenüber Wissenschaft und Technik lässt sich in den 1970er Jahren ein Wandel konstatieren, der gleichfalls im Zusammenhang der Ölkrise, aber auch des Bericht des Club of Rome und der Einsicht in die zerstörenden Auswirkungen von Wissenschaft und Technik zu sehen ist. Zur Bestimmung dieser scheinbar unverbundenen Wandlungsprozesse scheinen zwei Aspekte wesentlich. Erstens, dass es sich um einen zeitlich nicht scharf abgrenzbaren Prozess handelt, der in den 1960er Jahre einsetzt, der bis in die 1970er Jahre hinein dauert und dessen Tendenzen sich in den 1980er, jedoch vor allem in den 1990er Jahren radikalisierten. Die ökonomische Rückbindung der Wissenschaft beispielsweise, die zunehmend seit Ende der 1960er und 1970er Jahren gefordert wird, dynamisierte sich in Deutschland insbesondere seit den 1990er Jahren, wie vor allem am Beispiel des Biotechnologiestandortes Martinsried deutlich wurde. Zweitens stellt sich die Frage, wie und ob überhaupt diese ganz unterschiedlichen Entwicklungen, wie neue Konzepte in der Stadtplanung, die Ökonomisierung der Wissenschaft und eine zunehmend kritischere Haltung der Bevölkerung gegenüber der Wissenschaft sowie neuer Kommunikationsformen von Wissenschaft und lokaler Bevölkerung, auf einen Nenner gebracht werden können. Gibt es etwas Gemeinsames in diesen Wandlungsprozessen in verschiedenen Feldern? Einigkeit besteht – in allen großen konkurrierenden Theorieentwürfen, sei es das Konzept der Postmoderne, der Zweiten Moderne oder der Wissensgesellschaft – lediglich in der Diagnose des Endes bzw. des Bruchs in der Moderne. In welcher Epoche wir derzeit leben, bleibt dagegen umstritten. Soll hier zwar diese Frage nicht beantwortet werden, zumal dies aus historischer Sicht noch etwas Geduld bedürfte, des zeitlich distanzierten Blicks, der die Merkmale schärfer hervortreten lässt, so lässt sich gleichwohl fragen, inwieweit sich aus der Beschreibung von

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Wandlungsprozessen anhand der Geschichten dreier Orte allgemeine Einsichten formulieren lassen. Ein Bewusstsein für das Ende der Moderne zumindest kann tendenziell auch für die hier untersuchten Orte festgehalten werden. An vielen Stellen ließ sich das Ende bisheriger Gewissheiten beobachten: die Ordnung der Stadt, die durch die Funktionstrennung zu erreichen versucht wurde, wurde zu einer kritisierten und zu überwindenden Ordnung; das Wachstum, die Differenzierungs- und Spezialisierungsprozesse der Wissenschaften brachten eine Sprachlosigkeit der Disziplinen hervor, die die Lösung komplexer, zwischen den Disziplinen liegender Probleme zumindest erschwerte, wenn nicht unmöglich machte. Das nach dem Zweiten Weltkrieg wieder gepflegte Bild der Wissenschaften als fernab der Gesellschaft, nur der Forschung und Wahrheitssuche verhaftet, die gleichsam automatisch zu Wohlstand führe – ein Kerngedanke des »Projekts der Moderne« –, geriet angesichts der ausbleibenden Produkte und des Wohlstands, der sich nicht von selbst einstellen wollte, in die Kritik. Der Glaube an die positive Kraft und Problemlösungskapazität von Wissenschaft und Technik erodierte, die Ambivalenz gegenüber Wissenschaft und Technik wurde noch tiefer. Mehr Wissen, so die Einsicht, führte nicht, wie das Denken der Moderne suggerierte, zu mehr Lösungen. Was angesichts dieser allgemeinen Entwicklungen, die sich in den Geschichten der drei Orte zeigen, augenfällig war, ist, dass die Versuche der Überwindung der Moderne allesamt auf eine Auflösung bestehender Dichotomien zugunsten von engeren Verflechtungen oder Vermischungen zielten – nachdem die vielfältigen Separationen und Dichotomien Wirkungen gezeigt hatten, die vielfach kritisiert wurden. So wurden die Trennungen zwischen Ort und Wissenschaftsareal mittels baulicher Verbindungen und sozialen Vermischungen zu überwinden versucht; die suburban, funktionsgetrennt geratenen Dörfer sollten aufgrund von Funktionsmischungen sowie mit der Mischung sozialer Gruppen wieder zu lebendigen Gemeinden werden. Die Monofunktionalität der Wissenschaftsareale sollte gleichfalls mittels Mischungen der Funktionen erweitert werden. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und Abteilungen, Wissenschaftler und Unternehmen bzw. Wissenschaftler-Unternehmer und Wissenschaft sollten sich treffen, kommunizieren und zeitweise vermischen. Die Einseitigkeiten spezialisierter Disziplinen sollte überwunden und mittels deren Verbindung und Vermischung korrigiert werden. Anwendungsorientierte Institute wurden in die zuvor rein grundlagenorientierten Wissenschaftsorte integriert; Grundlagen- und Anwendungsforschung wurden »verbunden«, wie in der »Garching Instrumente«, oder vermischt, wie in der (hybriden) Person des »Unter331

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nehmer-Wissenschaftlers«. Wissenschaft und Gesellschaft kommunizieren in neuer Weise, die hierarchische Trennung von Experten, die Laien aufklären, wurde hinterfragt; Wissenschaftler und lokale Bevölkerung verhandeln an »runden Tischen«. Mithin könnte man die Wandlungsprozesse als langsamen Abschied von der Denkweise der Dichotomien und Separationen beschreiben. Verflechtungen und Vermischungen der zuvor getrennten Sphären sind an ihre Stelle getreten – ohne dass damit gesagt werden könne, es bestünden keine Separationen und Dichotomien mehr. Denn natürlich ist die Welt komplexer – und gerade die Wissenschaftsorte zeigen, wie trotz aller Diskurse um Vermischung und Verflechtung die Forschungsareale nach wie vor monofunktionale Standorte darstellen. Die Orte machen die Komplexität ihrer Geschichten anschaulich; sie verweisen auf ein Nebeneinander, auf Gleichzeitigkeiten in ganz unterschiedlichen Feldern sowie auf Ungleichzeitigkeiten. Die Orte erheben nicht nur ein Vetorecht gegen die Parzellierung der Geschichtswissenschaft, sondern, mehr noch, gegen ihre Zurichtung durch Großtheorien sowie auch gegen ihre rein disziplinäre Beschreibung. Auch sie liegen als Forschungsobjekt zwischen den Disziplinen und zwischen den Theorien und offenbaren verschiedene Zeitschichten. Sie sind gewissermaßen ein Postulat für eine Geschichtsschreibung von Raum her.

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8.

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352

ANHANG

Schildt, Axel: »Die ersten deutschen Wohnhochhäuser. Hamburg-Grindelberg 1945-1956«, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Massenwohnung, S. 382-408. Schildt, Axel: »Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik«, in: A. Schildt/ D. Siegfried/K. C. Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten, S. 21-53. Schildt, Axel: »Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 567-584. Schildt, Axel: Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedium und ›Zeitgeist‹ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. Schlemmer, Thomas/Woller, Hans (Hg.), Bayern im Bund, Band 3. Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973, München 2004, Schlemmer, Thomas: Gesellschaft und Politik in Bayern 1949-1973, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 311-325. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München, Wien 2003. Schlögel, Karl: »Raum und Geschichte«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie, S. 33-51 Schmeißer, Carsten: Standortanalyse von Unternehmen der Mikroelektronik im Großraum München. Diplomarbeit an der betriebswirtschaftlichen Fakultät der LMU, 28. 2.1985. Schmoch, Ulrich/Licht, Georg/Reinhard, Michael (Hg.): Wissens- und Technologietransfer in Deutschland, Stuttgart 2000. Schramm, Engelbert: »Die Antworten der Gentechnik auf die Umweltproblematik«, in: Petra Kruse (Hg.), Gen-Welten, S. 102-108. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006. Schumacher, E. F.: Small is beautiful. Eocnomics as if People Mattered, London 1973. Schüring, Michael: »Ein Dilemma der Kontinuität. Das Selbstverständnis der MPG und der Umgang mit den Emigranten in den 1950er Jahren«, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften, S. 453-463. Schwippert Hans (Hg.), im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch: Darmstädter Gespräch. Mensch und Technik. Erzeugnis – Form – Gebrauch, Darmstadt 1952.

353

DIE KREATIVE STADT

Scott, Alan J.: New Industrial Spaces: Flexible Production Organization and Regional Development in North America and Western Europe, London 1988. Servan-Schreiber, Jean-Jacques: Die amerikanische Herausforderung, mit einem Vorwort von Franz-Josef Strauß, Hamburg 1968. Shapin, Steven: A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago, London 1994. Shinn, Terry/Whitley, Richard (Hg.), Expository Science. Forms and Functions of Popularisation. Yearbook in the Sociology of the Sciences, Dordrecht 1985. Siebel, Walter: »Die europäische Stadt«, in: ders. (Hg.), Die europäische Stadt. Frankfurt 2004, S. 11-51. Sieferle, Rolf Peter: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984. Siemens AG (Hg.), 150 Jahre Siemens. Das Unternehmen von 1847-1997, München 1997, Sieverts, Thomas: »Die Zwischenstadt‚ als Feld metropolitaner Kultur – eine neue Aufgabe«, in: Ursula Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt am Main 2000, S. 193-224. Sieverts, Thomas: Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig, Wiesbaden 1997. Smilor, Raymond W./Kozmetsky, George/Gibson, David V. (Hg.), Creating the Technopolis: Linking Technology Commercialization and Economic Development, Cambridge, Mass. 1988. Smith, Crosbie / Agar, Jon (Hg.), Making Space for Science, Basingstoke, London 1998. Smithson, Alison (Hg.), The Emergence of Team 10 out of C.I.A.M. Documents, London 1982. Stadt Garching b. München – Informationsbroschüre. Neuauflage 1998. Steger, Ulrich/Koch, Günther R. (Hg,), Industriepolitik für Spitzentechnologien – das Beispiel der Mikroelektronik. Vorträge vor dem Gesprächskreis ›Politik und Wissenschaft‹ des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn 1984. Stehr, Nico: Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften, Frankfurt am Main 1994. Stehr, Nico: Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt 2001. Sternberg, Rolf: »Wie entstehen High-Tech-Regionen? Theoretische Erklärungen und empirische Befunde aus fünf Industriestaaten«, in: Geographische Zeitschrift 83 (1995), S. 48-63. Sternberg, Rolf: Technologiepolitik und High-Tech Regionen - ein internationaler Vergleich, Münster 1998, 2. Auflage. 354

ANHANG

Stichweh, Rudolf: »Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie«, in: ders.: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000, S. 184-206. Stieglitz, Hans: Der Lehrer auf der Heimatscholle, München, Berlin 1909. Stokes, Donald E.: Pasteur’s Quadrant. Basic Science and Technological Innovation, Washington 1997. Stölken-Fitschen, Ilona: »Der verspätete Schock – Hiroshima und der Beginn des Atomzeitalter«, in: Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 139-155. Storper, Michael/Walker, Richard, z.B., dies.: The Capitalist Imperative. Territory, Technology and Industrial Growth, New York, Oxford 1989. Sullivan, J. L.: »Beitrag zum Themenkreis 7 ›Wissenschaft, Staat, Gesellschaft‹ «, in: Chancen und Risiken der Genforschung, Protokolle und Materialien zur Anhörung des Bundesministers für Forschung und Technologie in Bonn, 19. bis 21. Sept. 1979, München, Wien 1980. Szöllösi-Janze, Margit/Trischler, Helmuth (Hg.), Großforschung in Deutschland, Frankfurt, New York 1990. Szöllösi-Janze, Margit/ Trischler, Helmuth (Hg.), Antworten auf die ›amerikanische Herausforderung‹. Forschung in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in den ›langen‹ 1970er Jahren, Frankfurt am Main 1999. Szöllösi-Janze, Margit: »Die institutionelle Umgestaltung der Wissenschaftslandschaft im Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik«, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften, S. 60-74. Szöllösi-Janze, Margit: »Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse«, in: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), S. 189-218. Tatsuno, Sheridan: »Building a Japanese Technostate: MITI’s Technopolis Program«, in: Raymond W. Smilor/George Kozmetsky/David V. Gibson (Hg.), Creating the Technopolis, S. 3-21. Tay, Jinna: »Creative Cities«, in: John Hartley (Hg.), Creative Industries, Oxford 2005, S. 220-232. Technische Universität München, Fakultät für Maschinenwesen (Hg.), Die neue Fakultät. Maschinenwesen an der TU München. München 1997.

355

DIE KREATIVE STADT

Tessin, Wulf: »Die Neubausiedlungen der Sechziger/Siebziger Jahre«, in: Ulf Herlyn/Adelheid von Saldern/Wulf Tessin (Hg.), Neubausiedlungen, S. 75-101. Tessin, Wulf: »Zum Entstehungskontext der Stadtteilsiedlungen in den sechziger Jahren«, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Massenwohnung, S. 494-512. The Commission of the European Communities, Science and the Public Opinion, Brussels 1977. Toellner, Richard (Hg.), Aufklärung und Humanismus, Heidelberg 1980. Toulmin, Allan/Janik, Steven: Wittgenstein’ s Vienna, London 1973. Trendelenburg, Ferdinand: Aus der Geschichte der Forschung im Hause Siemens, Düsseldorf 1975. Trischler, Helmuth: »Das bundesdeutsche Innovationssystem in den ›langen 1970er Jahren‹: Antworten auf die ›amerikanische Herausforderung‹ «, in: Johannes Abele/Gerhard Barkleit/Thomas Hänseroth (Hg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartung im geteilten Deutschland, Köln 2001, S. 47-70. Trischler, Helmuth: »Nationales Innovationssystem und regionale Innovationspolitik. Forschung in Bayern im westdeutschen Vergleich 1945 bis 1980«, in: Thomas Schlemmer/Hans Woller (Hg.), Bayern im Bund, S. 117-194. Trossbach, Werner/Clemens Zimmermann: Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankreich zur bundesdeutschen Gegenwart, Stuttgart 2006. Turner, Paul Venable: Campus. An American Planning Tradition, Cambridge, London 1984. Venturi, Marco: »Leitbilder? Für welche Städte?« in: Heidede Becker/Johann Jessen/Robert Sander (Hg.), Ohne Leitbild?, S. 55-70. Venturi, Robert: »Thoughts on the Architecture of the Scientific Workplace: Community, Change, and Continuity«, in: Peter Galison/Emil Thompson (Hg.), Architecture of Science, S. 385-398. Vierhaus, Rudolf/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft, Stuttgart 1990. Wade, Nicholas: »Biotechnology and its Public«, in: Joseph G. Perpich: Biotechnology in Society. Private Initiatives and Public Oversight, New York u.a. 1986, S. 165-169. Wakeman, Rosemary: »Planning the New Atlantis: Science and the planning of Technopolis, 1955-1985«, in: Osiris 18 (2003), S. 255-270.

356

ANHANG

Waldenfels, Bernd: »Leibliches Wohnen im Raum«, in: Gerhart Schröder/Helga Breuninger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart, Frankfurt am Main 2001, S. 179-201. Weigel, Sigrid: »Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151-162. Weiher, Sigfrid von/Herbert Goetzler: Weg und Wirken der SiemensWerke im Fortschritt der Elektrotechnik 1847-1980, 3. Auflage, Wiesbaden 1981. Weinberg, Alvin: »Science and Trans-Science«, in: Minerva 10 (1972), S. 209-222. Weindling, Paul: »Scientific elites and laboratory organization in Fine de Siècle Paris and Berlin: the Pasteur Institute and Robert Koch’s Institute for Infectious Diseases compared«, in: Andrew Cunningham/Perry Williams (Hg.), The Laboratory Revolution in Medicine, Cambridge 1992, S. 170-88. Weindling, Paul: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, Cambridge 1993. Weingart, Peter/Kroll, Jürgen/Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt am Main 1988. Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001. Weingart, Peter: Neue Formen der Wissensproduktion: Fakt, Fiktion und Mode. TA-Datenbank-Nachrichten 8 (1999), S. 48-57. Weisbrod, Bernd (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002. Weizsäcker, Carl Friedrich von: Bewusstseinswandel, München, Wien 1988. Wenders, Wim: »Auf der Suche nach Bildern – Orte sind meine stärksten Bildgeber«, in: Christa Maar/Hubert Burda (Hg.), Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 283-302. Wengenroth, Ulrich: »Der aufhaltsame Weg von der klassischen zur reflexiven Moderne in der Technik«, in: Thomas Hänseroth (Hg.), Technik und Wissenschaft als produktive Kräfte in der Geschichte (Rolf Sonnemann zum 70. Geburtstag), Dresden 1998, S. 129-140. Wengenroth, Ulrich: »Die Technische Hochschule nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem Weg zu High-Tech and Massenbetrieb«, in: ders. (Hg.), Die Technische Universität München, München 1993. Wilson, Peter: »Euro-Landschaft«, in: Die verstädterte Landschaft. Ein Symposium. Hg. vom Westfälischen Kunstverein Münster, München 1995, S. 13-23. 357

DIE KREATIVE STADT

Wolestenholme, Gordon (Hg.): Man and His Future. A Ciba Foundation Volume, Boston, Toronto 1963. Wright, Susan: »Recombinant DNA Technology and Its Social Transformation, 1972-1982«, in: Osiris 2 (1986), S. 303-360. Zeitträger, Helmut: »Auf dem Wege zum Technologietransfer«, in: Facetten. Festgabe für Dr. jur. Ernst-Joachim Meusel zum 60. Geburtstag/Deutschland-Gesellschaft e.V, Bonn 1992. Zellmer, Rolf: Die Entstehung der deutschen Computerindustrie. Von den Pionierleistungen Konrad Zuses und Gerhard Dirks’ bis zu den ersten Serienprodukten der 50er und 60er Jahre, Köln 1990. Zimmermann, Clemens (Hg.), Dorf und Stadt. Ihre Beziehungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt 2001. Zimmermann, Clemens: »Dorf und Stadt. Geschichte ihrer historischen Beziehungsstruktur vom Mittelalter bis zur Gegenwart«, in: ders. (Hg.), Dorf und Stadt, S. 9-28. Zimmermann, Clemens: »Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Transformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte«, in: Werner Trossbach/Clemens Zimmermann (Hg.), Agrargeschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 1998, S. 137-163. Zimmermann, Clemens: Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt am Main 2000, 2. Auflage.

8.1.1. Archive /Quellen •

• • • • • •

Stadt-Archiv München – Bürgermeister und Rat, Nr. 3926-3931 – Planungsreferat (Abgabe 90 /3, Nr. 1-5; Abgabe 90 /4, Nr. 1-2) – Presseamt – Zeitungsausschnitte (Nr. 333-336, 794 und 3076) – Zeitungsausschnittsammlung (Stadtteile/Neuperlach) Stadt-Archiv (bzw. bis 1990 Gemeinde-Archiv) Garching Gemeinde-Archiv Planegg Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin Siemens-Archiv, München Ungeordnete Akten aus dem Standort Siemens-Neuperlach Ungeordnete Akten aus dem Bauamt der TU München

358

ANHANG

8.1.2. Geschäftsberichte/firmeninterne Zeitschriften der Firma Siemens • • •

Siemens-Geschäftsberichte 1949-2002. Siemens-Mitteilungen. 1949-2002. Siemens-Zeitschrift 1949-2002.

8.1.3. Zeitungen • •

Süddeutsche Zeitung 1950-2003 Müncher Merkur 1950-2003

8.1.4. Graue Literatur • • • •

• •

Unterlagen der Industrie- und Handelskammer München (zitiert im Detail in den Fußnoten) Unterlagen der Bürgerinitiative gegen den Forschungsreaktor in Garching Chronik der Bürgerinitiative; zur Verfügung gestellt von Ingrid Wundrak. Denkschrift zur Verlagerung der Technischen Universität München von München nach Gaching. Beschluss der ständigen Kommission für Hochschulplanung der TUM vom 19.3.1980 auf der Grundlage des Senatsbeschlusses vom 23.1.1980. Hrsg. im Auftrag des Präsidenten von der Bauabteilung 4 – Liegenschaften – der zentralen Verwaltung der TU München, im März 1980. Pressemitteilungen der TU München zum Forschungsreaktor FRM 21II. Stadt Garching b. München – Informationsbroschüre. Neuauflage 1998

8.1.5. Interviews • • • •

Interview mit Ingrid Wundrak (Mitglied der Bürgerinitiative gegen den Atomreaktor in Garching) am 31. Janaur 2002 in Garching. Interview mit dem langjährigen Bürgermeister von Garching, Helmut Karl, 31. Januar 2002 in Garching. Interview mit Richard Neumann, früherer Bürgermeister in Planegg, 15. Juli 2002 in Planegg. Interview mit Dr. Ulrike Höfer, frühere 1. Bürgermeisterin der Gemeinde Planegg, 25. Juni 2002.

359

DIE KREATIVE STADT

• •

Interview mit Anja Niejaki und Herbert Stepp am Montag, 14. Oktober 2002 in Planegg. Gespräch mit Hanns Zobel, Geschäftsführer des Innovations- und Gründerzentrums (IZB) in Martinsried während einer Besichtigung des IZB am 16. September 2002.

Fragebogen •

Fragebogen an 50 Biotechnologie-Unternehmen in Martinsried, Juli 2002.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1

Abbildung 2 Abbildung 3

Abbildung 4 Abbildung 5,6 Abbildung 7 Abbildung 8 Abbildung 9-12 Abbildung 13 Abbildung 14 Abbildung 15 Abbildung 16-42 Abbildung 43-47

360

Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung. Statistik kommunal 2001, Stadt Garching bei München. 40 Jahre Atom-Ei Garching o.O. 1997, S. 39. Gemeinde Garching b. München (Hrsg.), Garching. Vom Heidedorf zum Atomzentrum. Garching 1964, S. 120. Bildarchiv des Deutschen Historischen Musuem, Berlin. Stadt Garching b. München – Informationsbroschüre. Neuauflage 1998, Cover. eigene Photographie. Stadt Garching, Stadtführer. Garching 1990, S. 19. eigene Photographien. Stadt Garching b. München – Informations-broschüre. Neuauflage 1998, S. 3. http://portal.mytum.de/displayRoomMap?roomid=1.01.002@5601&mapid=54, 13.5.2005. Broschüre Max-Plank-Institut für Plasmaphysik, Cover, July 1974. eigene Photographien. Siemens-Archiv München.

Urban Studies Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen Dezember 2007, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-419-5

Martina Heßler Die kreative Stadt Zur Neuerfindung eines Topos November 2007, 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-725-7

Laura Bieger Ästhetik der Immersion Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City November 2007, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-736-3

Lars Frers Einhüllende Materialitäten Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals November 2007, 302 Seiten, kart., zahlr. Abb., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-806-3

Alexander Jungmann Jüdisches Leben in Berlin Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft November 2007, 594 Seiten, kart., 41,80 €, ISBN: 978-3-89942-811-7

Volker Eick, Jens Sambale, Eric Töpfer (Hg.) Kontrollierte Urbanität Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik Oktober 2007, 402 Seiten, kart., 21,00 €, ISBN: 978-3-89942-676-2

Tina Jerman (Hg.) Kunst verbindet Menschen Interkulturelle Konzepte für eine Gesellschaft im Wandel Oktober 2007, 264 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-862-9

Laura J Gerlach Der Schirnerfolg Die »Schirn Kunsthalle Frankfurt« als Modell innovativen Kunstmarketings. Konzepte – Strategien – Wirkungen Oktober 2007, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-769-1

Karin Bock, Stefan Meier, Gunter Süß (Hg.) HipHop meets Academia Globale Spuren eines lokalen Kulturphänomens Oktober 2007, 332 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-761-5

Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung Oktober 2007, 328 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Urban Studies Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Sound and the City Populäre Musik im urbanen Kontext September 2007, 166 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN: 978-3-89942-796-7

Stephan Lanz Berlin aufgemischt: abendländisch, multikulturell, kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt September 2007, 434 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-789-9

Katrin Großmann Am Ende des Wachstumsparadigmas? Zum Wandel von Deutungsmustern in der Stadtentwicklung. Der Fall Chemnitz September 2007, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-718-9

Jürgen Hasse Übersehene Räume Zur Kulturgeschichte und Heterotopologie des Parkhauses

Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz Juni 2007, 194 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-759-2

Reinhold Knopp, Karin Nell (Hg.) Keywork Neue Wege in der Kultur- und Bildungsarbeit mit Älteren Juni 2007, 262 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-678-6

Bastian Lange Die Räume der Kreativszenen Culturepreneurs und ihre Orte in Berlin Mai 2007, 332 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-679-3

Simon Güntner Soziale Stadtpolitik Institutionen, Netzwerke und Diskurse in der Politikgestaltung April 2007, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-622-9

August 2007, 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-775-2

Doris Agotai Architekturen in Zelluloid Der filmische Blick auf den Raum

Ulrike Gerhard Global City Washington, D.C. Eine politische Stadtgeographie

April 2007, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-623-6

Juni 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-497-3

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Urban Studies Sonia Schoon Shanghai XXL Alltag und Identitätsfindung im Spannungsfeld extremer Urbanisierung April 2007, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-645-8

Evelyn Lu Yen Roloff Die SARS-Krise in Hongkong Zur Regierung von Sicherheit in der Global City März 2007, 166 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-612-0

Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.) Die zerstörte Stadt Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity Februar 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-614-4

Björn Bollhöfer Geographien des Fernsehens Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken

Andrej Holm Die Restrukturierung des Raumes Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin: Interessen und Machtverhältnisse 2006, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-521-5

Helmuth Berking, Sybille Frank, Lars Frers, Martina Löw, Lars Meier, Silke Steets, Sergej Stoetzer (eds.) Negotiating Urban Conflicts Interaction, Space and Control 2006, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-463-8

Martin Heller, Lutz Liffers, Ulrike Osten Bremer Weltspiel Stadt und Kultur. Ein Modell 2006, 248 Seiten, gebunden, durchgängig farbig mit zahlr. Abb., 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-485-0

Februar 2007, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-621-2

Jutta Zaremba New York und Tokio in der Medienkunst Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung 2006, 236 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-591-8

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