Business Ethik 3.0: Die neue integrale Ethik aus der Sicht eines CEOs [1. Aufl.] 9783658307851, 9783658307868

Prof. Dr. Erhard Meyer-Galow will mit seiner integralen Business Ethik 3.0 zu einem dringend nötigen Umdenken und Handel

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German Pages XVII, 334 [347] Year 2020

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Business Ethik 3.0: Die neue integrale Ethik aus der Sicht eines CEOs [1. Aufl.]
 9783658307851, 9783658307868

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XVII
Einleitung (Erhard Meyer-Galow)....Pages 1-10
Das Problem (Erhard Meyer-Galow)....Pages 11-162
Die Lösung (Erhard Meyer-Galow)....Pages 163-230
Die Anwendung (Erhard Meyer-Galow)....Pages 231-321
Reflexionen als Epilog von Richard Warrington (Erhard Meyer-Galow)....Pages 323-331
Back Matter ....Pages 333-334

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Erhard Meyer-Galow

Business Ethik 3.0 Die neue integrale Ethik aus der Sicht eines CEOs

Business Ethik 3.0

Erhard Meyer-Galow

Business Ethik 3.0 Die neue integrale Ethik aus der Sicht eines CEOs

Erhard Meyer-Galow Essen, Deutschland

ISBN 978-3-658-30785-1    ISBN 978-3-658-30786-8 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30786-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Bei diesem Buch handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Übersetzung des 2018 bei de Gruyter GmbH, Berlin/Boston erschienenen Buches „Business Ethics 3.0 - The New Integral Ethics from the Perspective of a CEO”. Deutsche Übersetzung: Henning Weyerstraß und Erhard Meyer-Galow. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Kapital kennt keine Moral. Nie hat sich dies deutlicher gezeigt als in der Finanzkrise 2007/2008, welche demonstriert hat, dass das Vertrauen in die unsichtbare Hand des Marktes fehl am Platze ist. Seit 30 Jahren besteht der wirtschaftliche Konsens darin, dass das System des freien Marktes an sich zuverlässig und stabil ist. Die Theorie ist, dass, wenn jeder Einzelne rational handelt und seine eigenen wirtschaftlichen Ziele verfolgt, unter idealen Marktbedingungen Chancen geschaffen werden, die allen zugutekommen. Allerdings verhalten sich die Menschen nicht immer rational, intelligent oder weise. Adam Smiths Theorie übersah die Tatsache, dass Menschen oft von nicht ökonomischen Motiven angetrieben werden, zu irrationalen Verhaltensweisen neigen und einen zerstörerischen Traum annehmen können. Kurz gesagt: Menschen folgen nicht nur rationalen Motiven, sondern auch ihren Tiergeistern, was oft zu Widersprüchen, Zweideutigkeiten und Unsicherheit führt. (Akerlof und Shiller 2009) Nach der Finanzkrise versuchten viele Regierungen, die Finanzmärkte durch zusätzliche Regulierungen zu kontrollieren. Dass dies notwendig war, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt. Neue Regeln wurden als unerlässlich erachtet, um die Märkte zu einem verantwortungsvolleren Verhalten zu zwingen, um das Vertrauen der Menschen in das Wirtschaftssystem zurückzugewinnen; ein Vertrauen, das zuvor erschüttert wurde. Regeln und Vorschriften respektive ihre Anwendung sind in Großunternehmen ebenso unerlässlich wie in der Gesellschaft insgesamt. Mit Compliance-­Richtlinien können Korruption und mangelnde Transparenz minimiert werden. Monopolgesetze verhindern, dass Verbraucher und Wettbewerber durch Preisabsprachen benachteiligt werden, während Umweltschutzgesetze die Zukunft unseres Planeten gewährleisten. Die Unternehmen sind an viele Regeln gebunden, die den Rahmen V

VI

Vorwort

für ihre Arbeit festlegen sollen. In unserer sozialen Marktwirtschaft errichtet dies die Basis für unseren wirtschaftlichen Erfolg. So wichtig Auflagen, Gesetze und Verordnungen auch sind, nicht jede Handlung kann durch neue Regeln kontrolliert werden. Zu viel Bürokratie erstickt Kreativität und Motivation. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Eigenverantwortung fördern und die Bedeutung jener ethischen Grundsätze hervorheben, die das Herzstück des Unternehmergeistes bilden. Während der Vertrauensmangel infolge der Finanzkrise anhält, sind die Selbstregulierungssysteme in den freien Märkten immer noch funktionsfähig. Als Wirtschaftsführer müssen wir anfangen, auf unsere innere Stimme zu hören und uns von unserem ethischen Kompass leiten zu lassen; jenem Gerechtigkeitssinn, der aus dem intuitiven Aspekt unseres Geistes aufsteigt. Professor Dr. Meyer-Galow hat in diesem Buch ein eindrucksvolles Kompendium zusammengestellt, das auf ein umfassendes Spektrum von Quellen zurückgreift, die unsere persönlichen Verhaltensweisen und Entscheidungen beeinflussen. Er zeigt am überzeugendsten, dass es neben Gesetzen und Richtlinien noch andere mächtige Ressourcen gibt: von Religion und Philosophie über Psychoanalyse bis hin zu Spiritualität, welche allesamt integrierte und ethische Praktiken im Geschäftsleben inspirieren. Von Aristoteles bis zum Dalai Lama. Von Papst Franziskus bis zum Psychologen C. G. Jung. Der Autor nimmt uns mit auf eine Reise, die ein reiches Panorama der Quellen unserer ethischen Entscheidungen offenbart. Dieses Buch lässt uns an einer Schatztruhe an Erfahrung teilhaben, aus der Studenten und Manager tägliche Inspiration schöpfen können, um ihre verborgenen „Tiergeister“ akzeptieren, integrieren und schließlich auch zähmen zu können. Dr. Klaus Engel, ehemaliger Vorstandsvorsitzender Evonik Industries AG, Essen, Deutschland

Literatur Akerlof, G., & Shiller, R. (2009). Animal spirits: How human psychology drives the economy, and why it matters for global capitalism. Princeton: Princeton University Press. Business Ethics 3.0 von Erhard Meyer-Galow liefert ein dringend benötigtes Leuchtfeuer für ein Segment unserer Gesellschaft, das immer tiefer und tiefer in die Dunkelheit zu versinken scheint. Der Begriff Business Ethics, einst ein relevantes Thema in der Geschäftswelt, hat sich langsam durch den Nebel einer profitorientierten Welt, die prinzipienlose Mittel rechtfertigt, zu einem Oxymoron entwickelt – insbesondere unter großen internationalen Konzernen. In Business Ethics 3.0 hat Erhard ­Meyer-­Galow einen neuen Ansatz gewählt, der das individuelle persönliche Wachstum anspricht,

Vorwort anstatt die üblichen akademischen Argumente vorzubringen, die in der realen Welt des unerbittlichen Machiavellismus nicht wahrgenommen werden. Nur durch Sensibilisierung und Verbesserung des individuellen Bewusstseins und der Verantwortung kann sich ein echter, langfristiger Wandel entwickeln. Business Ethics 3.0 ist auf dem richtigen Weg mit einer positiven und überzeugenden Botschaft. Möge es dort Erfolg haben, wo die Theoretiker gescheitert sind. (Thomas Campbell, Physiker, Bewusstseinsforscher, Autor von „My Big TOE“)

VII

Danksagungen

Ich möchte die beachtliche historische Arbeit von C. G. Jung und Erich Neumann als auch die laufenden Bemühungen S. H. des Dalai Lama würdigen, die wesentlich dazu beigetragen haben, unser Verständnis zu erweitern und unser Bewusstsein für die Bedeutung moralischer Entscheidungen und ethischer Praktiken in unserem persönlichen und beruflichen Leben zu schärfen. 1948 schrieb C. G. Jung Folgendes an Erich Neumann in einem Brief: „Ich habe Ihr Buch Tiefenpsychologie und eine neue Ethik noch einmal gelesen. Wiederum machte es einen sehr starken Eindruck auf mich und gab mir damit die Gewissheit, dass seine Wirkung wie eine Bombe wirken würde. Ihre Formulierungen sind brillant und von durchschlagender Präzision; sie sind herausfordernd und aggressiv, eine Avantgarde im offenen Gelände, wo leider vorher nichts zu sehen war (…) Ihr Buch wird ein Petra Scandali, aber auch der stärkste Impuls für zukünftige Entwicklungen sein.“ (Neumann 1990, S. 9) „Junge Menschen haben heute viel mehr Möglichkeiten, sich global kennenzulernen  – und sie sollten sie nutzen, um die Welt zu verbessern. Mitgefühl und Liebe wurden in der Erziehung viel zu sehr vernachlässigt. Das können und müssen wir jetzt ändern.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 20) „Die wichtigste Frage, die wir uns stellen können, um die Welt zu verbessern, lautet: Wie können wir einander dienen? Um diesen Wandel herbeizuführen, müssen wir unser Bewusstsein schärfen. Meditation ist wichtiger als ritualisierte Gebete. Kinder sollten Moral und Ethik lernen. Das ist hilfreicher als alle Religion.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 26)

IX

X

Danksagungen

Von ganzem Herzen danke ich Dr. Michaela Haase von der Freien Universität Berlin (Deutschland) sowie Professor Dr. Claus Dierksmeier und Katharina Hoegl vom Institut für Globale Ethik der Universität Tübingen, Deutschland, für die Inspiration, dieses Buch zu schreiben. Auch geht ein herzliches Dankeschön an meine Lehrer: Karlfried Graf Dürckheim für die erste Ermutigung zum Streben nach innerer Weisheit, Willigis Jäger für einen umfangreichen Zen-Unterricht, Walter Schwery für meine Unterweisung in Tiefenpsychologie und Lance Owens, Henning Weyerstrass und Dr. Thomas Arzt für die Inspiration, die sich aus deren Einführung in das Rote Buch von Carl Gustav Jung ergab. Besonders bin ich Thomas Campbell dankbar, dass er mir kraftvolle, persönliche Erfahrungen zur Bewusstseinserweiterung auf Grundlage der Physik leichter zugänglich gemacht hat. Ich danke Dr. Dr. Andreas Bell, Armin Peter Bode, Inge Brose-Müller, Dr. Klaus Engel, Professor Dr. Friedrich Gaede, Dr. Inge Kader, Professor Dr. Peter Knauer SJ und Dr. Barbara Schmidt für ihr wichtiges Mitwirken. Judi Neals’ Gedankenaustausch und individuelle Erfahrungen über Transformation sowie ihre Einladung, ein Kapitel in dem von ihr herausgegeben Handbook of Personal and Organizational Transformation (Neal 2018) zu verfassen, waren außerordentlich hilfreich und wertvoll. Dr. Günter Stahl leistete einen Beitrag von unschätzbarem Wert, indem er sein umfangreiches Wissen über Fachliteratur großzügig zur Verfügung stellte. Auch meinen Söhnen und meiner Tochter gilt mein persönlicher Dank: Patrick, der den Titel schuf, Philipp, der mit seinem Essay The CEO of the Future eine wichtige Perspektive aus der Erfahrung eines jungen Berufstätigen beisteuerte und Kathrin, die ihre Erfahrungen und Weisheiten aus den gesammelten Werken von Karlfried Graf Dürckheim mit mir geteilt und diskutiert hat. Meiner Schwester Helga Simon-Wagenbach sei Dank, dass sie mir den Weg zu Dürckheim gewiesen hat und stets eine liebevolle und weise Gesprächspartnerin war und ist. Ein tiefes Dankeschön und Anerkennung an meine Frau Nora für ihre Unterstützung und für die Geduld, die sie mir schenkte, als ich so oft in das Schreiben dieses Buches vertieft war. Schließlich sei Richard Warrington, dem Lektor des englischen Buches, besonders gedankt, der nicht nur mein Englisch und meinen Vortragsstil verbessert hat, sondern mich auch enorm unterstützt hat, indem er sein Wissen, seine Erfahrung und seine Einblicke in die Feinheiten des Inhalts eingebracht hat. Henning Weyerstrass hat dankenswerterweise die englische Ausgabe ins Deutsche übersetzt und mir damit eine gute Arbeitsgrundlage für dieses Buch g­ eschaffen.

Danksagungen

XI

Literatur Dalai L., & Alt, F. (2015). Der Appell des Dalai Lama an die Welt – Ethik ist wichtiger als Religion. Wals: Red Bull Media House GmbH. Neal, J. (2018). Handbook of personal and organizational transformation. New York: Springer International Publishing. Neumann, E. (1990). Depth psychology and a new ethic. Boston: Shambala Publications Inc.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   1 1.1 Man muss in die Ethik hineinwachsen���������������������������������������������  1 1.2 Die Corona-Krise – eine Initiationswehe – Dilemma oder Chance für Ethik und Moral�������������������������������������������������������������  3 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������  9 2 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 2.1 Die Belastung durch ein anachronistisches Wirtschaftssystem ������� 11 2.1.1 Fälschung von Bilanzen������������������������������������������������������� 12 2.1.2 Manipulation von Bankkonten��������������������������������������������� 13 2.1.3 Inventur��������������������������������������������������������������������������������� 13 2.1.4 Illegale Preisabsprachen������������������������������������������������������� 14 2.1.5 Bestechung��������������������������������������������������������������������������� 15 2.2 Vorhandene Ethikkonzepte sind unzureichend��������������������������������� 16 2.3 Moral kann nicht gesetzlich geregelt werden.���������������������������������� 19 2.4 Individuen als Treiber des gesellschaftlichen Wandels��������������������� 21 2.5 Synchronizität����������������������������������������������������������������������������������� 22 2.5.1 „Ethik ist wichtiger als Religion“����������������������������������������� 22 2.5.2 Laudato Si’: Über die Sorge für das gemeinsame Haus������� 25 2.6 Warum wir dringend eine neue Business Ethik brauchen����������������� 26 2.7 Was war eigentlich Business Ethik 1.0?������������������������������������������� 27 2.8 Was ist Business Ethik 2.0? ������������������������������������������������������������� 28 2.8.1 Ethik und Talentmanagement����������������������������������������������� 31 2.9 Was ist Business Ethik 3.0? ������������������������������������������������������������� 32 2.10 Unser Ego beherrscht den Verstand ������������������������������������������������� 33 XIII

XIV

Inhaltsverzeichnis

2.11 Integrative Business Ethik����������������������������������������������������������������� 34 2.12 Nachhaltiges Handeln ist lukrativ����������������������������������������������������� 37 2.13 Tiefenpsychologie schafft neue Orientierung����������������������������������� 39 2.14 Clarks Analyse und Vorschläge für das 20. Jahrhundert������������������� 40 2.15 Selbstmanagement ��������������������������������������������������������������������������� 44 2.16 Manifest Business Ethik für die globale Welt����������������������������������� 48 2.17 Menschen in Unternehmen: Der wesentliche moralische Faktor����� 50 2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral������������������������������������������� 51 2.18.1 Missbrauch und die Ablehnung der Vernunft����������������������� 52 2.18.2 Der Sprung vom Verstand zu einer Ethik der Vernunft ������� 54 2.18.3 Friedrich Schillers Freiheit der Vernunft ����������������������������� 58 2.18.4 Förderung der Vernunft im Individuum������������������������������� 59 2.19 OECD-Leitsätze sind schwerwiegend fehlgeleitet��������������������������� 64 2.20 Bildung der gesamten Person����������������������������������������������������������� 68 2.21 Unsere Gesellschaft ist ungesund für die Seelen der Kinder ����������� 69 2.22 Es geht nur um Leistung������������������������������������������������������������������� 73 2.23 Leadership entschlüsseln: Was wirklich zählt����������������������������������� 75 2.24 Die kaputte Elite������������������������������������������������������������������������������� 75 2.25 Wirtschaftsethik: Die verlorene Generation������������������������������������� 77 2.26 Die Erweiterung des Status quo reicht für eine ethische Entwicklung nicht aus����������������������������������������������������������������������� 79 2.27 Der Ansatz der Business Schools zur Ethik ������������������������������������� 81 2.28 Die Macht des ethischen Managements������������������������������������������� 84 2.29 Wisdom 2.0: Hoffnung für die jüngere Generation ������������������������� 87 2.30 Größeren Frieden in unser Leben einladen��������������������������������������� 90 2.31 Glück, Glückseligkeit und Mitgefühl����������������������������������������������� 91 2.32 Jenseits des Glücks: Bhutans Philosophie des großen Bruttosozialglücks����������������������������������������������������������������������������� 93 2.33 Der CEO der Zukunft����������������������������������������������������������������������� 98 2.34 Die philosophische und christliche Vision der Ethik �����������������������101 2.34.1 Die goldene Regel der Ethik �����������������������������������������������102 2.34.2 Das Prinzip der Doppelwirkung�������������������������������������������104 2.35 Ein Appell von Papst Franziskus für Ethik und Moral���������������������107 2.36 Als Individuen müssen wir unseren eigenen Weg finden�����������������111 2.37 Mystik und Ethik�������������������������������������������������������������������������������112 2.38 Was eine ganze Person ausmacht�����������������������������������������������������115 2.39 Unternehmensführung und Psychologie�������������������������������������������117

Inhaltsverzeichnis

XV

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität �����������������������������������������������������119 2.40.1 Das Rote Buch von C. G. Jung���������������������������������������������122 2.40.2 Die zeitgenössische Bedeutung des Roten Buches���������������123 2.40.3 Tiefenpsychologie und die neue Ethik���������������������������������124 2.40.4 Die alte Ethik�����������������������������������������������������������������������128 2.40.5 Unterdrückung und Verdrängung der dunklen Seite �����������128 2.40.6 Stufen der ethischen Entwicklung���������������������������������������131 2.40.7 Die neue Ethik ���������������������������������������������������������������������133 2.40.8 Ziele und Werte der neuen Ethik �����������������������������������������135 2.40.9 Tiefenpsychologie und Führung�������������������������������������������137 2.41 Das Milgram-Experiment zum Gehorsam gegenüber der Autorität �������������������������������������������������������������������������������������������139 2.42 Moralische Lizenzierung�������������������������������������������������������������������141 2.43 Ethik aus der Perspektive der Quantenphysik�����������������������������������143 2.44 Das Lebende lebendiger werden lassen �������������������������������������������144 2.45 Die Annahme von Ungewissheit kann unsere ethischen Praktiken verbessern: Das Senken unserer Entropie�������������������������146 2.46 Radius zum Ethikbruch���������������������������������������������������������������������152 2.47 Ausblick 2035 – das Problem wird größer���������������������������������������153 2.48 Sophia Gaia – der neue Mythos für mehr Ethik und Moral�������������155 2.49 Alexander Gerst – seine Botschaft aus dem Weltraum���������������������157 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������158 3 Die Lösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3.1 Die Entwicklung unseres inneren Wachstums ermöglichen�������������163 3.1.1 Wachstum durch Individuation���������������������������������������������165 3.1.2 Unseren Träumen zuhören���������������������������������������������������169 3.1.3 Aktivierung unserer Imagination�����������������������������������������171 3.1.4 Versöhnung mit dem dunklen Bruder�����������������������������������173 3.1.5 Dem Bösen einen Namen geben �����������������������������������������175 3.1.6 Die Anima- und Animus-Balance����������������������������������������176 3.2 Wachstum durch spirituelle Weisheit �����������������������������������������������177 3.2.1 Meditation als tägliche Praxis ���������������������������������������������181 3.2.2 Meditation für Mitgefühl verändert Dein Gehirn�����������������183 3.2.3 Möglichkeiten zur Steigerung des Bewusstseins durch Achtsamkeit���������������������������������������������������������������184 3.3 Wachstum durch Quantenphysik�������������������������������������������������������200 3.3.1 Üben des liebenden Dialogs�������������������������������������������������205 3.3.2 Business Ethik durch Quantenphysik�����������������������������������206

XVI

Inhaltsverzeichnis

3.4 Integrales Bewusstsein ���������������������������������������������������������������������210 3.5 Integrale Spiritualität�������������������������������������������������������������������������212 3.6 Transpersonale Psychotherapie���������������������������������������������������������213 3.7 Psychologie und Spiritualität �����������������������������������������������������������213 3.8 Integrale Business Ethik 3.0�������������������������������������������������������������214 3.9 Integrative Business Ethik�����������������������������������������������������������������215 3.10 Zerstreuungen�����������������������������������������������������������������������������������215 3.11 Ablenkungen�������������������������������������������������������������������������������������216 3.12 Entspannung von der Achtsamkeit���������������������������������������������������218 3.13 Blockaden der Individuation�������������������������������������������������������������220 3.13.1 Der Sündenfall���������������������������������������������������������������������221 3.13.2 Der Verlust���������������������������������������������������������������������������222 3.13.3 Die Rückkehr�����������������������������������������������������������������������223 3.13.4 Ablenkungen sind schädlich: C. G. Jungs Visionen�������������224 3.13.5 Die Tragödie der modernen Ablenkungen���������������������������226 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������229 4 Die Anwendung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.1 Anwendung und Aufrechterhaltung der Business 3.0 in der Wirtschaft�����������������������������������������������������������������������������������������231 4.1.1 Nachhaltige Eigenverantwortung�����������������������������������������233 4.1.2 Sich weiterentwickeln ���������������������������������������������������������234 4.1.3 Andere bei ihrer Entwicklung unterstützen�������������������������235 4.1.4 Was können wir von Sozialunternehmern lernen?���������������238 4.1.5 Neue nachhaltige Beziehungen zu unseren Vorgesetzten�����241 4.1.6 Neue nachhaltige Beziehungen zu unseren Kollegen����������241 4.1.7 Neue nachhaltige Beziehungen zu externen Partnern ���������242 4.2 Nachhaltige Unternehmensverantwortung���������������������������������������242 4.3 Messung des Return on Character ���������������������������������������������������247 4.4 Macht und Machtmissbrauch �����������������������������������������������������������249 4.5 Disruptionen und Ethik���������������������������������������������������������������������256 4.6 Organisation und Struktur�����������������������������������������������������������������258 4.7 Weise Unternehmensführer���������������������������������������������������������������261 4.8 Integration der dunklen Seite in Organisationen�������������������������������267 4.9 Strategien: Fusionen und Übernahmen, Veräußerungen und Investitionen �������������������������������������������������������������������������������������269 4.10 Besteuerung internationaler Gruppen�����������������������������������������������272 4.11 Nachhaltige Lieferkettenverantwortung�������������������������������������������272 4.12 Nachhaltige Kundenbindung�������������������������������������������������������������274

Inhaltsverzeichnis

XVII

4.13 Nachhaltige Wettbewerbsbeziehungen���������������������������������������������275 4.14 Ethischer Konsum�����������������������������������������������������������������������������275 4.14.1 Nachhaltiges ethisches Verbraucherverhalten ���������������������277 4.15 Nachhaltige Umweltverantwortung �������������������������������������������������279 4.15.1 Der Volkswagen-Skandal�����������������������������������������������������282 4.15.2 Chemische Industrie�������������������������������������������������������������288 4.16 Intuition, Kreativität, Innovation: Geschenke aus dem Inneren�������303 4.17 Resilienz: eine wesentliche Qualität�������������������������������������������������312 4.18 Zusammenfassung aktueller Studien über die Wirkung der Achtsamkeitsmeditation�������������������������������������������������������������������314 4.18.1 Gehirn- und Immunfunktion �����������������������������������������������314 4.18.2 Angst und Depressionen�������������������������������������������������������315 4.18.3 Stressabbau und -bewältigung���������������������������������������������315 4.18.4 Koronare Herzerkrankungen �����������������������������������������������316 4.18.5 Schmerz und Lebensqualität �����������������������������������������������316 4.18.6 Depression ���������������������������������������������������������������������������317 4.18.7 Achtsamkeit und medizinische und psychologische Gesundheit���������������������������������������������������������������������������317 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������318 5 Reflexionen als Epilog von Richard Warrington. . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Literatur �����������������������������������������������������������������������������������������������������331 Über den Autor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

1

Einleitung

1.1

Man muss in die Ethik hineinwachsen

Keiner von uns ist unfehlbar in seinen Gedanken und Taten, ethisch und moralisch nicht perfekt, weder in seinem persönlichen noch in seinem beruflichen Leben. Wir alle sind schuldig an moralischen Versäumnissen, ob vorsätzlich oder unabsichtlich. Manchmal haben unsere Gedanken, Worte oder Handlungen dazu beigetragen, dass andere Menschen die Erfahrungen von Enttäuschung und Wut bei sich selbst annehmen konnten. Im Nachhinein bedauern wir diese Anlässe oft zutiefst und sind uns bewusst, dass mehr Mitgefühl uns allen in Bezug auf gemeinsame Ziele besser geholfen hätte. Wir haben das Glück, dass ein innerer Reifungsprozess, eine Individuation, im Allgemeinen mit einer Zunahme an Achtsamkeit einhergeht. Eine Eigenschaft, die uns Einblick in unser Selbst gewährt und uns dabei hilft, unangemessene Gedanken, Worte oder Handlungen rechtzeitig zu vereiteln, jene Verhaltensweisen, die unsere verführerische dunkle Seite als Verbündeter unseres Egos gerade unser Ego ankurbelt und unsere Agenda voranbringen wird. Achtsamkeit ermutigt uns, Handlungen zu wählen, die mit unserem eigentlichen Selbst in Einklang stehen, jene Intuition in uns allen ist und die zu einem emphatischeren Verhalten anregt. Gedanken, Worte und Handlungen, die sich aus unserem eigentlichen Selbst ergeben, stellen eine Art Antithese zu denjenigen Aktivitäten dar, die von unserem Ego antrainiert werden. Dies geschieht durch eine Anhäufung unserer oberflächlich angenehmen Erfahrungen, die wir gesammelt haben. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Meyer-Galow, Business Ethik 3.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30786-8_1

1

2

1 Einleitung

Dieses Buch erhebt keinen Anspruch darauf, eine umfassende Studie über die Vorteile von moralischen Entscheidungen oder ethischen Praktiken zu sein. Mein Wunsch ist lediglich, die persönliche, die psychologische und die spirituelle Entwicklung zu fördern. Auch besteht die Zuversicht, dass ein neuer Ansatz auch zu einer neuen Wahrnehmung von ethischen Geschäftspraktiken führen wird, was sowohl Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern zugutekommen würde. Eine neue Ethik, wie sie von Erich Neumann (Neumann 1973, 1990) vertreten wird, ist in der Literatur gut etabliert und verankert, aber bei Weitem noch nicht so gut verstanden, verbreitet und in unser persönliches Bewusstsein eingedrungen. Trotz der Fülle an Büchern, Artikeln, Seminaren und Foren über Ethik, mit neuen Schlüsselwörtern und allgegenwärtigen ethischen Richtlinien, die als Corporate Social Responsibility, Shared-Value-Praktiken und Governance-Ethik in Mode kommen, hören wir weiterhin fast täglich Berichte über unethische Praktiken, von denen viele die Grenzen der Unempfindlichkeit zu sprengen scheinen. Handlungen, die fast gänzlich frei von Mitgefühl und gesundem Menschenverstand sind. Die Rücksichtslosigkeit im Geschäftsleben hat in den letzten zwanzig Jahren dramatisch zuge­ nommen. Globalisierung und Digitalisierung lassen zudem Schäden von weitaus größerer Dimension entstehen und das noch schneller als je zuvor. Wir müssen zu dem Schluss kommen, dass die derzeitige Politik, die darauf abzielt, diesen Ansturm auf destruktive, egozentrierte Praktiken umzukehren, unzureichend ist. Etliche Versuche, Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, scheitern allesamt, weil die An­ erkennung der Eigenverantwortung fehlt, deren Begründung in mangelnder Aufmerksamkeit für die spirituelle Reife liegt. Es ist viel einfacher, sich überall vorhandenes, egozentriertes Wissen anzueignen, als sich dem intuitiven Wissen und Handeln anzunehmen, welches nur schwer zugänglich ist. Infolgedessen nimmt die gesellschaftliche Glaubwürdigkeit im Bereich der ethischen Geschäftspraktiken ab, trotz gut gemeinter Bemühungen. Ein akademisches Verständnis ethischer Geschäftspraktiken wird sich nicht auszahlen, wenn man es nicht tatsächlich anwendet. Man muss egozentriertes Wissen mit intuitivem, tiefenpsychologischem und spirituell zentriertem Wissen transzendieren. Unsere Erfahrung zeigt, dass das Lehren und Lernen von Ethik und Moral in der Wirtschaft nur sehr begrenzt eine Veränderung des Individuums ergibt. cc

Man muss in die Ethik hineinwachsen

Dann, und nur dann, werden sich ethische Praktiken in unserem persönlichen und beruflichen Leben manifestieren und ihre katapultartige Wirkung entfalten. Jeder Schritt baut auf dem vorhergehenden auf. Jeder Erfolg multipliziert den da­ rauffolgenden, was zu einem Grad an Zufriedenheit führt. Genau dies macht es

1.2  Die Corona-Krise – eine Initiationswehe – Dilemma oder Chance für …

3

schwierig für uns zu erkennen, dass wir etwas so offensichtlich Nützliches seit so langer Zeit schon vor uns herschieben. Nach welchen Kriterien können wir unsere Entscheidungen über verantwortungsbewusste wirtschaftliche Bemühungen treffen? Viele Kriterien aus der Vergangenheit sind in der Gegenwart moralisch nicht mehr akzeptabel, wirtschaftlich oder überhaupt vertretbar. Dieser Paradigmenwechsel, der durch die Globalisierung und das Internet in Bezug auf verfügbare Informationen begonnen und stetig vorangetrieben wird, verspricht sogar weitere Quantensprünge in der Evolution des verantwortungsvollen und ökonomischen Wirtschaftens. Diese Verschiebung erfordert nicht nur das Tüfteln an der bestehenden Maschine, sondern auch ein völliges Umdenken. Eine Neubewertung und Neudefinition dessen, was für uns von grundlegender Bedeutung ist. Die Berücksichtigung des menschlichen Faktors führt uns zu moralisch vertretbaren Praktiken, die das individuelle Wachstum und die Beiträge des Einzelnen wertschätzen und fördern. Dies wiederum ermutigt uns dazu, auf Ideen und Anregungen derer zurückzugreifen, die früher oft nur als realitätsferne Wirtschaftsphilosophen angesehen wurden und viel zu lange ignoriert wurden. Wie werden wir uns entscheiden, weiterzumachen? Profit um jeden Preis oder ethische, effiziente und wirtschaftliche Geschäftspraktiken, die zu einem noch höheren Profit führen? Wir müssen einen Weg finden, um unsere Glaubwürdigkeit und unser Vertrauen als Manager und Unternehmer zurückzugewinnen. Vielleicht kann uns der neue ethische Ansatz von C. G. Jung und Erich Neumann (Neumann 1973, 1990) helfen, die Ursachen unmoralischer Entscheidungen und unethischen Verhaltens auf individueller Basis besser zu verstehen und dementsprechend praktische Ansätze vorzuschlagen, die uns zu vorteilhaften Veränderungen führen. Dieses Buch soll den Wunsch nach Veränderung sowohl in unserer Konzeption als auch in unserer Anwendung von ethischen Geschäftspraktiken wecken.

1.2

 ie Corona-Krise – eine Initiationswehe – Dilemma D oder Chance für Ethik und Moral

Wir befinden uns jetzt, im März 2020, in der Corona-Krise, die alle Bereiche unseres Lebens stark beeinflusst. Zur Vermeidung der schnellen Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 haben die Regierungen wie selten zuvor einschneidende Maßnahmen beschlossen, die unser berufliches und privates Leben sehr einschränken. Unsere individuelle Freiheit ist bedroht. Wir sind auf dem Weg zu einer Weltwirtschaftskrise. Produktionen werden stillgelegt, Lieferketten unterbrochen und die finanzielle Lage der Unternehmen verschlechtert sich in rasantem Tempo. Der

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1 Einleitung

Absturz der Kurse an den Börsen ist nur ein erstes Symptom. Zentralbanken weltweit, FED und EZB allen voran, haben im Schulterschluss mit den Regierungen massive Interventionen beschlossen, um Liquiditätsengpässe und den fortlaufenden Kollaps der Asset-Preise zu vermeiden. Der Markt wird mit Geld in bisher nicht gekannter Größenordnung geflutet. Statt des Bail-outs einzelner Banken und Versicherungen, wie zuletzt 2008/09, werden nun ganze Industrien und Staaten gerettet. Es ist mit einer massiven Verstaatlichung der Privatwirtschaft zu rechnen. Keine guten Nachrichten. Wird das die Rettung bringen? Die Erfahrungen aus vergangenen Aktionen dieser Art sind nicht positiv. Ganz im Gegenteil hat die inflationäre Geldpolitik der letzten 10 Jahre in Verbindung mit der Verweigerung, eine Bereinigung von Kapitalfehlallokationen zuzulassen, erst zu dieser immensen Fragilität der Märkte geführt. Das zuletzt durch Zentralbanken mikrogemanagte Kartenhaus stürzt nun ein. Eines ist klar. Nach der Corona-Krise wird die Welt anders aussehen, besonders auch die Wirtschaft. Es wird schon von einer De-­Globalisierung gesprochen. Die Zunahme protektionistischer Maßnahmen haben wir schon vor der Krise erlebt. Dieser Trend wird sich jetzt noch beschleunigen. Die Rechnung werden die Verbraucher und die Steuerzahler zahlen. Die Unternehmen geraten unter einen enormen Ergebnis-, wenn nicht sogar Existenzdruck. Sie kämpfen um das Überleben. In diesem Kampf ist noch weniger Platz für eine Verbesserung der Ethik und Moral. Egoismus wird sich breitmachen. Rücksichtslosigkeit wird zunehmen. Es gab einen Aufschrei in Deutschland, als berichtet wurde, dass Trump versucht hatte, das Unternehmen CureVac in Tübingen, das gute Fortschritte bei der Entwicklung eines Impfstoffes auf der Basis von mRNA gegen Covid-19 macht, zu kaufen. Die Eigner haben sich aber gegen einen Verkauf ausgesprochen. Ob es überhaupt eine Offerte gab, bleibt offen. Auf der anderen Seite treten die zuvor dominanten Scheinprobleme angesichts unmittelbarer Gefahr in den Hintergrund. Die Krise lässt es nicht mehr zu, wertvolle Ressourcen auf Nichtigkeiten zu allokieren. Der Appell zu einer ganzheitlichen, nachhaltigen Business Ethik 3.0 mag sich gerade jetzt befremdlich anhören. Umso wichtiger ist der Impuls, der von diesem Buch ausgehen soll. Einerseits werden der Egoismus und die Unmoral zunehmen, andererseits kommen Veränderungen nur dann in Gang, wenn der psychische Druck steigt (C. G. Jung). Das ist bei dem Individuum so und auch beim Kollektiv. Die wichtigste Frage ist, wie das Individuum auf die Corona-Krise reagiert. Die Erfahrung lehrt, dass es um den Erhalt des Wohlstandes oder der Existenz kämpfen wird, auch wenn das zulasten anderer geht. Es wird von Panikkäufen berichtet. Warum gerade das Toilettenpapier ausverkauft war, bleibt mir ein Rätsel. Dass es kaum noch Desinfektionsmittel gibt, ist schon eher einleuchtend. Es wird immer wieder berichtet, dass Diebe in Krankenhäuser einbrechen und Desinfektionsmittel

1.2  Die Corona-Krise – eine Initiationswehe – Dilemma oder Chance für …

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und Atemschutzmasken stehlen. Das Individuum trägt in erster Linie Atemschutzmasken, weil es sich selbst schützen will, nicht weil es andere schützen will. Das mag vielleicht der zweite Grund sein. Aber wenn die Lieferketten unterbrochen werden, können sich die Panikkäufe auch auf andere Waren ausdehnen. In USA steigt die Nachfrage nach Waffen und Munition. Das erinnert mich an The Winner Takes it All. Es ist dem Kunden egal, dass der nächste Kunde nichts mehr einkaufen kann. Der Dortmunder Soziologe Johannes Weyer (Weyer 2020) warnt davor, den bei vielen Bürgern ausgeprägten Hang zu Egoismus und Uneinsichtigkeit in der Krise zu unterschätzen. Studien würden zeigen, dass rund 40 % der Menschen unbeirrt ihren Vorteil suchten, egal wie groß eine Krise sei. Weyer spricht vom soziologischen Typ der rationalen Egoisten, gegen den nur Verbote etwas ausrichten würden. Auf der anderen Seite erlebt man aber auch, dass die Menschen zusammenrücken und sich gegenseitig helfen. Jüngere kaufen für Ältere ein. Freunde passen auf die Kinder auf, weil die Kindergärten geschlossen sind und die Eltern arbeiten müssen. Spendenaktionen laufen an. Das sind leichte Hoffnungsschimmer. Mitmenschlichkeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man Kontakt zu seinen Mitmenschen sucht. Der soll aber nun gerade unterbrochen werden. Das ist eine völlig neue Erfahrung. Wir werden beobachten können, ob dadurch die Menschlichkeit reduziert wird oder gerade wegen dieser Ausnahmesituation wächst. So wünsche ich mir, dass dieses Buch nicht befremdlich wirkt, sondern vielleicht sogar zum richtigen Zeitpunkt in den Markt kommt, also ein Wake-up-Call für unsere Gesellschaft und für die Wirtschaft wird. Das wird es dann, wenn das Individuum versteht und lernt, dass inneres Wachstum, aus welchem sich Ethik und Moral entwickeln, ihm persönlich nützt. Seine Gesundheit, Widerstandskraft, Kreativität, Gelassenheit und Liebe zu sich selbst und zu anderen werden gestärkt. cc

Ist nicht diese Stärkung gerade in der Corona-Krise so notwendig?

Auch wenn dieser Eigennutz der Einstieg in ein inneres Wachstum der Bewusstseinserweiterung sein kann, geht es doch immer um den Beitrag des Individuums zum Gedeihen unserer Gesellschaft. In Abwandlung der Forderung von Hans Küng in seinem Manifest Globales Weltethos (Küng et  al. 2010) formuliere ich meinen Appell: cc

Mit einem neuen Weltethos aus der Corona-Krise

Diese neue integrale Ethik und Moral entwickelt sich aus dem inneren Wachstum, das auch Voraussetzung ist für Intuition und Innovation, damit unsere Wirt-

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1 Einleitung

schaft, von der wir alle leben, nach der Corona-Krise wieder Fuß fassen und sich erholen kann. Bei dieser unerwarteten und dramatischen Krise der Welt lohnt es sich, passend zu einer der Leitlinien dieses Buchs, die Ursachen und den Ausweg aus der Sicht von C. G. Jungs Tiefenpsychologie zu betrachten. Für Jung ist die jetzige Plage ein Archetyp, also eine Urform des kollektiven Unbewussten, die nach Veränderung drängt. Die Corona-Krise ist eine Attacke auf unsere bisherige Lebensweise, eine Attacke auf unser individuelles Ego und auf das Ego des Kollektivs. Wir müssen endlich begreifen, dass es noch etwas anderes gibt als unser Ego. Es ist unser Selbst, das göttliche Prinzip in uns, unser Wesen, das in uns und durch uns manifest werden will in der Welt, aber ständig blockiert wird. Deshalb wird das materielle Wertesystem gerade korrigiert. Die Natur reagiert auf unseren endlosen Egoismus, auf den Mangel an Ethik, Moral und Nachhaltigkeit. Die maßlose Profitorientierung wird in Frage gestellt. Wir reagieren mit Angst und Furcht, müssen Not und Leid ertragen lernen. Wenn wir uns von dieser einseitig materiellen Orientierung befreien, verschwinden Angst und Furcht. Der Ausweg für unsere Gesellschaft ist eine Reorganisation zu höheren Werten und auch vom Ich zum Wir. Die Krise zwingt uns zur Konfrontation mit unserem Unbewussten zur Toleranz von Ungewissheit, zu mehr Mitgefühl für alle Wesen und zur Akzeptanz der Naturkräfte. Kultur und Natur sind zu Gegensätzen geworden, die es wieder zu vereinen gilt. Es geht darum, in der Corona-Krise wieder Boden unter den Füßen zu bekommen und Halt zu finden. Ich gebe meinem Lehrer Tom Campbell Recht, dass diese Corona-Krise auch eine große Chance für unser inneres Wachstum sein wird und uns Wege aufzeigt, wie wir aus unserer Angst herauswachsen können. Die Mehrheit wird jetzt und auch danach angstgetrieben an ihrer Angst festhalten, weil ihr Ego die Kontrolle behalten will. Aber selbst, wenn nur 2 % der Menschheit sich zu mehr Mitgefühl und Fürsorge entwickeln, dann sind das 160 Millionen, die Einfluss nehmen werden. Aber vielleicht sind es auch 10  %? Das wäre großartig. Leider senden die Medien 80 bis 90  % Angst und nicht Information. Damit ist mehr Geschäft zu machen, weil die Angst unsere Emotionen anspricht. (Campbell und Lawrence 2020). Leider fördert der Trend der Medien die Angst, anstatt sie abzubauen. Es ist auch jetzt eine Chance, uns vom Einfluss der Medien und Politik unabhängig zu machen. Facing the Fear of Coronavirus: Finding a Grounding Attitude ist der Titel eines Blogs zu mehr aktueller Information. Drei Jung’sche Tiefenpsychologen tauschen ihre Erfahrungen aus, diskutieren Ursachen der Corona-Krise und zeigen Auswege auf. (Marciano et al. 2020)

1.2  Die Corona-Krise – eine Initiationswehe – Dilemma oder Chance für …

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Was sagt nun C. G. Jung dazu? Er sieht unsere Zivilisation im Übergang, wie er Band 10 seiner Gesammelten Werke nennt. In dem K ­ apitel Die Bedeutung der Psychologie für die Gegenwart weist er uns den Weg: cc

„Unsere Zeit – das sind wir!“ (Jung 2011, S. 173) „Wenn wir die Menschheitsgeschichte betrachten, so sehen wir nur die alleräußerste Oberfläche der Ereignisse, und diese verzerrt im trüben Spiegel der Tradition. Was aber eigentlich geschehen ist, das entzieht sich dem forschenden Blick des Historikers, denn das eigentliche geschichtliche Geschehen ist tief verborgen, von allen gelebt und von niemand beachtet. Es ist privatestes, subjektivstes seelisches Leben und Erleben. Kriege, Dynastien, soziale Umwälzungen, Eroberungen, Religionen (Anmerkung: auch Seuchen und Plagen) sind die alleroberflächlichsten Symptome einer geheimen seelischen Grundhaltung des Einzelnen, ihm selber unbewusst und darum von keinem Geschichtsschreiber überliefert; Religionsstifter sind vielleicht noch am aufschlussreichsten. Die großen Ereignisse der Weltgeschichte sind, im Grunde genommen, von tiefster Belanglosigkeit. Wesentlich ist in letzter Linie nur das subjektive Leben des Einzelnen. Dieses allein macht Geschichte, in ihm allein finden alle großen Wandlungen statt, und alle Zukunft und alle Weltgeschichte stammen als ungeheure Summation doch zuletzt aus diesen verborgenen Quellen der Einzelnen. Wir sind in unserem privatesten und subjektivsten Leben nicht nur die Erleider, sondern auch die Macher einer Zeit. Unsere Zeit – das sind wir!“ (Jung 2011, S. 172–173)

Als Ergänzung möge Murray Stein, ein bekannter und geachteter Kenner der Jung’schen Tiefenpsychologie und früherer Präsident der ISAP (International School of Analytical Psychology, Zürich), zu Wort kommen, der mit Robert S. Henderson im März 2020 über die Corona-Krise spricht. Die Überschrift ist: cc

„A World Shadow: COVID-19“ (Stein und Henderson 2020) Folgend sind einige Kernaussagen aus dem Interview extrahiert:

cc

„This is our Time.“ (Stein und Henderson 2020) „The question is: will we be able to use this experience of individuation? Or will it just pass like a bad dream of the night that when we awake, we are happy to be free from? (…). There is anxiety here in this dark place, sometimes bordering on panic, and there is often a sense of impending catastrophe if the way back is not found, and quickly. This is our time. (…) The crisis will pass sooner or later 18 months is the outside guess right now until a vaccine can be developed and distributed. Then the pace of activity will quickly accelerate and return to high speed. Put this period of time into perspective and use it creatively. (…) What can we extract from this slowdown and enforced period of isolation that will help us to find a wiser pace and ba-

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1 Einleitung lance in life for when the doors are opened, and we can walk and run freely again? I suggest we consider this time a precious moment in our lives for looking inward, for introversion, and for practicing centroversion, the mindful circumambulation of the greater self. (…). Its most essential features are invisibility, universality, and numinosity. Because Coronavirus moves along us invisibly, is found on all continents and strikes us as awesome and powerful, it represents the Umbra Mundi. We don’t know who has it or if we have it ourselves. It is everywhere, in all parts of the world, and it instills fear in the collective psyche, which we all feel. (…). What are we learning from it? This remains to be seen. I have no doubt that we have been handed an opportunity for a vast transformation of consciousness on a general collective level. Many people are talking about this possibility. On a deeper level, there may be a transformation afoot in the collective unconscious. (…) Maybe the first lesson to learn is patience.“ (Stein und Henderson 2020)

cc

„A new Humanity is Born!“ (Stein und Henderson 2020) „It’s brain cells have not yet been fully formed and interconnected. It’s just barely creeping into sight. (…) What we try to create is an equivalence, or balance, between our relation to the inner world on the one hand and to the outer world on the other. This achievement is highly unusual in our basically extroverted cultures today. People are much more trained and habituated to attending to the surrounding world – using all the media available to us especially in our presently isolated condition – and tend to fear and avoid taking a look inward at who and what they are. In fact, this is one of the causes of the panic that is running through the world today, especially in the Western societies, The inner world is the unknown and unexplored.“ (Stein und Henderson 2020)

Man sollte in dieser von manchen erwarteten und von vielen unerwarteten Krisenzeit das Buch An der Zeitmauer von Ernst Jünger in die Hand nehmen, da es uns aus wichtigen Perspektiven Orientierung geben kann. „Man kann Ernst Jüngers umfangreiches Essay An der Zeitmauer trotz der vergangenen Jahrzehnte seit Erscheinen im Jahr 1959 als Buch der Stunde bezeichnen. (…) Danach hat der Mensch die Erde durch Eingriffe in die Natur in ein neues Zeitalter mit hohem Risiko für sein Überleben geführt.“ (Jünger 2013, S.  255, Adnoten zum Buch)

Wir befinden uns ohne Zweifel – durch die Corona-Krise noch deutlicher gemacht – jetzt in einer Zeitenwende. Jünger beschreibt in seinem beachtenswerten Essay die Ursachen, Aspekte und Symptome: „Es herrscht aber gewiss nicht, oder nicht nur, die Furcht einer Endzeit, sondern zugleich die Unruhe großer Aufbrüche, und beides zusammen gibt Licht und Schatten

Literatur

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einer Zeitenwende. Durch diesen Aspekt wird der Untergang nicht seiner Schrecken, wohl aber seiner Aussichtslosigkeit beraubt. Er behält seinen Ort. Wo Sinn geschaut wird, können Opfer gebracht werden. Die herrschende Furcht ist uns besser aus längst vergangenen Zeiten und von sehr entfernten Völkern vertraut: als Weltangst gnostischer Einbrüche. Doch wenn wir die Augen ein wenig schärfen, bemerken wir sie mitten unter uns. Sie ist Erwartungs­ zwang,

cc

Initiationswehe. Zu ihr gehört das Nebeneinander von überschwänglicher Hoffnung und der Gewissheit, dass alles verloren ist, wie auch der jähe Wechsel von Licht und Schatten, in dem vexierende, beängstigende Objekte auftreten, zuweilen in ungeheurer Zahl. Man weiß nicht, ob sie gut oder böse, erfunden oder wirklich sind.“ (Jünger 2013, S. 146)

Wir erleben jetzt in der Corona-Krise, dass aus den Wehen Gutes, Böses oder gar nichts geboren wird. Noch nie zuvor ist nun die ganze Welt in bisher nicht bekanntem Ausmaß auf Heilung fokussiert. Damit wachsen auch Ethik und Moral. Das gibt Hoffnung für die Zeit nach der Krise. Aber das Individuum ist nur in dem Ausmaß in der Lage Gutes zu gebären, wie die innere Verfassung gewachsen ist. Initiation ist der Weg nach innen und nicht nach außen. Ethik und Moral wachsen von innen. Dürckheim hat diesen Weg nach innen mit seiner Initiatischen Therapie in Rütte/Todtmoos gelehrt und praktiziert. Das Zentrum für Initiatische Therapie in Rütte setzt seine Arbeit fort. Er hat mir  – wegen meiner Außenorientierung als Manager – bei meinen Besuchen immer wieder ins Gewissen geredet: cc

„Die Türe geht nach innen auf.“

Literatur Campbell, T., & Lawrence, G. (2020). Big Picture Viewpoint Covid 19. https://www.guylawrence.com.au/big-picture-viewpoint-cov19-tom-campbell-physicist/n. Zugegriffen am 01.05.2020. Jung, C.  G. (2011). Gesammelte Werke Band 10, Zivilisation im Übergang. Ostfildern: Patmos. Jünger, E. (2013). An der Zeitmauer. Stuttgart: Klett-Cotta. Küng, H., Leisinger, K., & Wieland, J. (2010). Manifest Globales Wirtschaftsethos. München: Deutscher Taschenbuchverlag DTV. Marciano, L., Lee, J., & Stewart, D. (2020). Facing the fear of coronavirus: Finding a grounding attitude. http://www.thisjungianlife.com/episode-103-facing-the-fear-of-coronavirus-plague-pestilence-pandemic/. Zugegriffen am 10.04.2020.

10

1 Einleitung

Neumann, E. (1973). Tiefenpsychologie und neue Ethik. München: Kindler. Neumann, E. (1990). Depth psychology and a new ethic. Boston: Shambala Publications Inc. Stein, M., & Henderson, Robert S. A world shadow: COVID 19. https://chironpublications. com/a-world-shadow-covid-19/. Zugegriffen am 10.04.2020. Weyer, J. (2020). WAZ, 21.03.2020.

2

Das Problem

2.1

 ie Belastung durch ein D anachronistisches Wirtschaftssystem

In meinem frühen Berufsleben waren Praktiken üblich, die heute undenkbar sind. Wenn unser Arbeitsumfeld fragwürdige Praktiken erlaubt oder gar fördert, ist es als junger Berufstätiger schwierig, sich gegen die akzeptierte Norm zu stellen. Auch wenn mein persönliches und berufliches Verhalten nicht immer einwandfrei gewesen sein mag, habe ich andere niemals absichtlich für persönliche Zwecke unmoralisch behandelt. Es ist ein Glück, dass sich das moralische und ethische Bewusstsein im Laufe der Zeit entwickelt, sowohl in uns als Individuen als auch in der Gesellschaft insgesamt. Leider sind trotz des gestiegenen persönlichen und gesellschaftlichen Bewusstseins unmoralische Entscheidungen und unethische Praktiken an vielen Arbeitsplätzen nach wie vor fest verankert. Besonders gefährlich wird es dadurch, dass wie bei einem Eisberg nur etwa ein Sechstel davon überhaupt erkennbar ist. Hinter jeder Unmoral in der Wirtschaft verbirgt sich die irrationale Angst, dass unsere Geschäftsmöglichkeiten, die Leistung unserer Mitarbeiter oder ein anderer unkontrollierter Faktor unsere Gewinne schrumpfen lassen. Diese Angst erzeugt Gier. Die Manager, die unter einem niedrigen Selbstwertgefühl leiden, streben nach größerer Anerkennung, indem sie umso größere Kontrolle forcieren. Jene Manager wiederum, die einen übertriebenen Selbstwert besitzen, haben Angst © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Meyer-Galow, Business Ethik 3.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30786-8_2

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2  Das Problem

d­ avor zu scheitern, da ihr Ego zeigen will, dass es unfehlbar ist. In beiden Fällen, unterstützt durch ihren irreführenden Glauben, dass sie im besten Interesse des Unternehmens handeln, gibt es oft kein Gefühl von Ungerechtigkeit, wenn unmoralische Politik und unethische Praktiken als trivial angesehen werden. Jedoch: Versagen ist immanent, ebenso wie das daraus resultierende Ausbrennen, die Depressionen und die lähmenden Angstzustände, die damit einhergehen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, dass unethisches Verhalten eines Managers öffentlich bekannt wird und die Medien eine Geschichte finden, die sie verkaufen können. Was folgt, ist eine kurze Periode der Turbulenzen, welche sich jedoch meist kurzlebig gestaltet. Die Zeit heilt alle Wunden und die Verbraucher stehen bald wieder Schlange, um die Produkte oder Dienstleistungen der einst in Ungnade gefallenen Unternehmen zu kaufen.

2.1.1 Fälschung von Bilanzen Bilanzbetrug ist eine Form der Wirtschaftskriminalität. Was ist eine Bilanz? Idealerweise werden in einer Bilanz die gesamten Aktiva und Passiva eines Unternehmens ausgewiesen. Da die gesetzlichen Anforderungen von Land zu Land unterschiedlich sind, ist es schwierig, Bilanzen international genau zu vergleichen oder festzustellen, wie gut ein Unternehmen die entsprechenden gesetzlichen Anforderungen erfüllt. Dies macht es verlockend, Bewertungsansätze zu „frisieren“, was dazu führt, dass einzelne Bilanzpositionen erhöht oder gesenkt werden, um den Wert des jeweiligen Unternehmens zu überschätzen. Die Internationalisierung deutscher Unternehmen nimmt zu, was dazu führt, dass deutsche Unternehmen zunehmend nach den angelsächsischen Buchhaltungsrichtlinien bewertet werden, die in den letzten Jahren in Deutschland übernommen wurden. Dadurch wird es immer schwieriger, internationale Bilanzen mit deutschen Bilanzen nach dem deutschen Aktiengesetz zu vergleichen, deren Diktat heute oft nicht mehr berücksichtigt wird. Allerdings ist nicht jeder Aspekt der angelsächsischen Buchhaltungsrichtlinien in Deutschland akzeptabel. Stattdessen sind die Unternehmen gesetzlich dazu verpflichtet, nach dem deutschen Aktiengesetz bewertet und bilanziert zu werden. In Deutschland steht der Gläubigerschutz an erster Stelle, dicht gefolgt von der steuerlichen Beurteilung des Unternehmenswertes. In den angelsächsischen Ländern hat das Aktionärsinteresse oberste Priorität. Die internationale Buchhaltung kann in Deutschland nur dann anerkannt werden, sofern sie nicht gegen die Vorgaben und Absichten des Aktiengesetzes verstößt. Zwei Beispiele, bei denen die Unterschiede sorgfältig geprüft werden, sind die Bilanzierungspraktiken, die sich auf die Pensionsrückstellungen ­auswirken,

2.1  Die Belastung durch ein anachronistisches Wirtschaftssystem

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und die Ermittlung des tatsächlichen Wertes der Vermögenswerte. In den USA wird der Marktwert der Vermögenswerte erfasst, während in Deutschland die Anschaffungskosten der Vermögenswerte mit anschließender Abschreibungskorrektur ermittelt werden. Generell gilt: Je größer das Vermögen eines Unternehmens, desto höher der Gewinn und umso höher die veranschlagten Steuern. Wenn ein Unternehmen Vermögenswerte besitzt, die es nicht auf der Aktivseite seiner Jahresbilanz aufführt, führt dies zu einer Steuerersparnis. Da die Gläubigerguthaben regelmäßig von Wirtschaftsprüfern bestätigt werden, ist die Möglichkeit zur Fälschung von Aufzeichnungen auf der Schuldenseite der Bilanz geringer. Aber unterschätzen Sie nie die bunte Palette an kreativen Möglichkeiten, wie Bilanzen manipuliert werden können! Manchmal übertragen Unternehmen Vermögenswerte auf Tochtergesellschaften, wobei die Muttergesellschaft nur bis zu 49 % der Anteile hält. Die Muttergesellschaft ist lediglich verpflichtet, jene Gesellschaften, an denen sie mehr als 50 % der Anteile hält, in ihren Bilanzen zu konsolidieren, sodass sie zahlreiche wertvolle Vermögenswerte effektiv vor der Besteuerung schützen kann. Betriebsverluste können auch durch den Verkauf von Vermögenswerten an eine nicht konsolidierte Gesellschaft zu einem höheren als dem Marktpreis manipuliert werden. Letztendlich wird das wirtschaftliche Fundament einer Gesellschaft durch Bilanzbetrug untergraben.

2.1.2 Manipulation von Bankkonten Traditionell prüfen Wirtschaftsprüfer die Bankauszüge eines Unternehmens. Dann wurden die Geschäftsbanken des Unternehmens gebeten, die Bilanz des Unternehmens zum Jahresende zu bestätigen. Auf diese Weise konnte die Gültigkeit der Buchhaltungspraktiken eines Unternehmens festgestellt werden. Ein Unternehmen konnte aber auch Bankkonten „offshore“ besitzen, die nur dem Vorstand bekannt sind. In diesen Fällen waren selbst Prüfer nicht in der Lage, solche betrügerischen Praktiken aufzudecken. Glücklicherweise wurde dieses Schlupfloch vor Kurzem weitgehend geschlossen.

2.1.3 Inventur Alle Unternehmen müssen eine Jahresinventur erstellen. Dies ermöglicht eine jährliche Ermittlung von Vermögenswerten. Das Anlagevermögen muss zusätzlich alle fünf Jahre neu bewertet werden. Aber auf welche Art und Weise wird dieses

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2  Das Problem

b­ ewertet? Darin liegt die Möglichkeit zur Manipulation und Täuschung. Wenn ein Akquisitionswert zugrunde gelegt wird, wie wird dann der tatsächliche Anschaffungswert von Tausenden oder gar Zehntausenden Produkten ermittelt, die jedes Jahr gekauft werden? Manchmal wird das LIFO-Verfahren (Last in, First out) und manchmal das FIFO-Verfahren (First in, First out) angewendet. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Vermögen eines Unternehmens zu manipulieren. Rechnungsprüfer können nur das bestätigen, was sie auch sehen können. Es ist relativ einfach, ihnen wesentliche Informationen vorzuenthalten. Es kann ein nicht offensichtlicher Bestand oder ein Mangel an Bestand in einem Unternehmen mit Einzelhandels- und Konsignationsstellen vorliegen. Je größer das deklarierte Inventar, desto gesünder scheint das Unternehmen derzeit zu sein. Jedoch, was geschieht, wenn die Preise fallen? Denn im folgenden Jahr scheint das Unternehmen größere Verluste erlitten zu haben, als es tatsächlich der Fall war. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die meisten Lagerbestände trotz Branchenrichtlinien ein genaues Abbild der Vermögenswerte darstellen. Es ist durchaus möglich, dass Unternehmensleiter angesichts der heutigen allgemeinen Akzeptanz von Profit um jeden Preis für die Gesellschaft nicht einmal annähernd den Glauben in sich tragen, dass ihr Handeln unethisch sei. Aber jede Täuschungsabsicht, egal wie universell „akzeptabel“ sie auch geworden sein mag, ist unmoralisch. Selbst bei sorgfältigster und akribischster Berichterstattung kann ein Unternehmen in Konkurs gehen, wenn die Einnahmen die Ausgaben nicht decken. Wenn jedoch die Vermögenswerte überbewertet sind, besteht die Möglichkeit, dass sich das Insolvenzverfahren verzögert. Dies ist häufig so. Die Verzögerung kann vorsätzlich sein, z. B., wenn der Vorstand auf Preiserhöhungen oder eine Verbesserung der Verkaufszahlen hofft, damit sich das Unternehmen zwischenzeitlich erholen kann. Es ist auch häufig der Fall, dass die Konsortialbanken erst dann Schulden einfordern, wenn sich das Unternehmen in einer ernsten Notlage befindet und die Inventur nicht ausreicht, damit genügend Verkäufe getätigt werden können, sodass das Unternehmen zahlungsfähig bleibt.

2.1.4 Illegale Preisabsprachen Als ich in den 70er-Jahren meine Karriere als Manager begann, informierte uns der Vertriebsleiter routinemäßig über seine Preisvereinbarungen mit Wettbewerbern und teilte uns mit, welchen Kunden wir Sonderpreise anbieten sollten und welchen nicht. Wir hielten dieses Verhalten keineswegs für unmoralisch. Jetzt, fast 50 Jahre später, kann niemand die Unkenntnis der Preisabsprachen bestreiten. Trotzdem ist die illegale Preisfestsetzung nach wie vor allgegenwärtig.

2.1  Die Belastung durch ein anachronistisches Wirtschaftssystem

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Im Folgenden sind einige der größten Kartellstrafen in der EU aufgelistet: Lkw-Kartell, Google-Kartellpräferenz, Libor-Kartell, TV-Röhrenkartell, Gasmarktkartell, Intel-Rabatte, Aufzugs- und Fahrtreppenkartell, Wälzlagerkartell, Vitaminkartell, Luftfrachtkartell, Kartell für gasisolierte Schaltanlagen, Wachskartell, Butadien-Kautschukkartell, Flachglaskartell, Stahlkartell, Gipskartell, Sanitärproduktekartell, Bleichmittelkartell, Wurstkartell, Bierkartell, Zementkartell, Waschmittelkartell, Reißverschlusskartell, Hochspannungskabelkartell, Zuckerkartell, Kohlefaserkartell, Chloropren-Kautschukkartell, Flüssiggaskartell, Lebensmitteleinzelhandel- und Markenherstellerkartell, Acrylglaskartell, Eisenbahnkartell, Grafitkartell, Grafitelektrodenkartell, Kohlebürstenkartell. Viele der bekanntesten und angesehensten Unternehmen, die mit den oben genannten Produkten und Dienstleistungen handeln, waren an der Preisfestsetzung beteiligt.

2.1.5 Bestechung In vielen Ländern und zahlreichen Unternehmen ist die Zahlung von Bestechungsgeldern häufig immanent, um einen Kauf oder Verkauf überhaupt erst zu ermöglichen. Es kann schwierig sein, zwischen einer Provisionszahlung und einer Bestechung zu unterscheiden. Provisionen als Ausgleich für zuverlässige und akzeptable Leistungen im Zusammenhang mit einem Deal liegen in der Regel im Bereich von 1 bis 5 %. Bestechungsgelder sind in der Regel viel höher und spiegeln eine persönliche Beziehung zwischen einem Lieferanten und einem Verbraucher wider, mit der Absicht, sonstige Wettbewerber auszuschließen. Das ist unmoralisch. Wenn der Lieferant das Produkt überteuert und danach aus dem Überschuss ein Bestechungsgeld zahlt, wird letztendlich immer der Kunde benachteiligt. Da Wettbewerber ausgeschlossen sind, werden diese somit gleichzeitig benachteiligt. In Deutschland konnten bis Mitte der 90er-Jahre Bestechungsgelder in der Gewinn- und Verlustrechnung eines Unternehmens als Aufwand erfasst werden. Ab der zweiten Hälfte der 90er-Jahre waren die Unternehmen gezwungen, die Empfänger von Bestechungsgeldern offenzulegen, die noch bis Januar 2002 legal waren, bis sie schließlich illegal wurden. Unabhängig davon kann es keinen Zweifel daran geben, dass Bestechungsgelder weiterhin eine aktive Rolle in der Geschäftswelt spielen, wenn es darum geht, Geschäfte mit gezielten, bevorzugten Käufern abzuschließen. Nicht alle Bestechungsgelder werden bar bezahlt. Daneben gibt es zahlreiche geldwerte Vorteile, die zur gezielten Absicherung von Geschäftsabschlüssen angeboten werden.

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2.2

2  Das Problem

Vorhandene Ethikkonzepte sind unzureichend

Business Ethik 1.0 (Gill 2010) wurde weitgehend als Schadensbegrenzung praktiziert. Man prüfte die Kriterien, die eine Ethikagenda darstellen muss, und ermutigte uns, unsere Aufmerksamkeit und Energie auf die Bewältigung spezifischer Krisen zu richten. Es stand also Krisenbewältigung und nicht Krisenvermeidung im Vordergrund. Business Ethik 2.0 (Gill 2010) war proaktiver, was uns unter Berücksichtigung der Vision und der Mission eines Unternehmens zu Ethikrichtlinien und Ethiktraining führte. Fehlende ethische Praktiken auf dem Markt, auch wenn Corporate Social Responsibility (CSR 2.0) als Teil von Business Ethik 2.0 eingebettet ist, führt uns zu der Beobachtung, dass wir bestenfalls marginale Fortschritte auf dem Weg zu einer Neuen Ethik gemacht haben, die nachhaltige moralische Entscheidungen und nachfolgende ethische Geschäftspraktiken umfasst. Offensichtlich fehlt noch e­ twas Lebensnotwendiges. Es gibt derzeit viele Initiativen, die Spiritualität als das fehlende Glied in der Kette betrachten, die es uns erlauben würden, ein ganzheitlicheres Modell für die Steuerung der Ethik in der Wirtschaft zu entwerfen. Diese Bewegung wird als Spiritual Based Ethics bezeichnet und ist ein willkommener Schritt in eine positive Richtung. Aber wenn ich über mein fast vierzigjähriges Geschäftsleben nachdenke, bezweifle ich, dass die Verantwortlichen in unseren Unternehmen bereit oder in der Lage sind, auf Abruf die notwendige persönliche Transformation einzuleiten, die die Übernahme ethischer Geschäftspraktiken fördern würde, indem sie einfach gebeten werden, Spiritualität als eine leitende Kraft in ihrem Leben zu erforschen und zu akzeptieren. Solange wir die Spiritualität nicht in unserem Wesen, also in unserem wesentlichen Selbst aufgenommen haben, können wir ihren Nutzen nicht erfahren und somit die Notwendigkeit, die Zweckmäßigkeit, sie anzunehmen, oder die Vorteile, die sich zwangsläufig daraus ergeben, nicht verstehen. Es gibt Leute, die geistige Praktiken intellektuell erforscht haben, aber allzu oft führt dies zu einem andauernden spirituellen Flug. Die Praxis der spirituellen Übungen, die einfach unseren rationalen Ich-Geist miteinbeziehen, schützt uns nicht vor den Versuchungen, die sich aus unserer dunklen Seite ergeben, wenn wir von den konkurrierenden Anforderungen des Managements unserer Nische im Markt h­ erausgefordert werden. Spiritualität ist nicht per se das fehlende Glied, sondern ein fehlendes Glied. Was fehlt denn dann noch? Erstens ist es notwendig, dass diejenigen von uns, die im wirtschaftlichen Sektor der Gesellschaft arbeiten, verstehen, dass Praktiken, die auf unmoralischen Grundlagen oder unethischen Praktiken beruhen, niemals zu dauerhaftem persönlichen oder beruflichen Erfolg oder Zufriedenheit führen können.

2.2  Vorhandene Ethikkonzepte sind unzureichend

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Zweitens müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass es nicht möglich ist, auf moralisch und ethisch vertretbare Weise zu leben und zu verwalten, indem man einfach einem extern auferlegten Regelwerk folgt. Drittens ist es wichtig, dass wir anerkennen, dass eine nachhaltige Moral, die zu ethischen Praktiken führt, niemals verwirklicht werden kann, während wir besessen bleiben von unserer Energie, die den Fokus auf das Streben nach Erfolg und Reichtum um jeden Preis richtet. Nur die innere Ruhe, Stabilität und Ausgeglichenheit in unserem Leben, die sich aus dem Erwachen unseres Bewusstseins für unsere innere Dimension ergibt, kann uns zu effizienteren ethischen Praktiken führen. Sobald wir beginnen, diese innere Ressource zu erschließen, sind wir in der Lage, eine befriedigende, friedliche Work-Life-Balance herzustellen, die zu dauerhaftem inneren Frieden und Freiheit führt. Diese persönliche innere Befriedigung wiederum erlaubt es uns, die Widerstandsfähigkeit zu finden, um den Versuchungen der äußeren Welt zu widerstehen, indem sie uns gegen ein selbstsüchtiges Handeln schützt, das letztendlich zu Angst, Stress und Leid führt kann. Zu berücksichtigen sind auch die faszinierenden Entdeckungen, die sich aus der Quantenphysik ergeben. Fast 100 Jahre nach Werner Heisenbergs Theorie und ihrer experimentellen Validierung wird uns zunehmend bewusst, dass die ganzheitliche Natur der Realität, die bisher nur von wenigen Mystikern vertreten wurde, nun zum Mainstream geworden ist mit bedeutenden Implikationen für unser persönliches Leben, und zwar insbesondere damit, wie wir unsere spirituelle Verbundenheit mit der gesamten Schöpfung betrachten. Der Schwerpunkt der Quantenphysik liegt auf Vernetzung, Kreativität, Nicht-Dualität und Nicht-Linearität. Diese Anerkennung einer funktionierenden, praktischen Realität, die bisher weitgehend unerkannt blieb, hat einen großen Einfluss auf ethische Überlegungen. Und schließlich ist als Katalysator die Tiefenpsychologie von C. G. Jung und Erich Neumann von großer Bedeutung, die die vorangegangenen Überlegungen energetisch vereint und es uns ermöglicht, das Individuum zu verstehen, das gut sein will, aber plötzlich auf unerwartete Art unmoralisch handelt (Neumann 1973, 1990). Unsere individuelle, unterdrückte und verdrängte dunkle Seite blockiert unsere gute und helle Seite, sich zu manifestieren. So sehr wir auch wünschen mögen, nur im Licht zu leben, wir umfassen sowohl Licht als auch Dunkelheit. Die ­Integration unserer dunklen Seite ist grundlegend für die Entwicklung des Selbst, wie Jung es nennt. Unsere helle Seite und unser inneres Wachstum müssen ­ermutigt und gestärkt werden, um unsere dunkle Seite umfassen, aufnehmen und inte­grieren zu können. In Ermangelung von innerem Wachstum werden wir Opfer intrinsischer Angriffe durch unseren eigenen Dunklen Bruder/Schwester-Aspekt, zusätzlich zu extrinsischen Angriffen durch andere Individuen.

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2  Das Problem

Unser Ich-Geist ist so dominant geworden, dass wir uns von unseren inneren Quellen, unseren wichtigsten Wurzeln, vor allem unserer Intuition, getrennt haben. Wir müssen uns selbst heilen, um ethische Praktiken nachhaltig umsetzen zu können. cc

Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu dieser Heilung ist die Wiederherstellung der Verbindung zu unserer Seele und zu unserem Geist (Spirit).

Dieses Buch wird uns helfen zu verstehen, warum ein ethischer Ansatz, der auf moralischer Vernunft basiert, anstatt auf dem Ego basierenden rationalen Verstand oder auf einem der vielen verschiedenen philosophischen Ansätze, die seit Aristoteles’ Zeit vorangetrieben wurden oder auf einer bestimmten Theologie, die eine bestimmte Religion umfasst oder auf Spiritualität an sich, nicht in der Lage war, das ethische Verhalten des Individuums oder des Kollektivs wesentlich zu  verändern. Die verallgemeinerten unmoralischen Entscheidungen, die zu dem derzeit in der Gesellschaft grassierenden unethischen Verhalten führen, sind ein Beweis dafür, dass alle Bücher, zahlreiche Appelle, Richtlinien und ernsthafte Proteste für einen nachhaltigen ethischen Ansatz, der von moralischen Entscheidungen geleitet wird, keine erkennbaren Auswirkungen auf den Einzelnen oder die Wirtschaft gehabt haben. Wenn mein Lehrer Karlfried Graf Dürckheim noch am Leben wäre, würde er folgende Bemerkung machen: Es hilft wenig, ständig über kollektive Ethik und Moral zu predigen, wenn die Individuen, die dieses Kollektiv bilden, in ihrer rationalen, einseitigen Egozentrik stecken bleiben, die ständig unseren eigentlichen Lebenszweck, unsere Individuation und unser Gleichgewicht von Körper, Ego-Geist, Seele und Geist-Spirit blockiert, welche notwendig sind, um eine vollkommen ganzheitliche Person zu werden. Der Mensch im Anthropozän hat kein Bewusstsein für diese Spaltung der Ganzheit. Er hat die Trennung vom Numinosen vollzogen. Da wir also nicht wissen, warum wir leiden, können wir nicht die Brücken zu unserer Seele bauen, die uns zum Unbewussten führen könnten, in dem die riesige Energie und das kreative Potenzial liegen, die unser stark eingeschränktes Bewusstsein erweitern könnten. Wir haben uns selbst destabilisiert und geschwächt und jetzt werden wir ­aufgefordert, die Aufrechterhaltung der Moral und der Ethik zu unterstützen. Umso schwieriger ist es, wenn wir auch unsere dunkle Seite unterdrücken, sie in den Schatten verdrängen, aus dem sie dann immer wieder unkontrolliert hervorbricht und sich in der Gesellschaft unmoralisch ausdrückt. Nur wenn wir dieses Scheitern in einer schweren Lebenskrise schmerzlich erleben, können wir den Weg zurückgehen und die Verbindung zu unserer psychischen

2.3  Moral kann nicht gesetzlich geregelt werden.

19

und spirituellen Dimension wiederherstellen. Aber dieser Wendepunkt in unserem Leben setzt eine Initiation in Form einer persönlichen Erkenntnis voraus. Nur dann kann sich unser inneres Wachstum entwickeln, indem wir von der einseitigen Außenorientierung abweichen und unsere dunkle Seite in unser SELBST integrieren und es so unter unsere Kontrolle bringen. Um dies zu erreichen, kann es durchaus notwendig sein, über viele Jahre hinweg täglich meditative Übungen durchzuführen. Aber erst wenn diese Integration stattgefunden hat, werden wir uns zunehmend für eine nachhaltige Ethik einsetzen, die auf moralisch vertretbaren Entscheidungen beruht. Nicht nur, weil wir es wollen, sondern weil wir nicht anders können! Es besteht der aufrichtige Wunsch, dass dieses Buch als Katalysator für diejenigen wirkt, die leiden, indem es sie ermutigt, den Initiationsprozess durch Treffen mit anderen Gleichgesinnten zu beginnen, oder durch die Suche nach denjenigen, die in ihrer inneren Dimension bereits weiterentwickelt sind, um Anleitung zu erhalten. Erst dann beginnt sich das Kollektiv langsam zu verändern, denn die Veränderung kann nur von reifen Individuen vorangetrieben werden. Wo immer wir in unserer Gesellschaft arbeiten und welche Verantwortung wir auch immer übernehmen, der Segen unserer Arbeit hängt von unserer persönlichen Tiefe und Reife ab.

2.3

Moral kann nicht gesetzlich geregelt werden.

Oft hören wir, dass, wenn bestehende Regeln und Vorschriften befolgt würden, unsere Praktiken ethisch einwandfrei sein müssen. Wir wissen intuitiv, dass dies nicht der Fall ist. Wenn unsere Absichten unmoralisch sind, dann sind unsere Praktiken, die von selbigen ausgehen, unmoralisch. „Moral für Vorstände“ betitelte die FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) einen Artikel, der sich mit der Moral auf höchster Ebene auseinandersetzte: „Skandal, Skandal, rufen die einen; alles im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften, entgegnen die anderen. Darf sich Fiat auf der sicheren Seite fühlen, weil seine Autos auf dem Prüfstand die geforderten niedrigen Abgaswerte erreicht haben, oder ist Fiat ein Betrüger, weil Autokäufer hinters Licht geführt und zumindest in dem Glauben gelassen wurden, das Auto erfülle auch während der Fahrt die niedrigen Abgaswerte? Fiat ist einer der jüngsten Fälle, aber kein Einzelfall, in dem unternehmerische Entscheidungen zu öffentlichen Auseinandersetzungen darüber führen, wie moralisch sich ein Unternehmen zu verhalten hat. Ist die geplante Übernahme des amerikanischen Saatgutherstellers Monsanto durch den deutschen Bayer-Konzern wegen der zu erwartenden Synergien ein kaufmännischer Geniestreich oder nicht doch wegen des schlechten Rufs von Monsanto Ausdruck von Skrupellosigkeit und Gier? Dürfen sich die Banken durch Verweis auf branchenübliches Verhalten oder menschliches Versagen vor ihrer Verantwortung für

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2  Das Problem die globale Finanzkrise drücken? Reicht eine staatliche Ausfuhrgenehmigung für den Export von Waffen in den Nahen Osten, oder hat ein Unternehmen hier auch eine ­eigene moralische Verantwortung? Bei allen Fragen geht es darum, welche Verantwortung handelnde Personen in der Wirtschaft haben über ihre Pflicht hinaus, geltende Gesetze einzuhalten. Rein rechtlich darf Bayer natürlich Monsanto erwerben, rein rechtlich gilt eine Abgasreinigung als zulässig, wenn sie die vorgeschriebenen Tests besteht. Rein rechtlich darf man Panzer exportieren, wenn die Bundesregierung zustimmt. Dennoch macht man es sich zu einfach, wenn man sich nur auf den rechtlichen Standpunkt zurückzieht. Ein Unternehmen lebt nicht nur in einem rechtlichen und (wertfreien) ökonomischen Umfeld, sondern auch in einem sozialen Umfeld. Und das verlangt, dass man sich auch jenen Regeln unterwirft, die man landläufig als Sitte, Brauch oder eben als Ethik (griechisch) oder Moral (lateinisch) bezeichnet. Der Münchener Betriebswirtschaftler Hans-Ulrich Küpper hat auf der Jahrestagung des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft in München gefordert, dass sich die BWL ‚als anwendungsorientierte Wissenschaft mit dem Thema Ethik befassen muss‘. Sie könne ökonomisches Verhalten nicht auf zweckrationales Verhalten reduzieren, denn „Werte und Moral der Menschen haben Einfluss auf betriebswirtschaftliche Entscheidungen“. Auch der Wöhe, das deutschsprachige Standardwerk der Betriebswirtschaftslehre, konstatiert, dass in den vergangenen Jahren die enge, wirtschaftliche Fachabgrenzung durch die verhaltenswissenschaftlich orientierte BWL eine Erweiterung erfahren hat, deren Befürworter ,alle betrieblichen Handlungen unter den Vorbehalt moralischer Rechtfertigung stellen (…)‘ Ethisches Verhalten muss offenbar immer wieder hinterfragt werden (…) Das schafft man am besten dadurch, dass man einsame Einzelentscheidungen vermeidet. Viele Unternehmen treffen auch strukturelle Vorkehrungen, um zumindest das Risiko für moralisches Fehlverhalten zu minimieren. Reitzle empfahl auf einer Diskussion in München ganz pragmatisch, ethisches Verhalten von der Führungsebene vorzuleben, überall im Unternehmen das Vier-Augen-Prinzip einzuführen. Zudem dürften Einstellungen oder Beförderung in keinem Fall von einer einzelnen Person vorgenommen werden; alle Vorgesetzten müssten sich einer 360-Grad-Beurteilung durch Vorgesetzte und durch Untergebene unterziehen; es müsse ein funktionierendes Whistleblower-System im Unternehmen geben, und Mitarbeiter sollten in regelmäßigen Abständen nach Missständen befragt werden. ‚Sehr viel Sorgfalt gilt es auf die Personalauswahl zu legen, ob die Angestellten diese Regeln auch aktiv unterstützen‘, forderte Reitzle. Diese Maßnahmen schließen unethisches Verhalten nicht aus, aber sie erschweren es. Zumindest sorgen diese Maßnahmen dafür, dass Entscheidungen nie von einer Person allein getroffen werden.“ (Giersberg 2016)

Ich schlage vor, dass die Antwort auf die Frage lautet: Jeder Einzelne ist verpflichtet, sowohl in der Absicht als auch im Handeln moralisch und ethisch einwandfrei zu sein, um weder anderen Personen noch der Umwelt Schaden zuzufügen.

2.4  Individuen als Treiber des gesellschaftlichen Wandels

2.4

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I ndividuen als Treiber des gesellschaftlichen Wandels

Als ich meinen ersten Lehrer, Karlfried Graf Dürckheim, traf, sagte er: „Wo immer Sie in unserer Gesellschaft arbeiten und welche Verantwortung Sie übernehmen, der Segen ihrer Arbeit hängt von der Tiefe und Reife ihrer eigenen Person ab. Es ist entscheidend, die andere Welt im Innern zu antizipieren. Nur der Einzelne kann Zeuge der anderen Welt werden, keine Gruppe, keine Institution, keine Gesellschaft.“

In seinem Kommentar zu den Aion Lectures schreibt der Jung’sche Schriftsteller Edward Edinger: „Wenn meine Lesart der Symbolik von Jungs Äion stimmt, wird das Äion des Wassermanns einzelne Wasserträger erzeugen. Das bedeutet, dass die Psyche nicht mehr von Religionsgemeinschaften getragen wird, sondern von Individuen mit erweitertem Bewusstsein. C. G. Jung bringt in seiner Vorstellung von einer fortwährenden Inkarnation die Idee hervor, dass Individuen fortlaufend zu den inkarnierenden Gefäßen des heiligen Geistes werden sollen.“ (Edinger 1996)

Papst Franziskus äußerte in seiner jüngsten Enzyklika Laudato Si’ 2015 gewisse Zweifel an der Selbstvervollkommnung des Einzelnen, da sie die heutige äußerst komplexen Situation, in der sich unsere Welt befindet, nicht von selbst beheben wird. Isolierte Individuen könnten ihre Fähigkeit und Freiheit verlieren, der utilitaristischen Denkweise zu entkommen, und am Ende Opfer eines unethischen Konsumverhaltens werden, das ohne soziales oder ökologisches Bewusstsein sei. Dem kann ich nicht zustimmen. Die Selbstvervollkommnung gewinnt aber im universalen Maßstab langsam an Fahrt. C. G. Jung sagte in einem Radio-Interview: „Es beginnt mit ein paar Leuten und ihrer Vision für das neue Zeitalter. Sie werden das Licht in der Dunkelheit sein; Führer und Hoffnung; und ein Segen für die zukünftigen Generationen. Das Schicksal hängt vom Bewusstsein dieser wenigen ab, die immer mehr werden. Eine neue Religion entsteht. Du darfst den Ruf aus der Tiefe nicht verleugnen. Was für eine große Ehre, jetzt zu leben und einer der neuen Führer zu sein. Die Schatzkammer ist in deiner Tiefe.“ (Owens 2012)

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2  Das Problem

Dr. Owens MD, Ph.D. hat die letzten 30 oder mehr Jahre seines Lebens der Erforschung und Anwendung von Jungs Tiefenpsychologie gewidmet. Aus meinem Studium des Buddhismus und der Zen-Meditation kenne ich die vier großen Gelübde. Das erste große Gelübde des Buddhismus lautet: Zahllos sind die Lebewesen; ich schwöre, sie alle zu retten! Wie ist das möglich? Die Antwort findet sich in der folgenden Bildunterschrift eines Zen-Gemäldes im Haus meines Freundes Peter Zürn: „If you change, the whole world will change.“

cc

2.5

Synchronizität

Es ist kein Zufall, dass der Dalai Lama während des Schreibens dieses Buches einen Appell in die ganze Welt schickte, einen Appell in Form einer revolutionären Verkündigung. Synchronizitäten werden durch einen Sinn ausgelöst und nicht durch einen Grund (Synchronizitätshypothese, Wolfgang Pauli, C. G. Jung) (von Franz 1988, 2003, S. 289 ff.). Der Dalai Lama sagte:

2.5.1 „Ethik ist wichtiger als Religion“ Der Appell des Dalai Lama (Dalai Lama und Alt 2015) ist ein starker Impuls für eine neue säkulare Ethik. Nachfolgend finden Sie Auszüge aus seinem Appell: cc

„Ethik ist wichtiger als Religion.“ (Dalai Lama und Alt 2015) „Wir kommen nicht als Mitglied einer bestimmten Religion auf die Welt. Aber Ethik ist uns angeboren.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 6) „Diese säkulare Ethik des Dalai Lama sprengt nationale, religiöse und kulturelle Grenzen und skizziert Werte, die allen Menschen angeboren und allgemein verbindlich sind. Das sind nicht äußere, materielle Werte, sondern innere Werte wie ­Achtsamkeit, Mitgefühl, Geistesschulung sowie das Streben nach Glück.“ (Franz Alt in Dalai Lama und Alt 2015, S. 6) „Religionen waren oft und sind oft intolerant. Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen. Ich spreche deshalb von einer säkularen Ethik, die auch für über eine Milliarde Atheisten und für zunehmend

2.5 Synchronizität mehr Agnostiker hilfreich und brauchbar ist. Wesentlicher als Religion ist unsere elementare menschliche Spiritualität. Das ist eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe, Güte und Zuneigung, unabhängig davon, welcher Religion wir angehören (…). Spiritualität ist die elementarste aller menschlichen Urquellen in uns. Wenn wir uns entschließen, die inneren Werte, die wir alle bei anderen schätzen, zu kultivieren, dann fangen wir an, spirituell zu leben.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 15–16) „Nach meiner Überzeugung können Menschen zwar ohne Religion auskommen, aber nicht ohne innere Werte, nicht ohne Ethik. Der Unterschied zwischen Ethik und Religion ähnelt dem Unterschied zwischen Wasser und Tee. Ethik und innere Werte, die sich auf einen religiösen Kontext stützen, sind eher wie Tee. Der Tee, den wir trinken, besteht zum größten Teil aus Wasser, aber er enthält noch weitere Zutaten: Teeblätter, Gewürze, vielleicht ein wenig Zucker und – in Tibet jedenfalls – auch eine Prise Salz, und das macht ihn gehaltvoller, nachhaltiger und zu etwas, das wir jeden Tag haben möchten. Aber unabhängig davon, wie der Tee zubereitet wird: Sein Hauptbestandteil ist immer Wasser. Wir können ohne Tee leben, aber nicht ohne Wasser. Und genau so werden wir zwar ohne Religion geboren, aber nicht ohne das Grundbedürfnis nach Mitgefühl – und auch nicht ohne Wasser.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 16–17) Franz Alt: „Was sind die Grundlagen einer säkularen Ethik?“ „Achtsamkeit, Bildung, Respekt, Toleranz, Fürsorge und Gewaltlosigkeit. (…) Aber ich sehe immer deutlicher, dass unser spirituelles Wohl nicht von der Religion abhängig ist, sondern der uns angeborenen menschlichen Natur, unserer natürlichen Veranlagung zur Güte, Mitgefühl und Fürsorge für andere entspringt. Unabhängig davon, ob wir einer Religion angehören oder nicht, haben wir alle eine elementare und menschliche Quelle in uns. Dieses gemeinsame Fundament müssen wir hegen und pflegen. Ethik, nicht Religion ist in der menschlichen Natur verankert. Und so können wir daran arbeiten, die Umwelt zu bewahren. Das ist praktizierte Religion und praktizierte Ethik. Das Mitfühlen ist die Basis des menschlichen Zusammenlebens. Es ist meine Überzeugung, dass die menschliche Entwicklung auf Kooperation und nicht auf Wettbewerb beruht. Das ist wissenschaftlich belegt.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 20) „Es gibt zwei Sichtweisen auf die menschliche Natur. Die eine meint, der Mensch sei von Natur aus gewalttätig, rücksichtslos und aggressiv. Die andere glaubt, wir neigen von Natur aus zu Güte, Harmonie und einem friedlichen Leben. Diese zweite ­Sichtweise entspricht meiner eigenen. Deshalb halte ich Ethik nicht für die Summe von Geboten und Verboten, die es zu befolgen gibt, sondern für ein natürliches, inneres Angebot, das uns zu Glück und Zufriedenheit mit uns selbst und mit anderen führen kann.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 21) „Sicher ist jedoch, dass eine säkulare Ethik eine Schulung des Herzens, viel Geduld und ausdauerndes Bemühen erfordert. Und klar ist auch, dass eine wirklich hilfreiche säkulare Ethik nicht nur eine Frage des Wissens ist, sondern noch mehr eine Frage des Handelns. Wir wissen ja oft, was wir tun, aber wir tun nicht, was wir wissen.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 24)

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24

2  Das Problem Wie sieht der Dalai Lama die gegenwärtige Realität? „Leider gibt es unter den sechs Millionen Gläubigen auf der Welt viele Korrupte, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 22)

Ich halte den folgenden Appell des Dalai Lama an die jüngere Generation und an die Politiker für besonders relevant: „Die jungen Menschen von heute haben doch viel mehr Möglichkeiten, sich global kennenzulernen – und diese Chance sollten sie nutzen, um an einer besseren Welt zu arbeiten. Mitgefühl und Liebe wurden in der Erziehung, Ausbildung und Bildung viel zu sehr vernachlässigt. Das können und müssen wir jetzt ändern. (...) Ethische Bildung ab etwa 14 Jahren ist wichtiger als Religion. Bildung verändert alles. Menschen sind lernfähig. Das zeigt in Deutschland der Fall der Mauer (…) oder auch die Politik der Europäischen Union. Die wichtigste Frage für eine bessere Welt heißt: Wie können wir einander dienen? Dafür müssen wir unser Bewusstsein schärfen. Das gilt auch für Politiker. Wir benötigen positive Geisteszustände. Ich übe das täglich vier Stunden. Meditation ist wichtiger als ritualisiertes Gebet.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 22)

cc

„Kinder sollten Moral und Ethik lernen, Das ist hilfreicher als alle Religion.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 26)

Das ist nicht nur ein Appell. Mit seiner Formulierung gibt uns der Dalai Lama das Rezept für inneres Wachstum. Ein Wachstum, das zu mehr ethischem und moralischem Verhalten in der Außenwelt führen wird. Es besteht aus Training der Herzensweisheit, viel Geduld und beharrlicher Anstrengung. Wir kennen es als Meditation. „Den materiellen Werten wird zu viel Bedeutung beigemessen. Sie sind wichtig, aber sie können unseren psychischen Stress, unsere Furcht, Wut oder Frustration nicht verringern. Deshalb brauchen wir eine tiefere Ebene des Denkens. Das verstehe ich als Achtsamkeit, also das tiefgründige Denken und Fühlen, und das ist hier sehr wichtig.“ (Dalai Lama und Alt 2015, S. 31)

Neurowissenschaftler, Psychologen, Ökonomen, Finanzinvestoren und der Dalai Lama nahmen 2010 an einem Treffen im Kongresshaus in Zürich zum Thema Altruismus und Mitgefühl in Wirtschaftssystemen teil (Tibet Office 2010). Bei Scheinwerferlicht saß er im Schneidersitz auf einem Stuhl und trug eine rote Baseballkappe. Vor dem weißen Sessel standen seine Schuhe. Hinter ihm standen blühende Kirschzweige. Er begann, indem er Folgendes sagte und im Anschluss in sein kehliges Lachen ausbrach. cc

„Mein Wissen über Wirtschaft ist null.“ (Tibet Office 2010) Es ist nicht nötig, dass seine Heiligkeit über tiefere Geschäftskenntnisse verfügt.

2.5 Synchronizität

25

Es steht außer Frage, dass die Meinung des Dalai Lama zutreffend ist, besagt sie doch, dass wir dringend ein neues Ethos in unserer Gesellschaft brauchen. Dies gilt auch für die Ethik in der Wirtschaft. Da dieses Buch auf Business Ethik fokussiert ist, kommt es der Vision des Dalai Lama, insbesondere dem spirituellen Inhalt, einer säkularen Ethik als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines Business Ethik 3.0-Konzepts entgegen, indem es auch noch die Dimensionen und Auswirkungen der Tiefenpsychologie und der Quantenphysik beifügt. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Neoliberalismus als Ersatz für die Religion oder als Ersatzreligion entwickelt. Man kann argumentieren, dass dieser Neoliberalismus direkt für die Finanzkrise 2007 bis 20008 verantwortlich war. Wenn Ethik wichtiger ist als Religion, dann ist Ethik weitaus wichtiger als jede Ersatzreligion. Leider gibt es einen heftigen Widerstand, den Status quo zu ändern, auch wenn er offensichtlich versagt. Diejenigen, die es versuchen, werden oft angegriffen, herabgesetzt und falsch dargestellt.

2.5.2 Laudato Si’: Über die Sorge für das gemeinsame Haus In einem weiteren Ereignis von synchronistischer Natur, im Juni 2015, veröffentlichte der Heilige Vater Franziskus, das Oberhaupt der katholischen Kirche, die Enzyklika Laudato Si’: Über die Sorge für das gemeinsame Haus (Franziskus und Vater 2015). Sein Brief ist eine scharfe Kritik an der Technologie und gleichzeitig eine Warnung vor blindem Fortschrittsglauben. Dennoch ist der Brief weder ein marktfeindlicher Ansatz noch eine Position gegen die Technologie, sondern vielmehr eine Position, in der Papst Franziskus eine ganzheitliche Sicht der Wirtschaft sogar ausdrücklich fördert. Als ehemaliger Manager und Unternehmer in der Wirtschaft weiß ich, dass es viele verantwortliche Manager gibt, vor allem in Sachen Umwelt. Hans-Peter Dürr zitiert oft die folgende tibetische Weisheit: „Der Baum, der fällt, macht mehr Lärm als ein Wald, der wächst!“ Für ihn ist es normal, dass unsere Wahrnehmung von fallenden Bäumen dominiert wird, von dem, was gewalttätig, massiv, schnell geschieht, uns bedroht oder uns zumindest als Bedrohung erscheint. Damit wird Angst erzeugt. Unsere ganze Geschichte sei voll von umstürzenden Bäumen. Nichtsdestotrotz fragen wir uns, wie wir trotz all dieser Zerstörung immer noch auf der Erde leben. Wir sind uns bewusst, dass es letztlich auf den wachsenden Wald ankommt. Es ist der wachsende Wald, der den Fortbestand des Lebens ermöglicht. Aber wer merkt das schon? Der Wald und seine Bäume verändern sich langsam und leise, aber beständig und werden erst sichtbar, wenn wir unsere Aufmerksamkeit in diese Richtung lenken. Das Wachstum verläuft immer langsamer und leiser als alle zerstörerischen

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2  Das Problem

Kräfte der Welt, die heute in wenigen Stunden ihren Zorn entfesseln können. Um wahrhaftige, solide Werte zu etablieren, meint er, braucht es Zeit und Geduld, denn sie werden jenseits unserer gewöhnlichen Wahrnehmung aufgebaut. Natürlich gibt es schwarze Schafe. In jeder Situation gibt es eine Gauß’sche Normalverteilung: Einige wenige machen alles richtig. Es sind einige, die einige Dinge richtig und einige, die manche Dinge falsch machen und schließlich einige, die einfach alles falsch machen. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, um das Ideal zu erreichen. Ein Ziel, das wir mit diesem Buch hoffentlich erreichen werden. Wir alle müssen aufgeschlossen sein, es vermeiden, bei unzureichender Informationsbeschaffung, Urteile zu fällen und daran arbeiten, das zu verbessern, was uns anvertraut ist, auch uns selbst! Die Aussage des Papstes steht für die alte Ethik, die uns in der New Economy nicht guttut. Später in diesem Buch werden die Ideen von Erich Neumann die Gründe dafür näher erläutern. In Bezug auf die alte Ethik sagt er: Nach Neumann (1973, S. 17) hat die alte abendländische Ethik viele Quellen, von denen die jüdisch-christlichen und griechischen die stärksten sind. Das Vorbild des Heiligen oder Weisen, des Edlen oder des Guten, des Frommen oder des das Gesetz erfüllenden, des Helden oder des Nüchternen kann im Zentrum der alten Ethik stehen. Papst Franziskus wirbt für diesen Leitsatz des nur Gutseins als Mittel zur ­Heilung der kränkelnden Wirtschaft, aber so wird leider sichergestellt, dass die Menschheit weiterhin ihr dunkle Seite unterdrückt und verdrängt, was seit ­Jahrhunderten erfolglos propagiert wird. Während sein Appell an die Massen ehrenhafte Absichten haben mag, ist die Möglichkeit dieses schwächelnden Ansatzes zur Verbesserung der Wirtschaft zum Scheitern verurteilt.

2.6

 arum wir dringend eine neue Business W Ethik brauchen

Was bleibt, ist die Frage, für die wir eine Lösung finden müssen, warum wir es immer wieder versäumen, einen ethischen Ansatz zu verfolgen, der die Nachhaltigkeit wiederum auch nachhaltig fördert. Pete Geissler und Bill O’Rourke (2015) erklären, dass die Wissenschaft der Moral im menschlichen Verhalten auf Prinzipien sowie Verhaltensregeln beschränkt ist. Beispielsweise die medizinische Ethik, die uns zunächst den Grundsatz lehrt, keinen Schaden zu verursachen, und die politische bzw. gesellschaftliche Ethik, in der man ermahnt wird, für das größere Wohl zu handeln. Ethik geht jedoch über das Gesetz hinaus. David W. Gill (2010) schreibt über Business Ethik 2.0 und behauptet, dass es mehr als nur die Kontrolle über Schaden fördern müsse. Er fragt sich, ob wir überhaupt ein Ethikproblem in der Wirtschaft haben? Er glaubt schon.

2.7  Was war eigentlich Business Ethik 1.0?

27

Die meisten Leute, von denen er hört, vertreten diese Meinung. Unternehmen und ihre Führungskräfte handelten allzu oft in die falsche Richtung. Etwas sei falsch, wenn etwas durch unverantwortliches Handeln zu physischen, finanziellen oder ökologischen Schäden führe. Im Geschäftsleben sei etwas richtig, wenn es die Menschen vor Schaden schützt und sie durch die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen stärkt. Wenn Menschen durch Bankpraktiken, Versicherungspolicen, pharmazeutische Produkte, defekte Autos oder ungesunde Lebensmittel geschädigt würden, auch wenn diese legal und fast überall auf den Markt gebracht werden, dann seien diese Dinge unethisch. Ungeachtet dessen, ob schlechte Dinge durch Habgier und Bosheit oder durch persönliche Verantwortungslosigkeit und vorsätzliche Ignoranz geschehen, seien sie falsch. Berichte über unethische Geschäftsaktivitäten seien ein häufiges, tägliches Ereignis. Wir hätten ein ernsthaftes Problem! Ironischerweise hätten sich Kurse zur Business Ethik, Publikationen, Organisationen und Firmenschulungsprogramme in den letzten 30 Jahren stark verbreitet. Er wäre nicht überrascht, wenn die grafische Darstellung des Wachstums bezüglich der Betonung solcher Ethik-Ressourcen nicht signifikant eng mit einem Diagramm des Anstiegs der Anzahl von Skandalen in der Business Ethik korrelieren würde. Korrelation sei sicherlich keine Kausalität, aber eine Lektion sei klar: Die Art und Weise, wie wir uns mit der Geschäftsethik auseinandersetzen und sie umsetzen, wird das Problem nicht lösen. Paul Gorrell (2010) sagt zur Problematik in der Wirtschaft, dass die Business Ethik innerhalb von Organisationen sich in der Regel auf rechtliche Belange konzentriert, um die potenzielle Gefährdung eines Unternehmens zu verringern. In Business Schools würden Fallstudien wie der Johnson & Johnson Tylenol Fall in den 1980er-Jahren verwendet, um die Prinzipien zu erforschen, die hinter dem Leitbild, der Geschäftspolitik und den Führungsentscheidungen einer Organisation stehen. Es sei an der Zeit für eine größere, zielgerichtete Diskussion über Wirtschaftsethik, die den Schwerpunkt auf wertebasierte Führung legt, einen Ansatz für Business Ethik 2.0, der über die Einhaltung von Compliance hinausgeht.

2.7

Was war eigentlich Business Ethik 1.0?

David Gill (2010) ist der Meinung, dass Business Ethik weitgehend nur als Schadensbegrenzung praktiziert würde. Was die Ethik-Agenda bestimme, was unsere Energie und Aufmerksamkeit auf sich ziehe, seien spezifische Krisen, Dilemmata oder Problemfälle. Der Exxon Valdez Öltanker läuft auf Grund, die Chemiefabrik Union Carbide explodiert in Bhopal, Indien und Google akzeptiert die Zensur der chinesischen Regierung als Bedingung für Geschäfte in China. Er fragt sich, was die Fakten in jedem Fall denn nun seien und welche ethischen Werte und Prinzipien auf dem Spiel stünden? Wie könnten Kant, Mill oder Rawls

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2  Das Problem

uns helfen, unseren Weg zu einer Schlussfolgerung darüber zu finden, wer schuldig sei und was mit dem Täter zu tun wäre? Es wäre nicht so sehr, dass wir uns tatsächlich um die Vögel an der Küste Alaskas kümmern oder um indische Bauern oder chinesische Studenten. Was zähle, ist, dass Rechtsstreitigkeiten, Bußgelder oder ein Skandal um die Beschädigung einer großen Marke bevorstehen. Könnten wir es stoppen und den Schaden eindämmen? Dieser Ansatz sei zu reaktiv, negativ und eng, um viel Gutes zu tun. Er tue wenig, um sicherzustellen, dass die Probleme gar nicht erst auftreten. Es wische einfach das Blut nach dem Absturz auf. Und doch, wie viele Kurse der Business Ethik konzentrierten sich endlos auf Falldiskussionen und Analysen, die auf eine Entscheidung am Ende hindeuteten? Wie viele Trainingsprogramme konzentrierten sich auf Fälle und Multiple-Choice-Optionen? Das Gesundheitswesen stelle eine Analogie zu dieser Praxis dar. Für viele Menschen sei Gesundheitsversorgung kaum mehr als Krankheitskontrolle oder Verletzungskontrolle. Bis man todkrank oder schwer verletzt werde würde, kümmere man sich nicht um die Gesundheitsfürsorge. Dies sei eine schrecklich kurzsichtige und letztlich selbstzerstörerische Herangehensweise an die Gesundheit. Paul Gorrell (2010) meint zu Business Ethik 1.0, dass angesichts der Skandale von Enron, Tyco und WorldCom zu Beginn des Jahres 2000 die Unternehmen in eine defensive Position gebracht werden würden, in der sie gezwungen wären, neue Erwartungen zu erfüllen, die sich auf den Schutz der Aktionäre konzentrierten. Mit dem Sarbanes-Oxley Act von 2002 wurden Standards für die Rechnungslegung und Berichterstattung geschaffen, die neue Maßstäbe für Transparenz ­setzen und einführen. Aufgrund dieser Gesetzgebung konzentrierten sich die Organisationen sorgfältig auf die Einhaltung der Vorschriften, um sicherzustellen, dass sie Risikoexpositionen und damit verbundenen potenziellen Strafen umgehen könnten. Dies sei ein reaktionärer und schützender Ansatz, um als Organisation über den Tellerrand zu blicken. Dieser Ansatz stärke weder das Vertrauen der Öffentlichkeit in Marken noch erhöht er den Aktienkurs oder die Kundenloyalität, denn der hauptsächliche ethische Fokus liege mehr auf der Begrenzung schlechten Verhaltens als auf der Förderung guten Verhaltens.

2.8

Was ist Business Ethik 2.0?

Für David Gill (2010) konzentriert sich Business Ethik 2.0 nun mehr auf Mission, Vision und Unternehmenskultur. Natürlich müssten Unternehmen (und MBA-Programme) über effektive, bewährte Verfahren zur Problemlösung verfügen, wie etwa Troubleshooting, Krisenmanagement und Problembewältigung. Selbst in den besten Unternehmen komme

2.8  Was ist Business Ethik 2.0?

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es zu Schäden. Wir müssten diesen Teil der Ethik besser als je zuvor angehen. Aber wenn das alles sei, was wir tun, seien wir dazu verdammt, uns einem endlosen Strom von Problemen zu stellen. Business Ethik 2.0 werde jedoch proaktive Schritte unternehmen, um die Mission und die Vision zu klären. Warum haben wir diese Firma gegründet? Warum bleiben wir nicht alle zu Hause und arbeiten an unseren eigenen Interessen? Was ist das Produkt oder die Dienstleistung, mit der wir zusammenarbeiten, um ein so außergewöhnliches Niveau an Exzellenz zu erreichen, dass unsere Kunden es kaum erwarten können, uns für noch mehr zu bezahlen? Was ist die positive Veränderung, die wir im Leben unserer Kunden bewirken wollen? Nachdem wir die Mission und die Vision geschärft und dafür gesorgt haben, dass sie selbstbewusst die grundlegenden menschlichen Triebe zur Innovation und als Hilfe für andere nutzen, stelle sich die nächste Frage: Welche Art von Kultur und Unternehmenscharakter brauchen wir, um unser Unternehmen zu fördern, um es bestmöglich in die Lage zu versetzen, dessen Mission und Vision zu verwirklichen? Ergo: Welche Handlungsrichtlinien sollten wir formulieren, damit wir alle unsere Arbeit auf die effektivste und beste Art und Weise verrichten? Um Mitarbeiter dazu zu bringen, ihre ethischen Leitlinien und Kernwerte zu vertreten, müsste ein Unternehmen seine gesamte Belegschaft von oben bis unten mobilisieren, um gleichsam Ethik und Werte herauszufinden, die mit der Mission und Vision in Einklang stehen. Business Ethik 2.0 beinhalte auch die Sicherstellung, dass die Kommunikation konstant, klar und überzeugend sei und gewährleiste, dass die Ausbildung kooperativ und praktisch ist. Natürlich könne auch ein sehr geeignetes physisches Produkt von einem Bus oder einem Virus getroffen werden, der aus dem Nichts auftaucht. Es gebe keine Garantien! Und so könnte auch ein Unternehmen alles im Einklang mit Business Ethik 2.0 tun und trotzdem von einem gierigen Schurkenführer oder einem Crash am Markt gestürzt werden. Auch ethisch gesunde 2.0-Unternehmen hätten keine Garantie für Geschäftserfolg oder ethische Immunität. Es brauche immer noch ein brillantes Produkt, einen zeitgemäßen Markt und andere Faktoren, um erfolgreich zu sein. Wahre Ethik und Werte würden das unzulängliche Management nicht abschwächen. Aber eine solide 2.0-Ethik erhöhe und optimiere die Chance eines Unternehmens, sich schnell von schwerwiegenden ethischen Problemen zu erholen, sie gar ganz zu vermeiden, was es dem Unternehmen erlaube, sich auf die Ausführung von Geschäftsprozessen und Exzellenz zu konzentrieren. Missions- und kulturgesteuerte Ethik sei die klassische Art und Weise, ein Unternehmen zu führen. Es gehe auf Aristoteles zurück, nämlich den Dekalog, sprich die allgegenwärtigen traditionellen Gemeinschaften und Organisationen im Laufe der Zeit. Unternehmen müssten die Abstraktion und die trockene Undurchführbar-

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2  Das Problem

keit des ethischen Ansatzes der Moderne sowie den chaotischen und unzusammenhängenden Fokus der Postmoderne im Umgang mit diesem und jenem Problem überwinden. Sein Appell: Wir brauchen Business Ethics 2.0. Paul Gorell (2010) meint, dass trotz der wahrgenommenen ethischen Schwächen bestimmter Unternehmen oder Branchen es viele Indikatoren dafür gebe, dass sich die Ethik weiterentwickle, um Organisationen, Führungskräften und Talentmanagern spannende Möglichkeiten zu bieten. Wir würden uns auf ein Stadium zubewegen, wo Ethik in einem ganzheitlicheren Rahmen verstanden wird, mit einer sich überschneidenden Verbindung zwischen Mitarbeiter und Verbraucher. Diese Verbindung finde auf Markenebene statt; wie diese Marke von denjenigen wahrgenommen werde, die Produkte und Dienstleistungen kaufen, und von denjenigen, die die Belegschaft des Unternehmens bilden. Seiner Meinung nach bewegen wir uns in Richtung eines neuen Zeitalters der Ethik in der Art und Weise, wie wir Geschäfte machen und fördern folglich das Verhalten von unseren Führungskräften. Das liege nicht daran, dass wir Weltverbesserer sein wollten, sondern daran, dass Gutes zu tun auch ein gutes Geschäft sei. Er möchte die folgenden Punkte berücksichtigt wissen: • Ethische Organisationen bauen Marktplatzloyalität auf. Die Verbraucher kaufen eher Produkte und Dienstleistungen, wenn sie von Unternehmen angeboten werden, die auch das soziale Gut fördern und sich für dieses engagieren, indem sie die Lebensumstände der Menschen, der Erde und ihrer Ressourcen verbessern. • Ethische Organisationen ziehen Talente an. Wir befinden uns zwar in einem Zustand hoher Arbeitslosigkeit, aber die Organisationen wollen immer noch die Besten der Besten. Die besten Mitarbeiter sind nach wie vor wertvoll im Markt. Das soziale Gewissen wirkt als Magnet für viele Stars und Nachwuchsführungskräfte der jüngeren Generation. • Ethische Organisationen engagieren Mitarbeiter, fördern die Mitarbeiterbindung und steigern somit die Produktivität. Die Menschen sind stolz, wenn ihre Marke für etwas steht, das über die traditionellen Vorstellungen von Gewinn und Umsatz hinausgeht. Zwei Beweise, die für die Entwicklung hin zu einem Engagement für Ethik am Arbeitsplatz sprechen, seien die steigende Zahl an Unternehmen, die sowohl Programme zur Steigerung sozialer Verantwortung als auch Programme zur Nachhaltigkeit offerieren. Die Bemühungen um die soziale Verantwortung von Unternehmen beziehen in Organisationen die Ethik mit ein, um eine Angleichung zwischen dem Gemeinwohl und dem Geschäftsbetrieb zu erreichen. Dazu gehöre oft auch das bewiesene Engagement für soziale Zwecke, wobei die Organisation Ressourcen für bestimmte Veranstaltungen

2.8  Was ist Business Ethik 2.0?

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oder Gelegenheiten bereitstellt. Dementgegen beinhalte echte soziale Verantwortung von Unternehmen eine viel stärker integrierte Anstrengung, bei der Geschäftsabläufe, Mitarbeiterentscheidungen, die von der Organisation unterstützt würden, Teil des Bestrebens seien, eine kulturelle Vision zu verwirklichen. Nachhaltigkeit sei insofern ähnlich, als dass sie versuche, einen integrierten Fokus auf unseren Planeten, Profit und Leistung zu vereinen. Hier engagieren sich Organisationen für grüne Arbeitsweisen, die gemessen, belohnt und nachgewiesenermaßen gewinnbringend sind.

2.8.1 Ethik und Talentmanagement Im neuen Zeitalter der Ethik können talentierte Manager einen signifikanten Wertbeitrag leisten, indem sie die Fähigkeit einer Organisation vertiefen, soziale Verantwortung zu übernehmen und darüber hinaus, das zu praktizieren, was die Unternehmensführung predigt. Swailes (2013, S.  32) hat z. B. drei Punkte besonders herausgearbeitet: • Integration ethisch fundierter und wertebasierter Führungsqualitäten in Kompetenzmodellen. Wir müssen vorsichtig sein, da viele ethische Begriffe wie Mut und Integrität schwer zu messen und noch schwerer zu bestätigen sind. Kompetenzmodelle, die Begriffe im Zusammenhang mit sozialer Verantwortung beinhalten, können für jeden Aspekt von Führung und effektiverer Teamarbeit einen signifikanten Wert darstellen. • Schaffung von Entwicklungserfahrungen, die in die aktuelle Arbeit von Führungskräften und Mitarbeitern eingebettet sind. Ethik wird typischerweise durch Fallstudien vermittelt, aber die aktuellen Herausforderungen der Mitarbeiter bieten unglaubliche Szenarien, in denen man lernen kann, wie man im Einklang mit seinen Werten arbeitet und gleichzeitig seine Fähigkeiten nutzt. Während „Action Learning“ für die Führungskräfteentwicklung effektiv sein kann, wenn es programmatisch angeboten wird, wie z.  B.  High-Potential-­ Entwicklung, ist es noch effektiver, wenn es in intakten Teams präsentiert wird, damit sie vor dem Hintergrund konkurrierender Werte, Ideen und Strategien mit echten Herausforderungen gemeinsam ringen können. • Integration sozialer Ursachen in den Lern- und Entwicklungsraum. Wir können großes Führungsverhalten und Engagement für Werte vermitteln, indem wir zusätzliche arbeitsbezogene Aktivitäten als Futter für das Lernen einsetzen. Der Aufbau ethischer Organisationen erfordere aber eine spezifische Zusammenarbeit mit den Führungskräften, die das Unternehmen repräsentieren und als Verfechter seiner Kultur auftreten.

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2  Das Problem

CSR (Corporate Social Responsibility) wurde zwischenzeitlich von 1.0 auf 2.0 hochgestuft. Wayne Visser (2011, S.  7) berichtet über die Geburtsstunde von CSR 2.0. Im Mai 2008 war ihm klar, dass dieses evolutionäre Konzept des Web 2.0 viele Lehren für CSR nach sich gezogen habe. Seine ersten Gedanken hatte er in einem kurzen Artikel im Internet unter dem Titel CSR 2.0: The New Era of Corporate Sustainability and Responsibility 2008 veröffentlicht. Das Feld der sogenannten CSR, Sustainability, Corporate Citizenship und Business Ethik leite eine neue Ära im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Gesellschaft ein. Vereinfacht ausgedrückt: Wir verlagern uns von dem alten CSR-Konzept – dem klassischen Begriff der Corporate Social Responsibility, den den CSR 1.0 nenne – zu einem neuen, integrierten Konzept – CSR 2.0, das genauer als Corporate Sustainability and Responsibility bezeichnet werde. Die Anspielung auf Web 1.0 und Web 2.0 sei kein Zufall. Die Transformation des Internets durch das Aufkommen von Social Media Netzwerken, User Generated Content und Open-Source-Ansätzen sei eine passende Metapher für die Veränderungen, die das Unternehmen erlebt, wenn es beginnt, die Rolle in der Gesellschaft neu zu definieren. Wenn wir die gegenwärtige Situation betrachten, hat selbst Business Ethik 2.0 mit CSR 2.0 nicht dazu geführt, dass die Wirtschaft sich signifikant einen neuen ethischen Ansatz lebt, der nachhaltige moralische Einstellungen beinhaltet, die in konstantem, ethischem Verhalten münden. Offensichtlich fehlt noch etwas! Luk Bouckaert nennt es „Spirituality: The Missing Link in Business Ethics.“ (Bouckaert 2015, S. 15–26) Es gibt eine Menge Material über Spiritualität in der Wirtschaft. Dennoch glaube ich, Bouckaert sagt es am besten, indem er den Begriff Spiritualität mit Führung, sozialer Verantwortung und Nachhaltigkeit verbindet und zeigt, dass Spiritualität nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist, sondern auch ein öffentliches Gut, das immanent ist, um dem Wandel in den Institutionen zu nutzen. Seiner Meinung nach können wir natürlich das ethische Defizit als Mangel an Geschäftsethik erklären und die Lösung in mehr Geschäftsethik und mehr CSR-Programmen sehen. Er befürchtet aber, dass diese Strategie des More of the Same scheitern wird, wenn die Anstrengungen in der Business Ethik nicht durch eine kritische Reflexion über die Mechanismen einer selektiven Blindheit unterstützt werden.

2.9

Was ist Business Ethik 3.0?

Business Ethik 3.0 ist die Weiterentwicklung und der Fortschritt von Business Ethik 2.0. Es ist nicht nur ganzheitlich, es ist eine Geschäftsethik integraler Natur. Inte­ gral hinsichtlich dessen, was wir bisher gelernt und erlebt haben. Es beinhaltet

2.10  Unser Ego beherrscht den Verstand

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objektive Grundlagen, zahlreiche philosophische Richtungen, die dem aristotelischen Ansatz folgen, theologische Überlegungen vieler verschiedener Religionen und Tiefenpsychologie sowie die Spiritualität der Weisheitslehren, anstelle des EgoGeistes. All diese Einflüsse sind das Fundament, auf dem die erste und zweite Iteration der Ethik aufgebaut wurde, was zur dritten Iteration, Business Ethik 3.0, führte. Die Schwächen dieser vorangegangenen Phasen werden erkannt und durch den neuen Rahmen behoben. Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung der wesentlichen Weisheit von einer integralen Ethik zu Business Ethik 3.0 ist eine exzellente Ausbildung und langjährige Erfahrung in der Unternehmensführung. Ohne praktische Erfahrung können Menschen, die im Wirtschaftssektor arbeiten, durch theoretische Aussagen abgelenkt werden. Jedoch fehlt es ihnen am nötigen Urteilsvermögen, um sie angemessen anzuwenden, was allerdings das Risiko erhöht, den Mangel mit selbstsüchtigem, unethischem Verhalten zu kompensieren. Dank des Internets haben wir einen noch nie da gewesenen Zugang zu einem Verständnis aller Aspekte, die Business Ethik 3.0 ausmachen. Es ist ein idealer, neuer ethischer Ansatz für die derzeitige Digitalisierung und Globalisierung in der Wirtschaft.

2.10 Unser Ego beherrscht den Verstand Unser Ego-dominierter Verstand ist derart präsent, dass wir uns von unseren Quellen getrennt haben. Von unseren wichtigsten Wurzeln. • • • • •

Wir haben unser Ego von unserem Selbst getrennt. Wir haben unseren Geist von unserer Seele getrennt. Männer haben ihre Männlichkeit von ihrer Weiblichkeit getrennt Frauen haben ihre Weiblichkeit von ihrer Männlichkeit getrennt. Wir haben Sophia, die göttliche Weisheit, unter Schichten von Materialismus begraben. • Wir wollen das Gute umarmen, aber wir haben unser Leben und unsere dunkle Seite der Seele verdrängt. • Wir haben unseren Geist von unserem Verstand und unserer Seele getrennt. • Wir haben unsere Verbindung zum Mystischen abgeschnitten. Diese Trennungen sind eine Zusammenfassung der Gründe, warum so viele Versuche, einen neuen ethischen Ansatz zu entwickeln, gescheitert sind. Um erfolgreich zu sein, müssen wir die Lücke zu unserer Seele und unserem Geist (Spirit) schließen. Dies kann durch die Entwicklung eines neuen integralen Ethikansatzes erreicht werden.

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2  Das Problem

2.11 Integrative Business Ethik Integrale Geschäftsethik hat einen entscheidenden, aktiven und bewussten „inte­ grativen“ Ansatz. Dieser ethische Ansatz trennt nicht, sondern integriert und verschmilzt. Es schließt Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, Subjekt und Objekt, männlich und weiblich, Jung und Alt, Ego und Selbst, Ich-Geist und Vernunft, Geist/Spirit, Lieferanten und Kunden, Unternehmen und Aktionäre und Führungskräfte und Mitarbeiter ein. All diese scheinbaren Gegensätze sind lediglich Polaritäten einer einzigen Realität, die nicht beschreibbar, sondern nur erlebbar sind. Es geht nicht um das Entweder-oder, sondern um das Sowohl-als-auch. Die Erfahrung der Vernetzung, die von der modernen Quantenphysik und seit Jahrtausenden von den Mystikern weiterentwickelt und vertieft wird, integriert die scheinbaren Gegensätze in einer einzigen Einheit. Diesen verbindenden Prozess bezeichnet Jung als Individuation und Coincidentia oppositorum, die auf natürliche und nahtlose Weise zu moralischen und ethischen Entscheidungen und Praktiken führen. Um eine Veränderung in der Einstellung und den Entscheidungen der Unternehmer und Manager in der Geschäftswelt herbeizuführen, müssen wir zuallererst ihre Sprache sprechen und Empathie für die verschiedenen gegensätzlichen Anforderungen zeigen. Wir müssen auch Business Cases präsentieren, um deutlich zu machen, was wir meinen. Der Autor hat auf seinen umfangreichen Erfolg in der Geschäftswelt zurückgegriffen, um zu erklären, wie die Grundsätze der Business Ethik 3.0 in bestimmten Bereichen der Wirtschaft angewendet werden können, um das Verständnis und die Wertschätzung des Ansatzes zu fördern. Dieses Buch ist keine Abhandlung über theologische, philosophische oder spirituelle Lehren. Die Tiefenpsychologie ist eine weitaus verständlichere Einflugschneise in der Wirtschaft als die Spiritualität. Viele Manager haben oder sind auf dem besten Weg, schwere psychische Herausforderungen zu meistern, und sind in ihren Positionen nur noch wettbewerbsfähig, indem sie auf Vergütungen und Pro­ gnosen zurückgreifen. Sie leiden in einer Welt, in der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (VUCA – Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) noch nie so weitverbreitet waren und in der disruptive Innovationen alte Technologien bei der Schaffung neuer Technologien zerstören. Auch wir selbst sind immer volatiler, unsicherer, komplexer und mehrdeutiger und als Individuen projizieren wir diese Qualitäten auf das Kollektiv. Wir sind der Grund für dieses Dilemma, aber zum größten Teil erkennen oder akzeptieren wir diese Realität nicht. Unsere bequeme Weltanschauung ist, dass immer „andere“ verantwortlich sind, aber es ist unsere Verantwortung als Individuen, die Welt, in der wir leben, zu verändern und zu verbessern. Diese Veränderung wird Wachstum durch unsere eigene psychische Individuation erfordern, die entweder zu gleichzeitiger oder nachfolgender spiritueller Erweiterung führt.

2.11 Integrative Business Ethik

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Die Individuation, also die Entwicklung zur ganzen und nicht teilbaren Person, die durch die Tiefenpsychologie gefördert wird, ist ein Transformationsprozess, bei dem das persönliche und kollektive Unbewusste ins Bewusstsein gebracht wird. Oft durch Träume oder aktive Imaginationspraktiken, um in die gesamte Persönlichkeit aufgenommen zu werden. Es ist ein notwendiger Prozess für die Inte­ gration der Psyche. Es unterstützt den inneren Frieden und eine bessere Work-­LifeBalance, die zu mehr Gelassenheit, Humor, Harmonie, Mitgefühl, Nächstenliebe und letztlich Liebe überhaupt führt. Bloße Appelle, das „Richtige“ zu tun, helfen dabei eher wenig. cc

„Ethik bedeutet nicht nur moralische Appelle, sondern auch moralisches Handeln.“ (Küng et al. 2010, S. 40)

Dieses Buch enthält konkrete Empfehlungen, in Ethik und Moral durch inneres Wachstum und Individuation hineinzuwachsen. Wenn wir die Aufmerksamkeit der Manager durch eine Betrachtung der Tiefenpsychologie gewinnen können, dann können sie auch ohne zu wissen, was Geist (Spirit) wirklich bedeutet, empfänglicher für den Bau von Brücken zu ihrer Seele werden. Ja, es kann Jahre dauern, bis die Meditation so praktiziert wird, bis ein erhebliches inneres Wachstum erfahren wird, und nein, viele Fachleute werden sich wahrscheinlich nicht die Zeit nehmen in ihrer Sucht nach Leistung und Erfolg, um diese Bemühungen zur Selbstverbesserung zu unternehmen. Täglich warten viele Ablenkungen auf sie. Aber wenn sie sich psychisch angeschlagen fühlen und ihre Leistung auf dem Spiel steht, dann, und vielleicht nur dann, werden sie zuhören, üben und sich verändern. Wenn nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie aus dem Gleichgewicht und aus dem Geschäft sind. Tiefenpsychologie, die die Individuation fördert, kann die Vorbereitung auf die Einleitung eines spirituellen Trainings oder die notwendige Unterstützung für den Einstieg in meditative Praktiken sein. Zumindest unterstützt es unsere Bemühungen, einen spirituellen Weg zu erforschen, wenn der Ego-Verstand seinen dunklen Einfluss ausübt. Sie unterstützt die Bemühungen, auf dem richtigen Weg zu bleiben. Innerer Friede und eine befriedigende Work-Life-Balance, die zu größerer Gelassenheit, Humor, Harmonie und Liebe führt, werden die Belohnung sein und uns ermutigen, das neue Ethos durch moralische Entscheidungen anzunehmen. Business Ethik 3.0 ist mehr als Ego-Geist und moralisches Denken, mehr als Philosophie und Religion, mehr als Psychologie und Spiritualität, mehr als Gesetze und Richtlinien. Es ist die neue integrale und integrative Ethik, die all diese Quellen, die sich in uns und durch uns in unserem Leben und in der Wirtschaft manifestieren wollen, enthält und verbindet. Die gegenwärtige Welle von disruptiven Innovationen, die zu disruptivem ethischen Verhalten führen, zieht ein dringendes Bedürfnis nach Verständnis und Übernahme der integralen Ethik nach sich.

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2  Das Problem

Die neue integrale Business Ethik 3.0 geht aus einem integralen Bewusstsein hervor, dass die alte, auf mentalem Bewusstsein basierende Ethik mit all ihren Erfolgen berücksichtigt und sich gleichzeitig um den Schaden kümmert, der durch die Unterdrückung und Verdrängung der dunklen Seite sowie durch die psychologische und spirituelle Unreife des großen Teils der Menschheit entsteht. Was einst im archaischen, magischen und mythischen Bewusstsein vereinigt war, wurde in der Förderung des mentalen Bewusstseins getrennt und muss nun mit Mühe im integralen Bewusstsein wiedervereinigt werden (Gebser 1986). Ethik kann ein sehr mächtiger Faktor in der Wirtschaft sein. Ethisches Handeln kann zu einem starken Wettbewerbsvorteil führen. Warum also verstehen so wenige Menschen dieses Prinzip? Pete Geissler und Bill O’Rourke, die Autoren von The Power of Ethics – The Thoughtful Leader’s Model for Sustainable Competitive Advantage, geben eine Antwort (Geissler und O’Rourke 2015). Ethik, oder ihr Mangel stecke ihre facettenreiche Nase in fast jede zwischenmenschliche Aktivität. Aber leider verstehe und praktiziere nicht jeder diese Binsenweisheit und allzu wenige der Leute, die unsere Institutionen leiten, seien sich der Notwendigkeit der Ethik bewusst und hätten ethische Praktiken zu einem integralen Bestandteil ihrer alltäglichen Aktivitäten gemacht, obwohl viele es wagen zu sagen, dass sie das tun, was natürlich offensichtlich dennoch unethisch ist. Wenn also ethisches Verhalten weithin als notwendig angesehen würde und für Einzelpersonen und Institutionen von Vorteil sei, warum praktiziert es dann nicht jeder ständig? Die Antwort sei trügerisch einfach: Zu viele Menschen, – leider und zu ihrem eigenen Nachteil – seien sich der Ethik nicht bewusst, ignorieren die Notwendigkeit oder die positiven Folgen ethischen Verhaltens. Auf der anderen Seite der Medaille seien sich zu viele Menschen, – leider und zu ihrem eigenen Nachteil – nicht der negativen Folgen unethischen Verhaltens bewusst. Sie sind geblendet von Egoismus, Gier und dem Bedürfnis nach Kontrolle über andere. Wir leben in einer lärmenden Welt. Eine eklatante und unerbittliche Kakofonie und ein ständiger Zeitdruck würden uns zwingen, Entscheidungen zu treffen, sie buchstäblich zu erzwingen, ohne ernsthaft darüber nachzudenken, was richtig ist. Die alte dualistische Ethik hat zu einer skrupellosen Zahl unmoralischer Entscheidungen und unethischer Praktiken in der Wirtschaft beigetragen. Unterdrückung und Verdrängung sind die Gründe dafür und Projektionen auf andere sind ihr Ergebnis. Durch wachsendes egozentrisches Verhalten werden die Menschen immer mehr destabilisiert. Wir haben nicht mehr die weise und erfahrene Elite, die sowohl dem Einzelnen als auch dem Kollektiv rät, sich weise zu verhalten. Religion und Philosophie sind nicht mehr die Lösung. Globalisierung und Digitalisierung verschärfen die Probleme exponentiell.

2.12 Nachhaltiges Handeln ist lukrativ

cc

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Wir haben die Verbindung zu unserer Seele verloren, die der Wegweiser zu unserem Unbewussten ist.

Neumann (1973, 1990) plädiert für eine neue Ethik, in der der Kontakt zur Seele wieder hergestellt wird und in der die dunkle Seite akzeptiert, integriert und kon­ trolliert wird; und das alles im Bewusstsein und im Verhalten des Individuums.

2.12 Nachhaltiges Handeln ist lukrativ Es ist 100 Jahre her, seit John Maurice Clarks Artikel The Changing Basis of Economic Responsibility im Journal of Political Economy (Clark 1916, S. 209–229) veröffentlicht wurde. Dennoch gibt es keine überwältigenden Beweise für die weite Verbreitung und anschließende Anwendung seiner These, dass verantwortungsbewusste Geschäftspraktiken zu einer höheren Rentabilität führen. Die Suche in der einschlägigen Literatur zeigt, dass es in der Tat einige wenige Beispiele von Unternehmen gibt, die das Licht der Welt erblickt haben und ethisch verantwortliches Verhalten erfolgreich in ihren unternehmerischen Entscheidungsprozess einbeziehen. Wo dieser Einstellungswandel stattgefunden hat, hat er zwangsläufig zu höheren Gewinnen geführt. Die Lehren zukunftsorientierter Organisationen, die das moralische Bewusstsein des 21. Jahrhunderts angenommen haben, wurden weitgehend ignoriert. Ein Bewusstsein, das als das einzig praktikable Modell anerkannt wurde, das es uns ermöglichen wird, als Weltgesellschaft voranzukommen – ignoriert von den meisten Politikern, religiösen Führern und Führungskräften im Wirtschaftssektor. Es ist an der Zeit, den unhaltbaren und unmoralischen Satz zu überdenken, dass Rücksichtslosigkeit und Verantwortungslosigkeit gegenüber anderen auf der Suche nach mehr Rentabilität ein akzeptables Geschäftsmodell ist, und es ist zu prüfen, ob dieser Ansatz tatsächlich zu einer nachhaltigen Steigerung der Rentabilität führt. Es ist an der Zeit, dass die Ökonomie der Wirtschaft sich auf den Weg macht, Verantwortung nicht nur für das Endergebnis zu übernehmen, sondern auch für die Moral der Anwendung von Methoden, die bei der Erzielung von Gewinnen angewandt werden. Wer Autorität über andere hat, muss auch Verantwortung für die­ jenigen übernehmen, über die seine Entscheidungen oder das Ausbleiben selbiger Auswirkungen haben, seien es nun Mitarbeiter oder Kunden. Und zwar ohne Ausreden! Diese Verantwortung beinhaltet humanistische, moralisch vertretbare Entscheidungen. Es kann in der heutigen vernetzten Welt keine Entschuldigung dafür geben, sich weiterhin anachronistischen Geschäftspraktiken zu verschreiben, die

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2  Das Problem

nicht die mittlerweile allgemein bekannte direkte Verbindung zwischen einer respektierten und geschätzten Belegschaft und einer Steigerung der Produktivität, der Mitarbeiterzufriedenheit und der Mitarbeiterbindung umfassen. In der heutigen Zeit sind Führungskräfte und Mitarbeiter gemeinsam für die finanzielle Tragfähigkeit eines Unternehmens verantwortlich. Dies ist jedoch nur in dem Maße möglich, wie die Mitarbeiter eine verantwortungsbewusste und realistische Stimme bei ­Geschäftsentscheidungen haben, die ihr Wohlbefinden und ihre Fachkompetenz betreffen. Führungskräfte haben je nach Position eine weitgehendere Palette an Verantwortlichkeiten als einzelne Mitarbeiter. So ist der Einfluss derer in den obersten Führungsetagen eines Unternehmens meist größer als der eines Mitarbeiters. Die Führungskräfte spielen für den letztendlichen Erfolg eines Unternehmens eine entscheidende Rolle. Während die verantwortungsbewusste Führung von Mitarbeitern zu einer erkennbareren Priorität bzw. Realität geworden ist, als dies seit Jahrhunderten der Fall war, hat ironischerweise das unverantwortliche Verhalten von Führungskräften in jüngster Zeit einige der größten Schäden verursacht, die jemals im Rahmen von Kollateralschäden bei Investoren und Kunden aufgetreten sind. Trotz egoistischer Praktiken, die allzu oft den wahren Wert der Arbeitnehmer nicht anerkennen und belohnen, dürfen wir es nicht versäumen, die Fortschritte im Bereich des ethischen Managements und die daraus resultierenden Vorteile für Einzelpersonen, Unternehmen, Länder und in begrenztem Maße auch für die Weltwirtschaft anzuerkennen. Es gab noch nie eine Zeit in der Geschichte, in der materieller Reichtum so leicht zugänglich war wie heute. Die seelische Not scheint jedoch immer größer zu werden. Vielleicht ist es an der Zeit, die Bedeutung der wirtschaftlichen Verantwortung neu zu definieren. Clarks Artikel hat nicht viel Aufmerksamkeit in Bezug auf praktische Entscheidungen über die Wirtschaft erhalten, aber viele der Argumente, die er vorbringt, sind auch heute noch relevant. Es mag klug sein, sie bei der Formulierung eines zukünftigen Konzepts der Ethik in der Wirtschaft anzusprechen. Ich begann, dieses Buch als Antwort auf eine Initiative der Springer Book Series, Studies in Economic Ethics and Philosophy, zu schreiben, die ich als wichtige Gelegenheit erkannte, eine Diskussion über die Grundlagen und die Bedeutung des Konzepts der ökonomischen Verantwortung aus heutiger Sicht mit Clarks These zu vergleichen. Die Freie Universität Berlin und das Institut für Globale Ethik der Universität Tübingen waren federführend an der Springer-Initiative beteiligt. Inzwischen ist das Buch Economic Responsibility – John Maurice Clark – A Classic on Economic Responsibility (Haase 2017) erschienen.

2.13 Tiefenpsychologie schafft neue Orientierung

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Dieses Buch soll nun das akademische Material unterstützen, das die Springer-­ Initiative in Betracht gezogen hat. Es ist eine willkommene und spannende Gelegenheit, die persönliche Perspektive zu präsentieren, die ich in 40 Jahren Berufserfahrung, 30 Jahren Zen-Meditation und den Kenntnissen und Erfahrungen der Tiefenpsychologie in den letzten 15 Jahren unter der Leitung des Jungianers Walter Schwery in Bremgarten, Bern, Schweiz, erworben habe. Dieses Zeitalter der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Unklarheit, in dem wir uns befinden, ist reif für eine Überprüfung von Ethik und Moral in der Geschäftswelt.

2.13 Tiefenpsychologie schafft neue Orientierung Während der 100 Jahre, seit C. G. Jung sein Rotes Buch geschrieben hat, hatten wir reichlich Gelegenheit zu verstehen, warum frühere ethische Normen, die auf jüdisch-­christlichen und griechischen Quellen basierten, es versäumt haben, Managern, die verantwortungsbewusst handeln wollen, eine Orientierung zu geben, um moralisch vertretbare und nachhaltige wirtschaftliche Entscheidungen zu gewährleisten. Ein materialistischer, mechanistischer Ansatz, wenn es um das Leben und die Bemühungen von Menschen geht, ist eine Sackgasse, die zum Scheitern verurteilt ist. Was wird aus uns werden, wenn unsere bewundernswertesten menschlichen Qualitäten, einschließlich unserer Fähigkeit zu denken, vernünftig zu sein, Informationen und Systeme zu analysieren, zu synthetisieren und zu manipulieren, als Vorläufer des Scheiterns wahrgenommen werden? Denn wir können sicher sein, dass sie allesamt scheitern werden, wenn das menschliche Element ignoriert wird. Empathie, Mitgefühl, Chancengleichheit und Wertschätzung sind allesamt wirtschaftlich sinnvolle Parameter, die in jede wirtschaftliche Gleichung einbezogen werden müssen. Wir müssen dringend sowohl unsere Einstellung als auch unseren Ansatz ändern. Es besteht eine unmittelbare und dringende Notwendigkeit für einen neuen ethischen Ansatz. Ich glaube, dass die Tiefenpsychologie von C. G. Jung und Erich Neumann, die die Gründe für das egozentrische Verhalten von Individuen veranschaulicht und erklärt, besser geeignet ist, einen neuen ethischen Ansatz zu entwickeln als die Sozialpsychologie, die Psychologie von S.  Freud, die Gestalttherapie von Fritz Perls, der Behaviourismus, die Humanistische Psychologie und die Kognitive Psychologie. Die Tiefenpsychologie bezieht sich auf die Weiterentwicklung von Theorien und Therapien, die von Pierre Janet, William James und Carl Gustav Jung zusam-

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2  Das Problem

men mit Freud entwickelt wurden; Methoden, die die Beziehung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten erforschen und somit sowohl die Psychoanalyse als auch die Jung’sche Psychologie umfassen. Der psychoanalytische Ansatz kann uns zu einem Bewusstsein für die Notwendigkeit und Wertschätzung führen, zusammen mit einem möglichen Ansatz für die Entwicklung einer ganzheitlichen, ethisch einwandfreien Unternehmensführung, die gleichzeitig wirtschaftlich gesund und vertretbar ist.

2.14 C  larks Analyse und Vorschläge für das 20. Jahrhundert John Maurice Clark (1884–1963) war ein amerikanischer Ökonom, dessen Arbeit die Strenge der traditionellen Wirtschaftsanalyse mit der Haltung eines Institutionalisten verband. Clark war ein Pionier bei der Entwicklung der theoretischen Grundlagen der modernen keynesianischen Ökonomie, einschließlich des Konzepts von ökonomischen Multiplikatoren. Aus Clarks Sicht (Clark 1916) haben wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Ökonomie der Verantwortungslosigkeit geerbt. Als Reaktion darauf fordert er eine Ökonomie mit Verantwortung als Basis, die eine dynamische Interaktion mit der Geschäftsethik überhaupt erst möglich macht. Es sei an der Zeit, das Pendel von einem engen Individualismus zu Solidarität und sozialer Gesinnung, von persönlicher Verantwortung zu sozialer Verantwortung zu wandeln. Dies soll nicht bedeuten, dass die individuelle Verantwortung von geringerer Bedeutung und die kollektive Verantwortung von größerer Bedeutung ist. Vielmehr muss der Umfang der Eigenverantwortung breiter werden als je zuvor. Unternehmer müssen die Freiheit haben, moralisch akzeptabel, mutig, eigenverantwortlich und großzügig zu handeln. Ihre Entscheidungen werden daher weitreichendere Auswirkungen haben als je zuvor und sich positiv oder negativ auf das gesamte System auswirken. Die Moral in der Geschäftspraxis ergibt sich nicht aus der bloßen Befolgung verbindlicher Gesetze. Man muss es sich viel dynamischer und interaktiver vorstellen. Clark kritisiert, dass die liberale Ökonomie allzu oft dahin tendiert, Verantwortung zu leugnen. Er warnt davor, nach darwinistischen Prinzipien zu handeln, wo es zwangsläufig einen Gewinner auf Kosten eines Verlierers gibt. Wir brauchen in der modernen Welt nicht mehr Stärke, sondern viel eher Weisheit. Clark hat vorausgesehen, dass Menschen in der modernen Gesellschaft auf neue und bisher unvorhergesehene Weise zunehmend voneinander abhängig werden. Er war ein Befürworter von Leistungen wie Mindestlohn, Arbeitslosenversicherung, Pensionsplänen und einer Mutterrente, die auch heute noch politikrelevant sind. Er erkannte, dass

2.14 Clarks Analyse und Vorschläge für das 20. Jahrhundert

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Arbeitslosigkeit eine Krankheit unseres Wirtschaftssystems ist, während sie viele immer noch falsch, nämlich als eine Frage der persönlichen Fitness und/oder der Arbeitsunwilligkeit darstellen. Clark hat sich mit modernen Umweltschäden auseinandergesetzt und Führungspersönlichkeiten aufgefordert, mehr Verantwortung für Umweltfragen zu übernehmen. Er war seiner Zeit voraus, als er über anstehende Klimaveränderungen und die dringende Notwendigkeit, proaktiv zu handeln, diskutierte. Clark erklärte auch, was passieren kann, wenn das Gleichgewicht von Angebot und ­Nachfrage nicht aufrechterhalten wird, und wie dies zu einem Chaos im Bankensystem führen würde. Er hat sogar vorausgesehen, wie dieser Zusammenbruch der Stabilität der Banken zu einer weltweiten Panik in den Finanzsystemen führen würde. Es gibt keinen Mangel an sozialen und ökologischen Ursachen, die aufgrund der Fortschritte in Wissenschaft und Industrie offensichtlich und dringend geworden sind. Es wurde lange Zeit gedacht, dass es einfacher wäre, die Einstellungen der Menschen zu ändern, als die Umwelt zu verändern, aber Clark plädiert für Veränderungen in der Umwelt, welche simultan Veränderung in den Menschen voraussetzt. Auch hat er große Bedenken wegen der kurzsichtigen Einstellung, dass die am wenigsten qualifizierten Mitarbeiter entlassen oder gefeuert werden, wenn ein Unternehmen seine Gewinne verbessern will. Er schlägt vor, dass das Angebot von Schulungen zur Verbesserung ihrer Fähigkeiten sowohl für Arbeitnehmer als auch für Arbeitgeber vorteilhafter wäre. Clark plädiert nicht dafür, dass es keine Kontrollen geben sollte, um sicherzustellen, dass sich die Gier nicht ungehindert ihren Weg bahnt. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen sowohl persönliche Verantwortung für moralische Entscheidungen als auch für ethische Praktiken übernehmen. Er plädiert dafür, dass der freie Austausch und die Sozialreform durch ein einheitliches Regelwerk stabil gemacht werden müssen. Er ist sich der Schwierigkeiten bewusst, die jedes System der öffentlichen Kontrolle mit sich bringt. Jede Regulierung der Privatwirtschaft muss gut durchdacht, gut entwickelt und umfassend sowie gründlich abgestimmt sein, wenn das System in Erfolg resultieren soll. Wenn die Menschen den Leitpersonen der Industrie misstrauen, und diese wiederum den Menschen misstrauen, wird das Ergebnis der Verlust des guten Willens sein, dem schnell finanzielle Verluste folgen werden. Alle wahrgenommenen Versäumnisse seitens des Managements führen zu einer feindseligen Meinung innerhalb der Öffentlichkeit. Alle richtigen oder falschen Handlungen haben zahlreiche Auswirkungen auf andere. Wenn es jedoch keine Gesetze gibt, die vereinbart und gerecht angewendet werden, muss der Einzelne auf der Grundlage seines eigenen Moralkodexes entscheiden, wie er am besten Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt übernehmen kann. Es reicht nicht aus, dass unsere Leitlinie darin besteht, andere einfach nicht zu verletzen und die

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2  Das Problem

Welt so zu verlassen, wie wir sie vorgefunden haben. Das reicht aus heutiger Sicht definitiv nicht mehr aus. Nachhaltiges Wirtschaften beinhaltet die Prämisse, dass die Welt für künftige Generationen verbessert werden muss. Wir werden dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Buch noch einmal aufgreifen. Clark diskutiert die relativen Verdienste von Sozialismus und Kapitalismus. Die Sozialisten glauben, dass im Kapitalismus ein Großteil des Guten mit schädlichen Aspekten ausgeglichen wird, dass die Belastung, die sich aus widerstreitenden egoistischen Interessen ergibt, letztlich eine kapitalistische Gesellschaft zerstören wird. Andererseits weist Clark darauf hin, dass ein Einwand gegen den Sozialismus darin besteht, dass er sich auf Altruismus stützt. Die Vor- und Nachteile zweier sich widersprechender Systeme sind jedoch immer eine Frage des graduellen Unterschieds. Die eigentliche Frage, die es zu klären gilt, ist: „Welche Eigenverantwortung, die nicht explizit von Gesetzen und Rechtsvorschriften abgedeckt wird, hat die Wirtschaft?“ Wir haben ein enormes Potenzial, die Gesellschaft durch verantwortungsvolle wirtschaftliche Entscheidungen zu verbessern. Clark schließt mit ernster Besorgnis, nämlich die einer ständig zunehmenden Konzentration des Reichtums, die von einigen wenigen Kapitalisten kontrolliert wird. Er ist der Ansicht, dass die Welt mit dem Begriff der sozialen Verantwortung in ihren vielfältigen Ausprägungen in unterschiedlichen Gesellschaften durchaus vertraut ist, dass aber der vielleicht ebenso wichtige Begriff des verantwortungsvollen Wirtschaftens nicht annähernd denselben Überlegungen unterworfen sei. Aus diesem Grund nimmt bei den Entrechteten ein derart starkes Gefühl der Ungerechtigkeit rapide zu. Diese Bewegung hat das Potenzial, sowohl gesellschaftliche Institutionen als auch Wirtschaftsunternehmen radikal zu destabilisieren, wenn wir die gegenwärtige Gelegenheit nicht nutzen, um die globale Ungleichheit der Chancen anzugehen. Nach Reflexion und eingehender Analyse, 100 Jahre nach Clarks Arbeit an der keynesianischen Ökonomie, bleiben seine Bedenken und Schlussfolgerungen bis heute gültig. Warum haben wir anscheinend so wenig Fortschritte gemacht? Ist die ethische Führung von Unternehmen heute schwieriger? Vielleicht. Fortschritte beim elektronischen Zugang zur Unternehmensführung und der Manipulation aller ihrer Aspekte trennen diese potenziell von denjenigen, die die Produkte oder Dienstleistungen herstellen. Diese, durch das Internet ermöglichte Globalisierung ist ein Paradigmenwechsel, dessen Größenordnung noch nie erfahren wurde. Sie verändert potenziell die Grundlagen der ökonomischen Verantwortung. John Maurice Clarks Forderung eines Gleichgewichts zwischen wirtschaftlicher Verantwortung und Profitabilität in seinem Artikel The Changing Basis of Economic Responsibility scheint der Akzeptanz heute nicht näher zu sein als zu der Zeit vor 100

2.14 Clarks Analyse und Vorschläge für das 20. Jahrhundert

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Jahren. Zwar gibt es einige Beispiele aus der Geschäftswelt, in denen Gewinne durch den Einsatz von ethischen Einstellungen und Entscheidungen erzielt werden. Häufiger ist es so, dass die Unternehmen, die rücksichtslos und unverantwortlich sind, wenn es um ihre Mitarbeiter geht, den größten Reichtum anhäufen. Es gibt Hoffnung. 2017 wurde von der Unternehmensberatung Ceams in Zusammenarbeit mit Professoren der Universitäten Zürich/Schweiz und Eichstätt ein Corporate Excellence Award ins Leben gerufen. Die CEOs der Unternehmen, die die Auszeichnung erhalten haben, zeigten beispielhaft hervorragende Leistungen in der Führung von Unternehmen, die erfolgreiches, nachhaltiges Wachstum bei gleichzeitiger Einhaltung von ethisch einwandfreien Geschäftspraktiken demons­ trierten (Knop 2017, S. 23). „Auch nach einer Geschichte der Korruption, einschließlich der Fälschung von Daten über die Sicherheit von Arzneimitteln und der Anzeige eines Mangels an Transparenz, hat Glaxo-Smith-Kline begonnen, sich auf Transparenz und ethische Praktiken zu konzentrieren.“ (Schüller 2017)

Schließlich gibt es auch eine ermutigende Tendenz, CEOs zu entlassen, die in Betrug, Korruption, Insiderhandel, Umweltschäden, Fälschung von Lebensläufen und sexuelle Belästigung verwickelt sind. Es kommt immer auf die individuelle Ebene an. Wir alle sind für unsere Praktiken verantwortlich. Auf der persönlichen Ebene gibt es keine Entschuldigung für unethisches Verhalten. Im Rahmen unserer Befugnisse sind wir für die Ergebnisse unserer Entscheidungen verantwortlich. Natürlich haben Top-Management-­ Entscheidungen in der Regel eine viel größere Wirkung als die eines Arbeitnehmers auf der untersten Ebene. Das Management hat eine Top-down-­Verantwortung. Gleichzeitig haben alle Mitarbeiter eine Bottom-up-Verantwortung für das Unternehmen. Responsible Care hat in den letzten Jahrzehnten viel Erfolg gehabt. Auf der anderen Seite hat die anhaltende Inkompetenz in Sachen Verantwortung, die vor allem von Personen an der Spitze bewiesen wird, immensen unternehmerischen, gesellschaftlichen und persönlichen Schaden angerichtet. Trotz der Realität der Ungleichheit, der unmoralischen Einstellungen und des unethischen Verhaltens am Arbeitsplatz dürfen wir nicht die guten Dinge vergessen, die die Wirtschaft ermöglicht hat. Es ist klug anzuerkennen, dass das meiste, was in den weltweiten Medien berichtet wird, Misserfolge und/oder ausbleibende Erfolge sind. Das öffentliche Interesse scheint mehr und mehr auf den umgestürzten Bäumen zu liegen als auf dem wachsenden Wald (Dürr). Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass vor dem Gericht der öffentlichen Meinung ethische Geschäftsentscheidungen fehlen. Leider.

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2  Das Problem

2.15 Selbstmanagement Es besteht kein Zweifel daran, dass Manager in der Wirtschaft eine Wertsteigerung des Unternehmens erzielen müssen, sofern sie mit einer Führungsrolle betraut wurden. Am Ende steht jedoch immer die Frage, für welchen der Wege sie sich entscheiden werden. Wie hoch sind die peripheren Folgen und Kosten, die mit der Wertsteigerung der Aktie des Unternehmens verbunden sind? Führungskräfte haben die Verantwortung, die Erwartungen aller Stakeholder, einschließlich der Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Aktionäre und der Gesellschaft in ethisch akzepta­ bler Weise zu erfüllen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es keine allgemein anerkannten ethischen Richtlinien, Moralgesetze oder andere extern definierte Vorschriften gibt. Vielmehr hängt das Ausmaß, in dem Führungskräfte Verantwortung für ethisches Verhalten übernehmen, von ihrem inneren Wachstum und den daraus resultierenden individuellen persönlichen Werten ab. Seit René Descartes’ Cogito, ergo sum haben wir unglaubliche Fortschritte in Wissenschaft, Technologie, Medizin und Wirtschaft erzielt, indem wir uns auf die Wünsche und Erfüllung des Egos konzentriert haben; indem wir eine „Ich-­ zentrierte“ Weltsicht angenommen haben. Was vielleicht nicht allgemein anerkannt wird, ist, dass dies auf Kosten des Fortschritts bei ebenso wichtigen humanistischen, persönlichen und inneren Werten ging. Die persönliche Ganzheit, die sich aus den meditativen Aktivitäten, Kontemplationen und introspektiven Einsichten des Einzelnen ergibt, wird allgemein als die Einheit von Körper, Seele und Geist betrachtet. Die Betonung des Geistes (Verstand, Ratio, Denken) in der heutigen Gesellschaft ist ein fataler Irrtum. Der ganze Mensch besteht aus einer ausgewogenen Einheit von Körper, Seele und Geist. Geist wird von vielen nur als Verstand definiert. Wenn wir im Deutschen von Geist sprechen, ist aber auch die geistig innere, spirituelle Dimension gemeint. (lateinisch: corpus, anima und spiritus; griechisch: soma, psyche und pneuma). Infolge dieses Missverständnisses wird der spirituellen Dimension des menschlichen Lebens nicht der ihr gebührende Platz in unserem Denken und Handeln eingeräumt. Wenn unsere spirituelle Natur nicht die gebührende Anerkennung erfährt, sind die Wunden, die der Gesellschaft zugefügt werden, vorhersehbar. Sie resultieren aus einem Ungleichgewicht zwischen unseren egozentrischen Interessen und Wünschen und jenen Überlegungen, die die gesamte Menschheit umfassen. Der einzige Weg nach vorn, der die Möglichkeit bietet, Einheit, Konsens und Gleichheit am Arbeitsplatz, ja in der ganzen Welt, zu erreichen, ist die Anwendung sowohl unserer psychologischen Individuation als auch unserer spirituellen Dimension. Im

2.15 Selbstmanagement

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Englischen verwendet man zwei Ausdrücke: Mind und Spirit. Das schafft mehr Klarheit als im Deutschen. Man muss sich entscheiden, ob man Mind oder Spirit oder beides meint. Die Seele/Psyche ist die Verbindung von unserem Verstand zu unserem Spirit. Für C. G. Jung geht die große Gefahr für die Menschheit von dem Verlust der Verbindung zu unserer Psyche aus: cc

„Die Welt hängt an einem dünnen Faden, und das ist die Psyche des Menschen.“ (Jung 2012)

Auch wenn wir derzeit von einer Elementarkatastrophe wie der Ausbreitung des Covid-19 ausgehen können, hat er natürlich mit seiner Aussage grundsätzlich ­Recht. cc

„Einzig wir sind die größte aller Gefahren.“ (Jung 1986)

„Heutzutage sind wir nicht mehr von Elementarkatastrophen bedroht. In der Natur gibt es keine H-Bombe. All dies ist von Menschenhand erdacht und von Menschenhand erschaffen. Die Psyche ist die große Gefahr. Was passiert, wenn etwas mit unserer kollektiven Psyche schief geht? In diesen Zeiten erkennen wir die Kraft unserer Psyche und wie wichtig es ist, etwas darüber zu wissen. Aber wir wissen nichts darüber. Niemand würde der Vorstellung Glauben schenken, dass die psychischen Prozesse des gewöhnlichen Menschen irgendeine Bedeutung haben. Vielmehr denken wir: Oh, er ist nur das, was in seinem Kopf ist. Er besteht aus dem, was er von seiner Umgebung empfängt; er wird gelehrt, glaubt, und vor allem, wenn er gut untergebracht und gut ernährt ist, dann hat er überhaupt keine Ideen. Und das ist der große Fehler, denn wir sind so, wie wir geboren wurden, und wir sind nicht als Tabula rasa geboren, sondern als Realität.“ (Jung 1986)

cc

Als Folge davon hängt auch die Ethik innerhalb der Wirtschaft an einem dünnen Faden, und dieser Faden ist die Psyche der Manager.

Unsere materialistische Welt befindet sich in einer Sackgasse. Egozentrierter Isolationismus ist dazu bestimmt, nicht mehr als eine Fußnote in der Geschichte der Entwicklung der Menschheit zu sein. Es besteht dringender Veränderungsbedarf. Das folgende Zitat von John Steinbeck ist heute ebenso aktuell wie zu der Zeit, als er sie äußerte:

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2  Das Problem „Es schien mir immer seltsam zu sein. (…) Die Dinge, die wir in den Menschen bewundern: Freundlichkeit und Großzügigkeit, Offenheit, Ehrlichkeit, Verständnis und Gefühl, sind die Begleiterscheinungen des Scheiterns in unserem System. Und die Eigenschaften, die wir verabscheuen: Schärfe, Habgier, Gewinnsüchtigkeit, Gemeinheit, Egoismus und Eigennutz sind die Merkmale des Erfolgs. Während Männer die Qualität des Ersten bewundern, lieben sie das Produkt des Zweiten.“ (Steinbeck 1986)

Die Tiefenpsychologie von Jung und Neumann kann die Gründe für das egozentrische Verhalten des Individuums erklären und dieses Verständnis kann uns zu einem vollständigeren Ansatz für eine neue Ethik führen. Der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr wirbt in seinem Buch „Warum es ums Ganze geht“ für eine Win-win-Situation für alle Wirtschaftsbeteiligten. Er glaubt, wenn wir wirklich Menschen fördern wollten, die friedlich, kooperativ, einfühlsam und liebevoll sind, dann könnten wir dies mit Leichtigkeit. Das wäre natürlich nicht in jedem Einzelnen möglich, denn gegensätzliche, konkurrierende Kräfte sind immer präsent und können in angespannten Situationen repetitiv auftreten. Dürr weist klugerweise darauf hin, dass unsere wettbewerbsfähige Wirtschaft mit einem so freundlichen Menschen sehr unzufrieden wäre. Die Wirtschaft belohnt aggressive Menschen; diejenigen, die sich auf Kosten der Moral durchsetzen; Menschen, die neue gesellschaftliche Wünsche fördern, die einen immer größeren Konsum fördern. Erfolgreiche Manager sind also diejenigen, die von Kindesbeinen an ausgebildet werden, Geschwindigkeit, Durchsetzungsvermögen und Rücksichtslosigkeit zu schätzen und das System opportunistisch zu ihrem eigenen Vorteil zu maximieren. Wer nachdenklich, kooperativ, rücksichtsvoll und gemeinschaftlich handelt, ist benachteiligt. Darwinismus im ursprünglichen Sinne würde in unserer Wirtschaft agieren, während die Stärkeren die Schwächeren überwältigen. Erst 100 Jahre nach Veröffentlichung von Heisenbergs Quantentheorie beginnen wir, die Realität ihrer Auswirkungen auf alle Aspekte unseres Lebens zu begreifen. Ein Quantenfeld, eine unsichtbare, energetische Kraft, die die gesamte Menschheit, ja die gesamte Schöpfung im Kosmos verbindet, zeigt sich in unseren verstärkten Beobachtungen der identifizierbaren, quantifizierbaren Teilchen und Wellen, die alle Materie und Energie bilden, aus denen der Kosmos besteht. Nach Dürr ist dies als kooperatives Hintergrundfeld (Englisch: Ever Acting Process gefällt mir besser) zu verstehen als ein vernetztes Feld mit immensem Potenzial, aus dem in jedem Moment die gesamte Realität entsteht. Das Feld ist leer, hat aber die Potenzialität, sich permanent als Realität zu manifestieren, als eine Realität, die durch unser Denken und Handeln geformt und ständig verändert wird. Auf diese Weise ist alles miteinander verbunden. Jeder von uns, der individuell handelt, beeinflusst das Quantenfeld und damit gleichzeitig alle anderen Individuen und die

2.15 Selbstmanagement

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ganze Umwelt. Da Individuen einen Einfluss auf die Wirtschaft haben, wird eine Neuausrichtung ihrer Intentionen und ihrer Fokussierung einen wichtigen Effekt auf die Wirtschaft haben. Wir alle, und insbesondere diejenigen, die mit der unternehmerischen Verantwortung für andere betraut wurden, sind verpflichtet, dies anzuerkennen und entsprechend verantwortungsvoll zu handeln. Wenn sie dies nämlich nicht tun, wird unser unverantwortliches Handeln sowohl zu persönlichem Versagen als auch zum Versagen derjenigen führen, die unter unserer Leitung stehen. Statt eines Spiels, bei dem es Verlierer geben muss, damit es Gewinner gibt, plädiert Hans-Peter Dürr für ein Spiel, das sich besser für höhere Lebensformen eignet. Anstatt zu akzeptieren, dass man immer auf Kosten anderer gewinnen muss, würde er uns ein Win-win-Spiel spielen lassen, bei dem alle Vorteile zum Wohle aller genutzt werden. In Zeiten übermäßigen Wirtschaftswachstums konzentrieren sich die meisten von uns auf unser äußeres, materialistisches Wohlbefinden, was unsere Möglichkeit des inneren Wachstums durch die Ernährung unseres spirituellen Zentrums verringert. Wir müssen in zunehmendem Maße neue Möglichkeiten für einen wirklichen Sinn in unserem Leben erforschen; eine Bedeutung, die unabhängig vom Zustand der Wirtschaft ist. Diese Suche, die in einer kontemplativen, empfänglichen und selbstreflexiven Weise unternommen wird, wird uns zu der Erkenntnis führen, dass alle Bemühungen, die unser inneres, geistiges Wachstum fördern, die auf Liebe und Gerechtigkeit für uns selbst und für alle lebenden Geschöpfe beruhen, von Natur aus lohnend sind, und alle anderen Bemühungen letztlich nur zu einem leeren, unerfüllten Leben führen. Die Bereitschaft, Lektionen sowohl von der Außenwelt als auch aus unserer persönlichen Intuition zu lernen, führt zur Selbstvervollkommnung und leitet uns zu persönlicher sowie zu gesellschaftlicher Bereicherung. Es ist das einzig vernünftige, ultimative Ziel unseres Lebens. Dennoch sind wir dickköpfig! Es bedarf allzu oft einer großen persönlichen oder gesellschaftlichen Krise, die uns unserer äußeren Sicherheitsdecke beraubt, bevor unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet wird, die Gültigkeit unserer Besessenheit von materialistischen Exzessen auf Kosten unseres geistigen, emotionalen und spirituellen Wohlbefindens zu überprüfen. Es ist schwierig, Menschen davon zu überzeugen, dass extrinsische Belohnungen niemals den wahren Sinn des Lebens repräsentieren können, dass die Suche nach materiellen Exzessen niemals unseren Zweck des Daseins repräsentieren kann. Unser Ego sorgt dafür, dass extrinsische Belohnungen in erster Linie ausschließlich für uns bleiben. Der Schaden, der sich aus dieser einseitigen Entwicklung des Geistes ergibt, wird weitgehend ignoriert, aber die Folgen sind real und meist dramatisch. Dazu gehören Einsamkeit, Depressionen, Angstzustände, Selbstsucht und Selbstmord, um nur einige zu nennen. Es werden zweistellige Wachstumsraten berichtet.

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2  Das Problem

Soren Gordhamer (2013, S. 146) berichtet, dass Amerikaner jedes Jahr mehr als US$ 23 Milliarden ausgeben, um Schlaflosigkeit und andere Schlafstörungen zu bekämpfen (LaRosa 2008). Es ist wichtig, ja sogar entscheidend und dringlich, dass wir neue Möglichkeiten ausloten, neue Wege finden und an einer neuen Denkweise arbeiten, die uns für den Rest unseres Lebens besser dienen wird, die von der Weltgesellschaft a­ kzeptiert und integriert wird. Das Erkennen der Bedeutung von innerem Wachstum ist die wichtige Chance. Allerdings wird es wegen unserer Zurückhaltung gegenüber Veränderungen eine negative Welle von enormer Dimension benötigen, bis wir endlich die Wichtig- und Wertigkeit unserer Besessenheit von äußeren Werten auf Kosten unseres geistigen, emotionalen und spirituellen Wohlbefindens in Frage stellen.

2.16 Manifest Business Ethik für die globale Welt Bei der Suche nach einem starken Impuls für eine neue Business Ethik, die die Nachteile unserer heutigen einseitigen, „Ich-orientierten“ Ausrichtung vermeidet und die Konsequenzen für die Weltwirtschaft erkennen kann, ist es wichtig, das Global Economic Ethics Manifest zu berücksichtigen (Küng et al. 2010). Nach der jüngsten Finanzkrise äußerten sich die Menschen äußerst enttäuscht. Aber die da­ raus resultierende Wut war nur allzu oft unkonzentriert. Die meisten von uns waren sich nicht bewusst, dass es sich dabei um ein Fehlen eines klaren ethischen Standards handelte, welche die Geschäftspraktiken sichtbar machten, die maßgeblich zur Krise beigetragen haben. Dieses Manifest, das am 6. Oktober 2009 im Rahmen des UN Global Compact im UN-Hauptquartier in New  York vorgestellt wurde, versteht sich als Arbeitsdokument, als Diskussionsvorschlag, der sich im Laufe der Zeit weiterentwickeln wird. Die ersten Unterzeichner dieses Manifests waren führende Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik und Religion. Es ist bezeichnend, dass von den 18 Unterzeichnern nur zwei die Wirtschaftsgemeinschaft vertraten. Das Manifest selbst wurde von 10 hoch angesehenen Persönlichkeiten verfasst, darunter mein lieber Freund Hans Küng von der Stiftung Weltethos. Vier der Autoren waren Ökonomen. Im Kern fördert das Manifest die Menschlichkeit, aus der sich Werte wie Gewaltlosigkeit, Achtung vor dem Leben, Gerechtigkeit, Solidarität, Ehrlichkeit und Toleranz ableiten. Es wird anerkannt, dass die Führungselite aller Institutionen eine besondere Verantwortung trägt, sowohl innerhalb ihrer Unternehmen als auch innerhalb der Gesellschaft. Das Ziel ist das Streben nach Integrität im Geschäftsleben, dessen Grundlagen moralische Erziehung, moralische Führung, ethisch motivierte Leistungskriterien und ethische Geschäftspraktiken sind.

2.16 Manifest Business Ethik für die globale Welt

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„Aus diesen Gründen unterstützen die Unterzeichner die Erklärung zu einem Globalen Weltethos. In dieser Erklärung werden die grundlegenden Prinzipien und Werte einer globalen Wirtschaft deklariert, so wie sie sich aus der Erklärung des Parlaments der Weltreligionen zum Weltethos (Küng et al. 2010) ergeben. Die in dieser Erklärung ausgesprochenen Prinzipien können von allen Menschen mit ethischen Überzeu­ gungen, religiös begründet oder nicht, mitgetragen werden. Die Unterzeichner ­verpflichten sich, sich von Buchstaben und Geist dieser Erklärung in ihrem alltäglichen wirtschaftlichen Entscheiden, Handeln und Verhalten leiten zu lassen und sie so mit Leben zu erfüllen. Diese Erklärung zu einem Globalen Wirtschaftsethos nimmt die Gesetzlichkeiten von Markt und Wettbewerb ernst, will diese aber zum Wohl aller auf eine ethische Grundlage stellen. Gerade die Erfahrungen in der Krise des Wirtschaftslebens unterstreichen die Notwendigkeit international akzeptierter ethischer Prinzipien und moralischer Standards, die im Geschäftsalltag mit Leben erfüllt werden können und müssen.“ (Küng et al. 2010, S. 24)

In der Präambel weisen die Autoren darauf hin, dass es weltweit anerkannte Normen für wirtschaftliches Handeln und Entscheiden in einem ethischen Verständnis wirtschaftlichen Handelns gibt, welches lediglich noch in den Kinderschuhen steckt. Dieses Wirtschaftsethos basiert auf moralischen Werten und Prinzipien, die bereits von allen Kulturen geteilt und durch gemeinsame praktische Erfahrungen gestützt werden. Sie weisen darauf hin, dass wir alle in unseren unterschiedlichen Rollen als Investoren, Unternehmer, Kreditgeber, Mitarbeiter und Verbraucher in allen Ländern der Welt den Wunsch nach der Umsetzung von globaler ökonomischer und ethischer Verantwortung teilen. Hans Küng kommentiert: „Mit einem neuen Weltethos aus der Krise? Meine grundsätzliche Antwort gleich zu Beginn: sicher nicht allein mit einem Weltwirtschaftsethos. Vielmehr ist unsere Auffassung: Gerade die Weltwirtschaftskrise erfordert ein Weltwirtschaftsethos, aber ebenso sicher auch nicht ohne ein Wirtschaftsethos. Vielmehr ist unsere Auffassung: Gerade die Weltwirtschaftskrise erfordert ein Weltwirtschaftsethos! Für immer mehr Menschen ist klar: Die meisten gegenwärtigen Krisen – von der Weltfinanzkrise bis zur Krise des europäischen Fußballs – haben auch mit elementaren ethischen Standards zu tun (…). Natürlich kennen wir, die wir uns für ein Weltwirtschaftsethos einsetzen, die Einwürfe der Skeptiker und jener Schwarzseher, die Erklärungen dieser Art als nutzlos bezeichnen. Aber ich frage: Was wäre die Welt ohne die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, oder die Charta der Vereinten Nationen, oder auch die Zehn Gebote? Immer wieder wird gegen sie gehandelt, insofern ist alles Ethos kontrafaktisch (…). Andere wenden ein: Gibt es nicht Gesetze, die nur konsequenter angewendet werden müssten? Zugegeben: Die Überwindung der gegenwärtigen Krise erfordert die Ausschöpfung aller gesetzlichen Möglichkeiten. Aber: Gesetze genügen nicht. Wir alle wissen, wie schwach oft der politische Wille ist, gegen Gier, Betrug, Korruption

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2  Das Problem und Größenwahn zu kämpfen, weil ihm eben kein ethischer Wille zugrunde liegt. Gesetze ohne Ethos haben keinen Bestand (…). Alles dies ist nicht nur eine Sache der Ethik des Einzelnen, sondern auch eine Sache der Unternehmensethik, ja betrifft die globale Marktwirtschaft als Ganze.“ (Küng et al. 2010, S. 37)

Aus Küngs Sicht bedeutet Ethik nicht nur moralische Appelle, sondern auch moralisches Handeln. Er erinnert alle Stakeholder in globalen Unternehmen an ihre individuelle Verantwortung für die Humanisierung des Funktionierens der globalen Wirtschaft.

2.17 M  enschen in Unternehmen: Der wesentliche moralische Faktor Klaus M. Leisinger (Küng et al. 2010, S. 48) erklärt, dass kein Unternehmen nur als abstraktes Rechtsinstitut agiere, sondern durch und im Einklang mit den vielen verschiedenen Hierarchieebenen handelt. Aus diesem Grund könnten Sozialsysteme wie Unternehmen per se nur bedingt moralisch sein. Moral oder der Mangel an Moral werde von den Menschen, ihren Werten und Integritätsebenen in ein soziales System eingeführt. Das Manifest war ein ehrenhaftes und würdiges Unterfangen. Es forderte von den Menschen, dass sie bestrebt sind, konsequent ethisch und moralisch vertretbar zu handeln. Jetzt, 10 Jahre später, müssen wir uns eingestehen, dass die Unmoral in der Wirtschaft trotz neuer Gesetze und ernsthafter Appelle nicht nachgelassen hat. Hans Küng hat erkannt, dass sämtlicher Appell wenig nützt und fordert daher zu Recht moralisches Handeln. Das Manifest beantwortet jedoch nicht, warum der Mensch nicht immer zu moralischem Handeln fähig ist. Wir bemühen uns oft, den moralischen Weg zu gehen, aber dann, wenn das Leben schwierig wird und Stressfaktoren zunehmen oder verlockende Gelegenheiten entstehen, die unsere moralische Vision behindern, scheitern wir. Wenn diejenigen, die keine Erfahrung im Geschäftsleben haben, den Geschäftsführern Moral und ethisches Verhalten predigen, hört niemand wirklich zu. Das Manifest wurde glaubwürdig, soweit es von Wirtschaftsvertretern unterzeichnet wurde. Die Förderer der Ethik in der Wirtschaft sind die Unternehmer und Manager, die aus welchen Gründen auch immer geistig so weit entwickelt sind, dass sie sich moralisch vorbildlich verhalten. Der Einzelne ist der Schlüssel zum Wandel. Aber warum gibt es so wenige Menschen in der Geschäftswelt, die eine wirklich nachhaltige Verbesserung der ethischen Praktiken erreicht haben? Dass es nicht mehr aufgeklärte Persönlichkeiten gibt, die im Wirtschaftssektor tätig sind, liegt nicht an fehlenden Leitlinien. Der Kern des Problems ist der Mangel an individueller menschlicher Reife und der

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral

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daraus resultierende Mangel an Seele und Geist (Spirit). Ein unreifer Mensch kann diesen Mangel nicht erkennen. Jung glaubt, dass unser Versagen zumindest teilweise darauf zurückzuführen ist, dass wir unsere innere Instanz, unser Selbst, unseren göttlichen Aspekt, hinter uns gelassen haben. Dürckheim nennt diese innere Instanz Wesen: cc

„Das Wesen ist die Weise, in der das überraumzeitliche Sein in uns und durch uns manifest werden will in der Welt.“ (Dürckheim 1986, S. 39)

Wir beschleunigen uns zu einem Punkt ohne Wiederkehr, werden krank und schädigen die gegenwärtige und zukünftige Generation, die Umwelt und das gesellschaftliche Gefüge, weil es uns an moralischen Überzeugungen und Praktiken mangelt, und im Großen und Ganzen wissen wir nicht mehr, wie wir aus unserem selbst verschuldetem Dilemma herauskommen sollen. Es gibt jedoch Hoffnung, wenn die Menschen bereit sind, der Vernunft seine ehrenvolle Position neben dem Ego zuzulassen, indem sie eine gemeinsame Verantwortung übernehmen, die es einem Menschen ermöglichen würde, die Entwicklung eines tragfähigen Konzepts moralischer Überlegungen und ethischen Verhaltens anzustreben, sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Gesellschaft. Es besteht die verzweifelte Notwendigkeit, dass wir uns zurückbesinnen auf ein Gleichgewicht zwischen reinem, rationalem, bewusstem, egoistischem Verstand mit Entscheidungen, die auf dem Intellekt beruhen, und einer Vernunft, die mehr wertorientierte Unterscheidung mit der größeren Fähigkeit darstellt, uns zu achtsamen, vernünftigen, mitfühlenden, intuitiven Entscheidungen zu führen. Das alles kann sich ergeben, wenn wir uns unser Unbewusstes mehr und mehr bewusst machen und in unser Leben integrieren.

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral Die Begriffe Geist und Vernunft werden oft nicht klar verstanden. Es ist wichtig, dass dieses Buch und die darin vorgebrachten Argumente klar definieren, wie diese Begriffe verstanden werden sollten. Der Verstand bezieht sich auf das Denken, auf den Intellekt und andere kognitive Funktionen. Der Geist entsteht aus dem Ego und seinem Lernprozess. Vernunft, wie er in diesem Buch verwendet wird, bezieht sich auf die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, intuitiv universelle Beziehungen zu erkennen und daraus Schlussfolgerungen und Handlungen abzuleiten. Man muss grundsätzlich zwischen theoretischer und praktischer Vernunft unterscheiden. Soweit sich die Vernunft auf Prinzipien der Anerkennung in den ­Wissenschaften bezieht, spricht man von theoretischer Vernunft. Die praktische

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2  Das Problem

Vernunft folgt den Prinzipien, die sich an moralischen Fragen der Werte und an ökonomischen Prinzipien orientieren. In diesem Buch wird der Begriff Vernunft als praktische Vernunft verwendet. Diese Seite der Vernunft kann man auch eher eine objektive Vernunft nennen, die metaphysischen Inhalt hat und Gott (Christentum), Heraklit (Alles ist miteinander verbunden) und den Weltgeist (Hegel) enthält. Zu weiteren Inhaltsdefinitionen sei auf Meister Eckhart, Luther, Kant (Kritik der reinen Vernunft), aber auch Platin sowie Schopenhauer verwiesen. Die Vernunft hat jedoch auch eine doppelte Bedeutung mit zwei Polaritäten: Natur und Schöpfung als primäre Polarität und menschliches Denken als sekundäre Polarität. Diese Polaritäten in Einklang zu bringen, ist aus meiner Sicht die Aufgabe eines vernünftigen Handelns in der Wirtschaft. Jedoch kann Vernunft ein Anker für Ethik und Moral sein, wenn die Menschen sich ihrer doppelten Bedeutung bewusstwerden und wenn sie den Zugang zur objektiven Vernunft nicht verloren haben. Aber genau das ist heute das Problem. Die Ankerkette ist gebrochen.

2.18.1 Missbrauch und die Ablehnung der Vernunft So lautet der Titel des berühmten Buches von Friedrich August Hayek, Philosoph, Psychologe und Wirtschaftswissenschaftler. Nur wenige konnten so kenntnisreich über das Durchtrennen der Ankerkette schreiben. Können wir aus dem Dilemma herauskommen, in dem wir von unserem Verstand gefangen sind, um unsere Verbindung zur Vernunft zu finden? Friedrich August Hayek stellt fest: „So entspringt die gemeinsame Idee, dass der menschliche Verstand sozusagen daran ist, sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpfe zu ziehen, aus derselben allgemeinen Einstellung: dem Glauben, dass wir durch das Studium der menschlichen Vernunft von außen und als Ganzes die Gesetze ihrer Bewegung in einer vollständigeren und umfassenderen Weise begreifen können als durch ihre geduldige Erforschung von innen, indem wir den Prozess tatsächlich verfolgen, wie Denken und Handeln ineinandergreifen.“ (Hayek 1959, S. 122 ff.) „Die anmaßende Bestrebung, dass die ,Vernunft‘ ihre eigene Entwicklung lenken soll, könnte in der Praxis nur die Wirkung haben, dass sie ihrer Entwicklung Grenzen setzt, dass sie sich selbst auf die Ergebnisse einschränkt, die der lenkende Einzelgeist bereits voraussehen kann. Obwohl dieses Bestreben ein direktes Ergebnis eines bestimmten Rationalismus ist, ist es natürlich die Folge eines missverstandenen oder fehlgeschlagenen Rationalismus, der nicht erkennt, in welchem Ausmaß die individuelle Vernunft ein Ergebnis interpersoneller Beziehungen ist. Tatsächlich ist die Forderung, dass alles, einschließlich der Entwicklung des menschlichen Geistes, bewusst

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral gelenkt werden soll, selbst ein Zeichen eines ungenügenden Verständnisses des allgemeinen Charakters der Kräfte, die das Leben des menschlichen Geistes und der menschlichen Gesellschaft ausmachen. Es ist die extreme Stufe dieser selbstzerstörerischen Kräfte unserer modernen ,wissenschaftlichen‘ Zivilisation, dieses Missbrauchs der Vernunft, dessen Entwicklung und Folgen das Hauptthema der folgenden historischen Studien bilden soll.“ (Hayek 1959, S. 125–126) „Der Individualismus versucht im Bewusstsein der konstitutionellen Grenzen des individuellen Verstande aufzuzeigen, wie der Mensch in der Gesellschaft durch die Verwendung verschiedener Resultanten des sozialen Prozesses imstande ist, mit Hilfe des darin steckenden Wissens, dessen er sich nie bewusst ist, seine Macht zu verstärken. Er zeigt uns, dass die einzige ,Vernunft‘, die in irgendeinem Sinn als größer betrachtet werden kann als die individuelle Vernunft, nicht anders existiert als in der Form eines interpersonellen Prozesses, in dem durch unpersönliche Medien die Kenntnisse von aufeinanderfolgenden Generationen und von Millionen gleichzeitig lebender Menschen zusammentreffen und gegeneinander abgestimmt werden, und dass dieser Prozess die einzige Form ist, in der die Gesamtheit des menschlichen Wissens existiert.“ (Hayek 1959, S. 126) „Die kollektivistische Methode auf der anderen Seite, die mit der teilweisen Kenntnis dieses Prozesses von innen, die alles ist, was der Einzelne gewinnen kann, nicht zufrieden ist, stützt ihre Forderungen nach bewusster Kontrolle auf die Annahme, dass sie diesen Prozess als Ganzes erfassen und von allem Wissen in einer systematisch zusammengefassten Form Gebrauch machen kann. Sie führt so geradewegs zum politischen Kollektivismus; und obwohl der methodische und der politische Kollektivismus logisch verschieden sind, ist es nicht schwer zu sehen, wie der erstere zu dem letzteren führt und dass der politische Kollektivismus ohne den methodischen Kollektivismus einfach seiner geistigen Grundlage beraubt wäre: Ohne den Anspruch, dass die bewusste individuelle Vernunft alle Ziele und alle Kenntnis der ,Gesellschaft‘ oder der . Menschheit‘ fassen kann, verliert der Glaube, dass diese Ziele am besten durch zen­ trale Lenkung erreicht werden können, sein Fundament. Konsequent verfolgt muss er zu einem System führen, in dem alle Mitglieder der Gesellschaft bloße Werkzeuge eines einzigen lenkenden Geistes werden und in dem alle spontanen Kräfte der Gesellschaft, denen die Entwicklung der Vernunft zu danken ist, zerstört werden. Es kann sich tatsächlich erweisen, dass es die weitaus schwierigste und nicht die unwichtigste Aufgabe für die menschliche Vernunft ist, ihre eigenen Grenzen rational zu erfassen. Es ist für die Entwicklung der Vernunft wesentlich, dass wir als Individuen uns Kräften beugen und Grundsätzen gehorchen, die wir nicht hoffen können, völlig zu verstehen, von denen aber der Fortschritt und sogar die Erhaltung der Zivilisation abhängen.“ (Hayek 1959, S. 127) „Die gefährlichste Stufe in der Entwicklung der Zivilisation ist sehr wahrscheinlich die, in der der Mensch all diesen Glauben als Aberglaube zu betrachten beginnt und sich weigert, irgendetwas hinzunehmen oder sich Dingen zu unterwerfen, die er nicht vernunftgemäß versteht. Der Rationalist, dessen Vernunft nicht ausreicht, ihn jene der

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2  Das Problem Kraft der bewussten Vernunft zu lehren, und der alle Institutionen und Bräuche missachtet, die nicht entworfen wurden, würde auf diese Weise der Zerstörer der auf ihnen aufgebauten Zivilisation werden. Das kann sich sehr wohl als die Hürde erweisen, die der Mensch wiederholt erreichen wird, nur um wieder zum Barbarentum zurückgeworfen zu werden. (…) Die gleiche charakteristische Tendenz unserer Zeit zeigt: das Gebiet der Moral. Hier ist es die Befolgung allgemeiner oder formaler Regeln, deren Daseinsberechtigung nicht explizit bewiesen ist, gegen die Einwände der gleichen Art erhoben werden. Aber die Forderung, dass jede Handlung nach einer vollständigen Betrachtung aller ihrer Folgen beurteilt werden soll und nicht nach irgendwelchen Regeln, beruht auf dem Übersehen der Tatsache, dass die Unterwerfung unter allgemeine Regeln, die auf unmittelbar erkennbare Umstände zugeschnitten sind, der einzige Weg ist, auf dem für den Menschen mit seinem begrenzten Wissen die Freiheit mit dem erforderlichen Minimum an Befehlen verbunden werden kann.“ (Hayek 1959, S. 128) „Es ist zumindest zweifelhaft, ob es möglich wäre, einen neuen Moralkodex auf diese Weise aufzubauen, der irgendeine Chance hätte, angenommen zu werden. Aber solange uns das nicht gelungen ist, heißt jede allgemeine Weigerung, die bestehenden Moralregeln anzuerkennen, bloß deshalb, weil ihre Zweckmäßigkeit nicht rational bewiesen worden ist (…), eine Wurzel unserer Zivilisation zerstören.“ (Hayek 1959, S. 129)

Hayek meint, dass alle Handlungen, alle Anstrengungen, die mit den besten Absichten von Menschen unternommen werden, die nicht den Aufstieg vom Verstand und der individuellen Vernunft auf die Ebene der objektiven, übergeordneten, übergreifenden Vernunft geschafft haben, zum Scheitern verurteilt sind.

2.18.2 Der Sprung vom Verstand zu einer Ethik der Vernunft Friedrich Gaede beschäftigt sich in seinem Buch „Der Gegenlauf. Das grausame Gesetz der Geschichte“ (Gaede 2012) mit der Notwendigkeit eines Übergangssprungs vom bewussten, rationalen Ich-Geist zur mitfühlenden, achtsamen Vernunft aus dem Unbewussten. Insoweit Menschen im Wesentlichen moralische, ethische und mitfühlende Schöpfungen innerhalb der Natur sind, müssen Entscheidungen, die ihr Wohlergehen und ihre Fähigkeit beeinflussen, produktive Mitglieder einer größeren Gesellschaft zu sein, auf durchdachten, achtsamen Prozessen und Vernunft basieren, um mit ihnen in irgendeiner sinnvollen Weise in Resonanz zu treten.

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral

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Gaede beginnt seine Überlegungen: „Die Auffassung der Welt als ein kosmischer Mechanismus ist ein titanisches Konzept, das vom wissenschaftlichen oder physikalischen Verstand cartesisch begründet wird und die Welt mit quantitativen Maßstäben zu messen und festzulegen sucht. In seiner Studie ,Die Titanen‘ (1944) beschreibt Friedrich Georg Jünger das darin steckende Paradoxon: Dieser zur Autonomie strebende Verstand ist (…) titanische Intelligenz (…). Er fängt sich in seiner eigenen Mühle, (Jünger 1944, S. 118) d. h. er führt zur gegenläufigen Selbstzerstörung. Da ,nach Macht‘ oder Anwendung gestrebt wird, geht die titanisch verstandene Wissenschaft ,in Technik über‘ (…). Für die heutige und kommende Welt bleibt der titanische Mensch der gefährliche, weil destruktive Gegenläufer.“ (Gaede 2012, S. 81–83)

In dieser Konzeptualisierung der Entscheidungsfindung als rein intellektueller, rationaler Prozess gibt es keinen Raum für eine qualitative Betrachtung des Wertes, den die Anwendung von ethischem und moralischem Verhalten in der Wirtschaft und damit in der Gesellschaft insgesamt spielt. Gaede liefert mehrere historische Beispiele, die veranschaulichen, wie eine Handlungsweise, die vom Ego-dominierten Verstand festgelegt wird, selbstzerstörerische Gegenkurstendenzen in sich birgt, die langsam, aber unaussprechlich die Kontrolle übernehmen. Die einzige Möglichkeit, diese Tendenz zu verhindern, besteht darin, die Kontrolle der Handlung von der Ebene des Ego-dominierten Verstandes auf die Ebene der Vernunft zu heben. Um den Unterschied zu veranschaulichen, zitiert er Hegel: (Gaede 2012, S. 17) cc

„Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden.“ (Hegel 1970, S. 99) Gaede fährt fort: „Damit ist ein Gegensatz umrissen, der zugleich eine Einheit darstellt: die spannungsvolle Einheit, die Vernunft genannt wird, da sie ihren Gegenpol, den Verstand, zu integrieren versteht. ,Der Ort des Verstandes sind die durchsichtigen, bewussten, obersten Schichten unserer Seele‘, schreibt G. Simmel (1901–1908, S. 117). Die Vernunft hingegen ist tiefer im Gemüt verankert. Beide brauchen oder ergänzen einander: der Verstand widmet sich dem Ordnen der empirischen Welt, vor allem durch deren begriffliches Erfassen und quantitatives Festlegen, d. h. der Verstand versucht, die Welt durch Kategorisieren, Messen und Berechnen zu bestimmen, zu unterscheiden, Regeln zu setzen und schließlich gemäß den getroffenen Festlegungen oder Gesetze zu urteilen, zu entscheiden und zu handeln. Wenn es heißt, der Verstand ,legt fest‘, dann gilt das für bereits Bestehendes also Vorgegebenes. Der Verstand und sein Objekt sind darum zweierlei.“ (Gaede 2012, S. 17)

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2  Das Problem

Gaede zitiert W. Welsch (Gaede 2012, S. 17): „Indem die Aufklärungsepoche sich als Verstandesepoche deklarierte, ist die Entzweiung von Subjektivität und Objektivität zur Grundform der Gegenwart geworden.“ (Welsch 1996, S. 56) Gaede weiter: „Diese Entzweiung erlaubt einerseits dem Bedürfnis ,festzulegen‘, sich bis zum Dogmatismus zu steigern, andererseits aber auch der Absicht, Unverbindlichkeit und agile Wendigkeit zu bewahren. Da der Verstand als die ,anpassungsfähigste unserer inneren Kräfte‘ gilt, ist er damit auch die verantwortungsloseste. Darum sind sowohl Dogmatiker als auch Wendehälse Verstandestypen. Ob so oder so, der Verstand hat eine Schwäche für Political Correctness, denn er ist gern der Bettgenosse des Zeitgeistes. Der psychophysische Dualismus von wahrnehmendem Subjekt einerseits und wahrgenommenem Objekt andererseits veranlasst E. Husserl, in seinem Essay ,Die Krisis der Europäischen Wissenschaften‘ (Husserl 1935) eindringlich darauf zu verweisen, dass nicht für ,Wahres Sein‘ gehalten werden soll, was als verstandesmäßige Erfassung der Welt nur das Ergebnis einer Methode sei. Es sei darum das dringende Gebot, Rolle und Funktion der Verstandesarbeit kritisch zu hinterfragen und ihre Bedeutung auf das ihr gemäße Maß zu reduzieren. Diese unumgängliche Einschränkung kann nur durch die Integration der Verstandestätigkeit in die Vernunftarbeit geschehen. Zu diesem Zweck fordert Husserl die Rückbesinnung auf die Tatsache, dass ,die europäische Welt aus Vernunftideen, d.  h. aus dem Geist der Philosophie geboren wurde‘. Für ,die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie‘ sei darum ,der Heroismus der Vernunft‘ wachzurufen, denn ,Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit‘. Diese bestehe in der Neigung, das Denken sich quantifizierenden Verstandesfunktionen erschöpfen zu lassen und die Natur auf die Natura naturata zu reduzieren, sodass dem menschlichen Geist das Vernunftvermögen mit seinem Zugang zur Dynamik der Natur und Vielfalt der Welt entgleite. (…) Seit Beginn der Neuzeit und noch verstärkt seit der Aufklärung zementiert der Verstand seine Herrschaft, indem er einerseits die Geldwirtschaft und andererseits die Naturwissenschaft zu Fundamenten der allgemeinen Ordnung macht. Die Wirtschafts- und Finanzordnung sowie weitgehend auch die Naturwissenschaften sind als notwendige Verstandesleistungen Ergebnisse des quantitativen Denkens.“ (Gaede 2012, S. 18) „Die Gleichgültigkeit gegenüber der Individualität, die den abstrahierend verfahrenden logischen Verstand kennzeichnet, ist nichts anderes als das Unverständnis dessen, was Individualität bereits im wörtlichen Sinne bedeutet, nämlich das Unteilbare oder Ganze. Dessen Fundament ist im Sinne von substare (= darunterstehen) die Substanz als dem Wesenskern oder der Seele eines Menschen. ­Psychoanalytisch wird Individualität von C. G. Jung als das Selbst definiert, das jeweils die spannungsvolle Einheit seines Bewussten und Unbewussten ist. Individualität entzieht sich dem quantitativen Denken, ist ihm nicht fassbar. Der nur auf das Quantum gehende Verstand, der sich laut Simmel mit der ,Frage nach dem bloßen Wieviel‘ begnügt, lässt darum die machtvollen Bereiche des Seelischen und damit zusammenhängend – des Metaphysischen außer Betracht. Die Unfähigkeit des Verstandes, die Potenzialität oder Macht des

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral

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­ eelischen zu erfassen, hat katastrophale Folgen, die schon den Philosophen SchelS ling zu dem warnenden Hinweis veranlassen.“ (Gaede 2012, S. 19)

cc

„Ist aber die Leitung zwischen Verstand und der Seele unterbrochen, so entsteht das Schrecklichste, nämlich der Wahnsinn.“ (Schelling 1976) „Ausschließliche Verstandesordnungen tragen deshalb, wenn sie auf lebende Wesen bezogen werden, den Keim der Zerstörung und Selbstzerstörung in sich. Das veranlasste 1967 den Physiker Werner Heisenberg zu der Feststellung: ,Der Weg, der aus dem Leben heraus in die abstrakte Erkenntnis führt, kann (…) beim Teufel enden.‘ (Werner Heisenberg 1984, S. 212) Ohne dass ein unmittelbarer Bezug zwischen beiden Denkern besteht, kommt Hegel zur entsprechenden Erkenntnis und schreibt: ,Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören‘, in unseren Worten: Wirklichkeit auf Abstraktionen reduzieren, heißt Wirklichkeit zerstören.“ (Gaede 2012, S. 19) „Der Pervertierbarkeit des logischen Verstandes entspricht seine Unfähigkeit, das Schöpferische zu erfassen. Dieses beruht auf dem Gegenteil des Vernichtungsprinzips, also auf dem Werdeprinzip, und ist an die Vernunft gebunden, denn nur sie begreift Natur als potenziell und werdend. Der Vernunft geht es um ein dynamisches Verständnis.“ (Gaede 2012, S. 21)

Beispielsweise ist die überwältigende andauernde Krise durch die Bildung der Eurozone, die die europäische Einheit gefährdet hat, ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie das gut gemeinte Ego, das die Eurozone hervorgebracht hat, das Chaos erkennen muss, das sich aus dem Gegenkurs der Unvernunft ihrer Entscheidungen ergibt. Die Mitglieder der Eurozone, aber auch Menschen, die durch egozentrisches Verhalten und Gier egoistisch angeheizt werden, streben nach dem Besten für ihr Land und sich selbst und vergessen dabei, dass die Einigung Europas im Mittelpunkt steht. Bisher scheint es so, als ob die Eurozone aufgrund w ­ idersprüchlicher, konkurrierender Interessen nicht zu einem dauerhaft vereinten Europa führen wird. Beispielhaft sind auch die jüngsten Entscheidungen der Bürger Großbritanniens, den Brexit zu wählen; die Botschaft, die in Gaedes Buch (2012) Der Gegenlauf dargelegt wurde, kann als nachhaltig relevant angesehen werden. Der amerikanische Nobelpreisträger und Ökonom Milton Friedman und andere sind der Meinung, dass der neue Euro den Kontinent nicht wie erhofft vereinen wird, sondern spaltet, weil die wirtschaftliche Anpassung durch die Änderung des Wechselkurses der jetzt gemeinsamen Währung zu kontroversen politischen ­Fragen führen wird. Der Euro hat sich in mehr als der Hälfte der Mitgliedsländer als eine Maschine zur Vernichtung von Reichtum erwiesen, nicht als etwas, das Reichtum

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2  Das Problem

schafft, wie es die Hoffnung vieler war. Wenn wir heute noch einmal über den Euro entscheiden müssten, würden wir wohl eher nicht beschließen, ihn anzunehmen. Allerdings sind die Länder der Eurozone inzwischen so miteinander verflochten, dass eine Entflechtung der Struktur ohne enormen politischen Schaden nicht möglich ist. Um politischen Schaden zu vermeiden, hat man im Falle Griechenland die Non-Bail-Out-Klausel nicht berücksichtigt. Die Diskussion über die Einführung von Eurobonds gibt es schon lange. Nun flammt sie erneut im Zusammenhang mit der Corona-Krise auf, um die desolaten Finanzen einiger Südstaaten zu retten, besonders Italien und Spanien. Das würde allerdings die Vergesellschaftung der Schulden in der Eurozone bedeuten, gegen die sich besonders Deutschland und die Niederlande wehren. Der Verfassungsrechtlers Udo Di Fabio (Gaede 2012, S. 31; Fabio 2011) stellt fest, dass dann, wenn wir Staat und Recht trennen, jeder Kompass für den Menschen und für eine weise Vorstellung vom 21. Jahrhundert fehlt. Natürlich können wir diese Schlussfolgerung auch auf die Wirtschaft beziehen. Wenn wir trotz aller Gesetze nicht in der Lage sind, den Sprung von der Ebene des Ego-dominierten Verstandes zur Ebene der Vernunft zu realisieren, dann werden Manager auch trotz ihrer verantwortungsvollen Absichten weiterhin die von der Wirtschaft abhängige Gesellschaft schädigen. Es ist bemerkenswert, dass, während wir in der Lage sind, täglich das schädliche Verhalten von Managern zu lesen, dass es nur wenige oder gar keine Veröffentlichungen gibt, die die vielen Manager und Unternehmer ankündigen, die das Gegenkurs-Paradoxon gelöst haben, um sowohl der Wirtschaft als auch der Gesellschaft zu dienen. Das Erlernen des Vertrauens in unsere Fähigkeit, sich intuitiv zu begründen, stellt sicher, dass die Aktivitäten, die von unserem Verstand initiiert werden, einem ethischen Rahmen folgen, der unethische Praktiken ausschließt.

2.18.3 Friedrich Schillers Freiheit der Vernunft Inge Brose-Müller (Vortrag Humboldt-Gesellschaft Jahresstagung Mannheim, 3. Oktober 2015) erleuchtete uns mit Friedrich Schillers Gedanken zur Freiheit durch Vernunft in seiner Ästhetischen Menschenerziehung in einer Reihe von Briefen: „Schiller ist nicht naiv in seinem Plädoyer für Schönheit und Kunst; immer wieder geht er vom physischen Zustand einer Nation aus, er hat unsere Grundbedürfnisse im Blick. Der Mensch ist immer noch sehr primitiv, er muss warm bleiben und genug zu essen haben, aber wenn diese Bedürfnisse befriedigt werden, dann kann seine bessere Natur verwirklicht werden (…) Nur wenn der Verstand vom Joch der Notwendigkeit gelöst werden kann, kann er in die Freiheit der Vernunft geführt werden.“ (Schiller 1793, S. 299)

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral

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Heute, obwohl wir gut ernährt sind, fehlt es der Menschheit an der Anerkennung und dem Wunsch nach Vernunft, und der Verstand fesselt uns weiterhin von der Freiheit der Realisationen, die notwendig sind, um eine neue Ethik zu umarmen.

2.18.4 Förderung der Vernunft im Individuum Gaede (2012, S. 87 f.) sieht einen dritten Weg zur Potenzialität und Kreativität und erkennt eine Chance in dem, was er monadische Chance nennt. Er verspricht eine Diskussion über die Monadologie von Leibniz, aber bittet uns um Nachsicht, da er uns zuerst eine Illustration aus der Gegenwart gibt, indem er Christa Wolf in der Geschichte Cassandra zitiert. Sie ließ ihre trojanische Heldin westliche Denker beschimpfen, indem sie sagte, dass es für sie nur eines gibt: „Entweder Wahrheit oder Lüge, richtig oder falsch, Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Leben oder Tod. (…) Es ist das andere, das sie zwischen ihren scharfen Unterscheidungen zerquetschen, das Dritte, das es nach ihrer Meinung gar nicht gibt, das lächelnde Lebendige, das imstande ist, sich immer wieder aus sich selbst hervorzubringen, das Ungetrennte, Geist im Leben, Leben im Geist.“ (Wolf 1983)

Wie Gaede erkennt auch Christa Wolf, dass die Entwicklung der lebendigen Kraft, die zwischen den entgegengesetzten Polen wächst, eine vereinigende, verbindende Kraft hat. Was dann aus den Gegensätzen entsteht, ist eine einzige harmonische Einheit. Gaede kommentiert: „Dieses Dritte, das Pascal Sinn nennt, ist die aus dem Unbewussten – oder laut Christa Wolf dem Ungetrennten – einströmende kreative Energie. Von ihr spricht C. G. Jung im Zusammenhang mit einer Erkenntnis Schillers und nennt das Dritte den mittleren Weg, der fruchtbar wird, wenn sich die beiden Gegensätze Ratio (Geist) und Sinnlichkeit (Leben) die Waage halten. Dann kann laut Jung die schöpferische Fantasie als symbolbildende Kraft tätig werden und der Prozess des von Christa Wolf benannten Hervorbringens aus sich selbst beginnen.“ (Gaede 2012, S. 88)

Nachhaltigkeit wird für Hans-Peter Dürr nur dann erreicht, wenn wir wirklich sagen können, dass wir das Leben lebendiger haben werden lassen. Diese Offenbarung war für ihn von entscheidender Bedeutung, insofern, als er am Ende unserer fünfjährigen Freundschaft darum bat, seine Interpretation in meiner Einflusswelt zu verbreiten. Wie können wir die Individuation der von Jung beschriebenen Person herbeiführen, sodass sich aus der Erfahrung des Selbst neue ethische Praktiken ergeben können? Um Christa Wolf zu paraphrasieren, wie stellen wir es an, um aus dem Selbst hervorzugehen?

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2  Das Problem

Gaede (2012, S. 88) liefert uns eine philosophische Antwort aus der Wende des 17. und 18. Jahrhunderts: „1695 beschließt G. W. Leibniz, seine scharfe Kritik am cartesischen Denken in die Wiederbelebung der substanziellen Formen umzusetzen. (Leibniz 1966). Gemeint ist die von Aristoteles begründete Substanzenlehre, die für alles Lebende gilt. Das Ergebnis ist die später Monadologie genannte Hauptschrift von Leibniz. Ihre Grundmaxime lautet: Die Monade perzipiert sich selbst, somit eine Aussage, die das Hervorbringen aus sich selbst betrifft.“ (Gaede 2012, S. 88)

Die Begriffe monas, griechisch für Einheit oder Einfachheit, und monad, die in der gesamten Geschichte der Philosophie vorkommen, haben leicht unterschiedliche Bedeutungen, aber ihre grundlegenden Absichten bleiben bemerkenswert konsistent. Die Nutzung beginnt bei den Pythagoräern und entfaltet sich vor allem im Neoplatonismus, in der christlichen Mystik, der jüdischen Kabbala und der hermetischen Tradition. Später vereinen sie sich in Leibniz’ Monadologie beinahe in ihrer Bedeutung, bevor sie im 19. Jahrhundert wieder beginnen, individuelle Interpretationen anzunehmen. Ungeachtet der Vielfalt der unterschiedlichen mystischen Wege, die von verschiedenen Religionen und Sekten innerhalb der Religionen gewählt wurden, liegt letztendlich in jedem von uns die Erkenntnis, dass es darum geht, die Einheit persönlich zu erfahren und diese Einheit auf die Außenwelt zu projizieren. Dies stellt eine weitverbreitete Einigkeit dar, dass Ethik im Inneren beginnt, individuell verstanden und akzeptiert wird und nach außen wirkt. Zur Grundmaxime der Monadologie sagt Gaede: „;Die Monade perzipiert sich selbst‘, somit eine Aussage, die das ;Hervorbringen aus sich selbst‘ betrifft. Das ganze Gewicht liegt im Bedeutungshorizont des Begriffs Perzeption. Er bedeutet mehr als das Wort Hervorbringen, schließt aber den damit bezeichneten Vorgang ein. Perzeption ist zielgerichtet und meint das naturische sich organisieren, das ein durch ein sich vorstellen oder Erkennen bedingtes Entstehen ist. (…) Als Vernunftsystem steckt in der Monadologie die Alternative zur Gegenlaufgefahr der Verstandeswelt.“ (Gaede 2012, S. 88–89)

Gaede erweitert seine Gedanken in einer Vorlesung für die Museumsgesellschaft in Freiburg, wo er sich weiter auf die biblische Geschichte von Adam und Eva im Paradies und den Baum der Erkenntnis bezieht: „Wenn darum der zur Selbstüberschätzung verführte Mensch meint, er wäre mit seiner Schlangenerkenntnis bereits ;wie Gott‘, dann ist er dem Hochmut verfallen. (…). Hochmut verwirklicht sich vor allem als rücksichtsloser Eigenwille, der sehr viel

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral

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später ,Wille zur Macht‘ heißt und von Nietzsche das unanfechtbare Urfaktum der Geschichte, also der Grundmotor der Geschichte, genannt wird. Dieser hochmutbedingte Wille trägt den Kern des Scheiterns in sich, denn Hochmut, so sagt ein alter Volksspruch, kommt vor dem Fall.“ (Gaede 2013, S. 5)

Dies steht im Einklang mit Jürgen Manemanns (2014) Position in seiner Kritik des Anthropozäns, in der er die Notwendigkeit einer neuen Humanökologie fordert. Gaede verweist auch auf Sebastian Franck, der 1534 ernste Bedenken äußerte, die sich aus der Schlange ergaben, die das menschliche Urteil verführte, weil es missbraucht wurde, um gezielt dazu zu dienen, die Menschen auszunutzen. Gaede weiter: „Das Urteilsvermögen führt zu Willenshandlungen, die vor allem dem Eigennutz dienen. Diese Willenshandlungen laufen nach einem bestimmten Muster ab, mit dem alternativen Zuständen wie Gut und Böse Ausdruck verliehen wird: nach dem Entweder-­oder-Muster.“ (Gaede 2013, S. 9)

Dieses Entweder-oder-Denken führt zu oft dazu, dass moderne Manager unmoralische Handlungen wie falsche Buchführung und Preisfestsetzung, höhere Gewinne und das Wohl des Unternehmens als Rechtfertigung für unethische Praktiken einsetzen. Für Gaede ist das Entweder-oder-Argument ein luziferischer Fluch. Er zitiert Hegel, der bemerkt, „Entweder-oder … drückt ein Prinzip des Ego-­Geistes aus, das auf Vernunft verzichtet“. Wegen seiner Bedeutung für das Verständnis der Konsequenzen habe ich bewusst und ausführlich dargestellt, wie ein vom Ich-Geist festgelegter Handlungsablauf selbstzerstörerische Gegenkurstendenzen eingebaut hat, die langsam, aber unaussprechlich die Kontrolle übernehmen, wenn der Handlungsfluss nicht auf die Ebene der Vernunft gehoben wird. Wenn Sie Entscheidungen und Handlungen mit Ihrem Ego-Geist initiiert haben, müssen sie auf die Ebene der Vernunft übertragen werden, oder Sie werden zerstören, was Sie begonnen haben! Werden Manager mit Vernunft handeln, wenn sie den oben genannten historischen, fundiert begründeten und intuitiv rationalen philosophischen Positionen ausgesetzt sind? Wahrscheinlich nicht oder bestenfalls nur wenige werden es tun. Einige mögen von der Idee angezogen werden, dass Vernunft in der Lage ist, sie von den Begrenzungen der begrenzten Intelligenz ihres Verstandes zu befreien, aber ohne die Realität der Macht des vom Ego-dominierten Verstandes wirklich zu verstehen und zu akzeptieren, werden sie es ihrem Verstand erlauben, seine eigenen Begrenzungen zu begrenzen, indem sie die Anstrengung des Unbewussten vereiteln, Individuation in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Dies ist ein ern-

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2  Das Problem

stes Problem von größter Bedeutung. Die Erkenntnisse von Philosophen und geistigen Intellektuellen, die uns vorausgegangen sind, sind ein Kulturgut von ungeheurem Wert. Sie stehen uns zur Verfügung, um uns zu helfen, uns in schwierigen Situationen zurechtzufinden, die für uns vielleicht neu, aber nicht allgemein neu sind. Leider haben die meisten von uns heute kein Bewusstsein für historische Philosophien. Der Schatz wird also im kollektiven Unbewussten gespeichert, wo er nicht vom Verstand, sondern nur durch die Seele, die unser Wegweiser zum Unbewussten ist, zugänglich ist. Sobald der Sprung zum spirituellen Bewusstsein vollzogen und eine Einheit von Körper, Seele und Geist hergestellt ist, wird uns die Entstehung eines lebensfähigen, vertretbaren ethischen Verhaltens in all unseren beruflichen und persönlichen Aktivitäten garantiert. Wenn leistungsorientierte Manager Schwierigkeiten haben, ihre ethischen Handlungen auf das Niveau der Vernunft ausgehend von dem des Verstandes anzuheben, dann müssen sie zumindest verstehen, dass ihr Erfolgspotenzial gefährdet ist. Das wäre doch ein Anfang und vielleicht letztendlich auch eine Motivation für Veränderungen. Wie können wir diesen Sprung ins spirituelle Bewusstsein erleichtern, um von den Managern der Wirtschaft zu profitieren, die Zugang zu ihrer Individuation haben? Es gibt auch Zugang zu Vernunft durch das Herz, zum Beispiel im Sufismus und in der Mystik des Islam. Papst Franziskus verweist in seiner jüngsten Enzyklika Laudato Si’ auf den Begriff der Vernunft als eine Quelle für ethische Prinzipien. Die Quelle der Ethik ist eben nicht der Verstand. Blaise Pascal verbindet die Dimension oberhalb des Verstandes mit dem Herzen: cc

„Es gibt einen Sinn des Herzens, den der Verstand nicht kennt.“ (Pascal 1669)

Moralisches Denken wurde in den letzten Jahrzehnten auch von zahlreichen anderen Autoren sehr oft mit Business Ethik in Verbindung gebracht. Linda Klebe Trevino schreibt zum Beispiel: „Ab 1958 hat Kohlberg das Interesse an der Moralpsychologie wiederbelebt. Seine Theorie der kognitiven moralischen Entwicklung betonte die kognitiven Grundlagen des moralischen Urteils und seine Beziehung zum moralischen Handeln. Eine Reihe von Ethikforschern hat sich von Kohlbergs Theorie der kognitiven moralischen Entwicklung (CMD) leiten lassen. Obwohl nicht ohne Kritiker, ist Kohlbergs CMD-­ Theorie zur populärsten und erprobtesten Theorie des moralischen Denkens geworden, und sie gehört nach wie vor zu den meistzitierten Arbeiten der zeitgenössischen Verhaltensforschung. Die CMD-Theorie konzentriert sich in erster Linie auf den kognitiven Prozess, der involviert ist. (…) Sie beurteilt, was moralisch richtig ist.“ (Klebe Trevino 1992, S. 445)

2.18 Vernunft als Anker für Ethik und Moral

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Es ist wichtig, klarzustellen, dass „moralische Vernunft“ nicht mit Vernunft gleichzusetzen ist. Sie kann ein kleinerer Teil davon sein, oder sogar eine Folge von Vernunft. Da diese Theorie den kognitiven Prozess in den Ego-Geist verbannt, muss sie als veraltet gelten und kann nicht mehr mit den jüngsten Erkenntnissen in Verbindung gebracht werden. Wie wäre es mit der Möglichkeit einer Veränderung durch Bildung oder durch Leiden? Viele von uns haben direkt erfahren, dass das Leiden oft dazu führt, dass wir Veränderungen vornehmen, zumindest in unseren Handlungen, wenn nicht gar in unseren Absichten; oft Conditio sine qua non. Durch eine umfassende Bildung, die sich nicht nur auf die Erweiterung des Ego-dominierten Verstandes konzen­ triert, sondern auch Moral, Ethik und die höhere Bildung des Geistes gleichermaßen berücksichtigt, wären künftige Generationen besser auf das Leben vorbereitet, einschließlich der Möglichkeit, ihr Wissen in marktfähige, vernünftig und ethisch vertretbare Geschäftspraktiken umzusetzen. Hans-Peter Dürr fasste die G ­ renzen unseres Wissens und die Weite unserer Erfahrung während unserer Gespräche in der Aussage zusammen: cc

„Wir erleben mehr, als wir begreifen.“ (Dürr und Oesterreicher 2005)

Wie steht es um die Bildung unserer Kinder und Jugendlichen? Gibt es Hoffnung, dass wir uns auf eine Erziehung zu bewegen, die eine Ausbildung in spiritueller Philosophie beinhaltet, oder zumindest eine gewisse Entwicklung dahingehend? Können wir auf eine Zukunft hoffen, die eine Bevölkerung einschließt, die wieder einmal in der Fülle und dem Reichtum der Ideen gebildet ist, die von Philosophen und Pä­ dagogen seit unzähligen Jahrhunderten vertreten werden? Leider haben sich unsere formalen Bildungseinrichtungen in den letzten 50 Jahren von der Erziehung des ganzen Menschen wegbewegt, hin zum Training des vom Ego-­dominierten Geistes. Historische, gut durchdachte und voll funktionsfähige pädagogische Ideen werden im Wettlauf um neue Ideen verworfen. Moderne Pädagogen wollen mit ihren neuen modischen Ideen veröffentlicht werden. Diese Ideen können allzu oft nicht das Licht der historischen Prüfung ertragen und sind daher dazu bestimmt, innerhalb von ein oder zwei Jahrzehnten durch neuere, unverantwortlich unsolide Praktiken ersetzt zu werden; dies alles auf Kosten einer Generation nach der nächsten Generation junger fruchtbarer Geister, denen es an der Fähigkeit mangelt, so etwas wie Vernunft darzustellen, das große Ganze zu sehen oder ein funktionierendes soziales oder wirtschaftliches Bewusstsein zu entwickeln. Schauen Sie sich nur einmal die OECD an, die sich für PISA (Program for International Student Assessment) einsetzt. Es testet Bildungskonzepte, die nur auf Fähigkeiten des Wissens basieren.

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2  Das Problem

2.19 OECD-Leitsätze sind schwerwiegend fehlgeleitet Silja Graupe und Jochen Krautz nehmen zu den OECD-Leitsätzen die folgende kritische Position ein: „Pisa und seine Ergebnisse entscheiden darüber, wie künftige Generationen gebildet werden. Ein Maß soll die Fähigkeiten und Fertigkeiten, neudeutsch: Kompetenzen, von Schülern in über 30 Ländern vergleichen und bewerten. Dabei bekannte bereits Pisa 2002 offen, dass sich dieses Maß nicht an den Bildungstraditionen, Verfassungen und Richtlinien der vermessenen Länder orientiere. Vielmehr liege den Tests ein eigenes Konzept mit normativer Wirkung zugrunde: Lehrer, Schulen und ganze Bildungssysteme sehen sich weltweit in ein einziges Schema gezwungen, nach dessen Kriterien sie allein Exzellenz erlangen sollen. So ist nach der Veröffentlichung von Pisa zu fragen: Was sind eigentlich die Kriterien dieser Messungen? Und wer hat Macht, über deren „Richtigkeit“ zu bestimmen? Diese Fragen führen unmittelbar zu der für den Pisa-Test verantwortlichen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts nach eigenen Angaben ,eine zentrale Rolle bei der Bereitstellung von Indikatoren zu Bildungsleistungen spielt und damit die staatliche Bildungspolitik nicht nur bewerten, sondern auch zu ihrer Gestaltung beitragen‘ will. In Peer-Reviews wie Pisa sieht die OECD den effizientesten Weg, Einfluss auf das Verhalten souveräner Staaten auszuüben, wohl wissend, dass ihr dieser Einfluss nicht zusteht. Den Plan hierzu fasste sie im Jahre 1961 bei einer in Washington einberufenen Konferenz Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand. Deren Ergebnisse wurden sodann, wie die Kulturkommission des Europarates ohne jede Kritik feststellt, zum unmittelbaren Gegenstand der Beratung der nationalen Ministerien und Parlamente. Sie wurden außerdem stark bestimmend für die gesamte öffentliche Erörterung pädagogischer und bildungspolitischer Probleme. Es ist selten, dass eine Konferenz so sichtbar die Politik vieler Länder verändert. Ausdrücklich ging es bei der Konferenz nicht um Maßstäbe, die den Bildungstraditionen der jeweiligen Länder gerecht würden. Das neue Maß war umgekehrt darauf angelegt, alle tradierten Vorstellungen außer Kraft zu setzen. So heißt es im Bericht zu der genannten Konferenz, es ginge im Hinblick auf die Entwicklungsländer um nichts weniger, als dass Millionen Menschen von einer Lebensweise losgerissen werden sollen, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das Lebensmilieu ausmachte. Alles, was bisher an Schule und in der Erziehung in diesen Ländern geleistet wurde, habe soziale und religiöse Ziele verfolgt, die vorwiegend Resignation und spirituelle Tröstung gewährten; Dinge, die jedem wirtschaftlichen Fortschrittsdenken glatt zuwiderlaufen. Diese jahrhundertealten Einstellungen zu verändern, sei vielleicht die schwerste, aber auch die vordringlichste Aufgabe der Erziehung in den Entwicklungsländern. Wohlgemerkt zählt die OECD dabei auch die Nationen Europas zu ebendiesen Entwicklungsländern. So bezeichnet sie gerade Deutschland, mit seiner dezentralisierten Schulverwaltung (…), was die Erziehungsplanung angeht, auch als ein etwas unterentwickeltes Land. Folglich geht es darum, auch Deutschland bei der Bildung einer kulturellen Entwurzelung zu unterziehen.“ (Graupe und Krautz 2013)

2.19  OECD-Leitsätze sind schwerwiegend fehlgeleitet

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Ganze Gesellschaften wurden bewusst von ihren spirituellen Wurzeln abgeschnitten, um in den Dienst des Wirtschaftswachstums gestellt zu werden. Jungs Bemerkung dazu ist hier zutreffend: „Ich möchte folgende Tatsachen zum Bedenken geben: Seit dreißig Jahren habe ich eine Clientèle aus allen Kulturländern der Erde. Viele Hunderte von Patienten sind durch meine Hände gegangen; es waren in der Großzahl Protestanten, in der Minderzahl Juden und nicht mehr als fünf bis sechs praktizierende Katholiken. Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits von 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession oder Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.“ (Jung 1995)

Daraus folgt, dass Bildungspolitik und -praxis, die sich ganz auf den Verstand konzentrieren und die Erziehung des Geistes (Spirits) aktiv vermeiden, zu seelischen und körperlichen Problemen führen. Es zeigt sich durch Ausbrennen, mangelnde Zielstrebigkeit, unmoralische und unethische Einstellungen und Praktiken, Depressionen und Selbstmord bei Schülern und jungen Erwachsenen. Graupe und Krautz weiter: „Das OECD-Programm sagt der gewachsenen Pluralität von Bildungszielen und Diskursen, die diese Ziele beständig reflektierten und erneuerten, den Kampf an, um sie durch eine einzige, neuartige Vorstellung zu ersetzen: In der Schule soll jener Grundsatz von Einstellungen, von Wünschen und von Erwartungen geschaffen werden, der eine Nation dazu bringt, sich um den Fortschritt zu bemühen, wirtschaftlich zu denken und zu handeln. Der Mensch soll nicht mehr lernen, sich in Verantwortung für die Gemeinschaft seine eigenen Maßstäbe zu setzen.“ (Graupe und Krautz 2013)

Mit einem Federstrich wurde mit dem Segen der OECD die von John Maurice Clark geforderte Möglichkeit, verantwortungsvolle Entscheidungen über die Wirtschaft zu treffen, abgeschafft! Was ist mit den OECD-Leitsätzen für die Wirtschaft? Angel Gurria, Generalsekretär der OECD, hielt am 22. Januar 2009 auf dem European Business Ethics Forum (EBEF) einen Vortrag mit dem Titel „Business Ethics and the OECD Principles“, in dem er sich mit dem Thema „Was kann getan werden, um eine weitere Krise zu vermeiden?“ beschäftigt: „Die Weltwirtschaftskrise kostet die Welt Billionen Dollar, eine langwierige Rezession, Millionen verlorener Arbeitsplätze, einen enormen Vertrauensverlust in die Finanzmärkte und eine Umkehrung unserer Bemühungen, die globale Armut einzu-

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2  Das Problem dämmen. Sie ist das Ergebnis der Kombination mehrerer Ausfälle. Ein Scheitern der Business Ethik ist einer von ihnen, einer, der im Epizentrum dieses finanziellen und wirtschaftlichen Erdbebens liegt. Die Regeln des globalen Finanz- und Wirtschaftssystems werden immer wieder als Notmaßnahmen umgeschrieben. Die Anreize für richtiges Verhalten müssen in diese neuen Regeln aufgenommen werden. Außerdem wird ein neues Gleichgewicht zwischen Regierungen und Märkten hergestellt. Jede Krise wird uns die Möglichkeit geben, die Grundlagen für eine neue Unternehmenskultur zu schaffen, die ethischer und verantwortungsvoller ist. Die OECD arbeitet bereits an der Entwicklung eines Rahmens, um sicherzustellen, dass sich diese Ereignisse nicht wiederholen. Wir arbeiten für eine gerechtere, sauberere und stärkere Wirtschaft.“ (OECD 2009)

Der Vortrag wurde 2009 gehalten. Gibt es Anzeichen für Veränderungen in der Wirtschaft? Finden wir zunehmend mehr Verantwortung und ethisches Verhalten in der Wirtschaft? Das glaube ich nicht. Wir haben einfach eine weitere Reihe von Richtlinien in unserem Bücherregal. Graupe und Krautz schreiben weiter: „So heißt es 1961  in unmissverständlicher Offenheit: ,Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.‘ So könne, ,ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen‘ behauptet werden, ,dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar  – auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen – ist‘. Genau diese Humankapitaltheorie vertritt die OECD bis heute. Das erinnert an die Formulierung Humankapital. Aus welcher dunklen Ecke kam diese Formulierung und welche irregeführten Köpfe prägten sie und akzeptierten sie? Wie kann das Humankapital lernen, sich ethisch zu verhalten, wenn es geschult wird und nur dazu abgerichtet wird, um ohne Skrupel Gewinne zu steigern und die Produktivität zu steigern, wie es von einer Maschine erwartet wird? Die OECD scheint der Meinung zu sein, dass die Anhäufung von intellektuellem Kapital uns ebenso zugutekommt wie die Anhäufung von Finanzkapital, und tatsächlich ist es auf lange Sicht sogar wahrscheinlich, dass es noch mehr Nutzen bringt. Die OECD unterstützt die Humankapitaltheorie. So heißt es 2007  in einer OECD-Schrift, individuelle Fähigkeiten würden als Form des Kapitals gelten, die wie ‚ein Produktionsfaktor, wie ein Spinnrad oder eine Getreidemühle, einen Ertrag bringen‘ können. Anpassungsbereitschaft und -fähigkeit gilt der OECD heute sogar als Schlüsselkompetenz. Daher fragt auch die sogenannte Literacy, also jene Lesekompetenz, die heute bereits deutschen Bildungsstandards zugrunde liegt, vor allem danach, wie Menschen Informationen nutzen, um ‚in der Gesellschaft und der Wirtschaft zu funktionieren‘. Bei allem Dissens über Bildungsfragen gerade in der deutschen Diskussion war vor Pisa unbestritten, dass Bildung mit Anpassung nichts zu tun hat, im Gegenteil.

2.19 OECD-Leitsätze sind schwerwiegend fehlgeleitet

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Zudem widerspricht eine solche Auffassung dem Grundanspruch an Bildung in einem demokratischen Rechtsstaat, zur Mündigkeit zu befähigen, und damit auch dem Bildungsauftrag, wie ihn die Länderverfassungen in Deutschland normieren. Die OECD aber erhebt nun genau jene Anpassung an eine äußere Umwelt zum Maß allen Bildungserfolges. Doch damit nicht genug. Denn es handelt sich bei der Umwelt, an die Schüler sich anpassen sollen, nicht um die reale und erfahrbare Welt der Wirtschaft, sondern um eine bloße Idealvorstellung, wie sie Ökonomen der Chicago School of Economics schufen und auf die Bildung anwandten: die Vorstellung des Marktes als ein rein abstrakter, überbewusster Preis- und Koordinationsmechanismus, an dem sich alles menschliche Handeln ausrichten soll. Im Umkehrschluss verhindert diese wirklichkeitsferne Festlegung jegliche Kritik und Willen zur Veränderung, denn sie wird in der Öffentlichkeit eben nicht als theoretisches Konstrukt aufgefasst, sondern ‚von den meisten Menschen als unmittelbar einleuchtende Wahrheit angesehen‘, wie der Neoliberale August Hayek schreibt.“ (Graupe und Krautz 2013)

Graupe und Krautz sind zum Schluss ihrer Ausführungen der Meinung, dass Lehrer und Schüler längst die Konsequenz spüren, dass sich Pädagogik aus den Schulen verflüchtigt hat und der Herrschaft des distanzierten Diagnostizierens und Evaluierens Raum gibt. Die zwischengeschaltete Scheinwelt der Pisa-Messung entfremdet sie von den eigenen kulturellen Wurzeln und zerstört die zwischenmenschliche Basis des pädagogischen Geschehens. Die unmittelbaren Erfahrungen der pädagogischen Praxis verlieren an Bedeutung für die Gestaltung von Bildung, eben weil die Aufmerksamkeit von Politik, Öffentlichkeit und auch Erziehungswissenschaft auf statistische Scheinwelten gebannt bleibt. Die Kunst, über inszenierte Scheinwelten die öffentliche Meinung zu beeinflussen, nannte Edward Bernays, der Erfinder moderner PR, noch bei ihrem ursprünglichen Namen: Propaganda. Dabei liege die unheimliche Macht des Messens letztlich nicht im Ergebnis. Unabhängig davon, was Pisa genau misst, und gleichgültig, ob gute oder schlechte Ergebnisse produziert werden, liege die Macht in den Prozessen des Messens und Gemessenwerdens selbst. Denn diese gewöhnten Menschen daran, geistlos allein zwischen einem Mehr und einem Weniger zu unterscheiden, ohne je wirklich nach Bildungsqualitäten zu fragen. Sie würden fit machen für eine Welt, in der alles nur nach Wachstum strebt und sich Erfolg an reinen Quantitäten bemisst. Nun habe die Welt wieder gebannt auf die Scheinwelt von Pisa geschaut. Wieder werden Länder unter dem Eindruck des inszenierten Schocks stehen, sodass „zügig eine nach vorn gerichtete Reaktion“ erfolgt, die ohne weiteres Nachdenken die alltägliche Welt der Schüler und Lehrer erneut auf den Kopf stellt. Es sei an der Zeit, diesem Plan, der der kulturellen Entwurzelung, der Bildung, Demokratie und eben auch die reale Wirtschaft untergräbt, Einhalt zu gebieten. Wem solle ein Bildungssystem, das sich an der Scheinwelt von Pisa orientiere, überhaupt nützen?

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2  Das Problem

2.20 Bildung der gesamten Person Was die Menschen verloren haben, ist das, was durch den Willen der OECD zum bloßen, nur auf den wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten, ausgebildeten Humankapital degradiert wird. Dies hat Inge Brose-Müller deutlich gemacht, als sie im Oktober 2015 auf der halbjährlichen Tagung der Humboldt-Gesellschaft über „Die Stadt  – Die Kunst  – Der Mensch“ sprach und sich dabei auf Friedrich Schiller ­bezog. Ihrer Meinung nach möchte uns Schiller bei der Erforschung der instinktiven Struktur des Individuums zur Gesamtheit des Menschen führen, die durch die theoretische Kultur der Aufklärung verloren gegangen ist. Er will die entgegengesetzte Verirrung überwinden, eine Ära der „Grobheit“ einerseits und der „Schlaffheit“ andererseits, die durch unsere „schöne Kultur“ gefördert wird, aber er fragt sich, was das Mittel gegen solche Antipoden sein könnte. Ich denke, wir sind uns einig, dass die Rohheit und die Schlaffheit nach wie vor ein Dilemma sind. Die Menschen leiden, ohne zu wissen, dass ihre eigene egozentrische Rohheit das gesamte Kollektiv betrifft, und beschuldigen dann in einer klassischen Projektion, dass das Kollektiv roh sei. Allzu oft fehlt ihnen eine innere Orientierung zur Ganzheit in der Außenwelt. Sie werden durch all ihre ziellosen Wanderungen in ihrer Wohlstandsgesellschaft „erschlafft“, können sich aber mangels einer ganzheitlichen Erziehung, die ihnen sonst eine sinnvolle persönliche Orientierung bieten könnte, nicht davon befreien. (lat.: oriri = sich erheben). Die Menschen erheben sich nicht oder zu wenig. Die Lösung für das von Schiller proklamierte Dilemma findet sich in diesem Buch. Es soll uns durch eine persönliche Verpflichtung zum inneren Wachstum mit dem Ziel einer Neuen Ethik führen. Laut Inge Brose-Müller sieht Schiller die Aufgabe des Menschen darin, sich der Idee seiner Menschlichkeit anzunähern. Idealistisch gesehen handelt es sich um einen unendlichen Prozess, der bestenfalls einen Teilerfolg im Leben eines Menschen erzielen kann. Das Erreichen des Bewusstseins von Ganzheit und Menschlichkeit ist jedoch in unserer Lebenszeit möglich und kann durch die Methoden der Individuation, Meditation und christlichen Kontemplation erreicht werden. Darauf werden wir in Kürze noch näher eingehen. Brose-Müller verweist auf Wilhelm von Humboldt: „Als Idealist formulierte Wilhelm von Humboldt eine ähnliche Idee, allerdings ohne den Dualismus der Instinkte. In seinen Briefen an Charlotte Diede schreibt er: ,Jeder Mensch trägt, unabhängig davon, wie gut er ist, ein noch besseres Wesen in sich, das sein eigentliches Selbst ausmacht. Aber wahrscheinlich ist er dem Selbst sogar untreu. Man muss sich auf dieses innere und unerschütterliche Wesen verlassen und nicht auf

2.21 Unsere Gesellschaft ist ungesund für die Seelen der Kinder

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das fluktuierende und alltägliche Wesen, das in dieses innere und nicht so veränderliche Wesen zurückgeführt werden muss. Nur dann kann man den vielen Dingen vergeben, von denen das tiefere Wesen unschuldig ist.‘“ (Leitzmann 1910)

Humboldt zielt auch auf interne Verbesserung und Verfeinerung, aber er scheint uns nicht darüber zu informieren, wie der Mensch seinen inneren Kern erfährt. Wie aktuell ist diese Nachricht! Humboldts tatsächliches Selbst und der Kern kann als das von C.  G. Jung definierte Selbst erkannt werden  – unser innerer ­göttlicher Kern, im Gegensatz zu unserem weltlichen Ego. Er berät uns, wie auch die Befürworter aller spirituellen Ansätze, wie wir uns weiterentwickeln können, um diesen Kern durch den Prozess der Individuation und des inneren Wachstums zu erfahren, der zu einer einzigartigen Erfahrung führen kann.

2.21 U  nsere Gesellschaft ist ungesund für die Seelen der Kinder Es werden weiterhin Anstrengungen unternommen, um die derzeitigen negativen Eigenschaften, die die Schulbildung angenommen hat, zu überwinden. Privatschulen wie die anthroposophischen Waldorfschulen sind ein Beispiel dafür. Eine weitere Gegenbewegung ist die Klasse 2000 (2000), die in deutschen Grundschulen durchgeführt wird. Mit der Klasse 2000 und ihrer Symbolfigur KLARO erleben Kinder, was sie für sich selbst tun können und was es braucht, damit sie sich zufrieden und erfüllt fühlen. Von der frühen Kindheit bis zur vierten Klasse sind die Kinder gesunden, aktiven, lebendigen und lebensfrohen Erlebnissen ausgesetzt. Lehrer und speziell ausgebildete Gesundheitsförderer und -vermittler widmen etwa 15 Unterrichtsstunden pro Schuljahr ausschließlich der Gesundheit und den Lebenskompetenzen und tragen dazu bei, dass bei Kindern Wissen, Einstellungen und Fähigkeiten entwickelt werden, die es ihnen ermöglichen, den Alltag so zu meistern, dass sie komfortabel und gesund bleiben. Ziele der Klasse 2000 • Kinder lernen, gesund zu sein, und ebenso wichtig ist, dass sie sich an der Förderung ihrer eigenen Gesundheit beteiligen müssen. • Kinder lernen ihren Körper kennen und wissen, was sie tun können, um ihn so gesund zu erhalten, dass sie sich wohlfühlen. • Kinder lernen wichtige Lebenskompetenzen, wie den Umgang mit Emotionen und Stress, die Zusammenarbeit mit anderen, die Lösung von Konflikten und kritisches Denken.

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2  Das Problem

Themen der Klasse 2000 • • • • •

Gesunde Ernährung Bewegung und Entspannung Sich selbst zu lieben und Freundschaften zu schließen Probleme und Konflikte lösen. Kritisches Denken und das Lernen, Nein zu sagen.

Derzeit nimmt jeder achte Schüler in der Grundschule teil, und seit Beginn des Programms im Jahr 1991 haben mehr als eine Million Kinder daran teilgenommen. Im Schuljahr 2012/13 nahmen über 420.000 Kinder in 18.376 Grundschulklassen teil, was 13,6 % aller Grundschulklassen entspricht. Auch im Gymnasium gibt es einige sehr positive Ansätze, wie z. B. die, über die Juliane Cernohorsky-Lücke im Journal Bewusstseinswissenschaften berichtet. Ihr Ansatz ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler als ein Projekt unter dem Motto cc

„Jeder Mensch ist eine gute Idee, die Wirklichkeit werden will.“ (Cernohorsky-­Lücke 2015, S. 77) verstehen. Laut Juliane Cernohorsky-Lücke sind die Begabungen und das individuelle Schicksal des Einzelnen Ausgangspunkte, von denen aus er sein Leben gestalten und lenken kann, was im Kontext eines größeren Ganzen zu sehen ist. Dies ist der Ansatz für den Ethikunterricht. Die Schüler lernen Achtsamkeitsübungen, die helfen, sich selbst und andere zu bestätigen. Sie studieren auch Kunst, die ihren Dialog vertieft und bereichert. Darüber hi­ naus werden Möglichkeiten für einfühlsame Erfahrungen und persönlichen Ausdruck ermöglicht. Diese Schulen fördern auch: „Von Anfang an begleiten die Schüler die Übung der ungeteilten Aufmerksamkeit. Letztere ist der Achtsamkeitsübung auf der Ebene der allumfassenden Wahrnehmung verwandt. Es ist gut, dass ‚Du da bist‘, sich selbst und andere bejahen. • Künstlerisches Arbeiten zur Vertiefung des eigenen Dialogs, der Empathiefähigkeit und des persönlichen Ausdrucks ist fester Bestandteil des Seminars • Persönlichkeitsbalance: Anhand von Spielen, Gruppen- und Einzelaufgaben wird in einem geschützten Raum die Selbsterkenntnis hinsichtlich der eigenen Stärken und Schwächen gefördert. Es folgt die gemeinsame Entwicklung individuell angestimmter Übungen, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern.

2.21 Unsere Gesellschaft ist ungesund für die Seelen der Kinder

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• Vom Nachdenken zum Vorausdenken, wie philosophiert man überhaupt? Von der Zukunft her denken! Mein Leben, wer lebt es, wenn nicht ich, wer dann? • Salutogenese, Yogaübungspraxis, Zeit- und Vitalitätsmanagement, ,Keiner ist eine Insel für sich‘, Kennenlernen der Aufstellungsarbeit • Solozeit in der Natur: Was bedeutet der Abschied von der Kindheit? Was will ich wirklich in diesem Leben?“ (Cernohorsky-Lücke 2015, S. 77 f.)

Im Mittelpunkt steht die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung mit der These: cc

Wer als Mensch in sich selbst verankert ist, hat letztlich das meiste zu geben für die Gesellschaft.

Hier erkennen wir die Betonung der Ethik. Wie bedauerlich, dass diese positiven Ansätze die Ausnahme sind! Die WAZ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung) schrieb am 02.03.2015 unter dem Titel „Unsere Gesellschaft ist ungesund für Kinderseelen“, dass die Zahl der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit Depressionen diagnostiziert und ins Krankenhaus eingeliefert wurden, deutlich gestiegen sei. Im Jahr 2004 seien nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 4176 Jugendliche im Alter von 10 bis 20 Jahren mit Depressionen behandelt worden, bis 2012 waren es schon 12.567. Es ist immer möglich, über äußere Ursachen für diese immer stärker werdende Depression bei unseren jungen Menschen zu spekulieren, aber wir müssen auch unseren persönlichen Lebensstil überprüfen. Was für ein Modell stellen wir als Eltern dar? Haben wir eine andere Haltung, als nur die, irgendwie durch den Alltag zu kommen? Verbringen wir unsere Freizeit mit fruchtbaren, gesunden, vitalisierenden Aktivitäten oder ist sie gefüllt mit sinnlosem Fernsehen, digitalem Spielzeug und oberflächlicher Unterhaltung, um die spirituelle Leere zu füllen, die wir intuitiv wahrnehmen? Das Fehlen einer sinnvollen, zielgerichteten Balance im Leben führt unweigerlich zu körperlichen, geistigen und seelischen Störungen. „Sind die Universitäten Sklaven der Wirtschaft?“ So lautet der Titel eines Artikels in der ZEIT, der im März 2015 erschienen ist. „Die enge Beziehung der Wirtschaft zu den Universitäten ist zu stark“, sagt der Soziologe Michael Hartmann. Mit der zunehmenden Finanzierung der Hochschulen durch die Wirtschaft nimmt natürlich auch der Einfluss der Wirtschaft auf die Hochschulen zu. Diejenigen, die Geld von der Wirtschaft wollten, müssten Waren oder Dienstleistungen liefern, die im Interesse der Wirtschaft liegen würden. Selten geschehe dies so

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2  Das Problem spektakulär wie damals, als Ölkonzerne Berichte des amerikanischen Wissenschaftlers Wei-Hock Soon vom ,Harvard Smithsonian Center for Astrophysics‘ anforderten. Für eine geheime Zahlung von mehr als einer Million Dollar habe er einen Bericht veröffentlicht, in dem er den Zusammenhang zwischen globaler Erwärmung und Kohlendioxidemissionen geleugnet habe.“ (Hartman und Hippler 2015)

Auch ohne jegliche finanzielle Unterstützung durch die Industrie rückt das Interesse vieler Hochschulen immer mehr in den Fokus der Ausbildung von Studenten für die Wirtschaft. Junge Menschen erhalten keine angemessene Ausbildung, um ihr persönliches Wachstum und ihre intuitive Entwicklung zu fördern, bevor sie in die Geschäftswelt eintreten. Wenn wir überwiegend Belohnungen nur für quantitative Gewinne erfahren haben, ist nicht zu erwarten, dass wir ausreichend vorbereitet sind, um qualitative Ziele erfolgreich in unsere Karriere zu tragen. Wenn wir nie dazu ermutigt wurden, eine solide moralische und ethische Basis zu entwickeln, wie kann man dann erwarten, dass wir diese Prinzipien auf fundierte Entscheidungen anwenden können, oder dass wir in Krisensituationen, sei es in un­ serem persönlichen oder beruflichen Leben, persönliche Entschlossenheit und Führungsstärke zeigen können? Erfahrung als Vernunftserfahrung vor dem Eintritt in die Belegschaft ist unerlässlich, um ethische Entscheidungen zu treffen, wenn man beruflich beschäftigt ist. Gerald Hüther (2015) ist aus seiner Sicht als Gehirnforscher überzeugt, dass für uns alle die Phase der Einzelkämpfer vorbei sei und wir an einem Punkt angelangt seien, an dem wir eine neue Kultur des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit entwickeln müssten, die auf Vertrauen und Zusammenarbeit basiere. In dieser Form der Zusammenarbeit gehe es nicht mehr darum, sein Wissen für die eigenen Karrierepläne zu nutzen, sondern es der Gemeinschaft und der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Diese Form der Zusammenarbeit sei selten gelungen, denn das Schulsystem und das von uns geschaffene betriebliche Anreizsystem unterstützen nicht den Wunsch, die Erfahrung und das Wissen mit anderen vertrauensvoll zu teilen. Hüther erklärt auch, wie neue Erfahrungen und damit neue Zusammenhänge im Gehirn durch die Stärkung von Gemeinschaftserfahrungen möglich sind. Wir sind entmutigt, weil unser Bildungssystem seine Verantwortung für die Bildung aufgibt und sie durch die Ausbildung von kaufmännischen Fähigkeiten ersetzt. Da der Zugang zur Seele fehlt, ist Entmachtung unumgänglich, denn wir brauchen unsere Seele als Wegweiser zu unserem Unbewussten. Mit den Worten von J. G. Herder, der Mensch sei ‚behindert von seinen höheren Mächten‘ ist unser Defizit gut ausgedrückt. Er hat den Zugang zu seinem Unbewussten verloren, wo seine höheren Kräfte wohnen. Geistig behinderte Menschen sind nicht in der Lage, auf eine solide, intuitive Anleitung zuzugreifen, um fundierte Entscheidungen über

2.22 Es geht nur um Leistung

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ethische oder moralische Praktiken zu treffen. Dennoch hat die Gesellschaft eine Erwartung an ethische Praktiken, auch von Menschen, die in ihrer inneren Entwicklung nicht weitergekommen sind. Wenn wir über sie urteilen sollten, dann darf es nicht strafrechtlich einzuklagen sein, denn wir als Kultur haben es versäumt, dafür zu sorgen, dass sie über die notwendige Vorbereitung verfügen, die es ihnen ermöglicht und sie dazu befähigt, ethisch zu handeln. Menschen, die ein traditionelles leistungsorientiertes Training erhalten haben, beginnen eine neue Managementkarriere mit klaren und enthusiastischen Erwartungen an den Erfolg. Sie glauben fest daran, dass sie alle Werkzeuge erhalten haben, die sie während ihrer Ausbildung benötigen. Aber schon bald merken sie, dass etwas fehlt, dass sie zwar alle Prinzipien anwenden, die sie während ihrer Ausbildung gelernt haben, dass es aber anscheinend Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen gibt, auf die sie nicht vorbereitet sind. Allzu oft fehlt ihnen ein spiri­ tuelles Zentrum, ein Ort der Tiefe, auf den sie sich verlassen können, wenn Krisensituationen nach Belastbarkeit verlangen. Die Ethik, die angemessene, produktive Praktiken umgibt, wurde nicht entwickelt und verinnerlicht. Schnell offenbart sich der leichtere, attraktivere Weg unmoralischer Entscheidungen und unethischer Verhaltensweisen. Während die Gesellschaft Mitschuld an dem daraus resultierenden behinderten ethischen Verhalten hat, muss jeder von uns die Verantwortung für sein persönliches Bewusstsein und die Ausweitung seines Bewusstseins auf ein höheres Leben übernehmen, was es uns ermöglicht, energetisch auf hohe ethische und moralische Standards zuzugreifen und diese aufrechtzuerhalten. Jeder von uns hat eine klare Mission für sein Leben: die Vereinigung und Ausrichtung mit jener höheren Energie, der viele verschiedene Namen zugeschrieben werden können, einschließlich Gott, göttliches Prinzip, Leere, Allah, Jahwe, Brahman, höheres Wesen und spirituelle Dimension.

2.22 Es geht nur um Leistung Mein erster Lehrer, Karlfried Graf Dürckheim, erzählte die Geschichte eines Managers, der Leistung als sein Lebensmantra hatte, und der sich fragte, warum er sich chronisch unglücklich fühlte: „Eines Tages kam ein Mann von großem Ansehen zu mir und führte sich folgendermaßen ein:“ ,Herr Professor, bitte sagen Sie mir, was mir eigentlich fehlt; ich bin, wie die Ärzte sagen, kerngesund. Ich habe keinerlei finanzielle Sorgen. Ich habe mir auch nichts vorzuwerfen, das heißt, ich habe eine reine Weste, bin geachtet von meinen Untergebenen und von allen Seiten beneidet. Und doch − irgendwo ist bei mir der Wurm

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2  Das Problem drin! …‘ ,Ich habe bei all meiner Gesichertheit in der Welt eine mir unbegreifliche Angst, habe in all meiner Rechtschaffenheit Gefühle der Schuld und inmitten meiner Fülle, mit der mein Leben gesegnet ist, immerzu das Gefühl einer gähnenden Leere.‘ Dürckheim: ,Was ist denn eigentlich die oberste Devise Ihres Lebens?‘ ,Leistung ist alles‘, antwortet der Mann. Dürckheim: ,Wie, Leistung ist alles? Sie Ärmster! Dann wundere ich mich freilich über gar nichts (…) Im Ernst, glauben Sie wirklich, Leistung sei alles, dass es im Leben also nur auf Leistung ankommt?‘ ,Worauf denn sonst?‘, fragte er. Dürckheim: ,Haben Sie noch nie etwas von einem inneren Weg gehört, der dem Menschen nicht weniger aufgetragen ist als das sichtbare Werk? Haben Sie noch nie etwas von der Notwendigkeit und vom Segen eines innerlichen Weiterkommens gehört, eines inneren Reifens, ohne das es keinen inneren Frieden gibt?‘ Mit einer abwertenden Geste sagte der Mann: ,Meinen Sie am Ende Religion oder sonst so etwas wie Innerliches? Mein Lieber, dafür hat unsereiner keine Zeit und damit kann man weder Maschinen bauen noch sich in der Welt durchsetzen.‘ Dürckheim: „Diese Antwort ist typisch (…) Diese Menschen, oft tüchtige, gebildete, ordentliche und wohlmeinende Menschen, sind derart im Leistungswahn befangen, das heißt im Wahn, das Leben nur im Zeichen erfolgreicher Leistung bestehen zu können, dass sie ernsthaft glauben, ihre ganze Innerlichkeit verdrängen zu müssen. Das Ergebnis ist dann ein allein von den Forderungen der Welt ins Geschirr genommenes Leistungstier, das in der Einseitigkeit seiner Ausbildung eine Karikatur dessen ist, was der Mensch eigentlich sein und immer werden sollte: eine Einheit von Leib, Geist und Seele. Könnte man jenen Menschen malen, so müsste man ihn darstellen mit einem Riesenkopf, einer aufgeblasenen Brust, stählernen, aber ganz mechanisch funktionierenden Gliedern, die nicht organisch zusammenspielen, sondern künstlich von einem harten Willen zusammengehalten und gesteuert werden. In der Mitte aber, wo das richtende, ordnende und beseelende Zentrum sein sollte, da wäre recht wenig, eigentlich nur ein Hohlraum, in dem, umpanzert von einem ängstlichen und leicht verletzbaren Ich, das eigentliche Wesen ein Schattendasein führt. Der Mensch aber, der diesem Bild entspricht, ist trotz allem, was er hat, weiß oder kann, innerlich ein Kind geblieben, denn seine Seele blieb klein. Äußerlich ein Erwachsener, aber innerlich unreif, steht er unbeherrscht und voller Illusionen den Mächten des Schicksals im Großen wie im Kleinen hilflos gegenüber und scheitert endlich am Leben, weil er sich selbst gegenüber versagt hat. Aus der Atemnot seines vernachlässigten seelischen Wesens kommen dann jene Gefühle unbegreiflicher Angst, Schuld und Leere, die so mancher erlebt, der, äußerlich gesehen, auf dem Gipfel seiner Entfaltung zu stehen scheint. Die anderen, die sein Inneres nicht sehen, mögen seine Fassade bewundern. Hinter ihr lebt ein unglücklicher Mensch, dessen seelisches Leiden und Mangel an innerer Stille nicht weniger als das Unheil, das von ihm ausgeht, die Quittung dafür ist, dass er unreif geblieben ist. (…) Aber eben diese Menschen sehen meist keine andere Möglichkeit, die Stille zu wahren, als in einer eisernen Selbstdisziplin, die die Fülle der Spannungen bannt, die sie von innen bedrängt. Dies Verdrängen der inneren Spannungen aus Zucht führt aber nicht weit. Was Ordnung zu sein scheint, verdeckt nur eine wachsende Unordnung unerlöster drängender Kräfte. Mit kleinen Nervositäten beginnt es. Bald stellen sich Stimmungsschwankungen ein und schlechte Laune, die, weil sie an der Stätte der

2.24 Die kaputte Elite

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Arbeit nicht gezeigt werden darf, die häusliche Atmosphäre vergiftet. Dann kommen, wenn das Ventil nicht mehr hält, die gelegentlichen Explosionen, die Unbeherr­ schtheiten, die nur der Mächtige im Beruf sich leisten darf − und endlich der Nervenkollaps.“ (Dürckheim 1988, S. 27–28)

Dieses Ausgebranntsein, heute Burn-out genannt, würde ich aus meiner Erfahrung folgendermaßen definieren: cc

Burn-out kann als Implosion des egozentrischen Ichs betrachtet werden, wenn der Druck von außen zunimmt.

Wenn zu diesem Zeitpunkt im Inneren nichts entwickelt wurde, was den Menschen halten kann, erleidet er einen Zusammenbruch, ein Burn-out, von dem aus Heilung nur durch inneres Wachstum erreicht werden kann, nicht durch irgendwelche Wellnessprogramme oder eine einfache Reduzierung der Arbeitsbelastung.

2.23 Leadership entschlüsseln: Was wirklich zählt Unter der Überschrift: Decoding Leadership: What really matters, schreibt McKinsey (Feser et al. 2015) in McKinsey Quarterly 2014 No 4, dass neue Forschungsergebnisse darauf hindeuten, dass das Geheimnis der Entwicklung effektiver Führungskräfte darin besteht, vier Arten von Verhalten zu fördern: 1 ) Probleme effektiv lösen 2) Stark ergebnisorientiertes Arbeiten 3) Suche nach verschiedenen Perspektiven 4) Andere unterstützen Diese vier Verhaltensweisen machen 89  % der Effektivität der Führung aus. Dies basiert auf einer Umfrage unter 81 Organisationen, die in Bezug auf Geografie, Industrie und Größe unterschiedlich sind. Leider haben zu viele Manager immer noch keine Ahnung, wie sie am besten mit der Frage umgehen können, was für sie wirklich nachhaltig zählt.

2.24 Die kaputte Elite Benedikt Herles, Elitestudent und ehemaliger Unternehmensberater, verweist in einem Interview mit dem SPIEGEL 2013/41 auf diese einseitigen, nur auf Performance fixierten Manager als Die kaputte Elite.

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2  Das Problem

SPIEGEL: „Ihre Schilderungen lesen sich so, als wäre Berater einer der sinnentleertesten Berufe überhaupt.“ Herles: „Ein reflektierter, nach Sinn suchender Beruf ist es nicht. Es geht darum, nachts Folien jonglieren zu können. Als Einsteiger ist man ein menschlicher Taschenrechner. (…) Muss man Vorstandvorsitzender sein, um mitzubekommen, dass an den Business Schools Unsinn gelehrt wird? Muss man Managing Direktor auf der Visitenkarte stehen haben, um zu merken, dass sich viele Unternehmen zu Tode analysieren? Im Gegenteil: Wer zu lange in der Mühle steckt, dem fällt nichts mehr auf.“ SPIEGEL: „Sie haben an der privaten WHU in Vallendar Betriebswirtschaft studiert. Hatten Sie dort ein wirkliches Studentenleben?“ Herles: „Nein, natürlich nicht. An der WHU gibt es kein Studentenleben. In der Pause wird „Wall Street Journal Europe“ gelesen oder der nächste studentische Private Equity Club organisiert. In Vallendar rennen Studenten mit ihrem Laptop zwischen Vorlesung und Schreibtisch hin und her. Nur keine Zeit verlieren. Vor Klausuren wird kollektiv bis zum Morgengrauen gelernt. Im Prüfungssaal stinkt es dann nach Red Bull. Zur geistigen Freiheit wird da niemand erzogen. Für Reflexion ist kein Platz im vollgepackten Curriculum. In der spärlichen Freizeit wird gesoffen. Work hard, play hard.“ SPIEGEL: „Würden Sie Absolventen der WHU als akademisch gebildet bezeichnen?“ Herles: „Dort werden nur Ordner auswendig gelernt. Es ist ein reines Bulimie-­ Lernen: in sich reinfressen und in der Prüfung rauskotzen. Intellektuelle gibt es da nur trotz und nicht wegen der WHU. An den Wirtschaftsuniversitäten wird reines Schablonendenken vermittelt. Geisteswissenschaftliche Komponenten fehlen völlig.“ Zu den Fähigkeiten und Erfahrungen der Berater hat Herles Folgendes zu sagen: „Es gehört jede Menge Bluff zum Beraterdasein. Das ist aber so gewollt. Man verkauft die Perspektive des Außenstehenden, will aber gleichzeitig Industrieexperte sein. Schwierig in einer Branche, in der die meisten Menschen unter 35 sind. Woher sollen sie die Industrieerfahrung herhaben? Aber die Geblufften lassen sich gerne bluffen. Denn durch die Berater können sie ihre eigenen Hände in Unschuld waschen.“ SPIEGEL: „Welche Charaktere kommen ganz nach oben?“ Herles: „Leistung ist in diesem System die einzige Religion. Wer das Risiko scheut, überlebt am besten. Die Leute sind ängstlich und brutal ehrgeizig. Statussymbole sind ihnen wichtig. Und man muss technokratisch veranlagt sein, sonst langweilen einen die Analysen und scheinrationalen Prognosen.“

2.25 Wirtschaftsethik: Die verlorene Generation

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SPIEGEL: „Schlichte Typen also?“ Herles: „Auf jeden Fall keine Menschen, die ich in Führungsrollen in unserer Wirtschaft sehen wollte. Daraus kann nur eine Gesellschaft entstehen, in der ich nicht leben möchte.“ SPIEGEL: „Ein junger Bank-Praktikant aus Staufen ist in London ums Leben gekommen. Gibt Ihnen so etwas zu denken?“ Herles: „Ja, auch er war an der WHU.  Ich kenne nicht die genauen Hintergründe. Aber wenn es noch eines Beweises bedurfte, dann haben wir ihn damit. Hier läuft etwas schief.“ (Herles 2013)

Es ist traurig, dass einige Aussagen von Herles radikal klingen. Sie konnten nur als radikal empfunden werden in einer Gesellschaft, die durch die unaufhörliche Abwärtsspirale von rationalem Denken und quantitativer Bildung abgestumpft ist. Wäre es nicht wunderbar, wenn mehr Führungskräfte aus unseren Geschäftskreisen die Vorteile der Entwicklung von innerem Wachstum kennengelernt hätten, sodass sie ihre Aufgaben mit Gelassenheit, Freude, Humor, Einfühlungsvermögen, Kongruenz und Mitgefühl für andere erfüllen könnten? Wenn wir aus diesem Wettlauf nach oben ausbrechen wollen, müssen künftige Generationen gebildet und nicht nur ausgebildet werden. Es gibt gute Nachrichten über die WHU.  Ab 2015 wurde vom Lehrstuhl für Organisationsverhalten der WHU ein neuer Studiengang mit dem Titel Business Ethik eingeführt. Ebenso ermutigend ist, dass der Studiengang die individuellen Erfahrungen der WHU-Absolventen berücksichtigt. Je mehr Pädagogen die unaufhörlichen Forderungen des vom Ego beherrschten Intellekts erkennen und kontrollieren, indem sie die Individuation fördern, die sich aus innerem Wachstum und moralischer Entwicklung ergibt, desto mehr werden wir in der Lage sein, uns auf Führungspersönlichkeiten in der Gesellschaft zu freuen, die die Prinzipien ethischen Verhaltens demonstrieren.

2.25 Wirtschaftsethik: Die verlorene Generation Dieser Titel wurde von dem bekannten St. Gallener Wirtschaftsprofessor Fredmund Malik (2005) geprägt, der sagte, dass, da Manager heute nur noch in Zahlen und nur noch in Geld denken, eine verlorene Generation, die Moral neu lernen müsse. Er glaube, dass es bis auf wenige Ausnahmen keinen Mangel an Managern mit intrinsischer Moral gebe. Es gehe um ihre Ausbildung. Studenten, die ein typisches amerikanisches Programm für einen Master of Business Administration (MBA) absolviert hätten, egal an welcher Universität, absolvierten ihr Studium  ohne die notwendige Fähigkeit, Führungspositionen zu übernehmen. Die

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2  Das Problem

b­ etriebswirtschaftliche Ausbildung werde durch Fallstudien bereichert, sodass kritische Reflexionen nicht mehr gefördert oder geschätzt werden. Die Frage, was für ein Unternehmen, für Führungskräfte und für ihren Führungsstil richtig sei, ist schlicht und einfach, dass es modern sein soll. Eine ganze Generation von Managern muss geschult werden, wenn sie effektiv wirtschaften wollten. Die beiden größten Missverständnisse der Ökonomie seien Überzeugungen, die mit Sicherheit zum Scheitern führen werden und die Tatsache, dass der Shareholder Value und die Wertsteigerung von Aktien der eigentliche Zweck und die Ziele eines Unternehmens seien. Diese schrecklichen Missverständnisse hätten sich in den Köpfen vieler, vor allem jüngerer Führungskräfte, weltweit verfestigt. Diese dysfunktionalen Überzeugungen seien nach wie vor die einzigen Managementtheorien, die in der englischsprachigen Welt gelehrt werden. Die allerbesten Bemühungen um die Moral, wenn keine relevanten Kenntnisse über die Unternehmensführung vorliegen, werden diesen Mangel nicht ausgleichen können. Umgekehrt sei es bei einer aufgeklärten Managementausbildung nicht notwendig, die Schüler mit moralischen Verhaltenskodizes zu indoktrinieren, da sie in sich selbst entstehen wird. Obwohl Malik die besten Absichten hat, ist seine Position, dass unsere wirtschaftlichen Probleme durch bessere Bildung gelöst werden können, ungenau. Wir haben ein ernsthaftes ethisches und moralisches Problem in der Wirtschaft und eine Änderung der Bildungspraktiken allein wird es nicht lösen. Die Vermittlung von Managementwissen führt nicht automatisch zu einem Sinn für Moral oder zu ethischem Verhalten. Malik ist nicht davon überzeugt, dass das angelsächsische Management das beste Modell ist. Es hat zu Fehlentwicklungen geführt, die, obwohl sie als eindeutig moralische Unzulänglichkeiten angesehen werden, eigentlich etwas anderes sind. Dieser Führungsstil hat Menschen zur Führung großer Unternehmen befördert, aber tragischerweise nicht in Führungspositionen in nachhaltig geführten Unternehmen. Diejenigen, die sich nicht innerlich weiterentwickeln, werden von Gier getrieben und arbeiten im Sieger- und Verlierer-Stil. Ihr wirtschaftliches Weltverständnis wird durch die Quantifizierung von Businessplänen in monetärer Form eingeschränkt. Diese Manager sind der Ansicht, dass nur das, was quantifiziert wird, effektiv gemanagt werden kann, während in Wirklichkeit ein effektives Management in Situationen, die nicht quantifiziert werden können, wirksamere Maßnahmen erfordert. Hohe Gehälter werden sozusagen als Schmerzensgeld bezahlt. Es gibt eine weitverbreitete Auffassung, dass materialistische Gier zur neuen Norm geworden ist. Es stimmt zwar, dass es solche gibt, die von menschlicher Gier getrieben werden. Moralische Argumente gehen bei diesen wenigen verloren, diejenigen, die den Irrtum ihrer Wege erkennen, tun dies in der Regel nach Hofmannsthals Beobachtung, dass er erst in den letzten Tagen ihres Lebens auftritt. Angst vor

2.26  Die Erweiterung des Status quo reicht für eine ethische Entwicklung …

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Geld, einschließlich der Konzentration auf das Geldverdienen, ist nicht dasselbe wie Gier. Die Geldorientierung entsteht durch die scheinbar beste, international anerkannte Ausbildung, die von zertifizierten Universitäten angeboten wird, bei der man lernt, dass nur das, was sich wirtschaftlich ausdrücken lässt, in Geld zähle. Dies wird dann von denjenigen, die MBA-Abschlüsse erhalten, legitimiert und eingeschärft, und zwar mit dem Glauben, dass es außer monetären keine anderen Werte gibt. Wegen der übertriebenen Bedeutung von MBAs in unserer Gesellschaft wird dieser Glaube über das Geld hinaus ausgeweitet, das in der Wirtschaft, aber auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft von primärer Bedeutung ist. Das Leben wird von solchen Menschen in monetärer Hinsicht gemessen, nicht weil sie dumm oder von Natur aus unmoralisch sind, sondern weil es ihnen so beigebracht wurde und sie dies in dem Glauben, dass es die ultimative Wahrheit ist, verinnerlicht haben. Sie haben durchaus einen starken Sinn für Moral – die Moral des ökonomischen Reduktionismus, der jedoch nie von einem der wahren liberalen Denker vertreten wurde; nicht von Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises oder Wilhelm Röpke. Die schottischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts, die die Begründer des wahren Liberalismus waren, lehnten ein solch ökonomisches Denken ab. Durch neoliberales, oberflächliches Wissen sind die Grundbestandteile der Wirtschaft heute gefährdet. Was der Liberalismus erfordert, ist, dass wir alle, einschließlich der Manager, die Verantwortung für unser eigenes Handeln übernehmen müssen. Ein wahrer Liberalismus bedeutet nicht, dass alle seine Ziele von der Wirtschaft übernommen werden müssen. Zahlreiche Positionen des Liberalismus wurden in jüngster Zeit hinterfragt, mit dem Ergebnis, dass sie aufgehoben wurden. Es ist schädlich, den Menschen zu predigen, dass die Marktwirtschaft ein wunderbares System ist. Die Marktwirtschaft ist auf gesellschaftlicher Ebene dysfunktional. Sie ist unhaltbar. Wir erleben die Wahrheit jeden Tag. Sie wird als brutal, erbarmungslos, unmenschlich und ungerecht empfunden. Die Staats- und Regierungschefs verteidigen weiterhin die Marktwirtschaft, da sie wissen, dass alle anderen Systeme, die gemeinhin gelehrt werden, viel schlechter und noch ineffizienter sind. Aber das ist ein oberflächliches Lob für ein versagendes System, das unmoralisch und ineffizient arbeitet. Die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards ist eine Erfolgsstory in Deutschlands.

2.26 D  ie Erweiterung des Status quo reicht für eine ethische Entwicklung nicht aus Im Harvard Business Review, Mai 2015, schreiben Katherine Milkman und Jack Soll in einem Artikel mit dem Titel Outsmart your own Biases über die Verbesserung von Entscheidungsprozessen (Milkman und Soll 2015):

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2  Das Problem

Man könnte seiner Intuition vertrauen, die einen in der Vergangenheit gut geführt hat, und Wegweiser für die Zukunft ist. Das sei es, was die meisten Führungskräfte sagen, wenn sie dieses Szenario in ihren Kursen zur Entscheidungsfindung von Führungskräften aufstellen. Das Problem sei, dass sie ihre Intuition nicht auf die Probe gestellt haben, es sei denn, sie gehen gelegentlich gegen ihren Bauch. Man könne nicht wirklich wissen, dass es einem hilft, gute Entscheidungen zu treffen, wenn man nie gesehen hat, was passiert und wenn man das alles ignoriert. Die meisten von uns würden dazu neigen, in ihren Schätzungen zu zuversichtlich zu sein. Es sei wichtig, Unsicherheit zu berücksichtigen. Die Autoren empfehlen den Managern: • • • • • • • • • • • •

Über die Zukunft nachdenken. Nehmen Sie drei Schätzungen vor. Überlegen Sie zwei Mal. Ursachen von eventuellem zukünftigem Versagen klären. Nehmen Sie einen Blick von außen. Über Ziele nachdenken. Lassen Sie sich beraten. Durchdenken Sie Ihre Ziele. Über Optionen nachdenken. Verwenden Sie die gemeinsamen Auswertungen. Versuchen Sie den Test „verschwindende Optionen“. Wenn Menschen einmal eine solide Option haben, wollen sie in der Regel weitermachen und scheitern deshalb daran, Alternativen zu erkunden, die möglicherweise überlegen sind. • Motivierte Voreingenommenheit bekämpfen. Kognitive Rigidität werde durch Zeitdruck, negative Emotionen, Erschöpfung und andere Stressoren verstärkt. Als Faustregel gelte, dass es gut sei, drei mögliche Szenarien zu antizipieren, drei Hauptziele festzulegen und drei tragfähige Optionen für jedes Entscheidungsszenario zu generieren. Natürlich könnte man immer noch mehr tun, aber dieser allgemeine Ansatz werde uns davor bewahren, uns von endlosen Möglichkeiten überfordert zu fühlen – die genauso lähmend sein können wie zu wenige zu sehen. Selbst die klügsten Menschen seien in ihren Urteilen und Entscheidungen voreingenommen. Es sei töricht zu glauben, wir könnten sie durch bloßen Willen überwinden. Aber wir könnten sie antizipieren und überlisten, indem wir uns in die richtige Richtung schubsen, wenn es Zeit ist, eine Entscheidung zu treffen (Milkman und Soll 2015).

2.27 Der Ansatz der Business Schools zur Ethik

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Unter Abschn. 4.16 wird auf den Gegensatz Ratio und Intuition ausführlich eingegangen. Diese Empfehlungen sind, typischerweise für das Wirtschaftsleben, nur das Ergebnis eines kognitiven Optimierungsprozesses. Es fehlt die Berücksichtigung der Vernunft und Ethik und Moral.

2.27 Der Ansatz der Business Schools zur Ethik Business Schools fördern zu wenig oder gar keine persönliche Entwicklung. Junge Berufstätige müssen sich Fragen stellen wie: Wer bin ich, warum bin ich hier und was ist meine Lebensaufgabe? Das Leben zu lernen wäre ein ausgezeichneter Kurs! Man muss ermutigt werden, zu der Erkenntnis zu gelangen, dass das Leben am besten als ein Prozess des Nachdenkens und Lernens verstanden wird. Wahrnehmung und Achtsamkeit sind Schlüsselattribute, die zu dem Verständnis führen können, dass die gesamte Menschheit miteinander verbunden ist, jeder von uns mit jedem anderen. Die besten Lehrer werden sich mit ihren Schülern zusammenschließen und gemeinsam an der Entwicklung von innerem Wachstum und Reife arbeiten. Unsere größte Hoffnung für den Wirtschaftssektor und die Gesellschaft im Allgemeinen besteht darin, dass mehr Führungskräfte in der Wirtschaft persönliche Überlegungen anstellen, die zu einem erweiterten Bewusstsein führen, sodass sie beginnen können, ihre Aufgaben mit Gelassenheit, Freude, Humor, Einfühlungsvermögen, Kongruenz und Mitgefühl für andere zu erfüllen. Wir müssen unserer jungen Generation die Wege zu erweitertem Bewusstsein vorleben und sie bestärken, eigene Wege zu gehen. Es gibt Business Schools, die sich nicht nur auf die Präsentation von betriebswirtschaftlichem und betriebswirtschaftlichem Wissen konzentrieren, sondern auch ihre Schüler ermutigen, ihre eigene innere, persönliche ethische Moral zu entwickeln. Ein Beispiel ist ESADE in Barcelona, Spanien. Eugenia Bieto, Generaldirektorin von ESADE, begrüßte die Teilnehmer des Weltkongresses für Spiritualität und Kreativität im Management vom 22. bis 25. April 2015  in Barcelona und erläuterte in der Begrüßungsrede ihre Erfahrung zu Management und Spiritualität: Spiritualität sei gleichbedeutend mit Freiheit. Wäre es sinnvoll, die Bedeutung der Spiritualität aus der Perspektive des Managements zu untersuchen? Lohne es sich für die Business Schools, die Bedeutung der inneren Kultivierung von Führungskräften hervorzuheben? ESADE sei davon überzeugt, dass dies der Fall ist. Unsere Institution habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Entwicklung und das Wachstum engagierter Menschen in der Führung von Organisationen zu begleiten.

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2  Das Problem

Durch Business Schools müsste der Managementbereich einen doppelten Beitrag leisten. Sie dürften sich nicht ausschließlich darauf konzentrieren, Führungskräften zu helfen, sich beruflich weiterzuentwickeln. Es sei ein Fehler, eine zweite wesentliche Komponente zu übersehen: das persönliche Wachstum von Führungskräften. Hier bei ESADE setzten sie sich dafür ein, eine gerechtere Welt zu schaffen. Das Ziel sei nicht, Fachkräfte auszubilden, die sich ausschließlich um ihren eigenen Erfolg kümmern. Stattdessen vermittelten sie den Studenten die Wichtigkeit, ihr inneres Selbst zu kultivieren und mit ihren Grundwerten verbunden zu bleiben. Indem sie sich auf Spiritualität konzentrierten, bieten sie Organisationen Studenten und Managern Programme an, die sie verstehen zu lassen, dass ihr Zweck größer ist als sie selbst. Kurz gesagt, Spiritualität mache Menschen frei. Frei, Kritik anzunehmen, frei, Leerlauf zu vermeiden, frei, innovativ zu sein, frei, neue Möglichkeiten zu finden, und – wie der Name der Konferenz schon sagt – frei, kreativer zu sein. Sie lade alle ein, ihr Engagement für die Ausbildung von Führungskräften hervorzuheben, die in der Lage sind, ihre berufliche Laufbahn in ihr Innenleben zu integrieren. Eine wachsende Zahl von Organisationen, Unternehmen und Business Schools hätten erkannt, dass dies der Weg sei, um Fehler der Vergangenheit zu vermeiden, die Gesellschaft zu verbessern und eine prinzipientreue Wirtschaft aufzubauen. Ich habe an dieser Konferenz teilgenommen, auf der ich auch einen Professional Development Workshop zum Thema „The Golden Path to Creativity“ moderiert habe, und ich kann den weitverbreiteten, internationalen Wunsch bezeugen, dass Business Schools einen ähnlichen Weg einschlagen sollten wie ESADE, indem sie Bewusstsein entwickeln und die Entwicklung eines größeren persönlichen inneren Wachstums unter Absolventen von Business Schools erleichtern. Das European SPES Institute ist ein weiteres gutes Beispiel für eine Organisation, in der das innere Wachstum von Managern ein wichtiger Schwerpunkt ist. Der Präsident des Instituts ist Professor Laszlo Zsolnai, Autor des Buches „The Spiritual Dimension of Business Ethics and Sustainability“ (Zsolnai 2015). Dieses Buch umfasst die spirituelle Dimension, die in der Business Ethik und im Nachhaltigkeitsmanagement implizit enthalten ist. Spiritualität wird verstanden als eine vielgestaltige Sinnsuche, die Menschen mit allen Lebewesen, aber auch mit Gott oder der eigenen persönlichen ultimativen Realität verbindet. In diesem Sinne ist Spiritualität eine lebenswichtige Ressource in unserem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Das Buch untersucht die spirituelle Ausrichtung auf Natur und Wirtschaft in verschiedenen kulturellen Traditionen wie Christentum, Ju­ dentum, Islam, Sufismus, Hinduismus, Buddhismus und Taoismus. Es wird untersucht, wie Spiritualität und Ökologie zur Transformation zeitgenössischer ­Managementtheorie und -praxis beitragen können. Es werden auch neue Führungs-

2.27 Der Ansatz der Business Schools zur Ethik

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rollen und Geschäftsmodelle diskutiert, die sich für die Nachhaltigkeit in der Wirtschaft herausgebildet haben, und es wird gezeigt, wie Unternehmertum auf sinnvolle Weise von Natur und Spiritualität inspiriert werden kann. Die Mission des Instituts ist ein spirituell begründeter Humanismus. Das European SPES Institute (ehemals European SPES Forum) wurde 2004 in Leuven, Belgien, gegründet. Es ist Teil des SPES-Forums, einer formellen Non-­ Profit-­Organisation nach belgischem Recht. Die Ursprünge von SPES gehen auf das Jahr 2000 zurück, als es als „personalistische Studiengruppe“ im Zentrum für Wirtschaft und Ethik der Katholischen Universität Leuven, Belgien, in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Ethik der Universität Antwerpen, Belgien, gegründet wurde. Im Jahr 2004 wurde es als SPES-Forum zu einer autonomen Non-Profit-­Organisation nach belgischem Recht. Die Initiative war erfolgreich und führte zur Gründung der belgischen SPES-Akademie (2004) und des Europäischen SPES-­Forums (2004). Das European SPES Institute ist ein internationales Netzwerk von Einzelpersonen und Organisationen, die Spiritualität im wirtschaftlichen und sozialen Leben fördern. Es ist die Überzeugung des Europäischen SPES-Instituts, dass spirituell motivierte Individuen, die Erfolg in mehrdimensionalen und ganzheitlichen Begriffen definieren, dem Gemeinwohl der Natur, künftiger Generationen und der Gesellschaft besser dienen können. Die Mission des Europäischen SPES-Instituts drückt sich in dem Schlüsselwort SPES aus, das einerseits ein Akronym für „Spiritualität in Wirtschaft und Gesellschaft“ und andererseits das lateinische Wort für „Hoffnung“ ist, die Tugend, die unseren Glauben an eine bessere Zukunft stärkt. Spiritualität wird breit und pluralistisch definiert, sodass das Europäische SPES-­ Institut Menschen mit unterschiedlichen spirituellen Hintergründen und Traditionen zusammenbringen kann. Da SPES Spiritualität als seine vielgestaltige Suche nach Bedeutung versteht, die uns mit allen Lebewesen und mit Gott oder der ultimen Realität verbindet, gibt es in dieser Definition Raum für unterschiedliche Sichtweisen, für Spiritualität mit oder ohne Gott und für eine Ethik des Dialogs. Der geistig begründete Humanismus, für den das Europäische SPES-Institut steht, wurde aus philosophischen Gründen von europäischen „personalistischen“ Philosophen und ihren Kollegen weltweit verteidigt. Das Europäische SPES-Institut organisierte seine Jahreskonferenz für 2015 am 3. und 4. Juli in Amsterdam, Niederlande. Der Titel der Konferenz lautete: Management in the VUCA World. Ziel der Konferenz war es zu diskutieren, wie spirituelle Werte Managern helfen, sich in der VUCA-Welt der Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität zurechtzufinden. Als Teilnehmer der Konferenz, hielt ich einen Vortrag zum Thema: „Wie man die VUCA-Welt mit Verstand, Seele und Geist überleben kann“ – Inspiriert von der Spiritualität der Tiefenpsychologie – und kann ich erneut die überwältigende Unterstützung von Teilnehmern aus der

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2  Das Problem

ganzen Welt für eine stärkere Betonung von Bildungseinrichtungen auf die Ermöglichung moralischen und ethischen Wachstums bei ihren Schülern bezeugen. Das SPES-Institut entwickelt sich bis heute weiter positiv und setzt mit seinen Tagungen immer neue Impulse für Ethik und Moral. Die Universität Urbino Carlo Bo organisiert die jährliche europäische SPES-Konferenz 2020 vom 21. bis 23. Mai 2020 in Urbino, Italien. Wegen der Corona-Krise wird die Veranstaltung leider ausfallen. Die Konferenz sollte zur ökologischen Transformation der Menschheit beitragen, indem theoretische und praktische Modelle untersucht werden, die den Sinn für Ethik und Spiritualität in neue Arten der Organisation des wirtschaftlichen und sozialen Lebens integrieren. Ein weiteres gutes Beispiel für ethisch fundiertes Business Training war das Business Ethics Center der Budapester Wirtschaftsuniversität unter der Leitung von Laszlo Zsolnai. Leider wurde in einem rückläufigen Schritt die Business Ethik aus dem Lehrplan gestrichen. Mehrere Business Schools in den USA nehmen Ethikunterricht ernst. Im Folgenden finden Sie eine Kursbeschreibung am MIT. „Dies wird ein Seminar über klassische und zeitgenössische Arbeit zu zentralen Themen der Ethik sein. Das erste Drittel des Kurses wird sich auf Meta-Ethik konzentrieren: Wir werden die Bedeutung moralischer Ansprüche untersuchen und fragen, ob es irgendeinen Sinn gibt, in dem moralische Prinzipien objektiv gültig sind. Das zweite Drittel des Kurses konzentriert sich auf Normative Ethik: Was macht unser Leben lebenswert, was macht unser Handeln richtig oder falsch, und was schulden wir anderen? Das letzte Drittel des Kurses wird sich auf den moralischen Charakter konzen­ trieren: Was ist Tugend und wie wichtig ist sie? Können wir für das, was wir tun, verantwortlich gemacht werden? Wann und warum?“

All diese institutionellen Unternehmungen sind ausgezeichnete erste Schritte, aber die Entwicklung der Ethik kommt nicht von der Lehre. Man muss in die Ethik hineinwachsen. Sie entwickelt sich in uns als Ergebnis reflektierender spiritueller Übungen, unserer interaktiven Erfahrungen mit anderen und einer täglichen Routine wachsamer, disziplinierter Anstrengungen.

2.28 Die Macht des ethischen Managements Es gibt zahlreiche Bücher, die Ethik in der Wirtschaft fördern. Ein ausgezeichnetes Beispiel ist „The Power of Ethical Management“ von Norman Vincent Peale, Autor von „The Power of Positive Thinking“ und Kenneth Blanchard, Co-Autor von „The One Minute Manager“ (Peale und Blanchard 1988). Peale und Blanchard beweisen, dass man nicht betrügen muss, um zu gewinnen. Sie erklären, wie man

2.28 Die Macht des ethischen Managements

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Integrität zurück ins Geschäft bringt und gleichzeitig harte, praktische und ethische Strategien anbietet, die zu gesteigerten Gewinnen, Produktivität und langfristigem Erfolg führen. Ihre nützlichen Werkzeuge sind ein dreistufiger Ethik-Check und die sogenannten „Five Ps“ des ethischen Verhaltens. Diese bekannten Autoren zeigen, wie sich Integrität auszahlt. Sie sind überzeugt, dass ethisches Verhalten mit Selbstwertgefühl zusammenhängt. Menschen, die sich gut fühlen, haben das Zeug dazu, dem Druck von außen standzuhalten und das Richtige zu tun, anstatt das zu tun, was nur zweckmäßig, angemessen oder lukrativ ist. Sie glauben, dass ein starker Moralkodex in jedem Unternehmen der erste Schritt zum Erfolg ist. Ethische Manager sind die Gewinner. Um unethisches Verhalten zu vermeiden, schlagen Peale und Blanchard vor, einen sogenannten Ethik-Check durchzuführen, bevor sie wichtige Maßnahmen ergreifen: 1 ) Ist es legal? Werde ich gegen das Zivilrecht oder die Firmenpolitik verstoßen? 2) Ist es ausgewogen? Ist es für alle Beteiligten sowohl kurzfristig als auch langfristig gerecht? Fördert es Win-win-Beziehungen? 3) Wie wird es mich dazu bringen, mich selbst zu fühlen? Wird es mich stolz machen? Würde es mir guttun, wenn meine Entscheidung in der Zeitung veröffentlicht würde? Würde es mir guttun, wenn meine Familie davon wüsste? Die folgenden fünf Grundprinzipien ethischen Verhaltens sind die sog. fünf Ps der Autoren: 1) Zweck: Ich sehe mich selbst als ethisch einwandfreie Person. Ich lasse mein Gewissen mein Führer sein. Egal was passiert, ich bin immer in der Lage, dem Spiegel gegenüberzustehen, mir selbst direkt in die Augen zu schauen und mich gut zu fühlen. 2) Stolz: Ich fühle mich gut mit mir selbst. Ich brauche die Akzeptanz anderer Leute nicht, um mich wichtig zu fühlen. Ein ausgewogenes Selbstwertgefühl hält mein Ego und meinen Wunsch, akzeptiert zu werden, davon ab, meine Entscheidungen zu beeinflussen. 3) Geduld: Ich glaube, dass die Dinge irgendwann gut laufen werden. Ich brauche nicht alles, was jetzt passiert. Ich bin in Frieden mit dem, was auf mich zukommt! 4) Beharrlichkeit: Ich bleibe bei meiner Absicht, besonders wenn es ungünstig erscheint, dies zu tun! Mein Verhalten steht im Einklang mit meinen Absichten. Wie Churchill sagte: ‚Niemals! Niemals! Niemals! Gib niemals auf!‘

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2  Das Problem

5) Perspektive: Ich nehme mir die Zeit, jeden Tag ruhig und besinnlich zu betreten. Das hilft mir, mich zu konzentrieren und erlaubt mir, auf mein inneres Selbst zu hören und die Dinge klarer zu sehen. Diese fünf Prinzipien sind auch ihrer Meinung nach die Zutaten für eine echte, dauerhafte Erfüllung im Leben. Sehr erfolgreiche, zufriedene Menschen praktizierten diese fünf Prinzipien bereits mit großer Konsequenz. Die Autoren haben auch zusätzliche fünf Ps zur ethischen Macht für Organisationen entwickelt: 1) Zweck: Die Mission unserer Organisation wird von oben kommuniziert. Unsere Organisation wird von den Werten, der Hoffnung und einer Vision geleitet, die uns hilft, festzustellen, was akzeptables und inakzeptables Verhalten ist. 2) Stolz: Wir sind stolz auf uns selbst und auf unsere Organisation. Wir wissen, dass wir, wenn wir so empfinden, der Versuchung widerstehen können, uns unethisch zu verhalten. 3) Geduld: Wir glauben, dass das Festhalten an unseren ethischen Werten uns langfristig zum Erfolg führen wird. Dazu gehört es, ein Gleichgewicht zwischen dem Erzielen von Ergebnissen und der Sorge, wie wir diese Ergebnisse erreichen, zu wahren. 4) Beharrlichkeit: Wir haben uns verpflichtet, nach ethischen Grundsätzen zu leben. Wir bekennen uns zu unserem Engagement. Wir stellen sicher, dass unser Handeln im Einklang mit unserem Ziel steht. 5) Perspektive: Unsere Führungskräfte und Mitarbeiter nehmen sich Zeit zum Innehalten und Nachdenken, machen eine Bestandsaufnahme, bewerten, wohin wir gehen und bestimmen, wie wir dorthin gelangen. In ihrer Erklärung dessen, was sie unter Geduld verstehen, sagen die Autoren: Wenn man einen klaren Zweck verfolgt und sein Ego unter Kontrolle bringt, sei Geduld das dritte Prinzip für gesundes ethisches Verhalten. Ein Grund, warum Menschen manchmal vom Kurs abkommen würden, liege darin, dass ihnen der Glaube fehle, und mit einem Mangel an Glauben werden sie ungeduldig. Das hört sich gut an, ist aber nicht einfach. Es ist das Dilemma! Die meisten Menschen können ihr Ego nicht unter Kontrolle bringen, und deshalb sind sie nicht nur ungeduldig, sondern auch destabilisiert und bereit, unethisch zu handeln, wenn sie unter Druck stehen. Die Autoren gehen nicht auf die Realität ein, dass unsere dunkle Seite der Haupteinfluss unseres Egos ist. Es gibt einen leichten Hinweis darauf, dass Spiritualität das Dilemma lösen kann. Die Autoren meinen offensichtlich einen Mangel an spirituellem Glauben im Gegensatz zum Glauben in einem allgemeineren Sinn. Für sie ist positives Denken ein weiterer Aspekt des Glaubens. Sie gehen davon aus, dass Spiritualität mit Gott oder einer höheren Macht verbun-

2.29 Wisdom 2.0: Hoffnung für die jüngere Generation

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den ist. Aber positives Denken ist eine Schöpfung unseres Ich-Geistes. Der rationale Ich-Geist wird niemals ein Werkzeug für seine eigene Kontrolle erschaffen! Nur unsere spirituelle Dimension des Geistes kann das tun. Peale und Blanchard fordern Ausgewogenheit, weil wir mit Balance das Selbstvertrauen haben, hart durchzuhalten, wenn wir mit schwierigen ethischen Situationen konfrontiert werden. Richtig, aber das Gleichgewicht ist komplex. Wir können uns nicht entscheiden, im Gleichgewicht zu bleiben. Es ist das Ergebnis der Entwicklung unserer Persönlichkeit. Balance ist ein Gleichgewicht zwischen Ego, Seele und Geist, Mann und Frau und unserer hellen und dunklen Seite. Peale und Blanchard sagen: „Wenn Sie engagiert sind, finden Sie Wege, Ihre Rationalisierungen zu unterdrücken. Selbst wenn es Ihnen unangenehm ist, halten Sie sich an Ihre moralische Verpflichtung. Die Beharrlichkeit im Leben ist durch diese ethische Entschlossenheit gekennzeichnet.“ In Übereinstimmung mit der Tiefenpsychologie ist diese Unterdrückung unserer Rationalisierungen genau das, was direkt zu katastrophalen Ergebnissen führt. Wir können nur geduldig sein, wenn wir unseren Schatten erkannt, akzeptiert und integriert haben, aber die Autoren empfehlen die Unterdrückung der dunklen Seite. Auf diese Weise erweitern wir unseren Schatten und stärken ihn. Die Ergebnisse sind tragisch, wenn wir nicht die Kräfte erkennen, die aktiv hinter der Ungeduld stehen und sie tatsächlich fördern! Das grundsätzlich ist die Schwäche des positiven Denkens, das so etwas ist wie ein „Autovorschlag“ unseres Ich-Geistes ist. Es funktioniert bis zu einem gewissen Grad, aber es wird nicht von Dauer sein, wenn Einzelpersonen oder Organisationen unter Druck geraten. Es ist eine gewisse Ermutigung für die verlorene Generation, dass immer mehr Unternehmen in der New Economy erkannt haben, dass die Indoktrination der jungen Generation mit einer einseitigen, intellektuellen Konzentration von Fakten eine Sackgasse ist, und dass sie Ansätze gewählt haben, die Praktiken einbeziehen, die die Erziehung des ganzen Menschen erleichtern. In „Easy zum Ziel“ sagt Andreas Ackermann (2004), dass wir in einer Welt leben würden, in der der Megatrend Selbstverwirklichung sei. Er behauptet, dass in Zukunft die Unternehmen, die die Selbstverwirklichung ihrer Mitarbeiter zum Ziel machen würden und gleichzeitig optimale Bedingungen für ihre Kunden und Lieferanten schafften, wie Raketen abheben würden.

2.29 Wisdom 2.0: Hoffnung für die jüngere Generation Soren Gordhamer, der Initiator der Wisdom 2.0 Conference, schrieb das sehr empfehlenswerte Buch „Wisdom 2.0“ (Gordhamer 2013). Es konzentriert sich nicht auf Ethik, sondern auf die Verbesserung unserer Work-Life-Balance und Kreativität durch Achtsamkeit und Mitgefühl. Er nennt das vierte Kapitel „Go for Truth“ und erklärt:

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2  Das Problem

In diesem vierten Abschnitt des Lebens in der Weisheit 2.0 erforschen wir, wie wichtig es ist, uns des Rahmens bewusst zu werden, von dem aus wir die Welt betrachten, an welchen Ideen wir festhalten und wie wir unseren Weg entlang der Wahrheit sehen und ihm folgen, egal in welcher Situation. Wir können davon ausgehen, dass er der Meinung ist, dass ein Fokus auf Achtsamkeit und Mitgefühl zu einem Moralkodex führt, aus dem akzeptables ethisches Verhalten resultiert. Er betrachtet Weisheit und Technologie und sieht den Einsatz moderner Technologien als Quelle vieler menschlicher Ablenkungen. Aber es gibt auch viele andere Gründe, warum der Mensch die Verbindung zu seiner inneren Welt Jahrhunderte vor der Einführung der neuen Technologien abgebrochen hat. Es ist jedoch wahr, dass die neuen Technologien dazu neigen, diejenigen, die bereits von ihrer inneren Welt isoliert sind, weiter zu destabilisieren und diese Isolation zu beschleunigen. Zwei Zitate aus seinem Buch: „Nun, da wir Zugang zu einer beispiellosen Menge an Informationen haben, ist es sicherlich wichtig, die richtigen Informationen zu bekommen, aber die innere Dimension ist das wichtigste Element für jeden Kreativen oder Unternehmen. In der Tat, das wird wahrscheinlich der wichtigste Faktor in den großen Unternehmen der Zukunft sein.“ (Gordhamer 2013, S. 9)

Er berichtet auch von einem Gespräch mit dem Asana- und Facebook-­ Mitbegründer Dustin Moskovitz und seinem Asana-Mitbegründer Justin Rosenstein, die glauben, dass „Unternehmen, die nicht achtsam sind (aufgehört haben, auf das Geschehen zu achten), verlieren ihre Orientierung. Sie verlieren ihre besten Leute, werden selbstgefällig und hören auf, innovativ zu sein. (...). So wie Achtsamkeit und Reflexion Einzelpersonen mit persönlichem Wachstum helfen, helfen sie Organisationen, sich zu entwickeln und ihr volles Potenzial zu finden.“ (Gordhamer 2013)

Die sehr erfolgreiche erste Wisdom 2.0-Konferenz fand in Mountain View, Kalifornien, statt. Sie wurde von zahlreichen Unternehmen unterstützt, darunter Zynga, PayPal, Google, Microsoft, LinkedIn und Cisco. Es folgten weitere Konferenzen mit jeweils erhöhter Beteiligung. Ich hatte das Glück, im September 2015 an der Wisdom 2.0 Konferenz in Dublin im Google-Hauptquartier teilnehmen zu können. Das Thema war Achtsamkeit und Mitgefühl im digitalen Zeitalter. Achtsamkeit gilt als der Beginn des inneren, spirituellen Wachstums. Immer mehr Unternehmen unterstützen diese fortschrittliche Bewegung und erkennen, dass sowohl die Einstellung der Arbeitgeber als auch die der Arbeitnehmer durch einen Achtsamkeitsansatz dauerhaft zum Besseren verändert werden kann. Es wächst das Bewusstsein für den starken Wunsch der

2.29 Wisdom 2.0: Hoffnung für die jüngere Generation

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jüngeren Generation, in Unternehmen zu arbeiten, die die Werte der Mitarbeiter ernst nehmen. Diejenigen Unternehmen, die dieses Bewusstsein übernehmen, sind die Gewinner. Sie ziehen die besten, kreativsten und motiviertesten Mitarbeiter an. Unternehmen, die ihre Mitarbeiter respektieren, indem sie verantwortungsvoll mit ihnen umgehen, erzielen höhere Erträge. Clarks Gleichung funktioniert. Diese Unternehmen sind auf dem Weg, Caring Companies (fürsorgliche Unternehmen) zu werden. Ihre Mitarbeiter mögen ihr Arbeitsumfeld und die daraus resultierenden Gewinne verdeutlichen die Weisheit! In diesen Unternehmen wächst eine neue Ethik, aber auch wenn dies ein Grund zum Feiern ist, dürfen wir nicht vergessen, dass die Unternehmen selbst nicht die einzige Grundlage für unsere Entwicklung eines spirituellen Zentrums sein können. Es ist eine persönliche Suche, die nicht nur am Arbeitsplatz, sondern ganzheitlich angegangen werden muss. Wenn die Anstrengung unternommen wird, dies zu tun, führt uns unser spiritueller Weg zu einer beispiellosen individuellen Freiheit. Achtsamkeit und Mitgefühl, die Ausdrucksformen und Praktiken des Buddhismus sind, haben erheblichen Einfluss auf Google ausgeübt. Es wird berichtet, dass, als Thich Nhat Hanh, bekannter vietnamesischer buddhistischer Mönch, dem Beratungsteam von Google beitrat, sogenannte Mindful Luncheons initiiert wurden. Der Zen-Meister Thich Nhat Hanh, ein weltweiter spiritueller Führer, Dichter und Friedensaktivist, forderte die Mitarbeiter von Google auf, zu meditieren, um ihre kreativen Köpfe zu erweitern. Seine Absicht ist es, buddhistische Praktiken in die Wirtschaft einzuführen. Zusammen mit dem Präsidenten der Weltbank, Jim Yong Kim, organisierte er eine Wandermeditation (Kinhin) in Washington, die 300 Bankiers und 20 Mönche anzog. Es hat für Aufsehen gesorgt! Er verleugnet die Realität der Wirtschaft nicht, aber er beschließt, sie mit seinem Geist zu beeinflussen. Auf dem Weltwirtschaftsforum im Januar 2015  in Davos, Schweiz, führte Nhat Hanh die Teilnehmer durch eine von Jon Kabat-Zin erfundene Praxis der Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Es gab eine Podiumsdiskussion zum Thema Leading Mindfully, bei der der Goldman Sachs-Vorstand William George erwähnte, dass nun viele Hundert Investmentbanker an der Wall Street meditieren würden. Die Absicht, meditative Praktiken in Wirtschaftsunternehmen zu praktizieren, ist es, inneren Frieden zu schaffen und unser daraus resultierendes größeres persönliches Bewusstsein und die innere Balance in Geschäftsentscheidungen zu nutzen, um die Bemühungen unserer dunklen Seite, dominierend zu werden, zu vereiteln. Nun, wir sind bis heute nicht weit gekommen, Ethik und Moral wirklich in der Wirtschaft zu leben, bei den Banken nicht und in der gesamten Wirtschaft auch nicht. Die Egos sind zu stark, als dass sie sich von Appellen und Trainings beeinflussen lassen. Um hier voranzukommen, müssen wir uns also viel mehr mit den Blockaden beschäftigen und die Gründe dafür offenlegen.

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2  Das Problem

2.30 Größeren Frieden in unser Leben einladen Noah Elkrief, ein früherer Berater und Hedgefonds-Manager, bildet nun Geschäftsleute aus. Die Einleitung zu seinem Video-Blog lautet: „Ich möchte Ihnen helfen, mit dem Leiden aufzuhören und mehr Frieden in Ihr Leben zu bringen. Alle Videos sollen eine unmittelbare Wirkung haben. Sie sind alle so konstruiert, dass sie Ihnen helfen, das Leiden jetzt zu beenden, Ihre Angst zu stoppen, Ihren Stress zu stoppen, Ihre Wutgefühle zu stoppen, mehr Liebe und Frieden zu erfahren, angenehmere Beziehungen zu haben, mehr Spaß bei der Arbeit zu haben. (...) Wie alle anderen wurde ich erzogen, Glück durch Erfolg, Reichtum, Reisen, Mädchen zu verfolgen und alle dazu zu bringen, mich zu lieben. Das ist es, was ich dachte, was mich glücklich machen würde. Ich habe viel Zeit und Energie investiert. Als ich dann 23 bis 24 Jahre alt war, dachte ich, ich hätte all diese Ziele irgendwie erreicht. Ich hatte auf dem Börsenparkett mit Goldman Sachs gearbeitet, ich war Strategieberater in London, ich reiste viel um die Welt, ich hatte Freundinnen, ich war klug, jeder liebte mich, ich genoss meinen Job, ich bekam alles, was ich je wollte, aber dennoch war ich nicht in Frieden, ich fühlte, dass etwas fehlte. Ich hatte Angst vor der Zukunft, ich machte mir Sorgen um das, was die Leute über mich dachten, ich musste ihre Liebe bewahren, ihre positiven Gedanken über mich aufrechterhalten. Ich musste Dinge tun, die ich nicht tun wollte, ich musste meine Gedanken über mich selbst aufrechterhalten, ich hatte Stress, ich hatte all die Dinge, die alle anderen tun, auch wenn ich wusste, dass ich alles erreicht hatte, was ich immer wollte, mein Leben war doch perfekt, oder? Zur gleichen Zeit wie all mein Streben nach all dem Zeug, wurde ich dazu erzogen, jeden Tag zu meditieren. Von dem Moment an, als ich sechs Jahre alt war, meditierte ich allein, ich habe mich wirklich dafür eingesetzt, ich habe mich wirklich um diese Praxis gekümmert. Also, scheinbar als Ergebnis all dessen, als ich im Jahr 2009 24 Jahre alt war, verschwanden fast alle meine Gedanken komplett aus meinem Kopf und versuchten auch nicht zurückzukehren. Also, wie Sie sich vorstellen können, hat das mein Leben komplett verändert. Von diesem Moment an blieb mir der Frieden, die Freiheit und die Ganzheit, die ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Das war alles, was ich immer wollte, und es ging nicht weg, egal was in meinem Leben geschah, der Friede blieb bei mir. Es spielte keine Rolle, ob ich in Verzug war, ob mich jemand beleidigt hat, ob mein Vater im Krankenhaus war oder ob ich mich verletzt habe. Es hat mich nicht gestört. Ich war in jedem Moment in Frieden. Und der Grund dafür war einfach, weil ich keine Gedanken hatte, um mich leiden zu lassen. Und das machte mir sehr deutlich, dass das Einzige, was mein Leiden schuf, meine eigenen Gedanken waren. Von dem Moment an, in dem ich meine Gedanken verlor, tauchten ab und zu neue Gedanken auf, und ich begann, ein plötzliches Gefühl von Spannung, Traurigkeit und Wut zu erleben. Ich würde sofort sehen, dass es durch einen Gedanken in meinem Kopf entstanden ist und nicht durch irgendetwas, das in meinem Leben faktisch passiert. Und als ich das sah, konnte ich sofort sehen, dass dieser Gedanke nicht wahr war, und dann (...) BANG (...) der Gedanke wurde aufgelöst und die Emotion wurde aufgelöst, und ich kehrte zurück zu diesem natürlichen Zustand des Friedens, der natürlichen Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks.

2.31 Glück, Glückseligkeit und Mitgefühl

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Spontan öffneten sich meine Freunde mit ihrem Leiden. Ich war in der Lage, ihnen zu helfen, zu sehen, welche Gedanken ihr Leiden verursachten, und ihnen zu helfen, ihnen sehen zu helfen, dass diese Gedanken nicht wahr waren. Und dann – völlig erstaunlich für mich und schockierend zu meiner Überraschung, jedes Mal, wenn die Gefühle meiner Freunde gerade aufgelöst wurden, wurde ihr Leiden in gleichen Augenblick aufgelöst. Ich dachte nicht, dass es möglich wäre, ich dachte nicht, dass es passiert, aber irgendwie tat es das, immer und immer und immer wieder. Es spielte keine Rolle, ob diese Person spirituell oder nicht spirituell war. (...) Jeder konnte zusehen, wie sich sein Leiden in einem Moment auflöste, als er die Gedanken, die das Leiden schufen, aufhielt. Als ich das sah, änderte es mein Leben völlig, ich kündigte meinen Job, ich schrieb ein Buch ,A Guide to the Present Moment‘, das fünf Schritte umfasste, um die Gedanken zu identifizieren und zu stoppen, die das Leiden schufen.“ (Elkrief 2013)

2.31 Glück, Glückseligkeit und Mitgefühl Im März 2015 schrieb Adrian Lobe in der Zeitung Die Welt (Lobe 2015) über einen neuen Posten in den USA: Chef für Happiness. Seine Aufgabe sei es, die Mitarbeiter zu glücklichen Mitarbeitern zu machen: Im Jahr 2010 hatte Tony Hsieh, der Gründer des Online-Shops Zappos, ein Buch mit dem Titel Delivering Happiness. Glück liefern, geschrieben. Der Entrepreneur ließ sich strahlend mit Paketen ablichten, das Buch wurde ein Bestseller. Wenn Zappos Schuhe liefere, so das Versprechen, liefert es gleichsam Glück. Hsieh ist heute nicht nur CEO seines Unternehmens, sondern auch der Chief Happiness Officer (CHO). Es sei kein Witz. Immer mehr Führungskräfte von Start-ups und Technikunternehmen im Silicon Valley führten diesen Namen im Titel. Was macht eigentlich ein Chief Happiness Officer? Und was erklärt die rasche Verbreitung? Alexander Kjerulf sei Chief Happiness Officer des dänischen Start-ups Wohoo. „Die Unternehmen merken, dass glückliche Arbeitskräfte glückliche Kunden haben und mehr Geld verdienen“, sage Kjerulf im Gespräch mit der Welt. Studien belegten, dass glückliche Mitarbeiter produktiver, innovativer und motivierter seien. Sie würden zudem weniger krank und blieben länger beim Unternehmen. Glückliche Kunden seien loyal und empfehlen das Produkt oder die Dienstleistung weiter. „Der beste Weg, Kunden glücklich zu machen, ist es, glückliche Angestellte zu haben, weil die sich am besten um sie kümmern“, behauptet Kjerulf. Von daher sei es nur konsequent, einen Glücksvorstand zu berufen. „Man wird sie nicht immer Chief Happiness Officer nennen, aber es ist eine Person, die sich selbst dafür verantwortlich sieht, die Organisation glücklich zu machen. Eine Art Gute-Laune-Bär vom Dienst. Manchmal sei die Rolle intern auf Mitarbeiter beschränkt, manchmal aber auch nach außen auf Kunden gerichtet“, erklärt Kjerulf. Der Job sei

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2  Das Problem

sowohl inspirativ als praktisch. „Die Person sollte selbst glücklich sein. Und es sollte jemand sein, der andere von Natur aus zu Glück inspirieren könne, der in der Lage sei, sich um den Wohlfühlfaktor am Arbeitsplatz zu kümmern“, beschreibt Kjerulf das Anforderungsprofil. Die Aufgabe des CHO bestehe darin, Initiativen durchzuführen, etwa die Organisation von Feiern, Trainings, Events und ähnlichen Aktivitäten am Arbeitsplatz, die den Mitarbeitern helfen, gute Arbeit zu leisten. Man sollte nicht glauben, dass es sich bei dem Posten um einen Jux handele. Chade-Meng Tan führte bei Google offiziell den Titel CHO im Profil. Googles Mitarbeiter gelten als äußerst glücklich. Im Hauptquartier in Mountain View können die Angestellten von Etage zu Etage rutschen, in zu Sesseln umfunktionierten Schiffen ihre kreativen Ideen ausleben und in einer Stresskapsel abschalten. Googles zahlreiche Campusse spiegeln die Philosophie wider, den „glücklichsten, produktivsten Arbeitsplatz auf der Welt zu schaffen“, wie es Sprecher Jordan Newman einmal formulierte. Google sei eine Glücklich-Mach-Maschine. In den geheimen Google-Laboren tüftelten Ingenieure an den Algorithmen des Glücks. Im Silicon Valley sei Glück nicht etwas, was man findet, sondern kauft und geliefert bekomme. „Unternehmen wie Google wollten etwas kodifizieren, das individuell und persönlich sei und es innerhalb der Organisation verbreiten, um die Arbeitskräfte effektiver und effizienter zu machen“, erklärt der Wirtschaftsprofessor Martin Ihlig von der Wharton School der University of Pennsylvania. Der Chief Happiness Officer sei nicht nur dazu da, die Mitarbeiter bei Laune zu halten, sondern auch, um neue Talente für die Firma anzuwerben. Es gebe speziell im Silicon Valley großen Bedarf an hoch qualifizierten Kräften, somit sei es nachvollziehbar, dass Unternehmen wie Google in das Glück ihrer Mitarbeiter investieren. Gleichzeitig wollten die Unternehmen die Kundenzufriedenheit erhöhen. „Das Wissen, wie man die fundamentalen Bedürfnisse der Hauptkundensegmente befriedige, wird immer wichtiger“, so Managementexperte Ihlig. Die Messung des Glücksbefindens sei allerdings schwierig. Andererseits: Ist es nicht Sache des Chefs, also CEO, seine Mitarbeiter zu motivieren? Am einfachsten wäre es ja, wenn das Geschäft gut laufe, der Boss gerecht sei, die Perspektiven gut und die Bezahlung auch. Erfolg sei der beste Glücksgenerator. Das sehe auch Ihlig so. Der CEO sei jedoch meist mit anderen Dingen beschäftigt. Der Chef sehe mehr das große Ganze als das individuelle Wohlbefinden. Wenn Glück als wichtige Priorität in einem Unternehmen angesehen würde, so Ihlig, könne die Verantwortung auf einen CHO delegiert werden – der Posten wäre direkt im Vorstand angesiedelt, ähnlich einem Chief Operating Officer (COO). Dan Haybron lehrt Philosophie an der Saint Louis University in den USA und hat mehrere Bücher zum Thema Glück veröffentlicht. Er denke, es sei wirklich wichtig für Unternehmer, Glück und Lebensqualität ernst zu nehmen, denn ein guter oder schlechter Job könne einen großen Unterschied im Leben einer Person machen

2.32 Jenseits des Glücks: Bhutans Philosophie des großen Bruttosozialglücks

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Was für Glück wichtig sei, hänge mit den grundlegenden Strukturen des Arbeitsplatzes zusammen, zum Beispiel die Kultur, Arbeitszeit und Mitsprache. Die entscheidende Frage sei, ob sich der CHO in diesen Bereichen einsetze oder nur einen blassen Bürokraten abgebe, der sich pro forma um die Anliegen der Mitarbeiter kümmert. „Es gebe einen Grund zur Besorgnis, dass die Glücksinterventionen auf der Arbeit häufig effekthascherisch und aufdringlich seien“, so Haybron. Man kann heute sicher daran zweifeln, ob die damalige vielleicht gute Absicht sich wirklich in den Unternehmen etabliert hat. Bei solchen Konzepten muss man sich immer wieder fragen, welche Art von Glück denn gemeint ist. Dazu nachfolgend gleich mehr aus Sicht von Bhutan. Nun  – sind Google Mitarbeiter glücklicher? Vielleicht viele schon. Für mich ist aber bedeutend, dass Mitarbeiter, die sich von dem Konzept für Achtsamkeit und Mitgefühl – und das sind Elitestudenten – bei Google anziehen lassen, auch genau wissen, was ethisch und moralisch gut ist und was nicht. Bekannt geworden sind die Protestaktionen von Google-Mitarbeitern, die sich für militärische Projekte verweigern, die gegen eine Manipulation der Suchmaschine in China sind, nur um Peking zu gefallen und die protestieren, weil Fälle der sexuellen Belästigung bei Google nicht genug ernst genommen werden. David Steindl-Rast, Mönch und ZEN-Meister, zieht den Ausdruck Freude dem Glück vor, das stärker von äußeren Ereignissen abhängig ist. Freude hingegen kann sich in uns manifestieren, ohne dass wir darum ersuchen, handeln oder Erwartungen haben (Wisdom 2.0-Jahreskonferenz 2014). Es handelt sich also um inneres Glück, das nach außen wirkt und nicht um äußeres Glück, das nicht nach innen wirken kann.

2.32 J enseits des Glücks: Bhutans Philosophie des großen Bruttosozialglücks Wenn ein Bewusstsein für die Erwünschtheit glücklicher Mitarbeiter auf Achtsamkeit, Mitgefühl und innerem Wachstum beruht, dann kann es als ernsthafter und potenziell nützlicher Schritt des Managements angesehen werden. Moralische Entscheidungen und ethisches Verhalten werden zunehmen. Aber wenn der Impuls nicht auf der Förderung des inneren Wachstums beruht, dann kann das Programm bestenfalls begrenzte Ergebnisse haben. Die triviale Don’t Worry, be Happy-­Analogie kann egozentrischen Ursprungs sein, potenziell schädlich und nicht hilfreich. Wirkliches Glück auf der Grundlage innerer Werte ist gut beschrieben in einigen wesentlichen Bemerkungen zu Bhutan in „A Short Guide to the GNH Index“, veröffentlicht im Jahr 2012.

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2  Das Problem

Im GNH-Index sei Glück im Gegensatz zu bestimmten Glückskonzepten in der aktuellen westlichen Literatur selbst multidimensional, nicht nur gemessen am subjektiven Wohlbefinden, und nicht eng auf das Glück fokussiert, das mit sich selbst beginnt und endet; sich um sich selbst und nur um sich selbst kümmert. Das Streben nach Glück sei kollektiv, könnte aber auch tief persönlich erlebt werden. Great National Happiness (GNH) messe die Qualität eines Landes ganzheitlicher als das Bruttosozialprodukt und ist der Ansicht, dass die positive Entwicklung der menschlichen Gesellschaft dann stattfinde, wenn materielle und spirituelle Entwicklung Seite an Seite stattfinden würden, um sich gegenseitig zu ergänzen und zu verstärken. Was ist die Geschichte hinter Bhutans phänomenaler Orientierung? Tashi Dorji (2015) erläutert die Geschichte der Geburt der Entwicklungsphilosophie von Bhutan und von Gross National Happiness (GNH): Die Botschaft sei klar und einfach – das Glück des Volkes sei wichtiger als die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Als Seine Majestät Jigme Singye Wangchuck 1974 mit 19 Jahren formell den Thron bestiegen hatte, zwei Jahre, nachdem er nach dem Tod seines Vaters für zu jung befunden worden war, um dies zu tun, war das Land noch immer eine Agrarwirtschaft. Der Alphabetisierungsgrad sei niedrig gewesen, da eine Handvoll Grundschulabsolventen die höchsten Stufen des jungen öffentlichen Dienstes besetzten. Das Land sei gerade erst in die Weltkarte eingetreten und trat 1971 den Vereinten Nationen bei. Seine Majestät hätte seine Vision für das Land mit der gleichen Botschaft definiert, dass das kollektive Glück des Volkes sein letztendliches Ziel sei. Seine Majestät habe diese Idee durchgesetzt, eine Idee, die eine neue Entwicklungsphilosophie hervorbrachte, die sich auf die immaterielle menschliche Emotion des Glücks konzentriere. Damals hatte es noch keinen Namen. Seine Majestät habe seine Philosophie versehentlich 1979 auf dem Bombay International Airport erwähnt, als er vom sechsten Gipfel der Bewegung der blockfreien Staaten in Havanna zurückkehrte. Ein Reporter, der einer Gruppe indischer Journalisten ein seltenes Interview gab, habe gefragt, wie hoch das Bruttosozialprodukt sei. Seine Majestät habe geantwortet, dass das Bruttosozialglück wichtiger als das Bruttosozialprodukt sei. Zweifellos fügte Seine Majestät dem Glück das Wort Zufriedenheit hinzu, um zu verdeutlichen, was er mit Glück meint. Das Center for Bhutan Studies war der Ansicht, dass die Ethik durch GNH positiv beeinflusst würde: Die meisten Bildungssysteme auf der ganzen Welt würden implizit von der vorherrschenden Wirtschaftsideologie durchdrungen. Folglich werde der Wettbewerb mehr geschätzt als die Zusammenarbeit; einseitiges intellektuelles Wissen werde mehr belohnt als soziale, ethische, emotionale, relationale, künstlerische und spirituelle Fähigkeiten.

2.32 Jenseits des Glücks: Bhutans Philosophie des großen Bruttosozialglücks

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Johannes Hirata hat GNH und Ethik in mehreren Publikationen miteinander verknüpft: „Die Verbindung zwischen Glück und Ethik kann man sich als zweifach vorstellen, indem man nach der klassischen Trennung zwischen teleologischer Ethik – im Wesentlichen den ,privaten‘ Fragen des guten Lebens, wer ich sein will und wie ich leben will – und deontologischer Ethik – der ,sozialen‘ Frage der Legitimität, der Rechte und Pflichten gegenüber anderen moralischen Subjekten unterscheidet. Psychologischer Hedonismus, um meinen Ausgangspunkt aufzugreifen, setzt eine sehr mechanische Beziehung zwischen Glück und Ethik voraus. In Bezug auf die teleologische Ethik heißt es erstens, dass das Glück das Einzige ist, was zählt, wenn es darum geht, zu entscheiden, wer man sein will und wie man leben will, und dass folglich die Dinge, aus denen ein bestimmter Mensch sein Glück bezieht, von Natur aus vorherbestimmt sind und somit über seinen eigenen Willen hinausgehen. Um ökonomische Terminologie zu verwenden, wird angenommen, dass eine Person einfach eine konsistente Reihe von Präferenzen hat, und nicht wählen kann, wer oder was den Algorithmus liefert, um in jeder Situation die optimale Entscheidung zu berechnen, d. h. die Entscheidung, die ihr Glück maximiert. Die Art der Rationalität, um die es hier geht, ist rein instrumentelle Rationalität, d. h. es geht um die Optimierung im Hinblick auf ein gegebenes Ziel. Was die deontologische Ethik betrifft, so macht die deterministische Natur des psychologischen Hedonismus die Vorstellung von Rechten und Pflichten bedeutungslos, weil man von vorbestimmten Wesen (die eher einem Uhrwerk als einer Person ähneln) nicht vernünftigerweise verlangen kann, sich anders zu verhalten als das, wofür sie programmiert sind, weil die Moral als solche die Unbestimmtheit des menschlichen Verhaltens erfordert. Im Allgemeinen behauptet der psychologische Hedonismus, dass die Entscheidungen eines Individuums immer und ausschließlich die deterministische Manifestation seiner Präferenzen sind, unabhängig davon, ob andere von seinen Entscheidungen betroffen sind oder nicht. Der psychologische Hedonismus folgt also einer solipsistischen Auffassung der Person und kennt den Begriff der Moral nicht. In einer selbsttranszendentalen Perspektive hingegen würde die Haltung – soweit es erklärbar ist – durch eine intrinsische Motivation erklärt, nach jenen moralischen Prinzipien zu handeln, die man für unumstößlich befunden hat. Natürlich ist die Einhaltung dieser Prinzipien meistens ein Grund, sich zufrieden zu fühlen, aber dann nur als Symptom für das erfolgreiche Bekenntnis zu den eigenen Prinzipien und nicht als Ursache oder Motivation.“ (Hirata 2003)

Das GNH-Konzept basiert auf dieser selbsttranszendentalen Perspektive in Übereinstimmung mit moralischen Prinzipien. In „Bhutan 2015“ mit der Überschrift Father of the GNH – Die Geschichte der Geburt der Entwicklungsphilosophie von Bhutan’s Gross National Happiness (GNH) wird das GNH weiterbeschrieben. Erst 1998 erwähnte Bhutan auf dem Asia Pacific Millennium Summit in Seoul erstmals GNH als Entwicklungsphilosophie.

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2  Das Problem

2004 organisierte Bhutan die erste internationale Konferenz über GNH in seiner Hauptstadt Thimpu. Im Juli 2011 wurde Geschichte geschrieben, als die UNO-­ Generalversammlung einstimmig die von Bhutan geführte Resolution zum Thema Glück: Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Entwicklungsansatz verabschiedete. Kinley Dorji, Chefredakteur von Kuensel, Bhutans nationaler Zeitung, fasste zusammen, was GNH wirklich bedeutet (Dorji 2015): Wenn es sich um ein nationales Entwicklungsziel handelt, wie kann es gemessen werden? Wie übersetzt man es von einer Philosophie in eine Politik für Entwicklungsprogramme. GNH ist kein Glücksversprechen. Tatsächlich gehe es nicht einmal um Glück. Alle spirituellen Praktiken lehren uns, dass Glück im Selbst liege, schließlich schauen wir in uns selbst, um Glück zu suchen, weil es keine externe Quelle des Glücks gebe. In Bhutan werde GNH daher als Auftrag des Staates verstanden, ein Umfeld zu schaffen, in dem die Bürger geistige und spirituelle Ausgeglichenheit anstreben könnten. Wichtig sei hier, dass dies in die direkte Verantwortung der Regierung übergeht. Die GNH-Prämisse sei, dass das Recht, das Glück zu verfolgen, bereits bei den Menschen liege, die Regierung solle den Menschen dienen, und deshalb müsse sie liefern, nicht die Menschen von diesem Recht berauben. In dem Versuch, GNH von einem idealistischen Konzept in eine realistische Entwicklungsleitlinie zu übersetzen, war eine der ersten Initiativen der Königlichen Regierung von Bhutan, vier messbare Säulen von GNH zu identifizieren: 1. Sozioökonomische Entwicklung 2. Erhaltung des kulturellen Erbes 3. Schutz der Umwelt 4. Gute Regierungsführung GNH ist nicht gerade ein neues Konzept, sondern vielmehr Ausdruck der Werte, die die bhutanische Gesellschaft über die Jahrhunderte hinweg getragen haben. Als Verantwortung der Regierung müssen diese Werte und Prioritäten auch weiterhin die Grundlage für nationale Politik und Programme sein. Im Folgenden werden die vier Säulen des GNH auf neun Bereiche ausgedehnt: 1. Psychologisches Wohlbefinden 2. Gesundheit 3. Ausbildung 4. Zeitverbrauch und Balance 5. Kulturelle Vielfalt und Belastbarkeit 6. Gute Regierungsführung

2.32 Jenseits des Glücks: Bhutans Philosophie des großen Bruttosozialglücks

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7 . Vitalität der Gemeinschaft 8. Ökologische Vielfalt und Belastbarkeit 9. Lebensstandard Tobias Pfaff hat sich sehr intensiv mit Bhutan beschäftigt und nimmt zu den neun Säulen Stellung: „Diese Themenbereiche (die neun Säulen) decken die breiteste Perspektive des menschlichen Lebens innerhalb der Gesellschaft und ihrer verschiedenen Umweltfaktoren ab. Dieser vielschichtige Ansatz zur Quantifizierung der Faktoren, die die Qualität und den Reichtum und, ja, das Glück eines menschlichen Lebens bestimmen, spiegelt die starken buddhistischen Grundlagen von GNH wider. Das ganzheitliche buddhistische Weltbild wird nicht zuletzt durch die Überzeugung der Interdependenz von allem untermauert. Glück könnte leicht als die wichtigste abhängige Variable des GNH-Modells angesehen werden, aber die Umfrage selbst ist mit bis zu 290 Fragen angelegt, die sich mit den unzähligen Aspekten befassen, die das persönliche und gesellschaftliche Glück beeinflussen. Wenn es stimmt, dass Gott im Detail steckt, dann sucht diese umfassende Studie nach Antworten auf eine nicht minder bedeutsame Frage, indem sie alle unendlichen, kleinen und großen Teile untersucht, die das ausmachen, was wir gemeinsam als ,Glück‘ bezeichnen. Der Kern des GNH ist das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichen und nichtökonomischen Entwicklungszielen.“ (Pfaff 2010)

Im Jahr 2016 erklärte der Premierminister von Bhutan, Tshering Tobgay, was GNH für ihn bedeutet: „Wir balancieren Wachstum sorgfältig mit sozialer Entwicklung, ökologischer Nachhaltigkeit und kultureller Bewahrung; alles im Rahmen einer guten Regierungs­ führung. Wir nennen dies einen ganzheitlichen Ansatz für die Entwicklung von GNH. Unser König, Seine Majestät Jigme Singye Wangchuck, hat es uns sehr einfach gemacht, GNH zu verstehen, wenn er sagt: ‚GNH bedeutet einfach Entwicklung mit Werten!‘“ (Tobgay 2016)

Ja, wir können von Bhutan lernen. Indem wir dem Konzept des Buddhismus im Allgemeinen und von Bhutans GNH im Besonderen folgen, werden wir Fortschritte bei der Entwicklung von innerem Wachstum, moralischen Einstellungen und ethischem Verhalten machen. Sogar in der Wirtschaft. Dieses Glück kann als Glückseligkeit bezeichnet werden. Und nur diese Glückseligkeit wird die Menschen dazu bewegen, ihre ethische Verantwortung wahrzunehmen. Es bleibt die Frage, ob dieser Paradigmenwechsel, der derzeit in den Unternehmen stattfindet, das Verhalten dieser Unternehmen am Markt beeinflussen wird. Diejenigen, die noch an der Old Economy festhalten, müssen folgen, sonst werden sie nicht wettbewerbsfähig. Führungskräfte im 21. Jahrhundert wollen

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2  Das Problem

a­ nders leben und arbeiten. Eine gesunde Work-Life-Balance ist für sie entscheidend bei der Entscheidung, welche Unternehmen sie anziehen. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer der Wisdom 2.0-Konferenzen betrug 35 Jahre. Es ist bedauerlich, dass es weniger ältere Manager und Vertreter der Old Economy gab. Auf diesen Konferenzen war viel darüber zu lernen, was es bedeutet, Achtsamkeit und ­Mitgefühl zu praktizieren und das daraus resultierende innere Wachstum sowohl im geschäftlichen als auch im privaten Bereich umzusetzen.

2.33 Der CEO der Zukunft CEO of the Future war ein Wettbewerb, eine Initiative von Bayer, e-fellows.net, Bertelsmann, Porsche, McKinsey, Thyssen-Krupp und Vodafone, den Medienpartnern Manager Magazin, n-tv und SPIEGEL Online sowie dem Karrierenetzwerk, die sich in erster Linie an junge Berufstätige, in der Regel mit ein bis vier Jahren Berufserfahrung, aber auch an ausgewählte Studenten und Doktoranden mit praktischer Erfahrung richtete. Als erste Überprüfung ihres Potenzials als zukünftiger Top-Manager wurden sie gebeten, ihr kritisches Denken in die Tat umzusetzen und eine Botschaft aus der Zukunft zu kreieren. Ihre Anweisungen lauteten wie folgt: „Angenommen, Sie hätten die Möglichkeit, einen Blick in das Jahr 2030 zu werfen. Was würden Sie einem heutigen CEO sagen? Verwenden Sie strukturierte, kreative und anregende Argumentation und verdichten Sie Ihre Botschaft an den heutigen CEO zu einer Überschrift für Ihren Aufsatz in einem ergreifenden Satz. Laden Sie Ihren Aufsatz bis zum 16. September 2012 zusammen mit Ihrem Lebenslauf auf diese Website hoch und qualifizieren Sie sich automatisch für die endgültige Teilnehmerauswahl. Für tagesaktuelle Informationen über den Kurs besuchen Sie bitte unsere Facebook-Fanseite. Oder werden Sie Mitglied unserer Xing-Gruppe. Wir wünschen Ihnen viel Spaß und viel Glück.“

Mein Sohn Philipp, der an dem Wettbewerb beteiligt war, schrieb den folgenden Aufsatz: „Liebe Führungskräfte, Ich schreibe Ihnen, als Führungskraft der Weltwirtschaft im Jahr 2012, aus einer Perspektive nach dem Zusammenbruch im Jahr 2030. Im Jahr 2012 kämpfen Sie derzeit für den Erhalt eines übertriebenen Wohlstandsniveaus in einer globalen Krise der Nationen. Diese Krise hat ihre Wurzeln in unserem Wunsch nach mehr und mehr Wachstum, mehr Wohlstand und mehr Konsum. Mehr von allem. Noch mehr ‚Free Lunch‘. ‚Free Lunch‘? Hat nicht mal jemand gesagt, es gäbe so etwas nicht? Absolut! Das gibt es nicht! Warum tun Sie so, als gäbe es einen ‚Free Lunch‘ und bauen Ihren Wohlstand auf einem Glashaus der Schulden?

2.33 Der CEO der Zukunft Einfach, weil Sie es können, und weil Ihre Opposition nicht stark genug ist. Sie, die sie an den Stellhebeln der Macht sitzen, wissen, dass die ultimative Rückzahlung wahrscheinlich nicht unter Ihrer Herrschaft stattfinden wird, möglicherweise nicht einmal in Ihrem Leben. Es gibt nicht genügend reife Führungskräfte, deren Kraft in ihrer Hingabe an ihr  eigenes inneres Wachstum wurzelt. Sobald das innere Wachstum das äußere ­Wachstum verdrängt, endet das Spiel von immer mehr und noch mehr, denn diese Führungskräfte werden davon Abstand nehmen, ihrer Umwelt und zukünftigen Generationen Schaden zuzufügen. Aber warum sollten Sie einen harmlosen Ansatz wählen? Wohlstand war noch nie so groß wie heute. Die Eliten, aber auch die Mittel- und Arbeiterklasse haben einen höheren Lebensstandard als je zuvor. Wachstum scheint die universelle Antwort für scheiternde Staaten und Unternehmen zu sein. Also haben Sie, die Führungskräfte von heute, beschlossen, artifizielles Wachstum zu schaffen. Mit Billionen von Regierungs- und Zentralbankgeldern entsteht künstliche Nachfrage, Währungen werden geschwächt und die Finanzmärkte werden wieder auf historische Höchststände gepumpt. Sie sagen: Diesmal ist es anders. Alles unter Kontrolle! Ich versichere Ihnen, dass sich der unvermeidliche Zusammenbruch der Finanzmärkte und damit der Abschwung der Weltwirtschaft nur verzögert. Die Zentralbanken haben sich in die betrügerische Praxis des Quantitative Easing verstrickt. Mit jedem frisch aus dem Nichts geschaffenen Dollar, der in die Märkte investiert wird, haben Sie die zerstörerische Kraft des eventuellen Abschwungs erhöht. Die Märkte sind mittlerweile stärker gehebelt als vor 2008. Aber wenn Wachstum Ihr Mantra ist, dann muss es Wachstum sein, was auch immer die Folgekosten für zukünftige Generationen sein mögen. Die natürlichen Wirtschaftskreisläufe lassen sich nicht verhindern und sind gesund. Der Versuch, sie zu verhindern und zu verschieben, wird die Schwankungen nur noch verschärfen und den eventuellen Abschwung noch schmerzhafter machen. Doch wohin führt dieses künstliche Wachstum? Die Idee des äußeren Wachstums als einziger Weg nach vorn führt unweigerlich zum Zusammenbruch. Die Folgen des unbegrenzten Wachstums in der Natur materialisieren sich wie Krebs. Das Gleiche gilt für die Wirtschaft. Ein bedingungsloser Fokus auf Wachstum treibt krankmachende Verhaltensweisen an, wie wir sie gerade in Form der ‚Subprime-Krise‘ in den Vereinigten Staaten gesehen haben, die daraufhin ihre Schockwellen um die Welt schickte. Nun schwankt die Überschuldung in Europa und den USA und schwächt die Fundamente der Weltwirtschaft. Was tun Sie, um diese Verwüstung der zukünftigen Wirtschaft zu verhindern oder zumindest die Heilung des todkranken Patienten einzuleiten? So gut wie nichts. Rückblickend muss ich sagen, dass der Schmerz noch nicht groß genug ist. Sie leben immer noch zu gut. Sie haben die Gefahr bereits erkannt, aber mit wenigen Ausnahmen wollen Sie – ebenso wie die meisten politischen und wirtschaftlichen Eliten – nicht die Verantwortung für den Wandel übernehmen. Die Änderungen müssten zu drastisch sein. Sie wollen das Risiko nicht eingehen, denn das Top-Management würde die politischen Folgen wahrscheinlich nicht überleben. Der Drang, der erste am Futtertrog zu sein, ist zu groß. Die Gier ist zu stark bei einer Führungskraft, wenn sie nicht durch andere Motivationen ausgeglichen wird.

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2  Das Problem

Welche Veränderungen stehen bevor? In den westlichen Industrieländern werden Lebensstandard und Wohlstand zwangsläufig abnehmen, wenn der notwendige Abbau von Überschuldung und Misswirtschaft nicht vorrangig betrieben wird. Der Wohlstandsunterschied zwischen der Mehrheit und den 0,1  % wird sich weiter vergrößern. Als CEO muss man sich verändern, um erfolgreich im Wettbewerb bestehen zu können, wenn man bedenkt, dass in vielen Ländern ein geringeres Wachstum mit einer Abflachung oder gar einer Schrumpfung der Wirtschaft einhergeht. Man muss die Wertschöpfung überdenken, was nicht nur Wachstum bedeutet. Ihr wohlhabender Lebensstil zu Beginn des 21. Jahrhunderts basiert auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Unternehmen erfüllen die Aufgabe, natürliche Ressourcen in Produkte umzuwandeln, und Dienstleister haben sich etabliert. Eine solche Konsumwirtschaft wird nur dann florieren, wenn die Ressourcen noch in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Mit der Erschöpfung dieser Ressourcen ist eine Veränderung unvermeidlich. Wir leben wie Junkies, meistens Öl-Junkies. Es ist wünschenswert, ja sogar unerlässlich, dass Sie die notwendigen Veränderungen unverzüglich einleiten. Der unbestreitbare Imperativ ist die Schaffung einer nachhaltigen Wirtschaft. Sie haben einfach keine andere Wahl. Nachhaltigkeit bedeutet, ein Produkt bereitzustellen, das einen quantitativen und qualitativen Wert schafft und nur Ressourcen verbraucht, die kurz- bis mittelfristig erneuerbar sind und somit weder Mensch noch Umwelt schädigen. Das Leiden der Weltbevölkerung durch Umweltzerstörung und -ausbeutung nimmt zu und ist untragbar. Unternehmen, denen es an nachhaltigem Wirtschaften und Handeln mangelt, werden in ihren Gesellschaften immer weniger akzeptiert. Die Nachfrage nach Produkten von nicht nachhaltigen und unethisch handelnden Unternehmen wird daher mit der Zeit abnehmen. Dies hat direkte Auswirkungen auf das Endergebnis und wird zum Aussterben von Unternehmen führen, die den Trend nicht erkannt und die Herausforderung nicht angenommen haben. Langfristig werden Unternehmen, die ihre Geschäftsmodelle auf eine nachhaltige Wirtschaft ausrichten, die Gewinner sein. Wie können sich Unternehmen zu diesem Wandel bekennen? Es beginnt mit der Suche nach dem Sinn des Lebens, aus dem nachhaltige Geschäftspraktiken entstehen, die auf moralischen Entscheidungen und ethischen Praktiken beruhen. Dies wird im Wesentlichen von der Unternehmensleitung bestimmt. In Unternehmen, die sich ausschließlich dem Wachstum verschrieben haben, werden Führungskräfte auf allen Ebenen von den kurzfristigen Belohnungen angelockt und gefangen gehalten, was es außerordentlich schwierig macht, ihren Zweck oder ihre Praktiken zu ändern. Ein reifer Mensch mit fortgeschrittenem innerem Wachstum wird jedoch die He­ rausforderungen dieser Zeit erkennen und Entscheidungen treffen, die auf einer multidimensionalen neuen Wertestruktur zugunsten unserer Gesellschaft basieren und nicht auf monetärer Leistung allein. Die Unternehmensziele werden dann zunehmend langfristig auf Nachhaltigkeit ausgerichtet, um sicherzustellen, dass Unternehmen, Mensch und Umwelt davon profitieren. Da diese Veränderung langsam ist, wird sie nicht sofort für alle sichtbar sein, aber sie wird sich weiter ausbreiten und auf andere Unternehmen übergreifen, sobald der Druck ausreichend spürbar ist.

2.34 Die philosophische und christliche Vision der Ethik

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Die Endlichkeit des externen Wachstums ist sichtbar geworden. Es ist hässlich und bedroht die Welt, wie Sie sie kennen. Meine abschließenden Fragen: • Warum haben Sie in so vielen Fällen die rücksichtslosen Egoisten gefördert? • Warum stehen Ethik und Moral nicht im Mittelpunkt Ihrer Businesspläne? • Warum haben Sie Ihre Führung nicht genutzt, um Ihre Mitarbeiter ethisch zu entwickeln? • Warum sind Ihnen Achtsamkeit und Mitgefühl noch fremd? • Warum haben Sie nicht gemerkt, dass diese neue Kultur für die Arbeitsweise der New Economy unerlässlich ist? • Warum haben Sie nicht eine Kultur geschaffen, die auf Innovation Wert legt? • Warum haben Sie sich darauf konzentriert, den Status quo zu optimieren, anstatt einen höheren Status quo zu etablieren? • Warum ließen Sie sich von Investmentbankern und Beratern überreden, unangemessene Fusionen und Übernahmen durchzuführen? • Warum hat es Sie nicht gestört, wenn Ihre Handlungen dazu geführt haben, dass Tausende von Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben? • Warum hat es Sie nicht gestört, dass so viele Menschen durch den Stress der Misswirtschaft erkrankt sind? • Ich kann nur vermuten, dass Sie noch nicht begriffen haben, dass das Ziel nicht nur eine erfolgreiche externe quantitative Leistung ist, sondern zumindest die Initiierung der inneren Entwicklung, aus der dann die äußere qualitative Leistung wächst. Das und nur das ist die Lebensbilanz der Zukunft. Ich appelliere an Sie alle, die Sie politisch und/oder wirtschaftlich führend sind, sich dem inneren Wachstum zu widmen, um zu erkennen, dass nur nachhaltige Geschäftspraktiken eine Zukunft im Top-Management haben. Ich kenne in Deutschland nur eine Handvoll Wise Leaders. Das sind Menschen, die mit Hingabe durch moralische Entscheidungen und ethische Praktiken von Herzen führen und sehr erfolgreich sind. Ich hoffe aufrichtig, dass die Zahl in den kommenden Jahren weiter steigen wird, um mir Zuversicht in eine bessere Zukunft für uns Nachwuchskräfte zu geben.“ (Meyer-Galow 2014)

2.34 Die philosophische und christliche Vision der Ethik Peter Knauer SJ, katholischer Theologe der ökumenischen Fundamentaltheologie, hat erstaunliche Grundprinzipien der Ethik aufgestellt, die mit seiner philosophischen und christlichen Vision übereinstimmen, die allzu offenkundigen, unmoralischen Missbräuche im Wirtschaftsleben zu reduzieren. So schreibt er in seinem

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2  Das Problem

Buch „Handlungsnetze“ (Knauer 2002). Im Folgenden sind einige seiner Kernideen aufgeführt. Zum grundlegenden Problem der traditionellen Ethik schreibt er: „Unsere Welt ist uns nicht mit einem Beipackzettel geliefert worden. Erst seit wenigen Jahrhunderten ist die Menschheit in der Lage, sich ein geografisch einigermaßen zutreffendes Bild von der Erdkugel zu machen. Es handelt sich nicht um ein ­angeborenes, sondern erst durch viele Erfahrungen vermitteltes und weiterzugebendes Wissen. Ungleich schwieriger als solches äußeres Wissen zu erwerben ist es, ethische Landkarten zu erstellen. Genauso wenig wie sonstiges Wissen ist das ethische Wissen darum angeboren, welche Handlungen verantwortbar sind und welche nicht. Es wird von der Menschheit erst durch mühsame Erfahrung und die ebenfalls mühsame Weitergabe der gewonnenen Einsichten gelernt. Auch ethische Einsicht geht letzten Endes auf ‚Trial and Error‘ und auf das Wechselspiel von ,Konstruktion und Kritik‘ zurück. Sie steht, wie übrigens auch das ganze vorliegende Buch, immer unter dem Vorbehalt besserer Einsicht. Nur aus Schaden wird man klug; zugleich aber scheint die Geschichte fast nichts anderes zu lehren, als dass man immer wieder die Mühe scheut, aus ihr tatsächlich zu lernen. Zuweilen werden nur vermeintliche Selbstverständlichkeiten weitergegeben, die einer genauen Prüfung nicht standhalten (…) Man steht allerdings nicht zunächst außerhalb aller ethischen Verpflichtung, sodass man erst nachträglich durch Argumentation in einen Raum der Verpflichtung hineinzubringen wäre. Vielmehr finden wir uns von vornherein bereits in einem ethischen Raum vor. Wir sind nur durch die Zuwendung anderer Menschen zum Bewusstsein unserer selbst gekommen. Deshalb erfahren wir uns von vorherein als ethisch verpflichtet, bevor wir überhaupt eine ethische Reflexion beginnen. Sonst könnten wir nicht einmal verstehen, was mit der Frage nach der Verantwortlichkeit des Handelns gemeint ist.“ (Knauer 2002, S. 11)

2.34.1 Die goldene Regel der Ethik Eine ausgezeichnete Zusammenfassung aller ethischen Überlegungen ist für Knauer in der goldenen Regel enthalten. Es heißt darin bejahend nach dem Matthäus Evangelium 7, 12: cc

„Alles, was ihr von anderen erwartet, tut ihnen auch an.“ (Knauer 2002, S. 12) Die umgekehrte negative Version ist in einem Sprichwort enthalten:

cc

„Was du dir selbst nicht antun willst, das tue auch anderen nicht.“ (Knauer 2002, S. 12)

2.34 Die philosophische und christliche Vision der Ethik

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Die goldene Regel bleibt ein allgemein anerkanntes Kriterium für ethisches und moralisches Verhalten. Knauer glaubt, dass die Öffentlichkeit die Wahrheit und Weisheit, die diesem Kriterium für das Verhalten innewohnt, verstehen und erkennen kann. Häufig wird als ethisches Grundprinzip formuliert: cc

„Das Gute ist zu tun, und das Böse ist zu unterlassen.“ (Knauer 2002, S. 13) „Diese Formulierung ist eine Tautologie. Sie antwortet jedenfalls nicht auf die entscheidende Frage, woran man erkennt, ob etwas gut oder böse ist. Und ist man tatsächlich positiv verpflichtet, alles nur denkbare Gute zu tun? Manche wollen das Gute als das Vernunftgemäße bestimmen. Es bleibt aber offen, woran man Vernunftmäßigkeit erkennt (…) Auch Kants kategorischer Imperativ –Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte– lässt noch offen, woran man erkennt, dass eine Maxime geeignet ist, Allgemeingeltung zu beanspruchen.“ (Knauer 2002, S. 13–14)

Zum Handlungskonzept schreibt Knauer: „In der Traditionellen Ethik ist sogar der Handlungsbegriff selbst in vieler Hinsicht ungeklärt (…) Es fällt ebenfalls auf, dass die Ethikhandbücher kaum ausdrücklich bedenken, dass unsere Handlungen gewöhnlich dadurch geradezu charakterisiert werden, dass sie unter Zeitdruck stehen. Man hat gar nicht genug Zeit zur Verfügung, um das abstrakt gesehen Bestmögliche herauszufinden. (…) In den Ethiklehrbüchern wird nach einer Beurteilung der dem handelnden Subjekt zuzuordnenden Handlungen gefragt. Gewöhnlich wird dabei jedoch kaum bedacht, dass wir nicht als isolierte Einzelwesen handeln. Vielmehr werden unsere Handlungen sowohl in ihrem Entstehen wie insbesondere in ihren Ergebnissen von den Handlungen anderer beeinflusst und damit in sich selbst verändert. Unsere Handlungen sind gewöhnlich mit den Handlungen anderer verflochten oder verknüpft. Der jeweils Handelnde müsste eigentlich der Tatsache Rechnung tragen, dass das in seinen Handlungen als deren Ergebnis Angezielte durch Handlungen anderer gefördert oder behindert werden kann. Eine Handlung, von der man im Vo­ raus weiß dass ihr angezieltes Ergebnis nicht zustande kommen wird, könnte dadurch ihren Sinn verlieren und gar nicht mehr das sein, was der Handelnde zu tun meint. Jedenfalls wird man das eigene Handeln entsprechend einrichten und nach der tatsächlichen Erreichbarkeit des angezielten Ergebnisses fragen müssen. Ein bloß lineares Denken, das nur die Richtung von einer Ursache zu einer Wirkung kennt, muss durch ein Denken in Regelkreisen und Rückkopplungszusammenhängen ersetzt werden. Man müsste von einer Rückkopplungsstruktur sprechen.“ (Knauer 2002, S. 19–20)

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2  Das Problem

2.34.2 Das Prinzip der Doppelwirkung Knauer erkannte, dass unser Handeln meist mehr bewirkt als nur die ursprünglich gewünschte Wirkung: „Unsere Handlungen haben häufig (wenn nicht sogar immer) mehrere Auswirkungen, von denen die eine erwünscht, die anderen aber unerwünscht sind. Um solche Handlungen zu beurteilen, wurde in der traditionellen, von der Scholastik beeinflussten Ethik das ,Prinzip der Doppelwirkung‘ entwickelt. Natürlich können Handlungen nicht nur zwei, sondern viele Auswirkungen haben; aber von ,Doppelwirkung‘ ist die Rede, weil eine Vielfalt von Auswirkungen sich gewöhnlich in der Zweiheit erwünschter und unerwünschter einteilen lässt. Das Prinzip der Doppelwirkung will auf die Fragen antworten, unter welchen Bedingungen man neben erwünschten auch unerwünschte Auswirkungen zulassen oder sogar verursachen darf. Das Prinzip wird traditionell so formuliert: Die Zulassung oder Verursachung eines Schadens ist dann erlaubt, wenn a) Die Handlung in sich nicht schlecht ist, b) der Schaden nicht als Zweck direkt beabsichtigt ist, c) der Schaden auch nicht als Mittel zum Zweck direkt beabsichtigt ist, d) für die Zulassung oder Verursachung des Schadens ein entsprechender Grund vorliegt. Sollte auch nur eine dieser Bedingungen nicht erfüllbar sein, dann ist die Zulassung oder Verursachung eines Schadens ethisch nicht vertretbar.“ (Knauer 2002, S. 27)

Knauer ist auch besorgt, dass in der herkömmlichen Ethik kaum bedacht worden ist, dass hier eine universalisierende Betrachtungsweise notwendig ist: Man hat nach dem zu fragen, was auf die Dauer und im Ganzen der Fall ist. „Das Prinzip der Doppelwirkung in seiner herkömmlichen Formulierung und seinem herkömmlichen Verständnis bleibt auf Randfälle der Ethik eingeschränkt. Fast alle seine Begriffe bleiben unklar. Diese Unklarheit kann zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen führen. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb in vielen modernen Ethiklehrbüchern dieses Prinzip überhaupt nicht mehr vorkommt. Um das Ungenügen der traditionellen Interpretation zu überwinden, wird im Folgenden eine Rekon­ struktion dieses Prinzips unternommen.“ (Knauer 2002, S. 33)

Knauer fährt fort: „Die Fragestellung des Prinzips der Doppelwirkung lautet, unter welchen Bedingungen die Zulassung oder Verursachung eines Verlusts oder Schadens ethisch zulässig sein kann. Diese Fragestellung setzt voraus, dass eine Handlung nur dadurch ethisch schlecht sein kann, dass sie tatsächlich oder zumindest vermeintlich Schaden (für wen auch immer, auch für den Handelnden selbst) zulässt oder verursacht. Allerdings gilt:

2.34 Die philosophische und christliche Vision der Ethik

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Nicht jede Zulassung oder Verursachung von Schaden macht die Handlung tatsächlich schlecht. Rechtfertigungspflichtig kann nur die Zulassung oder Verursachung eines Schadens sein; dagegen braucht man das Anstreben eines Nutzens oder Gewinns, solange damit kein Schaden verbunden ist, nicht eigens zu rechtfertigen. Auch umgekehrt kann eine Handlung nur dadurch ethisch gut sein, dass sie einen Gewinn anstrebt. Es gilt jedoch ebenfalls, dass nicht jede Handlung, die einen Gewinn anstrebt, tatsächlich gut ist.“ (Knauer 2002, S. 37)

Knauer kommt zu der Erkenntnis, dass es kein anderes ethisches Prinzip gibt, das das Prinzip der Doppelwirkung adäquat ersetzen könnte. „Indem das Prinzip der Doppelwirkung die genaue Grenze zwischen schlechten und nicht schlechten Handlungen angibt, bestimmt es die Bereiche der nicht verantwortbaren Handlungen und der verantwortbaren Handlungen; in den Bereich der letzteren gehören nicht nur die bestmögliche Handlungen, sondern auch die nur guten, denen gegenüber noch bessere Handlungen möglich wären. So wird auch letztere Unterscheidung vom Prinzip der Doppelwirkung umfasst. Die herkömmliche Ethik hatte das Prinzip der Doppelwirkung nur zur Lösung komplizierter Randfälle herangezogen. In Wirklichkeit gibt es überhaupt keine anderen Handlungen als solche mit einer doppelten Wirkung. Die Erfahrung zeigt: Für jeden angestrebten Wert muss man unter irgendeiner anderen Hinsicht eine Einbuße in Kauf nehmen, und sei es auch nur die Ermüdung oder die aufgewandte Zeit, die dann für etwas anderes nicht mehr zur Verfügung steht. Das ist so elementar, dass es gewöhnlich gar nicht mehr auffällt.“ (Knauer 2002, S. 39)

Knauer kommt schließlich zu einer hermeneutischen Revision des Prinzips der Doppelwirkung: „Nur eine Handlung, die einen Schaden ,ohne entsprechenden Grund‘ zulässt oder verursacht, kann ,in sich schlecht‘ sein. Man darf jedoch einen Schaden zulassen oder verursachen, wenn 1) die Handlung einen ,entsprechenden Grund‘ hat; 2) nicht eine andere, in sich schlechte Handlung desselben Handelnden zu ihrer Ermöglichung dient; 3) sie nicht zur Ermöglichung einer anderen, ,in sich schlechten‘ Handlung desselben Handelnden führt.“ (Knauer 2002, S. 67)

Bei der Betrachtung der Ethik in der Wirtschaft ist es wichtig, zwischen ethisch korrekt und ethisch einwandfrei zu unterscheiden. Knauer (2002, S. 93) weist im Folgenden auf die Unterscheidung hin. „Wer in einem Selbstbedienungsladen nicht stiehlt, weil er fürchtet, erwischt zu werden, handelt in dem Sinn ,ethisch richtig‘, dass man ihm keine schlechte Handlung

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2  Das Problem

vorwerfen kann. Dennoch ist seine Handlungsweise noch längst nicht ,gut‘. Das wäre sie erst, wenn er nicht nur faktisch, sondern prinzipiell nicht stehlen würde, auch dann nicht, wenn überhaupt keine Gefahr bestünde, ertappt zu werden.“ (Knauer 2002, S. 93)

Auf diese Unterscheidung bezog sich Clark, als er forderte, dass sich die Manager der Wirtschaft auch außerhalb der gesetzlich geregelten Bereiche ethisch verhalten sollten. Knauer kommentiert auch die Ethik und den christlichen Glauben. Er weist darauf hin: „In den vorangehenden Überlegungen wurde rein philosophisch argumentiert. Es stellt sich aber die Frage, wie sich dazu etwa die christliche Botschaft verhält, die ja von vielen auch als eine ethische Instanz angesehen wird. In welchem Sinn kann einer Kirche ethische Autorität zukommen? Die christliche Botschaft setzt als ihren Anknüpfungspunkt die sittliche Ansprechbarkeit des Menschen voraus. Die christliche Botschaft behauptet, den Menschen von der Wurzel seiner Unmenschlichkeit erlösen zu können. Diese Wurzel seiner Unmenschlichkeit liegt in der Angst des Menschen um sich selbst, die in seiner Verwundbarkeit und Vergänglichkeit begründet ist. Der Hebräerbrief (2,15) spricht von der ,Todesfurcht‘, die das ganze Leben des Menschen bestimme und eine Zwangslage für ihn darstelle; sie ist die Wurzel aller Unmenschlichkeit. Sie bewirkt, dass man notfalls sogar über Leichen geht, um sich selbst zu sichern. Die christliche Botschaft beansprucht nun, diese Angst des Menschen um sich selbst entmachten zu können, indem sie die stärkere Gewissheit mitteilt, in der Gemeinschaft mit Gott als dem in allen Mächtigen geborgen zu sein, gegen die nicht einmal der Tod ankommt.“ (Knauer 2002, S. 141)

Knauer (2002, S. 141) argumentiert, dass man die Existenz Gottes nicht anerkennen müsse, um das Handeln mit ethischer Integrität zu rechtfertigen. Da Gott nicht unseren menschlichen Bedingungen unterworfen sei, könnte man logischerweise nichts von Ihm ableiten. Problematisch sei für ihn auch, dass die Menschen sich an Gottes Wort wenden müssen, um die höchste Autorität in Sachen Moral zu erlangen. Würde das bedeuten, dass diejenigen, die nicht von Gott gehört haben, nicht in der Lage sind, die Anerkennung der Moral zu verinnerlichen? Knauer erkennt andere Wege, die zu einem gesunden ethischen Verhalten führen, Wege, die nicht unbedingt von der Kenntnis christlicher Prinzipien abhängig sind. Mit der Entleerung der Kirchen und immer mehr Menschen, die nicht mehr an einen allmächtigen Gott glauben, leidet die christlich-ethische Orientierung für moralisches Handeln in der Wirtschaft. Aber das muss nicht sein. Man kann die Existenz Gottes leugnen, aber dennoch versuchen, den intuitiv vernünftigen und soliden moralischen und ethischen Grundsätzen der christlichen Kirche gerecht zu werden. Dabei kann man zu ihrer Überraschung feststellen, dass sie Gott erleben!

2.35 Ein Appell von Papst Franziskus für Ethik und Moral

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2.35 Ein Appell von Papst Franziskus für Ethik und Moral In seiner Enzyklika Laudato Si’ (Franziskus und Vater 2015) Über die Sorge für das gemeinsame Haus beschäftigt sich Papst Franziskus sehr intensiv mit dem unmoralischen Verhalten in der Wirtschaft, insbesondere mit Umweltfragen. Die Worte „Ethik“ oder „ethisch“ werden achtundzwanzigmal erwähnt, im Folgenden eine Zusammenfassung seiner Aussagen und Appelle: • Er möchte eine konkrete Grundlage für die ethische und spirituelle Reiseroute schaffen. • Er diskutiert eine Ethik der internationalen Beziehungen. • Er ist der Ansicht, dass Umweltverschlechterung und menschliche und ethische Verschlechterung eng miteinander verbunden sind. • Er betrachtet den Grundsatz der Unterordnung des Privateigentums unter die universelle Bezeichnung von Gütern und damit das Recht eines jeden auf ihre Verwendung als goldene Regel des sozialen Verhaltens und als ersten Grundsatz der gesamten ethischen und sozialen Ordnung. • Er stellt fest, dass wir nicht behaupten können, eine gesunde Ethik, Kultur oder Spiritualität zu besitzen. • Er plädiert dafür, dass die Wissenschaft Philosophie und Sozialethik berücksichtigen müsse. • Er stellt fest, dass es keine echten ethischen Perspektiven gibt, auf die man sich berufen kann. • Er glaubt, dass die gegenwärtige ökologische Krise ein kleines Zeichen für die ethische, kulturelle und spirituelle Krise ist. • Er plädiert dafür, dass wir unsere Ziele, Wirkungen, den Gesamtzusammenhang und die ethischen Grenzen ständig neu bewerten. • Er weist darauf hin, dass eine von der Ethik getrennte Technologie nicht ohne Weiteres in der Lage sein wird, ihre eigene Macht einzuschränken. • Er mahnt, dass eine integrale Ökologie untrennbar mit dem Begriff des Gemeinwohls, einem zentralen und vereinheitlichenden Prinzip der Sozialethik, verbunden ist. • Er warnt davor, dass viele Probleme der Gesellschaft mit der heutigen egozen­ trischen Kultur der sofortigen Befriedigung und des ethischen und kulturellen Niedergangs verbunden sind. • Er ist der Ansicht, dass die Verringerung der Umweltschäden in erster Linie eine ethische Entscheidung ist, die auf der Solidarität zwischen allen Völkern beruht.

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• Er ist der Ansicht, dass die Finanzkrise von 2007/08 eine Gelegenheit bot, eine neue Wirtschaft zu entwickeln; eine, die mehr auf ethische Prinzipien achtet. • Er weist darauf hin, dass die ethischen Prinzipien, die von der Vernunft verstanden werden können, immer wieder in anderer Gestalt auftauchen und sich in einer Vielzahl von Sprachen, einschließlich der religiösen Sprache, ausdrücken können. • Er mahnt uns, dass wir genug von der Unmoral und dem Spott der Ethik, der Güte, des Glaubens und der Ehrlichkeit haben. Es ist an der Zeit, anzuerkennen, dass die unbeschwerte Oberflächlichkeit uns nichts gebracht hat. Er fordert kraftvoll, dass wir den Weg zurück zu unseren spirituellen Schätzen finden und den Sprung zum Transzendenten machen! In seiner Enzyklika äußert sich Papst Franziskus mit den folgenden Aussagen über Spiritualität, um die Menschheit auf den Weg der Spiritualität zurückzuführen: „Die ökologische Kultur kann nicht reduziert werden auf eine Serie von dringenden Teilantworten auf die Probleme, die bezüglich der Umweltschäden, der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und der Verschmutzung auftreten. Es müsste einen anderen Blick geben, ein Denken, eine Politik, ein Erziehungsprogramm, einen Lebensstil und eine Spiritualität, die einen Widerstand gegen den Vormarsch des technokratischen Paradigmas bilden. Andernfalls können auch die besten ökologischen Initiativen schließlich in derselben globalisierten Logik stecken bleiben. Einfach nur eine technische Lösung für jedes auftretende Umweltproblem zu suchen bedeutet, Dinge zu isolieren, die in der Wirklichkeit miteinander verknüpft sind, und die wahren und tiefsten Probleme des weltweiten Systems zu verbergen.“ (Franziskus und Vater 2015, S. 39) „Der große Reichtum der christlichen Spiritualität, der im Laufe von 20 Jahrhunderten aus persönlichen und gemeinschaftlichen Erfahrungen hervorgegangen ist, bietet einen schönen Beitrag zu dem Versuch, die Menschheit zu erneuern. Ich möchte den Christen einige Leitlinien ökologischer Spiritualität vorschlagen, die aus den Überzeugungen unseres Glaubens entspringen, denn was das Evangelium uns lehrt, hat Konsequenzen für unsere Art zu denken, zu empfinden und zu leben. Es geht darum, nicht so sehr über Ideen, sondern vor allem über die Beweggründe zu sprechen, die sich aus der Spiritualität ergeben, um eine Leidenschaft für den Umweltschutz zu fördern. Denn es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine ,Mystik‘, die uns beseelt, ohne ,innere Beweggründe, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen.‘“ (Franziskus und Vater 2015, S. 74–75) „Die christliche Spiritualität schlägt ein anderes Verständnis von Lebensqualität vor und ermutigt zu einem prophetischen und kontemplativen Lebensstil, der fähig ist, sich zutiefst zu freuen, ohne auf Konsum versessen zu sein. Es ist wichtig, eine alte

2.35 Ein Appell von Papst Franziskus für Ethik und Moral

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Lehre anzunehmen, die in verschiedenen religiösen Traditionen und auch in der Bibel vorhanden ist. Es handelt sich um die Überzeugung, dass ,weniger mehr ist‘. Die ständige Anhäufung von Möglichkeiten zum Konsum lenkt das Herz ab und verhindert, jedes Ding und jeden Moment zu würdigen. Dagegen öffnet das gelassene Sich-Einfinden vor jeder Realität, und sei sie noch so klein, uns viel mehr Möglichkeiten des Verstehens und der persönlichen Verwirklichung. Die christliche Spiritualität regt zu einem Wachstum mit Mäßigkeit an und zu einer Fähigkeit, mit dem Wenigen froh zu sein. Es ist eine Rückkehr zu der Einfachheit, die uns erlaubt innezuhalten, um das Kleine zu würdigen, dankbar zu sein für die Möglichkeiten, die das Leben bietet, ohne uns an das zu hängen, was wir haben, noch uns über das zu grämen, was wir nicht haben. Das setzt voraus, die Dynamik der Herrschaft und der bloßen Anhäufung von Vergnügungen zu meiden.“ (Franziskus und Vater 2015, S. 76–77) „Ein rechtes Verständnis der Spiritualität besteht zum Teil darin, unseren Begriff von Frieden zu erweitern, der viel mehr ist als das Nichtvorhandensein von Krieg. Der innere Friede der Menschen hat viel zu tun mit der Pflege der Ökologie und mit dem Gemeinwohl, denn wenn er authentisch gelebt wird, spiegelt er sich in einem ausgeglichenen Lebensstil wider, verbunden mit einer Fähigkeit zum Staunen, die zur Vertiefung des Lebens führt. Die Natur ist voll von Worten der Liebe. Doch wie können wir sie hören mitten im ständigen Lärm, in der fortdauernden und begierigen Zerstreuung oder im Kult der äußeren Erscheinung? Viele Menschen spüren eine tiefe Unausgeglichenheit, die sie dazu bewegt, alles in Höchstgeschwindigkeit zu erledigen, um sich beschäftigt zu fühlen, in einer ständigen Hast, die sie wiederum dazu führt, alles um sich herum zu überfahren. Das wirkt sich aus auf die Art, die Umwelt zu behandeln. Eine ganzheitliche Ökologie beinhaltet auch, sich etwas Zeit zu nehmen, um den ruhigen Einklang mit der Schöpfung wiederzugewinnen, um über unseren Lebensstil und unsere Ideale nachzudenken, um den Schöpfer zu betrachten, der unter uns und in unserer Umgebung lebt und dessen Gegenwart nicht hergestellt, sondern entdeckt, enthüllt werden muss.“ (Franziskus und Vater 2015, S. 77–78) „Alles ist miteinander verbunden, und das lädt uns ein, eine Spiritualität der globalen Solidarität heranreifen zu lassen, die aus dem Geheimnis der Dreifaltigkeit entspringt.“ (Franziskus und Vater 2015, S. 82) „Das technokratische Paradigma tendiert auch dazu, die Wirtschaft und die Politik zu beherrschen. Die Wirtschaft nimmt jede technologische Entwicklung im Hinblick auf den Ertrag an, ohne auf mögliche negative Auswirkungen für den Menschen zu achten. Die Finanzen ersticken die Realwirtschaft. Man hat die Lektionen der weltweiten Finanzkrise nicht gelernt, und nur sehr langsam lernt man die Lektionen der Umweltschädigung. In manchen Kreisen meint man, dass die jetzige Wirtschaft und die Technologie alle Umweltprobleme lösen werden, ebenso wie man in nicht akademischer Ausdrucksweise behauptet, dass die Probleme des Hungers und das Elend in der Welt sich einfach mit dem Wachstum des Marktes lösen werden. Es handelt sich nicht um eine Frage von Wirtschaftstheorien, die vielleicht heute keiner zu verteidigen wagt, sondern um deren Einbindung in die tatsächliche Entwicklung der Wirtschaft. Auch

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2  Das Problem wer sie zwar nicht in Worte fasst, unterstützt sie aber doch mit seinen Taten, wenn ein rechtes Ausmaß der Produktion, eine bessere Verteilung des Reichtums, ein verantwortungsvoller Umgang mit der Natur oder die Rechte der zukünftigen Generationen ihn nicht zu kümmern scheinen. Mit seinem Verhalten bringt er zum Ausdruck, dass für ihn das Ziel der Gewinnmaximierung ausreicht. Der Markt von sich aus gewährleistet aber nicht die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und die soziale Inklusion. Unterdessen verzeichnen wir ,eine Art verschwenderische und konsumorientierte Überentwicklung, die in unannehmbarem Kontrast zu anhaltenden Situationen entmenschlichenden Elends steht‘, und es werden nicht schnell genug wirtschaftliche Einrichtungen und soziale Programme erarbeitet, die den Ärmsten einen regulären Zugang zu den Grundressourcen ermöglichen. Man wird nie genug darauf hinweisen können, welches die tiefsten Wurzeln des gegenwärtigen Ungleichgewichts sind, die mit der Ausrichtung, den Zielen, dem Sinn und dem sozialen Kontext des technologischen und wirtschaftlichen Wachstums zu tun haben.“ (Franziskus und Vater 2015, S. 38–39)

Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Appell des Papstes von den Managern der Wirtschaft vollständig verstanden oder angenommen wird. Wenn immer mehr Menschen nicht mehr an Gott glauben und die Kirchen leer bleiben, dann hat die christlich-ethische Orientierung für moralisches Handeln in der Wirtschaft keine offensichtliche Basis, von der aus sie wirksam werden können. Aber auch ein Ungläubiger in Gott kann Gott noch erleben. Leider sind auch die Vertreter der Kirchen oft nicht mehr in der Lage, die Menschen in die Erfahrung Gottes zu führen, weil sie selbst die Wirklichkeit nicht erfahren haben, die wir nicht mit Worten beschreiben können, sondern denen wir den Namen Gott geben. Ihre Predigt wurde auf Doktrin und Dogmen reduziert, was zur Folge hat, dass ihr Publikum fernbleibt. Im Jahr 2014 haben in Deutschland 217.000 Menschen auf ihren Katholizismus verzichtet. Etwa 200.000 verließen die evangelische Kirche. Die Zahl der Kandidaten für das Priestertum in der Welt nimmt stark ab. Dies ist bedauerlich, da die Kirchen eine wichtige soziale Institution sind, um die Menschheit zu einem Bewusstsein und einer Erforschung der Spiritualität zu führen. Angesichts dieses Rückgangs der Kirchenzugehörigkeit müssen wir an anderer Stelle nach Lehren und Praktiken suchen, die das innere Wachstum fördern, das zur Entwicklung einer neuen Ethik führen kann. Die Reputation der Kirche hat wegen eigener Verfehlungen schwer gelitten. Deshalb werden auch die gemeinten Worte des Papstes nicht angenommen. Kampf gegen Korruption: Francis Rebuilds Vatican Bank. So lautete die Überschrift eines Artikels in SPIEGEL Online am 04.12.13: „Die Vatikanbank IOR hat uns jahrzehntelang reichlich Material für dunkle Geheimnisse zur Verfügung gestellt. Sie war in Korruption, Geldwäsche und sogar in Mord

2.36 Als Individuen müssen wir unseren eigenen Weg finden

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verwickelt. Zuerst wollte Papst Franziskus die Institution schließen, jetzt ist er entschlossen, die IOR zu einer kleinen, sauberen Hausbank zu machen.“

Die Welt berichtete am 19.07.2015: „Skandalspur der Papstbank führt nach Deutschland. ‚Die Vatikanbank war in der Vergangenheit in dunkle Manipulationen verwickelt. Jetzt überprüfen italienische Ermittler einen neuen Verdächtigen und das führt nach Deutschland.‘“ (Die Welt 2015)

Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche ist ein Phänomen, das seit Mitte der 1990er-Jahre weltweit große öffentliche Aufmerksamkeit erregt hat. Das Bewusstsein für dieses bisher tabuisierte Thema hat viele Opfer dazu veranlasst, ihre traumatischen Erlebnisse auch 30 oder 40 Jahre nach den Ereignissen öffentlich zu machen. Fälle von sexuellem Missbrauch, insbesondere durch Priester, Mönche und Nonnen, aber auch durch Erzieher innerhalb der römisch-­ katholischen Kirche werden berichtet. Das Thema ist noch lange nicht beendet, auch wenn die Deutsche Bischofskonferenz sich bemüht. Unmoralisches Verhalten, unethische Praktiken, Betrug und Korruption gedeihen überall, nicht nur in der katholischen Kirche. Betrug und Korruption werden auch in den Mitgliedsorganisationen der Evangelischen Kirche gemeldet. Das Allensbach-Institut berichtet, dass laut Umfragen in den letzten Jahrzehnten der starke Reputationsverlust der öffentlichen Einrichtungen in Deutschland nicht annähernd so gravierend ist wie der Reputationsverlust der Priester und Pfarrer. Diese Fehlentwicklungen verdeutlichen, dass die Unterdrückung und Repression der dunklen Seite in Schattenbereiche führen. In Übereinstimmung mit den Praktiken der Alten Ethik, sogar der Vertreter der Kirchen, führt dazu, dass die dunkle Seite plötzlich die Kontrolle erlangt und sich rachsüchtig verhält. Die Menschheit muss die dunkle Seite integrieren, um in eine Ära vorzudringen, die das Neue Ethos umfasst. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass spirituelle Pfade allein ohne die zusätzlichen Erkenntnisse der Tiefenpsychologie oft nicht ausreichen.

2.36 A  ls Individuen müssen wir unseren eigenen Weg finden Der Kern der Lehre von Krishnamurti ist in der Erklärung enthalten, die er 1929 abgab, als er sagte: „Ich behaupte, dass die Wahrheit ein unwegsames Land ist und dass es keine Pfade gibt, die zu ihr hinführen – keine Religion, keine Sekten. Das ist mein Standpunkt,

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2  Das Problem den ich absolut und bedingungslos vertrete. Die Wahrheit ist grenzenlos, sie kann nicht konditioniert, sie kann nicht auf vorgegebenen Wegen erreicht und daher auch nicht organisiert werden. Deshalb sollten keine Organisationen gegründet werden, die die Menschen auf einen bestimmten Pfad führen oder nötigen.“ (Krishnamurti 2013)

In einem Interview mit David Ian Miller von der San Francisco Chronicle im Jahr 2008 fasste der Astrologe/Philosoph/Humorist Rob Brezny die Aussage von Krishnamurti treffend zusammen: „Ich schließe mich Krishnamurtis Prinzip an, der sagte, dass wir vier Milliarden Religionen brauchen. Jetzt sind es bis zu 6,5 Milliarden – eine religiöse Tradition für alle auf dem Planeten, 6,5 Milliarden Wege zu Gott.“ Jetzt, im Jahr 2020, sind wir mehr als 7,8 Milliarden. Hier wird ein wichtiger Gesichtspunkt angesprochen, der sich durch das ganze Buch zieht. Jede Veränderung, auch die zu mehr Ethik und Moral, kann nur von dem Individuum selbst vollzogen werden.

2.37 Mystik und Ethik Wenn wir uns nicht auf eine Organisation verlassen können, die uns sagt, was richtig oder falsch ist, dann müssen wir uns auf unsere persönlichen Erfahrungen und die daraus resultierende Weisheit verlassen, die unser inneres Wachstum fördert und uns zu einer höheren Bewusstseinsebene führt. Karl Rahner, der sich um den Erhalt unserer Spezies und unserer Ökologie kümmerte, entwickelte eine transzendentale Theologie auf der Basis transzendentaler Erfahrung, in der die Erfahrung Gottes Voraussetzung für ethisches Verhalten ist. Seine Vision lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: cc

„Der Fromme der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ (Rahner 1966, S. 335)

In einem Vortrag in Köln 1967 mit dem Titel „Die Zukunft des Glaubens und der Kirche“ sagte Karl Rahner: „Wir Menschen können nur dann Christen bleiben, wenn wir Mystiker sind. Die Bergpredigt kann nur von jemandem verstanden werden, der den Mut hat, sich selbst – sich selbst und nicht andere – radikal zu hinterfragen, und so muss die Kirche in den kommenden Jahren in einer lebendigen Spiritualität erlebt und gelebt werden. Diese Menschen werden Mystiker sein, die etwas erlebt haben, oder sie werden aufhören zu existieren.“ Vielleicht ist es dann vernünftig, daraus den Schluss zu ziehen, dass auch künftige Personen, die im Wirtschaftssektor arbeiten, entweder zu Mystikern werden

2.37 Mystik und Ethik

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müssen oder sie werden aufhören zu existieren. Was ist der Zusammenhang zwischen Ethik und Mystik? Mein früherer Lehrer Willigis Jäger repräsentiert eine überkonfessionelle Spiritualität, in der Gott im Gegensatz zur katholischen Lehre nicht als Einheit, sondern als reines, vereinigendes Bewusstsein verstanden wird. Wir werden uns dieser Einheit in göttlichen Erfahrungen bewusst. Seine Gedanken zu Ethik und Mystik: „,Westöstliche Weisheit‘ ist der mystische Strom, der sich zeitlos durch alle Religionen zieht. Dieser Strom führt letztlich über jede Religion hinaus und führt in die Erfahrung der Wirklichkeit, in die Erfahrung der Einheit allen Seins. Diese ewige Weisheit bedeutet ein Einschwingen in das kosmische Gesetz. Dieser mystische Weg führt aus der Versenkung zurück in die Welt und in die Weltverantwortung. Er führt in die Aktion, ins Handeln und zum Mitmenschen und ist Grundlage einer Ethik der Liebe, die im anderen Menschen sich selbst erkennt. Wir brauchen diese mystische Erfahrung, um die Erde und die Menschen heil in die Zukunft zu bringen. Der Weg der ,Westöstlichen Weisheit‘ ist lebensbejahend und weltzugewandt. Verantwortungsbewusstsein für ein menschenwürdiges Dasein, für Ökologie, Frieden und soziale Gerechtigkeit sind eine selbstverständliche Begleiterscheinung dieses spirituellen ­Weges. Die Mystik bietet der Welt vielleicht die letzte Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft. Sie zielt auf die Erfahrung der Einheit allen Seins. Das ist die eigentliche Revolution, die uns Menschen bevorsteht. In dieser Erfahrung liegt meines Erachtens die Rettung der Menschheit.“ (Jäger 2007, S. 17–18) „Und das ist der Anfang einer neuen Ethik. Weil wir das Leid des anderen als unser Leid erfahren, ist dies die eigentliche Revolution, die uns Menschen bevorsteht. Vorher werden wir nicht zu einer wirklichen Menschheitsfamilie finden.“ (Jäger 2007, S. 35–36) „Wir sind (…) nichtmaterielles Bewusstsein, das zeitweise eine menschliche Erfahrung macht (…), Göttliches Leben (…), das Mensch geworden ist.“ (Jäger 2007, S. 48) „Solange wir die Welt nur (…) aus der Sicht unserer Begierden und Bedürfnisse betrachten, bleiben wir abgesondert (…) Wir schleppen zu viel Abgrenzung mit uns herum, und das macht unsere Schritte so schwer.“ (Jäger 2007, S. 37) „Die Grundstruktur der Evolution ist die Selbsttranszendenz (…) Moral wäre demnach die Erkenntnis, dass wir uns ins kosmische Gesetz einzugliedern haben. Mit dem Begriff ,Trieb‘ möchte ich diese innere Tendenz zum Ganzen und Einen hin bezeichnen, die zum Wesen der Evolution gehört. Diesen Trieb nannten die Religionen sei alters her Liebe oder Mitgefühl.“ (Jäger 2007, S. 40–41) „Das Böse scheint mir nichts anderes zu sein, als die Egozentrik des Menschen und die Verweigerung der Selbsttranszendenz. (…) Wirkliche Liebe erfährt im Bösen des anderen das eigene Böse. (…) Nur diese Erfahrung kann die andere Wange hinhalten

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2  Das Problem (…) Käme diese Haltung aus Wohlverhalten, wäre sie unwahr. (…) Wahre Liebe kann aber nicht anders (…) Umarmt auch Gegner (…) hört auf, perfekte Eltern haben zu wollen, perfekte, weise Lehrer, eine perfekte Familie, einen perfekten Staat.“ „Unser Ich-Bewusstsein hat sich in einen Egozentrismus hineinentwickelt, der den Untergang der Spezies Homo sapiens bedeuten kann, wenn sie sich nicht rechtzeitig in die Richtung eines kosmischen Bewusstseins entwickelt und damit in die Erfahrung der Einheit. Wir können unsere Zukunft beeinflussen. Wir sind fähig, das morphogenetische Feld Mensch durch unsere positive Haltung zu beeinflussen (…) So kommt es zu wirklichem Frieden erst durch das von uns kreierte Feld der Liebe und des Wohlwollens. Es wirkt sich aus als Friede und Verstehen.“ (Jäger 2007, S. 44) „Da alle Menschen eine Grundstruktur in sich haben, die ihnen den mystischen Weg ermöglicht, kann jeder Einzelne dieser Urerfahrung seinen ganz individuellen Ausdruck verleihen. Mystik ist nicht konfessionsgebunden (…) Es gibt eine transkonfessionelle Spiritualität. Es gibt eine säkulare Mystik.“ (Jäger 2007, S. 101–102) „Echte Mystik ist weltbejahend und führt in eine ganz neue Form der Weltliebe…. Denn der Mensch, der in einer mystischen Erfahrung seine kindhafte Homozentrik und Geozentrik überwunden hat, weiß sich in den evolutionären Prozess eingebunden (…) geboren werden und sterben, das Gute ebenso wie das sogenannte Böse werden als Vollzug des Lebens im Hier und Jetzt erkannt.“ (Jäger 2007, S. 104–105)

cc

„Wir müssen uns nach Innen wenden, um unsere Würde zu begreifen, aus der allein die Ethik der Liebe kommt.“ (Jäger 2007, S. 122)

Zur Vollständigkeit der Reflexion über Ethik und Moral in unserer Welt und der Wirtschaft sei aber auch erwähnt, dass manche Ereignisse, die der Betrachter als ethisch und moralisch nicht einwandfrei betrachtet, nicht kausal zu erklären sind, sondern auch akausal über den Sinn verbunden sein können (Synchronizitätshypothese von Wolfgang Pauli, C. G. Jung) (von Franz 1988, 2003, S. 289 ff.). Der Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli hat Synchronizität aus seiner Erfahrung als Physiker erläutert. Er hat in seinem Vortrag „Über die Wissenschaft und das abendländische Denken“ in den 50er-Jahren sehr deutlich ausgedrückt, dass es sowohl das Wissen als auch das Ahnen braucht, um eine ganzheitliche naturwissenschaftliche Erkenntnis zu erlangen: „Ich glaube, dass es das Schicksal des Abendlandes ist, diese beiden Grundhaltungen, die kritisch rationale, verstehen wollende auf der einen Seite und die mystisch irrationale, das erlösende Einheitserlebnis suchende auf der anderen Seite immer wieder in Verbindung miteinander zu bringen. In der Seele des Menschen werden immer beide Haltungen wohnen, und die eine wird stets die andere als Keim ihres Gegenteils schon in sich tragen. Dadurch entsteht eine Art dialektischer Prozess, von dem wir nicht

2.38 Was eine ganze Person ausmacht

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wissen, wohin er führt. Ich glaube, als Abendländer müssen wir uns diesem Prozess anvertrauen und das Gegensatzpaar als komplementär anerkennen.“ (Pauli 1959)

2.38 Was eine ganze Person ausmacht Letztendlich kommt es für jeden von uns darauf an, ob und wie wir den Weg zur Reifung zu einem ganzen Menschen gehen, der in Körper, Seele und Geist (Spirit) vereint, ausgeglichen und harmonisiert ist. Buddhismus, christliche Mystik, Sufismus, Kabbala, Individuation und das Verständnis der spirituellen Verzweigungen des Wissens, das durch die Quantenphysik gewonnen wurde, bilden eine ausgezeichnete Grundlage, von der aus wir einen starken ethischen Sinn gewinnen können. Es gibt zahlreiche Wege den Berg hinauf, aber sie führen alle zum Gipfel. Der Weg ist eine persönliche Entscheidung, ob, wann und wie wir uns entscheiden, ihn zu beschreiten. Aber lassen Sie keinen Zweifel daran, dass ohne diese innere Reise unser Bewusstsein niemals in seinem Bewusstsein erweitert wird und unser inneres Wachstum blockiert wird. Wir werden ein moralisches Kind bleiben, wobei der vom Ego-dominierte Geist von der kontrollierenden dunklen Seite beeinflusst wird, was zu unmoralischen, unethischen Gedanken, Worten und Handlungen führt. Personen, die in diesem Modus festsitzen, zeichnen sich durch Folgendes aus: • Sich sofort beleidigt fühlen • Ständige Anerkennung und Lob brauchen • Immer wieder andere beschuldigen Unser dunkler Bruder oder unsere dunkle Schwester wird sichtbar durch Habgier, Neid, Veruntreuung, Erpressung, Täuschung, Ressentiments, Rücksichtslosigkeit, Ungerechtigkeit, Wut, Unterdrückung, Aggression, Missbrauch, Hass, ­Verletzung, Zerstörung, Arroganz, Betrug, Eifersucht, Größenwahn, Ungeduld, Bosheit, Verleumdung, Unverschämtheit, Intrigen, Lügen, Verleugnung, Falschheit, Demütigung, Verrat und Intoleranz. Wir weisen diese Eigenschaften auf, um uns einen Vorteil gegenüber anderen zu verschaffen. Während wir weiterhin unsere dunkle Seite zum Ausdruck bringen, haben wir keine Kontrolle darüber. Diese Art von Projektion hat sich ausgebreitet; unser Verhalten ist egozentrisch, ohne sinnvolle ethische Grundhaltung. Diejenigen, die derzeit in der Wirtschaft beschäftigt sind, berichten, dass sie in den letzten zwanzig Jahren einen deutlichen Anstieg der Rücksichtslosigkeit in der Geschäftswelt festgestellt haben. Mitgefühl, Einfühlungsvermögen für andere und die Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele und Belohnungen sind viel zu selten anzutreffen.

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2  Das Problem

Aber unser Netzwerk von besorgten und zunehmend selbstbewussten und mitfühlenden Individuen wächst! Mitgefühl kann man lehren. Es muss gelehrt werden, es sollte gelehrt werden. Es muss mit dem gleichen Sinn für Dringlichkeit und Schwerkraft unterrichtet werden wie mathematische Fähigkeiten oder verbale Fähigkeiten. Wenn Sie darüber nachdenken, was könnte ein wichtigeres Vermächtnis sein, um diese Generation von Kindern zu verlassen, als die Fähigkeit, mitfühlend zu sein? (Jeff Weiner, CEO, auf LinkedIn) Karlfried Graf Dürckheim stellte fest, dass, wenn wir einen spirituellen Weg einschlagen, um uns vollständig zu befreien, er von einer zutiefst persönlichen, intuitiven Erforschung unseres inneren Selbst, unseres spirituellen Zentrums, begleitet sein muss, damit der eingeschlagene Weg von unserer Spiritualität ausgeht, anstatt zu versuchen, diese Spiritualität nur zu formulieren. Spirituelle Übungen wie Zazen (Zen-Meditation), Kontemplation, Meditation, Yoga und Gebet können auch zur Befreiung vom Ego-dominierten Verstand führen. Aber ohne ein klar festgelegtes, persönliches spirituelles Zentrum, das unseren dunklen Schatten inte­ griert, werden wir weiterhin egozentrisch handeln. Nach mehr als 40 Jahren Zen-Meditation spürte ich, dass zusätzliches Wissen und Erfahrung im Sinne von Dürckheims Reifeprozess und Jungs Individuation zu einem ganzen Menschen noch notwendig waren. Nur Spiritualität reicht oft nicht aus. Es fehlte eine weitere Dimension. Ich sprach mit meinem Lehrer für Tiefenpsychologie, Walter Schwery, über meine Suche in diese Richtung. Er kicherte und sagte: „Ja, das ist mir sehr vertraut. Kürzlich kam ein tibetischer Mönch zu mir und sagte: ‚Herr Schwery, ich habe ein großes Problem. Ich meditiere seit 20 Jahren, aber ich werde immer noch zu leicht wütend.‘“ Obwohl ich über viele Jahre hinweg einen sehr intensiven und disziplinierten spirituellen Weg beschritten habe, habe ich dennoch festgestellt, dass ich gelegentlich weiterhin beunruhigende Symptome erlebte, mit denen ich nach einer so langen Zeit meditativer Praktiken nicht gerechnet hatte. Die Auslöser, die ich beschreiben werde und über die viele andere auch schon berichtet haben, sind ein Phänomen, das zwar anscheinend üblich ist, aber nur sehr wenig Aufmerksamkeit oder Untersuchung erfahren hat. Meditationsliteratur spricht in der Regel nur von dem Fortschritt, den man durch Meditation erzielt. cc

Meditiere, und es wird dir gut gehen?

So tröstlich dieser Gedanke auch sein mag, es ist nicht immer so. Trotz all unserer Achtsamkeit und unserer spirituellen Praktiken können wir unter Druck kommen, plötzlich dazu veranlasst werden, unsere dunkle Seite zu erfahren. Dies kommt häufig vor, wenn wir

2.39 Unternehmensführung und Psychologiet

• • • • • • • • •

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wütend sind, streiten, argumentieren, gierig sind, ein Held oder eine Heldin sein wollen, etwas nicht verlieren wollen, Angst haben, andere verletzen, den Wunsch haben, andere zu dominieren, immer Recht haben wollen.

Das alles kommt aus unserem Schatten, in dem all unsere schlechten Gewohnheiten und Misserfolge unterdrückt werden. Wir verstecken diese dunkle Seite unserer Person hinter einer Maske. Die Integration des Schattens ist eine notwendige Voraussetzung für unsere Evolution zu einem ganzen Menschen. Dann und nur dann können sich inneres Wachstum und Kreativität entwickeln, ohne dass es zu Blockaden kommt. Wenn wir unsere dunkle Seite nicht erkennen und akzeptieren, bleiben wir der Gnade unseres Schattens ausgeliefert. Der Jungianische Ansatz eignet sich besonders gut, um uns zu einem neuen ethischen Ansatz für die Entscheidungsfindung und unser Handeln in der Wirtschaft zu führen. Warum Tiefenpsychologie? Können andere psychologische Ansätze auch Führungskräften in der Wirtschaft h­ elfen? Natürlich. Psychologen aus verschiedenen Disziplinen haben immer wieder versucht, Wege zu finden, wie sie bei der Bereitstellung von Vorschlägen helfen können, die zu Verhaltensweisen ethischer Praktiken in der Wirtschaft führen würden.

2.39 Unternehmensführung und Psychologie Die American Psychological Society berichtet über ein Treffen der Society for Psychologists in Management (American Psychological Society 2003) im Jahr 2003: Die Unterstützung von Unternehmensführern bei der Entwicklung von ethischen Leitsätzen zur Vermeidung der Probleme von Unternehmen wie Enron war ein heißes Thema auf dem Midwinter-Meeting der Society for Psychologists in Management (SPIM), das am 28. März 2003 in Tampa, Florida, stattfand. SPIM, eine Organisation von Psychologen, die sich entweder mit hochrangigen Führungskräften beraten oder selbst in hochrangigen Managementpositionen tätig sind, veranstaltet das Treffen jährlich, um zu untersuchen, wie Psychologie in Geschäfts- und Führungsetagen eingesetzt werden kann. Im Jahr 2003 standen zwei Veranstaltungen auf dem Programm, die sich speziell an Unternehmen und ethische Entscheidungen richteten. (…) Wie verhalten

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2  Das Problem

sich CEOs im heißen Wasser? Während einige Unternehmensprobleme auf vorsätzliche Gier zurückzuführen sind, kann unbewusste Voreingenommenheit auch eine dominante Rolle spielen. Zum Beispiel können Führungskräfte Fakten schaffen, die nicht mit ihren Erwartungen übereinstimmen – auch bekannt als selbstsüchtige Voreingenommenheit. Da solche voreingenommenen Entscheidungen im Laufe der Zeit eskalieren können, wird es schwieriger, sich zu äußern und zuzugeben, dass es eine Reihe von schlechten Entscheidungen gibt, und Führungskräfte können versuchen, die Probleme zu verbergen. Was kann man tun, um solche Dilemmata zu vermeiden? Die Referenten bieten diese Ideen an: • Klare Gesetze mit Konsequenzen verabschieden. Während die gesetzliche Regelung ein erster Schritt ist, so seien auch vermehrt präventive Maßnahmen erforderlich, da die Bestrafung von Unternehmen wegen Gesetzesverstößen erst im Nachhinein erfolgt. • Auch, wenn etwas legal ist, heißt das nicht, dass es ethisch ist, und wenn etwas nicht illegal ist, heißt das nicht, dass es ethisch ist. • Hilfe für Unternehmen bei der Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur. In einem Umfeld, in dem Mitarbeiter ethisch zweideutige Situationen ­diskutieren können, liegt der Schwerpunkt auf der Unterstützung verantwortungsbewussten Handelns und nicht auf der Vermeidung von Fehlverhalten. Zum Beispiel können Psychologen empfehlen, dass Unternehmen eine Person beauftragen, den Anwalt des Teufels zu spielen, wenn es um wichtige Entscheidungen geht. • Die Abstimmung des Vorgehens vor Projektbeginn minimiert die Wahrscheinlichkeit, dass Unklarheiten entstehen. • Ethik auf der Führungsebene ansprechen. Psychologen können CEOs helfen zu verstehen, welche allgemeinen Werte und Bestrebungen sie vertreten, und ihnen dann helfen, diese Werte in ihre Führungsstile zu übersetzen. • Wir wären alle besser dran, wenn wir expliziter über Geschäftszweck und persönliche Bedeutung sprechen könnten. • Menschen suchen Sinn in ihrem Leben, und wenn sie ermutigt werden, werden viele Menschen ihn in ihrer Arbeit suchen. • Durchführung von Schulungen zu eigennützigen Vorurteilen und Beurteilungsfehlern. Genauso wie viele Organisationen sexuelle Belästigung oder Diversity-­ Schulungen anbieten, können Unternehmen ihre Mitarbeiter darin schulen, kritische Punkte zu identifizieren und zu diskutieren. • Viele Kurse zur Business Ethik beinhalten keine anwendbaren psychologischen Forschungen.

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität

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• Entwicklung weiterer Maßnahmen und Methoden für Unternehmen zur Auswahl von Personen mit gutem Charakter. • Sie dürfen das Unternehmen nicht bestehlen, aber Sie können sicherlich Entscheidungen treffen, die gegen die Rechnungslegungsgrundsätze verstoßen und Sie und die Organisation auf Kosten anderer verbessern. • Heute, 17 Jahre später, lautet die Schlussfolgerung, dass all diese ernsthaften Vorschläge nicht zu angemesseneren moralischen Entscheidungen oder ethischen Handlungen in der Wirtschaft führen werden. Sie nahmen in der obigen Zusammenfassung an, dass das Unbewusste einen großen Einfluss hat. Genau! Gerade deshalb ist die Tiefenpsychologie, die uns zu einer Arbeitsbeziehung mit unserem Unbewussten führt, das geeignete Werkzeug, um die notwendigen Veränderungen anzustoßen.

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität Robert C. Solomon hat darauf hingewiesen, dass Kooperation und Integrität zusammenarbeiten müssen, um eine auf Ethik basierende Exzellenz zu erreichen. Die Zusammenfassung seines Buches lautet wie folgt: „Der griechische Philosoph Aristoteles (…) nannte Menschen, die sich mit Aktivitäten beschäftigten, die nicht zur Gesellschaft beitrugen, Parasiten. Solomon behauptet, dass der Kapitalismus zwar Kapital braucht, aber weder Parasiten benötigt, geschweige denn durch die Parasiten definiert werden sollte, die er unweigerlich anzieht. Der Kapitalismus ist nicht mit roher Kraft erfolgreich geworden oder weil er die Menschen reich gemacht hat, sondern weil er verantwortungsbewusste Bürger und  – wenn auch ungleichmäßig  – wohlhabende Gemeinschaften hervorgebracht hat. Man kann nicht tolerieren, dass ein Geschäftskonzept, das sich ausschließlich auf Einkommen und Egoismus konzentriert, traditionelle Werte wie Verantwortung, Gemeinschaft und Integrität ignoriert. Viele sind der Meinung, dass es zu viele Lippenbekenntnisse und ein unzureichendes Verständnis für die Bedeutung von Kooperation und Integrität im Unternehmensleben gibt. Solomon betont die Tugenden der Ehrlichkeit, des Vertrauens, der Fairness und des Mitgefühls in der konkurrierenden Geschäftswelt und stellt sich dem Problem der ,moralischen Labyrinthe‘ und dem, was er als seine Lösung ansieht  – dem moralischen Mut.“ (Solomon 1992)

Für viele von uns ist es nicht so einfach, diesen wohlmeinenden Appellen zu folgen. Die meisten von uns verstehen nicht, warum wir, obwohl wir uns überwiegend integer verhalten, manchmal plötzlich unmoralisch handeln. Ein tieferes Verständnis zeigt sich, wenn wir die Forderung nach Integrität mit der Erfahrung der Tiefenpsychologie verbinden.

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2  Das Problem

Christopher Reynolds und Jane Piirto schreiben über Tiefenpsychologie und Integrität: „Tiefenpsychologische Studien werden nun auf das Unbewusste angewendet und die Annahme besteht, dass das Ich-Bewusstsein typischerweise übertrieben betont wird. Wenn Tiefenpsychologie auf hohe Fähigkeiten und Kreativität angewandt wird, treten oft verborgene Aspekte der menschlichen Fähigkeiten in den Vordergrund. Dazu gehören Vorstellungen vom kollektiven Unbewussten, der Transzendenz der Psyche, der Präsenz der Archetypen, der ungebetenen, positiven Inspiration und der dunklen Seite der menschlichen Natur. Folglich können die Gaben klarer, kreativer Menschen sowohl Segen als auch Gift sein und einen starken Einfluss auf moralische/ethische Fragen haben (…) Daraus folgt, dass, wenn die Tiefen das Unbewusste sind, jede durchdringende Diskussion über Ethik uns dazu zwingen wird, immer durch unser Ich-Bewusstsein hindurch zu sehen, was verborgen, vergessen, uneingestanden und direkt unter der Oberfläche liegt, selbst in unseren besten Absichten, Urteilen und Handlungen.“ (Reynolds und Piirto 2009)

Der Jung’sche Ansatz der Tiefenpsychologie erkennt die Ganzheit des Individuums sowohl als individuelle Einheit als auch als Individuum, das Teil eines Kollektivs ist. Jung erwähnt in Band 6 der Gesammelten Werke ein neues Verständnis von psychologischen Typen, eine Klassifikation, die den Einfluss von gemeinsamen Egos einschließt. Diese ergeben sich aus den Einflüssen, denen ein Individuum durch Erziehung, Eltern und Mentoren ausgesetzt ist, ja aus allen Einflüssen, die zur Gestaltung eines Individuums beitragen. Diese Ich-Teile werden ausgedrückt, wenn man sich mit ihren täglichen Angelegenheiten in der Welt beschäftigt. Jung machte die revolutionäre Entdeckung, dass ein Teil der vier Bewusstseinsfunktionen (Denken, Fühlen, Empfindung und Intuition) relativ unbewusst bleibt und die minderwertige Persönlichkeit bildet, was Jung später als Schatten bezeichnet hat. Aber aus der minderwertigen Persönlichkeit entspringen die Impulse, die eine Vielfalt im Individuum ermöglichen, Impulse, die, wenn sie intuitiv angenommen werden, einen von den Gefahren der einseitigen Entwicklung wegführen können. Die Anwendung dieser Erkenntnisse auf die Prozesse, in denen wir uns in unserem Geschäftsleben engagieren, zeigt sehr schnell, dass unterschiedliche Typen von Menschen unterschiedlich zusammenarbeiten und dass die Zusammensetzung von Teams, die auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, einen entscheidenden Einfluss auf die Qualität ihrer Leistung haben kann. Ein erfahrener Manager, der die Leistung maximieren möchte, muss die Zusammenstellung von Teams, die bestimmten Aufgaben zugeordnet sind, sorgfältig in Betracht ziehen, um die Leistung zu maximieren. Die Erkenntnisse von Jung über die Entwicklungsmöglichkeiten des individuellen Aspektes der Persönlichkeitstiefe sind weitreichend. Der bereits erwähnte un-

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität

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tergeordnete Aspekt der Persönlichkeit unterstützt andere Bewusstseinsfunktionen, indem er den bestehenden Status quo in Frage stellt und Konfliktpotenziale erschließt. Nur so kann eine Neuorientierung ermöglicht werden, denn der zu rationale, Ego-dominierte Verstand führt zur Einengung. Diese zu rationale, egozentrische Dominanz hat das Potenzial, das Individuum zu lähmen und dadurch ebenso die kreativen, innovativen Unternehmensentscheidungen zu behindern, die aber in der Geschäftswelt notwendig sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen psychologischen und verhaltenstherapeutischen Ansätzen geht der Ansatz der Tiefenpsychologie tief in jene Bereiche des Individuums hinein, die unterdrücken und verdrängen und die als peinlich und unerwünscht abgelehnt werden. Aber sie werden nicht, wie Freud es sah, als bloß unbewusste, verdrängte Emotionen angesehen, die verworfen werden müssen. Vielmehr sind sie eine reiche Quelle ungenutzter Energie und Ideen. Dieses schöpferische Potenzial wäre niemals allein durch den Ich-Geist und seine Rationalisierungen entdeckt worden. Dieser Ansatz, unser Unbewusstes zu untersuchen und uns von den Beschränkungen zu befreien, die es uns auferlegt, führt zur Freisetzung eines großen Reservoirs an kreativer Energie. Wenn ein Individuum Zugang zu diesem Reservoir reicher Ressourcen und grenzenloser Energie hat, entwickeln sich unternehmerische Entscheidungen, die sich aus dieser bisher ungenutzten Tiefe ergeben, zu einem wesentlich klügeren und auch profitableren Potenzial. Ein Unternehmen kann auch als unbewusst betrachtet werden. Das uns Unbewusste entsteht durch permanente Unterdrückung und Verdrängung von allem, was nicht zur Unternehmensphilosophie passt, einschließlich des Unbequemen dessen, was nicht mit den Zielen des Unternehmens vereinbar scheint und des völlig Verrückten. Jedes psychologische Extrem enthält auch sein geheimes Gegenteil. Aus dieser Dichotomie leitet der Glaube seine eigentümliche Dynamik ab. Eine Überfülle von allem führt unweigerlich zum Gegenteil. Es gibt keine heiligen Überzeugungen, die von dieser Tendenz ausgenommen sind. Ironischerweise sind die am stärksten gehaltenen Plattitüden von dieser teuflischen Wendung am meisten bedroht, weil sie aus der größten Unterdrückung ihrer Gegensätze resultieren. Erinnern wir uns an die früheren Äußerungen von Friedrich Gaede, der argumentierte, dass dieser destruktive Gegenstrom nur dann vermieden werden kann, wenn die Aktionen bis auf die Ebene der Vernunft geführt werden. Die Sinnlosigkeit der Unternehmensführung, ihre Arbeitskräfte zu entfremden, wichtige Themen wie Umweltauswirkungen, Arbeitsbedingungen und die Wiederherstellung und Regeneration von Humanressourcen zu ignorieren, sind nur einige Beispiele für unerwünschte Geschäftspraktiken und unerwünschte Unternehmensentwicklungen. Die Beachtung dieser Aspekte ist ein entscheidender Anfang auf

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2  Das Problem

dem Weg, ethisches Verhalten als Unternehmensstrategie zu würdigen. Darüber hinaus müssen Unternehmen die Dynamik der internen Auswirkungen der Umsetzung von Veränderungen auf die Mitarbeiter, den Vorstand, den Betriebsrat und die Gewerkschaft sowie die externen Auswirkungen auf Kunden, Lieferanten, Mitarbeiter der Öffentlichkeitsarbeit und die Medien beherrschen. Die Mühe lohnt sich. Das Verständnis für die Macht, die humanistische Veränderungen in einem Unternehmen bei der Umsetzung entfalten können, birgt das Potenzial für eine exponentielle Steigerung des Unternehmenswertes für alle Stakeholder. Zunehmend nutzen Unternehmen die Techniken des Myers Briggs Type Indicator (MBTI), der auf Jungs psychologischen Typen einzelner Persönlichkeitstypen basiert, um die Konstellation von Arbeitsteams zu verbessern, die für bestimmte Aufgaben gebildet wurden. Es ist bekannt, dass Jungs Individuationsansatz bereits in vielen Bereichen genutzt wird. Der nächste Schritt ist die stärkere Berücksichtigung von Jungs Arbeit und deren Anwendung in der Wirtschaft, um unmoralische Entscheidungen zu verhindern und die Umsetzung ethischer Richtlinien zum Wohle aller Akteure in der Unternehmenswelt zu fördern. Nun, warum ist C. G. Jung heute so aktuell?

2.40.1 Das Rote Buch von C. G. Jung Im Jahr 1913 begann Jung, seine Träume und inneren Erfahrungen erst in schwarze Kladden und dann in ein in rotes Leder gebundenes Buch niederzuschreiben, später bekannt als das Rote Buch. Seine Reise der Selbstanalyse hatte begonnen. Eine der wichtigsten Beweggründe für dieses Buch war die intellektuelle Spaltung, die sich zwischen Jung und Freud entwickelt hatte, eine fundamentale Meinungsverschiedenheit, die so verblüffend ist, als ob Jung Vatermord begangen hätte, wenn man bedenkt, dass Freud sein Mentor geworden wäre, fast wie ein Vater. Wie können uns die Lehren aus dem Roten Buch helfen? Jungs großes Vatermord-Dilemma führte zu seinem Roten Buch, in dem er die ungeheuer wichtigen Erfahrungen des Unbewussten am eigenen Leib dokumentierte, wie Jung sein schwierigstes Experiment beschrieb. Als 50 Jahre nach Jungs Tod der englische Wissenschaftshistoriker Sonu Shamdasani das Buch veröffentlichte, war es sofort ein enormer Erfolg (Jung 2009a, b). Untersuchungen über das Wirken des Unbewussten von unglaublicher Weite und Tiefe dauern an, Untersuchungen, die versprechen, die Tür etwas weiter zu öffnen für das Verständnis des menschlichen Verhaltens. Es ist eine Fundgrube nicht nur für diejenigen, die den Prozess der Individuation, den Prozess der individuellen Persönlichkeitsentwicklung, weiter erforschen wollen, sondern auch für diejenigen, die ihr Inneres Selbst direkt erfahren, sich empfänglich öffnen und diesem Prozess eine praktische Form geben wollen.

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität

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Auch Unternehmen, zumindest erfolgreiche, durchlaufen einen Prozess der Individuation. Unternehmen sind lebendige Organisationsformen, die, wie Einzelpersonen, Selbststeuerungsprozesse und Rückmeldesysteme erfordern, um die höchstmögliche Energieeffizienz beim ökologischen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und den ethischen Umgang mit allen Menschen eines Unternehmens signifikant zu verbessern. Diese Verbesserung kann durch die Anwendung der durch die Tiefenpsychologie zur Verfügung stehenden Informationen und Übungen beschleunigt werden. Hier ist ein Beispiel, um den Unterschied zwischen der konventionellen Herangehensweise an ein Mitarbeiterproblem im Unternehmen und der psychoanalytischen Herangehensweise zu verdeutlichen. Angenommen, ein Unternehmen hat offensichtliche Probleme mit der Mitarbeiterzufriedenheit. Ein auffälliger Abteilungsleiter bespricht die Situation mit seinen Vorgesetzten. Konventionelle Psychologie würde vorschreiben, dass man wie folgt vorgeht: Der Vorgesetzte fragt konkret, wer unzufrieden ist. Wenn ein Sündenbock identifiziert und entfernt werden kann, dann ist das Problem gelöst! Im psychoanalytischen Ansatz würde der Abteilungsleiter idealerweise bereits über eine psychologische und spirituelle Ausbildung verfügen und besäße Offenheit und Wahrnehmung für andere Sichtweisen und Einstellungen. Der Manager würde Informationen sammeln und sich dabei auf die angebliche Unzufriedenheit konzen­ trieren, nicht auf die Personen, die darauf aufmerksam gemacht haben. Die Vorgesetzten des Managers werden benachrichtigt, wobei die Wichtigkeit eines flexiblen Vorgehens betont wird, und dann werden die Mitarbeiter auf ethische Art und Weise nach ihren Vorschlägen zur Behebung des Problems, so wie sie es wahrnehmen, gefragt. Dieser Ansatz hat eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit, da er die Authentizität auf allen Ebenen sicherstellt und als solcher von allen Beteiligten respektiert wird. Der Erfolg beruht auf der Fähigkeit, eine Win-win-Situation zu schaffen. Dies ist das Zeichen eines individuierten Managers, der in der Lage sein wird, die dichotome Situation auf einer höheren Ebene zu lösen, als es sonst möglich gewesen wäre. Aus diesem Beispiel ergibt sich die Eigenverantwortung des Abteilungsleiters, der entscheiden muss, wie die Unzufriedenheit der Mitarbeiter in einer Art und Weise gelöst werden kann, die zu einer nachhaltigen Veränderung zum Besseren führt, um durch intensive persönliche Innenarbeit, die zu einer Bewusstseinserweiterung führt, gut vorbereitet zu sein. Das ist Authentizität. Und genauso wird Respekt erlangt.

2.40.2 Die zeitgenössische Bedeutung des Roten Buches Der Jungianer Walter Schwery (2014a, b) hielt im September 2014 in Rütte/Todtmoos, Deutschland, einen Vortrag über Jungs Rotes Buch. Es folgen einige wichtige, relevante Highlights.

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2  Das Problem

„Eine unserer größten aktuellen Herausforderungen ist laut Jung der Umgang mit unserem Schatten. In der Zukunft wird es um die Einheit des Heiligen Geistes gehen, als den letzten Akt des Heils, den Gott der Menschheit in einem Gnadenakt vermittelte, und zwar durch das Beispiel Jesu Christi. Die Materie dieses Heilsaktes, der das göttliche Geheimnis enthält, kann überall entdeckt werden. Nach Angaben der Alchemisten ist sie sogar in einem Misthaufen zu finden. Dieses Werk ist somit kein rituelles Officium mehr, sondern ein individuelles Werk, das der Philosoph durch das Donum spiritus sancti (die göttliche Kunst) identifizieren kann. Diese Energie Vital, die überall zu finden ist, ist die Energie, die Freud in Form von Sexualität faszinierte. In der Neuzeit kann diese Energie als Auslöser für Jugendrevolten gesehen werden, angefangen bei den Hippies, über Studentenunruhen, die 68er-Bewegung bis hin zu Russlands Pussy Riot, der Jugendrevolution im Nahen Osten. (Anmerkung: heute Fridays for Future). Diese Materie wird auch durch die durchdringende Libido repräsentiert, deren Essenz Jung als reine Energie identifizierte, die in den östlichen s­ pirituellen Traditionen den Namen Kundalini trägt. Die Alchemisten haben betont, dass das Erleben der Wirkung dieser Energie ein ganz individuelles und transformierendes Ereignis ist. Aus psychologischer Sicht bedeutet dies, dass die Abhängigkeit, die sich aus einer Meister-Schüler-Beziehung ergibt, Veränderungen verhindert. Wenn wir sowohl weise als auch geschickt sind, werden wir uns dieser Angelegenheit des Geistes allein stellen, zumindest solange, bis wir erkennen, dass wir und die universelle spirituelle Energie ein und dieselbe sind. Gemäß den dogmatischen Anforderungen des Christentums ist Gott in jeder der drei Personen vollständig. So ist er auch in jedem Teil des Heiligen Geistes vollständig, wie auch in der Materie der Alchemisten. Jung sagt, dass auf diese Weise jeder Mensch sowohl den vollständigen Gott als auch die filatio, die göttliche Kindheit, erleben kann. So durchdringt die Complexio oppositorum des göttlichen Bildes das Individuum nicht als Einheit, sondern als Konflikt, in dem die dunkle Seite des Bildes mit der Vorstellung konfrontiert wird, dass Gott nur Licht ist.“ (Schwery 2014a, b)

Jung sagt dann in Erinnerungen, Träume, Gedanken: „Dieser Vorgang ist es, der sich in unserer Zeit abspielt, ohne von den zuständigen Lehrern der Menschen begriffen zu werden, obwohl es ihre Aufgabe wäre, diese Dinge zu erkennen. Man ist zwar überzeugt davon, dass wir an einer bedeutsamen Wende der Zeiten stehen, meint aber, sie sei durch die Fission und Fusion des Atoms oder durch die Weltraumrakete herbeigeführt worden. Man übersieht, wie gewöhnlich das, was gleichzeitig in der menschlichen Seele geschieht.“ (Jung und Jaffe 1989, S. 337)

2.40.3 Tiefenpsychologie und die neue Ethik Diese Kapitelüberschrift ist der Titel von Erich Neumanns Buch (Neumann 1973), welches er während des Zweiten Weltkriegs schrieb. Er lehnt die fehlgeleiteten

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Praktiken ab, die sich aus dem alten ethischen Konzept ergeben, nur auf Kosten eines anderen zu gewinnen, der verliert, und akzeptiert den bereichernden Inhalt eines neuen ethischen Ansatzes, der sich aus der tiefen, persönlichen psychologischen Entwicklung des Individuums ergibt. Dieses Verständnis ist entscheidend für das Verständnis des Verhaltens von Managern, Mitarbeitern, Lieferanten, Kunden und allen Stakeholdern in der heutigen Wirtschaft. Erst die persönliche Individuation ist ein goldener Weg zu einer fruchtbareren Zusammenarbeit bei der Entwicklung eines neuen ethischen Rahmens. Aus diesem Grund ist Neumanns Buch (Neumann 1973 deutsch und 1990 englisch) das Rückgrat des vorliegenden Buches. Ich werde großzügig vom Inhalt ­seines Buches zitieren, um sein Konzept einer neuen Reihe praktischer ethischer Überlegungen in das Bewusstsein der Vertreter der Wirtschaft einzuführen. Laut Lance Owens ist es von großer Bedeutung, dass wir an der Spitze eines neuen Bewusstseins die Themen vergangener Weisheit, Erfahrungen und Erkenntnis aufgreifen und die Menschen in ihrer eigenen gegenwärtigen Transformation unterstützen. Zwei bedeutende Psychologen, Gerhard Adler und C.  G. Jung, äußerten ihre Bewunderung für Neumanns Herangehensweise im Vorwort zu seinem Buch. ­Adler schreibt: „Unter all seinen Büchern nimmt die Neue Ethik einen besonderen Platz ein. Es ist ein leidenschaftlicher Appell an das Gewissen und Bewusstsein unserer Zeit, ein zutiefst persönliches Bekenntnis zum Glauben an die Zukunft des modernen Menschen, eine Zukunft, die auf einem ständig wachsenden Bewusstsein für seine psychischen Probleme und deren Lösungen beruht. Für Neumann ist das Grundproblem das Vorhandensein des Bösen und dass die konventionelle Ethik nicht in der Lage ist, seine zerstörerischen Kräfte zu halten oder zu transformieren. Die dunkle Seite hat das Weltbild des modernen Menschen mit Rache erobert, so sehr, dass er sich seiner Position in Bezug auf Gut und Böse nicht mehr sicher ist. Was der moderne Mensch also am meisten braucht, ist ein Bewusstsein des Bösen und vor allem des Bösen in sich selbst. (…) Das Bewusstsein des Bösen fordert den Einzelnen heraus. Er muss lernen, seine eigene dunkle Seite zu erkennen, anzuerkennen und mit ihr zu leben. Anstatt den Schatten zu verdrängen oder zu unterdrücken und ihn dann nach außen zu projizieren, muss er integriert werden. (…) Aber das kann zu einem Konflikt mit kollektiven gesellschaftlichen Werten führen. (…) Es ist eine radikale Ethik, die auf der strikten Forderung nach individueller Wahl und Mut basiert. Es geht um die ständige Auseinandersetzung des Menschen mit dem Problem von Gut und Böse, von der ehrlichen Akzeptanz menschlicher Totalität.“ (Neumann 1990, S. 7–8) Adler zitiert Neumann:

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2  Das Problem

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„Der Einzelne muss sein eigenes moralisches Grundproblem bearbeiten, bevor er in der Lage ist, eine verantwortungsvolle Rolle im Kollektiv zu spielen.“ (Neumann 1990, S. 9) Er zitiert weiterhin einen Brief, den C. G. Jung an Neumann schrieb. „Ich habe Ihr Buch noch einmal gelesen. Wiederum machte es einen sehr starken Eindruck auf mich, einen Eindruck, der mir die Gewissheit gab, dass seine Wirkung wie eine Bombe wirken würde. Ihre Formulierungen sind brillant und von durchschlagender Präzision, sie sind herausfordernd und aggressiv, eine Avantgarde auf offenem Feld, wo leider vorher nichts zu sehen war. (…) Schon Ihr Titel ,Neue Ethik’ ist eine Fanfare:,Aux armes, citoyens!‘ (...) Ihr Buch wird ein Petra Scandali, aber auch der stärkste Impuls für zukünftige Entwicklungen sein.“ (Neumann 1990, S. 9–10)

C. G. Jung begrüßt Neumanns Buch als ersten bemerkenswerten Versuch, die ethischen Probleme zu formulieren, die sich aus der Entdeckung des Unbewussten ergeben. Er schreibt in seinem Vorwort zum Buch: „Ich bin froh, dieser Bitte nachzukommen (ein Vorwort zu schreiben), obwohl ich mich nur als Empiriker und nie als Philosoph mit Tiefenpsychologie beschäftigt habe und nicht damit rühmen kann, jemals versucht zu haben, ethische Prinzipien zu formulieren. Meine berufliche Arbeit hat mir dazu sicherlich reichlich Gelegenheit gegeben, denn die Hauptursachen einer Neurose sind Gewissenskonflikte und schwierige moralische Probleme, die eine Antwort erfordern (...). Ich meine nicht, dass es eine solche Aufgabe nicht gibt oder dass ihre Lösung absolut unmöglich ist. Ich erkenne voll und ganz an, dass es heute dringend notwendig ist, das ethische Problem neu zu formulieren, denn, wie der Autor treffend bemerkt, ist eine völlig neue Situation entstanden, seit die moderne Psychologie ihren Anwendungsbereich durch das Studium des unbewussten Prozesses erweitert hat. (...). Moralische Prinzipien, die aus der Sicht des Ich-Bewusstseins klar und eindeutig erscheinen, verlieren ihre Überzeugungskraft und damit ihre Anwendbarkeit, wenn wir die kompensatorische Bedeutung des Schattens im Lichte ethischer Verantwortung betrachten. Kein Mensch, der mit irgendeinem ethischen Sinn ausgestattet ist, kann es vermeiden, dies zu tun. Nur ein Mensch, der verdrängt oder moralisch dumm ist, wird diese Aufgabe vernachlässigen können, auch wenn er die bösen Folgen eines solchen Verhaltens nicht loswerden kann. (...). Die psychologische Grundlage aller philosophischen Behauptungen zum Beispiel wird noch immer eifrig übersehen oder absichtlich verdeckt, so sehr, dass bestimmte moderne Philosophien sich unbewusst psychologischen Angriffen aussetzen. Das Gleiche gilt für die Ethik. (...). Obwohl jeder Akt der bewussten Verwirklichung zumindest ein Schritt vorwärts auf dem Weg zur Individuation, zur Ganzheitlichkeit des Individuums ist, ist die Integration der Persönlichkeit ohne das verantwortliche, und das bedeutet moralische Verhältnis der Teile zueinander, undenkbar, ebenso wie die Konstituierung eines Staates ohne wechselseitige Beziehungen zwischen seinen Mitgliedern unmöglich ist. (…). Der Analytiker lernt, dass ethische Probleme immer intensiv individuell sind, und kann sich immer wieder selbst davon überzeugen, dass die kollektiven Ver-

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haltensregeln allenfalls provisorische Lösungen bieten, aber niemals zu den entscheidenden Entscheidungen führen, die die Wendepunkte im Leben eines Menschen darstellen. (…). Die Formulierung ethischer Regeln ist nicht nur schwierig, sondern sogar unmöglich, weil man kaum an eine einzige Regel denken kann, die unter bestimmten Bedingungen nicht rückgängig gemacht werden müsste. (…). Ich selbst bin nicht der Meinung, dass irgendeine dieser Regeln absolut gültig ist, denn gelegentlich kann auch das Gegenteil der Fall sein. Das ist es, was die Integration des Unbewussten so schwierig macht: Wir müssen lernen, in Antinomien (Widersprüchen) zu denken, und dabei stets im Hinterkopf behalten, dass jede Wahrheit sich in eine Antinomie verwandelt, wenn sie bis zum Ende durchdacht ist.“ (Neumann 1990, S. 11–14)

Jung fährt fort: „Die ethischen Probleme, die nicht im Lichte der kollektiven Moral oder der alten Ethik gelöst werden können, sind Pflichtkonflikte, sonst wären sie nicht ethisch. (...). Ich bin dennoch der Meinung, dass bei der Erarbeitung eines schwierigen Problems der moralische Aspekt berücksichtigt werden muss, wenn man eine Repression oder eine Täuschung vermeiden will. Wer andere betrügt, betrügt sich selbst und umgekehrt. Daraus wird nichts gewonnen, am wenigsten die Integration des Schattens. Ihre Integration stellt in der Tat höchste Anforderungen an die Moral des Einzelnen, denn die Akzeptanz des Bösen bedeutet nichts anderes, als dass seine gesamte moralische Existenz in Frage gestellt wird.“ (Neumann 1990, S. 14)

Jung weist darauf hin, dass die Voraussetzung für eine ethische Haltung die Einbeziehung des ganzen Menschen und damit die Einbeziehung der gesamten Psyche ist. Er fährt fort: „Dies ist nur möglich, wenn der bewusste Verstand das Unbewusste berücksichtigt, wenn das Begehren mit seinen möglichen Folgen konfrontiert wird und wenn das Handeln moralisch kritisiert wird. (...) Wir könnten daher die neue Ethik als eine Entwicklung und Differenzierung innerhalb der alten Ethik definieren, die derzeit auf jene ungewöhnlichen Individuen beschränkt ist, die, getrieben von unvermeidlichen Pflichtkonflikten, bestrebt sind, das Bewusste und das Unbewusste in eine verantwortungsvolle Beziehung zu bringen.“ (Neumann 1990, S. 15)

Jung verweist auf das Prinzip der doppelten Wirkung, das Peter Knauer schon früher erläutert hat, nämlich, dass man Böses und Gutes gleichzeitig tun kann (Knauer 2002). Für Jung ist es ein Beispiel dafür, dass das Leben immer ein Prozess des Ausgleichs von Gegensätzen ist. In der Einleitung zu seinem Buch (Neumann 1990) stellt Neumann fest: „Die Moderne ist eine Epoche der Menschheitsgeschichte, in der Wissenschaft und Technik zweifelsfrei die Fähigkeit des bewussten Verstandes demonstrieren, mit der physischen Natur umzugehen (…) Aber sie ist auch eine Epoche, in der die Unfähig-

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2  Das Problem

keit des Menschen, mit der psychischen Natur, mit der menschlichen Seele umzugehen, erschreckend offensichtlich geworden ist wie nie zuvor.“ (Neumann 1990, S. 25)

2.40.4 Die alte Ethik Neumann fährt in seinem deutschen Buch fort: „Die alte abendländische Ethik hat viele Quellen, von denen die jüdisch-christlichen und griechischen die stärksten sind. (…). Das Vorbild des Heiligen oder Weisen, des Edlen oder des Guten, des Frommen oder des das Gesetz erfüllenden, des Helden oder des Nüchternen, kann im Zentrum der alten Ethik stehen. (…). Immer kann und soll das Vollkommenheitsideal durch Ausmerzung der dieser Vollkommenheit widersprechenden Züge realisiert werden. Die ,Verneinung des Negativen‘, seine gewalttätige und systematische Ausschließung ist der Grundzug dieser Ethik. (…). Dabei lässt sich erkennen, dass es zwei Grundprinzipien, ja, man könnte sagen, zwei Grundmethoden sind, welche die Durchführung der alten Ethik ermöglicht haben. Diese Grundmethoden sind die Unterdrückung und die Verdrängung.“ (Neumann 1973, S. 17)

2.40.5 Unterdrückung und Verdrängung der dunklen Seite Neumann weiter: „Die ,Verneinung des Negativen‘ als Hauptprinzip der alten Ethik wird am deutlichsten in der Unterdrückung, d. h. einer vom Ich-Bewusstsein durchgeführten Ausschaltung aller Persönlichkeitszüge und -tendenzen, die dem ethischen Wert nicht ent­ sprechen. Disziplinierung und Askese sind die bekanntesten Formen dieses Unterdrückungsweges.“ (Neumann 1973, S. 18)

In einer modernen Wirtschaft ist unser Erbe durch die Antike der Disziplin und Askese nur eine Seite der Medaille. cc

„Wenn der Mensch keine Ehrfurcht vor dem Unbewussten hat und sich dem Unbewussten unterwirft, das sein Bewusstsein geschaffen hat, verliert er seine Seele, oder besser gesagt, er verliert seine Verbindung mit seiner Seele und seinem Unbewussten.“ (Jung 1941, S. 214) Neumann weiter: „Die Unterdrückung ist eine bewusste Leistung des Ich, die meistens systematisch entwickelt und gepflegt wird. Dabei ist es wichtig, dass bei der Unterdrückung ein

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Opfer geleistet wird, das zum Leiden führt. Dieses Leiden wird bejaht, dadurch behalten aber die ausgeschalteten Inhalte und Persönlichkeitsteile dauernd eine Verbindung zum Ich. (…). Im Gegensatz zur Unterdrückung steht die Verdrängung als die häufigste Form, in der die alte Ethik ihre Werte durchsetzt. Bei der Verdrängung haben die ausgeschlossenen Inhalte, die Teile der Persönlichkeit zuwiderlaufen, die Beziehung zum Bewusstseinssystem verloren, sie sind unbewusst oder vergessen, das heißt, das Ich weiß nichts von ihrem Vorhandensein. Dadurch sind die verdrängten Inhalte, anders als bei der Unterdrückung, der Kontrolle des Bewusstseins entzogen, funktionieren unabhängig von ihr und führen, wie die Tiefenpsychologie gezeigt hat, unterirdisch ein selbständiges und wirksames Leben, das für das Individuum wie für das Kollektiv verhängnisvoll ist. (…). Die Neurosenlehre hat im Einzelnen demons­ triert, (…), dass die durch die Verdrängung von der Tageshelle des Bewusstseins abgesperrten Komplexe des Unbewussten die Welt des Bewusstseins unterminieren und zerstören.“ (Neumann 1973, S. 19–20) „Wir sahen, das Unterdrückung und Verdrängung die Hauptmethoden sind, mit deren Hilfe der Einzelne versucht, seine Anpassung an das ethische Ideal durchzusetzen. Die Bildung zweier psychischer Systeme in der Persönlichkeit ist das natürliche Ergebnis dieses Versuchs, wovon das eine meistens gänzlich unbewusst bleibt, das andere zu einem wesentlichen Teil unter aktiver Beteiligung des Ich und des Bewusstseins gebildet wird. Das meist unbewusst bleibende seelische System ist der Schatten, das andere ist die Scheinpersönlichkeit oder Persona. Die Bildung der Persona ist ebenso notwendig wie allgemein. Die Persona, die Maske, das, als was einer gilt und als was er erscheint im Gegensatz zu seinem wirklichen individuellen Sein, entspricht der Anpassung an die Forderungen der Zeit, des Milieus und der Gemeinschaft. Die Persona ist das Kleid und die Hülle, der Panzer und die Uniform, hinter und in der das Individuum sich verbirgt, oft genug nicht vor der Welt, sondern auch vor sich selbst. Es ist die ,Haltung‘, hinter der das Haltlose und Unhaltbare, der gültige Schein, hinter dem das Dunkle und Sonderbare, Abwegige und Heimlich-Unheimliche unsichtbar beliebt. Ein wesentlicher Teil der Erziehung wird immer der Bildung einer Persona gewidmet sein, die das Individuum ,stubenrein‘ und ,gesellschaftsfähig‘ macht und ihm beibringt, nicht was ist, sondern was als wirklich angesehen werden darf, wobei der Erlernung des Nichtsehens, Übersehens und Wegsehens in jeder Gesellschaft und in jeder Zeit ein größerer Anteil gebührt als der Schärfung des Blickes, der Entwicklung der Wachheit und der Liebe zur Wahrheit.“ (Neumann 1973. S. 22–23) „Ursprünglich war die alte Ethik eine Elite-Ethik. Sie war die Lösung starker Naturen, welche mit Hilfe der Unterdrückung das ethische Problem lösen wollten als bewusste Verneinung des Negativen. (…) Das Ziel der alten Ethik besteht in der Forderung ,Edel sei der Mensch, hilfreich und gut‘ oder in Abwandlungen dieser ethischen Werte: fromm, gläubig, tapfer, tüchtig, gottergeben, vernünftig. (…) Damit ist die Grundkonzeption der alten Ethik dualistisch. Sie anerkennt eine gegensätzliche Licht-Dunkel-Welt, teilt das Dasein in zwei Hemisphären von rein und unrein, Gut und Böse, Gott und Teufel und ordnet dem Menschen seine Aufgabe in dieser dualistisch gespaltenen Welt zu. (…). Der Dualismus der alten Ethik, der in seiner iranisch-­

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jüdisch-­christlichen und gnostischen Ausprägung besonders deutlich ist, teilt den Menschen, wie die Welt und die Gottheit, in zwei Teile, einen oberen und einen unteren Menschen, eine obere und eine untere Welt, einen Gott und einen Teufel. Die Zweiteilung ist wirksam jenseits aller ideologischen oder philosophischen, religiösen oder metaphysischen Einheitserklärungen. Die Wirklichkeit des abendländischen Menschen ist bis heute von dieser Zweiteilung grundsätzlich bestimmt. (…). Die alte Ethik fußt auf dem Gegensatzprinzip. Der Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis ist sein Grundproblem.“ (Neumann 1973, S. 30–32)

Das ist die Essenz der existentiellen Probleme: Woher kommt der Mensch, was gibt es am Ende des Lebens, und wie können wir unsere Angst vor dem Tod überwinden? Diese Fragen wurden in der gesamten Antike gestellt und müssen noch im spirituellen Bereich behandelt werden, um sicherzustellen, dass die Erforschung der Gesamtheit der Psyche und nicht die der Übernatürlichkeit die wesentliche Aufgabe jedes Einzelnen ist. Die kollektive Psyche ist so dunkel wie der kollektive Mensch. Im Laufe der Geschichte wurde oft und allzu anschaulich demonstriert, wie schnell einzelne Psychen durch kollektive Furore und kollektive Schatten infolge kollektiver Kräfte zerstört werden können. Neumann schreibt weiter: „Jedenfalls aber bekommt durch die Leidenserfahrung das Leben einen dunklen Hintergrund. In dem indirekt das Unterdrückte wiederkehrt und so das Bewusstsein anrührt. Während bei der Verdrängung der Leiden verursachende Kontakt mit den Dunkelinhalten durch die Abspaltung des Unbewussten aufgehoben ist, ermöglicht das Leiden dem Unterdrückenden ein relativ gesundes Leben. Er wird nicht wie der Verdrängende von der Dunkelseite des Unbewussten überfallen und überwältigt. Die freiwillige Einschränkung des Lebens durch das Opfer und die Unterdrückung ist eine Lebensform, die das Individuum nicht unbedingt krank macht. Die Folgen dieser Unterdrückung für das Kollektiv aber sind verhängnisvoll selbst da, wo das Individuum unbeschädigt bleibt. Die Unterdrückungsmethode hat das mit der Verdrängungsmethode der alten Ethik gemeinsam, dass das Kollektiv für die falsche Tugend des einzelnen zu zahlen hat. Die Unterdrückung, sehr viel mehr aber noch die Verdrängung, führt zu einer Stauung der unterdrückten und verdrängten Inhalte im Unbewussten.“ (Neumann 1973, S. 34–35) „Nach einer allgemeinen Erfahrung (…) werden Inhalte, die bewusstseinsfähig sind, aber denen der Zugang zum Bewusstsein versperrt wird, bösartig und destruktiv. (…). Der abgespaltene Inhalt wird regressiv, verbindet sich im Unbewussten mit anderen primitiven, negativen Inhalten, und bei seelisch Labilen z. B. wächst sich nicht selten ein kleiner, nicht ans Bewusstsein gelassener Ärger zu einem Wutanfall oder einer Depression aus. (…).

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Es erhebt sich die Frage, was geschieht mit den Persönlichkeitsanteilen, Strebungen, Kräften und Trieben, die vom Leben durch die alte Ethik ausgesperrt sind. Diese Aussperrung ist umso radikaler, die Spaltung zwischen dem wertidentischen Bewusstsein und dem antiethischen Unbewussten umso größer, je dogmatischer die alte Ethik in der Gruppe und beim Einzelnen durchgeführt wird, je stärker also das Gewissen sich auswirkt. Die Stärke des Gewissens manifestiert sich bei der Unterdrückung in einem bewussten, bei der Verdrängung in einem unbewussten Schuldgefühl. Das Schuldgefühl entspricht der Wahrnehmung des Schattens, die bei der Unterdrückung sich im Leiden äußert, bei der Inflation und Verdrängung aber unbewusst bleibt. Die Abfuhr dieses Schuldgefühls, das auf dem Vorhandensein des Schattens beruht, erfolgt individuell und kollektiv in gleicher Weise, nämlich in dem Phänomen der Schattenprojektion. Der Schatten, der mit den Werten im Widerspruch steht, kann nicht als negativer Teil der eigenen Struktur akzeptiert werden und wird projiziert, das heißt nach außen verlegt und als ein Außen erfahren. Er wird bekämpft, bestraft und ausgerottet als Fremdes draußen, statt als Eigenes drinnen.“ (Neumann 1973, S. 37–38)

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„Die Art, in der die alte Ethik die Beseitigung des Schuldgefühls und die Abfuhr der abgesperrten negativen Kräfte durchführt, bildet eine der größten Gefahren der Menschheit.“ (Neumann 1973, S. 38)

Bevor wir uns einer Betrachtung von Erich Neumanns Neuer Ethik in seinen eigenen Worten zuwenden, müssen wir verstehen, dass es eine Beziehung zwischen den Stufen der Entwicklung unseres Bewusstseins und den Stufen der Entwicklung unseres ethischen Sinnes gibt. Das Folgende ist aus diesem Kapitel in seinem Buch.

2.40.6 Stufen der ethischen Entwicklung „Die Entwicklung der Ethik und die Entwicklung des Bewusstseins hängen eng miteinander zusammen, und man kann die eine nicht ohne die andere begreifen. (…). Am Beginn der Entwicklung steht das Stadium der ,Ursprungseinheit‘. Der Ich-Keim, ein noch unselbständiges und vom Unbewussten beherrschtes Ich, lebt in dieser Phase in weitgehender Abhängigkeit von der Gruppe, der Welt und dem kollektiven Unbewussten. Die Participation mystique und die Dominanz der Kollektivpsyche über die noch nicht differenzierte Individualpsyche sind die auffälligsten Merkmale dieser Ursprungssituation. Dem entspricht, dass in dem ersten Stadium des ethischen Bezogenseins noch keine individuelle und bewusste ethische Verantwortlichkeit existiert.“ (Neumann 1973, S. 49–50) „Im Ursprungsstadium, in dem die einzelnen Glieder der Gruppe noch weitgehend individualisiert sind, repräsentiert der große Einzelne die Mana-Persönlichkeit, er ist gewissermaßen das Selbst der Gruppe, ihre schöpferische Mitte und ist als Führer und

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schöpferischer Mensch auch derjenige, von dem das Kollektiv seine Werte empfängt.“ (Neumann 1973, S. 52) „Die Unterwerfung unter das Kollektivgesetz entspricht aber einem wesentlichen Bewusstseinsfortschritt. In der Bewusstseinsentwicklung kommt es zur Überwindung der Ursprünglichkeit mit ihrem Überwiegen des Unbewussten, und die Differenzierung und Kräftigung des Ich und des Bewusstseins führt zu einer Trennung der Systeme Bewusstsein und Unbewusstes. (…) Die alte Ethik war produktiv, solange sie den Menschen aus dem ursprünglichen Zustand eines unbewussten Daseins hinausführte und das Individuum zum Träger der Bewusstseinstendenz machte. (…) Aus diesem Grunde ist die alte Ethik ein wichtiges Instrument in der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Sie stellt ein notwendiges Übergangsstadium dar und ist mit ihrer Unterdrückung und Verdrängung ein Teil der Abwehrmaßnahmen des Bewusstseins gegen das Unbewusste. Eine Entwertung, eine Deflation des Unbewussten, hat dieses Bewusstsein und seine Entwicklung deswegen anfänglich dringend nötig, weil es klein ist und sich ohne diese Entwertungstendenz dem Unbewussten gegenüber niemals hätte bilden, systematisieren und als kulturschaffend erweisen können.“ (Neumann 1973, S. 54–55) „So geht die Entwicklung der Menschheit mit der fortschreitenden Individualisierung und der Herauslösung des Einzelnen und seines Ichbewusstseins aus dem primitiven Kollektiv in ein zweites ethisches Stadium über, nämlich das der ethischen Einzelverantwortung. Diese Einzelverantwortung wirkt sich zunächst innerhalb der Kollektivethik aus, das heißt, der Einzelne versucht, die Werte des Kollektivs zu realisieren oder aber sich mit ihnen zu identifizieren. (…). Vor dem Auftreten der alten Ethik war das Ich weitgehend ein Opfer der Kräfte des Unbewussten, die jetzt verboten sind. Es war diesen Kräften und Trieben, die als Sexualität, Machtwille und Grausamkeit, als Hunger, Angst und Aberglaube von ihm Besitz ergriffen, unterworfen und wurde von ihnen beherrscht. Das Ich war Instrument und wusste von seiner Besessenheit nichts, da es sie lebte, ohne sich von den besitzergreifenden Kräften distanzieren zu können. Die Ethik fordert nun die Erkenntnis dieser Inhalte und ihre Unterdrückung. (…) In zwei Richtungen kommt es dann zur Weiterentwicklung der Kollektiv-Ethik, die mit der Einzelverantwortung vor dem Gewissen die klassische Form der alten Ethik ist. Beide Entwicklungen entsprechen analogen Prozessen in der Ich- und Bewusstseinsentwicklung des Einzelnen. Die erste führt mit fortschreitender Individualisierung zur Individuationsethik, der neuen Ethik, die andere führt zum Verfall der alten Ethik und zu Regressionsphänomenen.“ (Neumann 1973, S. 56–58)

Neumann erklärte 1948, dass die alte Ethik einen Punkt erreicht habe, an dem es kein Zurück mehr gebe. Dies ist auch heute noch im Jahr 2020 der Fall. Es gibt in der Tat ein noch dringenderes Bedürfnis nach einer neuen Ethik: eine Ethik, die Brücken zu unserer Seele und zu den Seelen anderer baut und uns mit unserem Unbewussten und dem kollektiven Unbewussten verbindet. Als Abschluss dieses Kapitels in seinem Buch beschreibt Neumann ausführlich, warum es wesentlich ist, dass wir auf die alte Ethik verzichten und mit der neuen voranschreiten:

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität

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„Die alte Ethik erweist sich für den modernen Menschen nicht nur als unzureichend zur Lösung seines dringlichen moralischen Problems, sondern gefährdet ihn zusätzlich durch die Spaltungstendenz, die eine Folge ihrer dualistischen Welt- und Wertkonzeption ist. Die Teilethik ist eine individualistische Ethik, weil sie für die unbewussten Reaktionen der Gruppe, des Kollektivs, keine Verantwortung übernimmt. Die alte Ethik ist deswegen unzureichend, weil gerade die von ihr nicht berücksichtigte kompensatorische Beziehung zwischen Bewusstsein und Unbewussten sich als eine Hauptursache der Menschheitskrise erwiesen hat und damit das entscheidende ethische Problem unserer Zeit ist. Die ethische Forderung, die Verantwortung auch für die unbewussten Prozesse zu übernehmen, ist leicht abzuleiten aus der individuellen Problematik des modernen Menschen. Aber auch kollektiv schiebt sich das Problem in den Vordergrund in der Form, dass keine Ethik ihre Ethik der Masse auferlegen kann, ohne die daraus folgenden Katastrophen auf sich zu beziehen. Der Vermassungs -und der ihm entgegengesetzte Individualisierungsprozess führt beim modernen Menschen zu einer großen ethischen Niveaudifferenz und damit zu einer derart verstärkten psychischen Spannung im Einzelnen und im Kollektiv, dass diese Situation einer neuen Bewusstseinsbearbeitung und einer neuen Ethik bedarf.“ (Neumann 1973, S. 67–68)

2.40.7 Die neue Ethik Neumann nimmt ausführlich zum dringenden Bedarf einer neuen Ethik Stellung: „Der Konflikt oder die Erkrankung, welche einen modernen Menschen zwingen, den Weg der Tiefenpsychologie zu gehen, ist nur selten so gelagert, dass eine Bewusstseinskorrektur, eine bloße Umstellung des gegebenen Materials im Sinne einer Neuordnung, zu einer Lösung ausreicht. Meistens stellt es sich als notwendig heraus, Schichten der Persönlichkeit aufzuschließen und dem Bewusstsein zugänglich zu machen, die bis dahin außerhalb seiner Reich- und Erfahrungsweite lagen und daher eben als ,unbewusst‘ charakterisiert werden. Während aber in früheren Zeiten eine derartige Krise als eine Bedrohung des Seelenheils erfahren wurde, und z. B. eine begangene schwere Sünde für das Bewusstsein ein die ganze Existenz, den Lebenskern und die ,Seele‘ bedrohendes Gewicht hatte, erfährt der moderne Mensch seine Situation zunächst nur als Krise seines Bewusstseins und seine Ichs. Der Konflikt wird gedeutet als ein Versagen, eine Niederlage, ein Nichtfertigwerden mit der Situation oder dem Lebensproblem. Aber fast niemals fühlt der Mensch als Ganzheit sich gefährdet oder in Frage gestellt. Meist spürt er nur die Integrität seines Ichs angetastet und wehrt sich dagegen, den Umfang und die Tragweite seiner Problematik zu realisieren. Immer und notwendigerweise führt der tiefenpsychologische Weg, der die Situation und ihre Entstehung in die Hintergründe und Untergründe der Persönlichkeit zurückverfolgt, zu einer Erschütterung der Ich- und Bewusstseinswelt. (…). Die seelische Entwicklung des modernen Menschen beginnt fast ausnahmslos mit dem moralischen Problem und seiner Umorientierung, die sich in der Assimilierung des ,Schattens‘ und der Verarbeitung der ,Persona‘ vollzieht. (…). Dabei ist auffällig, bei wie vielen Menschen die illusionistische Haltung des Ich keineswegs durch die Krise

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2  Das Problem

oder Krankheit, welche zur Analyse geführt hat, zerstört worden ist. Das Fehlen eines ,Sünden-Bewusstseins‘, d. h. einer moralischen Reaktion auf die erlittene Lebenserschütterung, scheint ein Merkmal unserer Zeit zu sein.“ (Neumann 1973, S. 69–70) „Während früher die Krankheit oder das Versagen innerhalb der Kategorien von Sünde, Schuld und Bestrafung erfahren wurde, ist diese moralische Reaktion dem Bewusstsein des modernen Menschen, nicht seinem Unbewussten, meistens fremd. (…). Das Ich in der Krise erfährt sich dabei als unschuldig, da es sich mit dem frühkindlichen Ich nicht verantwortlich identifizieren kann. (…). Die Begegnung mit der ,anderen Seite‘, dem negativen Teil, erfolgt in einer Fülle von Träumen, in denen er als Bettler und Krüppel, Outcast und Böser, Narr und Erfolgloser, Erniedrigter und Beleidigter, Räuber und Kranker dem Ich entgegentritt. Was den Einzelnen so erschüttert, ist die Notwendigkeit, einzusehen, dass die andere Seite trotz ihres Ich-feindlichen und Ich-­fremden Charakters Teil der eigenen Persönlichkeit ist. Die große und schreckliche Lehre vom ,Das bist Du‘, welche als Leitmotiv durch die ganze Tiefenpsychologie führt, beginnt beim Schatten mit einem schmerzlichen und zunächst überaus dissonanten Akkord. Die individuelle Krise zwingt das Individuum in eine Tiefe, in die es freiwillig meist gar nicht gelangen würde. (…). Ein Prozess, in dem das Ich gezwungen wird, sich als böse und krank, als asozial und leidend, als hässlich und beschränkt zu erkennen, (…), stellt eine bittere Form der Selbstbegegnung dar, dass man den Widerstand gegen ihn begreifen kann.“ (Neumann 1973, S. 72–73)

cc

„Das Annehmen der eigenen Unvollkommenheit ist eine außerordentlich schwere Aufgabe.“ (Neumann 1973, S. 75) „So führt die Kollektiverschütterung des modernen Menschen, (…), zu einer Reihe gefährlicher Reaktionen, die kollektiv und individuell das Bild unserer Zeit und unsere Zeitgenossen prägen.“ (Neumann 1973, S. 80) „Durch ihre innere Spaltung werden die dogmatisch einseitigen Individuen zu einer höchst unsicheren menschlichen Zwischenschicht, welche in jeder echten Kampfund Entscheidungssituation versagt und versagen muss.“ (Neumann 1973, S. 86) „Die neue Ethik lehnt die Herrschaft einer Teilstruktur der Persönlichkeit ab und fordert die ganze Persönlichkeit als Basis des ethischen Verhaltens. Eine Begründung der Ethik durch den Schatten ist ebenso so einseitig wie eine, welche sich nur an den Ichwerten orientiert. Sie führt zur Unterdrückung, Stauung und zum Durchbruch der positiven Gegenkräfte, aber die Unstabilität der menschlichen Struktur ist bei ihr ebenso groß wie bei der alten Ethik. (…). Die neue Ethik ist ,total‘ in zwei Richtungen: einmal, weil sie nicht mehr individualistisch nur die ethische Situation des Individuums berücksichtigt, sondern die Auswirkung der individuellen Haltung auf das Kollektiv miteinbezieht. Zweitens, weil sie nicht nur eine Partialethik des Bewusstseins ist, sondern auch die Auswirkung der bewussten Haltung auf das Unbewusste mit in Rechnung stellt, und damit

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität

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die Totalität der Persönlichkeit als Verantwortlichkeitsträger einsetzt, nicht nur das Ich als Zentrum des Bewusstseins. Beide Erweiterungen gehören eng zusammen. Der Berücksichtigung des Schattens, die kollektiv außen den primitiven Massenmenschen in die ethische Verantwortlichkeit mit einbezieht, entspricht individuell innen das verantwortliche Bezogensein auf den primitiven Massenmenschen, der zum inneren Bestand jeder Persönlichkeit gehört.“ (Neumann 1973, S. 89–90) „Die neue Ethik fußt auf einer Bewusstmachung der positiven und negativen Kräfte der menschlichen Struktur und auf ihrer bewussten Einbeziehung in das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft.“ (Neumann 1973, S. 92) „Die neue Ethik muss ihre Aufgabe mit ganz anderen Methoden, Tendenzen und Verhaltensweisen erreichen als die alte. Die Gegensatzspannung, die als Dualismus das Kennzeichen der alten Ethik war, kann keineswegs einfach aus der Welt geschafft und geleugnet werden. Wenn die neue Ethik die unbewussten Inhalte ,annehmen‘ und dem Bewusstsein angliedern will, statt sie zu unterdrücken und zu verdrängen, steht sie damit vor der Aufgabe ihrer Verarbeitung.“ (Neumann 1973, S. 97–98)

cc

Die neue Ethik verkörpert also die von persönlicher innerer Stabilität getragene Absicht, niemals anderen zu schaden und hat somit auch Dauerhaftigkeit.

2.40.8 Ziele und Werte der neuen Ethik Neumann schlussfolgert: „Die Hauptaufgabe der neuen Ethik ist die Herstellung einer Integration, ihr erstes Ziel besteht darin, die dissoziierten, dem Lebenssystem des Einzelnen feindlichen Anteile integrationsfähig zu machen. Das Nebeneinander der Gegensätze, welches das Ganze der erfahrbaren Welt erfüllt, ist nicht mehr durch den Sieg der einen und die Verdrängung der anderen Seite zu lösen, sondern nur durch eine Synthese der Gegensätze. Während die Endvorstellung der alten Ethik Teilung, Differenzierung und Aufspaltung war, (…), ist das Leitbild der neuen Ethik die Vereinigung der Gegensätze in einer einheitlichen Struktur. (…). Das Ziel der totalen Ethik ist die Herstellung der Ganzheit, der Totalität der Persönlichkeit. In dieser Ganzheit fällt die Gegensätzlichkeit der Systeme Bewusstheit und Unbewusstes nicht in einer Spaltung auseinander, und die Gerichtetheit des Ich-Bewusstseins wird nicht unterminiert durch die entgegengesetzten Tendenzen unbewusster Inhalte, von denen das Ich und das Bewusstsein keine Kenntnis genommen hat. Das Ich-Bewusstsein wird in der neuen ethischen Situation zum verantwortlichen Haupt eines psychischen Völkerbundes (…). Das Hauptaugenmerk legt die neue Ethik nicht darauf, dass das Individuum ,gut‘ sei, sondern dass es seelisch autonom, das heißt gesund und produktiv, aber auch seelisch nicht infektiös sei. Die Autonomie der ethischen Persönlichkeit besteht darin, dass die Verarbeitung und Verwendung der

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2  Das Problem

in jeder Struktur vorhandenen negativen Kräfte bewusst innerhalb der Persönlichkeitsverwirklichung erfolgt.“ (Neumann 1973, S. 100–101) „Ethische Autonomie und totale Ethik heißt, die Ökonomie seines Schattens selber und bewusst besorgen. Freud hat durchaus Recht, wenn er sagt ,in Wirklichkeit‘ gibt es keine Ausrottung des Bösen, da aber diese Behauptung sich auch auf das Individuum erstreckt, hat die Persönlichkeit die Aufgabe, das ihr schicksalsmäßig ,zustehende‘ Böse in freier Verantwortung zu leben. Das unbewusst wirkende und unterirdisch ausstrahlende Böse hat die gefährliche Wirksamkeit der Epidemie, während das vom Ich bewusst getane und in die eigene Verantwortung übernommene Böse nicht die Umwelt infiziert, sondern dem Individuum als Aufgabe und als ins Leben und die Persönlichkeitsforderung einzubauender Inhalt gegenübertritt wie jeder andere seelische Inhalt auch.“ (Neumann 1973, S. 102) „Demgegenüber ist die neue Ethik in ihrem Annehmen des Negativen ebenso Ausdruck der Selbstbejahung des modernen Menschen wie der seines Annehmens der Erde und des Lebens in der Welt.“ (Neumann 1973, S. 116) „Die Einbindung des Negativen in den Integrationsprozess ist das Kriterium nicht nur der Kraft, sondern auch der ethischen Leistung. Die lebendige Ganzheit lebt von der Spannung der Gegensatzpaare, die in ihr zu einer übergeordneten Einheit verbunden sind, mögen diese Gegensätze gut-böse, männlich- weiblich, außen-innen, rational-­ irrational oder anders heißen.“ (Neumann 1973, S. 129)

Innerhalb der Individuation eines Menschen ist es daher die Aufgabe des Lebens, ganz zu werden. Es gibt keinen Weg zurück zur Ganzheit der frühen Kindheit. Fortschritt bedeutet, als Erwachsener ganz zu werden und aus dieser inneren Kraft heraus zu handeln. Walter Schwery hatte Folgendes über die neue Ethik zu sagen: „Die neue Ethik basiert also nicht mehr auf dem Ideal der Vollkommenheit, sondern auf dem Ideal der Ganzheit. Diese Neuorientierung wurzelt im Verständnis und in der Wertschätzung einer fundamentalen Dualität der menschlichen Natur. Da das Ergebnis dieser Dualität Leiden ist, muss die Lösung oder Erlösung aus dem Leiden außerhalb der Dualität in einem Dritten liegen. Jung nennt dieses Dritte das Selbst, ein Archetypus der Ganzheit, in dem die Dualität entfernt wird (...). Dieser Weg basiert nicht auf vorhandenen Werten. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess der sorgfältigen Beobachtung und Anerkennung der Realität der Seele, ihrer hellen und dunklen Seite. Es ist ein mittlerer Weg, auf dem die Entwicklung der Persönlichkeit, die frei ist von dogmatischen Identifikationen mit gut und/oder der Ablehnung von böse, stattfinden kann.“ (Schwery 2008, S. 37)

2.40 Tiefenpsychologie und Integrität

137

2.40.9 Tiefenpsychologie und Führung Das Bewusstsein für den Schatten und dessen Integration gewinnt in der Wirtschaft immer mehr an Bedeutung. Die folgenden Kommentare stammen aus einer Diskussion über Seeing the Shadow im Jahr 2013, in der David A. Laveman, der tiefe psychologische Einblicke in die Geschäftswelt bringt, um Führungskräften und Organisationen zu helfen, die Messlatte für Leistung zu erhöhen und bahnbrechende Geschäftsergebnisse zu liefern, mit Bonnie Bright, der Gastgeberin von Depth Insights, führt. Die Tiefenpsychologie beschäftigt sich mit Führung, weil wir Teil einer globalen Wirtschaft sind, in der ökologische Überlegungen, Vernetzung, beschleunigter Wandel und schnelle Verfügbarkeit von Informationen Realität sind. Psychotherapie, die zu persönlichem Wachstum führt, ist nicht notwendigerweise ausreichend, um zu veranlassen, dass man sich mit wichtigen Weltproblemen beschäftigt. Sie neigt dazu, Emotionen zu verinnerlichen. Der Psychologe James Hillman stellt 1992 in einem Dialog mit Michael Ventura mit dem Titel cc

„We’ve Had 100 Years of Therapy and The World Has Gotten Worse.“ (Hillman 1992) fest, dass: „Die Psychotherapie kann uns zu einem tieferen Verständnis der Funktionsweise unserer Psyche führen. (...). Aber sie stellt nicht sicher, dass wir ein besseres Verständnis der Funktionsweise der Welt haben. Unsere Emotionen müssen sich mit der Welt verbinden (...) und Einsicht in Engagement umzuwandeln. (...). Diejenigen, die Jahrzehnte damit verbracht haben, die Natur der Psyche zu erforschen, müssen sich mehr mit den Führern der Gesellschaft beschäftigen, insbesondere mit denen der Wirtschaft und der Regierung. Diese Verantwortung wird derzeit von einer florierenden Führungsentwicklungs- und Coaching-Branche wahrgenommen, die wenig über die Dynamik des Unbewussten weiß, wie man mit Schattenprojektionen auf individueller und organisatorischer Ebene arbeitet oder archetypische Muster erkennt. (...). Die Tiefenpsychologie kann die Unternehmenswelt informieren, indem sie bei ihren Führungskräften ein breites und tiefes Bewusstsein für die wahre Natur des Schattens erzeugt. Die fundamentale Natur des ,Schattens‘, die für Unternehmensführer von direkter Relevanz ist, besteht darin, dass er sich nicht als solcher offenbart, sondern oft auf einen beunruhigenden Aspekt der Umwelt da draußen ausgelagert wird, wodurch eine Situation ,wir gegen sie‘ entsteht.“ (Hillman 1992)

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2  Das Problem

Laveman (Laveman und Bright 2013) glaubt, dass sich der Schatten in vielen Wirtschaftsunternehmen auf drei Arten ausdrücke: in der Gier, wo kein Reichtum jemals genug ist; in der Hybris, wo der Erfolg einen Führer dazu veranlasst, seine Kräfte zu überschätzen, um die Zukunft vorauszusagen, und in der Leugnung, wo die notwendige Unterscheidung zwischen einem Verständnis der Funktionsweise der Wirtschaft im Allgemeinen und dem Wissen, das notwendig ist, um ein Unternehmen bei schwierigen und komplizierten Marktschwankungen zu führen, fehlt. Die heutigen Wirtschaftsführer würden die Umstände über die Psyche erheben, die Rationalität über die Vorstellungskraft und die Externalisierung über die Selbstbeobachtung. Die Realität der greifbaren, empirisch beobachtbaren Außenwelt habe einen klaren Vorrang vor der Wolke einer Realität der Psyche. Da dies erfolglos geblieben ist, seien Organisationen ständig am Change Management interessiert. Mit der Beschleunigung des externen Wandels hat die Notwendigkeit der Transformation statt der bloßen Veränderung zu einem großen Netzwerk von „Transformationsberatern“ und Human-Resources-Spezialisten geführt, die archetypische Realitäten nicht verstehen. So entwickeln sich Transformationsprogramme oft zu einer unproduktiven, energiezehrenden Übung. Laveman meint ferner, dass archetypische Realitäten im Geschäftskontext Hintergrundmuster der Wahrnehmung und Bilder auf der Ebene der Psyche seien, kulturelle Werte und reflexive Verhaltensweisen auf der Ebene der Organisation. Sie seien oft unbewusst und operieren unabhängig vom Ego. Ohne eine archetypische Perspektive würden Führungskräfte auf Entscheidungen zurückgreifen, indem sie den Schwerpunkt auf rationale Analyse, Datenerfassung und Trendanalyse legen. Die fehlende Erkenntnis, dass archetypische Kräfte wirken, wenn ein Unternehmen darum kämpft, eine neue Ordnung der Realität ins Leben zu rufen, lasse diejenigen, die Befürworter der Transformation sind, mit ernstem Nachteil zurück. Ohne archetypische Perspektive blieben ihnen nur ihre eigenen Anstrengungen und oberflächlich wörtliche Interpretationen der Herausforderungen, denen sie gegenüberstehen. (...) Es sei einfach, mit dem Finger auf die Unternehmensführung zu zeigen, weil sie zu sehr mit ihren kollektiven Ansichten von Veränderungen auf der Grundlage der Standardorganisationspsychologie verheiratet sei, Veränderungsmanagement und übergreifender Druck, finanzielle Ergebnisse zu erzielen. Er denkt jedoch, dass es produktiver sei, diejenigen herauszufordern, die sich den Perspektiven der Tiefenpsychologie verschrieben hätten, um sie aus den hoch ritualisierten und kontrollierten akademischen und psychotherapeutischen Umgebungen herauszunehmen und ihre Verdienste zu testen, um sinnvolle Veränderungen mit den Geschäftsinstitutionen herbeizuführen, die das Tempo und die Richtung der heutigen Welt im

2.41 Das Milgram-Experiment zum Gehorsam gegenüber der Autorität

139

Guten wie im Schlechten bestimmen. Dieses Engagement werde die Tiefenpsychologie dazu zwingen, Spannungen auszuhalten, die zuvor vermieden wurden, und Unternehmen dazu bringen, die Rolle der Seele und der Psyche bei der Erneuerung unserer Welt neu zu bewerten.

2.41 D  as Milgram-Experiment zum Gehorsam gegenüber der Autorität Alles, was oft unterdrückt oder verdrängt wird, kommt leicht an die Oberfläche, wenn wir Befehle befolgen oder wenn wir einen Vorteil gegenüber anderen haben wollen. Je mehr wir unterdrücken und verdrängen, desto einfacher ist die Verführung zur Befreiung und desto destruktiver ist das Ergebnis. Die Schlussfolgerungen aus dem klassischen Milgram-Experiment sind, dass 62 % von uns bereit sind, anderen Schaden zuzufügen, wenn sie von einer Autoritätsperson dazu angewiesen werden! Das Milgram-Experiment zum Gehorsam gegenüber Autoritätspersonen war eine Serie von sozialpsychologischen Experimenten, die von dem Psychologen Milgram an der Yale University durchgeführt wurde. Sie maßen die Bereitschaft der Studienteilnehmer, einer Autoritätsperson zu gehorchen, die sie angewiesen hat, Handlungen vorzunehmen, die ihrem persönlichen Gewissen widersprechen. Milgram beschrieb seine Forschungen zum ersten Mal 1963 in einem Artikel, der im Journal of Abnormal and Social Psychology veröffentlicht wurde, und erörterte später seine Ergebnisse in seinem Buch (Milgram 1974). Der Abstract seines Artikels fasst die wichtigsten Details zusammen: Dieser Artikel beschreibt ein Verfahren für die Untersuchung des destruktiven Gehorsams im Labor. Es bestehe darin, einem naiven S anzuordnen, einem Opfer im Rahmen eines Lernexperiments eine immer härtere Strafe zu verhängen. Die Bestrafung erfolgt mithilfe eines Schockgenerators mit 30 abgestuften Schaltern, die von ‚leichter Schock‘ bis ‚Gefahr‘ reichen: schwerer Schock. Das Opfer sei ein Verbündeter des E. Die primäre abhängige Variable sei der maximale Schock, den der S bereit sei zu verabreichen, bevor er sich weigere, weiterzumachen. 26 Ss gehorchten den experimentellen Befehlen vollständig und verabreichten dem Generator den höchsten Schock. 14 Ss brachen das Experiment irgendwann ab, nachdem das Opfer protestierte und sich weigerte, weitere Antworten zu geben. Das Verfahren erzeuge bei einigen Ss extreme nervliche Spannungen. Starkes Schwitzen, Zittern und Stottern waren typische Ausdrucksformen dieser emotionalen Störung. Ein unerwartetes Anzeichen von Spannung – noch zu erklären – war das regelmäßige Auftreten von nervösem Lachen, das sich bei einigen Ss zu unkontrollierbaren ­Anfällen entwickelte. Die Vielfalt der im Experiment beobachteten interessanten

140

2  Das Problem

Verhaltensdynamik, die Realität der Situation für die S und die Möglichkeit der parametrischen Variation im Rahmen des Verfahrens weisen auf die Fruchtbarkeit weiterer Untersuchungen hin (Milgram 1963). Die Milgram-Experimente werden oft diskutiert und je nach Zeitgeist interpretiert. Sie können aber gut erklären, weshalb das Individuum so leicht durch Anweisung unmoralisch handeln kann. Thomas Blass (1992) nimmt dazu Stellung: In diesem Kapitel werde die Hassliebe diskutiert, die die amerikanische Psychologie mit Stanley Milgram teilt. Sozialpsychologen würden sich stets auf die Ergebnisse von Gehorsamsexperimenten berufen, wann immer es nötig sei, um das Feld zu bestätigen, das etwas über soziales Verhalten offenbare, das vom gesunden Menschenverstand nicht vorhersehbar sei. Milgram veröffentlichte zu Hause gleichermaßen in Zeitschriften wie in Journalen, was ihn zu einem wirksamen Verbreiter psychologischer Informationen in der Öffentlichkeit machte. Trotz des Mangels an Aufmerksamkeit für Milgram in den meisten Schriften zur Geschichte der ­Sozialpsychologie könne er leicht in einen historischen Kontext gestellt werden. Sein phänomenzentrierter Ansatz stellt eine Fortsetzung der Gestalttradition dar. Gleichzeitig mache ihn sein grenzenloses Vertrauen in die Möglichkeit, ein breites Spektrum sozialer Phänomene wissenschaftlich zu untersuchen, zu einem überragenden Lewinian (Schüler von Kurt Lewin). Milgram sensibilisiere für die verborgenen Funktionsweisen der sozialen Welt. Er zeige die Schwierigkeiten auf, die Menschen oft hätten, die Kluft zwischen Absichten und Handlungen zu überbrücken. Selbst moralische Prinzipien würden nicht immer in Verhalten umgesetzt, sondern könnten durch momentanen situativen Druck in ihrer potenziellen Macht überlagert werden. Trotz des Pessimismus, der durch die Ergebnisse des Gehorsams hervorgerufen würde, sei es bemerkenswert, dass Milgram eine positive, hoffnungsvolle Sicht des menschlichen Potenzials aufrechterhalten könnte. Die Sozialpsychologin Susan Fiske (2006) untersuchte Vorfälle (Kriegsereignisse) und zog Parallelen zum Milgram-Experiment. Menschen könnten unglaublich zerstörerisch handeln, wenn sie von legitimen Behörden befohlen werden, sagt die Princeton-Professorin. Das gelte nicht nur für Krieg und Terror, sondern auch für die Wirtschaft. Das Verhalten von Führungskräften sei entscheidend für die Atmosphäre, die in einem Unternehmen herrscht. Diejenigen, die Autorität ausnutzen würden, um Misstrauen und Hass zu schüren, schafften einen Nährboden für die Aussetzung moralischen und ethischen Handelns in ihren Untergebenen. Der Mensch brauche offensichtlich kein starkes Motiv. Der deutsche Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Berger nennt die Mitarbeiter eines Unternehmens Resonanzkörper (Berger 2012). Wenn die Handlungen der Vorgesetzten ethisch und moralisch einwandfrei sind, besteht eine

2.42 Moralische Lizenzierung

141

gute Chance, dass die Mitarbeiter ihrem Beispiel folgen. Dies ist jedoch nicht immer gewährleistet, da es von der Reife der Mitarbeiter abhängen kann. Wenn unmoralisches Verhalten gefordert wird, wird sich die Mehrheit nur an diejenigen halten, deren innere Reife weit genug fortgeschritten ist, und andere ablehnen, selbst auf die Gefahr hin, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Bernd Leibig (2015, S. 19) äußert sich zum Archetyp (C. G. Jung) der Resonanz und meint, dass das dahinterstehende zentrale Prinzip sei, dass die Dinge miteinander in Beziehung stehen, also, dass die in Resonanz miteinander seien. Das Resonanzprinzip durchwirke die belebte und unbelebte Natur¸ sodass er von einem Archetyp der Resonanz sprechen möchte. Sobald wir erkennen, dass alles mit allem anderen verbunden ist und in Resonanz mit allem anderen steht, kann man nicht umhin, sich ethisch und moralisch einwandfrei zu verhalten, es sei denn, die dunkle Seite darf unsere guten Absichten zerstören.

2.42 Moralische Lizenzierung Auch ohne Anweisung sind Menschen kollektiv bereit, anderen zu schaden, wenn ihre Vorgesetzten und Kollegen ähnliche Tätigkeiten ausüben. Professor Dr. Bernd Irlenbusch: „Wir wissen aus unseren empirischen Studien, dass unsere Umgebung und konkrete Situationen einen großen Einfluss darauf haben, ob wir uns moralisch oder unmoralisch verhalten. (…) Manager müssen ihr Handeln verantworten. Aber an dem Sprichwort Gelegenheit macht Diebe ist viel Wahres dran, das zeigen unsere Untersuchungen mit Probanden. Unsere moralischen Wertungen und Entscheidungen entstehen oft intuitiv. Wir sind moralisch nicht so gefestigt, wie wir dies selbst von uns denken, da ist mehr Demut gefragt. Der gesellschaftliche Konsens scheint sich zu verschieben. Milton Friedmans Aussage, es sei die einzige Pflicht von Unternehmen, im Rahmen der Gesetze ihre Gewinne zu maximieren, gilt nicht mehr uneingeschränkt. Es wird erwartet, dass Unternehmen dort Verantwortung übernehmen und Steuern zahlen, wo sie Kunden haben und die Infrastruktur nutzen. Auch hier sehe ich Elemente des Moral Licensing. Menschen mit guten, positiven sozialen Beziehungen können diese Tatsache als Rechtfertigung benutzen, als eine Art moralische Lizenz, als Denkweise, ‚Wenn ich ein guter Mensch bin, dann ist es in Ordnung, wenn ich auch gelegentlich Dinge zulasse, die unmoralisch sind‘. Oftmals beginnt es mit kleinen Verstößen, die sich dann noch verstärken.“ (Irlenbusch 2014)

Machen Banken ihre Mitarbeiter zu Lügnern? So lautete der Titel eines Artikels in der gleichen Zeitung:

142

2  Das Problem

„Tricksen, lügen, manipulieren – in der Bankenbranche scheint das die Verhaltensnorm zu sein. Zu diesem Befund kommen jedenfalls Wissenschaftler der Universität Zürich, die in einem Experiment die Ehrlichkeit von Bankangestellten auf die Probe gestellt haben. Die Ergebnisse ihres Tests, die Vorurteile gegen die Finanzbranche zu bestätigen scheinen, hat das renommierte Wissenschaftsmagazin ,Nature‘ veröffentlicht. (…) Die Forscher schließen aus dem Experiment, dass Banker in ihrem beruflichen Umfeld weniger aufrichtig sind als im Privatleben: ,Wenn ihre Identität als Bankangestellte abgerufen wird, dann wird ein signifikanter Anteil unehrlich‘, sagt Michel Maréchal, der den Test zusammen mit zwei Kollegen durchgeführt hat. Bei Angestellten in anderen Branchen gebe es eine solche Diskrepanz dagegen nicht. Banker seien demnach per se nicht weniger ehrlich als andere Menschen. Zu Lügnern würden sie erst, weil sie in einem Umfeld arbeiteten, in dem Ehrlichkeit nicht hoch im Kurs stehe.“ (Theurer 2014)

Laut Peter Knauer ist das Böse nur dann schlecht, wenn es anderen schadet. Er postuliert, dass nur die Handlungen, die Schaden ­zufügen, jemals unmoralisch sein können. Dies steht im Widerspruch zur konventionellen Orthodoxie, die besagt, dass alles, was nicht mit einer Reihe von sozialen Normen übereinstimmt, unmoralisch ist. Es ist einfacher, von etwas zu sagen, ‚das ist schlecht‘, wenn Ihre Kriterien einfach nur so lauten: ‚Ich mag es nicht, es ist ungewöhnlich.‘ Diese traditionelle Moral führt uns jedoch nirgendwo hin. Es legitimiert einfach persönliche Vorlieben und Abneigungen und schafft Sündenböcke, während es versucht, mit dem Schatten fertig zu werden. Es ist kein Ansatz, der geeignet ist, unser Verständnis von Ethik zu fördern. Andererseits ist Graf Dürckheim sehr klar: cc

„Wo immer Sie in unserer Gesellschaft arbeiten und wo immer Sie Verantwortung übernehmen, hängt der Segen Ihrer Arbeit von der Tiefe und Reife Ihres inneren Menschen ab. Es ist so wichtig, die andere Welt in dieser Welt zu sehen, in der wir uns gerade befinden. Nur der Einzelne kann Zeuge der anderen Welt werden, nicht einer Gruppe, nicht einer Institution, nicht einer Gesellschaft.“ (aus einem Gespräch mit mir).

Dies gilt nicht nur für unsere individuellen Beiträge zur Gesellschaft, in der wir leben, sondern auch für unseren verantwortungsvollen Beitrag zur Wirtschaft. Das Bewusstsein des Menschen, die individuelle Natur aller fühlenden und nicht fühlenden Wesen und der gesamten natürlichen Welt zu akzeptieren und zu ehren, entspringt aus der tiefen psychologischen Individuation, die durch Meditation oder durch Rituale, die von den mystischen Zweigen der Religionen etabliert werden können. Dazu gehört natürlich auch das Gebet, wenn es zur Gemeinschaft mit einem lebendigen, persönlich erlebten Gott führt. Wenn Meister Eckhart sagt:

2.43 Ethik aus der Perspektive der Quantenphysik

cc

143

„Nim din selbes wahr!“ (Meister Eckhart 1993, S. 340)

Nimm dein eigenes Selbst wahr

Er bezieht er sich auf den inneren Rückzug, der die Erfahrung des Göttlichen ermöglicht. Aber es muss nicht zwangsläufig aus der Tiefenpsychologie oder Religion stammen.

2.43 Ethik aus der Perspektive der Quantenphysik Das Wissen und die Erfahrung der Quantenphysik können gleichermaßen zu kollektiver Verantwortung und einer neuen Ethik führen, wie Hans-Peter Dürr immer wieder postuliert hat. Während er sich selbst als jemand bezeichnet, der nicht an einen persönlichen Gott glaubt, erkennt er ein universelles Prinzip, das auch als göttliches Prinzip bezeichnet werden kann. Fast 100 Jahre nach Heisenbergs Quantenphysik haben wir ein weitaus besseres Verständnis der Natur der Realität. Partikel, Wellen und Felder werden als Quantenfelder interpretiert. Hans-Peter Dürr sagte mir zur Verbindung von Quantenphysik und Spiritualität: „Die Quantenphysik sagt uns, dass die Realität eine große spirituelle Verbindung ist und dass unsere Welt voller Möglichkeiten ist. Wir leben in einer viel größeren Welt als der, die uns allgemein bekannt ist. Das Leben ist ein erstaunliches Phänomen. Mit seinem Bewusstsein und seiner Fähigkeit zur bewussten Handlung ist der Mensch zu einer neuen Lebensphase aufgestiegen. Es befähigt ihn, die Welt auf zwei ganz unterschiedliche Arten wahrzunehmen; erstens, und am direktesten, von innen. Aber er ist dann auch in der Lage, sie aus einem anderen Blickwinkel kennenzulernen, über ihre Bedeutung in ihrem hellen Bewusstsein als etwas Außerhalb, losgelöst von sich selbst.“

Dürrs ethisches Bewusstsein wurde 1987 mit dem Alternativen Nobelpreis und 1995 mit dem Friedensnobelpreis für die Pugwash-Gruppe, der er angehörte, gewürdigt. Laut Dürr gibt es ein kooperatives Hintergrundfeld, das in jedem Moment Realität schafft. Das Feld ist leer, hat aber die Möglichkeit, sich dauerhaft als Realität zu manifestieren. Alles ist innerhalb des Feldes miteinander verbunden. Wenn wir als Individuum handeln, beeinflussen wir das Feld und dadurch alle anderen Individuen und die gesamte Schöpfung, einschließlich der Wirtschaft. Wenn wir verantwortungsbewusste Menschen sind, müssen wir dies bei unseren Entscheidungen berücksichtigen. Andernfalls können wir unverantwortlich handeln und letztendlich scheitern. Wir müssen erkennen, dass das Leben der wesentliche Hin-

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2  Das Problem

tergrund für alles ist, was wir in der Geschäftswelt anstreben. Dürr rät, das „Plussummenspiel“ (jeder gewinnt) zu spielen und nicht, wie allzu oft beobachtet, das „Nullsummenspiel“, bei dem man nur auf Kosten anderer gewinnt. „Management, Neue Physik und Spiritualität“ lautete der Titel des Vortrags von Michael Müller-Camen in Barcelona 2015, in dem ich einen Vortrag mit dem Titel Der Goldene Weg zur Kreativität (Meditation – Individuation – Intuition – Intellekt –Invention– Innovation – Kreativität aus der Perspektive eines CEO) hielt. Der Inhalt des Vortrags von Müller-Camen zusammengefasst: „In den letzten Jahren haben mehrere Autoren angedeutet, dass Theorie und Praxis des Managements noch immer stark von der Weltsicht der klassischen Physik beeinflusst werden. Folglich wurden Reduktionismus, Determinismus und Positivismus zu wichtigen Bausteinen von Managementstudien und -praktiken und ließen wenig Raum für spirituelle und religiöse Ideen. Das Ziel dieses Papiers ist es, zu untersuchen, wie das Paradigma der Quantenphysik das Management inspirieren könnte. Zu diesem Zweck untersuchen wir drei Phänomene in der Neuen Physik, nämlich den Wellen-Teilchen-Dualismus, die Heisenberg’sche Unschärferelation und die Feldtheorie, die da­ rauf hindeuten, dass die Managementwissenschaft mehr Aufmerksamkeit auf Kreativität, Vernetzung, Nicht-Dualität, Nicht-Linearität und qualitative Forschungsmethoden richten sollte. Dies könnte neue Möglichkeiten eröffnen, Religion und Spiritualität in die Managementforschung und -praxis zu integrieren.“ (Müller-­Camen 2015)

2.44 Das Lebende lebendiger werden lassen Nachhaltigkeit bedeutet für Dürr, das Leben lebendiger zu gestalten. Seine Definition: cc

„Das Lebende lebendiger werden lassen.“ (Dürr 2011)

Diese Botschaft war für ihn sehr wichtig. Gegen Ende der fünfjährigen Freundschaft mit ihm bat er mich, seine Interpretation von Nachhaltigkeit in meiner Einflusswelt zu verbreiten. Bouckaert verwendet in seinem Aufsatz Spirituality: The Missing Link in Business Ethics den Begriff Élan vital, der das Konzept von Dürr auf andere Weise zum Ausdruck bringt (Bouckaert 2015, S. 24). Nach Bergsons Führungstheorie besteht die Hauptfunktion der Spiritualität im Geschäftsleben darin, den Geist für den Élan vital der Geschichte zu öffnen. Dieser Élan

2.44 Das Lebende lebendiger werden lassen

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vital kann nicht als mechanistisches oder darwinistisches Programm gesehen werden, das in die Natur der Dinge eingebaut ist, die von der positiven Wissenschaft offenbart werden können. Es ist vielmehr die Unendlichkeit der Zeit, die neue Bedeutung in der Geschichte und in unserem Leben schafft, die wir den Geist nennen. Die Spiritualität als eine Fähigkeit unseres Geistes, die von der Rationalität zu unterscheiden ist, hat ein intuitives Wissen über diese Gegenwart der Kreativität im Leben und in der Geschichte. Es lohnt sich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass es nicht allgemein anerkannt ist, dass Spiritualität und Denkvermögen beides Fähigkeiten unseres Geistes sind. Geist als Spiritualität leitet sich vom „Geist“ ab, der unsere göttliche Quelle, unsere Essenz ist, und sie sorgt zusammen mit unserem Körper und der Seele dafür, dass wir als ganze Person konstituiert sind. In der Ganzheit Körper-Seele-Geist ist das die Bedeutung von Geist. Geist als Denkvermögen, Verstand und Ratio gehören zu unserem Körper. Diese Unterscheidung wird nicht klar, wenn wir in der deutschen Sprache das „Geist“ verwenden. Viele meinen mit dem Ziel zu Körper-­Seele-­Geist, dass das Wichtigste neben dem Körper und der Seele unser Verstand ist. Ein tragisches Missverständnis unserer westlichen Kultur und ihrer Sprache. Im Englischen gibt es glücklicherweise die Wörter Mind und Spirit. Man kann dort also differenzieren und sich entscheiden, was wir meinen. Der Theologe, Jesuit und Philosoph Rupert Lay SJ bringt in seinem Buch Ethik für Manager das von Dürr formulierte Prinzip zum Ausdruck: „Handeln Sie so, dass Sie in sich selbst und anderen Ihr persönliches Leben (emotional, moralisch, sozial, musikalisch, religiös) mehr steigern oder verbessern, als Sie es reduzieren oder erniedrigen.“ (Lay 1996)

Wenn wir nicht mit Achtsamkeit und Mitgefühl handeln, werden wir uns außerhalb des Rades des Lebens befinden. Unsere Energie wird nicht in einem harmonischen Gleichgewicht mit derjenigen der gesamten übrigen Schöpfung stehen. Diejenigen, die mit wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen betraut sind, müssen diese selbstverständliche Anerkennung sehr ernst nehmen! Auch die Wettbewerbsfähigkeit bekommt für Dürr eine andere Bedeutung. Er bittet uns, darüber nachzudenken, wie sich zwei Wellen, wenn sie gegeneinander fließen, gegenseitig aufheben, sich aber gegenseitig verstärken, wenn sie synchron zusammenfließen. Unsere Belohnung kommt nicht von der einfachen Zusammenarbeit, sondern von unserem einzigartigen Beitrag zur Schaffung einer neuen Dimension. Dürr fördert den Prozess des Liebenden Dialogs mit anderen als Medium zur gemeinsamen Gestaltung eines neuen, für beide Seiten vorteilhaften Verständnisses. Ich fragte ihn, wie Unternehmen in der Wirtschaft überleben könnten. Er antwortete: „Dezentralisierung ist die Lösung für das Überleben. Das hat uns die Natur gelehrt. Man sollte mit dem arbeiten, was in Reichweite ist. Es gibt keinen Grund, die ganze Welt auf einmal einzubeziehen.“

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2  Das Problem

2.45 D  ie Annahme von Ungewissheit kann unsere ethischen Praktiken verbessern: Das Senken unserer Entropie In einem Buch mit dem Schwerpunkt integrale Ethik ist es trotz aller Skepsis ratsam, neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu erarbeiten, die sich aus der Erforschung des individuellen Bewusstseins, der Wirkung des Bewusstseins auf die innere und äußere Welt und der Erkenntnis der Existenz eines höheren oder erweiterten Bewusstseins ergeben, da diese Erkenntnisse, wenn sie praktiziert werden, einen erheblichen Einfluss auf Moral und Ethik haben. Für viele, vor allem in der jüngeren Generation, mag die Erwünschtheit des inneren Wachstums sowohl als Beitrag zum Sinn des Lebens als auch als ethischer Leitfaden durch das Tor der Naturwissenschaften leichter zu verstehen sein als durch Religion, Mystik, Philosophie oder Psychologie. Seit etwa zwei Jahrzehnten forschen Physiker, Mathematiker und Informatiker bevorzugt an der digitalen Physik auf der Basis der Quantenphysik, um mit dieser Methodik das Wissen über Religionen, Philosophie und Psychologie zu erforschen. Dies ermöglicht uns ein besseres Verständnis der Realität und ermöglicht es uns, den Dualismus von Geist und Materie zu überwinden. Die Naturwissenschaft scheint sowohl eine größere unmittelbare als auch potenzielle Kapazität zu haben als die Religion, den Transformationsprozess zu beeinflussen. Der Physiker Thomas Campbell beschreibt in seiner Trilogie „My Big Toe“ – Awakening-Discovery-Inner Workings eine Vereinigung von Philosophie, Physik und Metaphysik und wie die Mystik durch die Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse entmystifiziert wird, um ein erweitertes Bewusstsein zu erreichen (Campbell 2007). Das Wissen und die Erfahrung von Campbell sind über seine Website abrufbar (Campbell 2020). Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Meinungsbildner der jüngeren Generation, wie Mark Zuckerberg sind diesem Zeitgeist verpflichtet. Internetsatelliten, Virtual Reality, sogar real arbeitende KI, das alles verblasst im Vergleich zur Zukunft, die Facebook-Chef Mark Zuckerberg im Sinn hat. In einer Frage- und Antwortsitzung mit den Nutzern der Website sagte der 31-Jährige, dass er sich eine Welt vorstellt, in der Menschen  – vermutlich Facebook-Nutzer  – diese Art von Kommunikationsvermittlern nicht brauchen. Stattdessen kommunizieren sie von Bewusstsein zu Bewusstsein, indem sie Telepathie verwenden: Nicht nur Telepathie, sondern auch Nahtoderfahrungen und außerkörperliche Erfahrungen (AKE) deuten darauf hin, dass es ein Bewusstsein außerhalb des ­Körpers gibt, ein nichtmaterielles Bewusstsein. Die Erfahrungen von Pamela Reynolds werden in diesem Zusammenhang als klassischer Fall betrachtet.

2.45 Die Annahme von Ungewissheit kann unsere ethischen Praktiken …

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„1991 erlitt Pamela Reynolds ein Gehirn-Aneurysma. Sie wurde abgekühlt und war mehrere Stunden klinisch tot, während derer sie ständig elektronisch überwacht wurde, wobei jede Sekunde dokumentiert wurde. Nach dem Aufwachen berichtete sie über alle Details der Operation sowie über ihre Erfahrungen außerhalb des Operationssaals. Aber während des ,Stillstands‘ wurde Pams Gehirn von allen drei klinischen Tests für ,tot‘ erklärt: Ihr Elektroenzephalogramm war stumm, ihre Hirnstammreaktion fehlte, und kein Blut floss durch ihr Gehirn. Interessanterweise traf sie in diesem Zustand auf die tiefste Nahtoderfahrung aller Teilnehmer der Atlanta-Studie.“ (Reynolds 1991)

Neunzehn Jahre sind seit diesem besonders gut dokumentierten Fall vergangen, der viele Skeptiker in Erstaunen versetzt hat. Inzwischen ist die Schwelle zwischen Leben und Tod ausgiebig untersucht worden. Studien zu Nahtoderfahrungen und Paraphänomenen bei sterbenden Patienten in der Klinik sind inzwischen von Universitäten und Fachverlagen aufgegriffen worden. Mehrere Universitäten betreiben Online-Portale, auf denen sich die Teilnehmer registrieren und ihre Erfahrungen schildern können. Man kann davon ausgehen, dass dieser ansonsten unbewusste Teil von uns ständig präsent ist, aber erst an der Schwelle vom Leben zum Tod ist er besonders spürbar. Seitdem das Internet genutzt wurde, um die im analogen Zeitalter mögliche Zensur zu umgehen, sind die Berichte von Menschen, die bereits zu Lebzeiten bewusst mit ihrem immateriellen Teil in Berührung gekommen sind, deutlicher geworden. Das häufigste Kontaktmedium ist wohl der Traum (Strauch 2006), aber auch alle anderen Formen des Hellsehens sind gut dokumentiert. So wurden beispielsweise 2003 in einer Dissertation (Patzel 2003) über Bodenkunde am Departement für Umweltwissenschaften der ETH Zürich die Träume der Doktorandinnen und Doktoranden als Wissensquellen anerkannt. Diese uralte Gewissheit wurde durch das materialistische Industriezeitalter und die intersubjektive Validität und Wiederholbarkeit der Ergebnisse, die von den ­Naturwissenschaften zunehmend gefordert wurden, scheinbar vergessen. So ist z. B. die Hypnerotomachia Poliphili – ein äußerst akribisch illustriertes Traumprotokoll des professionellen, luziden Träumers Francesco Colonna  – seit dem 16. Jahrhundert ein Bestseller in wissenschaftlichen Kreisen, scheinbar mit immensen Auswirkungen auf die Kunstproduktion (Colonna 1499). Dieses Buch wurde 2014 ins Deutsche übersetzt. Ein weiteres Beispiel, das der Wissenschaft erst seit Kurzem zugänglich ist, ist das oben zitierte und diskutierte Rote Buch von Carl Gustav Jung. Wenn nun die gewisse Erkenntnis wächst, dass unser Bewusstsein auch außerhalb des Körpers existiert, dann müssen wir uns fragen, wo der Teil von uns selbst, der nicht durch unseren Körper begrenzt ist, existiert. Was ist seine Realität?

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2  Das Problem

Für diese neue Vermittlungsaufgabe gibt es mehrere westliche Pioniere. Einer der Anführer der zweiten Generation ist der Kernphysiker Thomas Campbell, der sein Studium mit transzendentaler Meditation begann, während er viele Jahre für das amerikanische Militär und die NASA arbeitete, und gleichzeitig aus rein persönlicher Neugierde heraus zusammen mit dem Elektroingenieur und Medienproduzenten Bob Monroe (1915–1995) Körpererfahrungen untersuchte. Monroe veröffentlichte 1971 sein Buch Journeys Out of the Body und gründete bald darauf das Monroe Institute in Virginia/USA.  Zur gleichen Zeit führten Targ und Puthoff (1977) vom Stanford Research Institute (SRI) International in Menlo Park, Kalifornien/USA, und ihr Nachfolger, der Luftfahrtingenieur Jack Houck, Forschungen zum sogenannten Mental Access Window in Verbindung mit Remote Viewing, Psychokinese und telepathische Heilung durch (Houck 1994). Dies ist nur ein kleiner Teil der gut dokumentierten und wissenschaftlich geführten Paraforschung, die historisch gesehen sowohl in Akademien als auch in Klöstern durchgeführt wurde. Die Spitze der technischen und naturwissenschaftlichen Wissenschaften war schon immer von höchster Disziplin geprägt, mit einer Vorliebe für Metaphysik auf dem Gebiet der Astronomie und der Raumfahrt, immer verbunden mit dem Wissen, dass wir nicht allein im Universum sind. Es ist an der Zeit, dass die Implikationen der Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften die Wirtschaft informieren. Campbells Forschung über Bewusstsein und außerkörperliche Erfahrungen ist weltweit anerkannt. Er nennt den großen, immateriellen Horizont, der sich öffnet, das Larger Consciousness System (LCS gleich größeres Bewusstseinsfeld). Seine Experimente bestätigen, dass das Hören verschiedener Frequenzkombinationen die Zuhörer entweder müde oder hellwach und aktiv machen kann, und dass der Status eines erweiterten Bewusstseins erreicht werden kann, wenn wir mit dem linken und rechten Ohr eine Frequenzdifferenz von 4 Hz hören. Dadurch erlangen wir den Zugang zum unendlichen Informationsspeicher des LCS. Bei der Erleuchtung von ZEN-Mönchen schwingt das Corpus Calosum zwischen beiden Gehirnhälften mit 4 Hz. Durch akustischen Input kann man den gleichen Zustand erreichen. In Experimenten können Kandidaten Aufgaben lösen, die Inhalte beinhalten, die den Kandidaten zuvor fremd waren. Diese Methoden schalten den Neocortex und damit das aktive Denken aus. Diese Abschaltung ist Voraussetzung dafür, dass das limbische System und der Thalamus ungestört und ohne Einschränkungen durch den denkenden Geist arbeiten können. Dieser Zustand kann auch durch erfahrene Meditation erreicht werden. Campbells eigene Erfahrungen führen ihn zu dem Schluss, dass das Bewusstsein ein grundlegender Aspekt der Realität selbst ist. Ausgehend von dieser einzigen Annahme kann er die „unerklärlichen“ Phänomene der Quantenphysik erklären und

2.45 Die Annahme von Ungewissheit kann unsere ethischen Praktiken …

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Antworten auf eine Vielzahl philosophischer Fragen geben. Durch seine Vorträge erklärt er verschiedene Aspekte der Natur der Realität. Damit bietet er einen alternativen Standpunkt zu einem streng materialistischen Ansatz, aber im Gegensatz zu vielen anderen alternativen Realitätsmodellen geht Campbells Ansatz, der auf der Wissenschaft basiert, wie wir sie heute akzeptieren, weit darüber hinaus. Thomas Campbell unterscheidet zwischen zwei Realitäten, PMR (Physical Matter Reality) und NPMR (Non-Physical Matter Reality). Das Larger Consciousness System (Das größere Bewusstseinsfeld) LCS enthält alle Informationen, die waren, jetzt sind und in Zukunft verfügbar sein werden. Diese Informationen können uns zufällig oder aufgrund einer ausdrücklichen Absicht übermittelt werden. In der Mystik sprechen wir von Gnade, wenn wir Informationen erhalten. Campbell ist der Ansicht, dass wir zunächst die Absicht haben müssen, Informationen über eine Frage zu erhalten. Es ist dann notwendig, in Meditation oder einer anderen Form von innerer Stille, Stille und Achtsamkeit, zu warten. Diese Techniken, zusammen mit anderen Möglichkeiten zur Erweiterung des Bewusstseins, wie z. B. Meditation, Kontemplation, Wandern in der Natur, Musik, Tanz, Kunst oder sogar Krankheit, sind wirksame Werkzeuge. Nach C. G. Jung können auch in der Aktiven Imagination Bilder mit Informationen nach dem Stellen einer Frage erscheinen. Dies scheint ein universell gültiger Prozess zu sein, der von der Wissenschaft seit mehreren Jahrzehnten unterstützt wird und den jeder als mentale Technik erlernen kann. Das würde darauf hinweisen, dass wir im Wesentlichen immaterielle Wesen sind, die mit bisher undenkbaren Fähigkeiten und einer Art Unsterblichkeit ausgestattet sind, zu der auch der Begriff der Reinkarnation gehört. Ein neuer Rahmen zur Beschreibung unserer wesentlichen Natur ist möglich, der zwar für alle zugänglich ist, aber weitgehend vernachlässigt wird. Campbell fleht seine Schüler ständig an: „Seien Sie immer skeptisch!“ Selbst Traumfabriken in Hollywood wie das magische Disney Empire & Co. servieren mit ihren Blockbusterfilmen und -serien sehr solide und überzeugende Vorahnungen, wenn auch etwas verzerrt! Empirische Evidenz belegt jedoch sehr deutlich, dass ein integraler Bestandteil dieses erweiterten Horizonts unseres Seins (Ich bin) die Anerkennung eines erhöhten Niveaus von Achtsamkeit, Altruismus und global angewandten ethischen Praktiken ist. cc

„Dankbarkeit ist notwendig für das wichtigste Geschenk eines jeden Augenblicks, den wir empfangen, auch ohne unsere aktive Teilnahme oder Ge­ danken. Die Momente gehen weiter, einer nach dem anderen.“ (David Steindl-Rast/Wisdom 2.0-­Jahreskonferenz 2014)

Um in diese Bewusstseinserweiterung aufzusteigen, müssen wir – ausgedrückt in der Sprache der modernen Naturwissenschaften – an der Evolution teilnehmen,

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2  Das Problem

indem wir die Entropie reduzieren, die Energie erhöhen und den Ordnungszustand in uns selbst, in anderen Lebewesen und in der Natur insgesamt verbessern. Die Evolution folgt dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass die Entropie in geschlossenen Systemen dazu neigt, gegen unendlich zu gehen. Als Menschen sind wir offene Systeme. Als Baby haben wir eine niedrige Entropie, im Todesfall eine hohe Entropie. Wir, zusammen mit allen anderen und mit unserer gesamten Umwelt, beeinflussen den Verlauf der Entropie. Wir sind in der Lage, die Entropie in uns, in anderen und im System um uns herum als Mission in unserem Leben bewusst zu reduzieren und die Möglichkeit zu erhöhen, dass jeder Mensch sowohl in seiner Umwelt als auch in seinem Sein eine größere Erfüllung finden kann. Sie bezieht uns aktiv in die Evolution mit ein. Dies führt zu einem ethisch und moralisch einwandfreien Umgang mit allen Lebewesen und der Umwelt. Sie führt zu einem Leben der Achtsamkeit und des Mitgefühls, das auf einer Ordnung und Einheit von Körper, Geist (Mind), Seele und Geist (Spirit) beruht. Auf dem oben beschriebenen Weg können wir erkennen, dass jedes Wesen, dem wir begegnen, ein besonderes, einzigartiges Wesen ist, ein Bewusstsein, ein Schöpferbewusstsein oder sogar ein unsterblicher, göttlicher Funken, der sich zu Materie formt, genauso wie wir. Jeder strebt danach, sich selbst zu erkennen und zu entwickeln. Der Hinduismus hat das Konzept von LILA eingeführt, das kosmische Spiel der unsterblichen Götter, in dem die materiellen irdischen Doppelvorstellungen von Gut und Böse und sogar von Leben und Tod abgeschafft werden. Der bewusste Einstieg in die Perspektive von LILA löscht viele Ängste um das Konzept unserer vergänglichen Existenz. Fast jeder, der eine Nahtoderfahrung hatte, bestätigt diese lebensverändernde Offenbarung. Campbell sieht in der Angst auch unsere größte Störquelle. Wie kommen wir aus der Angst heraus? Viele weise und erfahrene geistige Führer geben die gleiche Antwort: Mit der Liebe! Dürr und Panikkar beschäftigen sich in ihrem Buch mit der Frage nach der Natur der treibenden Kraft hinter dem Kosmos (Dürr und Panikkar 2008). cc

„Die Liebe ist die Urquelle des Kosmos.“ (Dürr und Panikkar 2008)

Ähnlich sah Dürckheim das Problem der Angst, die jegliche Liebe verhindert. Er spricht von den drei größten Ängsten, die die Menschen blockieren: • Angst vor der Einsamkeit • Angst vor dem Tod • Angst vor dem Widersinn des Lebens

2.45 Die Annahme von Ungewissheit kann unsere ethischen Praktiken …

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Diese mächtigen Befürchtungen erzeugen Angst. Sie haben eine zerstörerische Wirkung auf unsere Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen und ethisch zu handeln. cc

Angst-Integration ist eine wichtige Aufgabe in unserem Leben.

Angst ist die Hauptquelle für unsere unmoralischen Entscheidungen und unsere Unfähigkeit, ethische Ansätze durchzusetzen. Beim Erwachsenwerden geht es nicht um das Tun, sondern um das Sein. Das Wachstum der Bewusstseinsentwicklung muss auf der Ebene des Seins und nicht auf der intellektuellen Ebene stattfinden. Physik und Metaphysik, Ethik und Moral, Geist und Materie, Normal und Paranormal, Ontologie und Theologie folgen alle den gleichen Regeln und leiten sich aus dem gleichen Grundverständnis ab. Sie alle leiten sich von den ersten Prinzipien ab. Und diese ersten Prinzipien sind im Grunde genommen das, was das Bewusstsein ausmacht. Wie funktioniert das Bewusstsein? Was ist das digitale Informationsfeld des Bewusstseins? Sobald wir die Grundlagen des Bewusstseins verstehen, verstehen wir, dass dieselben Grundlagen uns in Physik und Metaphysik leiten, und dieselben Grundlagen führen uns zu einem Verständnis von Moral und Ethik. Entscheidungen und Handlungen sind ethisch und moralisch, die auf der Senkung der Entropie unseres Lebens beruhen. Auf die Frage, wie wir denn besser ethisch und moralisch einwandfrei handeln können, antwortet Thomas Campbell stets: cc

„Just lower Entropy!“ (Campbell 2018) „Senke die Entropie!“

cc

“Just live gracefully with Uncertainty!“ (Campbell und Lawrence 2020) „Lebe einfach dankbar mit der Ungewissheit!“

Tom Campbell (Campbell und Lawrence 2020) erläutert seine Sicht zu der aktuellen Lage der Covid-19-Pandemie und stellt dar, was wir heute tun können, um die Möglichkeiten innerhalb der täglichen Kämpfe zu bestehen. Diskutierte Themen: • Warum unser tägliches Handeln aus Liebe und nicht aus Angst geschehen muss • Die möglichen positiven Auswirkungen auf lange Sicht

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2  Das Problem

• Warum wir unsere Umstände akzeptieren müssen • Umgang mit mangelnder Kontrolle • Sich unserer täglichen Emotionen bewusst werden. (Dieses Kapitel wurde in Zusammenarbeit mit Dr. Inge Kader, München/ Deutschland, entwickelt).

2.46 Radius zum Ethikbruch Wie stabil sind unsere ethischen Grundsätze? Einzelpersonen und Unternehmen leben in ihrer Komfortzone. Wenn das Leben reibungslos verläuft, kann diese Zone als mitten in ihrem Lebenskreis betrachtet werden, wo grob unethisches Verhalten nicht erforderlich ist oder zumindest nicht ohne Weiteres ersichtlich ist. Aber wenn ein Individuum oder das Kollektiv, das im Mittelpunkt steht, dazu gedrängt wird, Risiken am Rande seines Lebenskreises einzugehen, wird ethisches Verhalten plötzlich über Bord geworfen. Den Radius vom bequemen Mittelpunkt des eigenen Lebenskreises bis zum äußeren Rand der Stabilität der Ethik nenne ich „Radius zum Ethikbruch“ (REB), Grenze zur ethischen Bruchstelle. Die Belastbarkeit von Einzelpersonen und Unternehmen ist unterschiedlich. Meiner Erfahrung nach ist der REB direkt proportional zum Zustand der inneren Reife. Je weiter die Entwicklung der Individuation im Jung’schen Sinne oder je tiefer die Verinnerlichung der Gotteserfahrung, desto größer ist der REB. Es ist die Widerstandsfähigkeit und die Bewahrung der Ethik, die man durch Individuation, geistige Ganzheit und eine persönliche Gotteserfahrung erwirbt, die den REB bestimmt, nicht ethische Richtlinien, Ethikseminare oder die Verhängung von Gesetzen. Rationale Unternehmensentscheidungen im Bereich der Ethik sind nur von sehr begrenztem Nutzen. Wenn persönliche, spirituelle Entwicklung nicht unternommen wird, kommt es zu ethischen Verletzungen, selbst im Umkreis von null, wenn z. B. Gier unsere Entscheidungen prägen kann. Das können wir jeden Tag in den Medien miterleben. Aus diesem Dilemma können wir nur dann herausgehen, wenn wir als Individuen und als Teil eines Kollektivs aktiv an der Erweiterung des Radius mitwirken. Man handelt in der Außenwelt immer in Übereinstimmung mit der inneren Reife, bewusst oder unbewusst. Der „Königsweg“ ist ein Weg des „inneren Wachstums“, jede unethische Praxis ist ein Spiegelbild mangelnder innerer Reife.

2.47 Ausblick 2035 – das Problem wird größer

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2.47 Ausblick 2035 – das Problem wird größer Auch wenn die Zukunft völlig unbestimmt ist, weil sie noch nicht da ist, kann man mit modernen dynamischen Computersimulationsmodellen versuchen, sich der wahrscheinlichsten Zukunft anzunähern. Die mangelnde Ethik und Unmoral in der Wirtschaft werden sich aufgrund der Globalisierung und Digitalisierung beschleunigen und größeres Ausmaß annehmen. Mein Freund Thomas Arzt hat mir die neueste Veröffentlichung des Atlantic Council Global Risks 2035 Update – Decline or New Renaissance (Burrows 2019), an der er maßgeblich mitgewirkt hat, zur Verfügung gestellt, die ich übersetzt habe und aus der ich jetzt zitiere. Dieser Bericht lässt uns ahnen, wie die Zukunft aussehen könnte: „Globale Risken 2035 – Schlussfolgerung, Vorausblick mit Rückblick Angesichts der in diesem Bericht genannten möglichen Szenarien gehen wir davon aus, dass unsere Epoche der geostrategischen und geotektonischen Verschiebungen noch viele weitere Jahre andauern wird. Wir alle müssen die ,zugrunde liegenden Kräfte‘ der Geschichte untersuchen, die offensichtlich am Werk sind, und erkennen, dass ein historischer Rhythmus zu Ende geht, und die Welt heute vor gewaltigen ­Herausforderungen wie dem Klimawandel, der Rückkehr des Staat-gegen-Staat-­ Konflikte und dem Ende des sozialen Zusammenhalts mit zunehmender Ungleichheit steht. Ohne eine politische, intellektuelle und, wie einige sagen, spirituelle Renaissance werden wir nicht in der Lage sein, gemeinsam (in Frieden und gegenseitiger Wertschätzung) in die Zukunft zu gehen. Eine solche verwandlungsbedürftige Welt wurde bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts von vielen Denkern, Dichtern und Philosophen beschrieben: Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) (Nietzsche 2005) erwartete eine kommende Periode des Nihilismus und der Geburt des Letzten Menschen, nämlich lebensmüde Mitglieder der Gesellschaft, die kein Risiko eingehen, und nur Vergnügen, Komfort und Sicherheit suchen. Die modernen Gesellschaften der Zukunft werden auf einen Zustand ausgerichtet sein, in dem es keine außergewöhnlichen Menschen mehr geben wird, Menschen, die Schöpfer und Gesetzgeber neuer Werte sein könnten. Der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung (1875–1961) widmete sein ganzes Lebenswerk der Analyse der Epoche des Christentums, die in unserer Zeit nach 2000 Jahren zu Ende geht. Nur ein neuer Mythos des Sinns, der das spirituelle Unwohlsein und den Nihilismus postmoderner Massengesellschaften überwinden könnte, würde den Niedergang, in dem sich unsere Zivilisation heute befindet, umkehren.

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2  Das Problem

Unter Bezugnahme auf sein Gesetz der Herausforderung und Antwort wies der britische Historiker Arnold Toynbee (1889–1975) (Toynbee 1949) darauf hin, dass Zivilisationen zerfallen, wenn ihre Führer aufhören, kreative Antworten zu finden, und die Zivilisationen dann aufgrund von Nationalismus, Militarismus und der Tyrannei einer despotischen Minderheit im Sinkflug sind. Zivilisationen wachsen, wenn sie kreativ auf Herausforderungen reagieren. Toynbee glaubte, dass Gesellschaften immer an Selbstmord oder Mord sterben und nicht an natürlichen Ursachen und fast immer an Selbstmord. In seinem 1992 erschienenen Bestseller Das Ende der Geschichte und der letzte Mensch behauptet Francis Fukuyama (1992), dass das Aufkommen der westlichen liberalen Demokratie den Endpunkt der soziokulturellen Evolution der Menschheit und die finale Form humaner Regierungen signalisieren könnte. Bei dem Rückbezug auf Nietzsches Letzten Mensch scheint Fukuyamas Hauptsorge zu sein, ob in der Zukunft, die er für eine kapitalistische und technologische Utopie hält, wir alle selbstgefällig und selbstsüchtig werden, und zu Männern zurückkehren werden, die blutige und sinnlose Kämpfe führen. Die Hauptmerkmale unserer postmodernen Zeit ist das Fehlen einer neuen globalen Metanarrative, die über die Vor- und Nachteile der Globalisierung hinausgeht und Industrie- und Entwicklungsländer in einer gemeinsamen Mission zur Lösung der existenziellen Herausforderungen des Klimawandels, sowie mehr und mehr tödlicher Konflikte und des Fehlens von sozialem Zusammenhalt, zusammen bindet.“ (Burrows 2019)

cc

Wir brauchen eine neue globale Metanarrative.

Diese Schlussfolgerungen drängen uns zu einer neuen Ethik. Es geht um die Frage „wie der Mensch der Postmoderne seinen egozentrischen Fokus, der nur auf das Denken und Machen reduziert ist, aufgibt und endlich zu einem guten moralischen Umgang mit allen Wesen und der Natur findet“. Wer ist zur Änderung aufgerufen? Es sind die lebensmüden Mitglieder der Gesellschaft, die kein Risiko eingehen, und nur Vergnügen, Komfort und Sicherheit suchen, wie Nietzsche das Dilemma auf den Punkt bringt. Es sind die selbstgefälligen und selbstsüchtigen Menschen, wie Fukuyama meint. C. G. Jung mahnt einen neuen Mythos des Sinns an. Es gibt seit vielen Jahren Organisationen und Bewegungen, die sich für den Erhalt unserer Erde und für ein mitfühlendes Miteinander einsetzen. Die Aktion Fridays for Future zeigt den Unmut der jungen Generation, die sich gegen die unmoralische Zerstörung unserer Umwelt wehrt und mit Macht an Einfluss gewinnt. Der zunehmende Einfluss auf die ältere Generation führt bereits zu Veränderungen, nicht weil man einsichtig ist, sondern weil man nun muss, um die Zukunft der Wirtschaft nachhaltig zu gestalten. Edward Edinger geht in seinem Buch The Creation of Consciousness auf den Verlust des Mythos ein und sieht als Folge den Verlust des Sinns einer Gesellschaft. Es geht ihm um das Erschaffen eines neuen persönlichen Mythos, der dann das Kollektiv zu einem neuen Mythos führen kann, wenn genügend Menschen beteiligt sind:

2.48 Sophia Gaia – der neue Mythos für mehr Ethik und Moral

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„Dem sensiblen Zeitgenossen ist es offenkundig, dass die westliche Gesellschaft keinen tragenden und lebendigen Mythos mehr besitzt. In der Tat nähern sich alle großen Weltkulturen mehr oder weniger dem Zustand der Mythenlosigkeit. Der Zusammenbruch eines zentralen Mythos entspricht dem Zerschlagen eines Gefäßes, welches eine kostbare Substanz enthält. (…). Der Sinn geht verloren.“ (Edinger 1984, S. 9) „ (…) so wie Jungs Feststellung, dass sein eigenes Leben ohne Mythos die mythenlose Zeit der modernen Gesellschaft widerspiegelt, so wird Jungs Entdeckung seines ganz persönlichen Mythos die Bedingung darstellen zur Entwicklung eines neuen, kollektiven Mythos. (…) Es wird heute langsam deutlich, dass die Transformation des Gottesbildes nicht nur eine interessante Idee ist, sondern eine lebendige Realität, die einen neuen Mythos hervorbringt. Wer auch immer diesen Mythos als seine persönliche Realität anerkennt, wird sein Leben in den Dienst dieses Prozesses stellen. Ein solches Individuum wird zum Gefäß für die Inkarnation der Gottheit und fördert dadurch die Transformation des Gottesbildes, in dem er diesem eine menschliche Manifestation erlaubt.“ (Edinger 1984, S. 112–113)

2.48 S  ophia Gaia – der neue Mythos für mehr Ethik und Moral Uns auf den Weg der Bewusstseinserweiterung zu begeben, einen der vielen ernsthaften Wege zu beschreiten, darum geht es. Aber es fehlt uns das Leitbild, das uns aus den lebensbedrohenden Krisen hinausführt. Der Mythos für unsere Zukunftsorientierung könnte aus meiner Sicht auch gleichermaßen Gaia, die personifizierte Erde, die Muttergottheit, die alles Lebende hervorbringt und ernährt, sein. Den Menschen, die derzeit auf die Straße gehen, liegt der Erhalt unserer Erde doch sehr am Herzen. Gaia Naturans habe ich den Mythos in meinem Vortrag anlässlich der 110. Jahrestagung der Humboldt-Gesellschaft zur Feier des 250. Geburtstags von Alex­ ander von Humboldt am 5. Oktober 2019  in Berlin genannt (Meyer-Galow 05.10.2019). Kristian Köchy schreibt zu Alexander von Humboldt und die große Mutter Natur: „Wenn Humboldt in der ‚Zeitung für die elegante Welt‘ 1808 seine eigenen ,Ansichten der Natur‘ anonym bewirbt, dann lobt er sich ‚unter den Naturforschern und Naturphilosophen neuerer Zeit‘ als denjenigen, der ‚die Masse der Erscheinungen zu einer Totalität zu verbinden weiß‘ und dabei nie den Weg von Erfahrung und Beobachtung verlässt. Alles kommt ihm auf den Zusammenhang an. So versteht er seinen Ansatz einer Erdbeschreibung 1806 als in der Mitte stehend zwischen zwei falschen Extremen, der ‚kleinlichen, oft geistlosen Behandlung des Einzelnen‘ und der ‚kühnen, aber willkürlichen und naturwidrigen Behandlung des Allgemeinen‘. In dieser Hinsicht, so die Selbstwürdigung von 1808, sei er ein ‚Priester der Natur‘. Wer

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2  Das Problem

möchte nicht von so einem Führer geleitet, in die Geheimnisse der gütigen und großen Mutter eingeweiht werden, aus deren Schoß wir hervorgingen, in deren Schoß wir wieder zurückkehren.“ (Köchy 2019, S. 10)

Da ist sie die Gaia. Nach einem Traum während der Jahrestagung der Humboldt-Gesellschaft muss ich den Mythos erweitern (Meyer-Galow 06.10.2019). Ich sah, wie unzählig viele Menschen die Erde retten wollten. Sie rennen in verschiedene Richtungen, streiten sich und finden keinen Konsens. Nehmen Sie nur die Klimakonferenzen. Am Horizont erscheint Sophia. Alle schauen auf sie und erwarten Führung aus dem Chaos hinaus. Bei allem Bemühen um die Rettung der Erde fehlt die Weisheit, Lösungen zu finden, die von so vielen getragen werden, dass sie auch nachhaltig umgesetzt werden. Wir müssen umschwenken vom ständigen Entweder oder zum konsensfähigen Sowohl-als-auch. Es ist dringend an der Zeit, dass wir auch den Sophia-Mythos (Sophia – alttestamentarische Göttin der Weisheit) wiederbeleben. In ihrer ursprünglichsten Form gilt Sophia als Schöpferin allen Lebens, aus der ihre männliche Ergänzung geboren wurde. Also mein Vorschlag ist es,

cc

Sophia Gaia als den neuen Mythos für unsere Zeit zu nehmen. Sophia als Vorname und Gaia als Nachname.

Wem heute der Begriff Gaia als zukünftiges Leitbild zu mythisch ist, der kann auch das Konzept zum Erhalt unserer Erde als unsere Lebensgrundlage modern wie der Philosoph Ivan Krastev Ökologischen Universalismus nennen, der nun auf den Liberalen Universalismus folgt (Krastev und Holmes 2019). Altmeiers europäische Cloud soll Gaia heißen. Ist das ein erstes Zeichen? Ich bin bis jetzt nicht davon überzeugt, dass bei der Wortschöpfung Menschen dahinterstehen, die wirklich wissen, was Gaia für eine Verpflichtung ist, geschweige denn, wie man Gaia lebt. Wir sollten aufhören, in einer klassischen Projektion, die aus unserer eigenen Dunkelheit kommt, immer nur die anderen zu kritisieren und aufzufordern sich zu ändern. Diffamierung und Verletzung anders Denkender sind an der Tagesordnung. Wir müssen erst

2.49 Alexander Gerst – seine Botschaft aus dem Weltrauml

cc

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Innen wachsen und danach außen wirken und leben für eine Verbesserung der Welt, sonst verhallen alle Appelle in einem dunklen Loch. In dieser Weisheit muss jeder Einzelne wachsen lernen, und nur so können wir unsere kindliche Sozialisation überwinden, in der wir immer noch stets Recht haben wollen, gelobt werden wollen und den anderen immer die Schuld geben. Nur dann wächst das Kollektiv in gleicher Weisheit. Es geht mir also nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um Wirkung in der Welt, in der wir leben.

Sobald wir erkennen, dass alles mit allem verbunden ist und in Resonanz mit der ganzen Natur steht, wie die Quantenphysik uns lehrt, kann man nicht umhin, nicht weil man muss, sondern gar nicht anders kann, sich ethisch und moralisch einwandfrei zu verhalten, es sei denn, unsere dunkle Seite zerstört unsere guten Absichten. Welche Lösungen bieten sich an, das Problem der mangelnden Ethik und Unmoral zu lösen?

2.49 A  lexander Gerst – seine Botschaft aus dem Weltraum Für unseren Astronauten Alexander Gerst, dem die Humboldt-­Gesellschaft im nächsten Jahr bei der Jahrestagung in Friedrichshafen die Goldene Medaille verleihen wird, offenbart der Blick aus dem Weltall, dass der Mensch für die Erde nicht wichtig ist. Vielmehr sei das Verhältnis umgekehrt, sagt der Astronaut dem Evangelischen Monatsmagazin Chrismon: cc

„Wir Menschen können ohne dieses Ökosystem nicht überleben“, erklärte der 42-Jährige in einem Interview vor seinem Abflug zur ISS. „Es ist relativ klar, dass die Erde uns überleben wird“, sagt er weiter. „Die Frage ist, wie wir Menschen das anstellen, dass die Erde weiterhin bewohnbar bleibt.“ Gerst macht sich gerade aus der großen Entfernung Sorgen um den Planeten und die Zukunft der Menschen. „Wer da oben ehrlich ist, sieht, wie fragil das Ökosystem der Erde ist, mit einer hauchdünnen Atmosphäre drumherum.“ (Gerst 2018)

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2  Das Problem

Alexander Gerst erhält die Goldenen Medaille der Humboldt-Gesellschaft für sein Engagement für unseren Planeten und das Leben sowie für seine herausragende Wissenschaftskommunikation, die auch Alexander von Humboldt so perfekt beherrschte. Wie sagt Alexander von Humboldt in seinem Brief an Ludwig Bollmann? cc

„Ideen können nur nützen, wenn sie in vielen Köpfen lebendig werden.“ (von Humboldt 1799, S. 39)

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3

Die Lösung

3.1

 ie Entwicklung unseres inneren D Wachstums ermöglichen

In den folgenden Kapiteln werden mögliche Individuationswege zur Erleichterung des inneren Wachstums grundsätzlich erläutert und kurz diskutiert. Die weiterführende Lektüre spezifischer Themen kann dann detaillierte Beschreibungen für interessierte Leser enthalten. Inneres Wachstum ist eine Voraussetzung für ethisches Bewusstsein. Wir müssen immer die Initiative zur Veränderung durch das gesteigerte Bewusstsein, das sich aus einem erweiterten Bewusstsein ergibt, auf uns nehmen. Es gibt nur einen Weg, wie wir in der VUCA-Welt der verlorenen Orientierung überleben können. VUCA ist ein Akronym für die englischen Begriffe Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity (deutsch Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit). Wichtig ist, dass wir unser inneres Wachstum zulassen lernen. Wir können es nicht erzwingen, aber wir können es durch stetige Übungen mitunter erleichtern. Wir müssen das Wort Orientierung ernst nehmen (vom Lat.: oriri, sich erheben) und zurückkehren zu unserer Ganzheit als Kind, um die Einheit von Körper, Geist, Seele und Geist zu umarmen. Das ist schwierige Verstandesarbeit, Seelenarbeit und Geistarbeit. Die Folgen, wenn man diese Arbeiten vermeidet, können katastrophal sein. Die persönliche Einheit, die sich aus den folgenden sieben Praktiken ergibt, wird den Aufbau einer starken und belastbaren Grundlage für ethisches Verhalten erleichtern: © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Meyer-Galow, Business Ethik 3.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30786-8_3

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• • • • • • •

3  Die Lösung

Erdung unseres Egos in unserem Selbst. Brücken zu unserer Seele bauen. Die Balance zwischen Mann und Frau in uns selbst. Begrüßung der Rückkehr von Sophia. Vermeidung der Unterdrückung und/oder Verdrängung unserer dunklen Seite. Unsere dunkle Seite annehmen und integrieren. Meditieren und sich ermutigen, damit unsere inneren Werte wachsen.

Pete Geissler und Bill O’Rourke ermutigen uns mit der folgenden Erklärung: Du kannst Ethik-Botschafter werden; beginne mit dir selbst, erweitere dich auf andere. (Geissler und O’Rourke 2015) C. G. Jung hat oft gesagt, dass inneres Wachstum immer eine psychische Spannung voraussetzt, sonst passiert nichts. Eine Lebenskrise ist immer eine große Wachstumsdynamik. Es bedarf einer Krise, in der wir nicht bleiben, sondern sie lösen wollen, um voranzukommen. Inneres Wachstum tritt nur dann auf, wenn das Leiden zu viel ist, um es zu ertragen. Dann beginnt das Wachstum mit Sehnsucht und Begehren. Wenn wir, wie Herder sagte, Invaliden einer höheren Macht sind, dann kann unsere Sehnsucht und der Weg des inneren Wachstums zu unserer Heilung führen. Unsere ansonsten starre Maske wird durchlässig für unsere innere Essenz. Erst dann erreichen wir Ganzheitlichkeit. Das ist der einzige Weg, um unsere Trennung von den Numinosen zu beenden. Unsere Seele hilft uns. Wenn wir in der Lage sind, Brücken zu unserer Seele zu bauen, dann wird sie zu einem Wegweiser zu unserem Unbewussten, zu unserer großen Quelle der Kraft und Stärke, die unserem Ich-­ Geist verschlossen bleibt. Soren Gordhamer (Gordhamer 2013, S.37) bezieht sich auf die innere Reise, wenn er sagt, dass Search Inside Yourself, wie es von Chade-Meng Tan gelehrt wird, ein Kurs in Achtsamkeit sei, der oft als The Zen of Google bezeichnet wird. Es helfe vielen Mitarbeitern, mit ihrer beschleunigten Arbeit bewusst und gelassen umzugehen und nicht mit stressiger Reaktionsfähigkeit. Chade-Meng Tan sei sich zweifellos bewusst, dass sich in der heutigen Zeit alles schnell auf der ganzen Welt ausbreitet, was sowohl für den Einzelnen als auch für das Geschäft gut sei. Die Medienunternehmerin Ariana Huffington, eine der führenden Persönlichkeiten der Wisdom-2.0-Bewegung, sagte, dass alles, was sowohl für den Einzelnen als auch für amerikanische Unternehmen gut sei, von Wert ist. Persönliches Glück sei mit geschäftlichem Erfolg verbunden. Meditation löse die Spannung zwischen persönlichen und geschäftlichen Zielen und beuge Symptomen wie Burn-out, Depression, Angst und Isolation vor oder lindere sie. Soren Gordhamer zitiert Tony Hsieh, den CEO von Zappos:

3.1  Die Entwicklung unseres inneren Wachstums ermöglichen

cc

165

„Die größte (und härteste) Lektion, die ich in meinem Leben gelernt habe, ist, dass die Außenwelt nur ein Spiegelbild der Welt im Inneren ist.“ (Gordhamer 2013, S. 37)

Das heißt, wenn wir innerlich wachsen, werden wir äußerlich wachsen. Wir werden es langsam spüren. Es entwickelt sich in kleinen Schritten. Auch unsere Umwelt wird es spüren. Das innere Wachstum ist das Ergebnis einer tiefenpsychologischen Individuation und/oder einer spirituellen Suche. Dürckheim betonte oft die Wichtigkeit beider Wege. Beide können das heilen, was wir seit unserer frühen Kindheit verloren oder sogar von unseren Vorfahren geerbt haben und als Erwachsene müssen wir sie jetzt uns wieder holen: unsere Ganzheit.

3.1.1 Wachstum durch Individuation Kürzlich, nach einem Vortrag von Brigitte Dorst, Professorin für Tiefenpsychologie und Sufismus in Münster, fragte ich sie, warum sie sich sowohl der Tiefenpsychologie als auch dem Sufismus verschrieben hat. Sie antwortete: „Tiefenpsychologie kann dich zur Tür Gottes führen!“ Es geht immer darum, uns mit dem Numinosen zu verbinden und so die Wunden zu heilen, die durch unsere Trennung von ihm entstanden sind. Es gibt viele Wege, wie diese Heilung beginnen kann, und viele Wege für ihre weitere Entwicklung. Im Folgenden werde ich mich auf Individuation und spirituelle Praktiken konzentrieren. Sie möchten vielleicht andere Wege gehen, aber es ist wichtig, einen Weg der Heilung einzuschlagen, denn er ist eine Voraussetzung für uns alle, damit wir zu nachhaltigen moralischen Entscheidungen und ethischen Praktiken geführt werden können. Es ist wichtig, dass wir eine Versöhnung mit unserer dunklen Seite erreichen, wie sie zuvor von Schwery (2008) dargestellt wurde. Wir müssen vollständige Individuen werden, eine dynamische, ausgewogene Integration von Körper, Geist (Mind), Seele und Geist (Spirit). Inneres Wachstum kann nicht durch unseren ra­ tionalen Verstand oder durch unsere Emotionen erreicht werden, es findet im trans-psycho-geistigen Aspekt unseres Seins statt. Die Überwindung unserer Ich-­ Zentriertheit ist ein wesentlicher erster Schritt, der durch Übungen erreicht werden kann, die hauptsächlich auf der Transzendenz basieren, die durch das Loslassen von Gedanken und Gefühlen ausgelöst wird. Dies steht im Einklang mit der Beobachtung von C.  G. Jung, dass die Trennung vom Numinosen die Ursache aller Krankheiten war.

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3  Die Lösung

Wolfgang Berger knüpfte in seinem Buch Business Reframing an die Beobachtung von Jung an (Berger 2013). Er ist der Ansicht, dass diese Trennung nicht nur der Grund für psychische Erkrankungen sei, sondern dass das fehlende Bewusstsein für unsere Einheit mit der gesamten Menschheit auch zum Verlust unseres moralischen Zentrums und ethischen Handelns geführt habe.

3.1.1.1 Was ist Individuation? Die folgenden Definitionen sind einer Veröffentlichung des Jungian Center for Spiritual Sciences (2020) entnommen: Individuation ist ein Begriff, der oft mit Jung und seiner Psychologie in Verbindung gebracht wird. Das Wort kommt vom Lateinischen individuus, was ungeteilt oder individuell bedeutet. Das Wörterbuch definiert „Individuation“ als „den Prozess“, der zur individuellen Existenz führt. Diese Definition gilt sowohl für Tiere als auch für Menschen. Jungs Gebrauch konzentrierte sich auf den Menschen und das Konzept wurde zum zentralen Bestandteil seines psychologischen Ansatzes. Jung erkannte die Bedeutung, die er der Individuation beimisst, da sie in seiner Psychologie eine große Rolle spielt. Im Allgemeinen ist es der Prozess, durch den individuelle Wesen gebildet und differenziert werden, insbesondere ist es die Entwicklung des psychologischen Individuums als ein Wesen, das sich von der allgemeinen, kollektiven Psychologie unterscheidet. Individuation ist also ein Prozess der Differenzierung mit dem Ziel, die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit zu fördern. In späteren Jahren erweiterte Jung seine Definition in einer Reihe von Essays, in denen er Individuation definiert: • Der Prozess, durch den eine Person zu einem psychologischen Individuum wird, das eine separate, unteilbare Einheit oder ein Ganzes ist. • Die bessere und vollständigere Erfüllung der kollektiven Eigenschaften des Menschen. • Praktisch gleichbedeutend mit der Entwicklung des Bewusstseins aus dem ursprünglichen Zustand der Identität. Es ist also eine Erweiterung der Bewusstseinssphäre, eine Bereicherung des bewussten psychologischen Lebens. • Ein Individuum zu werden, und insofern Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichliche Einzigartigkeit umfasst, bedeutet es auch, sich selbst zu werden. Wir könnten Individuation daher übersetzen als zur Selbstverwirklichung kommen oder Selbstverwirklichung. Jung empfand diesen Prozess der Selbstverwirklichung als natürliche Transformation, als etwas, dass das Unbewusste im Sinn hatte, als etwas, das unsere individuelle Persönlichkeit entwickeln sollte.

3.1  Die Entwicklung unseres inneren Wachstums ermöglichen

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Jung betrachtete Individuation auch als eine Lösung für eines der Hauptpro­ bleme des modernen Menschen: Wie verbindet man das Bewusstsein mit dem Unbewussten, wie bringt man den Ego-Geist (das individuelle Bewusstsein) in eine Arbeitsbeziehung mit unserer inneren Terra incognita, unserem unbekannten inneren Terrain. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem war nicht nur Jung vorbehalten: Vor Tausenden von Jahren hatten auch taoistische und buddhistische Praktizierende seine Bedeutung erkannt. Jung erkannte dies, als er bemerkte, dass der Individualisierungsprozess eines der Hauptinteressen des Taoismus und des Zen-Buddhismus ist. Aus christlichem Hintergrund und als Sohn eines evangelischen Pfarrers erkannte Jung auch eine christliche Relevanz für das Konzept, als er die Individuation als die primitive christliche Idee des Himmelreichs, das in dir ist, beschrieb. Jung war sich bewusst, dass die westliche Kultur den Individualismus als eine der wichtigsten Formen des Individualismus bezeichnet und bemühte sich, den Unterschied zwischen Individualismus und Individuation zu betonen. Das frühere Konzept ist egoistisch und fördert Egoismus und mangelnde Rücksichtnahme auf andere. Individuation ist genau das Gegenteil: In den Jahren der inneren Arbeit, die der Prozess erfordert, erleben wir immer wieder Kreuzigungen unseres Ichs, wenn es Inhalte unseres Unbewussten konfrontiert und assimiliert. Dieser langfristige Prozess bringt ein Bewusstsein der menschlichen Gemeinschaft zur Welt, gerade weil er uns das Unbewusste bewusst macht, das die ganze Menschheit eint und gemeinsam ist. Die Individuation ist ein Einssein mit sich selbst und gleichzeitig mit der Menschheit, da man selbst ein Teil der Menschheit ist. Weit davon entfernt, selbstsüchtig zu sein, fühlt sich eine individuierte Person tiefer in der Verantwortung, andere zu unterstützen und ihnen zu dienen und Frieden, Ganzheit und Integrität in der Welt zu fördern.

3.1.1.2 Anforderungen an den Individuationsprozess Die Erwähnung der Kreuzigung des Egos bringt das Thema der Individuation zur Sprache. Es ist eine Herausforderung, eine Aufgabe für Helden, nichts für schwache Nerven oder für diejenigen, die nicht gegen die Menge bestehen und anders sein können. Divisio (Trennung nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst), separatio (Trennung nicht nur von der Familie, Freunden und der kollektiven Gesellschaft, sondern auch von der Person, die man früher war), solutio (Beobachtung der Auflösung der Strukturen des eigenen Lebens), Diskriminierung, Selbsterkenntnis, eine positive Folter, das sind nur einige der Schwierigkeiten, ­denen man sich in dieser Arbeit gegenübersieht. Jung warnte, dass jeder Schritt auf dem Weg der Individuation nur auf Kosten des Leidens geht.

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3  Die Lösung

Warum diese Schwierigkeit? Jung nennt mehrere Gründe. Erstens wachsen wir unter der Leitung unserer Eltern und unserer Gesellschaft auf und streben danach, das zu werden, was von uns erwartet wird und das Ergebnis ist das, was Jung die Entwicklung der Persona oder Maske nannte. In vielen Fällen ist die Persona nicht unser wahres Selbst. Wir mussten Kompromisse eingehen, uns anpassen, ja sogar im Extremfall unsere authentische Natur verraten. Der Prozess der Individuation erfordert es, diese Maske transparent zu machen; das heißt, wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass wir seit Jahren (wenn nicht Jahrzehnten) eine Lüge leben. Und dann müssen wir diese Lüge aufgeben, die Maske ablegen und anfangen, unser Leben zu verändern, um in größerer Übereinstimmung mit unserem authentischen Wesen zu leben. Eine solche Veränderung ruft fast zwangsläufig Bemerkungen (vielleicht sogar Proteste) von denen hervor, die uns am besten kennen, die am tiefsten in das, was wir einmal waren, investiert haben, die wahrscheinlich am stärksten von unserer Verschiebung der Parameter des täglichen Lebens betroffen sind, einschließlich unserer Familie und unserer engsten Freunde. cc

Die Individuation ist heroisch, weil es schwer ist, anders zu sein, aus der konventionellen Realität des Mainstreams herauszutreten. Die Arbeit ist kein Herdenphänomen. Wir werden nicht viele Leute finden, die dies tun.

Aus diesem Grund finden Extrovertierte, die dazu neigen, mit dem Kollektiv einig zu sein und Gruppenaktivitäten schätzen, den Prozess schwieriger als Introvertierte. Eine dritte Schwierigkeit ergibt sich aus der Selbsterkenntnis, die Teil des Prozesses ist. Selbsterkenntnis bedeutet, sich des Unbewussten bewusst zu werden: sich unserem Schatten zu stellen und sich der Realität unseres inneren Partners, des Animus (für Frauen) oder der Anima (für Männer), bewusst zu werden. Die Arbeit der Individuation führt uns durch die Sümpfe der Seele. Das Unbewusste bestimmt die Haltung, die wir zu ihm einnehmen. Es dauert für die meisten Menschen eine Weile (wenn überhaupt), um eine fröhliche Haltung gegenüber dem Unbewussten zu entwickeln. Nun, man kann sich fragen, wozu die Mühe? Ja, Jung legt großen Wert darauf, in den Prozess der Individuation einzutreten, aber wenn es so schwierig ist, warum sollte man sich dann anstrengen? Weil es unser Leben unermesslich reicher machen wird, und durch uns die ganze Welt davon profitieren wird.

3.1.1.3 Die Vorteile der Individuation Meiner Ansicht nach lohnt es sich sehr, die Vorteile der Individuation ausführlicher darzustellen. Jung hat ausdrücklich erklärt, dass die Arbeit der Individuatio absolut

3.1  Die Entwicklung unseres inneren Wachstums ermöglichen

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unerlässlich ist, denn durch die Kontamination mit anderen fallen wir in Situationen und begehen Handlungen, die uns in Disharmonie mit uns selbst bringen. Es entsteht ein Zwang, zu sein und zu handeln, der unserer eigenen Natur widerspricht. Dementsprechend fühlen wir uns selbst in einem erniedrigenden, unfreien, unethischen Zustand. Befreiung von diesem Zustand wird nur dann kommen, wenn wir sein und handeln können, wie wir fühlen, dass wir mit unserem wahren Selbst konform sind. Konsequentes und fast müheloses Handeln in Übereinstimmung mit unserem wahren Selbst ist sowohl befreiend als auch ungeheuer ermächtigend. Dies allein macht die persönliche Verpflichtung, Individuation zu erreichen, überwältigend nutzbringend. Es gibt noch andere persönliche Vorteile. Wenn wir auf dem Weg bleiben und die Arbeit beharrlich fortsetzen, kommen wir in den Genuss eines erweiterten Bewusstseins. Unser Gefühl von Trennung endet und wir gewinnen breitere, intensivere Beziehungen zu anderen. Wir erleben auch die Wiederherstellung oder Rekonstitution unseres Wesens, die unsere schwierigen Bemühungen als lohnenswert erscheinen lässt. Das Leben funktioniert besser. Wir fühlen tief in unseren Knochen, dass das, was wir tun, wie wir leben, mit wem wir leben (unser neuer Freundeskreis), das ist, was unsere Seele für uns beabsichtigt. Die Qualität der Menschen, die wir in unser Leben einbeziehen, ist besser. Unsere Werte passen zu unserem Lebensstil und unsere Handlungen sprechen für den Zweck unserer Seele. Wir fühlen uns von der Bewusst­ losigkeit unserer Eltern befreit, was uns erlaubt, ein echtes Gefühl wahrer Individualität zu empfinden. Während wir ein größeres Gefühl der Freiheit von unserer Vergangenheit erfahren, erleben wir gleichzeitig auch eine absolute, verbindliche und unauflösbare Gemeinschaft mit der Welt im Allgemeinen. Immer wieder betonte Jung in seiner Arbeit, dass es auf den Einzelnen ankommt. Jeder von uns könnte der Unterschied sein, der die Waage kippt, und so werden wir bei der Übernahme der Aufgabe, jeden Einzelnen von uns zu individualisieren, eine Heilung mit universeller Wirkung zu unternehmen, ein unendlich kleines Gramm in die Waage der menschlichen Seele legen. Angesichts des kritischen Charakters unserer Zeit würde Jung keine andere individuelle Tätigkeit für sinnvoller halten.

3.1.2 Unseren Träumen zuhören Methoden der modernen Tiefenpsychologie umfassen die Arbeit mit Mythen, Fabeln, Bildern, Träumen und Imaginationen. Jung empfahl uns nach seiner Erfahrung, unseren Träumen zuzuhören. Wir alle haben Träume. Wovon haben Sie in

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3  Die Lösung

letzter Zeit geträumt? Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr, aber Ihr Traumregisseur will Ihnen etwas sagen! Es ist etwas Wichtiges für Ihr Leben. Ich ermutige Sie, auf Ihre Träume zu achten. Der Traumregisseur kann Ihnen vielleicht viel besser helfen als Ihr Arzt. Jeder träumt. Aber leider kann sich nicht jeder morgens an seine Träume erinnern. Man muss beschließen, sich zu erinnern. Träume enthalten wichtige Botschaften für uns, während wir auf unserem Weg zum inneren Wachstum sind. Ihr Studium ist sehr wichtig für den Individuationsprozess. Träume sollte man sofort aufschreiben oder malen und darüber reflektieren. Jungs Traumtheorie ist die wichtigste Traumtheorie der modernen Tiefenpsychologie. Träume sind für ihn der direkte Ausdruck der aktuellen Situation des Individuums. Jung sagte (Jung 1967a, S. 505), dass die Natur unserer Träume eine spontane, symbolische Selbstdarstellung der aktuellen Situation im Unbewussten seien. Träume sind voller Symbole, Bilder und Metaphern. Sie sprechen zu uns in der Sprache des Unbewussten, in ungehemmten Symbolen und Ausdrücken. Weil wir in unserem Wachbewusstsein anders sprechen, ist die Sprache unserer Träume sehr schwer zu verstehen. Vielleicht brauchen wir die Hilfe eines Jungianers. Träume stellen die äußere und innere Welt dar. Gedanken und Gefühle der Psyche entstehen. Nach Jung haben Träume zwei Funktionen. Erstens gleichen sie Ungleichgewichte in der Psyche der Träumer aus. Es entstehen unbewusste Inhalte, die wir ignoriert, verdrängt, unterdrückt oder verunglimpft haben. Wenn wir lernen, diese Inhalte zu akzeptieren und zu erkennen, erreichen wir ein größeres psychologisches Gleichgewicht. Zweitens liefern sie prospektive Bilder für die Zukunft. Träume sind zwar keine Indikatoren für die Zukunft, aber sie können uns den Vorschlag möglicher Eventualitäten unterbreiten. Jung (Jung 1967b, S. 352) war der festen Überzeugung, dass Träume den wichtigsten Entwicklungsprozess in unserem Leben, die Individuation, die Vereinigung von Bewusstsein und Unbewusstem zu einem gesunden und harmonischen Ganzheitszustand befördern. Individuation ist für Jung die vollständige Verwirklichung des ganzen Menschen. Träume beinhalten nicht nur persönliche Themen, sondern auch die des kollektiven Unbewussten. Träume enthalten sogenannte Archetypen, universelle psychische Bilder wie den Weisen, die große Mutter, das göttliche Kind, den Schatten und viele andere. Die archetypischen Bilder geben uns Einblicke und Orientierung, weil sie Weisheit enthalten, die tief in unserem Unbewussten wohnt. Jungs Überlegungen zu Träumen basieren auf einer erstaunlichen Erfahrung von 80.000 Träumen in sechzig Jahren! Wenn wir uns die Zeit nehmen, Poesie, Gemälde oder Skulpturen zu schaffen, die auf unseren Träumen basieren, dann vertiefen wir unsere Einsichten in uns

3.1  Die Entwicklung unseres inneren Wachstums ermöglichen

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selbst. Wenn wir diese Kunstprodukte während der Weiterentwicklung unserer Seelenarbeit bei uns behalten, werden wir immer mehr Input für unser unendliches Wachstum erhalten.

3.1.3 Aktivierung unserer Imagination Für Walter Schwery ist Aktive Imagination Jungs Methode der Integration des Schattens. Es ist ein Weg der Praxis, der uns befähigt, die Bilder des kollektiven und persönlichen Unbewussten zu erheben, zu beleben und zu bewahren. Aktive Imagination bietet uns die Möglichkeit, mit diesen Kräften und Figuren des Unbewussten Verhandlungen aufzunehmen, um sie allmählich zu akzeptieren. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich von Träumen, in denen wir keine Kontrolle über unser Handeln haben. Die folgende Erklärung stammt zum Teil aus dem Buch Aktive Imagination von Dorst und Vogel. Die Autoren erklären, dass Imaginationen interne Ideen sind: „Imagination ist der heute in der Psychologie am häufigsten verwendete Begriff für innere Vorstellungen. Imagination ist zugleich eine sehr alte Technik der Bewusstseinsveränderung und -erweiterung, die bereits bei schamanischen und anderen religiösen Heilpraktiken genutzt werden. Die von C. G. Jung entwickelte Form der so­ genannten Aktiven Imagination ist eine freie Imaginationsform, eine Weise der intensiven Auseinandersetzung mit inneren Bildern. Anders als bei gelenkten Arten der Imagination gibt es keine Vorgaben und Leitung durch die Therapeuten. Es wird darauf vertraut, dass sinnhafte Impulse aus dem Selbst die Führung übernehmen – unter der Bedingung des Geschehenlassens.“ (Jung 1967a, S. 505)

Dorst und Vogel erinnern uns an Jungs folgenden Kommentar: cc

„Das Geschehenlassen, das Tun im Nicht-Tun, das Sich-Lassen des Meister Eckhart, wurde mir zum Schlüsssel.“ (Jung 1967a, S. 505) „Aktive Imagination ist eine psychotherapeutische Methode und ein spirituelles Verfahren der Selbsterforschung. (...) Sie ist ein Werkzeug, um den Weg nach innen zu erforschen, sich im Inneren der Seele zu orientieren und es möglich zu machen, sich  in diesem Raum der Seele zu bewegen. (...) Nach einigen vorbereitenden ­Entspannungsübungen treten Bewusstsein und Unbewusstes in einen Dialog, der sonst nie stattgefunden hätte. Bildbotschaften aus dem Unbewussten erscheinen nur dann, wenn die Überlegenheit des Bewusstseins überwunden ist. (...) Der Dialog erzeugt eine heilende Selbsterkenntnis, die uns Zugang zur Kreativität und zur Heilung unserer Seele verschafft.“ (Dorst und Vogel 2014, S. 10)

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3  Die Lösung

Wie funktioniert Aktive Imagination? Das Verfahren ist immer schrittweise. Die Jungianerin Marie Louise von Franz berät uns in einem unveröffentlichten Vortrag in Los Angeles 1979: • „Leeren Sie Ihren Geist. • Lassen Sie das Unbewusste in das Vakuum fließen. • Fügen Sie das ethische Element hinzu. • Integrieren Sie die Fantasie in den Alltag.“ (Johnson 1986, S. 160)

Jung selbst empfahl in einem Brief von 1932: „Denken Sie zum Beispiel an eine Fantasie und machen Sie sie allen Ihren Kräften zugänglich. Kreieren und rahmen Sie sie, als wären Sie die Fantasie oder gehörten zu ihr, als würden Sie eine unausweichliche Lebenssituation darstellen. Alle Schwierigkeiten, auf die Sie in einer solchen Fantasie stoßen, sind symbolisch für Ihre psychologischen Schwierigkeiten und in dem Maße, wie Sie sie in der Fantasie meistern, überwinden Sie sie in Ihrer Psyche.“ (Jung und Adler 1973, S. 146)

In einem weiteren Brief aus dem Jahr 1947 geht er näher auf das Thema ein: „Bei der Aktiven Imagination kommt es darauf an, dass man mit irgendeinem Bild beginnt. (...) Betrachten Sie das Bild und schauen Sie genau hin, wie es sich zu entfalten oder zu verändern beginnt. Vermeiden Sie jeden Versuch, es in eine bestimmte Form zu bringen, tun Sie einfach nichts weiter, als zu beobachten, welche Veränderungen spontan eintreten. Jedes Bild aus Ihrer Seele, das Sie auf diese Weise beobachten, wird sich früher oder später verändern, und zwar durch eine spontane Assoziation, die zu einer leichten Veränderung des Bildes führt. Ungeduldiges Springen von einem Thema zum anderen sollte vermieden werden. Bleiben Sie auf dem Bild, das Sie fest gewählt haben, und warten Sie, bis es sich verwandelt. All diese Veränderungen müssen Sie sorgfältig beobachten und Sie müssen schließlich sogar in das Bild hineingehen. Gibt es eine Figur, die spricht, dann sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und hören Sie sich an, was er oder sie zu sagen hat. Auf diese Weise können Sie nicht nur Ihr Unbewusstes analysieren, sondern Sie geben dem Unbewussten die Chance, Sie zu analysieren. Und so erschaffen Sie allmählich die Einheit von Bewusstsein und Unbewusstem, ohne die es keine Individuation gibt.“ (Jung und Adler 1976, S. 76)

Laut Vogel erfolgt die Entwicklung der Aktiven Imagination nicht in einem p­ assiven Entspannungszustand, sondern in einem konzentrierten, anstrengenden ­Prozess der Bewusstwerdung der Inhalte des Unbewussten. Aktive Imagination ist auch potenziell bedrohlich für jeden Beginner aufgrund der möglichen Manifestation von Aspekten des dunklen Schattens. Er zitiert den Mexikaner Octavio Paz (Nobelpreisträger 1993):

3.1  Die Entwicklung unseres inneren Wachstums ermöglichen

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„Die Grenze, wo das Ego endet und das andere, das Fremde beginnt, ist ständig in Bewegung. Eine anhaltende Erosion: Je tiefer ich in mich eindringe, desto weiter entferne ich mich von mir; ich selbst bin meine Distanz, ich bin in mir wie in einem unbekannten Land. Außerdem ist es ein Land, das ständig geschaffen wird und wieder verschwindet.“ (Dorst und Vogel 2014, S. 36)

Vogel fährt fort: „Auf seiner inneren Reise muss der Praktizierende der Aktiven Imagination geduldig durch die persönlichen, bewussten Schichten gehen (...); der Mundus imaginalis als Abbild des Selbst und des Göttlichen. Es ist zuerst eine therapeutische Erfahrung und dann eine mystische Erfahrung. Die Reihenfolge ist vorgegeben. Beides sind Realitäten, aber Jung selbst tendiert in seiner Wertschätzung nach innen (das Selbst): „Wir leben nur in der Welt der Bilder“, sagt C. G. Jung. Die Hauptkritikpunkte von Martin Buber an gnostischen Ideen und Methoden sind, dass die Verachtung oder gar die „De-Realisierung“ der materiellen Welt oder die Vergöttlichung des Egos nicht auf die Aktive Imagination zutrifft, wenn die biografischen Komplexe bearbeitet und bearbeitet werden und das Imaginale verantwortungsvoll konkretisiert wird. Die Psychotherapie benötigt zusätzlich die Transzendenz des Gnostizismus durch die Mystik, die der Via Contemplativa, die Via Activa, als unverzichtbare Ergänzung.“ (Dorst und Vogel 2014, S. 46)

Vogel bestätigt eindeutig die zuvor dargelegte Position, die ganz im Einklang mit meiner Erfahrung steht, nämlich, dass der kontemplative, spirituelle Pfad durch Individuation ergänzt werden sollte, wie sie durch die Tiefenpsychologie erreicht wird, um sicherzustellen, dass wir in der Lage sind, individuell und kollektiv auf unsere Ganzheit zuzugreifen, und dass unsere Schattenseite unser spirituelles Wachstum nicht blockiert.

3.1.4 Versöhnung mit dem dunklen Bruder In seinem viel beachteten Buch Das Böse oder die Versöhnung mit dem Dunklen Bruder diskutiert Walter Schwery die Neue Ethik und bietet uns einen Weg zur Versöhnung mit unserer dunklen Seite: „Jung hat erkannt, dass meine Schattenseite ein Teil und Exponent der Schattenseite der Menschheit überhaupt ist und wenn mein Schatten asozial und gierig , grausam und böse, arm und elend ist, wenn er als Bettler oder Tier an mich herantritt, dann steht hinter meiner Versöhnung mit ihm auch die Versöhnung mit dem Dunklen Bruder der Menschheit überhaupt, und indem ich ihn und in ihm mich selbst annehme, nehme ich mit ihm auch den ganzen Teil der Menschheit an, die als mein Schatten mein Nächster ist. Diesen gilt es, wie Jesus sagt, zu lieben wie mich selbst (…).

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3  Die Lösung Während aber die Endvorstellung der alten Ethik auf die Ablehnung des Bösen, des Schattens und die einseitige Verwirklichung des Guten abzielt, also die Spaltung in Gut und Böse bewirkt, ist das Leitbild der neuen Ethik die Vereinigung der Gegensätze als Ziel des langen Weges, den Jung als Individuationsweg bezeichnete. Diese Neue Ethik legt nicht Wert darauf, dass der Mensch ,gut‘ sei, sondern dass er den Schatten und das Gute in seinem hermetischen Gefäß, d. h. in seiner bewussten Seele zulassen kann, ohne sofort zu urteilend zuzustimmen oder abzulehnen. (…). In seinem Gespräch mit Alphonse Goettmann ist Karlfried Graf Dürckheim überzeugt, dass gerade jetzt, wo der Mensch glaubt, auf dem Gipfel zu sein, blind gemacht durch seine äußeren Erfolge und Zukunftserwartungen, er weiter denn je entfernt sei von der Wahrheit des Lebens und seiner persönlichen Reife. Sein aufgeblähtes Welt-­ Ich habe ihn so in die Irre geführt, dass er es als die einzige Quelle des Wissens, des objektiven Wissens, betrachtet.“ (Schwery 2008, S. 37)

cc

„So ist dieses Ich der Ursprung der großen inneren Spaltung“ (Schwery 2008, S. 37) „In ihm ist die Einheit des Seins entzweigebrochen.“ (Schwery 2008, S. 37) „Auch Graf Dürckheim ist überzeugt, dass es einer langen eigenen Arbeit bedarf, einer Art neuer Ethik, um die mächtigen Energien des Schattens unterscheiden zu lernen und sie zu integrieren.“ (Schwery 2008, S. 37)

Für Walter Schwery beginnt die Versöhnung mit dem vom Buddhismus gelehrten, unterscheidenden Erkennen. Danach ist man nicht böse, sondern hat das Böse. Was man hat, kann man auch loslassen, was man ist, nicht. Schwery, der über jahrzehntelange Erfahrung als Therapeut verfügt, zitiert Paulus: cc

„Ich stoße also auf das Gesetz, dass in mir das Böse vorhanden ist, obwohl ich das Gute tun will.“ (Schwery 2008, S. 44) Zur Gefahr der Orientierungslosigkeit äußert sich Schwery wie folgt: „In der Praxis ist aber immer wieder zu beobachten, wie viele Menschen, besonders religiöse, sich intensiv bemühen, ein ,besserer Mensch‘ zu werden. Kratzt man etwas an der Fassade dieser religiösen Korrektheit, entdeckt man bald tiefe Unsicherheiten, einen Mangel an Selbstwert und Selbstakzeptanz. Es entsteht so ein dringendes Bedürfnis nach Liebe und Akzeptanz und gleichzeitig auch das gefährliche Bedürfnis, die narzisstische Verwundung zuzudecken durch religiöses Gutsein, was aber die Wurzel des Problems nie heilt. Im Gegenteil.“ (Schwery 2008, S. 43, 44)

3.1  Die Entwicklung unseres inneren Wachstums ermöglichen

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Zur Versuchung der Projektion sagt er: „Die Gefahr ist aber groß, dass aus dieser Einsicht heraus die Versuchung entsteht, zuerst der Welt, d. h. den anderen diese Erkenntnis zu predigen, um so dieser harten und gefährlichen Arbeit an sich selber aus dem Wege zu gehen, obschon man im Grunde genommen weiß, dass in der Gesellschaft nichts Wirkliches geschieht, wenn nicht der Einzelne sich wandelt. Was in unserer Reichweite liegt, ist die eigene Wandlung und die Beeinflussung von ähnlich Gesinnten im eigenen engeren und weiteren Umkreis.“ (Schwery 2008, S. 44)

3.1.5 Dem Bösen einen Namen geben Schwery fährt fort: „Nachdem es gelungen ist, den dunklen Bruder als einen autonomen Inhalt zu erkennen, geht es nun darum, diesem Inhalt einen symbolischen Namen zu geben, ihn zu benennen. Die Schaffung dieses Symbols gibt die Möglichkeit, einen nicht-rationalen Inhalt zu fassen und damit bewusst zu machen (…). Die Benennung des Schattens mit einem symbolischen Namen, z. B.  Dunkler Bruder, verhindert, dass wir mit dem Schatten identisch werden, sodass wir uns von ihm unterscheiden können. Nur wenn dies gelingt, ist es möglich, ihn zu fassen und mit ihm weiter umzugehen. Jung stellte fest, dass die Psyche die Tendenz hat, diese Inhalte zu personifizieren und zu dramatisieren, sodass sie dann als Träume, Tagträume, Halluzinationen und Visionen erfahrbar werden. Solange sie nicht als solche bewusst sind, neigen sie dazu, sich zu verselbstständigen und das Individuum zu besetzen. (…) Jeder hat seinen synopados, seinen Begleiter und Nachfolger, den Schatten, verstanden als der persönliche daimon. (…). Als nächsten Schritt sollten wir versuchen, ihn nicht als ein moralisches, sondern energetisches Problem zu erkennen.“ (Schwery 2008, S. 48)

cc

„Beim Schatten handelt es sich in der Regel um vitale, aber am Leben gehinderte oder unterdrückte Energien.“ (Schwery 2008, S. 50) „Jede vitale Energie aber, die sich nicht natürlich entwickeln kann, wird negativ und destruktiv und erscheint deshalb dem Bewusstsein als abscheulicher Dreck, wie die Alchemisten sagen.“ (Schwery 2008, S. 50) „Nicht mehr das repressive männliche Tun ist also die Antwort auf das Problem des Schattens, sondern das erbarmende weibliche Lassen. Denn aus dieser weiblichen Einstellung heraus entsteht jene Gelassenheit, die schließlich zur Bewusstmachung und damit Erlösung des Dunklen Bruders führt.“ (Schwery 2008, S. 50)

Schwery zitiert Jung aus seinem Kommentar zum Geheimnis der Goldenen Blüte:

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3  Die Lösung

„Das Geschehenlassen, das Tun im Nicht-Tun, das „Sich-Lassen“ des Meister Eckhart wurde mir zum Schlüssel, mit dem es gelingt, die Türe zum Weg zu öffnen: Man muss psychisch geschehen lassen können. Das ist für uns eine wahre Kunst, von welcher unzählige Leute nichts verstehen, indem ihr Bewusstsein ständig helfend, korrigierend und negierend dazwischen springt und auf alle Fälle das einfache Werden des psychischen Prozesses nicht in Ruhe lassen kann.“ (Jung, GW Bd. 13, § 20 in: Schwery 2008, S. 52)

Es bedarf großer Weisheit, des Glaubens und des Vertrauens in den Geist (Spirit), der uns immer in unserem eigenen Interesse dienen wird, um beiseitezutreten, aus dem eigenen Weg zu gehen und die Verwandlung uns umhüllen zu lassen. cc

Der Wechsel vom Machen zum Lassen bringt uns erst wieder ins Gleich­ gewicht

Die folgenden Kommentare des deutschen Philosophen Wilhelm Schmidt erschienen am 13.05.15 in der Zeit. Er fragte nach den Quellen für die Inspiration aus der Vergangenheit und ist in seinem neuesten Buch auf die antike Philosophie zurückgegangen. Er habe bei Epikur den wunderbaren Ausdruck Ataraxia, die „Unruhelosigkeit“, gefunden. Das beschreibe genau, was mit Gelassenheit gemeint sei: nicht nur Frieden, sondern weniger Unruhe. Dieser Zustand sei lebhaft, aber nicht hysterisch. Er habe kürzlich Homo occupatus von Seneca gelesen. Viele moderne Menschen könnten sich darin wiederfinden, aber sie hätten keine Zeit für das Wesentliche.

3.1.6 Die Anima- und Animus-Balance Die Begriffe Anima und Animus wurden von Jung erstmals erwähnt. Voraussetzung für den Individuationsprozess ist die Harmonie unserer männlichen und weiblichen Energien. In der östlichen Hemisphäre sprechen wir von Yin und Yang. Ein Ungleichgewicht hat einen konkreten Einfluss auf Ethik und Moral. Ein Mann, der seine Anima noch nicht integriert hat und deshalb überwiegend männlich agiert, wird sich leicht unmoralisch verhalten, ohne harmoniegetriebene weibliche E ­ instellungen. Die Anima bezieht sich auf die unbewusste weibliche Dimension eines Mannes, die im täglichen Leben oft vergessen oder verdrängt werden kann. Um jedoch psychologisch voranzukommen und eine größere innere Ausgeglichenheit und Harmonie zu erreichen, ist es notwendig, dass der Mann dieses latente Element seines Charakters erkennt, seine Anima umarmt und als Folge Zärtlichkeit, Geduld, Rücksichtnahme und Mitgefühl zeigt. Die Unterdrückung des weiblichen

3.2 Wachstum durch spirituelle Weisheit

177

Elements innerhalb des Mannes führt jedoch zu einer negativen Anima, die Persönlichkeitsmerkmale wie „Eitelkeit, Launenhaftigkeit, Zickigkeit und übermäßige Sensibilität“ für verletzte Gefühle auslöst. Der Animus ist die unbewusste männliche Dimension in der weiblichen Psyche. Aufgrund gesellschaftlicher, elterlicher und kultureller Prägung kann der Animus oft gehemmt, zurückgehalten und unterdrückt werden. Auf der anderen Seite erzwingen einige Gesellschaften und Kulturen, darunter ein Großteil der westlichen Welt, rücksichtslos männliche Ideale als Mittel für Frauen, sich zu übertreffen, ­erfolgreich zu sein und überall im Leben dominant zu sein und tragen zu einem negativen Animus bei, der sich in der Persönlichkeit einer Frau durch Argumentationstendenzen, Rücksichtslosigkeit, Zerstörungswut und Unempfindlichkeit offenbart. Jedoch kann die Integration eines positiven Animus in die weibliche Psyche zu Stärke, Durchsetzungsvermögen, Niveau und Rationalität führen. Um die Ganzheit durch den Prozess der Individuation zu erreichen, geht es also um die Integration von Animus und Anima.

3.2

Wachstum durch spirituelle Weisheit

Es geht nicht darum, das Ego zu überwinden oder zu versuchen, es zu zerstören, wie es von manchen esoterischen Praktiken verlangt wird. Tatsächlich leiden viele in unserer Gesellschaft unter zu wenig Ego mit katastrophalen Folgen. Unser Ego spielt eine sehr wichtige Rolle, wenn es darum geht, uns individuell lebensfähig in unserer Gesellschaft zu machen. In den ersten Jahrzehnten unseres Lebens lernen und praktizieren wir Wissen und Fähigkeiten. Das Tun und Erzielen stabilisieren das Ego. Das Machen und Haben des Menschen hat in der frühen Definition von uns selbst einen höheren Stellenwert als das Sein. Das Problem ist, dass wir einseitig geworden sind. Wir haben unser Selbst (Jung) hinter uns gelassen und unserem Ego freien Lauf gelassen. Wie Dürckheim klar argumentiert, ist der Mensch doppelten Ursprungs. Er hat einen „weltbasierten, rationalen Ich-Geist“ sowie ein „Wesen des Seins“. Der erste ist säkularen Ursprungs und der zweite göttlichen Ursprungs. Dürckheim: cc

„Das Wesen ist die Art und Weise, in der sich das überraumzeitliche Sein in uns und durch uns manifest werden will in der Welt.“ (Dürckheim 1986, S. 39) Angelus Silesius verweist auf die Entwicklung dieser Essenz, indem er erklärt:

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cc

3  Die Lösung

„Oh Mensch, werde wesentlich!“ (Silesius 1675)

Wir können eine Person, die nur ihren Ego-Geist entwickelt hat, nachdem sie ihre innere göttliche Quelle hinter sich gelassen hat, als eine angespannte Person betrachten. Die Ganzheit der Person ist verloren gegangen. Je mehr wir unseren Verstand entwickeln und unser Herz hinter uns lassen, desto mehr Spannung bauen wir auf. Diese Spannung führt zu psychischen und physischen Problemen und häufig zu Krankheiten. Unsere Entwicklungsaufgabe ist es, ein ganzer Mensch zu werden. Person kommt aus dem Lateinischen personare, das heißt (lat.), durchtönen. In der griechischen Tragödie wurde die Botschaft der Götter von den Schauspielern durch ihre Masken (persona) vermittelt. Das ist Individuation, wie sie von Jung präsentiert wird. Indem wir das Ego loslassen, erlauben wir uns, uns im Selbst zu verankern. Als P. Hugo Enomiya-Lassalle SJ nach dem Geheimnis der Meditation gefragt wurde, antwortete er: cc

„Sich begründen, sich aufrichten und im Geiste lassen!“ (Lasalle 1985)

Um ein ganzer Mensch zu sein, um uns von der ausgeprägten egozentrischen und egoistischen Sozialisation unserer Kindheit zu befreien, müssen wir eine tägliche Übungspraxis betreiben, in der wir das Loslassen des Egos praktizieren. Dann wird als Gnadenakt die Reifung unserer Essenz in uns gedeihen. Übungen wie Meditation, Gebet und Kontemplation, Judo, Kyodo (Bogenschießen), Aikido, Yoga sowie viele andere Wege zum Erleben unserer Essenz stehen zur Verfügung. Wenn wir versuchen, allein zu praktizieren, haben wir vielleicht nur begrenzten Erfolg; es ist besser, einen Lehrer zu haben. Es ist auch wichtig, dass unsere Übung jeden Tag durchgeführt wird. Unser Verstand ist nur für die Entscheidung, einen Weg zu wählen und für die Entschlossenheit, auf diesem Weg zu bleiben, notwendig. Dann ist der Verstand nicht mehr nötig, denn er lenkt uns mit all seinen Anhaftungen ab. Mit der Zeit und mit Hingabe erfahren wir die Offenheit für die Transzendenz, die immer da ist, aber von uns nicht wahrgenommen wird. cc

„Transparenz für die immanente Transzendenz“ (Dürckheim 1976),

so definiert Dürckheim den Sinn des Lebens, dem ich aus meiner Erfahrung nur zustimmen kann. Wenn diese Transzendenz einmal erlebt ist, brauchen wir keinen schriftlichen Ethikkodex oder extern auferlegte Gesetze mehr. Ein transzendiertes Individuum handelt aus seiner göttlichen Erfahrung heraus.

3.2 Wachstum durch spirituelle Weisheit

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Eine herausragende Unterstützung für diese Position wurde kürzlich von Papst Franziskus zum Ausdruck gebracht, der in seiner Rede vor den Mitgliedern des Europäischen Parlaments in Straßburg am 25. November 2014 auf die Bedeutung der Erfahrung der Transzendenz hinwies. Er erklärte: „Es ist eine Ermutigung, zu der festen Überzeugung der Gründer der Europäischen Union zurückzukehren, die sich eine Zukunft vorstellten, die auf der Fähigkeit zur Zusammenarbeit bei der Überbrückung von Spaltungen und der Förderung von Frieden und Gemeinschaft zwischen allen Völkern dieses Kontinents beruht. Im Mittelpunkt dieses ehrgeizigen politischen Projekts stand das Vertrauen in den Menschen, nicht so sehr als Bürger oder Wirtschaftsakteur, sondern in den Menschen, in Männer und Frauen als Personen, die mit einer transzendenten Menschenwürde ausgestattet sind. Ich fühle mich verpflichtet, die enge Verbindung zwischen den beiden Wörtern ,Würde‘ und ,Transzendenz‘ zu betonen. (...) Von transzendenter Menschenwürde zu sprechen, bedeutet also, an die menschliche Natur zu appellieren, an unsere angeborene Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, an diesen moralischen Kompass tief in unseren Herzen, den Gott der ganzen Schöpfung eingeprägt hat. Vor allem bedeutet es: die Menschen nicht als Absolutes anzusehen, sondern als Wesen in Beziehung (...) Die Zukunft Europas hängt davon ab, dass die lebenswichtige Verbindung zwischen diesen beiden Elementen (Würde und Transzendenz) wiederhergestellt wird.“ (Francis 2014)

cc

„Ein Europa, das nicht mehr für die transzendente Dimension des Lebens offen ist, ist ein Europa, das Gefahr läuft, langsam seine eigene Seele zu verlieren und den humanistischen Geist zu verlieren.“ (Francis 2014) „Ausgehend von dieser Öffnung zum Transzendenten möchte ich die Zentralität der menschlichen Person bekräftigen, die ansonsten den Launen und den Kräften des Augenblicks ausgeliefert ist.“ (Francis 2014)

Die Erklärung von Papst Franziskus macht deutlich, dass das Erleben von Transzendenz das Tor zu ethischem Verhalten ist. Diese Weisheit ist essenziell für die Neue Ethik im Geschäftsleben. Sie zeigt uns, wie wir vorgehen müssen. cc

Alle Gebote von „du sollst, du musst, du könntest“ führen nicht zur Entwicklung des inneren Wachstums, das für hohe ethische Standards erforderlich ist.

Es ist vielleicht nicht einfach für uns, unseren Kurs zu ändern, aber wir müssen es tun. cc

„Wenn du dich änderst, verändert sich die ganze Welt!“ (Zen)

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Selbst viele sehr erfolgreiche Führungskräfte haben trotz aller externen Erfolge keine Ahnung, dass die Entwicklung ihrer inneren Dimension vernachlässigt wurde. Für sie ist Leistung das, was das Leben bestimmt. Trotz ihrer scheinbaren Erfolge sind sie oft voller Angst und Unzufriedenheit. Wenn sie unter Druck geraten, wie es unvermeidlich ist, verschwindet ihr scheinbarer Ethikkodex schnell. Sie haben einen niedrigen REB-Wert. Da es für das Erkennen dieser Fehlentwicklung so wichtig ist, möchte ich noch einmal anführen, wie Dürckheim es so treffend ausdrückt und wie er seine Bedeutung als Weckruf auch für Führungskräfte ansieht: „Diese Menschen, oft tüchtige, gebildete, ordentliche und wohlmeinende Menschen, sind derart im Leistungswahn befangen, das heißt im Wahn, das Leben nur im Zeichen erfolgreicher Leistung bestehen zu können, dass sie ernsthaft glauben, ihre ganze Innerlichkeit verdrängen zu müssen. Das Ergebnis ist dann ein allein von den Forderungen der Welt ins Geschirr genommenes Leistungstier, das in der Einseitigkeit seiner Ausbildung eine Karikatur dessen ist, was der Mensch eigentlich sein und immer werden sollte: eine Einheit von Leib, Geist und Seele. Könnte man jenen Menschen malen, so müsste man ihn darstellen mit einem Riesenkopf, einer aufgeblasenen Brust, stählernen, aber ganz mechanisch funktionierenden Gliedern, die nicht organisch zusammenspielen, sondern künstlich von einem harten Willen zusammengehalten und gesteuert werden. In der Mitte aber, wo das richtende, ordnende und beseelende Zentrum sein sollte, da wäre recht wenig, eigentlich nur ein Hohlraum, in dem, umpanzert von einem ängstlichen und leicht verletzbaren Ich, das eigentliche Wesen ein Schattendasein führt. Der Mensch aber, der diesem Bild entspricht, ist trotz allem, was er hat, weiß oder kann, innerlich ein Kind geblieben, denn seine Seele blieb klein“. (Dürckheim 1988, S. 27)

cc

„Er ist innerlich ein Kind geblieben“ (Dürckheim 1988, S. 27) „Äußerlich ein Erwachsener, aber innerlich unreif, steht er unbeherrscht und voller Illusionen den Mächten des Schicksals im Großen wie im Kleinen hilflos gegenüber und scheitert endlich am Leben, weil er sich selbst gegenüber versagt hat. Aus der Atemnot seines vernachlässigten seelischen Wesens kommen dann jene Gefühle unbegreiflicher Angst, Schuld und Leere, die so mancher erlebt, der, äußerlich gesehen, auf dem Gipfel seiner Entfaltung zu stehen scheint. Die anderen, die sein Inneres nicht sehen, mögen seine Fassade bewundern. Hinter ihr lebt ein unglücklicher Mensch, dessen seelisches Leiden und Mangel an innerer Stille nicht weniger als das Unheil, das von ihm ausgeht, die Quittung dafür ist, dass er unreif geblieben ist. (…) Aber eben diese Menschen sehen meist keine andere Möglichkeit, die Stille zu wahren, als in einer eisernen Selbstdisziplin, die die Fülle der Spannungen bannt, die sie von innen bedrängt. Dies Verdrängen der inneren Spannungen aus Zucht führt aber nicht weit. Was Ordnung zu sein scheint, verdeckt nur eine wachsende Unordnung unerlöster drängender Kräfte.

3.2 Wachstum durch spirituelle Weisheit

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Mit kleinen Nervositäten beginnt es. Bald stellen sich Stimmungsschwankungen und schlechte Laune ein, die, weil sie an der Stätte der Arbeit nicht gezeigt werden darf, die häusliche Atmosphäre vergiftet. Dann kommen, wenn das Ventil nicht mehr hält, die gelegentlichen Explosionen, die Unbeherrschtheiten, die nur der Mächtige im Beruf sich leisten darf − und endlich der Nervenkollaps.“ (Dürckheim 1988, S. 27)

3.2.1 Meditation als tägliche Praxis Sobald wir uns auf ein Objekt konzentriert haben und unsere Gedanken und Emotionen beobachtet haben, wissen wir, dass wir sie entlassen müssen, um sie loszulassen. Auf diese Weise werden wir eins mit der Wirklichkeit, die wir nicht in Worte fassen können, sondern nur mit der Erfahrung erleben können. Lassen Sie jetzt aber auch den Fokus los! Er war nur ein Werkzeug, um mit der Achtsamkeitsübung zu beginnen, er ist nicht mehr notwendig. Wir waren das Subjekt, der Fokus war das Objekt. Wenn wir diese Dualität von Subjekt und Objekt überwinden, gibt es keinen Unterschied zwischen uns und dem Fokus. Jetzt verstehen wir besser, was im Zen-Buddhismus gemeint ist, wenn gesagt wird, dass das Subjekt Objekt ist und das Objekt Subjekt ist. Die wahrgenommene Dualität ist verschwunden. cc

Da die Dualität die Ursache unseres Leidens ist, ist auch das Leiden verschwunden, wenn das duale Denken und Verhalten aufhört.

Nach einiger Zeit beobachten wir unsere Gedanken nicht mehr. Sie sind für uns nicht mehr wichtig. Wir sind eins mit allen. Wir sind eins mit dem Universum, das grenzenlos und unendlich ist. Wir sind Teil davon, eine Welle im weiten Ozean, die mit allen anderen Wellen verbunden ist. Es ist wichtig, unsere Disziplin fortzusetzen und die Dynamik unserer Übung solange wie nötig aufrechtzuerhalten. Es kann sogar Jahre dauern, bis wir schließlich die Gesamtheit von Einheit, Ganzheit und vollständiger Verbundenheit mit allem erfahren. Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung der Sequenzen in der Praxis der Meditation: • • • • •

Die Sehnsucht, das Ende unseres Leidens zu spüren. Selbstverantwortung. Einen Führer auswählen; einen Meister für unseren spirituellen Weg. Achtsamkeit üben – Segel setzen! Auswahl eines Raumes, in dem Bewusstsein erfahren werden kann.

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3  Die Lösung

Das Betreten dieses Raumes mit Bedacht. Sich begründen und aufrichten. Die Beruhigung unseres unruhigen Geistes. Das Beobachten unserer Gedanken. Unseren Fokus loslassen. Das Verschwinden unseres Fokus zulassen Ohne Nachdenken, ohne Emotionen präsent bleiben. Eins mit allem zu werden.

Tägliche Meditation sollte ein tägliches spirituelles Zähneputzen sein, wie meine Schwester, die Yogalehrerin Helga Simon-Wagenbach, ihren Schülern empfiehlt. Wenn wir bereit sind, Frieden, Stille, Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Freundlichkeit, Nächstenliebe, Mitgefühl, Ausdauer, Harmonie und Glück in unser Leben aufzunehmen, ist Achtsamkeit der Schlüssel. Das bewusste Leben in der Gegenwart, die volle Umarmung des Hier und Jetzt wird unserem Leben einen neuen Sinn geben. Das anfängliche Verstummen aller äußeren und inneren Geräusche um und in uns ist eine Voraussetzung für die Meditation. Viele konzentrieren sich nur auf die Übung der Achtsamkeit, immer und immer wieder. Das ist aber nur der erste wichtige Schritt jeder Meditation. Wer da stehen bleibt, kommt nicht weiter und hört irgendwann ganz auf. Schade! Der zweite noch wichtigere Schritt nach der Achtsamkeit ist das Loslassen. Der Mediziner, Wissenschaftler und Mystiker David Hawkins bringt mit 50-­jähriger psychiatrischer Erfahrung die Wichtigkeit des Loslassens im Vorwort zu seinem sehr zu empfehlenden Buch Loslassen  – Der Pfad widerstandsloser Kapitulation auf den Punkt: Bewusstsein/Gewahrsein/Spiritualität: „Dies ist ein Bereich, der sich durch kontinuierlichen Gebrauch der Kapitulation erschließt. Das Loslassen negativer Emotionen bedeutet, dass jemand stetig zunehmend Glück, Zufriedenheit, Frieden und Freude erlebt. Es findet eine Ausdehnung des Gewahrseins statt, eine zunehmende Verwirklichung und ein Erfahren des wahren inneren Selbst. Die Lehren der großen Meister entfalten sich aus dem Inneren heraus als eigene persönliche Erfahrung. Das fortschreitende Loslassen der Begrenzungen erlaubt letztendlich die Verwirklichung der eigenen wahren Identität. Das Loslassen ist eine der wirkmächtigsten Werkzeuge, mit denen man spirituelle Ziele erreichen kann.“ (Hawkins 2014, S. 26)

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3.2.2 Meditation für Mitgefühl verändert Dein Gehirn Achtsamkeit und Mitgefühl, die sich aus der Meditation ergeben, sowohl aus der nichtfokussierten Meditation als auch aus der auf Mitgefühl fokussierten Meditation, führt uns zu moralisch vertretbaren Entscheidungen und einer ethisch positiven Grundhaltung. Neurowissenschaftler haben jetzt entdeckt, dass die Meditation über Mitgefühl bestimmte Regionen im Gehirn aktivieren und entwickeln kann. Es war schon immer schwierig, unsere Meditationserfahrungen anderen zu erklären, aber es ist ein riesiger Schritt nach vorn für jene Skeptiker der Meditation, die zögern, alles zu akzeptieren, was keine wissenschaftliche Bestätigung hat. Tanja Singer hat die Wirkung der Meditation untersucht: „Das könnte der Stoff sein, aus dem Revolutionen gemacht werden. Tania Singer, 47, Deutschlands führende Hirnforscherin, hat die Ergebnisse ihrer Forschungsreise ins soziale Gehirn des Menschen veröffentlicht. Die Direktorin für Soziale Neurowissenschaft am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften wollte wissen: Können wir durch mentales Training gesünder werden und mehr Empathie schöpfen? Gefühle, so Singer, bilden sich im Hirn ab – ebenso wie Sprache, Denken oder Wahrnehmung. So wie wir Oberarmmuskeln trainieren, können wir – etwa durch Meditation – auch das Gehirn in Form bringen: Wir werden dadurch aufmerksamer, können unser Herz öffnen oder Abstand zu einer überwältigenden Gedankenflut gewinnen. ‚Am Ende‘, sagt Singer, ‚entstehen wissenschaftlich fundierte Programme, um Qualitäten wie Mitgefühl auf der Welt zu stärken.‘ Schon als junge Professorin wollte sie wissen, wie wir uns in Beziehungen verhalten und uns gegenseitig beeinflussen. Im Hirnscanner sah sie, dass Menschen mitleiden, wenn andere Schmerz empfinden. Singer lernte auch, dass Menschen anderen mehr vertrauen und mit ihnen kooperieren, wenn sie zuvor über Mitgefühl meditiert haben. Meditation öffnet den Geist. (…). Um das zu beweisen, hat Singer das ReSource Project mit mehr als 300 Testpersonen begründet, das sogar ein eigenes Häuschen an der Humboldt-Universität in Berlin belegt. Die meisten Probanden, im Schnitt 43 Jahre alt und berufstätig, durchliefen dabei ein Trainingsprogramm von fast einem Jahr. Sie meditierten regelmäßig mit spezialisierten Lehrern und übten sechs Tage pro Woche zu Hause. Nach jeder Etappe durchleuchtete Singers Team ihre Gehirne, testete ihr Verhalten und untersuchte ihr Blut. Zunächst war Achtsamkeit das Ziel, also aufmerksam und ruhig im Hier und Jetzt zu stehen. Dann konzentrierten sich die Versuchspersonen auf soziale Emotionen wie Mitgefühl und Dankbarkeit. Zum Schluss übten sie, sich selbst und die Gedanken der anderen besser zu verstehen. Zu ihren sozialen Übungen gehörte etwa, dass sich je zwei von ihnen übers Telefon und auch persönlich austauschten. Erst redetet der eine (zum Beispiel darüber, was ihn dankbar mache), dann sprach der andere. Wer zuhörte,

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durfte nicht unterbrechen, nicht kommentieren, nicht einmal nicken. Den anderen wirken zu lassen und seine Perspektive einzunehmen war die Aufgabe. Durch das mentale Fitnesstraining der 300 Personen entstand ein gewaltiger Datenschatz. Was sich aus ihm lernen lässt, haben Singer und Co. nun veröffentlicht: Meditieren versetzt Menschen demnach nicht nur vorübergehend in friedfertige Stimmung oder macht sie kurzzeitig aufmerksamer und sozialer – nein, es stärkt messbar und nachweisbar ganz bestimmte Verbindungen im Kopf. Wie das Sixpack am Bauch wachsen gewissermaßen die Muskelmassen des Geistes. Je nachdem, was trainiert wird, schwillt ein anderer Teil des Hirns an. Auch die Verhaltenstests zeigen: Die Trainingseinheiten wirken. Nur die Bluttests zeigen nicht sofort eine Veränderung: Das Auftreten des Stresshormons Cortisol bleibt durch Achtsamkeitsmeditation unverändert. Die innere Unruhe zurückzudrängen gelingt erst mit sozialem Training  – vielleicht, weil das Kommunizieren zu zweit die jedem innewohnende Angst lindert, vom anderen verurteilt zu werden. Singers Forscher meditierten bei ihren Treffen auch selbst. Regelrecht ‚freudvoll‘ sei es im Team zugegangen, sagt die Chefin, und die Entscheidungen seien weitsichtiger ausgefallen als in den klassischen Businessmeetings, bei denen jeder nur auf sich selbst schaut. Ihre zentrale Botschaft: Auch bei Erwachsenen lassen sich Vorlieben und Verhalten noch nachhaltig verändern.“ (Heuser 2017)

Diese Erkenntnisse stützen das seit Langem realisierte metaphysische Wissen, dass unsere Gedanken unsere Realität beeinflussen. Unsere Konzentration auf Gier erhöht die Prävalenz egoistischen Verhaltens in der Welt, während unsere Konzentration auf Mitgefühl das Leiden lindern kann. Durch die Meditation über moralische Einstellungen und ethische Praktiken greifen wir nicht einfach öfter auf diese Qualitäten zu, sondern diese Qualitäten werden zu einem integralen Bestandteil dessen, was wir sind!

3.2.3 M  öglichkeiten zur Steigerung des Bewusstseins durch Achtsamkeit cc

Die Möglichkeit, unser Bewusstsein durch tägliches Üben von Achtsamkeit und Loslassen zu schärfen, ist von enormem Nutzen.

Wenn es Ihnen zu dieser Zeit in Ihrem Leben an Entschlossenheit und Disziplin mangelt, um zu meditieren, versuchen Sie stattdessen, Gelegenheiten zu finden, die Sie interessieren und erfüllen, solche, in denen Sie täglich Achtsamkeit üben können. Mit der Zeit werden Sie feststellen, dass die Meditation ruft und um eine zweite Chance bittet. Wir begegnen diesen Möglichkeiten täglich als Teil unserer Arbeit, Musik, Kunst, Natur, Tanz, Krankheitserlebnisse, unerwartete Begegnun-

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gen oder eine Unzahl anderer Möglichkeiten. Unser gesamter Tagesablauf kann zur Erleichterung unserer meditativen Praxis genutzt werden, wie in Leben im Goldenen Wind (Meyer-Galow 2011, 2014) beschrieben. Das Ergebnis ist ein Leben voller Gelassenheit, Humor, Mitgefühl, Harmonie, Menschlichkeit und Liebe zu anderen Menschen unter Wahrung der individuellen Würde. Wenn wir uns voll und ganz bewusst werden, werden wir niemals anderen oder der Umwelt schaden und inneren Frieden in unserem Privat- und Geschäftsleben finden. Es gibt viele Gelegenheiten für Achtsamkeit. Einige wesentliche sind: Natur, Musik, Kunst, Tanz, Religion und Liebe. Aber unsere tägliche Arbeit und sogar Krankheit sind sehr wichtige Gelegenheiten, Wachstum zu praktizieren. Das Erkennen dieser Chancen, so Graf Dürckheim, erhöht die Wahrscheinlichkeit, mit dem ursprünglichen Grund unseres Seins in Berührung zu kommen, erheblich. Wenn wir unsere Erfahrungen bei diesen wichtigen Gelegenheiten nicht berücksichtigen, fehlt uns das Verständnis für unsere Verbundenheit und wir verlieren dadurch einen großen Teil unserer Vitalität und unserer Wachstumschancen. Wir alle sind in der Lage, in diese Erfahrungswelten einzutreten. Wenn wir das bewusst tun, werden wir ein gesteigertes Bewusstsein erfahren und feststellen, dass es das Tor zu einer besseren Lebensqualität ist. Viele von uns beginnen auf einem spirituellen Pfad, aber allzu oft verlassen sie den Weg vorzeitig. Es erfordert eine starke Disziplin, um den Pfad der Praxis und der Übung aufrechtzuerhalten. Oft haben wir das Gefühl, dass wir nicht genügend Kraft und Ausdauer haben, besonders wenn wir im Elend leben, denn wenn wir leiden, konzentrieren wir uns ausschließlich darauf, nur die minimal notwendige Vitalität zurückzugewinnen, um unser Leben weiterzuführen. Aber gerade in diesen Zeiten bietet sich uns das wunderbare menschliche Abenteuer an, die weitere Dimension der vollständigen Präsenz in einer Situation zu erforschen; vielleicht eine, die nur eine Erinnerung an die Kindheit ist oder vielleicht sogar eine, die wir uns vorstellen können, die wir aber noch nie erlebt haben, dass wir unser Bewusstsein erweitern und mit unserem Schmerz umgehen können. Unser Schmerz mag zwar anhalten, aber wir sind besser in der Lage, ihn zu ertragen. Er ist keine schwere Last mehr in unserem Leben. Erst dann, durch die Meditation der Achtsamkeit, sind wir bereit, jede Lebensphase erfolgreich zu durchlaufen und unser wahres, natürliches Potenzial zu erfüllen.

3.2.3.1 Von der Work-Life-Balance zur Life-Balance Für uns alle, die wir in der Wirtschaft tätig sind, ist die Chance auf Wachstum durch unsere Arbeit von täglicher Bedeutung. Derzeit ist es populär, über die Work-­Life-­ Balance zu sprechen. Dies ist ein unglücklicher Ausdruck, da er den Eindruck erweckt, dass Arbeit und Leben getrennte Dualitäten sind; diametrale Gegensätze,

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bei denen Arbeit schlecht und Leben gut ist. Dies führt zu dem Wunsch nach ­weniger Arbeit und mehr Leben, den viele Menschen als mehr Freizeit, Zeit zum Chillen und Wohlfühlen interpretieren würden. cc

Aber alles ist Leben. Arbeit ist Leben, und die Zeit, die man freihat, ist auch Leben

Vielleicht ist der Ausdruck Life-Balance besser geeignet. Es ist wünschenswert, das eigene Leben in Balance zu bringen mit dem ständigen Werden der Wirklichkeit, dem ewig agierenden Prozess zur Manifestation der Wirklichkeit als Realität. Wenn man nicht aktiv arbeitet, ist es wichtig, sich genügend Zeit für andere wichtige Gelegenheiten zu nehmen, wie z. B. solche, die man in der Natur, in der Musik, im Tanz, in der Kunst, in der Liebe und in der Religion erleben kann. Allzu oft verschieben wir diese Erfahrungen auf den dritten Abschnitt unseres Lebens, wenn wir sie dann aufgrund einer schweren Krankheit oder eines plötzlichen Todes nicht mehr genießen können. Meine eigene Erfahrung bestätigt, dass es, wenn unsere professionelle Arbeit abgeschlossen ist, sehr vorteilhaft ist, andere Gelegenheiten zur Steigerung unseres Bewusstseins durch Achtsamkeit zu nutzen, um unser wahres Sein zu erfahren. Diese wichtige Etappe in unserem Leben kann der Höhepunkt unserer Transformation sein. cc

Das Erleben unseres wahren Selbst gibt Sinn, ja, es ist der Zweck unserer Langlebigkeit.

Wir können unsere Tätigkeit als Arbeit verrichten (lateinisch: labor = Trübsal) oder wir verbringen unsere Tage in einem Beruf, in dem wir auf ein Werk, ein Opus hinarbeiten; (lateinisch: opus). So oder so haben wir oft das Gefühl, dass wir nur Arbeiter sind und durch unsere täglichen Arbeitsstunden belastet werden. Unser Leben ist nicht dazu bestimmt, so zu sein. Es ist verlockend, hart zu arbeiten, um das Prestige des Erfolgs zu erlangen, eine Praxis, die von der Mehrheit der Menschen in der Geschäftswelt angenommen wird. Da Erfolg eine Droge ist, werden wir den von uns verlangten Preis für sie am Anfang nicht in Frage stellen. Unser Ego ist sowohl gierig nach Erfolg als auch süchtig nach Erfolg und Anerkennung. Erfolg ist wie eine Droge. Moral und Ethik sind für unser Ego nicht von großer Bedeutung. Das Ego ist im Wesentlichen ein Gefühl oder Bewusstsein, dass wir getrennt von Gott leben, getrennt und entfernt von unserer ursprünglichen Natur. Es motiviert uns und treibt uns auf unserem Weg zu einer großen Karriere für uns selbst. Erst wenn wir die Vergänglichkeit des Erfolges erkennen und die ersten Anzeichen

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von Leid sichtbar werden, werden Unzufriedenheit, Angst und Einsamkeit die Möglichkeit haben, die Tür zu öffnen, die zu persönlichen Veränderungen führt. Das Erleben des Augenblicks im Bewusstsein, des Hier und Jetzt, ist ein schwer zu meisterndes Konzept. Bewusstheit erfordert Disziplin. Wir müssen uns um eine ständige Synchronizität zwischen sinnvoller Arbeit und einer Haltung der Achtsamkeit bemühen, die man Kontemplation in einer Welt des Handelns nennen kann. Der Gründer des berühmten Jesuitenordens St. Ignatius von Loyola sprach von contemplatio in actionibus. Während unser Ego fleißig ist und niemals ruht, ist dies nicht unbedingt schädlich für unsere Entwicklung, solange wir ständig und direkt in Kontakt mit unserem Selbst, unserer göttlichen Quelle, bleiben. Es ist die moralische Verantwortung der Arbeitgeber, nicht einfach so viele Menschen wie möglich zu beschäftigen, sondern vielmehr Gelegenheiten zu schaffen, die ihren Mitarbeitern eine befriedigende, freudige und friedliche Beschäftigung ermöglichen, sodass sie letztendlich gemeinsam und motiviert arbeiten können. Wenn man die Leute fragt, was sie unter dem Begriff Soziale Marktwirtschaft verstehen, werden sie oft antworten, dass es sich um ethisches Verhalten auf dem Markt handelt. Viele Mitarbeiter, die direkt zu unserer Wirtschaft beitragen, werden nie dazu ermutigt oder dafür belohnt, dass sie stolz auf ihre Arbeit und die zentrale Rolle, die sie für den Erfolg eines Unternehmens spielen, sind. Ein Unternehmen auf der Hauptstraße zum Erfolg besteht aus zahlreichen Zubringerstraßen, von denen jede über Mitarbeiter verfügt, deren Service und Leistung bei der Ausrichtung der Geschäfte auf die Hauptstraße das gesamte Produktions- oder Absatzvolumen bestimmt. Seit 35 Jahren orientieren wir uns in unserer Wirtschaft an der nachhaltigen Entwicklung. Einzelne Unternehmen mit ihren einzigartigen Prinzipien und Kulturen nähern sich dieser Ausrichtung der nachhaltigen Entwicklung in vielfältiger Weise. Leider haben zu viele Menschen die Orientierung verloren und brauchen eine neue Vision, einen neuen Kompass. Der liebevolle Dialog, auf den sich Hans-Peter Dürr gerne bezieht, ist wichtig in allen Kontakten und Gesprächen mit anderen. Der Quantenphysiker Dürr sagt: cc

„Mit jedem verbunden sein und alles ist Liebe“ (Dürr 2011)

Der liebevolle Dialog entspringt einem tiefen Mitgefühl für alle Lebewesen. Dieses Mitgefühl schafft Gelassenheit, Freude und Humor als Ergebnis unserer täglichen Praxis. Der XIV. Dalai Lama bezieht sich auf unsere gemeinsame Wurzel der Verbundenheit als Mitgefühl. Als Manager in der Wirtschaft ist es wichtig, dass wir uns unserer Verantwortung bewusst sind, jedem in unserem Einflussbereich zu helfen, sich in Vertrauen und Mitgefühl zu entspannen. Früher, als ich unter anderem für die Beurteilung von

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Managern zuständig war, habe ich versucht, das Stadium ihrer Weisheit und Bereitschaft zur Übernahme größerer Verantwortung zu ermitteln. Ich wollte das Mitgefühl eines jeden Managers, den ich einstellen wollte, spüren können. Es ist unvermeidlich, dass unser Urteilsvermögen gelegentlich versagt, aber nicht so oft, als ob wir uns nicht einmal anstrengen würden. Selbst in den Fällen, in denen wir unsere erste Einschätzung für falsch halten, wenn ein offener und ehrlicher Dialog ohne Angst oder Ängste geführt wird, fördern wir Vertrauen und Mitgefühl in anderen. Wenn andere erkennen, dass wir Menschen von unserem Herzzentrum aus engagieren, wird dies sowohl intellektuell als auch emotional gewürdigt, dass jeder in einfachen und schwierigen Zeiten produktiv vorankommen kann. In jeder menschlichen Begegnung ist der Reifegrad unserer Weisheit transparent. Mitgefühl entsteht aus Gelassenheit und Gewissheit, Bedingungen, die wir weder vortäuschen noch verbergen können. Laut einer aktuellen Studie sind psychische Erkrankungen bei Top-Managern achtmal häufiger als in der Gesamtbevölkerung. Die eine todsichere Methode, Menschen mit schweren psychologischen Problemen im Geschäftsleben aufzuspüren, ist, dass sie kein Einfühlungsvermögen in Bezug auf andere haben. Bei dem Versuch, ihre unersättlichen Egos aufzublasen, gefährden sie die kreativen Energien ihrer Mitarbeiter. Es ist wichtig, in unserem Leben und in unserer Arbeit „real“ zu sein und niemals unsere Arbeit mit egobasierten Managementhaltungen zu „verschleiern“. Wenn Top-Manager sagen: ‚Meine Tür ist immer für alle offen‘, ist das nur eine leere Aussage, deren Transparenz für alle sichtbar ist. Unsere Herzen müssen offenbleiben, um bei all unseren Begegnungen, Diskussionen und Gesprächen mit einzelnen Mitarbeitern eine gegenseitig freudige Haltung zu ermöglichen. Im Idealfall werden alle Teilnehmer nach jedem Gespräch, nach jedem mitfühlenden Dialog mit neuer Energie, Leidenschaft und Begeisterung für das Gemeinwohl aufbrechen. Das Üben von Achtsamkeit und Mitgefühl in unserer Arbeit in der Wirtschaft ist eine ausgezeichnete Chance, unser Bewusstsein zu schärfen und die Weiterentwicklung unseres inneren Wachstums zu ermöglichen und zu fördern. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Unternehmen in der Zukunft cc

Mitarbeiter nach Bewusstsein einstellen

also nach der Fähigkeit, ihr Bewusstsein zu erweitern und dadurch kreatives Potenzial freizusetzen, die Intuition zu steigern und Innovationen dem Unternehmen zu schenken. Das setzt natürlich voraus, dass diejenigen, die Führungskräfte einstellen, selbst einen inneren Entwicklungsprozess vollzogen haben, um überhaupt den Bewusstseinsstatus andere erkennen. Nur dann können Sie auch Vorbild in der Führung sein.

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Vergiss Work-Life-Balance  – Das Ziel heißt: Work-Life-Blending, lautete die Überschrift am 28. Oktober 2015 in Huff Post, The Third Metric. Das neue Schlagwort heißt Work-Life-Blending. Immer häufiger fügen sich Freizeit- und Freizeitaktivitäten in unser Geschäftsleben ein und umgekehrt. Die Grenzen zwischen Business und Freizeit verschwimmen. Wie beim Multitasking ist dies nicht unbedingt positiv, denn es erlaubt nicht, dass jede Aktivität unseren gesamten Fokus erhält. Wenn wir in die Büros von Investmentbankern und Unternehmensberatern schauen, werden wir beobachten, wie diese neue Welt erlebt wird. Es ist modisch ‚cool‘. Neu ist nicht unbedingt besser. Die altmodische Trennung von Geschäft und Nichtgeschäft hat Vorzüge. Wir können die Möglichkeiten für achtsame Meditation und innere Entwicklung, die die Erweiterung unseres Bewusstseins erleichtern, nicht vollständig erfahren, wenn wir unsere geschäftlichen und nichtgeschäftlichen Aktivitäten nicht voneinander trennen. Ohne diese Trennung laden wir zu destabilisierenden Verzerrungen und Ablenkungen ein, die kontraproduktiv für die Entwicklung moralischer Entscheidungen und ethischer Praktiken sind. Wir müssen uns zurückziehen können, in die Ruhe und Stille gehen und nach innen schauen.

3.2.3.2 Natur Für viele von uns ist die Kommunikation mit der Natur eine der fruchtbarsten Gelegenheiten, achtsames Bewusstsein zu erfahren. Viel zu viele Kinder, Jugendliche und sogar Erwachsene haben keinen Zugang mehr zur Natur in gesunder, erfüllter und befriedigender Weise. Aufgewachsen mit Computerspielen, Fernsehen, Mobiltelefonen und zahlreichen anderen Merkmalen einer begrenzten und künstlichen Welt, ist sowohl der Wunsch als auch die Fähigkeit, mit der Natur sinnvoll zu interagieren, verloren gegangen. Es ist wichtig, dass wir unsere Kinder und Enkelkinder ermutigen, das Wunder und die natürliche Majestät der Natur zu erleben, um ihre therapeutische Wirkung auf ihren Geist, Körper, Seele und Geist (Spirit) zu ermöglichen. Unser Ego fordert die Art der Entspannung und Revitalisierung, die in der Gelassenheit, Schönheit und Ruhe der Natur einzigartig erlebt wird. Unsere ursprüngliche Quelle des Seins weiß, dass die Kontemplation in der Natur eine ideale Gelegenheit ist, unser inneres Wachstum zu erfahren und zu fördern. Um die wohltuende Wirkung des Eintretens in einen Raum des Bewusstseins und der Stille genießen zu können, müssen wir ihm mit Ehrfurcht und Respekt begegnen. Da wir darauf bedacht sind, von Lärm, lauten Gesprächen, elektronischen Medien und hektischen Aktivitäten umgeben zu sein, bedarf es einer bewussten Anstrengung unsererseits, um uns von der Macherrolle und der Künstlichkeit des Alltagslebens, die mit dem Tun einhergeht, loszulassen und für die heilende Wirkung empfänglich zu sein, die sich aus der Umarmung des Alleinseins in der Einsamkeit der Natur ergibt. Eine Möglichkeit, dieses Loslassen zu erreichen, be-

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steht darin, über die zahlreichen Wunder der Natur wie Bäume, Flüsse, Seen, Berge, Wildtiere oder Pflanzen zu meditieren. Wenn wir in die Natur eintauchen, in Stille wandern oder einfach nur beobachten und reflektieren, werden wir zu Wurzeln, Stämmen, Ästen und Blättern der Bäume. Wenn ich durch eine natürliche Umgebung schlendere, kümmere ich mich nicht um das Gehen, sondern betrachte mich selbst als eins mit meiner Umwelt. Das ist ein großer Unterschied. Es ermöglicht die Befreiung meines Selbst, damit es durch mein Ego strahlt. Eine wunderbare Erleuchtung trägt mich dann durch den ganzen Tag. Wenn wir mit ­Achtsamkeit in die Natur eintreten, können wir den Wald mit einem verstärkten inneren Bewusstsein verlassen. Diese kostbare Gelegenheit erwartet uns alle. Im Wald erfahren wir dann nicht nur die Bäume, sondern den Raum zwischen den Bäumen. Willigis Jäger sagte mir bei unseren Gesprächen über die Natur als Erfahrungsraum: cc

„Wer aufmerksam zuhört, während er die Natur erlebt, wird in eine andere Dimension transformiert!“

Er erwähnte dieses mündlich überlieferte Zitat sehr oft, wenn er in seinen Sitzungen (Teishos) über die Natur sprach.

3.2.3.3 Musik & Kunst Ob wir nun ein Musikinstrument spielen oder nicht, wir alle haben unsere eigene Spezialität, die es uns erlaubt, die Fülle der Präsenz zu erleben. Wir hören nicht nur mit unseren Ohren, sondern auch mit unseren Knochen, unseren Zellen und unserer Körperflüssigkeit. Auf diese Weise können auch die Taubstummen hören. Ich habe eine musikalische Vorliebe, jene besondere Form und Vielfalt, die am besten spirituelle Achtsamkeit hervorrufen kann. Die Musik ermutigt uns, in diesem Moment ganz präsent zu sein. Ich hatte die Möglichkeit diese großartigen Phänomene als Teilnehmer der Eröffnungsfeierlichkeiten einer Schule für hörgeschädigte Kinder in Bhutan zu erleben. Voller Verwunderung beobachtete ich die Kinder, wie sie während der Feier zur Musik tanzten. Die Erfahrung der Musik geht deutlich über das einfache Zuhören hinaus und verwandelt sich in eine ganzheitliche Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung, die weit über die reine Konzentration hinausgeht, ist die Essenz der Achtsamkeit. Bernadette Böll, Expertin für Musiktherapie, sagte mir, um mich für das Klavierspielen zu begeistern: cc

„Wenn man Musik wie eine Meditation spielt, erlebt man nicht nur die Musik, man erlebt das Selbst in der Musik, man wird immer mehr zu einem ganzen Menschen.“ (Bernadette Böll)

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Daniel Barenboim ist ein Befürworter des Schweigens. Er findet Musik in Restaurants ärgerlich. Buddhisten nennen Stille die Leere. Die Leere der Stille ist die tatsächliche Realität, aus der alles entspringt. Es ist das, was ich in einem früheren Buch (Meyer-Galow 2011) als Goldenen Wind bezeichne. Musik kann uns zu einem Verständnis des Lebenssinnes führen, für das die ständige Praxis der Achtsamkeit eine wesentliche Voraussetzung ist. Wenn möglich, ist es für uns von Vorteil, nicht nur Musik zu hören, sondern auch auf dem Instrument unserer Wahl zu üben. Die Möglichkeit, Stille und Achtsamkeit zu erfahren, ist immer da, wenn wir Musik hören oder spielen. Die Intensität der Musik als Erlebnisraum ergibt sich aus dem Hören, das zweifellos unser wichtigster Sinn ist. Die Evolution hat dem Klang höchste Priorität eingeräumt. Musik hilft uns, den Sinn des Lebens zu finden. Unser inneres Wachstum und unsere Freude werden maximiert, wenn wir nicht nur ein Musikstück spielen, um es zu vervollkommnen, sondern wenn wir die Schwingungen des Klangs der Musik, ob von uns selbst oder von anderen gespielt, friedlich in uns eindringen lassen. Auf diese Weise hat die Musik magische, psychosomatische Heilkräfte. Warum gehen wir zu Konzerten? Weil es ein beruhigendes Erlebnis ist. Die Sorgen und Probleme des täglichen Lebens schmelzen dahin, zumindest kurzzeitig. Es ist wichtig, dass wir die Wirkung der Musik nicht auf Körper und Seele beschränken. Körper, Seele und Geist (Spirit) sind eine untrennbar miteinander verwobene Einheit in uns. Die spirituelle Dimension ist von größter Wichtigkeit. Unser Geist ist weder unser rationaler Verstand noch unser Intellekt, sondern vielmehr die unzerstörbare Essenz unseres ursprünglichen inkarnierten Wesens. Yehudi Menuhin spricht von der Stille als Brücke zu Gott. Stille ist Unendlichkeit. Aus dieser Unendlichkeit entspringt alles, was real ist, einschließlich Klang, Melodie und Harmonie in der Musik. Es ist die Unendlichkeit, die sich als Musik ausdrückt. Diese Realität zu erfahren, ist die eigentliche Bedeutung der Musik. Wenn wir uns ganz auf die Musik als Meditation einlassen, werden wir cc

Die Stille erfahren, aus der alle Musik kommt.

Jeder kann ein Instrument spielen. Wenn die Stimme Ihr Instrument ist, dann fangen Sie an zu singen, oder wenn nicht, lernen Sie ein anderes Instrument zu spielen. Es ist nie zu spät. Es gibt keine Altersgrenze. Musik ist essenziell für die Aufrechterhaltung einer energetischen, vitalen Lebenskraft während der letzten Triade des Lebens. Es gibt bemerkenswerte Studien, die unwiderruflich den positiven Einfluss von Musik und Sport auf die Aufrechterhaltung einer optimalen Gehirnfunktion im Alter belegen. Und nun zur Kunst, zum Malen:

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Der Künstler hat die Möglichkeit, sich durch sein Kunstwerk über die Kapazität seines begrenzten Ichs hinaus zu profilieren. Ich sprach mit Hanspeter Münch, einem guten Freund von mir, über Spiritualität und Kunst am 28.10.2010 in Ettlingen/Deutschland: Hanspeter: „Ich hatte schon während meines Studiums in Hamburg eine Initiationserfahrung. Eines Tages sagte mir mein Lehrer, ich solle in die Hamburger Kunsthalle gehen und mir den zweiten Apfel von links in einem ganz besonderen Gemälde von Cezanne ansehen. (...) Als ich das tat, war es wie ein Blitz, der mir durch den Kopf ging. Ohne Absicht, ohne Erwartung, ohne sie zu erzwingen, erlebte ich nun das Gemälde. Ich habe auf jede weitere, tiefere Untersuchung verzichtet. Ich habe das Bild losgelassen. Dann bekam ich es: Er meinte die Modulation, die plastische Darstellung der Farbe auf der Oberfläche des Apfels. Das war 1968, aber die Erinnerung bleibt mir bis heute erhalten. Das war eine Erfahrung in einem Bereich, und das in einer Qualität, die mir bis dahin verschlossen geblieben war. Es handelte sich dabei nicht um eine formale, bewusste Technik, sondern um eine Öffnung des Malers in eine Initiation.

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„Jedes Gemälde hat die Aufgabe, eine Initiation zu sein“ (Hanspeter Münch) als Katalysator zwischen Maler und Betrachter zu fungieren. Damals war ich beeindruckt von der Erkenntnis, dass dies die wesentliche, eigentliche Aufgabe der Kunst ist. Wer dieses transzendentale Potenzial der Kunst nicht versteht, kann ein Leben lang malen, ohne jemals den Punkt zu erreichen, an dem er das Formale, Ästhetische und Stilistische zu übertreffen vermag.“ Erhard: „Nur wenn das Geheimnisvolle erfahrbar ist, ist es wahre Kunst?“ Hanspeter: „Das ist die Wahrheit. Es geht im Grunde genommen um die Unerklärlichkeit, um die Überschreitung der bis dahin vorhandenen Kapazität sowohl sensibel als auch bewusst, in Emotion und Proportion.“ Erhard: „Die mystische Erfahrung ist transemotional und transrational.“ Hanspeter: „Nun sind wir natürlich bei der Transzendenz, ein Begriff, der heute überhaupt nicht mehr gebraucht wird. Für mich ist dies jedoch ein sehr wichtiger Punkt. Wir alle leben in Immanenz. Es ist unser tägliches Brot und Leiden. Ich mache mir Sorgen um diese Transzendenz, das heißt, um die Überquerung. Wenn ich die Farbe nach bestimmten Gesetzen einstelle, die es natürlich gibt und die ich benutze, dann komme ich nur an einen bestimmten Punkt. Nach 40 Jahren Erfahrung merke ich genau, wann genau dieser Punkt erreicht ist. Nach ein paar Wochen Arbeit an einem Gemälde kommt der Moment, dass ich es in Ruhe lassen muss. Es malt sich sozusagen von selbst. An diesem Punkt werde ich nur noch ein Werkzeug sein. Zu Beginn lege ich einen aktiven Start an. Alle Gedanken, alle Gefühle, Techniken und Kenntnisse werden zu Bildern. Dann nimmt das Gemälde irgendwann eine Form an. Es beginnt ein Dialog mit mir. Ich werde einfach tun, was es will. Ich komme dann in diese transzendente Wahrnehmungsstruktur hinein, in der man nicht mehr mit Worten oder klaren Absichten etwas formulieren kann, sondern in der das Gemälde diktiert, was mehr notwendig ist. Das ist die Verwirklichung des Kreativen.

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Wenn ich den Wunsch habe, einen inneren Aspekt eines Gemäldes zu erkennen, so stellt er sich mir nicht vor. Aber in dem Moment, in dem ich völlig offen bin und jede aktive Bitte aufgebe, während ich offenbleibe, um herausgefordert zu werden, dann kann ich die Gabe empfangen, das Schöpferische und Transzendente zu erfahren. Dies kann auch als mystische Erfahrung oder als Gotteserfahrung bezeichnet werden. An dieser Stelle sind alle Wörter unzulängliche Versuche, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Ich wurde offen und empfänglich für weitere Initiationserfahrungen. Meine früheren Enthüllungen weckten in mir den Wunsch, über die formale Ästhetik hinaus in Richtung Transzendenz zu gehen.“ Erhard: „In der Malerei kann man, wie Du wunderbar beschrieben hast, nicht nur durch die eigene Arbeit, sondern auch durch die Kontemplation dieses innere Wachstum und die damit verbundene Heilung erfahren. Es ist ein Geschenk, ein Zustand, den wir als Gnade ausdrücken können. Sie führt uns unaufhaltsam zu einem moralischen und ethischen Leben.“ (Meyer-Galow 2011)

Wahre Kunst und Wissenschaft wird durch die Erfahrung des Mysteriums genährt. Für Albert Einstein ist Kunst nur dann authentisch, wenn sie von einer mystischen Qualität initiiert wird. Im Sommer 2007 veranstaltete die theologische Fakultät der Universität Luzern eine Vortragsreihe zum Thema Spiritualität & Kunst mit dem Thema: „Spirituelle Spuren in der Welt der Kunst“. Die Essenz der Tagung könnte man wie folgt zusammenfassen: Wenn Kunst als eine mögliche Erfahrung auf der Suche nach dem Unaussprechlichen und Unsichtbaren auf der Suche nach dem Ultimativen und Unendlichen betrachtet wird, dann ist Kunst letztendlich eine Form der Spiritualität oder ein Ausdrucksmittel der Spiritualität (Müller 2007).

3.2.3.4 Sportarten Sport und Musik ergänzen sich wunderbar. Im ersten Drittel des Lebens streben die meisten von uns nach Leistung und Perfektion in allem, was wir tun. Im zweiten Drittel unseres Lebens werden Entspannung und Freude im Allgemeinen vorherrschend sein. In unserem dritten Lebensabschnitt haben wir die Möglichkeit, Sport als Übung zur inneren Reifung zu betreiben. Jede Aktivität, einschließlich aller Arten von Erholung, kann als Meditation praktiziert werden. Durch den Freizeitsport haben wir die Möglichkeit, uns selbst neu zu erschaffen. Eugen Herrigel beschreibt in seinem Buch Zen in the Art of Archery meisterhaft die achtsame Aufmerksamkeit, die für diesen Sport notwendig ist: „Ich erkannte allmählich, dass nur der wirklich Getrennte verstehen kann, was mit Loslösung gemeint ist, und dass nur derjenige, der kontemplativ ist, der völlig leer und losgelöst vom Ego ist, bereit ist, eins mit der transzendenten Gottheit zu werden.

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Ich hatte erkannt, dass es keinen anderen Weg zur Mystik gibt und geben kann als den Weg der persönlichen Erfahrung und des Leidens.“ (Herrigel 1953, S. 14)

Bogenschützen üben jahrelang, das mittlere Ziel mit ihren Pfeilen zu treffen. Das Ego strebt verzweifelt nach Vollkommenheit. Aber solange das Ego das Kommando hat, wird es uns nicht gelingen. Der Erfolg wird sich erst einstellen, wenn der Pfeil mit einem Lächeln auf dem Gesicht losgelassen wird; ein Lächeln, das sich aus der Loslösung von unserem Ego ergibt. Eugen Herrigel beschreibt es wunderbar und bildhaft, sodass wir alle, die wir diese Distanz noch nicht erlebt haben, begreifen können, wie es zum Erfolg in allen Sportarten führt. Es sei alles so einfach. Man könne von einem gewöhnlichen Bambusblatt lernen, worauf es ankommt. Durch das Gewicht des Schnees wird es nach unten gedrückt. Plötzlich rutscht die Schneelast ab, obwohl das Blatt sich nicht bewegt oder widersteht. Man solle öfters im Leben versuchen eine Pause einzulegen, ähnlich wie beim Bogenschießen. Wenn die Spannung ihren Höhepunkt erreicht hat, muss der Pfeil fliegen und sein Ziel finden. Dann spürt der Bogenschütze den Goldenen Wind. Jede Sportart, der wir uns nähern, kann eine Erfahrung sein, die uns zu größerer innerer spiritueller Reife führt. Aber es geht darum, den Sport nicht als Leistung zu sehen, sondern als Achtsamkeitsübung, aus der sich die Leistung einfach so ergibt.

3.2.3.5 Tanz Der Tanz hat historisch gesehen eine wichtige Rolle im Leben von Menschen aus allen Kulturen gespielt. Er war einst eine dominante Ausdrucksform rund um den Globus. Es ist bedauerlich, dass der Tanz vor allem den jungen Menschen zugeschrieben wird und als universell expressive Kunstform in weiten Teilen der modernen Gesellschaft weitgehend verschwindet. Beim Tanzen erfordert jeder einzelne Schritt ein Maximum an Achtsamkeit. Wir stellen fest, dass je mehr wir einen Tanz praktizieren, desto mehr sind es nicht mehr wir selbst, die die verschiedenen Schritte kontrollieren; der Tanz übernimmt und wir werden eins mit dem Tanz. Dies ist eine weitere Gelegenheit, unser Bewusstsein für die Empfänglichkeit zu öffnen. Nur wenn wir loslassen und den Fluss des Lebens als Nicht-Täter ohne verbindliche Erwartungen beobachten können, sind wir offen empfänglich für den Empfang aus dem Kosmos. Jeder Tanz kann meditativ sein, so wie jede Aktivität meditativ sein kann. Es hängt von unserer Empfänglichkeit ab, offen für das Unbekannte zu sein. Wir dürfen uns nicht ablenken lassen, indem wir uns auf Zweck und Kontrolle konzentrieren, sondern müssen einfach Vertrauen praktizieren, indem wir Achtsamkeit annehmen.

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3.2.3.6 Religion Religion ist insofern von großer Bedeutung, als sie vielen von uns Orientierung und Unterstützung in allen Lebensphasen gibt. Die Bedeutung der Religion liegt in der Möglichkeit des Wachstums, das uns zur Erfahrung Gottes führen wird. Es ist vorzuziehen, dass unsere Religionswissenschaften von einem Meister geleitet werden, der direkte Erfahrungen mit Gott gemacht hat. Leider sind die meisten Priester oder Amtsträger nur in der Lage, uns zu bitten, an Gott zu glauben. Dies ist eine ernsthafte Einschränkung, die letztendlich zu unserer Ernüchterung über die zeitgenössischen christlichen Religionen führt. Es ist durchaus vernünftig, dass viele von uns nicht bereit sind, einfach blind zu glauben, sondern in die Gotteserfahrung drängen.

3.2.3.7 Menschen treffen Sinnvolle Begegnungen mit wunderbaren Menschen, die in ihrer Individualität ­sicher sind, sind eine freudige Gelegenheit, unser persönliches Bewusstsein zu schärfen. Hans-Peter Dürr hat bereits in diesem Buch darüber gesprochen, wie wichtig ihm diese persönliche Interaktion ist. Im Prozess der Reifung erfahren wir unser eigenes Sein in anderen, was zu vielen Vorteilen führt, einschließlich einer ehrlichen Einschätzung unserer eigenen spirituellen Integrität. Wenn wir sowohl bei geplanten als auch bei unerwarteten Begegnungen offen und empfänglich bleiben, sind wir in der Lage, unsere Fähigkeit zu erfahren und zu beobachten, im Umgang mit anderen achtsam zu bleiben. Die Begegnung mit anderen ist eine Gelegenheit, aus unserer Ich-Zentriertheit herauszutreten und anderen mit höchstem Bewusstsein und Mitgefühl zuzuhören, jenen Qualitäten, die die energetische Atmosphäre schaffen, die uns alle miteinander verbindet. Es ist eine großartige Zeit, um das Vertrauen zu manifestieren, dass die andere Person die Hand ausstrecken und mich treffen wird. In der Corona-Krise haben wir uns abgewöhnt, die Hand zu geben. Aber es gibt ja viele andere Möglichkeiten, um zu signalisieren, dass man Kontakt aufnehmen möchte. Aufgrund unserer Wettbewerbsvoraussetzungen sind wir es gewohnt, in allen Gesprächen die initiative Kraft zu sein. Wenn es uns an Einfühlungsvermögen und Vertrauen mangelt, verpassen wir die wahre Essenz der gemeinsamen Gesellschaft und des Gesprächs. Aber wenn wir ein kritischer Zuhörer bleiben, sind wir in der Lage, sowohl aus den schönen als auch aus den weniger schönen Einflüssen in unserem Leben Wert zu schöpfen. Wir haben alle einen anderen gefragt: „Wie geht es dir?“ und dann nicht auf eine Antwort zu warten, haben es unserem Ego ermöglicht, uns in einem langen Monolog mit Energie zu versorgen. Wenn wir uns wirklich darum kümmern, wie sich ein anderer fühlt, werden wir dafür sorgen, dass wir Zeit und

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Raum für eine überlegte Antwort lassen, und wir werden darauf vertrauen, dass derselbe Respekt erwidert wird. Wenn wir einer anderen Hand unsere Hand anbieten, bietet sich die Gelegenheit für ein kurzes Treffen, um auch eine Meditation zu werden. Vor allem, wenn wir mit einer kurzen Stille beginnen und dann mit einem liebevollen Dialog fortfahren, wie es Hans-Peter Dürr gesagt hat. Ein Meeting ist nicht immer ein Dialog mit Worten. Es gibt kraftvolle Meetings, die die totale Stille umfassen, Meetings, die mit einer ganz besonderen Qualität gefüllt sind. Ich nahm an Zen-Sitzungen teil, die in völliger Stille abgehalten ­wurden und in denen ich eine große Verbundenheit mit allen anderen Teilnehmern spürte. Das war ein wunderbarer Dialog in der Stille. Manchmal haben wir auch Begegnungen mit schwierigen Menschen, mit denen wir uns aufgrund ihrer Egozentrik nicht verbunden fühlen. Obwohl es zugegebenermaßen schwierig ist, sind solche Begegnungen ausgezeichnete Gelegenheiten, Empathie und Mitgefühl zu üben. Wir sind in jedem Moment untrennbar verbunden durch die Interaktion mit jedem einzelnen Menschen, dem wir begegnen.

3.2.3.8 Krankheit und Leiden Jede Krankheit hat ihren eigenen Charakter und ihre eigene Herausforderung für unseren lebenslangen Lernprozess. Krankheiten zwingen uns, zu untersuchen, inwieweit wir in der Lage sind, loszulassen, uns von unserem „Kontrollzentrum“ zurückzuziehen und unsere Ich-Zentriertheit aufzugeben. cc

Leiden ist ein Aufruf zu mehr Bewusstsein und Wachstum

Wenn wir uns in einer Krankheit befinden, ist die Praxis der Achtsamkeit sowohl gefordert als auch erforderlich, von Moment zu Moment. Hans-Peter Dürr weist darauf hin, dass wir uns nicht nur an Ärzte, sondern auch an das kooperative Hintergrundfeld ausliefern müssen. In Zeiten der Krankheit wird es immer wichtiger, dass wir unser Bewusstsein erkennen lassen, dass dieses Feld immer hinter, um und über uns herum existiert. Es gibt keinen Bruch, es gab und es wird auch keinen Bruch geben. Sie erstreckt sich sowohl rückwärts als auch vorwärts in die Unendlichkeit. Wenn wir bei bester Gesundheit, aktiv, fleißig und gesund sind, nehmen wir uns allzu oft keine Zeit, um über unseren Zustand des Seins nachzudenken. Jede Münze hat immer zwei Seiten. Der menschliche Zustand besteht sowohl aus Gesundheit als auch aus Krankheit. Vielleicht ist es besser, von Leichtigkeit (gesunde Leichtigkeit) und Krankheit (belastende Schwere) zu sprechen. Wenn wir nicht in Kontakt mit dem kooperativen Hintergrundfeld sind, dem Feld, das die perfekte Gesundheit beinhaltet, geraten wir in Schwierigkeiten. Christen mögen dieses Feld Gott nennen. Die Quantenphysik spricht eher von der

3.2 Wachstum durch spirituelle Weisheit

cc

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ursprünglichen Essenz, von Energie mit unsterblicher Natur und unsterblichem Wesen.

Das Vertrauen in unser Gottesbild und den Glauben und das Vertrauen in unsere Vorstellung ist sehr geordnet. Solange wir gesund sind, praktizieren wir Gebete, Rituale oder christliche Kontemplation oder wir nehmen die Achtsamkeit durch eine Reihe von Gelegenheiten wahr, wie zuvor besprochen. Diese Aktivitäten sind eine notwendige Vorbereitung für die erfolgreiche Bewältigung zukünftiger Krankheiten und auch des Todes, der ultimativen Form des Loslassens. cc

Krankheit ist immer eine Übung auf dem Weg zum Tod.

Unsere Gegenwart, unser Leben im Hier und Jetzt ist die bestmögliche Verschreibung für jede Phase unseres Lebens. Nur durch unsere völlige Achtsamkeit haben unsere Selbstheilungskräfte die Möglichkeit, sich zu manifestieren. Die deutsche Sprache benennt oft sehr exakt. Aber der eigentliche Sinn und Inhalt unserer Wörter verändert sich oder wird entstellt und keinem fällt das auf. Hier heißt es Selbstheilungskräfte und nicht Ichheilungskräfte. Ursprünglich ist also die Heilung aus dem Selbst und nicht aus dem Ich angesagt. Die muss geübt und zugelassen werden können. Wenn wir das nicht gelernt haben, versuchen wir jede Krankheit mit unserem Ego zu bekämpfen und zu besiegen. Oft ein nicht zu gewinnender Kampf. Jede Krankheit ist auch eine Manifestation des Seins, des göttlichen Prinzips, von Gott oder des Quantenfeldes, wie immer wir versuchen, das nicht Benennbare zu benennen. Die Krankheit ist wohl der stärkste Impuls, endlich unseren Egotrip zu verlassen und uns dem inneren Wachstum zuzuwenden, es einfach zuzulassen. Hans-Peter Dürr erinnerte immer daran, dass wir alle Mitschöpfer der Schöpfung sind und dass Gott in uns, nicht getrennt von uns ist. Wie können wir das Bewusstsein für die Einheit erlangen, zu der wir alle gehören? Wir müssen vollkommen präsent und empfänglich sein, damit diese Erfahrung uns umhüllen kann. Das Eintreten in eine achtsame Erfahrung von Arbeit, Natur, Musik, Tanz, Kunst oder irgendeinem anderen gewählten Unterfangen ist freiwillig. Der Eintritt in den Bereich des Erlebens von Krankheit und Tod ist jedoch obligatorisch. Wenn wir weise sind, werden wir es auch der Krankheit erlauben, uns bei unserem Streben nach mehr persönlichem Bewusstsein zu unterstützen. Im Erleben von Krankheit und schließlich Tod sehen wir uns mit dem intuitiven Wissen konfrontiert, dass wir die Kontrolle abgeben müssen. Wenn wir das endlich tun, öffnen wir uns für die spirituelle Dimension unserer Menschheit und lassen unsere psychosomatischen Überbleibsel hinter uns. Als Patient fühlen wir uns oft

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3  Die Lösung

einsam, weit entfernt von unseren Freunden, Familienmitgliedern und allem, was uns vertraut ist. Diese Gefühle entspringen der Trennung unseres Egos von unserem göttlichen Ursprung. Die Ängste, die mit unserem Leben einhergehen, auch in einer bedrohliche Krankheit, sind nur zu integrieren, wenn wir uns wieder mit unserer inneren Quelle des Seins, unserem essenziellen spirituellen Zentrum, verbinden. In jeder Situation, in der wir von Ängsten verzweifelt sind und uns einsam fühlen, ist es ratsam, zu versuchen, unsere Einsamkeit mit Sinn zu füllen. Alleinsein muss sich nicht wie Isolation anfühlen, es kann uns zum befreienden, expansiven Gefühl des Einsseins mit allem antreiben. Wenn wir uns durch Stille und Reflexion bemühen, während wir alle Erwartungen loslassen, um uns mit allem, was ist, zu verbinden, erfahren wir kosmische, bedingungslose Liebe und die Heilung, die sie begleitet. Wenn wir unsere negativ geladenen Gedanken oder Worte bewusst in positive Gedanken oder Worte umwandeln und ausdrücklich darum bitten, dass alle Negativität, einschließlich derjenigen, die von anderen oder sogar von unserem eigenen Unbewusstsein gegen uns gerichtet werden kann, in positive Energie umgewandelt wird, die dann in den Kosmos freigesetzt werden kann, um anderen zu helfen, die in größerer Not sind als wir selbst, dann haben wir Zugang zu einer transformativen und ermächtigenden Manifestation. Nur durch das Erleben des Einsseins mit allem können wir, wie Walter Schwery sagt, eine positive, heilende Wirkung auf Körper, Seele und Geist entfalten. Wenn unsere Reifung noch nicht weit genug fortgeschritten ist, bleibt uns keine andere Wahl, als uns einer somatischen, psychologischen oder psychosomatischen ärztlichen Behandlung zu unterziehen. Das ist keine schlechte Sache, aber es ist bestenfalls eine sehr begrenzte Form der Heilung. Während man die Errungenschaften der modernen allopathischen Medizin und Forschung voll anerkennt, ist es klug, auch die Grenzen dieser Praxis der Medizin, einschließlich all ihrer inhärenten Gefahren und unvermeidlichen Nebenwirkungen, zu kennen. Es ist immer wichtig, zu erkennen, dass es Kosten für jede Heilung gibt, von denen eine davon eine Hemmung unserer Fähigkeit sein kann, auf wirkliche innere Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Harmonie und Seelenfrieden zuzugreifen. Im Falle einer Krankheit ist unser System somatisch, mental und spirituell gestört. Jede Krankheit ist eine Manifestation einer Realität, die wir nicht vollständig verstehen und daher nicht präzise ausdrücken können. Diese Einschränkung schmälert nicht die Realität, die wir auf einer Ebene jenseits der Sprache vollständig verstehen können. Für Willigis Jaeger ist eine Krankheit ein Raum in Zeit und Erfahrung, der die Möglichkeit bietet, mit unserer Essenz in Kontakt zu treten. Als ich ihm von meiner Krebsdia­ gnose erzählte, antwortete er: „Dieses überraumzeitliche Wesen, seine Essenz und

3.2 Wachstum durch spirituelle Weisheit

199

Transzendenz, manifestiert sich in all unseren Aspekten deines Lebens, sei es Gesundheit oder Krankheit.“ Da Krankheit eine mächtige Lernmöglichkeit ist, die uns zu einer Erfahrung des kooperativen Hintergrundfeldes führen kann, wie sie Hans-Peter Dürr dargelegt hat, sollten wir dann denn gegen eine Krankheit kämpfen, bei der wir diagnostiziert werden? Unser Körper ist kein Schlachtfeld. Wir müssen mit all unseren Zellen Frieden schließen, sowohl mit den gesunden als auch mit den kranken Zellen. Der effektivste Heilungsprozess entsteht durch einen inneren Friedensvertrag und eine Vereinbarung, in der wir alle Zellen in unserem Körper liebevoll willkommen heißen. Krankheiten sind immer Wachstumschancen, ein Eingang in den größeren Kreis des kosmischen Holons, wie Hans-Peter Dürr sagte. Frank Kinslow (Kinslow 2008) beschreibt in seinem Buch The Secret of Instant Healing ­Meditationsübungen, die uns helfen, mit dem Nullfeld, wie er es nennt, in Kontakt zu kommen. Krankheit kann eine ausgezeichnete Gelegenheit sein, unsere Lernprozesse zu beschleunigen. Sie ermöglichen und fördern viel Selbstreflexion. Sobald wir uns erholt haben, können wir feststellen, dass unser Engagement für ethische und moralische Einstellungen und Praktiken erheblich gestärkt werden kann.

3.2.3.9 Unser tägliches Leben Es gibt unzählige Möglichkeiten in unserem täglichen Leben, unser Bewusstsein reifen zu lassen. Wenn wir jeden Moment mit vollem Bewusstsein und Achtsamkeit leben, dann ermutigt und unterstützt jeder Moment unser inneres Wachstum. Alle Aktivitäten, wie Aufwachen, Zähneputzen, Gesichtswaschen, Sitzen, Gehen, Stehen, Schreiben, Lesen, Einkaufen, Autofahren, Warten, Schauen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Schuhe anziehen, Menschen grüßen und Händeschütteln, können unser persönliches Wachstum fördern, wenn sie bewusst durchgeführt werden. Es liegt ganz bei uns, ob wir uns durch all diese Momente automatisch ohne bewusste Aufmerksamkeit oder mit meditativem Bewusstsein bewegen. Ist es nicht klug, die Chance zu nutzen, diese notwendigen Aufgaben in Wachstumserfahrungen umzusetzen? Es überrascht nicht, dass Achtsamkeit die notwendige Voraussetzung für die Schaffung von Gelassenheit, Fröhlichkeit, Humor und Mit­ gefühl ist. Aktivitäten, die ohne bewusste Aufmerksamkeit ausgeführt werden, können zu Spannungen, Stress, Angst, Ärger, Wut und Traurigkeit führen. Wenn wir uns von unserem Selbst trennen, riskieren wir, Mitgefühl für uns selbst und für andere zu verlieren, indem wir Isolation und Einsamkeit fördern. Wachstum bedeutet Veränderung. Eine Metamorphose ist unerlässlich, damit aus einer Raupe ein Schmetterling wird, sagt man im Zen.

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cc

3  Die Lösung

Wir allein können die Entscheidung treffen, unser Leben als Raupe fortzusetzen oder ein Schmetterling zu werden! (Zen Sprichwort)

Wir beginnen uns zu verändern, wenn wir beginnen, in jedem Moment präsent zu sein. Tag für Tag warten unsere täglichen Aktivitäten auf uns. Wir fangen jeden Tag von Neuem an. Es gibt keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gibt nur unsere Gegenwart in diesem einen Moment. Sowohl die Gesamtheit allen Lebens als auch die Gesamtheit unseres Lebens vollzieht sich in jedem Moment, in dem wir lebendig sind. Ob wir die Erfahrung des Lebens auf eine rein mechanische Wiederholung beschränken oder die Erfahrung des Lebens mit achtsamer Bewusstheit bereichern, liegt ganz in unserer Hand. Wenn wir uns für Letzteres entscheiden, entsteht ein Leben voller Gleichmut, Gelassenheit, Humor, Mitgefühl, Harmonie, Menschlichkeit und Liebe zu anderen Menschen.

3.3

Wachstum durch Quantenphysik

Inspiriert durch meine Gespräche mit Hans-Peter Dürr und durch die Weisheit in seinen Büchern fühlte ich mich gezwungen, mich zu fragen, ob man ohne Meditation und Individuationspraxis in sich selbst wachsen kann. Der Erfahrung der Wahrheit oder genauer gesagt der Realität kann man sich mit Erkenntnissen aus der Quantenphysik nähern, dem Weg von Hans-Peter Dürr. Die Erkenntnisse aus der Forschung in der Quantenphysik führen uns zu neuen Denkweisen und Erfahrungen des Selbst und des Göttlichen sowohl in uns als auch um uns herum. Hans-Peter Dürr nennt das Feld, aus der alle Realität kommt: Das kooperative Hintergrundfeld oder der permanente Werdeprozess des Lebens. Für ihn gibt es eine wichtige Verbindung: cc

„Liebe, Geist und Leben gehören zusammen.“ (Dürr im Gespräch) In einem Gespräch mit mir führte er aus: „Ich bin Atheist. Aber in der Sanskrit-Sprache impliziert das Präfix ‚A‘ keine Negation, sondern vermittelt nur, dass das Ziel der Frage ungültig ist. Mit anderen Worten, für mich kann Gott nicht richtig ausgedrückt oder in irgendeiner Weise quantifiziert werden, denn Gott bezieht sich auf die Gesamtheit des Einsseins, nämlich Advaita, das Unteilbare. Ich bin also kein Atheist im Sinne von jemandem, der nicht glaubt; ich persönlich habe keinen Zweifel daran, dass es Verbindungen gibt, die über unser Verständnis hinausgehen. Es gibt sicherlich eine einzigartige Struktur der Vernetzung, die viele Namen hat, die alle nur Metaphern sind.

3.3  Wachstum durch Quantenphysik

201

Wir können es Geist oder Liebe nennen. Die Liebe ist der Begriff, der für mich am besten die Einheit von allem, was aus der universellen Vernetzung hervorgeht, zum Ausdruck bringt, und der es uns auch ermöglicht, die sich ständig verändernde Form eines spirituell erzeugten Kosmos einfühlsam in einer zutiefst persönlichen, aber expansiven und geschätzten Weise zu erfahren. Die moderne Physik ist nun zu dieser verblüffenden Erkenntnis gekommen: Materie besteht nicht aus Materie. Wenn wir die Materie auf fast nichts reduzieren, in der Hoffnung, am Ende des Prozesses die kleinste, formlose, reine Materie zu finden, bleibt nichts übrig, was uns an die Materie erinnert. Es bleibt keine Substanz übrig, nur Form, Gestalt, Symmetrie und Beziehung. Dieses Wissen war und ist sicherlich sehr verwirrend aus unserer traditionellen, strukturellen Sicht der Realität. Wenn Materie nicht aus Materie besteht, dann bedeutet das, dass der Vorrang der Materie nur von untergeordneter Bedeutung ist. Beziehung ist primär, Materie ist sekundär. Vielleicht könnten wir auch sagen, dass, wenn wir alle Materie so weit wie möglich reduzieren:

cc

„Die Welt der Spiritualität, des Holismus, der Offenheit ist in der Tat, wenn das Leben sich offenbaren soll, die Potenzialität, die ­wahrscheinliche Möglichkeit, einer wahrscheinlichen Verwirklichung als Realität“ „Die Materie ist lediglich ein bequemes Nebenprodukt dieses Geistes; trennbar, unterscheidbar, bestimmbar als das, was wir als Realität wahrnehmen. Im Bereich der Potenzialität gibt es keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Zukunft ist viel offener. In jedem Augenblick, in dem die Welt neu erschaffen wird, wird nichts vorherbestimmt, nichts kann vorhergesagt werden, aber unsere Erwartungen können und müssen die Schöpfung gestalten.“

cc

„Der Grund, warum wir nicht in die Zukunft blicken können, ist, dass es sie noch nicht gibt.“ „Die alte Potenzialität in ihrer Gesamtheit bringt neue Formen und neue Erkenntnisse hervor, aber das Neudefinierte bleibt fließend. Jeder und alles ist in diesen nie endenden Schöpfungsprozess einbezogen. Die Interaktion folgt bestimmten Regeln. Physikalisch wird sie durch eine Superpositionierung komplexer Wellen beschrieben, die variabel verstärkt und dann geschwächt werden können. Es ist ein Nullsummenoder Win-win-Spiel, bei dem die Zusammenarbeit zu einem gemeinsamen Wachstum führt. Es ist die wahre Schöpfung, die Transformation des Potenzials in die Realität, eine materiell-energetische Manifestation des Möglichen. Das mag für Egoisten enttäuschend sein, die darauf aus sind, die Natur zu manipulieren, um ihren eigenen egoistischen Interessen zu dienen. Wir können nicht genau wissen, was in Zukunft unter welchen Umständen geschehen wird, denn es bleibt unbestimmt. Es ist vielleicht klug, Verben, statt Substantive zu verwenden, die, indem sie das Bestimmte andeuten, die flüssige Ausdehnung unseres Lebens einschränken. Zum Beispiel können wir eher davon sprechen, zu leben, zu lieben, zu fühlen, sich einzufühlen und zu handeln als von Leben, Liebe, Gefühl, Einfühlungsvermögen und Aktivität.“

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cc

3  Die Lösung

„Realität, das Ergebnis des permanenten Handlungsprozesses, ist pure Potenzialität und Verbundenheit.“ „Diese fundamentale Verbundenheit bedeutet, dass die ganze Welt eine undifferenzierte Einheit ist. Es würde uns guttun, darüber nachzudenken, wie die revolutionären Erkenntnisse der Quantenphysik unsere Denkweisen wesentlich erweitern ­können, und unsere gegenwärtigen Überzeugungen und unser Verhalten, die diese Überzeugungen hervorrufen, grundlegend zu untersuchen. Niemand ist auf dieser Welt isoliert.“

cc

„Wir sind alle eins, verbunden zu einer einzigen Einheit.“ „Es ist wichtig zu erkennen, dass in dieser Einheit unser individuelles Handeln nicht nur alle gesellschaftlichen Konstrukte, Handlungen anderer Individuen und Gesellschaften betrifft, sondern als Konsequenz daraus auch die sich ständig verändernde dynamische Potenzialität der lebenden Realität lenkt. So ist die Einzigartigkeit des Beitrags jedes Einzelnen ein wesentlicher Bestandteil unseres gemeinsamen kulturellen Evolutionsprozesses. Wir müssen enge, statische, mechanistische strategische Muster loslassen, die sie begrenzen, reduzieren und durch Weite, Mobilität, ­Offenheit und Einfühlungsvermögen ersetzen, um ein dynamisches Wechselspiel zu ermöglichen, das die Schaffung von echtem Reichtum und die Unterstützung der Menschheit ausgleicht, um ihre tiefste Form der Ganzheit, der Einheit, zu verwirklichen.“ (Dürr)

cc

Ein neues Weltbild geht sichtbar von empathischen Menschen aus.

Haben wir alle überlegt und aus den neuesten Erkenntnissen gelernt und dadurch unsere Einstellung zu einer ethisch-moralischen Arbeit und zum Privatleben verändert? Es sieht so aus, als hätten wir es nicht. Wir haben uns auch nicht die Einsichten von Mystikern aus vergangenen Jahrhunderten zunutze gemacht. Hans-Peter Dürr stimmt mir zu: „Es ist erstaunlich, dass dieser tief greifende Wandel unseres Realitätsverständnisses noch nicht philosophisch und erkenntnistheoretisch begriffen ist, nach mehr als 100 Jahren seit den paradoxen Erkenntnissen der Physiker Max Planck und Albert Einstein und den großen wissenschaftlichen Erkenntnissen 25 Jahre später von Niels Bohr und Werner Heisenberg.“

Diese Weisheit hat sich in der Welt der Wirtschaft noch nicht durchgesetzt. Es ist kaum zu erwarten, wenn nicht einmal Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Disziplinen der Geistes- und Kulturwissenschaften dieses Wissen in Anspruch genommen haben. Mediziner, die wir, zumindest in der Heilkunst, gerne als

3.3  Wachstum durch Quantenphysik

203

Vorreiter bezeichnen, versuchen nach wie vor, Krankheiten mit ihren mechanischen, materialistischen Modellen zu erklären und zu heilen. Diejenigen, die sich für Methoden einsetzen, die sich aus dem Verständnis und der Akzeptanz der neuen Realität ergeben, sind phänomenal erfolgreich, aber sie sind selten. Ich bin Chemiker, dessen Erziehung und Ausbildung ganz auf einer materialistischen Weltsicht beruhte, ganz im Gegensatz zu dem, was die Details der Quantenphysik diktieren würden. Aber als Manager in der chemischen Industrie, der mit Mentoren gesegnet war, die mich durch einen Reifeprozess ermutigt haben, schwingt das Wissen und die Weisheit von Hans-Peter Dürr tief in mir mit. Egal, welchen Weg wir wählen, um Sinn zu haben, unsere Erfahrungen müssen zu direkten, unmittelbaren Konsequenzen in unserem täglichen Handeln führen. Wir alle müssen uns entscheiden, ob unsere gewählte Karriere irgendwann zu einem liebevollen Beruf wird, und wenn ja, wie wir diesen Wandel erleichtern können, um ein individuelles Meisterwerk aus unserem Lebenswerk mit zu erschaffen. Physiker und Chemiker haben sicherlich einen nicht immer positiven Ruf. Einige bauen Atombomben, andere produzieren Gas für Kriege und andere ähnlich skrupellose Zerstörungsmethoden. Wenn wir erst einmal den inneren Weg gegangen sind, die neue Physik und die Verbundenheit und Einheit, die sie offenbart, studiert und begriffen haben, können wir nicht an einer Welt der Wirtschaft teilnehmen, in der Menschen, Natur oder irgendein Teil der Schöpfung geschädigt werden, denn wenn wir irgendeinen der Teile des Ganzen, von denen wir ein Teil sind, schädigen, erkennen wir, dass wir uns selbst schaden. Trennung ist eine bloße Illusion. Hans-Peter Dürr promovierte bei Edward Teller (1908–2003) an der University of Berkeley in Kalifornien, distanzierte sich aber von seinem Mentor, nachdem bekannt wurde, dass Teller der Vater der Wasserstoffbombe war. Hans-Peter kämpfte seit vielen Jahren mit allen Mitteln für Weltfrieden und Harmonie. Er schlug einen revolutionären Energieplan vor, der von einem sparsameren Verbrauch ausgeht und weniger neue Kraftwerke erfordert. Er setzte sich für dezen­ trale, saubere Energie ein. Er sah in der ungelösten Frage der Entsorgung von Atommüll eine große Bedrohung für die Natur und war entschieden gegen die künftige Nutzung der Kernenergie. Er erinnerte in seinen Vorträgen immer wieder an Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl und Fukushima. Chemiker mischen und bewegen sich mit Begeisterung um Atome und Moleküle herum und synthetisieren alles, was möglich ist. Wenn ein Experiment zu den gewünschten Ergebnissen führt, wenden sie neue Reaktionsmethoden an, wie sie von Katalysatoren gefördert werden, ohne darüber nachzudenken, ob das Ergebnis zum Nutzen oder zum Nachteil der Umwelt ausfällt. Es ist bedauerlich, dass die Frage, ob die daraus resultierenden Produkte dem Gemeinwohl dienen oder böse Absichten fördern, in der Branche nicht weitverbreitet ist. In der Chemie gibt es Produkte, die nur böse sind,

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3  Die Lösung

wie z. B. giftiges Gas. Es gibt auch Produkte, die nur für das Gute sind, wie z. B. Produkte für eine bessere Ernährung und Gesundheit. Es gibt auch Produkte, die sowohl für das Gute als auch für das Böse verwendet werden können. Wie diese Produkte eingesetzt werden, entscheiden die Nutzer, die Promotoren und der Marktplatz. Selbst scheinbar harmlose Produkte wie Wasser, Salz oder Luft können verwendet werden, um andere zu töten. Wir sind immer klug genug, um uns zu fragen, ob wir mit einem schonenden Umgang mit unseren natürlichen Ressourcen zum Wohle der Menschheit arbeiten. Auch ohne Vorkenntnisse der Erkenntnisse aus dem Bereich der Quantenphysik habe ich immer versucht, alles, was ich von meinen Mentoren gelernt und von meinen achtsamen Reflexionen während meiner Jahre in der chemischen Industrie gelernt habe, anzuwenden. Wenn wir uns alle miteinander verbunden fühlen, dann ist die Assoziation des Miteinanders von Fürsorge, Sympathie, Empathie, Liebe und Verständnis geprägt. Die Ergebnisse dieses Führens und Leitens auf solche Art und Weise werden nicht nur Erfolg, sondern auch Freude und Spaß an der Arbeit hervorbringen. Wiedergeboren aufgrund einer inneren Reife fühle ich mich jetzt bestätigt und durchwirkt von der Weisheit der neuen Physik. Nur wer ein Unternehmen nach den Gesetzen der Natur führt, kann langfristig erfolgreich sein. Nur die Unternehmen, die mitfühlend geführt werden, werden überleben. Es gibt keine Zukunft mehr für ein Sieger-Verlierer-Spiel. Echte unternehmerische Leistungen resultieren aus einem sehr langsamen Aufbau eines Unternehmens, wobei jede Veränderung im Lichte der Konsequenzen betrachtet wird. Als Chemiker habe ich vielleicht einen Vorteil, denn Chemie ist immer ein Schritt-für-Schritt-Prozess. Die Entwicklung der gesamten chemischen Industrie durchlief diesen kontinuierlichen Prozess und erzielte damit ihren Erfolg. Hohe Investitionen in Forschung, Entwicklung und Anwendungstechnik, Pilotanlagen und riesige Produktionseinheiten, Marketingstrategien, Steuerung und Koordination aller Aktivitäten sowie die Balance von Angebot und Nachfrage bilden die Qualität eines perfekt geführten Unternehmens. Manchmal gelingt es uns als Manager, neue Aspekte aus Wissenschaft und Weisheit einzubauen, zu integrieren und sie wachsen zu lassen. Das Verständnis der neuen Physik ist in diesem Zusammenhang sehr hilfreich und ermutigend. Die Zukunft eines Unternehmens und die Art seiner täglichen Arbeit werden immer wieder neu geboren, wie uns die Quantenphysik sagt. Die Erfahrung der Realität, des Hintergrundfeldes, des permanenten Werdeprozesses hat das Potenzial, sich unsichtbar im Unternehmen zu manifestieren. Es gibt immer verschiedene Optionen, Wahlmöglichkeiten und Gelegenheiten, einschließlich Zufallsereignisse, die die Zukunft eines Unternehmens bestimmen. Die Schlüsselfrage ist, wie wir als Unternehmer diese Möglichkeiten am besten beeinflussen können, um eine gewünschte Realität zu manifestieren.

3.3  Wachstum durch Quantenphysik

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3.3.1 Üben des liebenden Dialogs Hans-Peter Dürr beschritt seinen eigenen, einzigartigen Weg, um sein inneres Wachstum zu fördern. Es wurde von seinem Wissen und seiner Erfahrung in der Quantenphysik beeinflusst. Er war kein Praktizierender irgendeines spirituellen Weges und er hat sich nie mit der Individuation der Tiefenpsychologie oder irgendeiner anderen psychologischen Disziplin beschäftigt. Aber es besteht kein Zweifel, dass sein inneres Wachstum bewundernswert war. Wenn man ihm zuhörte, spürte man durch sein Gespräch und seinen Wunsch, anderen bei der Erweiterung ihres inneren Wachstums zu helfen, eine starke Anziehung. Er lebte nach seiner Überzeugung, dass es darum geht, das Lebende lebendiger für alle zu machen. Dürr drückte es im Interview mit mir folgendermaßen aus: „Ich habe noch nie meditiert, aber ich denke über mein Leben nach, so wie ich versucht habe, den liebevollen Dialog zu praktizieren. Es ist einfacher für mich, neues Terrain mit jemand anderem zu erforschen als allein. Ich muss das Vorsichtige mit dem Spontanen verbinden und ich kann das nicht allein tun. Wenn man spontan einfach tanzen geht, ohne zu wissen, mit wem man tanzen wird oder wie, das ist wunderbar. Dann ist Kommunikation auch Gemeinschaft. Plötzlich öffnet sich ein ganzes Reservoir an Bildern, die auf ihren Ausdruck warten. Es braucht nur einen Impuls, die Energie der mitfühlenden Ermutigung, wie sie in solchen Dialogen zu finden ist.“

Friedrich Hölderlin, dessen 250. Geburtstag wir dieses Jahr feiern, hat in seiner Hymne Andenken den liebenden Dialog in wunderbare Worte gefasst: „Nicht ist es gut, Seellos von sterblichen Gedanken zu sein. Doch gut Ist ein Gespräch und zu sagen Des Herzens Meinung, zu hören viel Von Tagen der Lieb’, Und Taten, welche geschehen.“ (Hölderlin 1995, S. 491)

Offenheit im Dialog zu praktizieren, ist von großer Bedeutung. Dürckheim nannte es Transparenz, für Dürr war es der liebevolle Dialog. Es ist die Praxis der Öffnung, der Inklusion, weil sie nicht nur Bewusstsein, sondern auch Spontaneität, Vertrauen und Glaube beinhaltet. Diese Einstellung ist in unseren Geschäftsgesprächen von entscheidender Bedeutung. Und wenn wir mit den Kranken und Sterbenden sprechen, trägt ein liebevoller Dialog dazu bei, ihre Krise erträglich zu machen. Das Akzeptieren von Elend und die Befreiung von der Notwendigkeit, durch

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3  Die Lösung

Tun die Kontrolle zu haben und es gegen Loslassen und einfach Sein auszutauschen, ist anfangs eine sehr schwierige Übung, aber die Mühe lohnt sich sehr. Wenn wir uns im Sein ausruhen und die Kontrolle über das Tun aufgeben, werden sich die Belohnungen unweigerlich einstellen. Wenn wir einen liebevollen Dialog führen, sind wir in der Lage, in jeder Begegnung Liebe zu finden. Für Willigis Jäger ist die Liebe der Bauplan und die Grundlage, auf der sich das Universum entfaltet. Transzendenz sei ein anderes Wort dafür. Liebe sei Transzendenz, weil sie die Ich-Grenzen aufbricht und die Trennung überwindet. Sie sei die Quelle aller Formen, die Erfahrung, aus der alles Leben entspringt und in der alles Leben miteinander verbunden ist.

3.3.2 Business Ethik durch Quantenphysik Für mich war es sehr wichtig, die Frage der wirtschaftlichen Aktivität aus der Sicht der neuesten Erkenntnisse aus Beobachtungen auf dem Gebiet der Quantenphysik mit Hans-Peter Dürr, Quantenphysiker und darüber hinaus Träger des Alternativen Nobelpreises 1987 und des Friedensnobelpreises 1995 (zusammen mit Pugwash), zu diskutieren. Am 29. Oktober 2010 hatten wir in München den folgenden bemerkenswerten Dialog: Erhard:

Hans-Peter:

„Hans-Peter, was können wir über Unternehmensführung lernen, wenn man bedenkt, was Du von der Quantenphysik verstanden und erfahren hast? Was wären Deine Leitlinien für Menschen, die sich in der Welt der Wirtschaft befinden und zum Wohle unserer Gesellschaft und der Welt arbeiten wollen?“ „Es ist die Erkenntnis, dass das Leben der wesentliche Hintergrund für das ist, was wir immer versuchen, in einer eingefrorenen Momentaufnahme auszudrücken. Die Essenz des Lebens drückt sich in einer Art Spiel aus. Zwei Dinge, die sich scheinbar widersprechen, müssen nun zusammenwirken. Eine Einsicht ist, dass ich anders bin als Du. Voraussetzung für diese Entwicklung ist der gegenseitige Wunsch und die Fähigkeit, ein Spiel miteinander zu initiieren. Nehmen wir das Beispiel des Gehens. Wenn wir unser Gewicht von einem Bein auf das andere verlagern, fallen wir im Moment der ­Verlagerung ständig hinunter. Also, wie arbeiten unsere Füße und Beine zusammen? Das linke Bein sollte dem rechten nicht sagen, dass es das tun muss, was das linke Bein will, denn es hatte die Idee zuerst. Vielmehr muss es heißen, genau das Gegenteil zu tun. Dann

3.3  Wachstum durch Quantenphysik

Erhard:

Hans-Peter:

Erhard: Hans-Peter:

207

sehen wir etwas, was wir vorher nicht hatten, Bewegung. Wir müssen uns nicht länger an einem Ort aufhalten, sondern wir sind in der Lage, voranzukommen. Das ist ein großer Fortschritt, der sich aus der Zusammenarbeit ergibt.“ „Nach Deinem Verständnis wird das Anderssein des anderen erkannt, wenn man mit anderen zusammenarbeitet, um partnerschaftliche Geschäfte zum Wohle beider zu machen. Vieles kann nur gemeinsam erreicht werden. Dieser Grundsatz sollte daher in den Beziehungen aller am Wirtschaftsprozess Beteiligten klar sein, nicht wahr? Dein Ratschlag ist also, ein Plussummenspiel zu spielen und nicht, wie oft beobachtet, ein „Nullsummenspiel“, bei dem einer auf Kosten des anderen gewinnt.“ „Genau, das ist es. Aber viele halten dieses Prinzip für eine unerreichbare Utopie. Sie sagen mir, dass ich darüber nachdenken sollte, wie schwierig es für viele Menschen ist, friedlich und kooperativ zusammenzuleben. Das Problem ist, dass wir allzu oft an den falschen Stellen nach Erleuchtung suchen. Unsere Gesellschaft e­ rmutigt uns, nach außen zu schauen und nicht nach innen. Das Beispiel einer erfolgreichen und erfüllten langjährigen Ehe ist ein Beweis dafür, dass diese friedliche Zusammenarbeit leicht erreichbar ist. Wir können gelegentlich vergessen, uns zu öffnen, um das gemeinsame Licht anzunehmen, das ständig auf uns alle gestrahlt wird, aber wir haben dieses Wissen und können es uns durch einfache meditative Praktiken, die es uns erlauben, unser Zentrum wiederherzustellen, nach Belieben wieder in Erinnerung rufen. Selbst wenn wir mit einigen bestimmten anderen nicht zurechtkommen, sollten wir es einfach loslassen, so schwierig es auch für unser Ego ist, es zu akzeptieren. Denk daran, dass alles immer präsent ist. Tief im Inneren sehnen wir uns danach, alle Trennungen zu überbrücken und uns der neuen Dimension zu öffnen, die die Zusammenarbeit mit anderen bietet. Da wir alle eins sind, alle miteinander verbunden, ist jede Meinungsverschiedenheit oder jeder Konflikt eine Meinungsverschiedenheit oder ein Konflikt mit uns selbst. Wenn man als Einheit vereint ist, verliert niemand, alle gewinnen und wachsen zusammen. Moralische Entscheidungen und ethisches Verhalten sind das Ergebnis.“ „Gibt es in unserer Gesellschaft noch eine Rolle für den Wettbewerb?“ „Der Wettbewerb wird immer da sein. Betrachte mal, wie zwei Wellen, wenn sie gegeneinander fließen, sich gegenseitig aufheben, sich

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3  Die Lösung

aber gegenseitig verstärken, wenn sie zusammenfließen. Ich werde nicht dafür belohnt, dass ich einfach nur kooperiere, sondern für meinen einzigartigen Beitrag zur Schaffung einer neuen Dimension.“ Erhard: „Aber was passiert, wenn die Strategie eines Lieferanten darin besteht, die Kunden eines anderen Lieferanten zu gewinnen, wie es üblich ist?“ Hans-Peter: „Das ist eine Entgleisung in der Welt der Realität.“ Erhard: „Wenn sich der Verkäufer nicht mehr um die Kunden des Konkurrenten kümmert, ist das Ende unausweichlich, oder? Schließlich wird der Endkunde erfasst und ein Unternehmen in die Insolvenz getrieben. Dann könnte es zu einem freundschaftlichen Zusammenschluss kommen, aber durch diese Praxis wäre die Existenz mindestens eines der Unternehmen gefährdet.“ Hans-Peter: „Wenn Du nicht achtsam handelst, wirst Du Dich außerhalb des Entwicklungsrades des Lebens befinden. Du sitzt sozusagen auf ­einem faulen Ast. In der Evolution des Lebens sehen wir immer wieder Dinge, die die Bühne verlassen, wenn sie ihren nützlichen Zweck erfüllt haben. Deine Aktivitäten dienen nicht mehr dem Wohl aller. Die Welt ist voll von solchen materiell toten Abfällen.“ Erhard: „Das ist es, was wir in der Wirtschaft sehen. Die Unternehmen haben einen eingefrorenen Zustand erreicht, in dem sie keine Produkte oder Dienstleistungen mehr herstellen, die für ihre Kunden von Wert sind. Dann kann selbst die Entwicklung ausgefeilter Wettbewerbsstrategien ihren unvermeidlichen Untergang nur verzögern. Wäre es nicht klüger, ein innovatives, kreatives und kooperatives Spiel zu spielen, bei dem die langfristige Lebensfähigkeit erhalten bleibt? Es ist wichtig, wie Du bereits gesagt hast, dass es die Unterschiede zwischen Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden sind, die sie gemeinsam durch die Zusammenarbeit in eine höhere Dimension führen. Das sichert den wirtschaftlichen Erfolg, der im Einklang mit der Natur steht. Aus meiner Sicht und Erfahrung sollten alle unsere Bemühungen in unserem gewählten Beruf unserem ganzen Leben dienen, es muss Zweck und Nutzen haben, sonst sind wir gescheitert. Unternehmen planen in der Regel nicht länger als fünf Jahre in die Zukunft. Dies lässt keine ausreichende Flexibilität bei der Zukunftsbetrachtung zu, erlaubt aber die Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten. Was Du das Kooperative Hintergrundfeld genannt hast, hat das Potenzial, sich in Zukunft als Realität zu ma-

3.3  Wachstum durch Quantenphysik

209

nifestieren. Das gilt sicher auch für die Realität der Marktfähigkeit eines Unternehmens. Es muss möglich sein, eine erfolgreiche Zukunft für ein Unternehmen auf der Grundlage dessen zu planen, was Du über die neue Quantenphysik gesagt hast, oder ist es nicht möglich, überhaupt etwas zu planen?“ Hans-Peter: „Man kann durchaus eine Aussage über die Zukunft machen. Schau Dir die Natur an. Die 100 Millionen verschiedenen Arten, die nebeneinander existieren, sind alle Gewinner. Das bedeutet, dass es 100 Millionen verschiedene Lösungen gibt! Letztendlich kommt es nicht nur auf den Wettbewerb an. Man kann viele Lösungen finden, die alle zum Überleben führen.“ Erhard: „Mit der richtigen Führung der Mitarbeiter kann ein guter Manager die Überlebenswahrscheinlichkeit verbessern, damit ein Unternehmen eine bessere Zukunft hat.“ Hans-Peter: „Was ist besser?“ Erhard: „Besser ist ein Produktportfolio mit langfristigem Nutzen für Kunden und Mitarbeiter, damit alle Stakeholder des Unternehmens zufrieden sein können. Als Unternehmensleiter muss ich mir eine positive Zukunft vorstellen können, sonst kann ich mich nicht für die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen einsetzen.“ Hans-Peter: „Das ist einfach. Dezentralisierung ist die Lösung für das Überleben. Das hat uns die Natur gelehrt. Man sollte mit dem arbeiten, was in Reichweite ist. Es gibt keinen Grund, die ganze Welt einzubeziehen. Pflanzen, die erfolgreich um einen Lebensraum in Europa konkurrieren, stellen nicht in Frage, was in Afrika derzeit geschieht.“ Erhard: „Ich hatte immer das Modell der Dezentralisierung vorgezogen, und mein Erfolg hat gezeigt, dass es eine tragfähige Strategie ist. Wenn ich als Unternehmen mit 1000 dezentralen Einheiten im Wettbewerb stehe, gewinne ich immer. Als ich die Hüls AG reorganisierte, schrieb die Presse: Von einem Flugzeugträger zu vielen schnellen Fregatten. Wichtig war, dass diese dezentralen Einheiten im relevanten Markt ihre Führungsposition in den Bereichen Produkte, Dienstleistungen, Kosten, Innovation und Kreativität sowie bei der Qualifizierung der Mitarbeiter behaupten konnten. Wir hatten uns von den Nachteilen und Einstellungen einer großen Gruppe distanziert. Wir wuchsen zu einem großartigen Team heran, mit Enthusiasmus und Erfolg.“

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3  Die Lösung

Es liegt auf der Hand, dass die Quantenphysik eine nützliche Hilfe für die Busi­ ness Ethik innerhalb der Wirtschaft darstellt. weil sie betont, dass das Management der Vernetzung, Kreativität, Nicht-Dualität und Nicht-Linearität größere Bedeutung beimessen sollte.

3.4

Integrales Bewusstsein

Bevor ich eine Diskussion über Ansätze, die zu einer integralen Ethik beginne, möchte ich auf die wichtigen Erfahrungen von Jean Gebser und Ken Wilber verweisen. Sowohl das Unbewusste als auch das Bewusstsein sind wichtige Begriffe, die es wert sind, weiter erforscht zu werden. Für Gebser befindet sich das menschliche Bewusstsein immer im Übergang, nicht kontinuierlich, sondern als eine Art Fortschreiten der Mutationen. Das eine entwickelt sich aus dem anderen, während das Vorherige noch in dem, was folgt, wirkt. Wenn ein Mangel entsteht, wird er durch einen anderen ersetzt. Gebser führte die folgenden Zeitalter des Bewusstseins der Menschheit ein: (Gebser 1986) • • • •

Archaisch Magisch Mythisch Mental

Wir befinden uns jetzt im Zeitalter des mentalen Bewusstseins mit all seinen Errungenschaften und mit all seinen Mängeln und wir steuern auf die integrale, eine mystischere Ebene zu, die sich aus den vorangegangenen Zeitaltern des Bewusstseins heraus entwickelt. Es entspricht Jungs Vision, dass die neue Religion, höchstwahrscheinlich eine mystische, noch nicht hier ist, sondern unmittelbar bevorsteht. Was sind die Hauptausrichtungen der vergangenen Zeitalter? „Das archaische Bewusstsein Dieses Bewusstsein ist quasi das Ursprungsbewusstsein, das den meisten nicht mehr bewusst ist. Es ist jene ursprüngliche Struktur in uns, die unseren Mut zum Leben und unsere Bewahrung durch das Leben ermöglicht. Gebser erklärte es in einem Gleichnis: Es sei der Paradieszustand, da der Mensch selbst noch ganz und gar eingeschlossen und undifferenziert und ungeschickt vom Kosmos, vom All, von Gott, oder wie man es auch immer benennen kann, lebt. Das magische Bewusstsein In seiner Mutation zum magischen Bewusstsein erhielt der Mensch einen eigenen Stand innerhalb des Ganzen, der Identität. Er fing an, in einer gewissen noch sehr

3.4  Integrales Bewusstsein

211

schlafhaften weisen, der Welt gegenüberzustehen. Der magische Mensch bildet nicht mehr eine Identität, aber er bildet noch eine Einheit, eine Unität mit allem, was ihn umgibt. (...) Es ist jene Sphäre des Lebens, die der Wurzelbereich des Lebens ist. (...) Im magischen Bereich sind die Dinge immer alle gleichzeitig vorhanden und gegeben, sie fallen den Menschen wirklich zu und vor allen Dingen: Er versucht erstmals, sich als Mensch der Natur gegenüberzustellen, dieser Natur, in der er noch ganz eingebettet ist. ... Der magische Mensch ist Ich-los, so wie das Kleinkind Ich-los ist. Das mythische Bewusstsein Aus dem magischen Schlafbewusstsein erwachend, formt sich das aus, was als die mythische Bewusstseinsstruktur bezeichnet wurde. Mythisch ist das Einander-­sich-­ Ergänzende. Die Seele und ihre Bilderwelt, der Traum, sowohl der individuelle Traum als auch die Mythen der Völker, die gewissermaßen die kollektive Träume der Menschheit sind, sind einander verwandt, vor allem aber sind sie, einerseits menschheitlich, andererseits individuell gesehen, Ausdrucksformen des mythischen Bewusstseins ... Der mythische Mensch ist bereits ein Mensch des Traumbewusstseins. Anstatt der Unität, in der sich der magische Mensch befindet, ist es für den mythischen Menschen die Polarität, das Einander-Ergänzende ... Zum ersten Mal erhält der Mensch ein reflexives Bewusstsein dessen, was Zeit ist. Er nimmt bewusster als der magische Mensch zumindest an dem kosmischen und naturhaften Zeitablauf teil ... Beim mythischen Menschen war sein Ich noch nicht erwacht. Er lebte im Wir. Das mentale Bewusstsein Gebser bezeichnet das, was sich am Ende der mythischen Zeit entwickelte, als etwas absolut Überwältigendes, das für die damalige Menschheit in demselben Maße beängstigend, schmerzhaft, Unruhe stiftend und Weltuntergangsvorstellungen auslösend war, wie das, was heute in unseren Tagen geschieht. Damals war es der Sprung aus dem mythischen Bereich in den mentalen Bereich, der heute noch in unserer Art zu leben und die Welt zu betrachten, vorherrschend ist. Damals spielte sich dieses Geschehen für uns in Griechenland ab. Seit etwa 500 v. Chr. konsolidierte es sich, nachdem es sich schon einige 100 Jahre vorher angebahnt hatte. Damit erwachte der Mensch gewissermaßen zum Tagesbewusstsein. Mit diesem Erwachen zum mentalen Bewusstsein wurde das Ich geboren: ,Ich bin der und der‘, und ihr seid die anderen. Diese Ichfindung ist für den mentalen Bereich konstituierend. Erst seitdem gibt es das, was wir Philosophie und eine Frühform der Wissenschaft nennen (...) Zum ersten Mal wird nicht einfach gesagt, das und das ist so, sondern der Mensch spricht mit den Mitmenschen. Er vermittelt ihm sein Wissen nicht mehr durch einfache Aussagen, einen Bericht oder eine symbolische Schilderung, sondern im Dialog (…) In diesem mentalen Denken der Menschen wird ihm außer der Seele auch das bewusst, was ihm deutlich gegenübersteht: der Raum. Das integrale Bewusstsein Gebser geht davon aus, dass wir wieder in einer neuen Bewusstseinsmutation stehen, das uns aus dem mental-rationalen in das integrale Bewusstsein führt. Die Notwendigkeit für einen neuen Bewusstseinssprung erklärt Gebser unter anderem damit, dass seit etwa Anfang dieses Jahrhunderts unserer Art zu denken, die Welt darzu­ stellen und die Welt zu erfassen, fragwürdig geworden sind.“ (Neues-Bewusstsein-­ Leben (o. J.)

212

3  Die Lösung

Beeinflusst von der Quantenphysik, wie bereits erwähnt, wurde das integrale Bewusstsein durch eine neue Beziehung zu Raum und Zeit sichtbar gemacht. Dürr erwähnte, dass das Sein immer mehr der Transparenz weicht. Dürckheim gefragt, was denn für ihn der Sinn des Lebens sei, antwortete stets: cc

„Transparenz für die immanente Transzendenz.“

Alle psychologischen und spirituellen Praktiken zur Achtsamkeit versuchen, diese Transparenz zu verbessern. Wenn es uns gelingt, dass unsere Achtsamkeit trotz unseres Ich-Geistes integraler Bestandteil ist, dann erleben wir die Zeit als unteilbares Ganzes, nicht als Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Dann wird Bewusstsein integraler Bestandteil. Je mehr wir Achtsamkeit praktizieren, desto mehr erleben wir das Ganze.

3.5

Integrale Spiritualität

Basierend auf Jean Gebsers Philosophie formulierte Ken Wilber einen ganzheitlichen Ansatz zur Spiritualität, der spirituelle Weisheit, Religion, Wissenschaft und Kultur integriert. Diese Schlüsselkomponenten haben alle etwas zu einer ganzheitlicheren Spiritualität beizutragen. Er beschreibt, wie die Weisheit des Ostens und des Westens uns durch eine entwicklungspsychologische und psychodynamische Psychologie zu einer höheren Bewusstseinsebene führen kann. Sri Aurobindo war der erste, der das Wort integral in Verbindung mit Spiritualität benutzte. Seine Arbeit wird als Integral Vedanta und Integral Psychology beschrieben. Er hat viele andere Autoren dazu veranlasst, das Wort integral in Verbindung mit Philosophie und Psychologie zu verwenden. Diese wohlbekannten Quellen sprechen für die Verwendung von integral im Zusammenhang mit der Ethik. Die neue integrale Business Ethik 3.0 geht aus einem integralen Bewusstsein hervor, während die Alte Ethik ihre Grundlage in einem rein mentalen Bewusstsein hat, das als Folge davon, dass es die Unterdrückung und Verdrängung der dunklen Seite in Verbindung mit der psychologischen und spirituellen Unreife eines Großteils der Menschheit befürwortet, ernsthafte funktionelle Einschränkungen aufweist. Was in unserem mythischen Bewusstsein eine Einheit blieb, wurde durch unser mentales Bewusstsein getrennt und muss nun im integralen Bewusstsein wieder zusammenkommen.

3.7  Psychologie und Spiritualität

3.6

213

Transpersonale Psychotherapie

Die darauf aufbauende Transpersonale Psychologie und Transpersonale Psychotherapie erweitert die klassische Psychologie und Psychotherapie um philosophische, religiöse und spirituelle Aspekte. Die Transpersonale Psychologie entwickelte sich aus anderen psychologischen Schulen wie der Psychoanalyse, dem Behaviorismus und der humanistischen Psychologie. Sie versucht, spirituelle Erfahrungen zu beschreiben und in die bestehende moderne psychologische Theorie zu integrieren. Zu diesen Erfahrungen gehören Mystik und Epiphanie, aber auch unter anderem veränderte Bewusstseinszustände und Trance. Lange Zeit neigte die westliche Psychologie dazu, die spirituelle Dimension der menschlichen Psyche zu ignorieren, aber mit dem mächtigen und zwingenden Einfluss von Jung sollte dies eigentlich nicht mehr möglich sein. Dennoch überwiegt immer noch die Verhaltens­ psychologie und die Verhaltenspsychotherapie, wie man jetzt den Entwürfen für ein Curriculum zur Ausbildung von Psychotherapeuten in Deutschland entnehmen kann. Wenn man in die USA schaut, kann man feststellen, dass die Gnosis wiederbelebt wird und die Tiefenpsychologie von C. G. Jung an Bedeutung gewinnt. Der Begriff der Transpersonalen Psychologie wurde in den späten 1960er-­ Jahren von Vertretern der humanistischen Psychologie in den Vereinigten Staaten geprägt. Bedeutende Gründer und Theoretiker dieser Disziplin sind Stanislav Grof, Anthony Sutich, Frances Vaughan, Roger Walsh, Abraham Maslow, Ronald D. Laing, Charles Tart, Roberto Assagioli und Ken Wilber. In Europa wurden auch Elemente der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung und der Initiatischen Therapie von Karlfried Graf Dürckheim in einen neuen Weg der Bewusstseinserweiterung integriert.

3.7

Psychologie und Spiritualität

Wenn wir über Psychologie und Spiritualität nachdenken, müssen wir uns der Frage stellen, ob es möglich ist, die Wege der Psychotherapie und der spirituellen Verwirklichung miteinander zu verbinden und wenn ja, ob es sich um einen fruchtbaren Weg handelt. Psychotherapie und spirituelle Wege sind sehr unterschiedliche Welten. Die Vertreter beider Seiten haben Bedenken und Vorurteile gegeneinander. Psychotherapeuten befürchten, dass durch die Konzentration auf das Jenseits die Beziehung zur Realität in dieser Welt verloren geht, dass Liebe und Arbeit sowie soziales und politisches Engagement nicht mehr möglich oder zumindest marginalisiert sind. Sie fürchten einen Rückzug aus der realen Welt. Die Entlassung des

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3  Die Lösung

Egos könnte zu einem Verlust von Selbstverantwortung und Selbstbezug führen; und der Verlust bewusster, absichtlicher Kontrolle kann chaotische und psychotische Schleusen öffnen. Das ist jedoch meiner Meinung nach ein Missverständnis und eine falsche Darstellung der Situation. cc

Nicht das Ego ist abzulehnen, sondern der Egoismus und die ausschließliche Egozentrik.

Das ist ein großer Unterschied! Vertreter der Spiritualität fürchten das Gegenteil in der Psychotherapie, dass unsere Essenz, unser göttliches Prinzip, nicht berücksichtigt wird; unser Streben, eins mit den Numinosen zu werden. Wenn wir Schwierigkeiten bei der Verfolgung eines spirituellen Pfades haben und eine Therapie suchen, besteht die Gefahr, dass ein Therapeut, der nicht für Spiritualität empfänglich ist, die Natur unserer Pro­ bleme nicht erkennt bzw. nicht anerkennt, sondern sie einfach auf die persönliche Psychodynamik verweist. Dies kann dazu führen, dass unsere persönliche, spirituelle Entwicklung unterbrochen wird, oft mit fatalen Folgen. Trotz der offensichtlichen Diskrepanzen zwischen den beiden Praxisformen gibt es noch viele Gemeinsamkeiten. Die Vorteile, die eine Kombination aus Tiefenpsychologie und Spiritualität bietet, sind beträchtlich und wichtig. Sie unterstützen sich gegenseitig und durch ihre gemeinsame Zielsetzung können wir zu einer neuen integralen Ethik gelangen.

3.8

Integrale Business Ethik 3.0

Integrale Business Ethik 3.0 ist, wie bereits erwähnt, integral für all das, was wir bisher erlebt, gelernt und integriert haben. Es beinhaltet Vernunft statt nur den Ich-­ Geist, zahlreiche philosophische Richtungen, die dem aristotelischen Ansatz folgen, theologische Überlegungen vieler verschiedener Religionen und die Tiefenpsychologie und Spiritualität der Weisheitslehren sowie auch die Quantenphysik. Wie Gebser betonte, entwickelt sich das eine vom anderen und existiert in jeder weiteren ethischen Formulierung weiter. Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung der wesentlichen Weisheit einer integralen Business Ethik 3.0 ist eine exzellente Ausbildung und umfangreiche Erfahrung in der Unternehmensführung. Ohne praktische Erfahrung können Menschen, die im Wirtschaftssektor arbeiten, durch theoretische Aussagen nicht begeistert werden, denn es fehlt ihnen das nötige Urteilsvermögen, um sie angemessen anzuwenden. Es besteht das Risiko, vieles mit selbstsüchtigen, unethischen Praktiken zu kompensieren. Dank des Inter-

3.10 Zerstreuungen

215

nets haben wir einen noch nie da gewesenen Zugang zu einem Verständnis aller Aspekte, die Business Ethik 3.0 ausmachen. Es ist die ideale Neue Ethik für die heutige digitalisierte und globalisierte Wirtschaft.

3.9

Integrative Business Ethik

Die integrale Business Ethik hat darüber hinaus einen sehr wichtigen, aktiven und bewussten integrativen Ansatz. Im Gegensatz zu früheren Verhaltensweisen trennt und separiert dieser ethische Ansatz nicht, sondern integriert und verschmilzt. Er umfasst Licht und Dunkelheit, Gut und Böse, Subjekt und Objekt, männlich und weiblich, Jung und Alt, Ego und Selbst, Ich-Geist und Vernunft, Lieferanten und Kunden, Unternehmen und Aktionäre sowie Führungskräfte und Mitarbeiter. All diese scheinbaren Gegensätze sind lediglich Polaritäten der einen Realität, die nicht beschrieben, sondern nur erlebt werden können. Die Erfahrung der Vernetzung, die in jüngster Zeit durch die moderne Quantenphysik und seit Jahrtausenden durch Mystiker weiterentwickelt und erweitert wurde, integriert die s­ cheinbaren Gegensätze zu einer einzigen Einheit. Diesen verbindenden Prozess bezeichnet Jung als Individuation und Coincidentia oppositorum, die auf natürliche und nahtlose Weise zu moralischen Entscheidungen auf Basis einer tragfähigen ethischen Grundlage führen. Das Zusammentreffen der Gegensätze ist eines der grundlegenden Ordnungsprinzipien in Jungs Gedanken. Schlüsselbegriffe wie das Selbst, das Gottesbild, das kollektive Unbewusste, die Ganzheit und die Synchronizität gelten als Beispiele für das Zusammentreffen der Gegensätze (Henderson 2010). Es besteht die Gefahr, dass die integrale und integrative Geschäftsethik durch Zerstreuung und Ablenkungen gestört oder gar durch schwere Blockaden unserer Individuation zum Entgleisen gebracht wird. Es ist jetzt an der Zeit, über diese Möglichkeiten nachdenken.

3.10 Zerstreuungen Zerstreuungen sind eine verlockende Weggabelung auf unserem Lebensweg und bieten das falsche Versprechen einer Abkürzung zur Glückseligkeit. Sie winken uns zu und erscheinen immer attraktiver, je mehr unser Leben anstrengend und überwältigend wird. Sie locken uns mit dem Versprechen, unseren Stress abzubauen und unsere Wünsche zu erfüllen. Aber sie sind Betrüger, sie müssen entlarvt und entrechtet werden. Sie müssen uns nicht unbedingt davon abhalten, unser Ziel

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3  Die Lösung

zu erreichen, aber sie werden unsere Reise länger und beschwerlicher machen. Radio, Fernsehen, Computerspiele, Handys, E-Mails, Facebook, Twitter und sogar Feiertage, die uns eine Flucht aus der Plackerei ins Nirwana versprechen, entführen uns von der echten Suche nach innerem Frieden. Anders als in der virtuellen Realität kann die echte Suche nach innerem Frieden in unserem wirklichen Leben nicht angeklickt oder abgeschaltet oder für den Preis eines Flugtickets in ein exotisches Paradies gekauft werden. Es ist die Reise unseres Lebens. Indem wir unbewusst den Zerstreuungen folgen, rücken wir in unseren Schatten zurück, dessen Tentakel uns dann noch fester in den Griff bekommen, denn mit der Ermutigung durch unser Ego wagen wir uns immer weiter in die Verleugnung. Wir riskieren, unser spirituelles Zentrum aus den Augen zu verlieren, was wiederum die Leichtigkeit erhöht, mit der wir weiterhin von unserem endgültigen Ziel abgelenkt werden können: der Wiedervereinigung mit unserer göttlichen Essenz. Wir spüren die Symptome im endlosen Fortschreiten der Probleme in unserem Leben, in unserem Leiden und unserer Not, die sich aus dem unstillbaren Appetit unseres Egos auf Zerstreuungen ergeben. Es ist ein Dilemma. Zerstreuungen, die uns von der Gelassenheit, der Fröhlichkeit, dem Humor, der Freude und der Leidenschaft, nach der wir uns sehnen, distanzieren, machen es immer schwieriger, diese Qualitäten in uns zu manifestieren. Zerstreuungen sind eine Droge für unser Ego, die uns jetzt in unsere Kindheit einsperrt, um sicherzustellen, dass wir nie über die emotionale Kindheit hinausgehen, wo wir uns weiterhin als Opfer fühlen und mit einer aggressiven, tadelnden, wertenden und leicht beleidigenden Haltung reagieren. Wir bleiben Kind und sind leicht manipulierbar. Wir suchen Lärm im Gespräch, in der Musik, in dem, was wir lesen und sehen und in unseren Beziehungen. Die Stille, der Stillstand, die Ruhe, die für das innere Wachstum notwendig sind, entziehen sich uns, und schließlich sind wir nicht mehr verfügbar, wenn unser Ziel auf der Suche nach uns ist. Die Lösung besteht darin, bewusst im gegenwärtigen Moment des Hier und Jetzt zu leben, zu wissen und zu erkennen, wann unsere Entscheidungen uns von unserem Ziel ablenken und diesem Wissen zu erlauben, unser Ego darüber zu informieren, dass wir seine Autorität nicht anerkennen, um uns anzuweisen, unseren Fokus zu verlieren. Wir müssen lernen, dann einfach Nein zu sagen.

3.11 Ablenkungen Wenn wir uns einig sind, dass es ein dringendes Bedürfnis gibt, das auf der Erfahrung der Tiefenpsychologie beruht, um Stabilität durch die Entwicklung des persönlichen inneren Wachstums zu erreichen, müssen wir uns vor Ablenkungen hü-

3.11 Ablenkungen

217

ten, die unseren Weg zu einem größeren Bewusstsein unseres göttlichen Potenzials kurzschließen können. Ablenkung ist das Gegenteil von Fokussierung. Wir können gezielt in eine Ablenkung eintreten oder wir können uns unwissentlich abgelenkt wiederfinden, indem wir zulassen, dass die Absicht eines anderen Menschen uns beeinflusst. So oder so, der Fokus, den wir durch das Tor der Achtsamkeit und des Bewusstseins erreichen können, geht verloren. Das Ergebnis ist Unzufriedenheit und Unruhe, die wiederum unsere Fähigkeit, die Göttlichkeit zu erfahren, behindern. Flucht in die Ablenkung ist typisch für unsere Zeit, eine moderne „Krankheit“. Wir fühlen uns unwohl bei achtsamer Konzentration. Ist ja auch sehr anstrengend. Die Kunst des Gesprächs ist verloren. Zu oft hören wir nicht mehr auf andere, sondern entscheiden uns dafür, über uns selbst zu sprechen. Wir fühlen uns zu machtlos, um konzentriert zu bleiben. Die Vermarktung von Produkten zur Ablenkung und Entspannung ist eine riesige Industrie. Wir lassen uns verführen von Unterhaltungsangeboten und Attraktionen, begleitet von anregenden, aber leeren Versprechungen, dass sie uns zufriedenstellen werden. Wenn wir zerstreut sind, auf der Suche nach dem, was wir nicht wissen, und empfänglich sind für irgendetwas, von dem wir glauben, dass es uns Erleichterung bringt, werden wir wahrscheinlich nicht nein sagen! Wir sind leichte Opfer. Wie finden wir uns in diesem verwirrenden Labyrinth der Möglichkeiten zurecht? Stellen Sie sich einfach eine Frage, bevor Sie eine Ablenkung einleiten oder akzeptieren: cc

Bringt mir dieses Produkt, diese Dienstleistung oder diese Aktivität Frieden?

Aber Vorsicht! Unser Ego wird sich wehren. Es möchte sich bei der Erforschung neuer Ablenkungen nicht einschränken lassen. Es will herrschen! Das Dilemma dabei ist, dass wir zwar die Hauptopfer unseres eigenen Egos sind, es aber die Natur des Einflusses unseres Egos ist, seine Herrschaft zu verschleiern. Das Ego möchte uns davon überzeugen, dass wir das gesamte Spektrum der erwünschten Eigenschaften erreichen können, indem wir einen Weg des Tuns, Kontrollierens und Manipulierens gehen. Aber die Qualitäten, die wir schätzen und die wir in unserem Leben willkommen heißen wollen, können oft nur verwirklicht werden, indem wir nicht tun, indem wir es ihnen erlauben, uns zu finden, während wir uns im gegenwärtigen Moment ausruhen. Wir zahlen einen beträchtlichen Preis dafür, dass unser Ego uns dominieren darf. Dieser äußert sich in Nervosität, Sinnlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Angst, Verlustangst, Depression, Burn-out und Todesangst. Wir versuchen dann, diese schwierigen Bedingungen zu mildern, indem wir uns dem Müßiggang hingeben, indem wir unsere Ressourcen zerstreuen und uns mit sinnlosen und allzu oft schädlichen Ablenkungen stimulieren, indem wir uns

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3  Die Lösung

übertriebenem Konsum und dem Missbrauch von Drogen und Alkohol hingeben. Es ist ein großer Irrtum, dass wir, sobald unser Beruf im dritten Abschnitt unseres Lebens hinter uns liegt, uns sofort von all den negativen Symptomen befreien können, die wir im Laufe unseres Lebens angesammelt haben. Unsere Arbeit mag hinter uns liegen, aber wir bewahren und fördern nicht nur sorgfältig alle Kompensationsmechanismen, die wir zuvor entwickelt haben, um uns bei der Bewältigung dieser Probleme zu helfen, sondern wir erweitern und stärken sie auch, wenn wir uns bemühen, den Übergang in den Ruhestand zu schaffen. Wohlbefinden kann ein unmögliches Ziel sein und dann setzt Verwüstung ein. Es gibt nur eine Lösung. Wir müssen uns der Erfahrung der einen Wirklichkeit in jedem einzelnen Moment unseres Lebens öffnen. Die Offenbarung dieser ultimativen Realität, unsere intime Verbundenheit und Resonanz mit allem Leben erfüllt uns mit Glückseligkeit. Wenn wir wirklich Frieden, Stille, Ausgeglichenheit, Gelassenheit, Freundlichkeit, Nächstenliebe, Mitgefühl, Ausdauer, Harmonie und Glück in unserem Leben willkommen heißen wollen, dann ist Achtsamkeit der Schlüssel. Ein bewusstes Leben in der Gegenwart, welches das Hier und Jetzt vollumfänglich umfasst, gibt unserem Leben einen neuen Sinn. Es lädt den Goldenen Wind in unser Leben ein, der uns sanft zurück zu unserer ursprünglichen Heimat im Universum führt. Wenn wir alle äußeren und inneren Geräusche um uns herum und in uns hinreichend beruhigen können und meditieren können, großartig! Aber wenn es in dieser Zeit in unserem Leben einigen von uns an Entschlossenheit und Disziplin mangelt, um zu meditieren, dann wird es uns guttun, eine Auswahl der Möglichkeiten zur Erweiterung unseres Bewusstseins zu suchen, die uns interessieren und erfüllen, diejenigen, in denen wir üben können, in die Achtsamkeit einzutreten. Mit der Zeit wird die Meditation kommen und rufen und um eine zweite Chance bitten!

3.12 Entspannung von der Achtsamkeit Die große Geigerin Anne-Sophie Mutter wird die Saiten ihrer Stradivari sicher nie entspannen, denn ihr Instrument würde seinen wunderbaren Klang verlieren. Das gleiche Prinzip gilt für den menschlichen Körper. Übermäßige Entspannung reduziert unsere Fähigkeit, präsent zu sein. Wir müssen ein dauerhaftes Gleichgewicht der Spannungen suchen, jenes Zentrum, das zwischen Stress und Entspannung besteht. Die Sehnsucht nach Entspannung entspringt dem Ego. Selbstgefälligkeit, falsch dargestellt als Wellness, hat sich zu einer Milliarden-Dollar-Industrie entwi-

3.12  Entspannung von der Achtsamkeit

219

ckelt. Die Welt wird uns als große Party angeboten. All-inclusive-Ferienorte, Kreuzfahrten und Ferienclubs mit Unterhaltungsprogramm versprechen uns das Nirvana; aber wie sieht es nach dem Urlaub aus? Nichts hat sich geändert! Das flache Spiel, das zu unserem Leben geworden ist, zusammen mit all den falschen Versprechungen, die wir verfolgen, ohne jemals wahre Befriedigung zu finden, beginnt von Neuem. Stundenlanges tägliches Fernsehen lenkt uns davon ab, unsere Leere zu erforschen, aber statt echter Entspannung ist es ein Rezept für Demenz. Alkohol, Nikotin und andere psychoaktive Drogen können uns vorübergehend entspannen, aber wir wissen, dass sie letztendlich zerstörerisch sind. Es ist tragisch, weil wir durch ihren Einsatz unseren inneren Wachstumsprozess behindern. Vergleichen Sie diese leeren, sterilen und zerstörerischen Opfergaben mit Meditation, bei der das Gehirn nicht abgeschaltet wird, sondern in Regionen aktiviert wird, die nur selten genutzt werden, Regionen, die uns eine Pause vom Denken und Fühlen gewähren, während sie uns gleichzeitig für einen Fokus auf das Hintergrundfeld und dessen Potenzialität öffnen. Während die Sehnsucht nach Entspannung ein wesentlicher Faktor in diesen hyperaktiven, stressigen Zeiten ist, ist sie nicht zu verwechseln mit der wirklichen Ruhe und Stille, die durch Meditation erreicht wird, in der wir, wenn wir vom Denken befreit sind, uns in einen ­ ­zustanderhöhten Bewusstseins loslassen. Ein Urlaub, ein Tag, an dem wir unsere Ganzheit wiedererlangen können, wird auch im Englischen vacation genannt. Es kommt vom lateinischen Verb vacare, leer werden. Die ursprüngliche Bedeutung, lange Zeit vor kommerziellen Interessen, galt nur für jene arbeitsfreien Tage, die religiöse Feiertage waren, mit der Absicht, dass wir an jenen Tagen, an denen wir nicht mit unserer Arbeit beschäftigt waren, studieren und beten sollten, um näher an Gott heranzukommen. Um uns von den Belastungen des Alltags zu befreien, bedarf es nur einer konsequenten Disziplin mit dem Fokus auf die Erweiterung unseres inneren Bewusstseins. Es ist nur natürlich, dass wir uns gelegentlich Ablenkungen und Entspannung gönnen. Unsere angesammelten Spannungen schreien nach einer Auszeit. Solange wir uns der Gefahren bewusst sind, die mit dem permanenten Verzicht auf die Kontrolle über unser Ego und der sich daraus ergebenden Selbstzerstörung verbunden sind, können wir bewusst und behutsam eine Auszeit in Kauf nehmen, solange wir sicherstellen, dass wir die Kontrolle über seine Natur und Dauer haben. Was wir vermeiden wollen, ist, dass unser Prozess des inneren Wachstums, der Gelassenheit, der Fröhlichkeit, des Humors und des Mitgefühls durch das Versprechen kurzfristiger Nervenkitzel beeinträchtigt wird. Vielmehr sollten wir uns mit einem Leben in innerem Frieden und endlosen glückseligen Momenten belohnen.

220

3  Die Lösung

3.13 Blockaden der Individuation Selbst wenn wir über viele Jahre hinweg einen sehr intensiven und disziplinierten spirituellen Weg gehen, erleben wir gelegentlich beunruhigende Symptome, die wir nach einer längeren Zeit meditativer Praktiken nicht erwarten. Die folgenden Auslöser, die von vielen erlebt und beschrieben werden, sind Phänomene, die, obwohl es anscheinend üblich ist, nur wenig Aufmerksamkeit oder Untersuchung erfahren haben. Meditationsliteratur spricht in der Regel nur von dem Fortschritt, den man durch Meditation erzielt. cc

Meditiere, und es wird dir gut gehen.

Nun, so schön der Gedanke auch sein mag, es ist nicht immer so. Trotz all unserer Achtsamkeit und spirituellen Praktiken, wenn wir Erfahrungen machen, durch die wir hoffen, ein größeres Bewusstsein zu erlangen, können wir plötzlich dazu veranlasst werden, Angst zu erleben, wenn wir • • • • • • • • •

wütend sind, argumentieren, gierig sind, ein Held oder eine Heldin sein wollen, nichts verlieren wollen, Angst haben, andere verletze, andere dominieren wolle, Recht haben wollen.

In einem Gespräch mit Walter Schwery erzählte dieser mir eine Geschichte über einen Mönch, der sich ihm näherte und sagte: „Herr Schwery, ich habe ein großes Problem.“ „Was ist dein Problem?“, fragte Walter. Er sagte: „Trotz 30 Jahren Zen-Meditation werde ich leicht und oft wütend und weiß nicht, wie ich es vermeiden soll.“ Viele scheinbar hochgeistig fortgeschrittene Individuen sind oft in große Konflikte verwickelt, weil ihre dunkle Seite nicht ausreichend integriert ist. Nach dem Tod von C. G. Jung kämpften seine besten Freunde um sein Erbe, das bis heute von mehreren Institutionen beansprucht wird. Es gibt unzählige andere Beispiele, die uns zu der Frage veranlassen: „Wie können Schüler dieser großen geistigen Führer und Lehrer, ausgestattet mit einem großen Herzen für alle und alles, plötzlich auf diese Weise handeln?“

3.13  Blockaden der Individuation

221

Und natürlich dürfen wir uns fragen: Wie kann ich das tun? Es gibt Blockaden und Zwänge, die den Prozess der Individuation kurzschließen können, wenn es unserem Ego trotz all unserer disziplinierten Praktiken und erleuchteten Erfahrungen gelingt, nicht mitfühlende Gedanken auszulösen, die die Liebe nicht im Mittelpunkt haben. Der Weg, den wir beschreiten müssen, um einen gesunden Reifegrad zu erreichen und zu erhalten, ist oft lang und beschwerlich, aber es lohnt sich immer. Nach Aussage meines lieben Freundes und Lehrers Walter Schwery gibt es drei große Situationen, die den Prozess der Individuation und des inneren Wachstums blockieren können, selbst bei denjenigen, die täglich meditieren. Walter akzeptierte freundlicherweise meine Bitte, in einem Gespräch, das am 1. November 2013 stattfand, genauer zu erläutern, was diese Situationen sind: Walter:

„Lass mich unsere Schwierigkeiten und Aufgaben unter der Überschrift Das kosmische Drama beschreiben. Dieses Drama spielt sich in drei Phasen ab: der Sündenfall, der Verlust und die Rückkehr.“

3.13.1 Der Sündenfall „Wir alle wollen glücklich sein“, und wir alle wollen Leiden vermeiden. Aber die erste edle Wahrheit Buddhas ist ganz einfach: cc

„Leben bedeutet Leiden.“ (Schwery 2008) „Die Frage, warum wir leiden, ist eine wesentliche religiöse und philosophische Frage, ebenso wie die Frage, wie wir das Leiden beenden können. Östliche Philosophen stellen sich den Beginn des Leidens als einen kosmischen Prozess vor, der seinen Ursprung in der Vertreibung des Göttlichen hat, als Ergebnis der Erforschung der Natur des Selbst, die zur Erkenntnis führte, dass Ich bin, oder aus biblischer Sicht, am Anfang war das Wort. Astrophysiker sagen uns, dass es am Anfang den Urknall gab. Von diesem Zeitpunkt an begann der Fall der Weisheit oder der schöpferischen Kraft zuerst in die Schöpfung, dann in die Materie, die die dunkle Seite, den Schatten eines jeden Menschen einschließt. In der indischen Mythologie ist Shiva vor dem Sündenfall, verbunden für immer als Einheit mit dem Shakti-Aspekt des Menschen. In der biblischen Geschichte des Sündenfalls ist der Mensch für immer mit dem Göttlichen verbunden. Der Fall ist die Trennung von Shakti von Shiva, die durch die Trennung zu einem toten Körper wird, in dem Sinne, dass sie, solange Shakti in der Materie gefangen bleibt, in einem materiellen, kulturellen Gefängnis sitzt. Shakti ist auf unser Unbewusstes, unser Leiden beschränkt, und wenn sie leidet, leiden wir mit ihr. Sie ist unerlöst, in die Dunkelheit verbannt. Es ist das Königreich der Maya, das Königreich der Unwissenheit. Diese Unwissenheit ist das Hindernis, das den Menschen daran hindert, seine wahre Natur,

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3  Die Lösung

die der göttlichen Weisheit oder die Essenz der Sophia, die nun ihrerseits unter ihrem Sturz in die Schöpfung leidet, zu erkennen. Die Unwissenheit selbst beginnt nun durch ihre eigene Unwissenheit zu leiden, die Sophia zu erwecken beginnt, die verzweifelt nach dem Weg zurück zur Quelle, zum Licht sucht.“ (Schwery 2008)

3.13.2 Der Verlust „Sophias Versuch, zurückzukehren, wird durch das Gegenteil von Licht, dem dunklen Bruder, dem Schatten oder biblisch, Satan, dem Teufel, blockiert. Wie kann die Menschheit die Herrschaft über ihren dunklen Einfluss übernehmen?“ cc

„Der Schlüssel ist Mitgefühl.“ (Schwery 2008)

„Nicht dadurch, dass wir ihn binden und in den Abgrund werfen, wie es in der Apokalypse der Fall ist, noch dadurch, dass wir ihn psychologisch unterdrücken, wie es bei uns üblich ist, sondern dadurch, dass wir ihn annehmen, ihn liebevoll umarmen. Heilung, Erlösung in der Jung’schen Psychologie hat immer die Bedeutung des ‚Bewusstseins‘, des Eintretens in das Bewusstsein. Lass mich klarstellen, dass dies bedeutet, dass wir unsere dunkle Seite nicht verurteilen dürfen. Wir lesen in der Bibel: Richtet nicht! Solange wir uns unseres Schattens nicht bewusst werden und ihn nicht vollständig annehmen, erleben wir ihn als Blockade, die unser inneres und äußeres Leben betrifft. Um diesen Prozess des Bewusstseins, den die östliche Philosophie die Eliminierung von Unwissenheit oder Maya nennt, zu unterstützen, brauchen wir keine neuen Konzepte zu erfinden oder mehr wissenschaftliche Studien durchzuführen.“ cc

„Wir brauchen nicht mehr Theoria, sondern Experientia.“ (Schwery 2008)

„Das ist die Weisheit“, die uns die Alchemisten überliefert haben. Aber wie erreichen wir dieses besondere Bewusstsein? Wie lösen wir uns in der Praxis von der Macht des Schattens? Unsere Begegnung mit dem Schatten geschieht in der Regel durch den Zusammenbruch unserer zuvor etablierten Identität. Wir erleben es als eine persönliche Apokalypse, die Chaos in unserem Leben schafft. C. G. Jung beschreibt diesen Zustand wie folgt: „Man ist gänzlich der Gnade äußerer Einflüsse ausgeliefert, ohne Orientierung wie in einem steuerlosen Schiff, wo man dem ständigen Zorn der Elemente ausgesetzt ist. Das unendliche Leid, das in dieser Situation erlebt wird, ist die Ermutigung für Sophia, nach einer Lösung zu suchen, die dem Schmerz ein Ende setzt.“ (Schwery 2008)

3.13  Blockaden der Individuation

223

3.13.3 Die Rückkehr „Eros, der einen befreienden Aspekt beinhaltet, uns aber auch viel zu oft in ungeahnte Gefahren führt, beleuchtet unseren Fluchtweg. Zunächst sucht Eros nach der komfortabelsten Lösung. Männer werden von jüngeren, attraktiven Frauen angezogen, und Frauen von hübschen Helden. Aber dieser leichtfertige äußere Versuch einer Lösung blockiert Sophia, deren Heilspfad auf das abzielt, was in uns liegt, nicht auf das, was außerhalb von uns ist. C. G. Jung nannte dieses innere Zentrum die Anima. Er wiederholte oft, dass Anima das größte Problem des Mannes sei. Für Frauen ist es der Animus. Die Anima ist eine mächtige, gierige sexuelle Energie, die an den Körper gebunden ist. Nach Ansicht der Alchemisten muss das Wasser (dieses Gefühls), das mit dem alles verzehrenden, sehnsüchtigen, sexuellen Verlangen nach der babylonischen Hure in Verbindung gebracht wird, gereinigt werden. Wenn das Wasser gereinigt wird, dann wird es unseren Durst nach den Evangelien löschen und uns das ewige Leben schenken. Die Aufgabe des Lebens wird so zur Transformation der Erotik in einen inneren Reifeprozess (Tantrismus). Dürckheim betont, dass lebendige Erotik ganz anders ist als reiner Sex, aber Sex gehört natürlich auch zur Ganzheit des Menschen. C. G. Jung sagte oft, dass Sex die Kehrseite der Spiritualität sei. Laut der Tiefenpsychologie von C. G. Jung und der Alchemisten ist die Versöhnung zwischen dem Schatten und dem Selbst eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Transformation. Für Jung ist das Selbst das Symbol unserer vereinten Gegensätze. Laut der Tabula Smaragdina, der Smaragdtafel, ist es unsere Lebensaufgabe: Suche nach dem Einssein mit der göttlichen Sonne zu sein! Erst dann ist das Werk der Sonne vollbracht. Das Werk der Sonne bedeutet das reine Gold, die Wirklichkeit, der Goldene Wind, wie Du es in Deinem Buch genannt hast: Leben im Goldenen Wind.“ (Schwery 2008) Erhard: „Vielen Dank, Walter, für die umfassende Übersicht über die Blockaden der Individuation. Es gibt nicht viele, die diese komplexen Zusammenhänge so prägnant beschreiben können. Vor Deinen Ausführungen war ich der Meinung, dass die folgenden drei Blockaden drei verschiedene Probleme der Menschheit waren, die unabhängig voneinander gelöst werden mussten. • Der Fall in die egozentrierte Welt der Materie, des Geistes (Verstand, Ratio), der Wissenschaft, der Technologie und der Wirtschaft. • Die Versöhnung mit unserem dunklen Bruder. • Das Anima/Animus-Thema. Jetzt sehe ich, dass die Blockaden quasi Phasen dessen sind, was Du so treffend als das Kosmische Drama bezeichnest, das in jedem von uns seinen Lauf nimmt.

224

cc

3  Die Lösung

Transformation ist die Aufgabe unseres eigenen Lebens

Transformation ist auch der Grundstein dieses Buches. Wie passend, dass Du nun Deine Erklärung mit einer Erinnerung an unser Bedürfnis nach Transformation beendest. Wenn ich auf den Fall von Sophia in die Materie zurückkomme, erinnere ich mich, dass Du mir von einer Erklärung von C. G. Jung erzählt hast, die ich bereits in diesem Buch erwähnt habe. Er sagte, dass er noch nie mit einem Patienten gearbeitet habe, dessen verschiedene Erscheinungsformen psychologischer und psychosomatischer Probleme nicht letztlich das Ergebnis der Trennung vom Spirituellen seien.“ Walter: „Du hast vollkommen Recht. Jung drückte den Fall von Sophia mit anderen Worten aus.“ cc

„Der Fall in die Materie ist die Trennung von Gott, von der göttlichen Weisheit.“ (Schwery 2008)

Erhard: „Im Moment sehen wir, wie sich alle Ebenen der Gesellschaft, Länder, Volkswirtschaften, Unternehmen, Kirchen und Kulturen, die auf Patriarchat aufgebaut sind, auflösen. Wäre es fair zu sagen, dass Sophia, die göttlich-feminine Weisheit, diese antiquierten Strukturen durchbricht und dass dieser Durchbruch nur mit chaotischen Mitteln erreicht werden kann?“ Walter: „Ja. Sie ist weltweit sichtbar. Es ist der Zeitgeist, der einen Durchbruch fordert. Die Tragödie ist, dass die meisten Menschen leiden, ohne zu wissen, warum oder wie sie fliehen sollen. Sie haben keine Ahnung vom kosmischen Drama.“ Erhard: „Umso mehr Grund für diejenigen unter uns, die sich bewusst sind und es verstehen, fleißig daran zu arbeiten, dass anderen Menschen sowohl eine Erklärung als auch eine Anleitung geboten wird.“

3.13.4 Ablenkungen sind schädlich: C. G. Jungs Visionen Nachdem er sein Rotes Buch geschrieben hatte, entschied Jung sich dafür, das Buch fast 100 Jahre lang geheim zu halten. Er war davon überzeugt, dass die Leute ihm nicht glauben würden und ihn zu Beginn des 20. Jahrhunderts für verrückt erklären würden. Es ist jetzt erschienen, zuerst in den USA und danach in vielen Sprachen, darunter auch Deutsch. Es war seine Hoffnung, dass die Menschen zu

3.13  Blockaden der Individuation

225

Beginn des 21. Jahrhunderts reif genug sein würden, um seine Konzepte zu verstehen und entsprechend zu handeln. Aber wir sind offensichtlich noch weit davon entfernt, seine Vision zu verwirklichen. Es ist tragisch, dass wir in Bereichen, die wirklich wichtig sind, in denen es um mehr Menschlichkeit geht, so wenig Fortschritte gemacht haben. C.  G. Jung beschreibt in dem „Roten Buch“ die drei Prophezeiungen, die er durch sein fantasievolles Gespräch mit seiner Seele für unsere Zukunft gesehen hat: „Aus der überschwemmten Dunkelheit, die der Sohn der Erde gebracht hatte, gab mir meine Seele alte Dinge, die auf die Zukunft hinwiesen. Sie gab mir drei Dinge: Das Elend des Krieges, die Dunkelheit der Magie und das Geschenk der Religion. Wenn Sie klug sind, werden Sie verstehen, dass diese drei Dinge zusammengehören. Diese drei bedeuten die Entfesselung des Chaos und seiner Macht, ebenso wie sie auch die Bindung des Chaos bedeuten. Der Krieg ist offensichtlich und jeder sieht ihn. Magie ist dunkel und niemand sieht sie. Die Religion steht noch aus, aber sie wird offensichtlich werden. Hast du dir jemals vorgestellt, dass die Schrecken eines solchen grausamen Krieges über uns hereinbrechen würden? Wussten Sie, dass es Magie gibt? Haben Sie über die Möglichkeit einer neuen Religion nachgedacht? Ich saß lange Nächte auf und schaute voraus, was prophezeit wurde, und ich schauderte.“ (Jung 2009, S. 375, 376)

Krieg und Konflikte sehen wir überall, in Einheiten, die so klein wie Familien und so groß wie Nationen sind. Der Krieg ist egozentrischen Ursprungs und trennt so das eine vom anderen, was zu endlosen Opfern führt. Es gibt keine realistische Hoffnung, dass sie endet, bis die totale Vernichtung der Menschheit abgeschlossen ist. Mit Magie bezog sich Jung auf schwarze Magie, eine lebensfähige, z­ erstörerische Kraft, die sowohl auf das Individuum als auch auf das Kollektiv einwirkt. Dr. Lance Owens, ein Jung-Experte und profunder Kenner seiner Literatur, sagte in seinem Seminar über das Rote Buch: „Ich glaube, ich weiß jetzt, was Jung mit seiner Prophezeiung von einer Dunkelheit der Magie meinte. Denken Sie an die technologische digitale Entwicklung der letzten 30 Jahre. Technos, die schöpferische menschliche Fähigkeit explodierte und wächst exponentiell. Computer, Smartphones, Laptops und das Internet sind in das Struktur-­ Gewebe des menschlichen Lebens verwoben. Auf den Straßen, in Autos, Zügen, Flughäfen, sogar in der Einsamkeit der Natur, überall ist es Hektik, Hektik, Hektik, ohne Zeit zum Innehalten und Nachdenken, zum Betrachten, zum Meditieren, zum sinnvollen Bedenken. Wir müssen uns beeilen und warten! Die Menschen haben ihre achtsame Aufmerksamkeit, ihr Bewusstsein, ihre Rücksichtnahme und ihr Mitgefühl von dem Vampir der Magie an sich reißen lassen.“ (Owens 2012)

226

3  Die Lösung

3.13.5 Die Tragödie der modernen Ablenkungen Wir lesen in Die ZEIT 26.03.2015. „Das Smartphone als permanente Unterhaltung verhindert einen hochproduktiven Geisteszustand: die Langeweile: Endlose Ferienwochen, in denen man stundenlang herumsaß und nichts mit sich anzufangen wusste  – an so etwas erinnern sich heute höchstens noch die über 30-­Jährigen. Für alle Jüngeren wird Langeweile zunehmend zu einem unbekannten Geisteszustand. Schließlich trägt man doch ständig ein Handy in der Tasche – und wenn nichts los ist, zieht man es reflexhaft heraus und checkt WhatsApp, liest Facebook oder spielt Angry Birds. So wird die Langeweile abgeschafft. Das klingt erst einmal gut – aber es verhindert einen wichtigen Betriebsmodus unseres Gehirns. Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov ziehen 44 Prozent der Deutschen automatisch ihr Mobiltelefon aus der Tasche, wenn sie nichts weiter zu tun haben, weil sie zum Beispiel auf den Bus warten. Bei den 18bis 24-Jährigen sind es sogar 73 Prozent. Wer das tut, richtet seine Aufmerksamkeit nach außen, obwohl sich ihm eine gute Gelegenheit bietet, sie nach innen zu wenden. „Diese beiden Formen der Aufmerksamkeit funktionieren wie ein Schalter“ ,schrieb der Psychologe Daniel Willingham von der University of Virginia kürzlich in der New York Times.‘ Handys machen uns nicht dumm, so seine These, sondern sie stillen unseren ,Appetit auf endlose Unterhaltung‘. Die Folge: Auszeiten fürs Gehirn schwinden – und damit die Gelegenheiten für Geistesblitze. Denn gerade in den Phasen des ungerichteten Denkens sehen Psychologen eine Quelle der Kreativität. Viele Menschen erzählen, dass ihnen die besten Ideen bei Routinetätigkeiten kommen – beim Duschen, beim Autofahren, beim Aus-dem-Fenster-­ Gucken im Zug. Wer nicht gerade ein Zen-Mönch ist, der kann nicht verhindern, dass in diesen Situationen das Gehirn unentwegt Ideen fabriziert. Das können sehr ­unproduktive Gedankenschleifen sein, die sich immer wieder um die gestrige Konfrontation mit dem Chef drehen – aber eben auch Gedankenblitze, die ein lange hin und her gewälztes Problem plötzlich lösen.“ (Drösser 2015)

Ruhe und Stille, Nichtstun, achtsames Nicht-Tun, ist absolut notwendig für Intuitionen und Kreativität. Es ist unmöglich, in diesen Zustand einzutreten, wenn wir ständig mit unseren Ablenkungen verbunden bleiben. Soren Gordhamer zitiert den Google Ventures-Partner Joe Kraus: „Als Kultur haben wir eine Krise der Aufmerksamkeit. Wir werden zu einer abgelenkten Kultur, (…) eine Kultur, die voneinander getrennt ist. (…) unfähig, auf irgendetwas zu achten – auf unsere Ideen, unsere Denkweise oder einander. Einsicht, Fantasie und Einfühlungsvermögen mit anderen, die das Herzstück der Kreativität sind, leiden.“ (Gordhamer 2013, S. 11)

Soren Gordhamer beschreibt diese Ablenkung:

3.13  Blockaden der Individuation

227

„Studien deuten darauf hin, dass bis zu drei von vier US-Arbeitern ihren Job heute als stressig bezeichnen. In einer kürzlich durchgeführten Studie der National Sleep Foundation sagen 63 Prozent der Amerikaner, dass ihre Schlafbedürfnisse während der Woche nicht befriedigt werden. Immer mehr Menschen fühlen sich heutzutage zunehmend überfordert und abgelenkt, was viel mit der Verbreitung dieser Technologien zu tun hat. Während wir früher einmal nach Hause gehen konnten, um von der Arbeit wegzukommen, folgt sie uns nun durch unser Handy und unseren Computer, sodass wir immer im Büro sind und für Nachfragen zur Verfügung stehen. Der ständige Ansturm von Botschaften und Informationen lässt uns erschöpft und verwirrt fühlen und es schadet der Qualität unserer Arbeit und unserer Beziehungen. (…) Trotz meiner Offenbarung war ich nicht bereit (und bin es immer noch nicht), auf mein Interesse an oder den Einsatz von Technologie zu verzichten. Diese Geräte und Dienste können leistungsstarke Werkzeuge sein, um eine freiere und offenere Welt zu schaffen. Die Wahrheit ist, dass wir so gut wie jedes Gerät entweder zum Nutzen oder zum Schaden benutzen können. Wichtig ist nicht, dass es Twitter und Facebook gibt. Sie sind, was sie sind. Ob wir sie als Mittel der Ablenkung oder des Klatsches benutzen oder sie nutzen, um uns zu helfen, das Wichtigste zu erreichen, hängt von uns ab. Ich habe dieses Buch (Wisdom 2.0) geschrieben, um Ihnen dabei zu helfen, bewusste Entscheidungen darüber zu treffen, wie Sie diese Werkzeuge benutzen, damit Sie in unserer ständig verbundenen Welt auf eine Weise leben können, die kreativ und bewusst ist und wo Sie sich auf dem Fahrersitz befinden.“ (Gordhamer 2013, S. 2–3)

Es ist zweifelhaft, dass die meisten Menschen in der Lage sind, im täglichen Umgang mit der Technik kluge Entscheidungen zu treffen. Jung und Neumann erklären deutlich, wer auf dem Fahrersitz sitzt. Es ist unsere unterdrückte und verdrängte dunkle Seite. Lance Owens kommentiert: „Vor 20 Jahren sprachen die Menschen direkt miteinander und lasen Bücher. In meiner Notaufnahme beobachtete ich kürzlich zahlreiche junge Erwachsene mit großen, lebensbedrohlichen medizinischen Problemen, die sich alle auf ihre Smartphones konzentrierten. Was lenkt die Menschen heute noch ab und fordert ihre Aufmerksamkeit? Viel mehr! Woher kommt die Magie? Sie entsteht in uns als Menschen, die durch das ,Schöpferische Feuer‘ der modernen Welt zum Leben erweckt werden. Magie ist sehr gefährlich. Sie verweigert uns die meditative Zeit allein mit unserer eigenen Psyche, von unserer inneren Stimme, unserer Intuition, unserem spirituellen Zentrum. Nach einem Jahrhundert Krieg bleiben wir verwundbar. Und jetzt sehen wir uns einer noch größeren Gefahr dieser Magie gegenüber ausgeliefert.“ (Owens 2012)

Soren Gordhamer zitiert Bill Keller in seinem Buch: „In einem Blog-Post mit dem Titel ,The Twitter Trap‘ schreibt Bill Keller, der Chefredakteur der New York Times, über die Herausforderungen, fokussiert zu bleiben: ,Der offensichtlichste Nachteil von Social Media ist, dass sie aggressive Ablenkungen

228

3  Die Lösung

sind‘. Er fuhr fort: ‚Jedes Mal, wenn mein Tweet Deck einen neuen Tweet auf meinen Desktop schießt, erlebe ich einen kleinen Dopamin-Schub.‘“ (Gordhamer 2013, S. 19)

Der SPIEGEL vom 14.08.2015 titelte: Wie ich ich selbst bleibe – Mensch sein im Google-Zeitalter. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie digitale Abhängigkeit eine Dissonanz zwischen dem Ego-Geist, der Vernunft und dem Selbst schafft: „Algorithmen deuten das Verhalten des Menschen, analysieren seine Körperwerte und seine Gene, sie empfehlen ihm, was er kaufen, was er lesen, was er essen, wen er mögen und mit wem er schlafen soll. Sie lenken seine Bedürfnisse, seinen Geschmack, sein Bild von der Welt – alles, was er mal für Ausweise seiner Individualität hielt. Sie steuern seine Handlungen. Sie begrenzen seine Freiheit. Es drohe ein neuer Totalitarismus, sagt der Soziologe Harald Welzer. Optimistischere Zeitgenossen behaupten das genaue Gegenteil. In ihrer Perspektive erklimmt der Mensch gerade eine neue Stufe der Evolution. Vom vernünftigen Wesen zum um künstliche Vernunft erweiterten Wesen. Vom Homo sapiens zum Homo augmented. Er profitiert davon, dass die Grenze zwischen Mensch und Maschine, zwischen dem Smartphone und seinem Besitzer zusehends verschwindet. Die Fähigkeiten der Maschine werden Fähigkeiten des Menschen. Er wird mächtiger, klüger, vernünftiger als jemals zuvor. Er findet Lösungen für Probleme, die ihn allein überfordern. Die digitale Revolution, so sehen es die Optimisten, setzen jeden einzelnen Menschen überhaupt erst in die Lage, seine Freiheit zu nutzen. Das Wissen der Welt steht ihm jederzeit an jedem Ort zur Verfügung.“ (Brauck et al. 2015)

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass man, dem Zeitgeist folgend, den Unterschied zwischen Verstand und Vernunft nicht verstanden hat. Der Zugang zu Wissen und die Verknüpfung von Wissen erweiterten und stärken zwar die geistigen Fähigkeiten, aber das hat nichts mit Vernunft zu tun. Das Individuum wird zunehmend destabilisiert und lässt die Vernunft hinter sich. Wenn wir ständig aus unserem Zentrum, aus der Achtsamkeit des Hier und Jetzt herausgerissen werden, werden wir immer mehr von unserer Seele entfernt. Die Seele ist aber unsere Führerin zu unserem Unbewussten, und wenn unser Zugang zum Unbewussten verloren geht, untergraben und schwächen wir unser Bewusstsein. Sobald wir unseren Fokus, unsere Stabilität, unsere Mitte verlieren und leicht manipuliert werden können, sind wir auf dem Weg zu einer Vielzahl von Krankheiten. In diesem Zustand kann man die Neue Ethik nicht fördern und leben, nicht persönlich, nicht gesellschaftlich und schon gar nicht als herrschende Kraft in der Wirtschaft. Die neue, verbindende, integrale Religion steht noch aus, aber sie wird offensichtlich werden:

Literatur

cc

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„Eine neue Religion ist noch nicht etabliert, aber sie ist am Horizont“ (Jung 2009, S. 376)

Es gibt Fortschritte bei der Individuation unzähliger Individuen, die sich auch im Kollektiv abzeichnet. Ein neues Epos des menschlichen Bewusstseins kann als sich entwickelnd angesehen werden. Dieses Buch über die Neue Ethik gibt Zeugnis von diesem aufkommenden Bewusstsein. Deutschland hat kürzlich eine Cyber Security Conference abgehalten. Viele Redner führten die Teilnehmer zu der ernüchternden Erkenntnis, dass täglich Hunderte und Tausende von Angriffen auf die sogenannten sicheren Netze von Regierungen, Banken, Unternehmen, Kernkraftwerken und der Armee verübt werden. Ständig werden Schutzprogramme entwickelt und eingesetzt, um die Angriffe abzuwehren, aber mit wenig Erfolg. Niemand weiß mit Sicherheit, dass es nicht eines Tages zu einer Massenvernichtung von unvorstellbarem Ausmaß und unvorstellbaren Folgen kommen wird. Jung prophezeite es nur allzu deutlich!

Literatur Berger, W. (2013). Business Reframing. Wiesbaden: Springer Gabler. Brauck, M., Jung, A., Nezik, A-K., & Schulz, T. (14. August 2015). Von A bis Z. Der Spiegel. Dorst, B., & Vogel, R. T. (2014). Aktive Imagination. Stuttgart: Kohlhammer. Drösser, C. (26. März 2015). Wie jetzt? Die Gedanken schweifen lassen? Die Zeit, 13. Dürckheim, G. K. (1976). Meditieren – wozu und wie: Die Wende zum Initiatischen. Freiburg: Herder. Dürckheim, G. K. (1986). Mein Weg zur Mitte. Freiburg: Herder. Dürckheim, G. K. (1988). Durchbruch zum Wesen. Bern/Stuttgart/Toronto: Hans Huber. Dürr, H.-P. (2011). Das Lebende lebendiger werden lassen. München: Oekom. Francis, Pope. (2014). Holy Father European Parliament in Strasbourg, on 25th November 2014. https://w2.vatican.va/content/francesco/en/speeches/2014/november/documents/ papa-francesco_20141125_strasburgo-consiglio-europa.html. Zugegriffen am 10.04.2020. Gebser, J. (1986). Gesamtausgabe. Steinbergkirche: Novalis. Geissler, P., & O’Rourke, B. (2015). The power of ethics: The thoughtful leader's model for sustainable competitive. Pittsburgh: The Expressive Press. Gordhamer, S. (2013). Wisdom 2.0 – The New Movement toward purposeful engagement in business and life. New York: Harper Collins. Hawkins, D. (2014). Loslassen  – Der Pfad widerstandsloser Kapitulation. Antwort: Sheema Medien. Henderson, D. (2010). The coincidence of the opposites. Studies in Spirituality, 20, 101–113. https://doi.org/10.2143/SIS.20.0.2061145. http://www.aip.org.uk/docs/aippub_coincidenceofopposites_dh.pdf. Zugegriffen am 26.04.2019.

230

3  Die Lösung

Herrigel, E. (1953). Zen and the Art of Archery. New York: Pantheon Books. Heuser, U. J. (2017). Wir statt Gier. Die Zeit, 44. Hölderlin, F. (1995). In G.  Mieth (Hrsg.), Sämtliche Werke und Briefe, Erster Band, Gedichte. Berlin: Aufbau. Johnson, R.  A. (1986). Inner work: Using dreams and active imagination for personal growth. San Francisco: Harper and Row. Jung, C. G. (2009). The red book Liber Novus a readers edition edited by Sonu Shamdasani. New York: Norton. Jung, C. G., & Adler, G. (1973). Jung Letters I. Princeton: Princeton University Press. Jung, C. G., & Adler, G. (1976). Jung Letters II. Princeton: Princeton University Press. Jung, C. G. (1967a). Collected works (Bd. 8). Princeton: Princeton University Press. Jung, C. G. (1967b). Collected Works (Bd. 16). Princeton: Princeton University Press. Jungian Center for Spiritual Sciences. (2020). https://jungiancenter.org/components-of-individuation-1-what-is-individuation. Zugegriffen am 10.04.2020. Kinslow, F. (2008). The secret instant of healing. Carlsbad: Hay House Inc. Lasalle, P. E (1985). Einführung in die ZEN Meditation (Introduction to ZEN Meditation). https://www.youtube.com/watch?v=-LG_Wx0Z-V4. Zugegriffen am 10.04.2020. Meyer-Galow, E. (2011). Leben im Goldenen Wind. Berlin: Frieling. Meyer-Galow, E. (2014). Leben im Goldenen Wind. Berlin: Frieling. Müller, W. W. (2007). Suche nach dem Unbedingten-Spirituelle Spuren der Kunst. Zürich: Theologischer. Neues-Bewusstsein-Leben. (o.  J.). https://www.neues-bewusstsein-leben.de/jean_gebser. html. Zugegriffen am 12.04.2020. Owens, L. (2012). Jung and the Red Book. MP3 download. www.gnosis.ord/redbook. Zugegriffen am 26.04.2019 Schwery, W. (2008). Das Böse oder die Versöhnung mit dem Dunklen Bruder. Würzburg: Königshausen und Neumann. Silesius, A. (1675). Cherubinischer Wandersmann oder Geist-Reiche Sinn- und Schluss-­ Reime zur Göttlichen Beschauligkeit. Glatz: Schubarth.

4

Die Anwendung

4.1

 nwendung und Aufrechterhaltung der Business A 3.0 in der Wirtschaft

Hans-Peter Dürr berichtete mir über ein Treffen westdeutscher und ostdeutscher Wissenschaftler nach der Wende in Auerbachs Keller, einem historischen Restaurant in Leipzig, wo versucht wurde, einen deutschen Begriff für Nachhaltigkeit zu finden. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir in der Wirtschaft immer von Sustainability gesprochen und diese Verantwortung in unsere Unternehmensziele eingebaut, aber wir hatten kein deutsches Wort für das Konzept. Die Wissenschaftler befürworteten einen Vorschlag von Kollegen aus der Forstwirtschaft, die ein Nachhaltigkeitskonzept präsentierten, das es in der Forstwirtschaft bereits seit Langem gibt (von Carlowitz 1713). Dürr lehnte es leidenschaftlich ab, weil ihm dieses zu statische Konzept, einfach nur einen neuen Baum zu pflanzen, um jeden gefällten Baum zu ersetzen, nicht ausreichte. Er beharrte darauf, dass die ungefähre Beibehaltung des Status quo für eine wirkliche Nachhaltigkeit nicht ausreicht. Dürr schlug eine Definition vor, die dynamisch in die Zukunft weist: cc

„Nachhaltigkeit heißt das Lebende lebendiger werden lassen.“ (Dürr 2011)

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Meyer-Galow, Business Ethik 3.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30786-8_4

231

232

4  Die Anwendung

Nach weiteren Diskussionen entschied man sich dann dennoch für Nachhaltigkeit entsprechend der Definition der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung: „Nachhaltigkeit ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren eigenen Lebensstil zu wählen.“

Das ist sicherlich ein Schritt nach vorn, aber ist es vielleicht noch zu ungenau und zu liberal? Manemann (2014) ist der Ansicht, dass das Konzept der Nachhaltigkeit, seit es zu einem Marketing-Slogan für Automobilhersteller und andere CO2-intensive Unternehmen geworden ist, seine kritische Essenz verloren hat. Wie bereits dargestellt, ist Dürrs Maßstab für ein neues Nachhaltigkeitskonzept erst dann erfüllt, wenn es gelingt, das Lebendige lebendiger werden zu lassen. Wenn wir uns im Rad des Lebens engagieren, reicht es nicht aus, dass wir einfach den Status quo beibehalten, sondern wir haben die Pflicht, das Leben zu verbessern. Dies kann eine echte Herausforderung in der Anwendung darstellen und hat das Potenzial für enorme praktische Konsequenzen bei konsequenter Anwendung. Die positiven persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ergebnisse sind die Mühe wert. Dieses zukunftsweisende Konzept der Nachhaltigkeit, das sich für ein lebendigeres Leben einsetzt, ist Hauptprinzip und Motor der Business Ethik 3.0. In seinem Buch Handlungsnetze erkennt der Ethiker Peter Knauer (2002) Nachhaltigkeit als Grundprinzip der Ethik an. Ausgehend von Thomas Aquin stellt er fest, dass jede Handlung zwei Konsequenzen hat: eine wünschenswerte und eine unerwünschte. Eine grundlegende Frage der Ethik ist, welche Risiken und Nebenwirkungen akzeptabel sind. All die klassischen Experimente zeigen, dass Kollisionen von Werten niemals perfekt gelöst werden können. Ist Wirtschaftswachstum wichtiger als die Umwelt oder umgekehrt? Knauer weist darauf hin, dass die Frage selbst unsinnig ist. Wie wir bereits wissen, brauchen wir uns nicht ausschließlich für eine Entscheidung zu entscheiden, es handelt sich nicht um einen praktikablen Ansatz. Wir müssen vielmehr ein Gleichgewicht finden, das zu einer Win-win-­ Lösung führt. Knauer setzt sich für die ethische Forderung ein, dass unser Handeln die Moral, nach der wir streben, langfristig wachsen und gedeihen lässt, anstatt sie für kurzfristige Gewinne zu nutzen. Diese moralische Position muss universell formuliert und angewendet werden. Nicht nur mein Reichtum, sondern aller Reichtum. Wenn wir unseren Reichtum auf eine Art und Weise vermehren, die auch den Reichtum aller anderen erhöht, handeln wir auf moralisch verantwortliche Weise. Wenn wir versuchen, unseren

4.1  Anwendung und Aufrechterhaltung der Business 3.0 in der Wirtschaft

233

Reichtum auf Kosten anderer zu mehren, handeln wir moralisch verwerflich. Knauers Fazit erlaubt es uns, über die nutzlose Wertedebatte hinauszugehen. Die Werte, zu denen wir uns bekennen, seien es Reichtum, Ökologie, soziales Bewusstsein oder Selbstbestimmung, bleiben eine persönliche Entscheidung, aber damit die Handlungen, die sich aus unseren Entscheidungen ergeben, ethisch sind, ist es entscheidend, dass wir diese Werte in ihrer universellen Formulierung und Dauer multiplizieren. Wenn diese Weisheit auf die Wirtschaft übertragen wird, führt sie zu einem verantwortungsbewussten Handeln, das Nachhaltigkeit im Sinne von Dürr sicherstellt und fördert. Nach Ackermann (2004) wäre es sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene von enormem Nutzen, die Kombination von Verantwortung und Nachhaltigkeit als Ziele und Praktiken im Rahmen einer neuen Business Ethik zu verankern. Denn diese Einheit habe das Potenzial, Einzelpersonen und Unternehmen in die Lage zu versetzen, Entscheidungen zu treffen, die sowohl von persönlichem Nutzen als auch umwelt- und sozial verträglich sind. Leider seien die meisten Unternehmen in ihrer Vorstellung von ihren Mitarbeitern eingeschränkt; sie würden Personalkosten lediglich als isolierten Aufwand sehen, der gemildert werden muss.

4.1.1 Nachhaltige Eigenverantwortung Meine Erfahrung führt mich zu dem Schluss, dass Führung fünf Vektoren erkennen muss, um Eigenverantwortung effektiv und effizient fördern zu können. Die ersten vier richten sich an uns selbst, unseren Chef, unser Team und unsere Kollegen: • • • • •

In uns selbst Unter uns Über uns selbst Neben uns selbst Außerhalb des Unternehmens

Der finale Vektor richtet sich an alle externen Stakeholder wie Kunden, Lieferanten, Wettbewerber, Aktionäre und die Gemeinschaft insgesamt: Wenn wir es ernst meinen mit der Anwendung der Neuen Ethik, müssen wir die Verantwortung für diese fünf Entwicklungsprogramme übernehmen.

234

4  Die Anwendung

4.1.2 Sich weiterentwickeln Es gibt zwei sehr wichtige Fragen, die bei der Interaktion mit anderen zu berücksichtigen sind: 1) Was ist meine dunkle Seite, mein Schatten, den ich integrieren muss, um zu vermeiden, dass andere sich verletzt fühlen? 2) Was ist das „Leben“ in der anderen Person, das ich „lebendiger“ machen kann? Im Vordergrund steht also die eigene persönliche Entwicklung. 1999 schrieb ich einen Artikel mit dem Titel: Führung in Zeiten des Wandels (Meyer-Galow 1999), den ich zusammenfassen möchte: Wenn wir die Führung betrachten, erwarten die meisten von uns ein paar detaillierte Berichte darüber, wie man andere führen kann. Die wichtigste Frage ist jedoch: Wie können wir andere führen, wenn wir unseren eigenen Weg nicht finden können? Diejenigen, die sich bemüht haben, mit der eigenen Entwicklung und Führung zu beginnen, sind sehr selten! Meine These lautet daher: cc

Führung beginnt immer mit der Übernahme der Verantwortung für die Führung von uns selbst

Nach der Geburt können wir uns nur für die ersten drei Jahre als ganzheitlich bezeichnen. Dann beginnen die Unterschiede zwischen mir und dir, zwischen meins und deins. Mit diesen Unterscheidungen wird unsere Ganzheit durch die Entwicklung unseres Egos erschüttert. Als Eltern haben wir eine enorme Verantwortung. Wir gestalten unsere Kinder, indem wir sie für das belohnen, was wir als gutes Verhalten betrachten; das, was zum Erfolg, zur Freude, zur Liebe usw. führt, bis ihr Ego stark entwickelt und unabhängig ehrgeizig wird. Dann können sie studieren, zur Arbeit gehen und mehr Erfolg bei der Weiterentwicklung ihrer Karriere erzielen. Sie leben ein Leben des Erwerbs und der Erfüllung des Egos. Irgendwann später entstehen negative Erfahrungen und Krisen, oft mit der ersten Führungsverantwortung oder anderen anspruchsvollen Aufgaben oder nach mehreren Jahren in einer intimen Partnerschaft. Allzu oft sind sie unvorbereitet und damit völlig unfähig, sich durch diese frühen Krisen zu navigieren, sodass eine erfolgreiche Lösung für alle Beteiligten gewährleistet ist, weil ihnen die Führungsqualitäten fehlen, die nur durch die Entwicklung ihres Bewusstseins entstehen können. Wir alle müssen uns unserer selbst bewusst werden, bevor wir andere erfolgreich zu ihrer Selbsterkenntnis führen können. Oder mit den Worten von Horst-Eberhard Richter: „Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, kann mit anderen fürsorglich umgehen.“ Wir

4.1  Anwendung und Aufrechterhaltung der Business 3.0 in der Wirtschaft

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müssen immer so führen, wie wir sind und nicht so, wie wir ausgebildet wurden oder wie andere es von uns erwarten, denn Patchwork-Verhalten, das nicht in unserer eigenen Persönlichkeit verankert ist, hat zwangsläufig eine enttäuschend kurze Lebensdauer. Die Entwicklung des Menschen als Ganzes ist eine entscheidende Aufgabe in unserem Leben, die zur innersten Dimension, zum Eckpfeiler der Führung wird. Es ist nun mehr als 20 Jahre her, dass ich dieses Artikel veröffentlicht habe, und ich glaube, dass wir heute ebenso leidenschaftlich daran glauben sollten, dass wir die notwendige Arbeit leisten müssen, um unser inneres Selbst, unser Selbstbewusstsein, zu entwickeln, um das Wesen der neuen Nachhaltigkeit auf eine mitwirkende Art und Weise zu erfassen. Die Übernahme der Verantwortung, unser inneres Wachstum zu ermöglichen und zu fördern, ist eine wesentliche Voraussetzung für jeden, der eine Führungsposition in Betracht zieht. Wir erreichen einen wesentlichen Schritt, um ein voll funktionsfähiger Erwachsener zu werden, der fähig ist, die Neue Ethik zu leben, wenn wir aufhören, andere für unser Schicksal zu beschuldigen und stattdessen selbst die Verantwortung dafür übernehmen. Als ganzheitlicher, vollendeter und selbstbewusster Mensch sind wir in Frieden mit uns selbst, in der Lage, ein Gleichgewicht von Gut und Böse, von Spiritualität und Säkularität, von Männlichkeit und Weiblichkeit mit allem und jedem zu finden. Wir strahlen inneren Frieden aus. Wir sind voller Energie und konzentrieren uns auf das Hier und Jetzt. Wenn wir mit uns selbst und unserer Umgebung wie ein Samurai oder ein Shaolin vollständig präsent sind, empfinden wir Empathie und Kongruenz mit der Außenwelt. Ethische Regeln oder Richtlinien sind nicht mehr notwendig. Inneres Wachstum ist eine fortlaufende, lebenslange Reise, die begonnen und fortgesetzt werden muss, und kein endgültiges Ziel hat, an dem wir erwarten können, dass wir ankommen. Die kraftvollen, ermächtigenden und sich selbst bestätigenden Festlegungen, die wir auf diesem Weg verinnerlichen, führen dazu, dass das notwendige Wissen und die Expertise, die wir suchen und erlangen, ausreichen, um sicherzustellen, dass unserer erfolgreichen Karriere nichts im Wege steht.

4.1.3 Andere bei ihrer Entwicklung unterstützen Die wirkliche Herausforderung für uns alle in Führungspositionen besteht darin, eine effektive und effiziente Führung zu demonstrieren, indem wir denjenigen, für die wir verantwortlich sind, helfen, auf dem Weg zur neuen Nachhaltigkeit voranzukommen. Es ist von allgemeinem Vorteil, die persönliche Entwicklung unserer Mitarbeiter zu fördern. Die Art unserer Führung und der Grad ihrer Wirksamkeit

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4  Die Anwendung

hängt entscheidend vom Stand unserer eigenen inneren Entwicklung ab. Jeder einzelne Mitarbeiter ist der Schlüssel zu einem neuen Bewusstsein. Manager wissen aus Erfahrung, dass, wenn Einzelpersonen nicht gefördert und anerkannt werden, ihr Bewusstsein wahrscheinlich gegen das Unternehmen gerichtet ist. Interessant ist, was viele nicht erkennen, dass psychische Schäden den gleichen Impuls im Gehirn erzeugen, als ob es physische Schäden wären. Laut Hirnforscher Gerald Hüther ist es so, dass wenn wir jemanden psychologisch missbrauchen, es sich so auswirkt, als ob wir ihn körperlich verletzt hätten. Hüther (2015) meint, dass die von mörderischen Konkurrenten erlebten Verletzungen wehtun, soziale Ablehnungen desolat machen würden, ebenso wie die Emotionen, die sich daraus ergeben, dass man ungerecht behandelt wurde. All dies hinterlasse deutliche Spuren im Gehirn. Deshalb würden wir alle mehr gegenseitige Unterstützung brauchen. Die am besten geeignete Form der Unterstützung ergebe sich aus kleinen Gemeinschaften, in denen sich die Menschen gegenseitig ermutigen, über sich selbst hinauszuwachsen und sich gegenseitig zu helfen. In jüngster Zeit hat die Epigenetikforschung die Erkenntnisse von Gerald Hüther noch einen Schritt weitergebracht, indem sie herausgefunden hat, dass die Erfahrung eines schweren Traumas zu einer Veränderung am Genom führt. Methylgruppen werden eingebaut und dadurch fehlen Andockstellen, die unsere Fähigkeit, in späteren Stresssituationen belastbar zu sein, behindern. Der blockierte Einund Ausschaltmechanismus am Genom wird sogar von der Elterngeneration an die Generation der Kinder und Enkel weitergegeben. Während wir noch am Anfang dieser spannenden, bahnbrechenden Forschung stehen, hat sie bereits Erkenntnisse hervorgebracht, die viele bisher rätselhafte, wiederkehrende Verhaltensmuster über Generationen hinweg erklären. Im Januar 2015 wurde im deutschen Fernsehen berichtet, dass ein namhafter deutscher Automobilhersteller nicht den vollen Betrag einer vereinbarten Prämie an Mitarbeiter zahlte, deren produktive und innovative Ideen übernommen wurden. Das motiviert andere Mitarbeiter nicht dazu, andere mögliche gewinnbringende Innovationen zu erforschen! Auch bei einem namhaften deutschen Stahlkonzern erhielten die Rentner nicht die ihnen zustehende Aufstockung. Das Unternehmen wurde vor Gericht gestellt und die Rentner gewannen den Prozess. Das war nicht gut für die Motivation der Menschen, die noch im Unternehmen tätig sind! Es ist von größter Wichtigkeit, dass diejenigen, die Verantwortung für andere übernehmen, mit gutem Beispiel vorangehen, indem sie ein ganzer, selbstverwirklichter Mensch sind. Zu oft wird diese Entwicklungsaufgabe nicht von Managern ­übernommen, die nicht verstehen, dass die Gründung und Aufrechterhaltung eines profitablen Unternehmens von der Entwicklung ihrer Mitarbeiter abhängen.

4.1  Anwendung und Aufrechterhaltung der Business 3.0 in der Wirtschaft

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Ich stimme dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Telekom AG, Thomas Sattelberger, zu, der die Machokultur in den Vorstandsetagen deutscher Unternehmen kritisiert. Wer Macht hat, muss sie auch mitfühlend ausüben können, und das Fehlen dieser Fähigkeit führt allzu oft zu ernsten Problemen. Häufig sind deutsche Unternehmen viel zu sehr auf ein mangelhaftes Effizienzkonzept fokussiert, das den Mitarbeitern keine Möglichkeit lässt, neue, innovative Ideen zu erwägen. Sattelberger prognostizierte, dass Unternehmen, die sich weigern, den Wertewandel der Gesellschaft zu akzeptieren, keine rosige Zukunft haben, da die jungen Arbeitskräfte immer weniger tolerant gegenüber den alten Praktiken werden. Es ist jedoch beruhigend, dass es einen starken und ermutigenden Trend gibt. Es wird geschätzt, dass fast 30 % der jungen Generation (20 bis 35 Jahre), die sogenannten Millennials, ein ganz anderes Leben erwarten als ihre Eltern. Sie schätzen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Flexibilität und Freiheit, Gemeinschaft und Zusammenarbeit, Chancengleichheit und Geschlechtergleichstellung, Partizipation, Integrität und Transparenz, Selbstverwirklichung und soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit sowie Authentizität und Vielfalt. Diese Verschiebung ­verändert die Verantwortungsgrundlagen in der Wirtschaft dramatisch. Viele Unternehmen in der sogenannten Old Economy haben Schwierigkeiten, Schritt zu halten. Zynga, PayPal, Google, Microsoft und LinkedIn gehören zu den Unternehmen, die mit großem Erfolg die erste Wisdom 2.0-Konferenz in Mountain View, Kalifornien, initiiert haben. Es folgten weitere Konferenzen, wobei die Teilnehmerzahl von Mal zu Mal zunahm. Ich habe im September 2014 an der Wisdom 2.0-­Konferenz in Dublin im Google Headquarter teilgenommen. Das Thema war Achtsamkeit und Mitgefühl im digitalen Zeitalter. Achtsamkeit ist der Einstieg in die spirituelle Entwicklung. Es hat sich gezeigt, dass die Einstellung der Mitarbeiter sehr positiv und willkommen ist. Die zuvor genannten Unternehmen unterstützen nun mit großem Erfolg das innere Wachstum ihrer Mitarbeiter. Der Wunsch der jüngeren Generation, in einem Unternehmen zu arbeiten, das ihre Werte ernst nimmt, ist groß. Diejenigen Unternehmen, die diesem Wunsch nachkommen, sind die Gewinner. Sie ziehen die talentiertesten Mitarbeiter an. Verantwortung für unsere Mitarbeiter zu übernehmen, zahlt sich in vielerlei Hinsicht aus. Es ist ein Beispiel für Clarks Gleichung, dass ökonomische Verantwortung, die optimal funktioniert, mit Rentabilität gleichzusetzen ist. Unternehmen, die Achtsamkeit und Mitgefühl praktizieren, sind auf dem Weg zu führenden Caring Companies (fürsorgliche Unternehmen). Ihre Mitarbeiter begrüßen es, geschätzt zu werden, und sind ihren Arbeitgebern gegenüber sehr loyal. Die Neue Ethik wächst und nimmt in diesen Unternehmen Gestalt an. Ihre Mitarbeiter sind hilfsbereit und produktiver. Aber letztendlich muss der psychologisch-spirituelle

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4  Die Anwendung

Weg zur Befreiung und Freiheit für jeden Einzelnen führen. Wahre spirituelle Reife ist notwendigerweise eine einsame, persönliche Suche, da jeder von uns von seiner eigenen einzigartigen evolutionären Ausgangsposition aus beginnt und dementsprechend dem einzigartigen Pfad folgen muss, der uns zur Erfüllung unseres individuellen Potenzials führen wird.

4.1.4 Was können wir von Sozialunternehmern lernen? Antonio Vaccaro erklärte: „Soziale Unternehmen streben nicht nach Profit, sondern wollen gesellschaftliche Probleme lindern. Dennoch können auch normale Firmen von ihnen viel lernen. In seiner alljährlichen Liste der 30 Social Entrepreneurs feiert Forbes die erstaunlichen Erfolge, die diese jungen Menschen mit ihrer gemeinnützigen Arbeit rund um den Globus erzielen: Der Begriff ,Sozialunternehmertum‘ scheint unter Ökonomen in letzter Zeit an Bedeutung eingebüßt zu haben. Sie behaupten: Jeder Unternehmer versucht, unbefriedigte Bedürfnisse zu bedienen und gründet sein Unternehmen, um eben diese Lücke zu schließen. Daher sei die Unterscheidung zwischen Sozialunternehmen und anderen Unternehmen überflüssig. Obschon es richtig ist, dass klassisches, gewinnorientiertes Unternehmertum (eine zentrale Säule unserer Wirtschaft) viele bedeutende Beiträge zum Wohlergehen unserer Gesellschaft leistet, unterscheidet es sich dennoch vom Sozialunternehmertum. Diese Unternehmer haben völlig andere Ziele und Motivationen. Und diese Tatsache wiederum hat fundamentale Auswirkungen auf ihre Start-ups. Das Gute dabei ist: Beide Seiten können voneinander lernen.“

Er fährt fort und weist auf die wichtigsten Punkte hin: „Hochgesteckte Ziele und hohe Motivation: Sozialunternehmer sind zunächst einmal daran interessiert, große Kernfragen unserer Gesellschaft besser anzugehen  – etwa Armut, Gesundheit, Bildung, Gleichstellung. Diese spornt sie an, sich hohe Ziele zu setzen. Das Bewusstsein, für eine wichtige Sache zu arbeiten, motiviert sie zusätzlich und damit auch ihr Team. Märkte sind das Mittel, nicht das Ziel: Sozialunternehmer sehen zunächst das Problem und nutzen die Märkte, um es zu lösen. Nicht umgekehrt. Der Mensch steht im Fokus: Dies ist wohl die wichtigste Erkenntnis, die jeder Unternehmer und jeder Manager in seiner Firma umsetzen sollte. Wer in einem Sozialunternehmen arbeitet, erkennt sehr schnell, dass Menschen und ihre Bedürfnisse Dreh- und Angelpunkt des Unternehmens sind. Dies bedeutet auch, dass sowohl firmeninterne als auch geschäftliche Maßnahmen immer zum Ziel haben, das Leben von Menschen zu verbessern: nicht allein das Leben von Kunden, sondern auch das der Angestellten oder Stakeholder. Wenngleich diese Sichtweise nicht neu ist – sie ist die unabdingbare Voraussetzung, um den Erfolg von Unternehmen langfristig zu sichern.

4.1  Anwendung und Aufrechterhaltung der Business 3.0 in der Wirtschaft

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Wirtschaftliche Nachhaltigkeit: Gewinne sind für Sozialunternehmer wichtig – allerdings nur als Indikator für finanzielle Nachhaltigkeit. Denn nur Gewinne garantieren letztlich den Erfolg der sozialen Zielsetzung: Jede Firma sollte nachhaltig wirtschaften, doch Gewinnstreben sollte nie vom gesellschaftlichen Auftrag eines Unternehmens ablenken. Beide, klassische, gewinnorientierte Unternehmer und Sozialunternehmer würden von diesem wechselseitigen Lernprozess profitieren. Es gibt auch Foren, in denen diese beiden Unternehmertypen aufeinandertreffen und ihre Erfahrungen austauschen können. Ein gutes Beispiel dafür ist die jährliche Doing Good and Doing Well Konferenz der internationalen IESE Business School. Solche Konferenzen und Initiativen bringen Experten aus unterschiedlichen Sektoren zusammen. Die Teilnehmer können dort in Best Practice Sessions erfahren, welche Ansätze im Bemühen um Nachhaltigkeit bislang besonders erfolgreich waren. Unsere Gesellschaft leidet darunter, dass Unternehmer und Manager häufig finanzielle Interessen statt gesellschaftliche Interessen in den Mittelpunkt ihres unternehmerischen Handelns stellen. Alle Menschen haben ein Anrecht darauf, in Würde zu leben und sich bestmöglich zu entfalten. Es wird deshalb Zeit, dass sich etwas ändert. Es wird Zeit, uns von jenen Unternehmern bereichern zu lassen, die sowohl den einzelnen Menschen als auch die Gesellschaft stets im Blick haben.“ (Vaccaro 2015)

Antonio Vaccaro ist Professor für Business Ethik an der IESE Business School International (München/Barcelona), wo er das Centre for Business in Society leitet. Er forscht insbesondere zu den Themen Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftskriminalität sowie soziale Innovation und soziales Unternehmertum. Als ich ein vorhergehendes Buch mit dem Titel Leben im Goldenen Wind (Meyer-Galow 2014) schrieb, erhielt ich einen Anruf von meinem Sohn Philipp, der für Evonik Industries AG arbeitet, die aus der Fusion von Hüls AG und Degussa AG hervorgegangen ist. Er sagte: „Hallo Papa, ein Kollege, der in den 90er-Jahren bei Hüls war, hat mich nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass Du eine englische Version deines neuen Ethik-Buches schreibst. Er sagte, dass er noch immer einen eindrucksvollen Brief von Dir in seinen Akten hat, der bis heute eine Richtschnur für ihn sei.“ Sie werden im nun folgenden, 25 Jahre alten Brief feststellen, dass sich ein wichtiges Grundverständnis der für eine nachhaltige Personalführung notwendigen Eigenschaften schon damals nicht wesentlich von meinem heutigen Verständnis unterschieden hat: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ich ermutige alle Führungskräfte, sich für die folgenden Einstellungen zu engagieren: • Positives Denken: Verhalten Sie sich positiv gegenüber allen anderen. • Zuverlässigkeit: Seien Sie konsequent in:

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4  Die Anwendung Was Sie sagen und was Sie tun. Was Sie lehren und wie Sie leben. Was Sie versprechen und was Sie halten. Gastfreundschaft: Bieten und empfangen Sie Gastfreundschaft als dauerhafte Verbindung mit anderen. Mitgefühl: Wählen Sie Ihre Worte sorgfältig aus. Entwickeln Sie Mitgefühl für alle. Seien Sie nicht verletzend. Seien Sie ein guter Zuhörer. Präzision: Zeigen Sie eine klare, präzise Botschaft mit Ihren Worten. Bewusstes Bewusstsein: Lernen Sie Tag für Tag weiter. Versuchen Sie, sich mit dem Erlernen von Versuch und Irrtum vertraut zu machen. Liebe: Üben Sie bedingungslose Liebe für alle anderen. Respekt: Jeder Mensch ist einzigartig. Behandeln Sie ihn entsprechend. Achtsamkeit: Erkennen Sie Ergebnisse aus der Kette von Worten und Handlungen. Achtung: Achten Sie auf Details. Etwas scheinbar Nebensächliches kann sehr wichtig sein. Befreiung: Erleichtern Sie anderen die Nutzung ihrer kreativen Energien. Empowering: Ermutigen Sie Kooperation untereinander. Proaktiv: Achten Sie vorausschauend auf alle Probleme, die den freien Energiefluss behindern. Mit freundlichen Grüßen und besten Wünschen für die Zukunft. Professor Dr. Erhard Meyer-Galow, Vorstandsvorsitzender Hüls AG“.

Nun. Heute würde ich sicherlich noch einiges ergänzen, da ich mich ja auch weiterentwickelt habe. Derzeit findet dieser Paradigmenwechsel nur innerhalb von einigen wenigen Unternehmen statt. Der eigentliche Maßstab für den Erfolg wird sein, ob er Einfluss auf den größeren Markt hat. Unternehmen, die auf der Old Economy basieren, müssen folgen, sonst geraten sie in einer wettbewerbsorientierten Welt hoffnungslos ins Hintertreffen. Selbst wenn sie einfach anfangen, Achtsamkeitstraining anzubieten, weil es „in“ ist, ohne zu erkennen, dass die Absicht darin besteht, die Tür zum inneren Wachstum zu öffnen, wird es ein Schritt in die richtige Richtung sein. Im Idealfall führt dieser Schritt zu einer stärkeren Sensibilisierung für die Vorteile der Mitarbeiterbefähigung, einschließlich größerer Konzentration, höherer Effizienz und erwünschter Ergebnisse. Nachhaltige Führung muss sich immer an denjenigen orientieren, die wir führen, indem wir ihre individuelle Situation berücksichtigen. Deshalb gibt es keinen Führungsstil. Individuen machen den Unterschied. In meinen ersten Geschäftsjahren versuchte ich einen sehr demokratischen partizipativen Stil. Das war es, was alle zu dieser Zeit lehrten und lernten. Einmal habe ich versucht, einen Kollegen

4.1  Anwendung und Aufrechterhaltung der Business 3.0 in der Wirtschaft

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davon zu überzeugen, seine Arbeit zu ändern. Ich redete und redete mit ihm. Dann sagte er: „Reden Sie nicht so viel. Sagen mir einfach, was ich tun soll. Ich weiß, was das bedeutet, denn ich war Soldat in der Armee!“ Von diesem Moment an verstand ich, dass die Kunst der Führung auf der Anerkennung und Behandlung jedes Einzelnen als Individuum basiert.

4.1.5 N  eue nachhaltige Beziehungen zu unseren Vorgesetzten Von großer Bedeutung sind auch die nachhaltige Beziehung und Unterstützung unserer Vorgesetzten. Es wird immer die vorbildliche nachhaltige Haltung unserer Vorgesetzten eingeklagt. Das ist aber keine Einbahnstraße  – Mitarbeiter sind ebenso verpflichtet, sich nachhaltig zu verhalten. Wenn ein Vorgesetzter auf dem Weg der inneren Entwicklung voranschreitet, profitieren Zufriedenheit und Produktivität in der Belegschaft. Wenn Vorgesetzte unflexibel sind und sich an einen „Top-down“-Managementstil halten, sind aufgeklärte Mitarbeiter gefährdet, weil Vorgesetzte ihre innere Stärke als potenzielle Bedrohung sehen. In dieser Situation werden die Fortschritte langsam und frustrierend sein, sowohl für die Mitarbeiter als auch für die Vorgesetzten. Geduld ist oberstes Gebot, ebenso wie Empathie und Kongruenz. Die Verbesserung der Entwicklung von gegenseitigem Respekt und Toleranz wird eine ständige Aufgabe sein. Die Lösung dieses Problems ist nicht einfach und seine Lösung muss den Wunsch und das Engagement der Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeber beinhalten.

4.1.6 Neue nachhaltige Beziehungen zu unseren Kollegen In jeder Gruppe von Mitarbeitern wird es eine beträchtliche Mischung von Fortschritten auf dem Weg zur ethischen Reife geben. Die Gemeinsamkeiten zwischen allen Mitarbeitern müssen natürlich darin bestehen, zum Erfolg des Unternehmens beizutragen. Dies gelingt am besten in dem Zustand der Gelassenheit und des Mitgefühls, der sich aus der erfolgreichen Entwicklung eines Teamgeistes ergibt, in dem Eingliederung und gegenseitige Unterstützung im Gegensatz zu Ausgrenzung und Wettbewerb Priorität haben.

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4  Die Anwendung

4.1.7 Neue nachhaltige Beziehungen zu externen Partnern Ein führendes Unternehmen, das in seinem inneren Wachstum vorangekommen ist, wird zum idealen Partner für die Zusammenarbeit mit Kunden, Lieferanten, Aktionären, Analysten, Politikern, Gewerkschaftsmitgliedern und allen anderen direkten und indirekten Stakeholdern des Unternehmens. Die Personen, die alle diese Fraktionen bilden, werden verstehen, dass diese Manager, die diese Einstellung leben, etwas Besonderes sind, anders als andere, die sie kennen. Sie werden beobachten, wie dieser Leiter das Leben für alle in einer weiten Sphäre „lebendiger“ macht und mit der Zeit beginnen sie den mächtigen Einfluss zu verstehen, der von einer Führungskraft ausgeübt wird, die sich für Nachhaltigkeit einsetzt, und sie werden beeindruckt sein, wie effektiv diese Leiter ein Unternehmen voranbringen kann.

4.2

Nachhaltige Unternehmensverantwortung

Neben den klassischen Instrumenten zur Veröffentlichung von Geschäftsberichten, wie den International Financial Reporting Standards (IFRS), die aufgrund der Tendenz, gute Nachrichten künstlich aufzublähen und schlechte Nachrichten he­ runterzuspielen, generell verwirrend sind, ist die Berichterstattung von Unternehmen über Nachhaltigkeit und Corporate Social Responsibility (CSR) in den letzten Jahren stark gestiegen. „Man liest im Schrifttum von Zauberformeln wie Value, Business, Intangible Asset, Risk, Corporate Governance, Corporate Social Responsibility und neuerdings Inte­ grated Reporting. Die negativen Erfahrungen mit der letzten Finanzkrise 2008/09 zeigen, dass die Qualität der Bilanzzahlen nach den IFRS (Fair Value) mit der kurzfristigen Shareholder-Value-Maxime unzureichend ist. Diese Qualitätslücke sollen innovative Berichtsformate schließen, die sich mit nichtfinanziellen (,weichen‘) Leistungsindikatoren befassen. An vorderster Front steht hierbei die Berichterstattung über Unternehmensführung und -überwachung. (…) Nicht weniger brisant sind die Entwicklungen bei der Nachhaltigkeits- und integrierten Berichterstattung. CSR-Berichte werden seit der Finanzkrise als Selbstverpflichtung nachhaltig denkender Unternehmen von den Stakeholder-­Gruppen eingefordert. Dies hatte die EU auf den Plan gerufen, auch in diesem Fall an der Regulierungsschraube zu drehen und mehr Informationen von den Unternehmen einzufordern. Die zitierte Richtlinie 2014/95/EU sieht ebenfalls eine nicht finanzielle Erklärung mit durchschnittlich mehr als 500 Mitarbeitern mit den Inhalten Umwelt-, Sozial- und Arbeitnehmerbelange, Achtung der Menschenrechte und Bekämpfung von Korruption und Bestechung vor. (…) Die neue EU-Richtlinie

4.2  Nachhaltige Unternehmensverantwortung

243

sieht neben dieser brisanten Ausweisvariante – analog zum Corporate Governance Reporting  – keine zwingende inhaltliche Würdigung der Informationen durch den Abschlussprüfer vor.“ (Velte 2015, S. 16)

Klar ist, dass die Berichtsformate, die primär als Marketinginstrumente eingesetzt werden, kein wahrheitsgetreues Bild eines Unternehmens vermitteln. Appelle und Regeln, die ethischen Richtlinien ähnlich sind, führen nicht zu tadellosen moralischen Handlungen oder ethischem Verhalten, sondern allzu oft zu noch mehr Unterdrückung und Verdrängung der Wahrheit. „Sustainable Corporate Responsibility“ (SCR) muss weit mehr sein. Es muss unsere Verantwortung werden, dafür zu sorgen, dass Leben lebendiger wird in allen Einflussbereichen unseres Unternehmens. Soren Gordhamer (2013, S. 11) zitiert Biz Stone, den Mitbegründer von Twitter: „Was auch immer Ihre Rolle in dem Unternehmen ist, für das Sie arbeiten – ob Sie ein Manager mit vielen Berichten oder ein einzelner Mitarbeiter in einem Team sind – regelmäßige tägliche Achtsamkeit und Mitgefühl zu üben, wird Sie zu einem gesünderen, produktiveren Menschen machen. Zusätzlich werden die Leute, mit denen Sie arbeiten, besser reagieren und bessere Arbeit leisten. Das Ergebnis ist ein besseres Produkt oder eine bessere Dienstleistung, ein zufriedenerer Benutzer oder Kunde und im besten Fall eine positive globale Wirkung.“ (Gordhamer 2013, S. 11)

cc

Ja! Eine positive globale Wirkung ergibt sich aus der Einhaltung ethischer Praktiken!

Die Verantwortung in diesem Sinne wird auf der Ebene des Kollektivs, der Summe der Einzelpersonen innerhalb eines Unternehmens erfahren und arbeitet von oben nach unten vom CEO bis zum Verwaltungsrat und so weiter durch alle Beschäftigungsebenen. Wie der Einzelne hat auch ein Unternehmen eine Identität und eine Maske, die Persona und den Schatten. Nach außen hin immer bemüht, einen guten Eindruck zu hinterlassen, spiegelt die Maske Einfühlungsvermögen und Kompetenz wider, während alles Unangenehme, Unverantwortliche oder Trügerische in den Schatten gedrängt wird. Für einige ist der Schatten integriert und kontrolliert, aber nicht für viele. Immer öfter verhält sich das Unternehmen so, als ob es in einem Zustand kindlicher Sozialisation stecken geblieben wäre; egozen­ trisch und unflexibel. Genau wie ein egozentrisches Individuum. Natürlich gibt es verantwortungsbewusste Manager, die ethisch arbeiten und ihren Stil auch unter Zwang beibehalten. Aber diese sind rar und sehr selten anzutreffen. Häufiger trifft man auf die vielen, die ihre dunkle Seite frei ausleben, rücksichtslosen, unverantwortlichen Geschäftspraktiken folgen und egozentrische Entscheidungen treffen.

244

4  Die Anwendung

Bilanzen werden manipuliert, Aufsichtsorgane nicht oder falsch informiert und Gespräche mit Wettbewerbern über Preisgestaltung, Marktanteile und Kundenverteilung geführt. Die Märkte werden manipuliert. Im Extremfall werden Bestechung, Meineid, Täuschung, Lügen und Korruption eingesetzt, die oft persönlichen und ökologischen Schaden anrichten, und zwar zum persönlichen Vorteil auf Kosten des Unternehmens und allzu oft ohne schlechtes Gewissen, da es keinen moralischen Kompass gibt. Leider hat, wie bereits erwähnt, die Rücksichtslosigkeit in den letzten 20 Jahren entsetzlich zugenommen. Das gegenseitige Vertrauen ist verschwunden, und die Differenzen und Schwierigkeiten, die sich zwangsläufig ergeben, werden nun häufiger von den Gerichten behandelt. Im Juli 2015 berichteten die Medien über einen Skandal bei Toshiba in Japan. Der Skandal kam im April ans Tageslicht und hatte für das Top-Management des Unternehmens fatale Folgen. Eine Prüfung durch externe Wirtschaftsprüfer ergab, dass das Unternehmen in der Vergangenheit durch falsche Buchführung mit einem Gesamtwert von mehr als 170 Milliarden Yen (ca. € 1,3 Milliarden) zu viel Gewinn erzielt hatte – mehr als dreimal so viel wie Toshiba tatsächlich erwirtschaftet hat. Die Experten gehen nach Insidern davon aus, dass die Ursache für den Bilanzskandal darin liegen könnte, dass das Management der Gruppe nach der Atomkatastrophe in Fukushima, Japan, im Jahr 2011 übertrieben ehrgeizige Ziele für andere Divisionen gefordert hat. Dies hat dazu geführt, dass die Manager die Einnahmen übertrieben und die Kosten unterschätzt hätten. Die Inspektoren fragten, ob das Top-Management die Manager in dieser Täuschung ermutigte. Insgesamt wurden US$ 130 Mrd. gezahlt, um Vergleiche zwischen Investmentbanken und dem Justizministerium wegen Vergehens im Zusammenhang mit dem Verkauf von Hypothekenpfandbriefen kurz vor der Finanzkrise zu erreichen. Laut einem Bericht von Ernst & Young im Jahr 2016 wurden die großen US-amerikanischen und europäischen Banken wegen Verstößen gegen Börsenregeln und staatliche Sanktionen, Manipulationen von Wechselkursen und kontroversen Hypothekenpraktiken zu einer Geldstrafe von US$ 21,1 Milliarden verurteilt. In diesem Zusammenhang erhielten Schrottpapiere von den Rating-Agenturen ein AAA-Rating. Eine führende Agentur musste US$ 1,3 Milliarden in einem Vergleich zahlen. Warum werden Bankmanager nicht persönlich für ihre Entscheidungen verklagt? Es ist erstaunlich, dass dies viel zu wenig geschehen ist. Diese Manager und Unternehmer schaden dem Ruf des gesamten Wirtschaftsunternehmens. Was ist passiert? Neue Bankfachleute, vor allem an der Wall Street (kreative Investmentbanker), schufen Finanzprodukte, die niemand sonst verstand. Sie haben Bau- und andere Kredite in Wertpapiere (Asset Based Securities) gepackt und an die Finanzmärkte

4.2  Nachhaltige Unternehmensverantwortung

245

in den USA und Europa mit beträchtlichem Gewinn verkauft. Die Spezialisten wussten sehr wohl, dass das, was sie verkauften, skrupellos spekulativ war, aber die Käufer, einschließlich Banken und private und institutionelle Investoren, die den Verkäufern von der Wall Street vertrauten, wussten nicht, dass die Papiere risikoreich und schnell wertlos waren. Sie glaubten, dass die Hypotheken und andere Wertpapiere, die von angesehenen Banken gezeichnet wurden, sichere Anlagen waren. Die Bankfachleute erwirtschafteten riesige Gewinne, erhielten enorme Boni und konnten durch Täuschung riskante Vermögenswerte loswerden. Finanz-Rating-Agenturen halfen unwissentlich bei der Täuschung durch ein völlig unverständliches Rankingsystem, bei dem die Emissionsbanken und nicht ihre Produkte bewertet wurden. Als der US-Immobilienmarkt zusammenbrach, weil die Eigentümer ihre Kredite aufgrund der rezessionsbedingten Arbeitslosigkeit nicht mehr bedienen konnten, explodierte die Krise. Es begann mit Lehman Brothers, zahlreiche weitere Banken folgten. Die Banken, die an der Einleitung der Krise beteiligt waren, handelten mit unmoralischen Absichten, ohne sich zu ethischen Erwägungen zu verpflichten. Herbert Prantl schrieb eine Anklage gegen den Finanzmarktkapitalismus unter dem Titel: Wir sind Viele: „Die Menschen gehen nicht auf Distanz zur Politik – sie gehen auf die Straße, sie besetzen Plätze; das ist keine Distanz, das ist etwas anderes. Sie entfernen sich nicht von der Politik, sondern sie versuchen, sie zu beeinflussen. Legion ist ihr Name, denn ihrer sind viele. Vordergründig ist die Protestbewegung gegen Banken, Finanzmärkte und Sozialabbau eine negative Bewegung, weil sie nur abzulehnen scheint. Doch durch das Nein hindurch schimmert mehr: die Suche nach Positivem, nach Perspektiven, nach anderen Leitlinien der Politik. Die weltweiten Proteste fordern von ihren Regierungen, in einer globalisierten Welt für ein gewisses Maß an ökonomischem Anstand zu sorgen. Das ist nicht unbillig. Das gehört zum inneren Frieden. Und die Sorge darum gehört zu den Grundaufgaben der Staaten und der Europäischen Union.“ (Prantl 2011, S. 7)

Prantls Ausdruck der Sehnsucht nach Stabilität ist durchaus gerechtfertigt. Aufgrund ihres persönlichen, andauernden Leidens sind die Menschen nicht mehr bereit, den Verlust der gesellschaftlichen Moral und der gezielten unethischen Praktiken hinzunehmen. Ist Islamic Banking ethischer und weniger unmoralisch? Ich bin mir nicht sicher, aber es lohnt sich, das Islamic Banking als alternatives Modell mit vielversprechenden ethischen Standards in Betracht zu ziehen. Asien ist der Ort mit dem größten Potenzial für das Private Banking, insbesondere für das Islamic Banking. Malaysische Banken stehen an der Spitze der Sharia-konformen Finanzprodukte mit hohem Eigenkapital. Die Scharia verbietet die Zahlung von Zinsen und verbietet

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4  Die Anwendung

Spekulationen. Deshalb engagieren sich islamische Banken nicht auf den Geldmärkten und hätten Subprime nicht in Betracht gezogen. Sie schließen hoch­ verschuldetes Fremdkapital, Derivate für Spekulationen, Versicherungen und Glücksspiele aus. Asset Backed Securities sind akzeptabel, da sie auf realen, materiellen Vermögenswerten basieren. Islamische Finanzierungen ähneln eher Asset-­ Finanzierungen. Die Banken vergeben keine Kredite, sondern bedienen ihre Kunden, indem sie ihre Vermögenswerte kaufen und später mit einem Aufschlag verkaufen. Das zugrunde liegende Konzept ist das Teilen, das „Teilen des Risikos“ mit der damit verbundenen Gewinnbeteiligung. Das klingt sehr vielversprechend und ethisch einwandfrei, aber da ich keine direkten Erfahrungen mit dieser Art von Bankgeschäften gemacht habe, kann ich nicht eine abschließende Beurteilung abgeben. Woraus resultiert die jüngste Rücksichtslosigkeit in der Wirtschaftstätigkeit? Wolfgang Berger (2013), Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph, argumentiert in seinem Buch Business Reframing, dass Max Weber die Theorie der protestantischen Ethik entwickelt habe, und kommt zu der Erkenntnis, dass die heutige Industrialisierung ohne Calvin nicht möglich gewesen wäre. Berger beschreibt die gegensätzlichen Positionen von Luther und Calvin. Calvin war Asket und Organisator, der Orgelmusik und Gesang aus der Kirche verbannen ließ, die Zerstörung wertvoller religiöser Gemälde förderte und Kritiker hinrichten ließ. Andererseits erklärte Luther, dass Gott ein Gott der Liebe, Güte und Barmherzigkeit sei, der auch Sünden vergibt, also ein Gott, dem wir uns anvertrauen können. Calvins Gott sei ein Gott der Allmacht, Allwissenheit der Herrlichkeit und Macht, der zum bedingungslosen Gehorsam und zur gnadenlosen Vernichtung seiner Feinde aufruft. Aus dieser calvinistischen Haltung heraus seien Gier und Kommerz unter dem Deckmantel der Frömmigkeit entstanden. Der Reichtum wurde verehrt, als ob er von einem Heiligenschein umgeben wäre. Berger glaubt, dass unter dem Einfluss der römisch-katholischen Kirche und der lutherischen Kirche eine Industrialisierung in der heutigen Größenordnung unmöglich gewesen wäre, so wie sie im Islam, Hinduismus und Buddhismus fehlt, da der fruchtbare Boden für ihre Entwicklung nicht vorhanden wäre. Im Laufe der Zeit entwickelte sich unter den Managern der Wirtschaft ein Sieger- und Verliererspiel. Die Strategie für ein solches Spiel ist klar. Unser genetischer Code in Übereinstimmung mit der Realität, dass unsere Biografie zu unserer Biologie wird, bewahrt eine Erinnerung an den Kampf über Jahrtausende hinweg. Wir verhalten uns immer noch so, als ob wir mit Raubtieren konfrontiert wären. Managementvokabular ist reich an Kriegsterminologie und Analogien. Moral und ethische Praktiken blieben auf der Strecke. Wenn es uns nicht gelingt, unseren Kurs

4.3  Messung des Return on Character

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zu ändern, haben wir die Voraussetzungen für unseren kollektiven Selbstmord geschaffen. Berger fordert, ebenso wie Clark, eine neue Definition von Verantwortung im Management unserer Gesellschaft, in der es erforderlich ist, dass Führungskräfte persönliche Verantwortung für ihre Entscheidungen und Aktivitäten übernehmen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet für Berger, die Eigenverantwortung für die Ergebnisverursachung und die Ergebnisverantwortung zu übernehmen. Berger betonte, Integrität entspringe dem lateinischen Wort „integer“, um ganz zu sein, als oberstes Prinzip. Mangelnde Integrität trennt uns vom „Ganzen“ und stürzt uns in den Ruin. Die Überzeugung von Wolfgang Berger, dass Integrität das einzige Tor zum Erfolg ist, korrespondiert perfekt mit der Aussage von Clark: Being Responsible: Being Profitable.

4.3

Messung des Return on Character

Wenn wir von unethischen Führungskräften hören, deren Karrieren und Unternehmen in Flammen aufgegangen sind, ist das leider nicht verwunderlich. Hybris und Gier haben eine Möglichkeit, Menschen einzuholen, die dann die Macht und den Reichtum verlieren, die sie so leidenschaftlich verfolgt haben. Aber ist das Gegenteil auch wahr? Sind hochrangig besetzte Führungskräfte und ihre Organisationen besonders leistungsfähig? Nach einer neuen Studie von KRW International, einer in Minneapolis ansässigen Unternehmensberatung, ist dies tatsächlich so. Die Forscher fanden heraus, dass CEOs, deren Mitarbeiter ihnen gute Noten für ihren Charakter gaben, über einen Zeitraum von zwei Jahren eine durchschnittliche Gesamtkapitalrendite von 9,35 % erzielten. Das ist fast das Fünffache dessen, was diejenigen mit niedrigen Charakterbewertungen hatten, deren ROA (Return on Assets) im Durchschnitt nur 1,93 % betrug. Charakter ist ein subjektives Merkmal, das sich der Quantifizierung entziehen könnte. Um es zu messen, begannen KRW-Mitbegründer Fred Kiel (2015) und seine Kollegen damit, das klassische Inventar des Anthropologen Donald Brown zu sichten, das etwa 500 Verhaltensweisen und Eigenschaften umfasst, die in allen menschlichen Gesellschaften anerkannt und dargestellt werden. Ausgehend von dieser Liste identifizierten sie vier moralische Prinzipien: Integrität, Verantwortung, Vergebung und Mitgefühl als universell. Dann schickten sie anonyme ­Umfragen an Mitarbeiter von 84 US-Unternehmen und Non-Profit-Organisationen und fragten unter anderem, wie konsequent ihre CEOs und Managementteams die vier Prinzipien verkörperten. Sie interviewten auch viele der Führungskräfte und

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4  Die Anwendung

analysierten die Finanzergebnisse der Organisationen. Wenn Finanzdaten nicht verfügbar waren, wurden die Ergebnisse der Führungskräfte nicht berücksichtigt. An einem Ende des Spektrums stehen die zehn Führungskräfte, die Kiel als „virtuose CEOs“ bezeichnet – jene, deren Mitarbeiter sie und ihr Managementteam nach allen vier Prinzipien hoch bewertet haben. Die Menschen berichteten, dass diese Führungskräfte häufig Verhaltensweisen an den Tag legten, die einen starken Charakter offenbaren – zum Beispiel, sich für das einzubringen, was richtig ist, die Sorge um das Gemeinwohl auszudrücken, Fehler loszulassen, sowohl ihre eigenen als auch die anderer und Empathie zu zeigen. Am anderen Ende des Spektrums waren die zehn schlechtesten – Kiel nennt sie self-focused CEOs (obwohl ego-focused vielleicht ein treffenderer Ausdruck wäre) – die oft als Verzerrer der Wahrheit mit dem Ziel des persönlichen Gewinns beschrieben werden und mehr Sorge um sich selbst und ihre eigene finanzielle Sicherheit im Block haben, ungeachtet der Kosten für andere. Zu dieser Gruppe gehören der CEO eines öffentlichen Hightechproduktionsbetriebes, der CEO einer globalen NGO und ein Unternehmer, der ein Unternehmen für professionelle Dienstleistungen leitet. (…) Mitarbeiter sagten, dass die selbstfokussierten CEOs etwas mehr als die Hälfte der Zeit die Wahrheit gesagt hätten, ferner man könne sich nicht darauf verlassen, dass sie Versprechungen einhalten, dass sie oft die Schuld auf andere abwälzen, häufig Menschen, die es gut meinen, für Fehler bestrafen und besonders schlecht darin seien, sich um andere Menschen zu kümmern. Zu Beginn des Projekts erwarteten die Forscher, dass ein relativ schwaches Verhältnis zwischen Charakterstärke und Unternehmensleistung gefunden wird. „Ich war unvorbereitet zu erfahren, wie robust die Verbindung wirklich ist“, sagt Kiel. Die Virtuosen übertrafen nicht nur die selbstorientierten CEOs in puncto Finanzkennzahlen, sondern erhielten auch höhere Mitarbeiterbewertungen in Bezug auf Vision und Strategie, Fokussierung, Verantwortlichkeit und Teamcharakter. Ist es den Führungskräften klar, dass sie an ihrem Charakter arbeiten müssen? In den meisten Fällen nein, sie sind ziemlich verblendet. Auf die Frage nach den vier moralischen Grundsätzen gaben sich die selbstorientierten CEOs deutlich bessere Noten als ihre Mitarbeiter. Die CEOs, die hohe Bewertungen von Mitarbeitern erhielten, gaben sich selbst etwas schlechtere Noten, was ein Zeichen ihrer Bescheidenheit und ein weiterer Beweis für starken Charakter ist. Glücklicherweise, so Kiel, können Führungskräfte ihr Selbstbewusstsein durch objektives Feedback der Menschen, mit denen sie leben und arbeiten, steigern. Aber sie müssen für dieses Feedback empfänglich sein, und diejenigen mit den größten Charak­ter­ mängeln neigen dazu, am wenigsten empfänglich zu sein, lehnen diese Tatsachen am häufigsten ab.

4.4 Macht und Machtmissbrauch

249

Wie können solche Führungskräfte ihre Leugnung überwinden und ihre Charakterdefizite überwinden? Die Beratung durch vertrauenswürdige Mentoren und Berater hilft sehr viel, sagt Kiel. Das entdeckte er schon früh in seiner eigenen Karriere. Nach seiner Promotion in Psychologie baute er zwei große klinische Praxen auf und war kurzzeitig CEO eines börsennotierten Unternehmens. Damals, so sagt er, war er eher wie die selbstfokussierten CEOs als wie die Virtuose: „Während ich mich nie mit illegalen Verhaltensweisen beschäftigte, waren viele meiner damaligen Kollegen sicher, dass ich bereit war, sie vor den Bus zu stoßen, wenn es für mich Erfolg bedeutete.“ Als Kiel jedoch das mittlere Alter erreichte, begann er, ein Gefühl der moralischen und geistigen Leere zu empfinden, und er wusste, dass er sich verändern musste. Es war ein langer, schwieriger Prozess. Schließlich versuchte er, tief verwurzelte Gewohnheiten rückgängig zu machen. Aber mit Übung und Beratung gelang es ihm und er wurde inspiriert, anderen Unternehmern dabei zu helfen, dasselbe zu tun. Wenn Kiels Erfahrung und die seiner Kunden ein Indiz dafür ist, dann ist der Charakter nicht nur etwas, mit dem man geboren wurde. Man kann ihn kultivieren und weiter verfeinern, während man führt, handelt und entscheidet. Die Mitarbeiter werden durch die von ihnen gestaltete Atmosphäre profitieren. Und jetzt gibt es überzeugende Beweise dafür, dass auch Ihr Unternehmen dies tun wird.

4.4

Macht und Machtmissbrauch

CEOs haben sehr viel Macht. Sie müssen sich von Zeit zu Zeit fragen, ob sie diese Macht im Sinne einer nachhaltigen Führung nutzen und sie müssen auch dafür sorgen, dass sie diese Macht nicht missbrauchen. Am 16. Juli 2013 hatte ich ein Interview mit der Psychologin und Coachin Dr. Barbara Schmidt, dessen Ergebnisse sie in ihrem Buch „Erfolgreich führen mit innerer Macht“ (Schmidt 2015) verwendet hat. Ich wurde eingeladen, zunächst einige einleitende Bemerkungen zur inneren Kraft zu machen, deren Gegenteil die äußere Kraft ist, woraufhin einige redigierte Auszüge aus dem Interview folgen: MG: „Lassen Sie mich damit beginnen, über die Polarität von ,innerer Kraft‘ und ,äußerer Kraft‘ zu sprechen. Externe Macht ist die Wirkung von Macht oder Stärke gegen Einzelpersonen oder Gruppen. Aber ist die innere Energie tatsächlich Leistung? Was steht auf dem Spiel, ob ich es habe oder nicht? Wenn ich nicht das innere Wachstum fördere, sondern auf der Ego-Reise bleibe, die ich als Dreijähriger begonnen habe, dann ist meine einzige Entwicklung die Erweiterung meines Wissens, um zu versuchen, so viel wie möglich zu lernen. Das ist alles in Ordnung, eine notwendige Voraussetzung für eine stabile Karriere. Aber wenn ich mir nicht

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4  Die Anwendung

bewusst bin, dass ich während meiner Entwicklung das innere Wachstum hinter mir gelassen habe, dann ist es nur mein Ego, das sich entwickelt und ich werde egozentriert und auf Aktivitäten beschränkt, die mein Ego befriedigen. Als Folge davon übernimmt meine dunkle Seite, mein ,dunkler Bruder‘ oder Schattenpotenzial, das ich mir durch mein egozentrisches Verhalten angesammelt habe, das häufig durch Beförderungen im Unternehmen und Lob von meinen Managern belohnt wird. Der dunkle Bruder verlangt, dass wir gierig sind, dass wir nach mehr streben, dass wir unsere Macht ausüben und eine Win-loose-Situation anstoßen, in der wir der Gewinner sein werden. Ohne interne Energie folgen wir seinem Ratschlag, wir haben keine Kontrolle. Wir müssen die innere Stärke haben, um unserem dunklen Bruder diktieren zu können: ,OK, du bist ein integraler Bestandteil von mir, aber ich spiele das Spiel des Lebens und nicht Du!‘

Dies gelingt nur, wenn unsere helle, positive Seite kraftvoll entwickelt wird. Es kann durch jahrelange Praxis in der Meditation oder über anderen spirituellen Wegen erreicht werden, aber nur durch die Ausübung großer Disziplin. Nur dann werden wir die Kraft haben, den dunklen Bruder als gleichberechtigten Partner zu konfrontieren mit der Kraft, nein zu sagen! Und es ernst meinen. Im Buddhismus betrachtet man Folgendes: • • • •

Ich habe diese Gier, aber ich bin nicht die Gier. Ich habe diese Arroganz oder Eitelkeit, aber ich bin es nicht. Ich habe den dunklen Bruder in mir, aber ich bin nicht er. Ich bin etwas anderes. Ich bin der manifestierte göttliche Funke als Mensch in dieser Welt. Das bin ich. Und die andere, die dunkle Seite, habe ich einfach.

Innere Energie ist in erster Linie Energie über die dunkle Seite. Der Kampf ist jedoch allzu oft eine Unterdrückung oder Verdrängung und endet im Schatten. Es geht darum, den dunklen Bruder daran zu hindern, sich zu manifestieren. Dann, ohne den negativen Einfluss, habe ich Macht über die dunkle und die helle Seite meiner selbst, meine äußere Kraft. Macht bedeutet immer, Entscheidungen treffen zu können, ohne von anderen beeinflusst zu werden und ohne innere Verwirrung. Ich kann jederzeit frei für mich selbst entscheiden, gestärkt durch meine spirituelle Ausbildung. Ich kann mich entscheiden, mein Wissen zu erweitern und meine Arbeitsleistung zu verbessern. Ich bin jetzt frei, mich in kreativer Aktivität und ­Interaktion zu engagieren und mich voll und ganz auf den Moment mit Achtsamkeit und Mitgefühl zu konzentrieren. Also müssen wir uns der dunklen Seite

4.4 Macht und Machtmissbrauch

251

bewusst sein. Geschieht dies nicht, gewinnt die dunkle Seite an Macht. Natürlich müssen wir uns bewusst sein, dass wir frei entscheiden können, ohne uns von anderen beeinflussen zu lassen. „Jetzt führe ich dieses Unternehmen, jetzt übernehme ich dieses Projekt, ich lasse mich von nichts abschrecken, auch nicht von anderen. Ich habe beschlossen, es auf meine Weise zu tun, indem ich mich auf meine inneren Ressourcen verlasse. Dann habe ich Macht über die dunkle und die helle Seite. Es ist sehr wichtig, dass wir in der Lage sind, beide auseinanderzuhalten.“ Barbara Schmidt: „Welchen Einfluss hat die Entwicklung dieser internen Macht in Führungskräften auf das Geschäft? Wie wichtig ist es aus Ihrer Erfahrung und Perspektive, dass Manager in der Lage sind, zwischen interner und externer Macht zu unterscheiden?“ MG: „Die Auswirkungen werden von den Managern gespürt, wenn ihr Chef, der externe Macht ausübt, ihnen klar sagt, was aufgrund von Umwelterwägungen, wegen eines potenziellen Schadens für die Kunden, gemacht werden soll, weil es sich um egozentrierte oder betrügerische Praktiken oder andere Praktiken im Zusammenhang mit sich entwickelnden Politiken handelt. Manager werden unweigerlich einen Teil ihrer frühen Karriere unter Kontrolle der dunklen Seite verbringen. Die potenzielle Energie, die der dunkle Schatten liefert, ist beträchtlich; die Gier ist ein mächtiger Motivator, der immense Energie aktiviert, die zunächst den Wirtschaftssektor stimulieren kann. Es wäre kontraproduktiv, jegliche Gier der Unternehmen auszuschalten. Es würde den wirtschaftlichen Antrieb opfern. Die Kontrolle durch die dunkle Seite ist ein notwendiger Schritt zur Entwicklung des Ichs bei den Jugendlichen, die danach streben, erfolgreich zu sein, gefördert zu werden, mehr Geld zu verdienen und anerkannt zu werden. Diese Wünsche in denjenigen mit sich entwickelnden Egos helfen, das Unternehmen günstig im Wirtschaftssektor zu positionieren. Diejenigen, die in Führungspositionen berufen werden, müssen jedoch in ihrer inneren Reife weiter fortgeschritten sein, sie müssen Individuen sein, die Entscheidungen für das Unternehmen auf der Grundlage moralischer und ethischer Grundsätze treffen können und werden. Diese Vorgesetzten müssen sicherstellen, dass ihre Mitarbeiter ihre Schattenseiten im Griff haben. Fragen wie diese sind zu beantworten: Tragen Ihre Vorschläge zum inneren Frieden für sich und mich bei? Sind sie moralisch und ethisch einwandfrei für unser Unternehmen? Vermeiden sie es, anderen zu schaden und tragen sie zum Schutz der Umwelt bei? Viele Psychologen, Coaches und Trainer plädieren dafür, dass nur diejenigen, die konsequent von ihrer ,guten Seite‘ aus operieren, in der Wirtschaft von Wert sind. Das ist eine Illusion. Ich vermute, dass, wenn die einzigen Mitarbeiter eines Unternehmens diejenigen wären, die ein beträchtliches inneres Wachstum erreicht haben, das Unternehmen wegen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit bald in Insol-

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4  Die Anwendung

venz gehen. Das dunkle Energiepotenzial ist für das wirtschaftliche Überleben unerlässlich. Die Herausforderung besteht darin, dass die Führungskräfte des Unternehmens die dunkle potenzielle Energie so integrieren, dass ein positives Unternehmensergebnis für alle, die direkt oder indirekt mit dem Unternehmen verbunden sind, erzielt wird. Das ist die Aufgabe der Führung. Achtsamkeit. Eine noch größere Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass junge Mitarbeiter sich bewusst werden, dass ihr Vorgesetzter versteht, wo sie sich im Prozess ihrer spirituellen Entwicklung befinden, und dass sie durch den Dialog und die Förderung von Selbsterfahrungsübungen zu der Erkenntnis gelangen, dass es eine andere, hellere Dimension gibt und dass sie vielleicht noch nicht ganz eingetreten sind, dass auf ihrer inneren Reise Kunden nicht betrogen werden dürfen.“ Barbara Schmidt: „Was ist für Sie die dunkle Seite, der dunkle Bruder, der einen Platz hat, und wo ist die Grenze, jenseits derer es in einem Projektteam klima- und kulturzerstörerisch wird?“ MG: „Die Grenze muss das Alter und die Reife der Manager sein. Wenn ich junge Führungskräfte habe, die sich wie der dunkle Bruder benehmen, dann weiß ich, dass ihre egozentrischen Praktiken und schlechten Gewohnheiten im Laufe der Zeit weiterentwickelt werden können. Aber wenn jemand jenseits von 45 diese egozentrischen Laster behält und sie in seiner Führungsleistung demonstriert, dann muss er entlassen werden, bevor er mehr positive Energie zerstören kann, als ich ersetzen kann.“ Barbara Schmidt: „Bedeutet das, dass diese über 40-jährigen Führungskräfte eine Art Coach für die Young Professionals wären, wenn es um die Steuerung und Integration des ,dunklen Bruders‘ geht?“ MG: „Ja, indem klar und deutlich gesagt und demonstriert wird, was akzeptabel ist und was nicht. Auf diese Weise wird die Zukunft des Unternehmens gesichert, indem nur solche Führungskräfte nach oben versetzt werden, die sich der an sie gestellten Erwartungen voll bewusst sind und diese akzeptieren. Das Handeln eines Vorgesetzten ist insofern ziemlich transparent, als dass er weiß, wie er Geschäfte macht und nicht macht, wen er fördert und wen nicht. Diese Transparenz ermöglicht es allen Mitarbeitern, sich der Vision des Managers, eine positive Unternehmenskultur zu entwickeln, besser bewusst zu werden. Als CEO müssen wir Führungskräfte fördern, die zumindest ein großes Herz haben, Einfühlungsvermögen und Verständnis dafür zeigen, dass wir alle miteinander verbunden sind und somit in der Lage sind, andere zu befähigen. Je mehr dieser Art von Führungskräften wir ermutigen können, sich weiterzuentwickeln und dann zu fördern, desto weniger Arbeit werden wir selbst haben. Es ist wichtig zu wissen, dass diese Art der ­Personalentscheidung von unten nach oben genau beobachtet wird, was dazu

4.4 Macht und Machtmissbrauch

253

beiträgt, dass sowohl unsere direkten als auch unsere subtileren Botschaften dazu beitragen, das gewünschte Unternehmensumfeld zu gestalten.“ Barbara Schmidt: „Projektgruppen, die für die Entwicklung des Unternehmens von zentraler Bedeutung sind, müssen viele junge Menschen haben, aber sie dürfen nicht in Machtspiele zerfallen. Wie sieht es mit Projektgruppen aus?“ MG: „Projektgruppen werden gebildet, weil man hofft, dass die Ergebnisse eines Projektes am Ende mehr sind als die Summe der Leistungen der einzelnen Personen. Wir beginnen eine Projektgruppe in der Annahme, dass aus der Zusammenarbeit wesentliche Fortschritte resultieren. Die größte Errungenschaft des Projekts besteht darin, andere mit neuen Ideen, Intuitionen und Innovationen zu stimulieren. Um die Machthaber von Projektgruppen zu blockieren, die den Transfer von Impulsen behindern, müssen wir sie vom Rest der Gruppe trennen. Die wertvollsten Spieler sind diejenigen, die durch Zuhören, Sprechen und Gesten mit einer positiven Einstellung und einem positiven Geist in der Lage sind, andere mit neuen Ideen zu stimulieren. Das gesamte Unternehmen ist letztlich eine Projektgruppe. Es gibt Menschen, die das auf natürliche Weise tun können, und es gibt Menschen, die das nicht können. Einige Individuen werden fälschlicherweise von Eltern oder Vorgesetzten oder einem einflussreichen Teil der Gesellschaft sozialisiert. Sie glauben, dass der Erfolg nur durch das Betrügen anderer zu ihnen kommt. Und dann stehen wir vor der Frage: Spielen wir ein Nullsummenspiel, eines, bei dem ich gewinne und du verlierst, oder spielen wir ein Plussummenspiel, eines, bei dem 1 + 1 = 3, das ist das Spiel, das gespielt werden muss, eines, bei dem die Parteien zusammen mehr als die Summe von jedem einzeln liefern. Je mehr Leute in einem Gruppenprojekt, die so denken, desto besser ist das Ergebnis. Und je mehr jeder von uns Macht über seinen ,dunklen Bruder‘ oder seine ,dunkle Schwester‘ hat und so unserem geistigen Führer folgen kann, desto mehr führt uns die helle Seite durchs Leben und desto besser gelingt es uns allen, sowohl in der Projektarbeit als auch in der Führung. Führungskräfteentwicklungsprogramme müssen solche Potenziale entwickeln, damit sie sich im Unternehmen, am Markt und in der gesamten Außenwelt entfalten können. Dann ist das Unternehmen den Wettbewerbern um Lichtjahre voraus, die diese Veränderungen bei ihren Mitarbeitern nicht vollzogen haben. Das ist keine Theorie. Ich habe es getan und bewiesen, dass es möglich ist. Es gibt nichts Glaubwürdigeres als Erfolg. Es fügt der Theorie Authentizität hinzu.“ Barbara Schmidt: „Was sind im Rückblick die Eckpunkte dieses Veränderungsprozesses, der auf dem Thema Macht und Sozialverhalten, Umgang miteinander, Zusammenarbeit und Führung basiert? Warum glauben Sie, dass Sie letztendlich so erfolgreich waren?“

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4  Die Anwendung

MG: „Das drückt sich wohl am besten in der Art und Weise aus, wie ich es von Dürr und seinem Konzept der Nachhaltigkeit gelernt habe. Ich entschied mich dafür, nicht nur darüber zu sprechen, sondern es mit Nachdruck zu leben. Es war notwendig, dass ich mich unterstützend mit anderen beschäftige, um auch deren Unterstützung zu erhalten, da ich die Veränderungen nicht allein vornehmen konnte. Wir können diejenigen, die für inneres Wachstum und nachhaltige Produktivität empfänglich sind, an ihrem Handeln erkennen. Sie machen das Leben für jeden lebendiger, auf den sie Einfluss haben. Sie haben die Machtspiele hinter sich gelassen, die in den meisten Vorstandsetagen ausgetragen werden. Jeder, der nach einem Gespräch mein Büro verließ, verließ es empowered, gestärkt. Das Ergebnis ist die Schaffung eines Unternehmens mit einer Kultur des vollständigen und produktiven Lebens.“ Barbara Schmidt: „Das heißt, es war wie eine Kettenreaktion, weil Ihre direkten Untergebenen, die persönlich positive Erfahrungen gemacht haben, diese dann an andere weitergegeben haben.“ MG: „Das Leben meines Mitarbeiters ist mit meinem verbunden. Das ist der göttliche Funke, das göttliche Netzwerk. Es ist wichtig, dass wir Menschen finden, mit denen wir diese Verbindung entwickeln können. Wir alle haben es in uns selbst. Es muss nur aktiviert werden, um in Bewegung gesetzt zu werden. Dann haben wir eine Belegschaft erreicht, die nicht mechanisch arbeitet, sondern ihre Arbeit in ein großes Werk verwandelt. Wenn wir etwas durch uns selbst entwerfen, durch unseren Lebensfunken, dann hat es eine innere Dimension. Diese Arbeit wird dann zu einer Manifestation des kooperativen Hintergrundfeldes, von Gott, der sich als Realität manifestiert. Wir schaffen eine sich ständig verändernde neue Realität mit positiven Inhalten. Eine, die sich selbst repliziert, mit immer mehr positiven Realitäten, die aus der ursprünglichen entstanden sind.“ Barbara Schmidt: „Was ist mit Entlassungen und anderen Konfrontationen?“ MG: „Es wird immer Konfrontationen geben, wenn man in einer Situation ist, in der man ,Nein‘ zu jemandem sagen muss oder ihm sagen muss, dass er eine Veränderung vornehmen muss. Die Frage ist, wie man das anstellt. Manchmal ist es für jemanden, der im ,Powerplay‘-Modus festsitzt, unerlässlich, dass wir ihn direkt konfrontieren. Das ist alles, was sie verstehen. Wenn man sie bittet, ,bitte auf dieser Matte zu sitzen und zu meditieren‘, wird die Arbeit nicht erledigt! Konfrontation ist notwendig. Aber es ist wichtig, dass die Konfrontation nicht aus einem emotionalen Zustand entsteht. Es muss anerkannt werden, dass wir unsere Macht nutzen, um festzustellen, wer die Kontrolle hat und wer die Regeln aufstellen wird und nicht, um andere zu verharmlosen oder zu schikanieren.“ Barbara Schmidt: „Was sind die Hindernisse, die Sie in diesem Prozess erlebt haben?“

4.4 Macht und Machtmissbrauch

255

MG: „Das schlimmste Hindernis ist natürlich immer ein Vorgesetzter, der aufgrund seiner Position mehr Macht hat als Sie. Er kann Ihnen den Weg versperren, ohne Rücksicht auf den Erfolg, den Sie erzielen, einfach weil er es kann. Ein Vorgesetzter, der sagt: ,Ich erwarte von dir, dass du es auf meine Art machst‘, selbst wenn du merkst, dass es Unsinn ist oder Schaden anrichten wird, ist ein gewaltiges Hindernis. Ein weiteres Hindernis sind Mitarbeiter, die keine Notwendigkeit für einen Wechsel zu einer nachhaltigen Führung sehen. Sie haben kein Gefühl der Dringlichkeit für Veränderungen, denn der Erfolg des Unternehmens sorgt dafür, dass sie auch dann belohnt werden, wenn sie dauerhaft auf ihrer Ego-Reise bleiben. Der Veränderungsprozess muss langsam, überlegt, kalkuliert und konsistent sein. Es wird sich dann zeigen, dass diejenigen, die inneres Wachstum erfahren, einen positiven Unterschied machen. Achtsamkeit und Mitgefühl werden folgen. Andere werden die Vorteile erkennen und an Bord gehen oder sie werden gehen und erkennen, dass sie nicht mehr zur neuen Kultur passen. Es ist zwar vorzuziehen, dass alle Mitarbeiter das Licht sehen und sich auf eine innere Reise zur Verwirklichung ihres Selbst begeben, aber es ist unvernünftig zu erwarten, dass jeder dies tun wird. Es ist das Beste für alle Beteiligten, wenn widerspenstige Menschen das Unternehmen verlassen.“ Hermann Hesse (1928) erklärte, dass es dem Manager an einer spirituellen Dimension mangele. Er hätte sagen sollen, dass das Fehlen eines Rentabilitätsgedankens des Künstlers einem Mangel an spiritueller Dimension für die Antipoden, Unternehmer und Manager entspricht. Das ist ziemlich drastisch. Man hofft, dass es nicht nur Schwarz-Weiß-Malerei ist. Im heutigen digitalen Zeitalter ist fast alles transparent, und das hat positive Aspekte. Was also die Frage der Moral oder Unmoral betrifft, so gibt es wahrscheinlich eine Gauß’sche Verteilung für die spirituelle Qualität von Managern. Zweifellos gibt es nur wenige, die sich moralisch verhalten, unabhängig davon, ob es Gesetze gibt oder nicht, um ihr Verhalten zu regeln, sehr viele mit allen Abstufungen des Verhaltens zwischen moralisch und unmoralisch und einige wirklich schwarze Schafe. Es besteht ein dringender Bedarf an einer neuen Ethik! Robert C. Solomon über Kooperation und Integrität in der Wirtschaft. Es folgt ein kurzer Auszug aus seinem Buch: „Der griechische Philosoph Aristoteles, der über 2000 Jahre vor der Wall Street schrieb, nannte Menschen, die sich mit Aktivitäten beschäftigten, die nicht zur Gesellschaft beitrugen, ,Parasiten‘. In seinem jüngsten Werk behauptet der renommierte Gelehrte Robert C. Solomon, dass der Kapitalismus zwar Kapital braucht, aber nicht die Parasiten, die er unweigerlich anzieht. Der Kapitalismus ist nicht durch brutale Gewalt oder weil er die Menschen reich gemacht hat, an die Macht gelangt, sondern weil er verantwortungsbewusste Bürger und  – wenn auch ungleichmäßig  – w ­ ohlhabende

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4  Die Anwendung

Gemeinschaften hervorgebracht hat. Es kann nicht toleriert werden, dass ein Geschäftskonzept, das sich ausschließlich auf Einkommen und materielle Werte konzentriert, traditionelle Tugenden wie Verantwortung, Gemeinschaft und Integrität ignoriert. Viele sind der Meinung, dass es zu viele Lippenbekenntnisse und zu wenig Verständnis für die Bedeutung von Kooperation und Integrität im Unternehmensleben gibt. Dieses Buch lehnt die Mythen und Metaphern des kriegsähnlichen Wettbewerbs ab, die das unternehmerische Denken trüben und entwickelt eine aristotelische Wirtschaftstheorie. Die Herangehensweise des Autors betont mehrere Kernkonzepte: das Unternehmen als Gemeinschaft, das Streben nach Exzellenz, die Bedeutung von Integrität und gesundem Urteilsvermögen sowie eine kooperative und humane Vision von Unternehmen. Solomon betont die Tugenden der Ehrlichkeit, des Vertrauens, der Fairness und des Mitgefühls in der konkurrierenden Geschäftswelt und stellt sich dem Problem der ,moralischen Labyrinthe‘, aus der gleichzeitig seine Lösung, der moralische Mut, hervorgeht.“ (Solomon 1992)

Ein sehr wichtiger Schwerpunkt von Sustainable Corporate Responsibilty (SCR) ist, dass das Management die Verantwortung für alle hergestellten Produkte und für alle Herstellungsprozesse übernehmen muss. Sie haben die Verpflichtung zu erfüllen, dass niemand geschädigt wird und die Umwelt geschützt wird. Was nicht geschehen sollte, sind Lieferungen von Produkten, die von Kunden mit ausdrücklicher Kenntnis des Herstellers und Lieferanten zur Herstellung gefährlicher Stoffe verwendet werden, die Schäden an Mensch, Tier oder Umwelt verursachen. Diese eklatante unmoralische Praxis ist alltäglich. Die Gier führt dazu, dass alle bisher geltenden ethischen Grundsätze außer Acht gelassen werden. So berichtete der SPIEGEL im Mai 2015, dass die deutsche Regierung Dokumente habe, die darauf hindeuten, dass deutsche Unternehmen Syrien jahrzehntelang bei der Herstellung von Chemiewaffen unterstützt haben.

4.5

Disruptionen und Ethik

Ein neues Schlagwort macht die Runde: Disruptive Innovation. Jede Diskussion über Business Ethik muss darüber nachdenken, ob die Disruption ethische Praktiken fördert oder behindert. Wir wissen, dass vor 100 Jahren Joseph Schumpeter den Begriff der schöpferischen Zerstörung prägte. In der Vergangenheit, in der das Tempo des Wandels, des Zerstörens und Neuaufbaus langsam war, dauerte es oft Jahrzehnte, bis die Unternehmen zusammenbrachen, weil die Innovationen fehlten. Joseph Alois Schumpeter zufolge begnügten sich einige, nur zu beobachten, wie andere mit den Störungen beschäftigt waren, die mit dem Wandel einhergingen. Andere waren daran interessiert, den Wandel zu initiieren, sie wollten

4.5  Disruptionen und Ethik

257

d­ iejenigen sein, die mit neuen Erfindungen schöpfen. Sie waren verliebt in den Erfolg. Die Geschwindigkeit der Veränderung war relativ langsam. „Bei Schumpeter war das Ganze eine Beobachtung, die Akteure selbst machten sich über Zerstörung keine Gedanken, sie wollten schöpfen. Sie waren ins Gelingen verliebt, waren Erfinder (…). Bei Kalanick (Uber) und den Seinen ist die Stoßrichtung schärfer. Es geht nicht nur darum, besser zu sein als andere, eine Idee zu haben, ins Gelingen verliebt zu sein, sondern es geht darum, eben disruptiv zu sein, etwas anderes zu zerstören. Nicht. Ich will mitspielen. Sondern: Ich spiele und kicke den anderen raus. Beim Wollen bleibt es nicht: Für den Zweiten und Dritten ist am Markt oft kein Platz mehr. (…) Es ist manchmal ein Allmachtsdenken zu spüren, das einen frösteln lässt. (…) Wenn künftig Maschinen und Geräte unentwegt miteinander kommunizieren, wenn sie riesige Datenmengen austauschen, abgleichen, überprüfen und daraus selbstständig lernen, verändert dies alles: wie wir leben, arbeiten, wirtschaften und denken. Es hebt die Wirtschaft auf eine andere Stufe, sie wird schneller, produktiver, effizienter. Aber es bedeutet auch: Der arbeitende Mensch wird überflüssig. (…) Und so bleibt die Erkenntnis vor allem eine: Die Welt, in der wir leben und arbeiten, wird künftig sehr anders sein. Faszinierend anders. Und beängstigend anders. Schumpeter schrieb über die „Freude am Schaffen“. Die digitale Revolution hat das geändert. Alles ist globaler vernetzt und geschieht schneller und brutaler. Alte Geschäftsmodelle werden durch neue zerstört und manchmal innerhalb von Monaten ersetzt. Uber und Airbnb sind zwei Beispiele. 3-D-Drucker, das selbstfahrende Auto, Algorithmen für dezentrale Finanztransaktionen, Smart Grid und Digital Home Management sind nur einige Beispiele. Es scheint, dass sich unser Leben, unsere Arbeit, ja sogar die Art und Weise, wie wir denken, mit beispielloser Geschwindigkeit verändert. Maschinen vernetzen sich und kommunizieren miteinander, wodurch viele Arbeitsplätze wegfallen. In den neuen Geschäftsmodellen gibt es keine Chancen für die Vertriebenen. Sie fallen auf den Grund der sozialen Leiter. Für viele Menschen ist diese schöpferische Zerstörung klar und verständlich erschreckend. Mit Kalanick (Uber) und seinen Anhängern ist die Zerstörung beabsichtigt. Es geht nicht nur darum, bessere Ideen als andere zu haben oder sich in den Erfolg zu verlieben, sondern auch darum, etwas anderes zu zerstören. Nicht ‚Ich will auch spielen‘, sondern ‚Ich werde spielen und dabei alle anderen ausschließen‘. Für diejenigen, die vorher auf dem Markt etabliert waren und deren Nische zerstört wurde, gibt es oft keinen Platz mehr auf dem Markt“ (Beise und Schäfer 2015).

258

cc

4  Die Anwendung

Wo bleiben dabei moralische und ethische Überlegungen?

Die Erfinder der digitalen Revolution und aller bahnbrechenden Innovationen sind oft rücksichtslos. Die neuen Technologien werden sich durchsetzen, unabhängig von den inneren Werten, die die Erfinder besitzen oder nicht besitzen. Ihre Innovationen werden nicht zurückhaltend sein, nur weil sie vielen Menschen schaden, die in der Old Economy bleiben. Die Promotoren werden darauf hinweisen, wie vorteilhaft die Innovationen für viele andere sind. Die Opfer werden sich beschweren, aber ihre Stimmen werden den sich rasch entwickelnden Prozess nicht aufhalten. Man kann den Erfindern nicht die Schuld geben. Innovationen sind nicht unmoralisch, aber die Art und Weise, wie sie auf den Markt gebracht und gefördert werden, kann unmoralisch sein. Es erinnert an den Begriff „Apokalypse“, den C. G. Jung benutzte, als er nach seiner Vision für die nächsten Jahrhunderte gefragt wurde. Business Ethik 3.0 gilt auch für die neuen Akteure in diesen sich neu entwickelnden Geschäftsmodellen. Die Gesellschaft wird sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob sie der Menschheit mehr Nutzen als Schaden zufügt. Diese neuen Spieler müssen genau unter die Lupe genommen und bewertet werden. Angesichts der aktuellen Situation ist es sehr besorgniserregend, dass eine große Welle von ethischen Disruptionen unvermeidlich ist. Wir werden mit Sicherheit eine Zunahme unmoralischer Entscheidungen und unethischen Verhaltens in der Wirtschaft erleben, und zwar sowohl bei denen, deren Unternehmen zerstört werden als auch bei denen, die sie zerstören werden. Auch wenn disruptive Innovationen unaufhaltsam sind, kann eine neue inte­ grale Ethik denjenigen, die Opfer sind, helfen, die nötige Stabilität zu finden, damit sie sich vorwärtsbewegen und eine neue Nische für sich entdecken oder erfinden können. Es besteht die Hoffnung, dass junge Berufstätige, wie in der Bewegung Wisdom 2.0 beschrieben, sich der Achtsamkeit und dem Mitgefühl verpflichtet fühlen und dass die junge Generation darauf besteht, dem Sinn des Lebens mehr Aufmerksamkeit zu schenken und eine gute Lebensbalance für sich selbst und andere zu fordern.

4.6

Organisation und Struktur

Bevor man Nachhaltigkeit in Betracht zieht, ist es wichtig, einige grundlegende Ideen und Definitionen in der Wirtschaft zu betrachten. Wir können alle Unternehmensteile in einer Portfoliomatrix positionieren, um deutlich zu machen, dass jedes Unternehmensteil entsprechend seiner einzigartigen Position in der Matrix

4.6 Organisation und Struktur

259

unterschiedlich geführt werden muss. Bei der Steuerung der Wirtschaft werden diese Erkenntnisse oft nicht berücksichtigt, vor allem bei der Entscheidung, welche Manager welche Geschäfte nach ihren spezifischen Talenten und Erfahrungen führen sollen. „Die Wachstums-Marktanteil-Matrix wurde 1968 vom BCG-Gründer Bruce Henderson geschaffen. Sie wurde in einem der kurzen, provokativen Essays von BCG mit dem Titel Perspectives veröffentlicht. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs wurde die Wachstums-Marktanteil-Matrix von etwa der Hälfte aller Fortune-500-Unternehmen verwendet; auch heute noch steht sie im Mittelpunkt der Strategielehre an Wirtschaftshochschulen. Die Wachstums-Marktanteil-Matrix ist, vereinfacht ausgedrückt, ein Rahmen für das Portfoliomanagement, der Unternehmen bei der Entscheidung hilft, wie sie ihre verschiedenen Geschäftsbereiche priorisieren können. Es handelt sich dabei um eine Tabelle, die in vier Quadranten unterteilt ist, von denen jeder sein eigenes einzigartiges Symbol hat, das einen bestimmten Grad an Rentabilität repräsentiert: Fragezeichen, Sterne, Haustiere (oft durch einen Hund repräsentiert) und Melkkühe. Durch die Zuordnung jedes Unternehmens zu einer dieser vier Kategorien könnten die Führungskräfte dann entscheiden, wo sie ihre Ressourcen und ihr Kapital konzentrieren sollten, um den größten Wert zu generieren und wo sie ihre Verluste begrenzen könnten. Die Matrix der Wachstumsanteile basierte auf der Logik, dass Marktführerschaft zu nachhaltig höheren Renditen führt. Letztendlich erhält der Marktführer einen sich selbst verstärkenden Kostenvorteil, den Wettbewerber nur schwer nachahmen können. Diese hohen Wachstumsraten signalisieren dann, welche Märkte das größte Wachstumspotenzial haben. Die Matrix zeigt zwei Faktoren auf, die Unternehmen bei der Entscheidung, wo sie investieren sollten, berücksichtigen sollten – die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und die Marktattraktivität – mit dem relativen Marktanteil und der Wachstumsrate als den diesen Faktoren zugrunde liegenden Faktoren. Jeder der vier Quadranten stellt eine spezifische Kombination aus relativem Marktanteil und Wachstum dar: 1. Niedriges Wachstum, hoher Anteil. Unternehmen sollten diese ,Cash-Kühe‘ melken, damit sie Geld zur Reinvestition erhalten. 2. Hohes Wachstum, hoher Anteil. Unternehmen sollten erheblich in diese ,Stars‘ investieren, da sie ein hohes Zukunftspotenzial haben. 3. Hohes Wachstum, niedriger Anteil. Unternehmen sollten in diese ,Fragezeichen‘ investieren oder sie ablehnen, je nach ihren Chancen, Stars zu werden. 4. Niedriger Anteil, niedriges Wachstum. Unternehmen sollten diese ,Dogs‘ liquidieren, veräußern oder neu positionieren. Wie man sehen kann, hängt der Produktwert vollständig davon ab, ob ein Unternehmen in der Lage ist, einen führenden Anteil seines Marktes zu erlangen, bevor sich das Wachstum verlangsamt. Alle Produkte werden irgendwann entweder zur

4  Die Anwendung

260

Cash-Kuh oder zum Haustier. Haustiere sind unnötig; sie sind ein Beweis dafür, dass es nicht gelingt, entweder eine Führungsposition zu erlangen oder auszusteigen und die Verluste zu begrenzen.“ (BCG 1968)

In jeder Organisation gibt es Einzelpersonen, die introvertiert sind, und andere, die extrovertiert sind. Die folgenden Charakteristika psychologischer Typen wurden von C. G. Jung entwickelt (Jung 1971) (Tab. 4.1). Die Führungskräfte müssen aus diesen acht Typen die richtige Person für jede einzelne Portfolioposition auswählen. Dabei müssen wir auch die Fortschritte berücksichtigen, die jeder Einzelne bei der Entwicklung seines inneren Wachstums gemacht hat, wie zuvor beschrieben. Der dafür notwendige Aufwand wird durch die daraus resultierende höhere Qualität der persönlichen Entscheidungen leicht kompensiert. Auch in einer modernen und demokratischen Gesellschaft bleiben viele Strukturen und Prozesse vom Militär inspiriert. Viele Menschen werden als Visionäre befördert, nachdem das Unternehmen, das sie leiten, Erfolg zeigt, ohne jemals darüber nachzudenken, wie dieser Erfolg zustande gekommen ist. Obwohl der Führungsstil berücksichtigt wird, bewerteten die Gutachter oft andere auf der Grundlage ihres eigenen Stils, der nicht unbedingt zu den modernen Praktiken passt. Das Endergebnis ist, dass Erfolg und hohe Leistung zu oft schlechte Gewohnheiten rechtfertigen! Um eine nachhaltige Organisation zu gewährleisten, müssen wir zwischen fachlicher und innerer Kompetenz, dem „Rang“ und der „Stufe“ unterscheiden. Der Rang ist die hierarchische Position in der Organisation und die Stufe bezieht sich auf Dürckheims Konzept der individuellen Reife, sei es nach Jungs Individuation, christlichem Charakter oder spiritueller Reife. Beförderungen müssen sich nach Kompetenz, Rang und Reifegrad/Stufe des Einzelnen richten. Je höher wir im Rang steigen und je älter wir werden, desto größer wird hoffentlich der Fortschritt unserer Reifung, insbesondere ab der Lebensmitte. Der höchste Rang ist der Präsident des Verwaltungsrates, der idealerweise die höchste Stufe, die

Tab. 4.1  Charakteristiken der psychologischen Typen nach C. G. Jung Funktion/Typ Denk-Typ

Extrovertiert Sachlich, produktiv

Fühl-Typ

Umgänglich, angepasst, konventionell, Realistisch, unkritisch, lustorientiert Spekulativ, inspirierend

Empfindungstyp Intuitions-Typ

Introvertiert Kreativ, kritisch, unrealistisch Still, unzugänglich, tiefsinnig, tiefgründig Geschlossen, passiv Visionär, künstlerisch

4.7  Weise Unternehmensführer

261

größte Reife hat. Ist dies der Fall, stellt der Vorsitzende für den Vorstand Personen mit hoher Weisheit und Reife ein. Die Vorstandsmitglieder werden dann Führungspositionen mit Menschen besetzen, die essenziell sind, mit hoch entwickeltem innerem Wachstum. Natürlich ist es derzeit schwierig, genügend innerlich gereifte, spirituelle und individuierte Menschen einzustellen, die es auch schaffen können. Aber es genügt, wenn diejenigen, die führen, die Herzen der Menschen gewinnen können, indem sie kongruent und einfühlsam sind, mit einem hohen Maß an Authentizität, vielleicht einfach deshalb, weil sie christlichen Prinzipien folgen und mit anderen mitfühlend umgehen. Oder vielleicht schaffen sie es einfach nur mit Seele! Mitarbeiter, die sich im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn auf einen Reifepfad begeben, werden sich langsam, aber stetig verändern. Es ist eine Top-­ Managementaufgabe und Verantwortung, dieses Wachstum zu ermöglichen.

4.7

Weise Unternehmensführer

Der jüngste Zusammenbruch des globalen Finanzsystems ist ein Beweis für den Mangel an weiser Führung. Da große Institutionen scheitern und Marktführer Konkurs anmelden, war die Notwendigkeit einer reifen Führung nie größer und nie hatten wir einen größeren Grund, enttäuscht zu sein. Das Scheitern von CEOs kann nicht allein auf die Unsicherheit auf dem Weltmarkt zurückgeführt werden. Die Prävalenz egoistischer Einstellungen, die derzeit auf allen Ebenen der Belegschaft vorherrschend ist, führt vorhersehbar zu unethischen und nicht nachhaltigen Geschäftspraktiken. Leider sind die Führer, die uns aus dieser Sackgasse herausführen können, in einer verzweifelten Notlage. Nonaka und Takeuchi veröffentlichten einen interessanten Artikel über einen weisen Führer aus ihrer japanischen Sicht (Nonaka und Takeuchi (2011, S. 2)). Es sei nicht nur die Ungewissheit allein, die den CEO heute gelähmt habe. Vielen falle es schwer, ihre Unternehmen schnell genug neu zu erfinden, um mit neuen Technologien, demografischen Veränderungen und Konsumtrends fertigzuwerden. Vor allem falle es den Führungskräften schwer, dafür zu sorgen, dass ihre Mitarbeiter sich an Werte und Ethik halten würden. Das vorherrschende Prinzip in der Wirtschaft scheine zu sein: Was ist für mich drin? Die Führungskräfte glaubten immer noch, dass der Zweck des Geschäfts das Geschäft selbst sei und die Gier solange beibehalten werde, solange die SEC sie nicht herausfinde. Es gibt eine philosophische Tendenz im Westen, die auf Platon folgt und zu dem Schluss kommt, dass, wenn eine Theorie nicht funktioniert, etwas mit der Realität nicht stimmt. Menschen verhalten sich weniger ethisch, wenn sie Teil von Organisationen sind. Wir müssen dafür sorgen, dass das Management Fragen stellt, wie:

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4  Die Anwendung

Wohin gehen wir? Wer gewinnt, wer verliert und durch welche Mechanismen der Macht? Ist diese Entwicklung wünschenswert? Was sollen wir dagegen tun? Eine weise Führung erkennt, dass Wissen kritischer ist als je zuvor, und erkennt, dass Unternehmen, wenn sie nicht sowohl sozialen als auch wirtschaftlichen Wert schaffen, scheitern werden. Mehrere Jahrzehnte Studien zeigen deutlich, dass CEOs durch die Integration von Erfahrungen aus persönlichen Erfahrungen die praktische Weisheit erwerben müssen, die sie zu umsichtigen, moralischen Entscheidungen führt. Vom Wissen zur Weisheit: Nonaka und Takeuchi zeigen diesen Weg auf (2011, S. 4–8): Der Ursprung der praktischen Weisheit liege im Konzept der Phronesis, einer der drei von Aristoteles identifizierten Wissensformen. Praktische Weisheit sei Erfahrungswissen, das Menschen in die Lage versetze, ethisch fundierte Urteile zu fällen. Sie (die Unternehmen) würden besser daran tun, das Gemeinwohl zu verfolgen, nicht weil es richtig oder gerade in Mode ist, sondern weil es ihre Nachhaltigkeit sicherstellt. Nonaka und Takeuchi fordern sechs Fähigkeiten für die weisen Führer: 1. Weise Führer können die Güte leben: Ohne eine Grundlage persönlicher Werte könnten Führungskräfte nicht entscheiden, was gut oder schlecht ist. Manager müssten Urteile für das Gemeinwohl fällen, nicht nur für Gewinne oder Wettbewerbsvorteile. Nur an das Unternehmen zu denken, führt letztendlich zum Scheitern. 2. Weise Führer können die Essenz erfassen: Vor der Urteilsfindung projizieren weise Führer eine Vision der Zukunft und entscheiden über die Maßnahmen, die notwendig seien, um diese Vision zu verwirklichen. Es sei auch wichtig, dass Manager die universelle Wahrheit aus dem Besonderen und den Details heraus erfassen. Dazu bedürfe es einer kontinuierlichen Interaktion zwischen subjektiver Intuition und objektivem Wissen. Es gehe darum, zu erkennen, dass Mitarbeiter, die direkt mit Kunden interagieren, häufig besser in der Lage seien, die Besonderheiten der zu erbringenden Waren oder Dienstleistungen zu bestimmen als jemand in der Zentrale. 3. Weise Führungskräfte schaffen gemeinsame Kontexte: Phronetische Führungskräfte würden immer wieder Gelegenheiten für Führungskräfte und Mitarbeiter schaffen, voneinander zu lernen. Dies könne die Verbreitung von Informationen durch den Aufbau kurzfristiger Beziehungen, die neue Perspektiven fördern, und/oder die intensive Interaktionen zwischen Kollegen mit einem gemeinsamen Sinn für Zwecke erleichtern, sodass die Teilnehmer ihre Beziehung zu an-

4.7  Weise Unternehmensführer

263

deren durch ein zwischenmenschliches Verständnis ihrer Ansichten und Werte besser verstehen können. 4. Weise Führer kommunizieren die Essenz: Phronetische Manager seien in der Lage, auf eine Art und Weise zu kommunizieren, die jeder verstehen könne. Das Wesen einer Situation sei oft schwer auszudrücken, deshalb müssten sie Geschichten, Metaphern und andere Bildsprachen verwenden. Dies ermögliche es, dass Personen, die in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Erfahrungen geerdet seien, Dinge intuitiv erfassen könnten. 5 . Weise Führer üben politische Macht aus: Phronetische Leiter müssten Menschen zusammenbringen und sie zum Handeln anspornen, indem sie das Wissen und die Anstrengungen aller miteinander kombinieren und zusammenfassen, um ihr Ziel zu erreichen. Weise Manager übten politisches Urteilsvermögen aus, indem sie die Standpunkte und Emotionen anderer verstehen würden, die durch alltägliche verbale und nonverbale Kommunikation gewonnen werden. Sie prüften sorgfältig den Zeitpunkt, wann sie sich bewegen oder über Themen diskutieren sollten. Phronetische Manager strebten auch danach, alle Widersprüche in der menschlichen Natur – Gut und Böse, Höflichkeit und Unhöflichkeit, Optimismus und Pessimismus, Fleiß und Faulheit – zu verstehen und sie zu synthetisieren, wenn sie entstehen. Sie würden sich mit dialektischem Denken beschäftigen, das es ihnen ermöglicht, mit Widersprüchen, Gegensätzen und Paradoxien umzugehen, indem sie sich auf eine höhere Ebene bewegen würden; indem man in den Begriffen Sowohl-als-auch und nicht Entweder-oder denke. Phronetische Leiter könnten die Entscheidung treffen, die für eine Situation am besten geeignet ist, ohne dabei die zu erreichende Güte aus den Augen zu verlieren. 6 . Weise Führer fördern praktische Weisheit in anderen: Praktische Weisheit müsse so weit wie möglich im gesamten Unternehmen verteilt werden. Mitarbeiter auf allen Ebenen sollten in der Anwendung geschult werden. Die Förderung von verteilter Führung sei daher eine der größten Aufgaben des weisen Managers. Die Menschen könnten oft etwas über praktische Weisheit lernen, indem sie das Verhalten eines Vorbildes beobachten. Das wissensorientierte Unternehmen von heute müsse sich in das weisheitsorientierte Unternehmen von morgen verwandeln. Das erfordere eine neue Art von Führungskraft – einen CEO, der viele Dinge gleichzeitig ist. Das schließe ein: • Ein Philosoph, der das Wesen eines Problems erfasst und aus zufälligen Beobachtungen allgemeine Schlussfolgerungen zieht. • Ein Meister, der die Kernfragen des Augenblicks versteht und sofort handelt.

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4  Die Anwendung

• Ein Idealist, der das tut, was er für richtig und gut für das Unternehmen und die Gesellschaft hält. • Ein Politiker, der die Menschen zum Handeln anspornen kann. • Ein Romanschriftsteller, der Metaphern, Geschichten und Rhetorik verwendet. • Ein Lehrer mit guten Werten und starken Prinzipien, von dem andere lernen wollen. Unternehmen müssten neue Zukunftsszenarien erschaffen, um zu überleben. Diese Zukunft könne nicht länger eine Verlängerung der Vergangenheit sein, sie müsse ein Sprung des Glaubens in die Zukunft sein. CEOs könnten sich nicht damit begnügen, Situationen anhand empirischer Daten und deduktiver Argumentation zu analysieren; sie müssten auch induktive Sprünge in Richtung ihre Ideale und Träumen vollziehen. Wenn sie nicht idealistisch sind, könnten sie einfach keine neue Zukunft erschaffen. Idealismus allein reiche aber nicht aus. Führungskräfte müssten auch pragmatisch sein – sie müssten der Realität ins Auge blicken, das Wesen einer Situation erfassen und sich vorstellen, wie sie mit dem größeren Kontext zusammenhängt. CEOs müssten idealistische Pragmatiker werden, weshalb sie die doppelte Suche nach Wissen und praktischer Weisheit in eine Lebensweise verwandeln müssten. Man braucht nicht nach Japan zu schauen, um kluge und moralische Manager zu finden. Einige wenige, aber auch die unentwickelten und unmoralischen, findet man überall. Unter den Vorständen und Geschäftsführern herrscht natürlich immer ein Wettbewerb um bessere Ergebnisse und eine größere Anerkennung durch den Aufsichtsrat. Ein Manager, der selbst auf einem niedrigen „Level“ mit einer intensiven egozentrierten Dynamik operiert, kann mit verdächtigen, fragwürdigen Methoden immer noch gute kurzfristige Ergebnisse erzielen. Während dies geschieht, dauert es im heutigen Klima nicht lange, bis der Betrüger entdeckt wird. Der Manager auf einem höheren „Level“ mit erheblichem innerem Wachstum wird auf Dauer immer gewinnen. Durch seine Toleranz und Gelassenheit hat er einen Vorteil gegenüber seinen niederen Konkurrenten. Heute sind Quartalsergebnisse und Jahresergebnisse wichtig, aber zunehmend muss die Frage, wie diese Ergebnisse erreicht wurden und ob sie nachhaltig waren, immer mehr in den Mittelpunkt der Evaluation gerückt werden. Die Beförderung von unreifen Managern niedriger Ebenen in höhere Ränge hat katastrophale Folgen. Eine der katastrophalen Folgen ist, dass unausgereifte Manager ihre Mitarbeiter verlieren. Viele verlassen das Unternehmen, andere verharren mit innerer Resignation. Das ist nicht unbedingt eine Motivation, um eine neue Beschäftigung zu finden, sondern nur eine Resignation, dass wir, wenn wir den Kopf senken und unsere Stunden einhalten, hoffentlich jeden Tag unbemerkt und unbehelligt bleiben. Denn

4.7  Weise Unternehmensführer

265

wenn wir uns innen abschalten, wollen wir nicht auf uns selbst aufmerksam ­machen, sondern werden weitgehend unsichtbar. Wir kündigen den psychologischen Vertrag, die unausgesprochenen Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche, die ein gesundes Arbeitsverhältnis mit sich bringt. Kollegen und Vorgesetzte merken oft nicht, was vor sich geht. Ralf Brinkmann (2008), Heidelberger Wirtschafts- und Arbeitspsychologe, der an der Fachhochschule Heidelberg lehrt und das Phänomen der internen Kündigungszustände untersucht, stellt fest, dass Menschen, die innerlich gekündigt haben, nicht mehr an der Auseinandersetzung mit Vorgesetzten und Kollegen interessiert sind. Sie seien nicht mehr bereit, auch nicht mehr gegen die Mehrheit, ihre Meinung zu äußern. Sie würden auch keine neuen Ideen, Vorschläge oder Kritiken mehr einbringen. Wie kommt es zu dieser Distanzierung zwischen Mitarbeitern und Unternehmen? Was versteht man unter innerer Resignation? Psychologen definieren dies als die Entscheidung eines Mitarbeiters, die Hingabe und das Engagement für das Unternehmen zu beenden. Die Psychologen Brinkmann und Stapf (2005) haben mehrere Faktoren untersucht, die zu dieser mentalen Resignation beitragen: Schlechter Führungsstil: Bedürfnisse würden ignoriert, Vorschläge und Ideen würden nicht ernst genommen oder abgelehnt und die Arbeit der Mitarbeiter würde nicht bewertet. Eine Kultur des Misstrauens – viel Kontrolle und wenig Wahlfreiheit: Die Mitarbeiter würden von vornherein als faul angesehen und brauchten für ihre Arbeit Orientierung und Ziele. Dies werde mit willkürlicher und exzessiver Kon­ trolle durchgesetzt. Erwartungen sind illusionär: Es gebe nur wenige oder gar keine Möglichkeiten, befördert zu werden oder schlimmer noch, Einzelpersonen würden bei Beförderungen ignoriert. Die Mitarbeiter seien schlecht bezahlt und unterbewertet. Es gebe keinen Sinn in der Arbeit: Jede Arbeit habe eine tiefere Bedeutung. Es sei ungeheuer wichtig, in unserer Arbeit Sinn zu sehen. Bindung an das Unternehmen fehlt: Wenn es keine Motivation gebe, eigene Ideen in das Unternehmen einzubringen, gehen wertvolle Innovationen verloren.

266

4  Die Anwendung

Mobbing bei der Arbeit: Das Mobbing gegen Kolleginnen oder Kollegen könne von Kolleginnen oder Kollegen ausgeübt oder von einem Vorgesetzten initiiert und geduldet werden. Der Betroffene habe das Gefühl, von außen innerlich gekündigt worden zu sein. Arbeit soll Spaß machen: Aber viele von uns haben es versäumt, den Spaß an der Arbeit zu finden. Wir arbeiten, um Geld zu verdienen. Arbeit wird zum notwendigen Übel. Dies gilt insbesondere für Unternehmen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht schätzen und fördern. Wenn wir auf diese Weise betroffen sind, geben wir uns mit unserer Arbeit zufrieden und richten unser Leben nur auf unsere Freizeit und unser Familienleben aus. Organisatorische Veränderungen: Oft fühlen wir uns bedroht, wenn sich unsere gewohnte Arbeits- und Organisationsstruktur verändert. Viele Arbeiter würden ihre Arbeit emotional aufgeben, lange bevor sie in Rente gehen. Sie blieben im Unternehmen, hätten aber aufgegeben. Die Beschreibung von Organisation und Struktur wäre unvollständig, wenn die Annahmebereitschaft für eine Neue Ethik nur von den Managern verlangt würde. Auch das aktuelle Verhalten der Mitarbeiter muss kritisch hinterfragt werden. In der Süddeutschen Zeitung wurde am 17.05.2010 über das Thema Arbeitszufriedenheit: Frust im Büro berichtet: „Gerade einmal zwölf Prozent der Beschäftigten in Deutschland fühlen sich ihrem Arbeitgeber gegenüber verpflichtet und sind motiviert. Jeder Siebte würde am liebsten seinen Chef entlassen. Viele Deutsche gehen nur mit mäßigem Elan zur Arbeit. Gerade einmal zwölf Prozent der Beschäftigten fühlen sich einer Erhebung zufolge ihrem Arbeitgeber gegenüber verpflichtet und sind im Job motiviert und engagiert. Im Vorjahr waren es noch 15 Prozent. Die Mehrheit der Beschäftigten (64 Prozent) spule am Arbeitsplatz ein Pflichtprogramm ab, so das Arbeitsklima-Barometer 2008 des IFAK Instituts aus Taunusstein. Langeweile und Ärger im Job: 24 Prozent der Deutschen haben innerlich bereits gekündigt. Der Anteil derer, die innerlich bereits gekündigt haben, liegt demnach bei 24 Prozent – zwei Prozentpunkte über dem Vorjahreswert. Jeder Siebte würde am liebsten seinen Chef entlassen. Das geringe Maß an Verbundenheit von Beschäftigten mit ihrem Arbeitgeber hat durchaus Folgen: Es führt laut dem IFAK Institut zu vielen Fehltagen. Arbeitnehmer mit hoher Bindung an ihr Unternehmen fehlten im Schnitt 4,3 Tage. Bei Angestellten mit geringer Bindung waren es dagegen zehn Tage. Die Arbeitnehmer der ersten Gruppe seien außerdem deutlich engagierter, wenn es um Verbesserungen und Inno-

4.8  Integration der dunklen Seite in Organisationen

267

vationen am Arbeitsplatz geht. Sie haben im Schnitt in den zurückliegenden zwölf Monaten 17,5 Ideen und Vorschläge eingebracht. Bei den Kollegen ohne Identifikation mit dem Betrieb waren es nur 8,4. Kündigung nicht ausgeschlossen Arbeitnehmer denken auch eher über einen Arbeitsplatzwechsel nach, wenn sie sich nur wenig mit dem Unternehmen identifizieren. So stimmte bei der Befragung nur ein Drittel derjenigen, die sich nicht an die Firma gebunden fühlen, der Aussage uneingeschränkt zu: „Ich habe die Absicht, auch in einem Jahr noch für mein derzeitiges Unternehmen zu arbeiten.“ Bei Angestellten mit einer positiven Einstellung zu ihrem Betrieb waren es 98 Prozent. Das Bild ist kaum anders, wenn es um die längerfristige Perspektive geht: Nur 18 Prozent der Arbeitnehmer ohne Bindung wollen auch in fünf Jahren noch bei ihrem Arbeitgeber sein. Das sagen dagegen 87 Prozent von denjenigen, die eine hohe Bindung an das Unternehmen empfinden. Schuld an der geringen Verbundenheit der Mitarbeiter sind dem Marktforschungsinstitut zufolge häufig Defizite in der Personalführung. So könnten Führungskräfte ihre Mitarbeiter besser ans Unternehmen binden, wenn sie die Bedürfnisse und Erwartungen der Beschäftigten berücksichtigen. Der Einfluss der Führungskräfte lasse sich auch daran messen, dass Chefs bei Beschäftigten mit hoher Unternehmensbindung besser wegkommen als Vorgesetzte von Mitarbeitern, die sich nicht mit dem Betrieb identifizieren. Für die Studie wurden im März und April 2000 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer in Deutschland telefonisch befragt. Werden die Ergebnisse hochgerechnet, ergeben sich 3,8 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, die ihrem Arbeitgeber stark verbunden sind. 7,6 Millionen sind ohne Bindung und 20,3 Millionen haben eine mäßige Bindung an ihren Arbeitgeber.“ (Süddeutsche Zeitung 2010)

Wann werden wir endlich erkennen, dass die Mitarbeiter die wichtigste Ressource eines Unternehmens sind? Der Status eines Unternehmens lässt sich leicht feststellen, wenn man hört, wie Mitarbeiter über ihr eigenes Unternehmen sprechen. Wolfgang Berger (2013) hat klugerweise festgestellt, dass die härteste Realität in einem Unternehmen nicht die Zahlen in der Bilanz sind, die Gewinn und Verlust, nicht Anlagevermögen, Lizenzen und Patente oder Marktanteile angeben, sondern härteste Realität dessen ist, was die Mitarbeiter über „ihre“ Unternehmen denken und sagen.

4.8

Integration der dunklen Seite in Organisationen

Unter der alten Ethikleitung „befahl“ man den Mitarbeitern, „gut“ zu sein. Unter der Neuen Ethik wird anerkannt, dass die dunkle Seite nicht isoliert und gemieden werden darf, sondern integriert und kontrolliert werden muss. Wir können ohne die enormen Energien der dunklen Seite im wirtschaftlichen Prozess nicht gut abschneiden. Das hört man in den Diskussionen über die Ökonomie nicht gerne, aber aus Sicht der Tiefenpsychologie ist das durchaus sinnvoll. Es ist völlig in Ordnung,

268

4  Die Anwendung

dass junge Menschen bis in die Mitte ihres Lebens mit der Entwicklung ihres Ich-Bewusstseins fortfahren. Diese Egozentrierten, wissens- und leistungsorientierten, auf Anerkennung, Erfolg, Gier und materiellen Reichtum bedachten jungen Erwachsenen treiben den wirtschaftlichen Prozess voran und halten ihn in Gang. Die Attribute, die John Steinbeck zuvor zitiert hat: böse List, Gier, Betrug, Gemeinheit, Egoismus und Selbstsucht sind ausdrücklich dazu bestimmt, anderen zu schaden und können daher nicht als Motor für die Wirtschaft akzeptiert werden. Andere Eigenschaften, die eine notwendige Folge der allmählichen Reifung des Individuums sind, schaden nicht notwendigerweise den Mitmenschen. Diese treibenden Kräfte sind nicht a priori schlecht. Dies ist der Maßstab für die Ausrichtung, welche persönlichen Eigenschaften in der Wirtschaft akzeptabel sind. Der Ethiker Peter Knauer hat das weise beobachtet: cc

„Schlecht ist nur schlecht, wenn es anderen schadet.“ (Knauer 2002, S. 165)

Oder wie Schwery sagt, in Anlehnung an C. G. Jung, der die Gefahr der Unterdrückung und Verdrängung wie auch Neumann bei den Menschen erlebte, die nur gut sein wollten: „Nur gut zu sein, ist schlecht!“ (Schwery 2008, S. 46)

Die Erkenntnis dabei ist, dass, wenn wir das „Nicht-Gute“ unterdrücken und verdrängen, es eine Art und Weise hat, plötzlich und unerwartet aus den Schatten aufzutauchen. Wesentlich ist, dass es Vorgesetzte gibt, die die schlechten Gewohnheiten, die das Ego der jüngeren Mitarbeiter zum Ausdruck bringt, einschränken. Wenn dies von oben nach unten geschieht, wird es eine Einschränkung für egozentrische Verhaltensweisen geben, die sich nachteilig auf das Unternehmen und die Gesellschaft insgesamt auswirken. Es liegt in der Verantwortung der Führungskräfte auf den höheren Ebenen, das Gute und das Böse, das Licht und den Schatten der Mitarbeiter zum Nutzen und nicht zum Nachteil der Umwelt, des Unternehmens, der Mitarbeiter selbst oder anderer Stakeholder entfalten zu lassen. Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass es wichtig ist, dass wir uns zuerst unseres eigenen dunklen Bruders bewusst sein müssen und gelernt haben, wie wir am besten mit ihm umgehen. Wir müssen in der Lage sein zu erkennen, wann der dunkle Bruder die Regie übernehmen will und niemals seinen Verlockungen erliegen und zustimmen.

4.9  Strategien: Fusionen und Übernahmen, Veräußerungen und Investitionen

4.9

269

 trategien: Fusionen und Übernahmen, VeräußeS rungen und Investitionen

Bei unseren wirtschaftlichen Entscheidungen fehlt es leider an Weisheit, wie Clark es forderte. Wir brauchen nach wie vor dringend eine verantwortungsvolle Ökonomie, die in unserer Business Ethik verankert ist. Wo und wann immer Sie die Tageszeitung lesen, stehen die Ergebnisse einer Ökonomie der Verantwortungslosigkeit im Mittelpunkt der Medien. Die Autoren des Buches „The Power of Ethics“, Pete Geissler und Bill O’Rourke (Geissler und O’Rourke 2015), vertreten sowohl optimistische als auch pessimistische Positionen: Sie sind insofern optimistisch, als dass sie ein beträchtliches Interesse und eine erneuerte Kraft in der Lehre ethischen Verhaltens in unserer Geschäfts- und Berufswelt sehen, und pessimistisch, als dass sie unsere populistischen Medien weder bereit noch in der Lage sehen, von der Berichterstattung über unethisches Verhalten zu ethischem Verhalten zu wechseln. Da Entscheidungen rund um diese Handlungen einen großen Einfluss auf Unternehmen haben, dürfen sie nicht aus dem Egozentrismus einzelner Vorstandsmitglieder geboren werden, sondern müssen nach der neuen Ethik entschieden und umgesetzt werden, wobei ein wichtiges Kriterium die Frage ist, ob sie wertsteigernd und lebensfördernd sind. Es ist töricht, blind den Vorschlägen von Unternehmensberatern und Investmentbankern zu folgen, deren primäres Interesse ihr eigenes Endergebnis ist. Investitionen können scheitern und bis dahin sind die „Experten“ längst verschwunden. 50 % der Übernahmen und Fusionen zahlen sich nicht aus. Es ist ein sehr riskantes Abenteuer. Wenn sie versagen, leiden viele Menschen darunter. Beispiele dafür sind weltweit weitverbreitet. Zu oft investieren Unternehmen in Unternehmen, die nicht mit dem Zweck und der Kompetenz der investierenden Gesellschaft übereinstimmen. Fusionen führen allzu oft zu neuen Organisationen, die die laufenden Transaktionen, Zusagen und Boni, die zuvor vereinbart wurden, nicht einhalten. Die Moral wird durch die Gier nach höheren Gewinnen negativ beeinflusst. Um zu entscheiden, ob man das, was andere „Experten“ vorschlagen, akzeptieren oder ablehnen will, bedarf es erheblicher Sachkenntnis und innerer Reife. Beispiele in den Märkten sind zahlreich. Mitarbeiter und Steuerzahler sind allzu oft diejenigen, die letztlich den Preis für unverantwortliche Unternehmensentscheidungen zahlen. Gelegentlich wird beschlossen, bestimmte Aktivitäten, von denen sich ein Unternehmen trennen möchte, zu veräußern. In diesem Fall wird ein Teil des Unternehmens und der Mitarbeiter, die mit dem übertragenen Unternehmen verbunden sind, in die Verantwortung des neuen Eigentümers übergehen. Die Auswahl eines

270

4  Die Anwendung

Käufers muss sehr sorgfältig erfolgen, wobei die Interessen der Mitarbeiter stets berücksichtigt werden. Die Verantwortung muss bestehen bleiben, zumindest bis ein Stabilisierungszustand unter den neuen Eigentümern mit dem ursprünglichen Unternehmen geschaffen wird. Hier besteht die Möglichkeit, die Neue Ethik zukunftsweisend zu betrachten. Splitting und Devestitionen von Vermögenswerten führen zu einem Identitätsverlust innerhalb der Belegschaft. Wenn Versprechungen gebrochen werden, besteht die unglückliche Chance, dass viel früherer guter Wille verloren geht und erheblicher Schaden angerichtet wird. Das Management kann einen positiven Ruf verlieren, dessen Entwicklung Jahre gedauert hat. Vertrauen kann verloren gehen. Die Motivation der verbliebenen Mitarbeiter kann sinken, wenn sie befürchten, dass auch sie ohne Rücksicht auf festgelegte Vorschüsse und Zusagen verkauft werden könnten. Hier ist ein Paradebeispiel. Im Jahr 1993 schlugen Finanzanalysten dem Vorstand von ICI vor, ICI in das Pharmaunternehmen Zeneca und das Chemieunternehmen ICI aufzuteilen. Die Rationale war, dass der Wert von ICI nach der Teilung steigen würde. Zeneca ging mit einem hohen Rating auf Wachstumskurs, während ICI schrittweise an Finanzinvestoren verkauft wurde. Ich habe einen Kollegen, der für ICI arbeitete, gefragt, was er von der Entscheidung, das Unternehmen zu spalten, hält. „Ich bin nicht mehr loyal zu meiner Firma, ich bin nur noch loyal zu meinem Vertrag.“ Seine Identität mit dem Unternehmen und in der Folge seine Motivation gingen verloren, ersetzt durch einen einfachen Vertrag. Er ist in Ernst Jüngers Wortschatz auf einen Fellachen reduziert worden. Wir können derzeit eine ähnliche Situation beobachten, wie sie in vielen Unternehmen auftritt. Es ist schwierig, in solchen Fällen über ethisches Handeln zu entscheiden. Einzelne Bereiche eines Unternehmens werden oft zu einem zu niedrigen Preis veräußert, weil sie nicht mehr zum Kerngeschäft gehören und zu einer Ablenkung geworden sind, von der sich das Unternehmen trennen möchte. Das verkaufende Unternehmen und seine Stakeholder werden dadurch geschädigt, dass sie für den Verkauf keine Forderungen stellen und eine angemessene Gegenleistung erhalten. Die an einen Finanzinvestor verkauften Sektoren werden dann gefördert und vielleicht in ein Kernunternehmen umgewandelt, das expandiert und an der Börse gedeiht und die neuen Investoren und Stakeholder belohnt oder der Finanzinvestor verkauft es mit Gewinn ohne Rücksicht auf die Mitarbeiter und Stakeholder und verschwindet dann. Nachfolgend sind einige weitere Fälle aufgeführt, die einen Mangel an Verantwortungsbewusstsein aufzeigen. Im deutschen Energiesektor können wir derzeit beobachten, wie hohe Abschreibungen auf nicht erfolgreiche Akquisitionen oder teilweise fehlende Erlöse aus Unternehmensverkäufen ihren Marktwert drastisch

4.9  Strategien: Fusionen und Übernahmen, Veräußerungen und Investitionen

271

reduzieren. Der historisch hohe Marktwert der EON AG von rund € 130  Mrd. wurde auf € 22 Mrd. reduziert. Der Marktwert von Evonik (vormals chemischer Teil von EON) beträgt 15 Mrd. €, der der Brenntag AG (ein Tochterunternehmen der EON-Tochter Stinnes AG) € 8,6 Mrd. Diese beiden Veräußerungen sind nun mehr als der Wert des Unternehmens, das diese Aktivitäten ausgegliedert hat. Rechnet man den Gesamtwert aller verkauften Aktivitäten hinzu, so liegt er weit über dem Wert von EON.  Die politische Entscheidung über eine Änderung der Energieproduktion in Deutschland hatte natürlich Einfluss, ist aber bei Weitem nicht der einzige Grund. Mit der Fokussierung auf das Kerngeschäft Energie hat EON viel zu spät erkannt, dass das bestehende Geschäftsmodell nicht mehr gültig ist. Dezentrale Einheiten und eine höhere Produktion von Ökostrom sind die Zukunft. Tausende von Arbeitnehmern sollen entlassen werden. Am 1. Dezember 2014 gab EON die Fokussierung auf grüne Energie und die Ausgliederung von Kern-, Kohle- und Gaskraftwerken bekannt. RWE, ein reines Energieunternehmen, erwarb auf Anraten von Beratern und Analysten Entsorgungs- und Wasserunternehmen zur Diversifizierung wie VEBA – jetzt EON. Es war ein Desaster, weil es nicht zum bestehenden Geschäft passte. Sie bezahlten einen zu hohen Preis und erhielten im Gegenzug eine zu geringe Leistung. Letztendlich verkauften sie die Akquisitionen und schrieben die Kosten für dieses Missgeschick ab. Jetzt sind ihre Reserven aufgebraucht. Helmut Bünder und Brigitte Koch berichten über die Ausfälle von EON/RWE: Die Kapriolen der Energie-Versager. „Die beiden Energiekonzerne EON und RWE vereinfachen die Situation, wenn sie versuchen, ihren Rückgang durch den Energiewandel und den Ausstieg aus der Kernenergie zu erklären“ (Bünder und Koch 2015). Microsoft muss das Fiasko bei der Nokia-Akquisition erklären: Microsoft hat US$ 9,4 Milliarden für Nokia bezahlt und jetzt US$ 7,6 Milliarden abgeschrieben. 7800 Mitarbeiter wurden entlassen. Die Ursache war wohl eine Mischung aus Managementversagen und Selbstüberschätzung. In beiden Fällen ist ein großer Schaden entstanden. Auch wenn wir berücksichtigen, dass die Unternehmen alle Gesetze befolgt haben, stellt sich die Frage, ob in diesen und ähnlichen Beispielen die Vorstände und Aufsichtsräte moralisch und ethisch gehandelt haben. Die Öffentlichkeit, die die Ergebnisse dieser Aktionen aus der Wirtschaft verfolgt, ist besorgt über die Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz der Führungskräfte sowie über die inkompetenten Zustimmungen der Aufsichtsräte. Ein CEO ist auf Akquisitionskurs … Beifall! Danach ist ein weiterer auf dem Weg zur Devestition und Konzentration auf das Kerngeschäft … Beifall! Die Investmentbanker, die Berater und die beteiligten Führungskräfte haben viel Geld verdient, aber niemand

272

4  Die Anwendung

macht sie für ihre Entscheidungen haftbar. Natürlich haben alle diese Unternehmen keinen Mangel an schriftlichen ethischen Richtlinien!

4.10 Besteuerung internationaler Gruppen Es ist üblich geworden, Einkünfte von Tochtergesellschaften in eine Holdinggesellschaft in einem Land mit niedrigen Steuern, wie Luxemburg oder Irland, zu transferieren. Ertragsteuern werden dann nicht in dem Land gezahlt, in dem die Produktion und der Verkauf erfolgt sind. Dies führt zu erheblichen Umsatzeinbußen für dieses Land. Selbst wenn das gesamte Verfahren nach der Steuergesetzgebung rechtmäßig ist, ist dieses Verfahren bei Anwendung der Kriterien der neuen Ethik unmoralisch. Es mag nach den bestehenden Richtlinien zulässig sein, ist aber nie „ethisch vertretbar“. Gerade im Hinblick auf die Ethik in der Wirtschaft ist es wichtig, zwischen „zulässig“ und „ethisch vertretbar“ zu unterscheiden. Peter Knauers Beispiel sei hier nochmals wiederholt: „Wer in einem Selbstbedienungsladen nicht stiehlt, weil er fürchtet, erwischt zu werden, handelt in dem Sinn ethisch richtig, dass man ihm keine schlechte Handlung vorwerfen kann. Dennoch ist seine Handlungsweise noch längst nicht gut. Das wäre sie erst, wenn er nicht nur faktisch, sondern prinzipiell nicht stehlen würde, auch dann nicht, wenn überhaupt keine Gefahr bestünde, ertappt zu werden.“ (Knauer 2002, S. 93)

4.11 Nachhaltige Lieferkettenverantwortung Der Fluss von Rohstoffen, Produkten und Dienstleistungen in ein Unternehmen wird als Supply Chain bezeichnet. Ein einzelnes Unternehmen kann die gesamte Lieferkette beeinflussen. Moderne Supply Chains und Wertschöpfungsketten sind hochkomplex, vernetzt und werden mit der zunehmenden Globalisierung des Marktes immer komplexer. Die Lieferkette ist wie ein Tintenfisch mit Tentakeln, der sich über die ganze Welt erstrecken kann. Die Produktionsbedingungen der Lieferanten und die gesamte Kette, die zurück in die Fabrik führt, müssen sich an der Neuen Ethik orientieren. Alle Parteien müssen an Bord sein. Wenn sich Unternehmen von ethischen Praktiken in Bezug auf Nachhaltigkeit und Personal leiten lassen, wird die Möglichkeit, die Lieferanten auch in das Nachhaltigkeitsboot zu bekommen, erheblich verbessert. Die Macht innerhalb dieser Ketten liegt bei den

4.11  Nachhaltige Lieferkettenverantwortung

273

größten Akteuren, insbesondere bei denjenigen, die bestimmte Industrien, Materialien oder Anwendungen dominieren. Diese Macht bringt eine erhöhte Verantwortung für diese Unternehmen und deren Management mit sich. Daran werden wir häufig erinnert, wenn Skandale um Bezugsquellen durch die Mainstream-Medien aufgedeckt werden. Ein Beispiel ist die Firma KIK, ein Billiganbieter für Bekleidung, der kürzlich öffentlich beschuldigt wurde, es versäumt zu haben, für einige ihrer Lieferanten verantwortungsvolle Sicherheits- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und zu gewährleisten, was zu Unfällen mit vielen Opfern führte. KIK versuchte die Verteidigung, dass sie das Unternehmen, in dem sich die Unfälle ereigneten, nicht einmal kannten. Sie waren nur ein Unterauftragnehmer eines Unterauftragnehmers. Dies ist eine häufige Entschuldigung, wenn unhaltbares und unethisches Verhalten aufgedeckt wird, aber aus der Reaktion der Öffentlichkeit und der Medien geht hervor, dass dieses fehlerhafte Argument nicht mehr akzeptiert wird. Tim Cook, CEO von Apple Inc., sagte, dass Apple lassen niemanden an der Sicherheit sparen lässt. Wenn es einen Produktionsprozess geben würde, der sicherer gemacht werden könnte, suchten sie die weltweit führenden Behörden auf, würden dann einen neuen Standard einführen und ihn auf die gesamte Lieferkette anwenden. Nach der Neuen Ethik ist es erforderlich und zu erwarten, dass Unternehmen, insbesondere die dominierende, proaktive Verantwortung für ihre Lieferketten im ganzheitlichen Sinne übernehmen. Sie sind verpflichtet, Transparenz durchzusetzen und unethische, unhaltbare und unsichere Zustände offen und ehrlich anzugehen. Geschäftsmodelle können nicht mehr auf der Ausbeutung von Humanressourcen und natürlichen Ressourcen aufbauen, die nicht das empfindliche Gleichgewicht gewährleisten, das für die Nachhaltigkeit notwendig ist. Der unhaltbare Ansatz, wie das Wort selbst andeutet, wird sich viel schneller beseitigen, als es bisher der Fall war. Dies ist das Ergebnis der globalen Transparenz, die sich aus dem Internet und anderen modernen Technologien ergibt. Ethische Führer werden ihre Organisationen von innen heraus ausdehnen, angetrieben von Menschen, die unhaltbare, also unethische Praktiken nicht tolerieren. Was sagt die Ethical-Corporation dazu? Liam Dowd, Sprecher der Ethical Corporation, präsentierte am 20. Juli 2015 eine Zusammenfassung (Dowd 2015, S. 1): Top Global Supply Chain Sustainability Trends (Toptrends der Nachhaltigkeit globaler Lieferketten). Einige Trends und Möglichkeiten, die von 415 Mitgliedern der Ethical Corporation Community identifiziert wurden, werden aufgezeigt. Im Rahmen der Planung zum 10. Annual Sustainable Supply Chain Summit sollten die wichtigsten Trends und Themen ermitteln werden, sowohl die aktuellen als auch die für 2016. Hier die Trends:

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4  Die Anwendung

1. Die Eliminierung von Supply-Chain-Risiken ist der Haupttreiber: Über 32 % der befragten Führungskräfte hätten angegeben, dass ihr Anreiz in der Eliminierung von Supply-Chain-Risiken liege. 2. Die Zusammenarbeit in der Industrie ist die größte Chance für 2015/2016: Knapp 24 % der Befragten hätten angegeben, dass die Zusammenarbeit in der Industrie die aufregendste Chance in Bezug auf die Nachhaltigkeit von Lieferketten sei. An zweiter Stelle stehe die Schaffung einer Kreislaufwirtschaft und an dritter Stelle die Sensibilisierung von Kunden und Verbrauchern mit 16 % bzw. 11 %. 3. Rückverfolgbarkeit und Umweltbelange sind die wichtigsten Themen für 2015/2016: Fast 30 % der Befragten hätten angegeben, dass Rückverfolgbarkeit und Umweltverbesserungen in den kommenden Jahren zentrale Themen sein werden. Bei der Aufschlüsselung der Antworten nach Regionen würden sich die Hauptthemen unterscheiden. Europäische Befragte favorisierten die Rückverfolgbarkeit, Nordamerikaner bevorzugten es, die Abhängigkeit von nicht nachhaltigen Rohstoffen zu beseitigen und die Befragten aus dem asiatisch-pazifischen Raum konzen­ trierten sich auf Umweltbelange. The Ethical Corporation helfe Unternehmen rund um den Globus dabei, das Richtige für ihre Kunden und die Welt zu tun. Sie glaubten, dass dies nicht nur eine Zukunftssicherung für alle ist, sondern dass es auch wirtschaftlich sinnvoll sei. Sie dienen CSR-, Compliance-, Risiko- und Governance-­ Communities mit aktuellen und aufschlussreichen Business Intelligence- und Meeting-­Plätzen. Sie versorgen jährlich mehr als 3000 multinationale Unternehmen mit Business Intelligence. Die Kunden seien auch NGOs, Thinktanks, Hochschulen, Regierungen und Beratungsunternehmen

4.12 Nachhaltige Kundenbindung H.  E. Richters frühere Aussage kann dahingehend modifiziert werden, dass sie lautet: „Nur das Unternehmen, das sich selbst in ethischer Balance befindet, kann mit der Betreuung seiner Kunden richtig umgehen.“ Marketingexperten und Verkäufer, die Steinbecks Vision von Freundlichkeit, Großzügigkeit, Offenheit, Offenheit, Ehrlichkeit, Verständnis und Einfühlungsvermögen folgen, sind äußerst erfolgreich im Markt, wie zahlreiche zufriedene Kunden belegen. Die Bemühungen des Unternehmens, sich auf die Kunden zu konzentrieren und ihre Erfahrungen durch „Lebensfreude“ zu verbessern, sind der Königsweg zum Geschäftserfolg, der sicherstellt, dass die Kunden treu bleiben und

4.14  Ethischer Konsum

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zögern, zu einem neuen Anbieter zu wechseln, für den die Neue Ethik ein fremdes Konzept ist. Das Geheimnis vieler erfolgreicher innovativer Unternehmen liegt in der Kundennähe. Da Marketing mein Fachgebiet ist, muss ich sagen, dass die digitale Welt die Kundenbeziehungen zerstört. Portale setzen zunehmend auf Kundenschnittstellen. Etablierte Wertschöpfungsketten werden zerstört. Es geht darum, im Namen der „Effizienz“ Kosten zu sparen, um höhere Gewinne auf Kosten der Kundenbindung zu erzielen. Das ist sehr destruktiv für die Kundenbeziehungen.

4.13 Nachhaltige Wettbewerbsbeziehungen Wir müssen unsere Konkurrenten nicht lieben, aber wir sollten ihnen auch nicht feindlich gegenüberstehen. Ohne Konkurrenz wird unsere Entwicklung behindert. Wettbewerb ist der Motor für innovative Verbesserungen. Es ist viel besser und produktiver, über unsere eigenen Stärken nachzudenken, als unsere Bemühungen zu zerstreuen, indem wir versuchen, den Wettbewerb zu schwächen. Die Art und Weise, wie wir unsere Konkurrenten behandeln, ist immer ein Test dafür, wie gut wir Praktiken anwenden, die von der neuen Ethik bestätigt werden.

4.14 Ethischer Konsum Eine Diskussion über nachhaltige Unternehmensverantwortung (SCR) wäre unvollständig, wenn man nicht die Bedeutung der Einstellung der Verbraucher berücksichtigen würde. Sie sind Teil der Wirtschaft und ein Buch über Business Ethik wäre ohne den Rahmen des ethischen Konsums nicht vollständig. Ein moralischer Verbraucher wird Einfluss auf die Moral der Lieferanten haben und ein unmoralischer Verbraucher wird die Unmoral der Lieferanten unterstützen. Ethischer Konsum, alternativ ethischer Kauf, moralischer Kauf, ethischer Einkauf, ethisches Sourcing, ethisches Einkaufen oder grüner Konsum bezeichnet, ist eine Art von positivem Konsumverhalten. Es wird durch positives Kaufen oder einen moralischen Boykott praktiziert, wenn ethische Produkte bevorzugt werden. Der Begriff ethischer Konsument wurde erstmals in der englischen Zeitschrift Ethical Consumer veröffentlicht. Die gemeinnützige Ethical Consumer Research Association veröffentlicht weiterhin das Ethical Consumer Magazine und die dazugehörige Website, die freien Zugang zu ethischen Ratingtabellen bietet. Es wird das Verhalten von Unternehmen hinsichtlich Umweltverschmutzung, Menschenrechte und Tierschutz bewertet. Danach können Verbraucher sich informieren und entscheiden, welche Produkte sie von welchem Unternehmen kaufen.

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4  Die Anwendung

Jeder Verbraucher, der kauft, trifft eine Entscheidung, sei sie moralisch oder unmoralisch. Die Entscheidung liegt in seiner Verantwortung und das sollte ihm bewusst sein. Zur Frage, was gut und was schlecht ist, hat John McMurtry (2018) im Auftrag der UNESCO eine umfassende Studie veröffentlicht: Philosophy and World Problems: What is good? What is bad?  – The Value of all Values through Time, Place and Theories.

Alle 13 Schwerpunkte der Studie beeinflussen seiner Meinung nach in hohem Maße das Verhalten des Individuums und seine Einkaufsentscheidung: 1. Die globale Wertekrise 2. Die transkulturelle Idee: Gut wie Glück und schlecht wie Schmerz 3. Moralphilosophie in Frage gestellt? 4. Natürliches Gut und Böse: Jenseits der Überlebensfähigkeit 5. Traditionen als moralischer Anker in einem Zeitalter des kriterienlosen Relativismus 6. Das Primäraxiom und der Lebenswertkompass 7. Gut und Böse im Innern: Öffnung der Terra incognita der gefühlten Seite des Seins 8. Das Werte-Handlungsfeld: Die Versöhnung der Menschheit und des Tieres 9. Das verlorene soziale Subjekt: Die Evaluierung der Regeln, nach denen wir leben 10. Tiefe Prinzipien der Gerechtigkeit, die sich auf die Bedeutung des Lebenswerts gründen 11. Der unsichtbare globale Krieg der Rechtssysteme und seine Prinzipien der Resolution 12. Die Rückgewinnung von Rationalität und wissenschaftlicher Methode: Das Prinzip der Lebenskohärenz als globales Systemgebot 13. Die menschliche Identität und der Sinn des Lebens Er ist der Meinung, dass Werte, was wertvoll ist und was nicht und warum, die menschliche Spezies über Unterschiede, Bereiche und Lebensweisen hinweg definiere. Daraus folge ein Sinn für das Leben. Die weltweite Krise der Lebenserhaltungssysteme, mit der die Menschheit heute konfrontiert sei, werde als eine vorhersehbare Folge des langen Scheiterns von Theorie und Politik erklärt, die sich nicht auf Werte stütze, die menschliches Leben und menschliche Lebensbedingungen ermöglichen. Luft, der Boden und das Wasser würden sich verschlechtern, Klima und Ozeane sich destabilisieren, eine wachsende Hälfte der Welt mittellos sein.

4.14  Ethischer Konsum

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Öffentliche Sektoren und Dienstleistungen würden aus Profitgründen privatisiert. Arten sterben in rasantem Tempo aus. Die vorliegende Analyse erläutere Schritt für Schritt die zentralen Definitionsprinzipien der wichtigsten Werttheorien der verschiedenen philosophischen Traditionen und erkläre, warum ihre Antworten auf die Fragen Was ist gut, was ist schlecht keinen kohärenten und angemessenen Grund für ihren Wert bieten. Im Gegensatz zu bekannten Werten und Wertesystemen wird von McMurtry ein zugrunde liegender Wert aller Werte systematisch erklärt und wieder mit gelebten Werten und lebenserhaltenden Systemen als verlorener Lebensgrund aller menschlichen Werte durch Ort und Zeit in Verbindung gebracht. Bei der Betrachtung von moralischen Ausgaben gilt es eindeutig, alle moralischen Einstellungen und ethischen Praktiken, die wir von den verantwortlichen Vertretern der Wirtschaft fordern, auch auf die Verbraucher anzuwenden. Es gibt genug Schuldgefühle, vor allem in Bezug auf das Fehlen von persönlichem Wachstum auf beiden Seiten. Geiz ist geil ist seit vielen Jahren das Motto der Elektronikkette Saturn in Deutschland. Diese Praxis wurde im Laufe der Zeit auf zahlreiche andere Hersteller ausgeweitet, die sich auf die Verbraucher konzentrieren, die in erster Linie darauf bedacht sind, so billig wie möglich zu kaufen, ohne Rücksicht auf die Bedingungen, unter denen das Produkt hergestellt wurde. Nach Amann (2015) seien zwar Deutsche zwischen 12 und 19 Jahren erstaunlich gut über die Probleme bei der Herstellung von Textilien informiert, wie eine repräsentative Umfrage von Greenpeace unter 500 Jugendlichen zeigt. Ihr Konsumverhalten ändere das jedoch nicht. Nur 13 % der Befragten geben an, beim Kauf auf die Herstellungsbedingungen oder die Textilsiegel zu achten. Gerade junge Konsumenten hätten zwar eine Vorstellung davon, wie Kleidung hergestellt wird und welches Elend im Namen der Mode angerichtet wird. Allerdings blenden Sie das aus, wenn es um den konkreten Kauf eines Kleidungsstücks geht. Die dunkle Seite ihres Verhaltens wird unterdrückt. Sie sind sich ihres unverantwortlichen Verhaltens bewusst und fühlen sich schlecht, wenn sie damit konfrontiert werden. Aber es ist auch so, dass viele Öko-Labels unbekannt sind, denn die bekannten Marken werben mit enorm positiven Werbekampagnen für ihre Produkte.

4.14.1 Nachhaltiges ethisches Verbraucherverhalten Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die Welt durch ethisches Einkaufen zu verändern. Dazu gehört die Auswahl von Produkten und Dienstleistungen, die so produziert werden, dass soziale und/oder ökologische Schäden minimiert werden, und

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4  Die Anwendung

die Vermeidung von Produkten und Dienstleistungen, die als negative Auswirkungen auf die Gesellschaft oder die Umwelt angesehen werden. Der Markt für ethische Produkte und Dienstleistungen umfasst die folgenden Sektoren: • • • • •

Ethisches Essen und Trinken Das grüne Zuhause Öko-Reisen und Transport Ethische persönliche Produkte Ethische Finanzen

(Siehe: ethischer Konsum.org) Was bedeutet ethischer Konsum? Tanja Lewis (2012) gibt uns Antworten. Während der letzten paar Jahrzehnte hätte das Konzept des ethischen Konsums in den reichen kapitalistischen Nationen auf der ganzen Welt an Bedeutung gewonnen und ist in jüngster Zeit zum Mainstream geworden. Eine Ausgabe 2009 des Time Magazins lief mit der Überschrift The Rise of the Ethical Consumer und berichtete in einem Artikel über The Responsibility Revolution, dass in ihrer Umfrage unter 1003 Amerikanern fast 40 % sagten, dass sie 2009 ein Produkt gekauft hätten, weil ihnen die sozialen oder politischen Werte des Unternehmens gefielen, das dieses produzierte. Wie sowohl Littler (2011) als auch Humphery (2011) jedoch festgestellt haben, bezieht sich der Begriff ethischer Konsum nicht auf ein klar definiertes Set von Praktiken, sondern ist zu einem praktischen Oberbegriff geworden, der ein breites Spektrum von Belangen abdeckt, von Tierschutz, Arbeitsnormen und Menschenrechten bis hin zu Fragen der Gesundheit und des Wohlbefindens und der Umweltund Gemeindeverträglichkeit. Der Anstieg des ethischen Konsums knüpft damit an eine breitere populäre Kritik an, die sich auf eine Reihe von Anliegen rund um den Umweltschutz, den Antimaterialismus und nicht nachhaltige Lebensstile konzentriert. Eine Umfrage von Global Market Insite (GMI 2005) in 17 Ländern, darunter die USA, Australien, Japan, Japan, China, Indien und verschiedene europäische Länder, ergab, dass 54 Prozent der Online-Konsumenten bereit wären, mehr für ökologische, umweltfreundliche oder Fair-Trade-Produkte zu bezahlen. Wie sieht die Politik des ethischen Konsums aus? Amann fasst zusammen (Amann 2015): Die Erfahrung in der Praxis weist auf die Kluft zwischen den erklärten Werten und Überzeugungen der Menschen und den Realitäten ihrer Alltagsroutinen und -gewohnheiten hin. Kritiker weisen auf die Grenzen einer Politik hin, die durch die Logik des Marktes definiert sei. Der

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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britische Umweltkommentator George Monbiot (2007) spricht von oberflächlichen Plattitüden des ethischen Konsums, die seiner Meinung nach die Menschen ermutigen, weiter zu konsumieren und dabei einfach weniger fürsorgliche Produkte durch andere zu ersetzen. Es stellt sich die Frage, ob marktorientierte Gesellschaften die ethische Fähigkeit besitzen, eine nachhaltige Konsumkultur zu entwickeln. Daher würde er vorschlagen, dass unsere Verpflichtung, ethisch zu konsumieren, nicht als bloßer Marketingtrick oder Statustrend für die fortschrittliche Mittelschicht beschönigt wird. Kommen wir tatsächlich auf dem Weg zu mehr ethischem Einkauf und Konsum voran? Die Idee sei ja beeindruckend. Mit ethischem Konsum könnten die Verbraucher die Welt verändern. Aber das Projekt hat kaum Fortschritte gemacht. Machen ethische Einkaufspraktiken dem Menschen wirklich ein besseres Gefühl?

4.15 Nachhaltige Umweltverantwortung Für den Dalai Lama bedeutet wahre Religion Transzendenz. Eine Anerkennung der Ganzheit und der Vollkommenheit der gesamten Schöpfung. Er spricht oft mitfühlend über unsere Welt, ihre Ökologie, das Bedürfnis nach Nachhaltigkeit und leider auch über unser mangelndes Umweltbewusstsein. Mitgefühl bezieht sich nicht nur auf unsere Mitmenschen, sondern umfasst auch unsere Verantwortung gegenüber der gesamten Schöpfung. Im rasanten Tempo des modernen Lebens, einschließlich unseres Ansturms, den technologischen Fortschritt ohne Rücksicht auf die Folgen zu nutzen, haben wir unsere Verbindung zur Natur verloren und damit nicht nur eine große Quelle der Lebensfreude, sondern auch unsere zukünftige Lebensgrundlage verloren. Hans-Peter Dürr hat diese Transzendenz, wie bereits erwähnt, nicht nur verstanden, sondern auch durch Offenbarungen erfahren, die sich aus einem Studium der Quantenphysik ergeben. In Gesprächen mit ihm erkannte ich immer sein tiefes Verständnis der Liebe als Quelle des Universums. Sein Engagement für die Pugwash-­Gruppe und seine Haltung gegen Atomkraft und Atomwaffen war ein Zeichen für seine Liebe zur Menschheit und für seine unermüdlichen Bemühungen um Frieden und eine nachhaltige Umwelt. Hans-Peter war unnachgiebig, dass jeder, der sich mit Aktivitäten beschäftigt, die Auswirkungen auf die Umwelt haben, die Verantwortung hat, ihr keinen Schaden zuzufügen. Er hielt auch die Aufrechterhaltung des Status quo für unzureichend und betonte, dass es unsere Pflicht sei, die Umwelt stets zu verbessern und sie in einem besseren Zustand zu belassen als vor unserer Intervention.

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4  Die Anwendung

Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung unserer Umwelt war die Arbeit und der 374 Seiten lange Bericht Our Common Future der Brundtland-Kommission 1987 im Auftrag der Vereinten Nationen. Hans-Peter Dürr definiert Nachhaltigkeit als die Fähigkeit, das Lebende lebendiger zu machen. Die Quelle für diese Initiative war seine Erfahrung der Transzendenz. Wenn wir uns nur auf unser Ego verlassen, um uns zu entscheiden und Umweltleitlinien zu erstellen, dann reichen Moral und Ethik im Umweltschutz nicht aus, um Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Der Beweis dafür ist überall um uns herum und nimmt von Tag zu Tag zu. Artikel 6 des zitierten Manifests Weltwirtschaftsethik ist eine wichtige und lobenswerte Richtlinie. „Der nachhaltige Umgang mit der natürlichen Umwelt des Menschen durch alle Teilnehmer am Wirtschaftsleben ist ein hoher Wert des wirtschaftlichen Handelns. Die Verschwendung von natürlichen Ressourcen und die Verschmutzung der Umwelt sind durch Ressourcen sparende Verfahren und umweltschonende Technologien zu minimieren. Zukunftsfähige, möglichst erneuerbare Energie, sauberes Wasser und unverschmutzte Luft sind Elementarbedingungen des Lebens überhaupt, zu denen jeder Mensch Zugang haben muss.“ (Küng et al. 2010, S. 159)

Die Ergebnisse der letzten Weltklimakonferenzen sind eher ernüchternd und völlig unbefriedigend in ihrer Unfähigkeit, Ergebnisse zu erzielen. Länder wie China und Indien, um nur zwei zu nennen, wollen zunächst ihren Lebensstandard an den der Industrieländer anpassen, bevor sie sich zu verbindlichen Klimazielen verpflichten. Die Produktion von Babynahrung in China ist ein Beispiel, das die unmoralischen Einstellungen und unethischen Praktiken veranschaulicht, die fortbestehen. USA Today berichtete am 31. August 2015, die chinesische Regierung habe bekannt gegeben, dass einer der größten Milchproduzenten des Landes die Formel verwässert und Melamin, eine chemische Verbindung, die bei der Herstellung von Kunststoffen und Klebstoffen verwendet wird, hinzugefügt hat. Sechs Kinder wären an Nierenversagen gestorben, 53.000 mit Nierenschäden oder anderen Krankheiten ins Krankenhaus eingeliefert worden und schätzungsweise 300.000 seien erkrankt. Die jüngsten Beschlüsse des Kommunistischen Parteikongresses im Oktober 2017 seien aber ein Indiz dafür, dass China damit beginnen könnte, Umweltfragen ernster zu nehmen. Es ist eine Tragödie, dass gleichzeitig in den USA die Trump-Regierung ihre Teilnahme an der Pariser Vereinbarung, die für einen verstärkten Umweltschutz

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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eintrat, annullieren will. Für Trump ist das unmittelbare wirtschaftliche Interesse der USA wichtiger als der Schutz der Umwelt für künftige Generationen. Die Klimakonferenz in Bonn im November 2017 hat einige Schritte zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens unternommen. Neben direkten Verhandlungen wurden auch freiwillige Aktionen eingeleitet. Damit wird im kommenden Jahr ein praktikables Regelwerk für das Klimaabkommen von Paris geschaffen, sodass die Anstrengungen aller Länder auf einer einheitlichen Skala gemessen werden können. Der Textentwurf zur Reduktion von Treibhausgasen umfasst jedoch 180 Seiten. Das Regelwerk wird auf der kommenden Klimakonferenz im polnischen Kattowitz verabschiedet. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Konferenz zu Veränderungen führen wird, die von grundlegender Bedeutung und Dringlichkeit sind. Fairerweise kann man auch gute Beispiele finden. Die Daten zeigen, dass das Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, die zum Abbau der Ozonschicht beitragen, ein Erfolg ist. Sowohl der Dalai Lama als auch Hans-Peter Dürr sehen in der nachhaltigen Umweltverantwortung nicht nur den Schutz der Umwelt, sondern auch deren Weiterentwicklung. Der Appell von Dürr, das Lebende lebendiger zu gestalten, kann als Appell an die Umwelt neu formuliert werden. So hat er mir in vielen Gesprächen die Maxime für mein berufliches Wirken mit auf den Weg gegeben: cc

„Bitte hilf der Natur, natürlich zu bleiben“ (Dürr)

Das bisher von Knauer vertretene duale Handlungsprinzip der Ethik gilt auch für das Engagement in der Umwelt. Jede Intervention hat zwei oder mehr Wirkungen, die berücksichtigt und abgewogen werden müssen. Man muss sich dieser Doppelwirkung bewusst sein und eine positive Bilanz ziehen. Bei der Ausbeutung von Rohstoffen, mit Ausnahme von nachwachsenden Rohstoffen, sind sie unersetzlich. Eine schonende Ernte ist eine Grundvoraussetzung. Im Mittelpunkt muss immer die Frage stehen, ob die aus den Ressourcen hergestellten Endprodukte zum Wohle der Menschheit dringend benötigt werden oder nicht. Nur wenn sie es sind, kann argumentiert werden, dass ihre Verwendung gerechtfertigt ist. Nachfolgend einige Beispiele. Nimmt man Salz von der Erde, so ist der Schaden wegen des Salzreichtums minimal. Seine Verwendung ermöglicht die Herstellung chemischer Verbindungen durch Chloralkali-Elektrolyse, Verbindungen, die für unsere Gesellschaft von großem Wert sind. Deshalb ist dies akzeptabel. Für eine vollständige Umweltprüfung müssen wir aber auch den hohen Energieverbrauch der Elektrolyse berücksichtigen.

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4  Die Anwendung

Auch wenn man Sand von der Erde nimmt, ist der Schaden vernachlässigbar gering und der Vorteil ist die Herstellung von Siliziumwafern für die Elektronikindustrie. Das bringt auch Vorteile für unsere Gesellschaft. Nimmt man Kohle, Gas und Öl von der Erde, ist die Balance zwischen Nutzen und Schaden nicht ganz so einfach zu berechnen. Die Stromerzeugung in Kohlekraftwerken ist wegen der daraus resultierenden Kohlendioxidemissionen und der daraus resultierenden negativen Auswirkungen auf unser Klima in die Kritik geraten. Diese Technologie ist in den Industrieländern auf dem Rückzug, aber in den Entwicklungsländern gibt es oft nur sehr wenige tragfähige Alternativen. Als Kohlekraftwerke in Verruf gerieten, nahm die Energieproduktion aus Öl und Gas zu. In einigen Ländern, wie z. B. Deutschland, waren Gaskraftwerke jedoch kaum in Betrieb, bevor sie aufgrund des technischen Fortschritts, der eine kostengünstige Stromerzeugung aus Solar- und Windkraft ermöglicht, unrentabel wurden. Es ist schwierig, die Verwendung von Öl und Gas für die Stromerzeugung zu rechtfertigen. Sie sind besser dran, wenn sie als chemische Rohstoffe für zukünftige Generationen ungenutzt bleiben. Die Erzeugung von Energie aus Kernenergie gilt seit Langem als umweltfreundlich und kostengünstig, die Umweltrisiken wurden jedoch bewusst unterschätzt. Der Unfall von Fukushima nach der Tschernobyl-Katastrophe hat alles verändert. Umweltrisiken werden nun als signifikant erkannt. Die Kosten für die Behandlung und/oder Entsorgung der bei der Stromerzeugung aus verschiedenen Quellen anfallenden Rückstände sind zu wenig beachtet worden. Den Wunsch nach moderner, sauberer und kostengünstiger Energieerzeugung mit dem Vorbehalt der Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen, ist eine gewaltige Herausforderung. Es gibt elektronische Bauteile, die nur mit seltenen Erden hergestellt werden können, die ihrerseits nur in sehr begrenztem Umfang verfügbar sind. Da die Lagerstätten weiter abnehmen, muss die Ersatzforschung deutlich verstärkt werden. Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob im Großen und Ganzen alle digitalen elektronischen Komponenten, die produziert werden, für die Menschheit von wesentlicher Bedeutung sind.

4.15.1 Der Volkswagen-Skandal Elf Millionen Autos wurden mit Dieselmotoren verkauft, die die gesetzlich vorgeschriebenen Werte für die NO2-Emissionen nicht erreichen konnten. Elf Millionen Käufer wurden getäuscht, und zahllose Millionen andere, die unwissentlich giftige Abgase einatmen, wurden zum Opfer gemacht.

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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Im Zusammenhang mit der Corporate Social Responsibility (CSR) wurde in der Öffentlichkeit das Verhalten von VW als Corporate Social Irresponsibility bezeichnet. Das Konzept sah vor, einen Dieselmotor zu entwickeln, der sehr wenig Dieselkraftstoff verbraucht, wobei dieser niedrige Kraftstoffverbrauch ein starkes Marketinginstrument darstellt. Um dieses Konzept zu vermarkten, wurde die da­ raus resultierende Umweltverschmutzung von VW als Konsequenz akzeptiert und es wurde eine Software entwickelt und installiert, die die Emissionswerte während der Prüfung kontrolliert und manipuliert, um niedrigere als die tatsächlichen Emissionswerte zu erhalten. Nachdem alle Beweismittel zusammengetragen und geprüft wurden, ist es Aufgabe der zuständigen Behörden, ein Urteil zu fällen. Mittlerweile ist VW die große Projektionswand, auf die jeder seine ähnlich dunklen Aktivitäten projizieren kann, um die Aufmerksamkeit von sich selbst abzulenken. Kann es ein stärkeres Argument dafür geben, die alten ethischen Ansätze durch eine neue integrale Ethik zu ersetzen? Volkswagen ist wie kein anderer Automobilhersteller eng mit der deutschen Regierung verflochten. Es ist ein eng geknüpftes, hierarchisches Unternehmen mit dem Anspruch, der größte Autohersteller der Welt zu werden. Die scheinbare Einhaltung moralischer Grundsätze und ethisch vertretbarer Verhaltensweisen ist nicht so wichtig wie die Erfüllung von Umsatzerwartungen und höheren Gewinnen. In einem Gespräch mit dem Magazin Cicero am 11. Oktober 2015  in Berlin über Macht und Moral diskutierten der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und Klaus Engel, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Evonik Industries AG, über den Volkswagen-Skandal. Schröder betonte, der schlimmste Teil des Abgasskandals sei der Vertrauensverlust von Kunden, Aktionären und Gesellschaft. VW hatte klare Gesetzesverstöße begangen, aber die Verantwortung sollte nicht von den Arbeitern am Fließband getragen werden. Ein allgemeines VW-Bashing sei nicht angemessen, fair oder konstruktiv. Vielmehr müsse das Top Level Management Team die oberste Verantwortung übernehmen, wobei auch die verantwortlichen Manager der unteren Ebene ihren Anteil an den Schadensfällen tragen. Kannten nur wenige bei VW die Manipulation der Abgasuntersuchung? Ein Verhaltensforscher vermutet etwas ganz anderes. Wie kam es in einem seriösen Unternehmen wie Volkswagen über Jahre hinweg zu solch schwerwiegenden und anhaltenden Betrügereien? Diese Fragen sind nicht nur für Staatsanwälte, Politiker und VW-Kunden wichtig, auch Forscher suchen nach Antworten. „Im vorliegenden Fall müssen viele Mitarbeiter und Führungskräfte von der Manipulation gewusst haben“, sagt Bernd Irlenbusch, Professor für Unternehmensentwicklung und Wirtschaftsethik an der Universität zu Köln (Irlenbusch 2015). Dies steht im Widerspruch zu den Aussagen des neuen VW-Vorstandsvorsitzenden

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4  Die Anwendung

Matthias Müller, der in der FAZ wenige Tage nach seiner Ernennung erklärt hatte, dass nach heutigem Kenntnisstand nur wenige Mitarbeiter beteiligt waren. Wenn Irlenbusch Recht hat, ist die Frage umso dringlicher, warum in dem Riesenunternehmen kein einziger Manager lautstark gegen den Betrug an Kunden und Behörden protestiert hat. Irlenbusch, der durch viele empirische Studien das moralische Verhalten von Menschen untersucht hat, sieht eine Reihe von Bedingungen, die das Fehlverhalten begünstigen könnten. Es sei möglich, dass die Mitarbeiter auf einer moralisch geneigten Ebene informiert werden, wobei jeder Einzelne nicht über alle Fakten verfüge. Auf dem Weg dorthin gebe es viele kleine Schritte, die es ermöglichen könnten, dass die Emissionswerte im Test besonders vorteilhaft erscheinen. Das Problem sei, dass man solche kleinen Schritte, die von sich selbst oder anderen unternommen werden, kaum bemerkt und damit gerechtfertigt werden könne. Das Mr. Clean-Image von Volkswagen führte zu moralischen Verzerrungen. Darüber hinaus beobachteten die Forscher eine Reihe von Verzerrungen in der Organisation, die die Täuschung begünstigt haben könnten. VW hatte lange das Image des sehr sauberen Automobilherstellers. Was tatsächlich positiv erscheint, kann zum Problem werden. Studien mit Freiwilligen haben gezeigt, dass Menschen, die von ihrem moralischen Verhalten überzeugt sind, ihre gelegentlichen Fehltritte mehr rechtfertigen können, als sie es bei anderen tun würden. Irlenbusch spricht von einer moralischen Lizenz. Noch systematischere Verzerrungen im moralischen Verhalten, wie Konformität, Gehorsam in Hierarchien oder Gruppenzwang scheinen in der Natur des Menschen zu liegen. Angesichts dieser Erkenntnisse lassen sich Mängel in Organisationen nicht allein durch den Verweis auf einzelne Mitglieder erklären. John Pennekamp (2015) meint, dass Unternehmen und ihre Compliance-­ Abteilungen zusammenarbeiten müssten, um gemeinsam mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft innovative Wege zu finden, damit Bedingungen geschaffen werden können, die eine solche systematische Verzerrung des moralischen Verhaltens von Mitgliedern einer Organisation reduzieren. Im Oktober 2015 berichteten die Medien (Kafsack et al. 2015), dass die Bundesregierung bei Gesprächen in Brüssel versucht habe, die Verabschiedung strengerer Grenzwerte für Schadstoffemissionen von Autos zu verhindern. In einer Debatte über einen der Vorschläge der EU-Kommission für neue Grenzwerte wurden die Vertreter aus Deutschland anschließend von VW kritisiert, weil sie nicht auf weniger strenge Anforderungen drängten. Es war, als hätte es den Skandal um die Manipulation von Emissionswerten nie gegeben. Die anderen VW-Staaten mit Vertretern aus Tschechien und der Slowakei haben sich angeblich gegen die Vorschläge der Kommission gewandt.

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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Der Volkswagen-Vorstand hat angeblich über die Manipulationssoftware nichts gewusst. Nach Erfahrungen in ähnlichen autoritären Unternehmenskulturen weiß in der Regel der Vorstand alles und kontrolliert alles. Er übt stets Druck nach unten aus. Dieses Verhalten kann immer wieder zu Fehlverhalten führen. Was nicht erlaubt ist, wird unterdrückt und in den Schatten verdrängt, bis das dunkle Potenzial es nicht mehr halten kann. Die dunkle Seite bricht dann letztendlich aus, wenn alles offengelegt wird. Die Öffentlichkeit ist schockiert. Die Gegenströmung begann, wie Gaede es früher erklärt hatte, unmerklich zu wirken, lange bevor sich die unethischen Handlungen manifestierten. Dies ist da­ rauf zurückzuführen, dass die Mitglieder des Vorstands und die Führungskräfte weiterhin nur von der Ebene des Verstandes aus agieren, anstatt ihre Entscheidungsfindung auf die Ebene der Vernunft zu heben. Der Verstand ist immer für die Schaffung von Dingen verantwortlich, die dazu bestimmt sind, den Gewinn zu steigern. Dem trägt der Einzelne Rechnung, indem er sich in Zurückhaltung und manchmal sogar in Unterdrückung flüchtet. Bei VW scheinen sich die dunklen Schattenkräfte etwa alle zehn Jahre auszudrücken. 1996 musste Ferdinand Piëch den Einkaufschef von VW, Lopez, den er zuvor von General Motors abgeworben hatte, entlassen. Was war passiert? Kurylko und Crate (2006) berichteten in Automotive News Europe, dass Anfang 1993 die Branche von Gerüchten überflutet wurde, weil Lopez daran interessiert sei, VW beizutreten. Ferdinand Piëch, Vorsitzender des VW-Konzerns, hatte Lopez bemerkt und Jens Neumann, damals Vorstandsmitglied von VW, geschickt, um den Spanier zu werben. VW war Europas Marktführer, aber auch der kostenstärkste Automobilhersteller. Piëch wollte, dass Lopez dieses Problem behebt. Piëch versprach ihm, dass VW ein Autowerk im spanischen Baskenland bauen würde, was ein Traum von Lopez war. Er versprach auch, dass VW das Lean Production System Plateau 8 von Lopez in seinem Stammwerk in Wolfsburg installieren und ein neues Stadtauto montieren würde, das nur sieben Arbeitsstunden benötigte. Im Rahmen des Lopez-Systems sollten die Lieferanten Komponentenmodule für die Montage in der Fabrik bereitstellen und die Verantwortung für die Einheit durch abschließende Qualitätskontrollen und die Lieferung übernehmen. Bei dem Zusammenstoß traten zwei Giganten, VW und GM, gegeneinander an, weil sie wegen Dokumentenklau, Unternehmensspionage und Patentverletzung angeklagt wurden. In Deutschland und den USA wurden Strafanzeige und Zivilklagen erhoben. Persönliche und berufliche Beziehungen wurden zerstört. 1997, nach Jahren, in denen sie sich gegenseitig mit giftigen Beleidigungen und Anschuldigungen beschimpft hatten, einigten sich die erschöpften Unternehmen darauf, ihre Zivilklagen beizulegen. Im folgenden Jahr wurde das Strafverfahren in Deutschland

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4  Die Anwendung

e­ingestellt. Ein US-amerikanisches Strafverfahren wurde eingestellt, aber nicht formell eingestellt. Im Jahr 2005 brach der nächste Skandal aus dem Schatten aus, als der Betriebsrat mit Sex-Partys in Verbindung gebracht wurde. Daily Mail berichtete am 24. September 2015, dass der Autogigant Volkswagen nun auf dem Schrottplatz des Unternehmertums gelandet zu sein scheint und damit den Ruf der weltweit beliebten Marke Made in Germany mit sich zieht. Der weltgrößte Autohersteller sei seit drei Jahrzehnten in Kontroversen, Korruption, Schurken- und Sexskandalen verstrickt. Branchenexperten würde sagen, dass sich arrogante Bosse unbesiegbar fühlten. Prostituierte, Viagra auf Sex-Partys seien an der Tagesordnung. Wie der jüngste Emissionsskandal zeige, habe VW nichts aus seiner trüben Vergangenheit gelernt. Da der aktuelle Skandal Ende 2017 noch immer anhält, stellte sich die Frage, ob CEO Matthias Müller mit einem Verbleib rechnen kann. Der Ruf nach seiner Entlassung ist in solchen Krisen weitverbreitet. Wenn er von der Manipulation wusste, ist die Entlassung gerechtfertigt, und wenn er es nicht wusste, dann weiß er nicht, was in der Firma vor sich ging, und muss deshalb gefeuert werden. Außerdem benötigt ein Unternehmen einen CEO als Opfergabe. Dies ist ein weitverbreitetes, lang andauerndes Ritual. Müller musste letztendlich gehen wie Martin Winterkorn auch. In den unteren Rängen wurden einige Experten, die angeblich das Ganze allein ausgeheckt haben, entlassen. Dann geht es darum, den Schaden zu begrenzen und neu anzufangen. VW möchte den Eindruck erwecken, dass sie als Institution immer bereit ist, den moralischen Weg zu gehen, mit nur wenigen Schurken, die kriminell gehandelt haben. Die Realität ist, dass es in jeder großen Organisation viele verdrängte und unterdrückte Schattenseiten gibt, die unweigerlich zu unethischen Praktiken führen. Die Herausforderung ist immer, wie man mit dieser Realität umgeht. Wenn es an weiser Führung mangelt, dann wird die Dunkelheit immer einen Weg finden, sich zu manifestieren. Auch 2020 sind die Auswirkungen des VW-Skandals noch spürbar. Man hat in einem Vergleich den deutschen Diesel-Kunden € 750 Mio. angeboten. Weitere Geschädigte werden weiterklagen. VW wird überleben. Die Verkaufszahlen für 2019 sind gut. Wie im Kapitel Ethischer Konsum ausgeführt, gilt für den Konsumenten: Geiz ist geil. Die Verbraucher werden weiterhin VWs kaufen, wenn sie besser und billiger sind als andere Autos, egal was aus dem Auspuff kommt. Der Verbraucher unterdrückt sein eigenes Fehlverhalten. Natürlich hatte VW sich auch 2014 verpflichtet, ethische Prinzipien einzuhalten:

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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„Die Einhaltung international gültiger Regeln und der faire Umgang mit unseren Geschäftspartnern und Wettbewerbern gehören zu den wichtigsten Grundsätzen unseres Unternehmens. Volkswagen fühlt sich seit jeher nicht nur an gesetzliche und interne Bestimmungen gebunden. Auch freiwillig eingegangene Verpflichtungen und ethische Prinzipien sind integrale Bestandteile unserer Unternehmenskultur. Der Volkswagen Konzern setzt sich auch über die eigenen Unternehmensgrenzen hinaus für die Bekämpfung von Korruption und anderen Wirtschaftsstraftaten ein. Seit 2002 arbeiten wir als Mitglied des Global Compact der Vereinten Nationen zusammen mit über 12.000 Teilnehmern aus mehr als 145 Ländern daran, die Weltwirtschaft nachhaltiger und gerechter zu gestalten. Bekenntnis zur Compliance auf oberster Ebene: Compliance ist eine Grundvoraussetzung für nachhaltiges Wirtschaften  – diese Auffassung teilt auch die Unternehmensführung ausdrücklich. Im Berichtsjahr unterstrichen unter anderem der Konzernvorstand für Marketing und Vertrieb sowie der Konzernvorstand für Beschaffung gegenüber der Belegschaft die Bedeutung von Compliance sowohl für ihre Fachbereiche als auch für das gesamte Unternehmen. Präventives Compliance-Managementsystem: Compliance ist im Volkswagen-Konzern ein wesentlicher Teil der Governance, Risk & Compliance (GRC)-Organisation (siehe auch Risiko- und Chancenbericht). Dabei verfolgt Volkswagen einen präventiven Compliance-Ansatz und strebt eine Unternehmenskultur an, die die Belegschaft sensibilisiert und aufklärt und so potenzielle Regelverstöße bereits im Vorfeld ausschließt. Konzern-Revision und Konzern-­ Sicherheit führen die notwendigen investigativen Tätigkeiten regelmäßig aus, überprüfen systematisch die Regeleinhaltung und führen verdachtsunabhängige, stichprobenartige Kontrollen sowie Sachverhaltsermittlungen bei konkreten Verdachtsfällen durch. Das Personalwesen und das Konzern-Rechtswesen setzen die reaktiven Maßnahmen um. Im Sinne eines ganzheitlichen Compliance-Managementsystems sind diese Prozesse eng miteinander verzahnt. Dennoch sind wir uns bewusst, dass selbst das beste Compliance-Managementsystem kriminelle Handlungen Einzelner niemals vollständig verhindern kann. Verschiedene Gremien im Konzern und in den Markengesellschaften unterstützen die Arbeit der Compliance-Organisation. Dazu zählen unter anderem der Compliance-­ Rat auf Ebene des Top-Managements und das Compliance-Kernteam, das die Verzahnung mit den Fachbereichen sicherstellt.“ (VW 2014)

Am 9. Dezember 2017 berichtet die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), dass Hans Dieter Pötsch, Aufsichtsratsvorsitzender, bestätigt habe, dass VW erhebliche Fehler gemacht hat. Durch die unmoralischen Entscheidungen und unethischen Praktiken seien enorme Schäden entstanden. Für die Jahre 2015 bis 2017 wurde eine Geldbuße in Höhe von € 25,5 Mrd. verhängt, von denen € 17,5 Mrd. bereits gezahlt worden wären. Mehrere Führungskräfte würden in den USA angeklagt. Einer, der für Umweltfragen von VW in Amerika zuständig war, sei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. 2017 Schreibt dann der Konzernvorstand im Vorwort zu einer Neuausgabe der Verhaltensgrundsätze:

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4  Die Anwendung

„Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Vertrauen der Kunden und Stakeholder in unser Unternehmen und in seine Produkte ist unser höchstes Gut. Es ist daher unsere gemeinsame Aufgabe, dieses Vertrauen durch integres und aufrichtiges Verhalten täglich neu zu sichern. Dazu gehört, dass wir alle die geltenden internen Regeln und gesetzlichen Vorgaben kennen – und sie einhalten.“

Wie ich in der Praxis vielfach erfahren habe, werden ethische Leitlinien von einem Konsortium von PR-Beratungen im Auftrag des Vorstands entwickelt und vom Vorstand bis zu einem gewissen Grad als PR-Maßnahme verabschiedet. Sie sind nicht intrinsisch für die innere Verfassung des Aufsichtsrates und des Vorstands oder der Gesellschaft und gehören daher nicht denjenigen, für die sie gelten. Offensichtlich ist es nicht nur die Volkswagen AG, die die Daten in der Automobilindustrie manipuliert hat. Andere nationale (BMW, Audi und Mercedes) und internationale Automobilhersteller werden ebenfalls beschuldigt. Im Jahr 2016 weitete sich der Skandal auf fehlerhafte Kraftstoffverbrauchstests von Mitsubishi Motors aus. Präsident Tetsuro Aikawa gab zu, dass sein Unternehmen 25 Jahre lang andere Testmethoden als die in Japan vorgeschriebenen verwendet hat. Kunden kauften die Fahrzeuge auf der Grundlage falscher Verbrauchsdaten. Ethische Richtlinien haben VW nicht vor einer Katastrophe bewahrt. Jede In­ stitution, die von ihren Mitarbeitern bedingungslosen Gehorsam und Leistung verlangt, muss die Verantwortung für das Fehlen sinnvoller, wirksamer moralischer Einstellungen und ethischer Praktiken übernehmen. Das zuvor beschriebene Milgram-Experiment hat deutlich gezeigt, dass, wenn ein Manager einen Untergebenen auffordert, betrügerisch zu handeln, dies geschieht, oft ohne Schuldgefühl, vor allem dann, wenn andere Kollegen sich ebenfalls daran halten. Wenn Achtsamkeit und Mitgefühl fehlen, kann es keine innere Reife geben, weder auf persönlicher noch auf institutioneller Ebene. Wie geht es weiter? Ist es nicht auch wahrscheinlich, dass es andere Produkte gibt, die wissentlich hergestellt werden, zum Beispiel in der deutschen chemischen Industrie, deren Risiken die gesetzlichen Grenzwerte überschreiten? Man muss immer empfänglich sein für schnell aufkommende neue Informationen und Erkenntnisse. Unsere gesamte Kultur muss sich allmählich verändern, um sicherzustellen, dass Topmanager bereits einen inneren Wachstumsprozess abgeschlossen oder zumindest begonnen haben, sei es christlich, spirituell oder tiefenpsychologisch.

4.15.2 Chemische Industrie Aus meiner Sicht, basierend auf meiner 50-jährigen Erfahrung in der chemischen Industrie, wäre es unvorstellbar, dass ein Chemieunternehmen seit geraumer Zeit außerhalb der bestehenden Umwelt- und Sicherheitsvorschriften tätig ist. Es gibt

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zweifellos Beispiele aus der ferneren Vergangenheit, aber die Mentalität hat sich geändert. Da ich meine berufliche Laufbahn in der chemischen Industrie verbracht habe, u. a. als Vorstandsvorsitzender der Hüls AG und als Präsident 1998/1999 der GDCh (Gesellschaft Deutscher Chemiker), ist es passend, dass ich zum Abschluss dieses Kapitels auf die nachhaltige Umweltverantwortung in dieser Branche eingehe. Als ich in den frühen 70er-Jahren in der Titandioxidindustrie arbeitete, war es üblich, dass die bei der Herstellung von Titandioxid anfallende Abfallschwefelsäure mit Spezialschiffen in die Nordsee verklappt wurde. Der verantwortliche Produktionsleiter scherzte an Bord des Schiffes: „Die Fische, die Abfallschwefelsäue. Sie schwimmen hinter dem Schiff her und trinken sie.“ Da diese Praxis von den Behörden erlaubt war, stellte ich nicht in Frage, ob es sich um unethisches Verhalten handelte, das für ethische Manager nicht akzeptabel war. Ich hatte keine spezifische ethische Ausbildung. Die Situation hat sich vor vielen Jahren geändert. Jetzt wird die Abfallsäure recycelt, allerdings mit höheren Kosten. Für viele Menschen ist Chemie immer noch schwer zu verstehen und deshalb abschreckend. Wir alle brauchen die von dieser Industrie hergestellten Produkte, aber durch schlechte Kommunikation und Unfälle, die weltweit Beachtung fanden, hatte sich die chemische Industrie einen schlechten Ruf erworben. Zahlreiche positive Innovationen haben unser Leben verbessert, aber wenn ein unglücklicher, dramatischer Zwischenfall eintritt, sind die Vorteile vorübergehend vergessen. Anfang der 1920er-Jahre zerstörte eine Explosion die Chemiefabrik der BASF in Oppau und tötete 561 Menschen. Noch schlimmer traf es die Menschen in Bhopal/ Indien 1982, als eine Pestizidanlage von Union Carbide explodierte. Tausende starben, und viele Überlebende sind mit lebenslangen Gesundheitsproblemen belastet. Vor dieser menschlichen Tragödie hatte Seveso bereits 1976 die chemische Industrie erschüttert. Time Magazine berichtete: „Am 10. Juli 1976 löste eine Explosion in einer norditalienischen Chemiefabrik eine dicke, weiße Dioxinwolke aus, die sich schnell in der Stadt Seveso nördlich von Mailand niederließ. Zuerst begannen die Tiere zu sterben, wie TIME etwa einen Monat nach dem Vorfall schrieb. Ein Bauer sah seine Katze sterben, und als er die Leiche abholen wollte, fiel der Schwanz ab. Als die Behörden die Katze zwei Tage später zur Untersuchung ausgruben, sagte der Landwirt, blieb nur noch ihr Schädel übrig. Es dauerte vier Tage, bis die Menschen anfingen, sich krank zu fühlen – darunter Übelkeit, verschwommenes Sehen und vor allem bei Kindern die entstellenden Wunden einer Hautkrankheit, die als Chlorakne bekannt ist  – und Wochen, bevor die Stadt selbst evakuiert wurde. Die Bewohner kehrten schließlich in die Stadt zurück und heute befindet sich ein großer Park über zwei riesigen Tanks, in denen sich die Überreste von Hunderten von geschlachteten Tieren, die zerstörte Fabrik und der Boden, der die höchsten Dioxindosen erhielt, befinden.“

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4  Die Anwendung

Nachfolgend weitere Details: „In der Chemiefabrik Industrie Chimiche Meda Società Azionaria in Meda bei Mailand brach ein Ventil aus, das eine Wolke von Dioxin enthaltenden Chemikalien freisetzte, die schätzungsweise 50 Meter in den Himmel waberte. Die giftige Wolke, die vom Wind nach Südosten getragen wurde, umhüllte die Gemeinde Seveso und andere Gemeinden der Region. Etwa 3000 kg Chemikalien wurden nach Angaben einiger Forscher in die Luft freigesetzt. Unter ihnen war 2.4.5 Trichlorphenol, das bei der Herstellung von Herbiziden verwendet wurde, und zwar zwischen etwa 100 Gramm und 20  kg Dioxin. Die ersten Anzeichen von Gesundheitsproblemen, brennbaren Hautveränderungen, traten bei Kindern wenige Stunden nach dem Unfall auf. Anfang September dieses Jahres brach Chlorakne, eine schwere Hauterkrankung, die normalerweise mit Dioxin in Verbindung gebracht wird, bei einigen der Menschen aus, die der Wolke am meisten ausgesetzt waren. In den ersten sieben Jahren nach dem Unfall wurde ein unglaublich hoher Anteil von Kindern von Frauen bei Eltern geboren, die der chemischen Wolke ausgesetzt waren: 46 Mädchen im Vergleich zu nur 28 Jungen. In der Regel ist der Anteil ungefähr gleich groß. ‚Dies war das erste Mal, dass eine Chemikalie beobachtet wurde, um das Geschlechterverhältnis zu ändern‘, erklärte c, der Chemiker, der für die Untersuchung verantwortlich war. ‚Es gibt kein anderes Molekül, von dem bekannt ist, dass es eine Veränderung des Geschlechtsverhältnisses herbeiführt‘, sagte er und fügte hinzu, dass dies Dioxin als Hormonstörer impliziert. Die Opfer des Seveso-Unfalls berichteten auch über Symptome anderer Leiden – Immunsystem und neurologische Störungen sowie spontane Fehlgeburten –, aber Studien fanden keinen Zusammenhang mit Dioxin. Allerdings wurden in einer exponierten Gruppe geringfügige Zunahmen bei einigen Krebsarten festgestellt, was auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Dioxin und Krebs hindeutet.“ (Corliss 1999)

Während das Time Magazin berichtete, dass Seveso einer der schwersten Umweltunfälle ist, berichtete es auch über Tschernobyl, Kuwaiti Oil Fire, Exxon Valdez, Tokaimura Nuclear Plant und zwei weitere, die folgten.

4.15.2.1  Minamata-Krankheit „Am 3. Mai 2010 berichtete TIME, dass die Bewohner von Minamata, einer Stadt auf Kyushu, Japans südwestlichster Insel, jahrelang ein merkwürdiges Verhalten bei Tieren, insbesondere bei Hauskatzen, beobachtet hätten. Die Katzen würden plötzlich zittern und manchmal ins Meer springen, um dort zu sterben – die Stadtbewohner bezeichneten das Verhalten als Cat Dancing Disease. Im Jahr 1956 wäre der erste menschliche Patient der sogenannten Minamata-Krankheit identifiziert worden. Zu den Symptomen gehörten Krämpfe, undeutliche Sprache, Verlust der Motorik und unkontrollierbare Bewegungen der Gliedmaßen. Drei Jahre später wäre eine Untersuchung zu dem Schluss gekommen, dass die Krankheit auf eine industrielle Vergiftung der Minamata Bay durch die Chisso Corporation zurückzu-

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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führen gewesen wäre, die lange Zeit einer der größten Arbeitgeber der Hafenstadt war. Infolge der Abwasserbelastung durch den Kunststoffhersteller fanden große Mengen Quecksilber und andere Schwermetalle ihren Weg in die Fische und Schalentiere, die einen großen Teil der lokalen Ernährung ausmachten. Tausende von Bewohnern hätten im Laufe der Jahrzehnte langsam gelitten und sind an der Krankheit gestorben. Viele hätten nie eine Entschädigung von der beleidigenden Chisso Corporation erhalten.“

4.15.2.2  Three Miles Island Nuclear Nightmare stand am 9. April 1979 auf dem Cover des Time Magazins. Am 28. März sei der Three-Mile-Island-Kernreaktor bei Harrisburg, Pa. teilweise eingeschmolzen. Zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Jane-Fonda-Films „Das China-Syndrom“ war der Vorfall auf Three Mile Island zum Auslöser der Angst vor der Atomindustrie geworden. Die ironische Sache sei, dass, während die Katastrophe als einer der schlimmsten Nuklearunfälle Amerikas bekannt geworden sei, nicht viel wirklich passiert ist. Niemand sei gestorben, und die Anlage selbst sei immer noch in Betrieb. Während die nahe Schmelze häufig als der Grund zitiert würde, aufgrund dessen kein neues Kernkraftwerk in Amerika in den letzten 35 Jahren errichtet worden ist, hätte die Industrie wirklich angefangen, den Aufbau zu verlangsamen, bevor das Unglück auf Three Miles Island überhaupt geschah. cc

Wie können wir es besser machen?

In zu vielen Fällen sind Produktion, Profit und Leistung wichtiger als die Berücksichtigung moralischer Verantwortung und ethischer Praktiken. Wenn man für ein Chemieunternehmen verantwortlich ist, stellt sich unweigerlich die Frage, ob damit auch die Verantwortung für die von ihm hergestellten chemischen Produkte verbunden ist. Als Vorstandsvorsitzender der Hüls AG stand ich vor der Frage nach der Toxizität von Nonylphenol. Nonylphenol und ähnliche Verbindungen werden bei der Herstellung von Antioxidanzien, Schmieröladditiven, Wasch- und Geschirrspülmitteln, Emulgatoren und Lösungsvermittlern verwendet. Das ist ein riesiger Markt. Diese Verbindungen sind auch Vorläufer der kommerziell wichtigen nichtionischen Tenside Alkylphenolethoxylate und Nonylphenolethoxylate, die in Waschmitteln, Farben, Pflanzenschutzmitteln, Körperpflegemitteln und Kunststoffen verwendet werden. Wenn Octylphenol nach Sicherheitsstandards hergestellt wird, die den Schutz der Umwelt berücksichtigen, gibt es keine Einwände gegen seine Herstellung. Die Wirkung dieser Chemikalie in der Umwelt hängt wesentlich davon ab, wie sie eingesetzt wird. Wenn die daraus hergestellten Produkte die Freisetzung von Octyl-

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4  Die Anwendung

phenol in die Umwelt ermöglichen, dann ist die Produktion dieser Derivate und die Vermarktung ein Problem. Der Hersteller dieser chemischen Verbindungen muss dann entscheiden, wer die Verantwortung für die Anwendung der Produkte übernehmen muss. Wenn Octylphenol bei der Bildung von Verbindungen verwendet wird, die letztendlich verhindern, dass Octylphenol in die Umwelt gelangt, ist die Anwendung akzeptabel. Nonylphenol und Octylphenol gehören zur Gruppe der Alkylphenole, von denen man annimmt, dass sie das hormonelle Gleichgewicht der Fische stören. Die chemische Struktur ist für die Störung ihres endokrinen Systems verantwortlich. Die Substanzen binden sich an eine Östrogenrezeptorstelle in den Hormonsystemen der Wirbeltiere und blockieren deren beabsichtigte Funktion. Dieser Rezeptor wird z. B. auch durch 17-Beta-Östradiol in humanen Antibabypillen aktiviert. Bei Fischen führt die Exposition gegenüber östrogenähnlichen Substanzen zu Missbildungen in den Geschlechtsorganen, die deren Fortpflanzungsfähigkeit negativ beeinflussen. Bei höheren Konzentrationen können sie auch dazu führen, dass das Wachstum männlicher Fische verlangsamt wird. Nach einem Chemieunfall am 22. Februar 1993 bei der Hoechst AG in Frankfurt am Main mit zehn Tonnen Chemikalien, darunter auch Nitroanisol, das als krebsverdächtig gilt, erkannte die chemische Industrie in Deutschland, dass alle Produktionsanlagen wesentlich sicherer arbeiten müssen. Bisher zeigen die sehr strengen Auflagen, die wir letztendlich angenommen haben, dass wir auf dem richtigen Weg sind, Verantwortung für eine sichere und nachhaltige Produktion zu übernehmen. Chemikalien sind nicht von Natur aus schlecht, es ist die Art und Weise, wie der Mensch sie einsetzt, der darüber entscheidet, ob sie schädlich oder vorteilhaft für Mensch, Tier und Umwelt sind. So wurde beispielsweise Chlor, das als Rohstoff für die Herstellung unzähliger äußerst nützlicher Produkte verwendet wird, vor 105 Jahren auch als chemische Waffe im Ersten Weltkrieg gegen die Franzosen eingesetzt. Nach dieser unmenschlichen Praxis haben Chemiker noch effizientere chemische Waffen entwickelt. Die Verantwortung der chemischen Industrie geht weit über die Produktion hinaus. Die Chemiker müssen durch ihre verschiedenen Organisationen ihre moralische Verpflichtung sowohl bei der Herstellung als auch beim Einsatz chemischer Waffen anerkennen. EuCheMS (European Chemical Sciences) berichtete in der September-Ausgabe 2015: „100 Jahre nach dem ersten Einsatz, am 21. April 2015, versammelten sich die Botschafter der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) in Ypern, um derjenigen zu gedenken, die an diesen schrecklichen Giftstoffen gestorben sind, um der Stadt Ypern eine Gedenktafel zu überreichen, eine neue Erklärung über chemi-

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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sche Waffen, die Ypern-Erklärung, zu initiieren und die Fortschritte bei der Beseitigung dieser Waffen zu überprüfen. Die Chemiker waren vertreten durch Thomas Geelhaar (Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker), David Phillips (ehemaliger Präsident der Royal Society of Chemistry) und David Cole-Hamilton (Präsident von EuCheMS). Gemeinsam forderten sie ein weltweites Verbot chemischer Waffen und setzten sich dafür ein, dass sich kein Chemiker an ihrer Entwicklung oder ihrem Einsatz beteiligen sollte.“

Zusammen mit anderen Chemikern begrüße ich die Annahme des Ethikkodex, der alle chemischen Waffen anprangert. Er wurde im September 2015 von der OPCW in Den Haag mit maßgeblicher Unterstützung der Gesellschaft Deutscher Chemiker, vertreten durch meinen Kollegen Professor Dr. Henning Hopf, ebenfalls ehemaliger Präsident der Deutschen Chemischen Gesellschaft, ausgerufen.

4.15.2.3  Der Haager Ethikkodex Wie lautet der Haager Ethikkodex? „Die verantwortungsvolle Praxis der Chemie verbessert die Lebensqualität von Mensch und Umwelt. Durch ihre vielen friedlichen Nutzungen, wie z. B. in Forschung und Industrie, spielen Chemikalien eine wesentliche Rolle bei dieser Verbesserung. Einige Chemikalien können jedoch auch als chemische Waffen verwendet werden, oder um sie herzustellen, und diese Waffen gehören zu den schrecklichsten der Welt. Das Chemiewaffenübereinkommen von 1993 (CWÜ) verkörpert die mächtige internationale Norm gegen chemische Waffen, die von den Vertragsstaaten verlangt, ,niemals unter keinen Umständen‘: (a) Chemische Waffen zu entwickeln, herzustellen, anderweitig zu erwerben, zu lagern oder zu behalten oder chemische Waffen direkt oder indirekt an Dritte zu übertragen. (b) Einsatz chemischer Waffen. (c) Sich an militärischen Vorbereitungen für den Einsatz chemischer Waffen zu beteiligen. (d) Jedermann zu unterstützen, zu ermutigen oder in irgendeiner Weise zu veranlassen, sich an einer Tätigkeit zu beteiligen, die von einem Vertragsstaat nach diesem Übereinkommen verboten ist. Die Aufgabe, die weltweit deklarierten Lagerbestände chemischer Waffen zu zerstören, ist noch nicht abgeschlossen, aber die Bedrohungen, die die Verwendung von Chemikalien als Waffen für die globale Sicherheit darstellen, sind noch nicht beseitigt. Da die Vernichtung der verbliebenen chemischen Waffen weitergeht, sind konzertierte Anstrengungen erforderlich, um ihr Wiederauftauchen zu verhindern. Dazu gehören auch die Schulung und Sensibilisierung von Chemikern, definiert als jeder, der in der Chemie ausgebildet ist, sowie andere, die mit Chemikalien umgehen.. Ihre Unterstützung ist notwendig, damit Produktion und Verwendung von Chemikalien mit der Anerkennung der Verantwortung einhergehen, dafür zu sorgen, dass sie aus-

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4  Die Anwendung

schließlich zu friedlichen und nützlichen Zwecken eingesetzt werden. Glücklicherweise bilden ethische Standards, die von der globalen Chemiegemeinschaft aufgestellt wurden, bereits eine Grundlage. Darauf aufbauend kam eine Expertengruppe aus 24 Ländern aus allen Regionen der Welt zusammen, um aufbauend auf den bestehenden Codes Schlüsselelemente ethischer Richtlinien für chemische Waffen zu definieren und zu harmonisieren. ,Code‘ wird als allgemeiner Begriff verwendet und umfasst das gesamte Spektrum solcher Dokumente, von aufstrebenden Aussagen wie dem Hippokratischen Eid bis hin zu Codes, die durchsetzbar sind, zum Beispiel als Teil der Arbeitsbedingungen eines Praktikers. Solche Kodizes sind die primäre Art und Weise, wie die ethischen Standards der Gemeinschaft angegangen werden. Die in diesem Text dargelegten Schlüsselelemente sollten in neue und bestehende Kodizes aufgenommen werden, um sie mit den Bestimmungen des CWÜ in Einklang zu bringen. Ein Kodex braucht nicht die Chemiewaffen oder das CWÜ zu erwähnen, um seine grundlegenden Ziele zu unterstützen, und die Bestimmungen müssen möglicherweise auf bestimmte Sektoren oder Umstände zugeschnitten sein, wobei die Grundwerte weiterhin berücksichtigt werden müssen. Die ,Haager Ethikrichtlinien‘ bilden zusammengenommen die Schlüsselelemente, die universell anwendbar sind.“ (OPCW 1993)

Die folgenden Schlüsselelemente sind aus den ethischen Richtlinien entnommen (OPCW Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons (OPCW 1993)): Die Schlüsselelemente umfassen: • Kernelement. Die Errungenschaften auf dem Gebiet der Chemie sollten zum Wohle der Menschheit und zum Schutz der Umwelt genutzt werden. • Nachhaltigkeit. Chemiker haben eine besondere Verantwortung für die Förderung und Verwirklichung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, die darauf abzielen, die Bedürfnisse der Gegenwart zu erfüllen, ohne die Fähigkeit künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. • Bildung. Formale und informelle Bildungsanbieter, Unternehmen, Industrie und Zivilgesellschaft sollten zusammenarbeiten, um jeden, der in der Chemie arbeitet, sowie alle anderen mit den notwendigen Kenntnissen und Werkzeugen auszustatten, um Verantwortung zum Wohle der Menschheit, zum Schutz der Umwelt und zur relevanten und sinnvollen Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit zu übernehmen. • Bewusstsein und Engagement. Lehrer, Chemiker und politische Entscheidungsträger sollten sich der vielfältigen Verwendung von Chemikalien bewusst sein, insbesondere ihrer Verwendung als chemische Waffen oder Vorläufer. Sie sollten die friedliche Verwendung von Chemikalien fördern und darauf hinarbeiten, jeglichen Missbrauch von Chemikalien, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Werkzeugen und Technologien sowie schädliche oder unethische Entwicklungen in Forschung und Innovation zu verhindern. Sie sollten relevante Informa-

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung











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tionen über nationale und internationale Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und Praktiken verbreiten. Ethik. Um angemessen auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren zu können, müssen Bildung, Forschung und Innovation die Grundrechte respektieren und die höchsten ethischen Standards anwenden. Ethik sollte als Mittel zur Sicherstellung qualitativ hochwertiger Ergebnisse in wissenschaftlichen Bestrebungen verstanden werden. Sicherheit und Schutz. Chemiepraktiker sollten die nutzbringenden Anwendungen, Anwendungen und Entwicklungen von Wissenschaft und Technologie fördern und gleichzeitig eine starke Kultur der Sicherheit, des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit fördern und aufrechterhalten. Verantwortlichkeit. Chemiker sind dafür verantwortlich, dass Chemikalien, Ausrüstungen und Einrichtungen vor Diebstahl und Abzweigung geschützt sind und nicht für illegale, schädliche oder zerstörerische Zwecke verwendet werden. Diese Personen sollten sich der geltenden Gesetze und Vorschriften für die Herstellung und Verwendung von Chemikalien bewusst sein und jeden Missbrauch von Chemikalien, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Geräten und Einrichtungen den zuständigen Behörden melden. Aufsicht. Chemiepraktiker, die andere beaufsichtigen, tragen zusätzlich die Verantwortung dafür, dass Chemikalien, Ausrüstungen und Einrichtungen von diesen Personen nicht für illegale, schädliche oder zerstörerische Zwecke verwendet werden. Informationsaustausch. Chemiepraktiker sollten den Austausch wissenschaftlicher und technischer Informationen über die Entwicklung und Anwendung der Chemie zu friedlichen Zwecken fördern.

Chemiker schätzen die Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung von Chemikalien, bekannt als REACH, die am 1. Juni 2007 in Kraft getreten ist (EU 2006). Es vereinfacht und verbessert den früheren Rechtsrahmen für Chemikalien, der von der Europäischen Union (EU) entwickelt wurde. Hauptziele von REACH sind die Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor den Risiken, die von Chemikalien ausgehen können, die Förderung alternativer Testmethoden, der freie Verkehr von Stoffen im Binnenmarkt sowie die Verbesserung von Wettbewerbsfähigkeit und Innovation. REACH überträgt der Industrie die Verantwortung für die Bewertung und das Management der von Chemikalien ausgehenden Risiken und die Bereitstellung angemessener Sicherheitsinformationen für ihre Anwender. Die Europäische Union kann auch zusätzliche Maßnahmen in Bezug auf hochgefährliche Stoffe ergreifen, wenn ergänzende Maßnahmen auf EU-Ebene erforderlich sind.

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4  Die Anwendung

Ausgehend von meinen Erfahrungen glaube ich, dass die chemische Industrie ein hervorragendes Beispiel dafür ist, wie man „das Lebende lebendiger machen kann“. Sie bedient unter anderem die Branchen Gesundheit, Ernährung, Energie, Kommunikation, Transport, Bekleidung, Wohnen, Umweltschutz und Freizeit. Nachhaltige Umweltverantwortung bedeutet in dieser Branche, mit hohen Standards zu produzieren, darüber informiert zu sein, was die Kunden mit dem verkauften Produkt machen, und sie bei der Herstellung von Gütern zu unterstützen, die für die Menschheit von eindeutigem Nutzen sind. Was ist grüne Chemie? Sie ist eine Sammlung von Gestaltungsprinzipien, die verschiedene Einzelpersonen und Gruppen im Laufe der Zeit vorgeschlagen haben, um diese Frage zu beantworten, meist in Form von Anwendungsbeispielen für grüne Chemie. Nachhaltige und grüne Chemie in sehr einfachen Worten ist nur eine andere Art und Weise, darüber nachzudenken, wie Chemie und Chemieingenieurwesen nachhaltig entwickelt werden können. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Prinzipien vorgeschlagen, die bei der Konzeption, Entwicklung und Implementierung von chemischen Produkten und Prozessen angewendet werden können. Diese Prinzipien ermöglichen es Wissenschaftlern und Ingenieuren, die Wirtschaft, die Menschen und den Planeten zu schützen und zu fördern, indem sie kreative und innovative Wege finden, um Abfall zu reduzieren, Energie zu sparen und Ersatz für gefährliche Stoffe zu finden. Es ist wichtig festzuhalten, dass der Anwendungsbereich dieser Prinzipien der grünen Chemie und der Ingenieurwissenschaften über die Bedenken hinsichtlich der Gefährdung durch chemische Toxizität hinausgeht und Energieeinsparung, Abfallvermeidung und Überlegungen zum Lebenszyklus wie die Verwendung von nachhaltigeren oder erneuerbaren Rohstoffen und die Planung für das Ende der Lebensdauer oder die endgültige Entsorgung von Produkten umfasst. Grüne Chemie lässt sich auch durch messbare Effekte definieren. Während ein einheitlicher Satz von Messungen nicht etabliert wurde, wurden viele Möglichkeiten zur Quantifizierung von umweltfreundlicheren Prozessen und Produkten vorgeschlagen. Diese Messungen umfassen Messungen für Masse, Energie, Reduzierung oder Eliminierung von Gefahrstoffen und Umweltauswirkungen während des gesamten Lebenszyklus. Die ACS (American Society of Chemistry) erläutert die Bedeutung der Green Chemistry: Der Startschuss war 1969. Rachel Carson schrieb 1962 das wissenschaftliche Standardwerk „Silent Spring“. Sie skizzierte die Verwüstung, die bestimmte Chemikalien auf die lokalen Ökosysteme ausübten. Das Buch diente als Weckruf für die Öffentlichkeit und die Wissenschaftler gleichermaßen und inspirierte die

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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moderne Umweltbewegung. 1969 erkannte der Kongress die Bedeutung des Themas und verabschiedete den National Environmental Policy Act (NEPA). Ziel des Gesetzes war es, Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, unter denen Mensch und Natur in produktiver Harmonie existieren können, und forderte einen Präsidentenrat für Umweltqualität. In den folgenden Jahren wurden zahlreiche Initiativen in den USA und Europa ergriffen. Im Jahr 2001 wurde das Green Chemistry Institute Teil der American Chemical Society, der größten wissenschaftlichen Fachgesellschaft und Mitglieds­ organisation für Chemiker der Welt (…) Der Nobelpreis für Chemie wurde für die Forschung auf Gebieten der Chemie gewonnen, die sowohl 2001 (Knowles, Noyori, Sharpless) als auch 2005 (Chauvin, Grubbs, Schrock) weitgehend als grüne Chemie angesehen wurden. Diese Nobelpreise trugen dazu bei, die Bedeutung der Forschung im Bereich der grünen Chemie zu festigen und ein höheres Bewusstsein unter den Wissenschaftlern zu schaffen, dass die Zukunft der Chemie grüner sein sollte. Green Chemistry ist auf dem Vormarsch. Nach all den Forschungsfortschritten im Bereich der grünen Chemie und des Ingenieurwesens haben die etablierten Chemieunternehmen die Technologie noch nicht vollständig angenommen. Mehr als 98 % aller organischen Chemikalien werden heute noch aus Erdöl gewonnen. Grüne Chemiker und Ingenieure arbeiten daran, ihre Forschungen und Innovationen aus dem Labor in den Markt zu bringen, indem sie nachhaltige Industrieprodukte schaffen, die von den heutigen Branchenführern angenommen werden können. Das Konzept der grünen Chemie ist eine relativ neue Idee, die in der Wirtschaft und den Regulierungsbehörden als natürliche Evolution von Initiativen zur Vermeidung von Umweltverschmutzung entwickelt wurde. Bei unseren Bemühungen, Pflanzenschutz, Handelsprodukte und Medikamente zu verbessern, haben wir auch unserem Planeten und den Menschen unbeabsichtigt Schaden zugefügt. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts konnten einige der langfristigen negativen Auswirkungen fehlgeleiteter Praktiken nicht ignoriert werden. Die Umweltverschmutzung schadete vielen Wasserstraßen der Welt und der saure Regen verschlechterte die Gesundheit der Wälder. Es gab messbare Löcher im Ozon der Erde. Bei einigen Chemikalien, die häufig verwendet werden, bestand der Verdacht, dass sie Krebserkrankungen und andere negative Auswirkungen auf die ­Gesundheit von Mensch und Umwelt verursachen oder zumindest in direktem Zusammenhang damit stehen. Viele Regierungen begannen, die Erzeugung und Entsorgung von Industrieabfällen und Emissionen zu regulieren. Die Vereinigten Staaten gründeten 1970 die Environmental Protection Agency (EPA), die mit dem Schutz der Gesundheit von Mensch und Umwelt durch die Festlegung und Durchsetzung von Umweltvorschriften beauftragt wurde.

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4  Die Anwendung

Die grüne Chemie geht einen Schritt weiter und schafft eine neue Realität für die Chemie und das Ingenieurwesen, indem sie Chemiker und Ingenieure auffordert, Chemikalien, chemische Prozesse und kommerzielle Produkte so zu gestalten, dass zumindest die Entstehung von Giftstoffen und Abfällen vermieden wird. • Grüne Chemie ist keine Politik. • Green Chemistry ist kein PR-Trick. • Grüne Chemie ist kein Wunschtraum. Wir sind in der Lage, chemische Prozesse und umweltfreundliche Produkte zu entwickeln, die die Umweltverschmutzung von vornherein verhindern. Durch die Praxis der grünen Chemie können wir Alternativen zu gefährlichen Stoffen schaffen, die wir als Ausgangsstoffe verwenden. Wir können chemische Prozesse entwerfen, die Abfall reduzieren und den Bedarf an Ressourcen reduzieren. Wir können Verfahren einsetzen, die weniger Energie verbrauchen. Wir können all dies tun und gleichzeitig das Wirtschaftswachstum und die Chancen aufrechterhalten, während wir gleichzeitig erschwingliche Produkte und Dienstleistungen für eine wachsende Weltbevölkerung bereitstellen. Ein Bereich, der bereit und reif ist für Innovationen, neue Ideen und revolutionären Fortschritt. Das ist die Zukunft der Chemie. Das ist grüne Chemie. Die US-amerikanische Umweltbehörde EPA und das ACS Green Chemistry Institute® haben in den letzten drei Jahrzehnten eine wichtige Rolle bei der Förderung von Forschung und Lehre im Bereich der Verschmutzungsprävention und der Reduzierung von Schadstoffen gespielt. Regierungen und wissenschaftliche Gemeinschaften auf der ganzen Welt erkennen, dass die Praxis der grünen Chemie und Technik nicht nur zu einer saubereren und nachhaltigeren Erde führt, sondern auch ökonomisch vorteilhaft ist und viele positive soziale Auswirkungen hat. Diese Vorteile ermutigen Unternehmen und Regierungen, die Entwicklung nachhaltiger Produkte und Prozesse zu unterstützen. Die Vereinigten Staaten, die bedeutende Errungenschaften im Bereich der grünen Chemie belohnen und feiern wollen, verleihen seit 1996 jährlich den Presidential Green Chemistry Challenge Award. Seitdem das Wort „grün“ vor die Chemie gestellt wurde, haben sich viele Leute darüber gestritten, was die ‚richtige‘ Definition von grüner Chemie ist oder nicht. Und vor allem: Was können wir tun, um die Chemie „grün“ oder „grüner“ zu machen? Was folgt, ist eine Sammlung von Gestaltungsprinzipien, die verschiedene Einzelpersonen und Gruppen im Laufe der Zeit vorgeschlagen haben, um diese Frage zu beantworten. Die unten aufgeführten Beispiele für Leistungen im Bereich der grünen Chemie veranschaulichen, wie sich die grüne Chemie auf eine Vielzahl von

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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Bereichen auswirkt, von Pharmazeutika bis hin zu Haushaltswaren, und bieten einen Weg zu einer besseren Welt. Im Jahr 2005 wurde der Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung eines katalytisch chemischen Prozesses namens Metathese verliehen, der in der chemischen Industrie breite Anwendung findet. Sie verbraucht deutlich weniger Energie und hat das Potenzial, die Treibhausgasemissionen für viele Schlüsselprozesse zu reduzieren. Das Verfahren ist bei normalen Temperaturen und Drücken stabil, kann in Kombination mit umweltfreundlicheren Lösungsmitteln eingesetzt werden und produziert wahrscheinlich weniger gefährliche Abfälle. Im Jahr 2012 gewann Elevance Renewable Sciences den Presidential Green Chemistry Challenge Award, indem sie mithilfe der Metathese natürliche Öle abbauen und die Fragmente zu Hochleistungschemikalien rekombinieren konnte. Das Unternehmen stellt Spezialchemikalien für viele Anwendungen her, wie z. B. hoch konzentrierte Kaltwasserreiniger, die eine bessere Reinigung bei reduzierten Energiekosten ermöglichen. Viele Chemikalien sowie große Mengen an Wasser und Energie werden für die Herstellung von Computerchips benötigt. In einer Studie, die 2003 durchgeführt wurde, lag die industrielle Schätzung von Chemikalien und fossilen Brennstoffen, die für die Herstellung eines Computerchips benötigt werden, im Verhältnis 630:1! Das bedeutet, dass es das 630-Fache des Gewichts des Chips in den Ausgangsmaterialien braucht, um einen Chip herzustellen! Vergleichen Sie das mit dem Verhältnis 2:1 für die Herstellung eines Automobils. Seitdem haben Wissenschaftler des Los Alamos National Laboratory ein Verfahren entwickelt, bei dem überkritisches Kohlendioxid in einem der Schritte der Chip-Aufbereitung verwendet wird, wodurch die Menge an Chemikalien, Energie und Wasser, die für die Herstellung von Chips benötigt wird, erheblich reduziert wird. Richard Wool, ehemaliger Direktor des Programms Affordable Composites from Renewable Sources (ACRES) an der Universität von Delaware, fand einen Weg, Hühnerfedern für die Herstellung von Computerchips zu verwenden. Das Protein Keratin in den Federn wurde verwendet, um eine Faserform herzustellen, die leicht und widerstandsfähig genug ist, um mechanischen und thermischen Belastungen standzuhalten. Das Ergebnis ist eine Leiterplatte auf Federbasis, die tatsächlich doppelt so schnell arbeitet wie herkömmliche Leiterplatten. Obwohl diese Technologie für kommerzielle Zwecke noch in Arbeit ist, hat die Forschung zu anderen Verwendungen von Federn als Ausgangsmaterial geführt, unter anderem für Biokraftstoffe. Die pharmazeutische Industrie ist ständig auf der Suche nach Verfahren, die weniger giftige Abfälle produzieren und nach der Entwicklung von Medikamenten mit weniger schädlichen Nebenwirkungen.

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4  Die Anwendung

Mehrere Unternehmen haben an der Entwicklung von Kunststoffen gearbeitet, die aus erneuerbaren, biologisch abbaubaren Quellen hergestellt werden. „Ölbasierte Alkydharz-Farben geben große Mengen flüchtiger organischer Verbindungen (VOCs) ab. Diese flüchtigen Verbindungen verdunsten beim Trocknen und Aushärten aus dem Lack und viele haben eine oder mehrere Umweltauswirkungen. Bessere, haltbarere und umweltfreundlichere Lacke auf Nicht-Ölbasis sind heute auf dem Markt weitverbreitet“ (ACS). Wie steht die GDCh (Gesellschaft Deutscher Chemiker) zu den sich entwickelnden Themen der Chemie? Der Beitrag der Chemie zur nachhaltigen Entwicklung wird immer wichtiger. Deshalb hat die Gesellschaft Deutscher Chemiker März 2007 einen Arbeitskreis Nachhaltige Chemie ins Leben gerufen. Die Themen der Nachhaltigen Chemie sind vielfältig und von besonderer Bedeutung für unsere Zukunft. Was ist Nachhaltige Chemie? Nachhaltigkeit bedeutet in der Regel die Anerkennung der vielfältigen Vorzüge, den Bedürfnissen der heute lebenden Menschen gerecht zu werden und gleichzeitig die Entwicklungsmöglichkeiten künftiger Generationen offen zu halten. Die Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Ziele ist ein grundlegender und entscheidender Faktor, ebenso wie die ganzheitliche Betrachtung von Produkten und Prozessen über den gesamten Lebenszyklus, von der Wiege bis zur Bahre. Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Definition erforscht die Nachhaltige Chemie die Nutzung und Umwandlung verfügbarer physikalischer Ressourcen in einer Weise, die künftige Generationen nicht einschränkt oder schädigt. In den nächsten Jahrzehnten wird die Lösung potenzieller gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme durch neue Entwicklungen auf dem Gebiet der nachhaltigen Chemie immer wichtiger werden. Wie können wir dieses Ziel erreichen? Einige Beispiele sind: • Durch neue katalytische Verfahren in der chemischen Produktion • Durch Energie- und Rohstoffeinsparung bei chemischen Prozessen • Durch die energetische und rohstoffliche Nutzung von Biomasse, die nicht mit der Nahrungsmittelproduktion konkurriert • Durch den Einsatz von CO2, durch Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an neuen Energiequellen Die Chemie kann dabei eine Rolle spielen, indem sie zu allen Aspekten des Umweltschutzes, einschließlich Boden, Wasser und Luft, beiträgt, indem sie nachhaltige Lösungen entlang des gesamten Lebenszyklus der hergestellten, verkauften und verwendeten Chemikalien schafft, durch die Einführung des Nachhaltigkeits-

4.15  Nachhaltige Umweltverantwortung

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gedankens in die Lehrpläne der Schulen. Vorschläge für den Bildungsbereich können sein: • • • • • • •

Nachhaltige Chemie in der Bildung Nachhaltige Energie Nachwachsende Rohstoffe Katalyse Alternative Reaktionsbedingungen Bewertung chemischer Prozesse und Produkte Nachhaltige Produkte

Um die Arbeit von Friedrich Wöhler (1800–1882) zu würdigen, der zu den bedeutendsten Chemikern Deutschlands gehörte, der sich in der Harnstoffsynthese und beim Abbau von Barrieren zwischen anorganischer und organischer Chemie hervorgetan hat, hat die Chemische Gesellschaft der DDR den Wöhler-Preis für Nachhaltige Chemie ins Leben gerufen. Die Preise wurden in seinem Namen zwischen 1960 und 1991 gestiftet. Durch Beschluss des GDCh-Vorstands wurde diese frühere Anerkennung Wöhlers durch die Chemische Gesellschaft 1997 wieder aufgenommen und bis 2011 um einen zusätzlichen Preis für Initiativen interdisziplinärer wissenschaftlicher Arbeit ergänzt, die zu ‚ressourcenschonenden Prozessen‘ führen. Ausgezeichnet werden Personen, die durch zukunftsweisende Arbeiten auf dem gesamten Gebiet der Chemie innovative Forschungsbeiträge leisten, die zu mehr Umweltfreundlichkeit sowie zum verantwortungsvollen Umgang mit vorhandenen oder neuen Ressourcen beitragen können. Von ihren Innovationen wird auch erwartet, dass sie zu selbsttragenden Entwicklungen in der Chemie und in der Grundlagenforschung führen. Der Preis wurde 2012 in Wöhler-Preis für Nachhaltige Chemie umbenannt und wird seitdem für wegweisende und herausragende Beiträge zur Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Chemie vergeben. Von der Pionierarbeit ausgewählter ­exemplarischer Persönlichkeiten wird erwartet, dass sie zu innovativen Methoden in allen Bereichen der Chemie beitragen und zu verbesserten nachhaltigen Prozessen führen. Um die Wirtschaftschemie weiter zu fördern, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit und dem Wunsch, die Entwicklung chemischer Produkte oder Prozesse mit hohem gesellschaftlichem Wert zu fördern, habe ich die Meyer-Galow-Stiftung für Wirtschaftschemie gegründet, die jährlich den Meyer-­ Galow-­Preis für Wirtschaftschemie vergibt. Die Stiftung besteht nach dem Beschluss des Vorstands der Gesellschaft Deutscher Chemiker vom 5. März 2012 und wird von der Gesellschaft Deutscher Chemiker verwaltet (GDCh 2012).

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4  Die Anwendung

Der Preis wird an Kandidaten verliehen, die eine aktuelle Chemie-Innovation im deutschsprachigen Raum erfolgreich auf den Weg gebracht haben – allein oder im Team. Es kann ein Produkt oder ein Prozess sein. Die Innovation muss nicht zwangsläufig ausschließlich aus Bemühungen des Nominierten stammen. Der Nominierte muss jedoch die treibende Kraft für die Umsetzung im Markt sein. Der Preisträger erweist sich als würdig, insbesondere, wenn er oder sie • eine Innovation auf den Markt gebracht hat, die die Nachhaltigkeit in hohem Maße berücksichtigt, • eine Innovation auf den Markt gebracht hat, die einen besonderen, für die Gesellschaft notwendigen Wert darstellt („Must-have“, nicht einfach nur „Nice-­ to-­have“). • eine reife Persönlichkeit ist, die bei Mitarbeitern, Kollegen, Vorgesetzten und allen Geschäftspartnern ein hohes Maß an Wertschätzung genießt. Der Führungsstil des Empfängers zeichnet sich durch ein besonders hohes Maß an Einfühlungsvermögen aus. Gesetze und Vorschriften sind Versuche, unsere Umwelt durch nachhaltiges Handeln zu schützen. Sie sind ein notwendiger, progressiver Schritt für jene Führungskräfte, die sich noch nicht auf einen Weg des inneren Wachstums begeben haben, soweit er sie zu Entscheidungen führt, die mit der Nachhaltigkeit vereinbar sind. Aber sie werden niemals so effektiv sein wie Führungskräfte, die sich auf einer inneren Wachstumsreise befinden; Führungskräfte, die ungeachtet der Gesetze und Vorschriften, an deren Entwicklung und Verabschiedung sie mitgewirkt haben, Verantwortung für den Schutz und, wenn möglich, für die Verbesserung der Umwelt übernehmen, als Ergebnis ihrer Reife, ihrer Selbstverwirklichung und ihrer Anerkennung der Verbundenheit aller Menschen und der Natur. Einmal voll verwirklicht, kann das Selbst nichts anderes tun. Hans-Peter Dürr bemerkt dazu: cc

„Wir müssen uns um unsere eigene Nachhaltigkeit und die Zukunft unserer Gesellschaften kümmern. Denn die Natur wird uns nicht zwingen, dies zu tun. Darin ist die Regel, dass ‚Narren‘, die ihre langfristigen vitalen Interessen vernachlässigen, einfach aus der biologischen Evolution ausgeschlossen werden.“ (Dürr 2011)

4.16  Intuition, Kreativität, Innovation: Geschenke aus dem Inneren

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4.16 I ntuition, Kreativität, Innovation: Geschenke aus dem Inneren Lassen wir Hans-Peter Dürr erneut zu Wort kommen: cc

„Intuition ist für mich das, was mit mir verbunden ist und was hinter allem steckt, was ich jeden Tag erlebe.“ (Dürr 2010)

„Durch die Hingabe an dieses ,etwas anderes‘ kann ich es erleben, und je mehr ich mich hingebe, desto mehr Zugang habe ich zu ihm. Ich kann auf seinen Reichtum zurückgreifen und eine Vision erhalten, die mir wichtig ist, wenn ich wirklich in dieser Welt handeln will“ (Dürr 2010). Zusätzlich zu dem, was bisher als Quellen für ein größeres ethisches Bewusstsein und moralische Praktiken vorgeschlagen wurde, ist Intuition eine weitere mächtige Ressource, die uns zur Verfügung steht. Voraussetzung für das Vertrauen in unsere Intuition ist jedoch, dass wir eine beachtliche innere Reife erreicht haben. Intuition, wenn sie durch Reife ausgelöst wird, ist eine gewaltige Quelle der Kreativität. Führungskräfte haben die Pflicht, sich am kreativen Prozess der Beantwortung wichtiger Fragen zu beteiligen, sowohl von unmittelbarer Relevanz als auch von Zukunftsaspekten. Es ist notwendig, ja sogar unerlässlich, dass wir uns auf einem Weg befinden, der zu innerem Wachstum führt, damit wir in der „Außenwelt“ mit Kreativität, verbunden mit einem ethischen Geist, arbeiten können. Wenn wir als Führungskräfte diese Transformation durchführen, profitiert das gesamte Unternehmen von unserer Transformation. Der Führungsstil ist ein wesentlicher Bestandteil bei der Stärkung des Innovationspotenzials eines Unternehmens. Sind wir offen, empfänglich und vertrauensvoll für Ideen, die intuitiv entstehen, oder sind wir verkrüppelt und eingeschränkt durch das einfache Vertrauen auf unseren Intellekt, unseren Ego-Geist? Unternehmen, die keinen ständigen Strom von Innovationen haben, sind dem Untergang geweiht. Sehr oft sind sie die Letzten, die zu dieser Erkenntnis kommen, auch wenn sie für andere sehr offensichtlich ist. Sie sparen Kosten und versuchen ein Effizienzprogramm nach dem anderen, aber diese egozentrischen Aktionen helfen ihnen nicht zu überleben, weil ihre Konkurrenten das Gleiche tun, und der Wettbewerbsvorteil, der durch die Teilnahme an unserer Intuition verfügbar ist, fehlt. Effizienzprogramme zerstören Kreativität. Sie führen dazu, dass sich die Mitarbeiter verletzlich fühlen und befürchten, dass ihre Arbeitsplätze beim nächsten Versuch einer höheren Effizienz abgebaut werden.

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4  Die Anwendung

Die Angst der Mitarbeiter ist kein Nährboden für Kreativität

Für viele Unternehmen, die in der sogenannten Old Economy verbleiben, trocknen Innovationen im Laufe der Zeit aus. Der Fokus liegt dann auf Kostensenkungen und der Einstellung von Unternehmensberatern, um neue Programme zur Effizienzsteigerung einzuführen. Ein klügerer und ethischerer Ansatz ist es, proaktiv zu sein. Anstatt zu warten, bis die Firma in Schwierigkeiten ist, bevor sie Maßnahmen ergreift, ist es ratsam, die notwendigen Veränderungen einzuleiten, die sicherstellen, dass das Leben, das in der Firma ist, jetzt lebendiger wird! Erfindungen sind abhängig von Intuitionen, die sich aus dem lateinischen „intueri“ (nach innen wenden) ableiten. Meditation ist eine ausgezeichnete Methode, dies zu erreichen. Meditative Praktiken führen uns nach innen und lassen Intuition und Inspiration aus dem Unbewussten entstehen, oft schnell und unerwartet. Nur so können wir vernünftigerweise erwarten, dass wir nachhaltig vorankommen. Jedes Problem, das wir lösen wollen, muss in Form einer Anfrage behandelt werden. Dann fließt plötzlich, nicht unbedingt im Büro oder im Labor, sondern vielleicht in der Natur oder beim Musikhören oder bei einer anderen mit dem Problem nicht verwandten Tätigkeit eine Intuition in unser Bewusstsein. Viele berühmte Wissenschaftler und Nobelpreisträger wie Georges Köhler, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Alex Müller, Carl Friedrich Gauß, August Kekulé, Justus von Liebig, Henri Poincaré, Gerd Binnig und René Descartes führen ihren Erfolg auf intuitive Durchbrüche zurück. Jüngstes Beispiel ist der Chemie-­Nobelpreisträger von 2014, Stefan Hell, der wohl die Intuition auf der Fähre nach Finnland erhalten hat. Stefan Hell ist es gelungen, die Auflösungsgrenze herkömmlicher optischer Mikroskope radikal zu überwinden  – ein Durchbruch, der neue bahnbrechende Entdeckungen in der biologischen und medizinischen Forschung ermöglicht hat. Frank Wilczek, Professor am MIT und Nobelpreisträger 2004, gelang mit seiner Doktorarbeit über Quarks im Alter von 22 Jahren ein wissenschaftlicher Durchbruch. Er identifizierte vier Naturgewalten. Gravitationskraft und elektromagnetische Kraft waren bereits bekannt, aber es gibt zwei weitere Kräfte, denen Physiker begegnen, wenn sie Atomkerne untersuchen. Die starke Kraft, die Atomkerne zusammenhält, und die schwache Kraft, die für eine Reihe von Zerfallsvorgängen verantwortlich ist. Zusammen mit David Gross versuchte er, Gleichungen zu ­formulieren, die die starke Kraft repräsentieren würden. Er sagte: „Wir haben es erraten, weil wir intuitiv nach besonders schönen, symmetrischen Gleichungen gesucht haben.“ Experimente haben inzwischen seine Intuition bestätigt. Lassen Sie uns mit zwei Zitaten die Intuition hervorheben, die Albert Einstein zugeschrieben werden:

4.16  Intuition, Kreativität, Innovation: Geschenke aus dem Inneren

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„Was wirklich zählt, ist Intuition.“ (Albert Einstein) „Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Geist ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“ (Albert Einstein)

Nach Sheldrake wird uns in Europa und den USA schon früh beigebracht, unsere Intuition zu ignorieren. In unserer Gesellschaft, die den Geist überbewerte, gebe es Vorurteile gegen diese Form der Information. Das nenne man abergläubisch und irrational und wertet es damit ab. So versperrt man sich selbst diese große Quelle für Neues. Wenn wir im Augenblick mitfühlend leben und auf wohlwollende universelle Kräfte vertrauen, öffnen wir uns einer unvorstellbar mächtigen Quelle bisher ungenutzter Energie, der Energie der Heilung, der Zufriedenheit und des Erfolgs, die sich am Wachstum messen lässt. Wenn wir unserer persönlichen Verbindung mit dem Universum, unserer Intuition, gestatten, unsere Gedanken zu lenken, werden sie zu unseren kraftvollsten energetischen Gaben, die sich, wenn sie mit einer Vielzahl ähnlicher Gedanken von anderen in Resonanz treten, als Ereignisse manifestieren können, die in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen interagieren und uns erlauben, Berge zu versetzen. Die energetische Dimension, durch die wir alle miteinander verbunden sind, nicht nur eins mit dem anderen zu sein, sondern auch mit allem Wissen und allen Potenzialen, die es gibt, wurde von verschiedenen Autoren mit verschiedenen Namen benannt, zu denen die göttliche Matrix, die undifferenzierte Realität, der kooperative Hintergrund und der ewige Prozess des Lebens gehören. Als Präsident der Humboldt-Gesellschaft muss ich auch Alexander von Humboldt, den großen deutschen Naturforscher zitieren, dessen 250. Geburtstag wir 2019 feierten: cc

„Nichts steht für sich allein dar; chemische Prinzipien, die, wie man glaubte, nur den Tieren zukommen, finden sich in den Gewächsen gleichfalls.“ „Ein gemeinsames Band umschlingt die ganze organische Natur.“ (von Humboldt 1820, S. 680) „Eine allgemeine Verkettung nicht in einfacher linearer Richtung, sondern in netzartiges verschlungenes Gewebe stellt sich dem forschenden Natursinn dar.“ (von Humboldt 1845, S. 33)

Humboldt hat nicht gewusst, warum alles miteinander verbunden ist. Heute liefert uns die Quantenphysik eine Erklärung. Quantenphysiker sind heute der Meinung, dass alles, was im Universum existiert, auf subtile Weise miteinander ver-

306

4  Die Anwendung

knüpft ist. Egal, ob es sich dabei um die kleinsten subatomaren Teilchen handelt oder um lebende Zellen. Gleichgültig, ob es Quanten oder wir Menschen sind. Alles ist miteinander verwoben, alles ist miteinander verbunden durch Netzwerke von Informationsflüssen. Das Zauberwort für diese Verbindungen nennen Quantenphysiker schlicht und einfach Verschränkung. cc

„Alles ist Wechselwirkung.“ (von Humboldt 1803, S. 95)

Auch diese Erkenntnis stammt nicht von Humboldt, sondern von früheren Denkern (Heraklit) und Forschern und ergibt sich aus der frühen Erkenntnis, dass alles mit allem verbunden ist und dynamisch in Wechselwirkung steht. Das Zitat befindet sich in den Tagebüchern der Amerikanischen Reise. Er schreibt auf Französisch über Erfahrungen in Mexico und plötzlich, für den Leser völlig unerwartet, steht da auf Deutsch: Alles ist Wechselwirkung. Dann schreibt er auf Französisch weiter. Die Humboldt-Wissenschaftler rätseln, warum er diese wichtige Erkenntnis gerade an dieser Stelle in Deutsch platziert hat. Die Erkenntnisse und Erfahrungen der Verbundenheit und Wechselwirkung sind ohne Zweifel die wichtigste Quelle für Ethik und Moral. Die Humboldt-Gesellschaft vermittelt einen Diskurs durch Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Kunst und Bildung, wie ihn die Brüder Humboldt vermitteln. Das Wissen der beiden ist heute immer noch sehr aktuell. Die Forderung von Wilhelm von Humboldt, innere sittliche Reife und Moral durch persönliche Bildung zu erlangen, passt zu der Leitlinie dieses gesamten Buchs. Die Humboldt-­ Gesellschaft heißt neue Mitglieder herzlich willkommen, die sich dem Gedankenund Erfahrungsgut der Humboldts verpflichtet fühlen und neugierig auf Interpretationen in der heutigen Zeit sind (Humboldt-Gesellschaft 1962). Ich sprach viel mit Hans-Peter Dürr über die Quellen der Intuition und er wies darauf hin, dass jeder Mensch Intuitionen hat, nur wenige und nie genug. Aber wir wissen nicht, woher sie kommen. Intuition bedeutet ganz einfach, dass etwas von irgendwoher kommt. Sie stammt aus dem kooperativen Hintergrundfeld, dem Ever Acting Process, wie Dürr mir das kooperative Hintergrundfeld ins Englische übersetzte. Dieses Feld ist leer, aber hat die Eigenschaft einer Potenzialität, die sich in jedem Moment als Realität manifestieren kann. Viele Menschen glauben, dass sie nur mit ihrem Verstand wirken, aber das führt nicht zu wirklich neuen Ergebnissen. Wir werden nie wissen, wie groß unser Potenzial ist, das sich aus Intuitionen ergibt, weil wir nicht in den transrationalen Raum eintreten können, aus dem sie entstehen. Laut meinem Lehrer Willigis Jäger fließt die Intuition aus der Ruhe und der Stille. Wenn wir in Ruhe und Stille schweigen, entstehen spontane Ideen, wertvolle

4.16  Intuition, Kreativität, Innovation: Geschenke aus dem Inneren

307

Einsichten und Intuitionen in uns. Plötzlich verstehen wir Zusammenhänge, die wir noch nie gekannt haben. Intuition entsteht aus dem Unbewussten, eine Schicht tiefer als das Unterbewusstsein. Wie bereits erwähnt, ist Intuition in der New Economy willkommen und nur in einer Organisation möglich, in der Achtsamkeit und Mitgefühl eine wichtige Rolle spielen. Offenheit, Furchtlosigkeit und Kreativität sind nur für ganzheitlich orientierte Organisationen zugänglich. Dies zeigt auch, dass der Ansatz der Tiefenpsychologie nicht nur der neuen Ethik zugutekommt, sondern auch die Kreativität fördert, indem er die Tür zum Unbewussten öffnet. Was wir als Intuition und Inspiration bezeichnen, bezeichnet Soren Gordhamer (2013) als den kreativen Geist. Er bemerkt, dass er damit das Leben frisch erlebt, über den Tellerrand hinausdenkt, neue Lösungen für alte Probleme findet und sich auf innovative Weise ausdrückt. Diese Formulierung ist irreführend, denn die schöpferische Kraft beschränkt sich nicht auf unseren Verstand. Hans-Peter Dürr sagt uns weise, dass wir viel mehr erfahren als wir denken und wissen. Es ist die Wirklichkeit, die wir nicht beschreiben können, sondern nur erfahren können. Wenn wir die Verbindung aufbauen, z. B. durch Meditation, kann Intuition als In­ spiration in uns einfließen, die dann unserem Verstand und unserem Intellekt folgt und alles zusammen mit unserem Wissen zu einer Innovation zusammenfügt. Es könnte sein, dass Soren das richtige Konzept hatte, aber einfach die falsche Terminologie verwendet hat. Er zitierte den Mitbegründer von Google, Larry Page (2013, S. 5), der die Idee hatte, in einem Traum eines Nachts Googles Suchalgorithmus zu entwickeln, und zitierte die Enthüllung, dass Amazon-CEO Jeff Bezos am Ende eines jeden Steuerquartals mehrere Tage damit verbrachte, sich zu vergegenwärtigen und seinen Geist sich konzentrieren zu lassen. Soren Gordhamer (2013, S. 5): „Ohne eine Verbindung zur inneren Welt, zu unseren eigenen Gedanken und unserem eigenen Körper wird der kreative Geist inmitten der Masse anderer Inhalte, die wir verarbeiten, unzugänglich.“ Ich habe festgestellt, dass unsere innere Welt nicht nur die Einheit und das Gleichgewicht von Körper und Geist ist, sondern auch die Erfahrung der Einheit von Körper/Geist (Verstand), Seele und Geist (Spirit). Und diese Erfahrung entfesselt die schöpferischen Kräfte in uns. Soren Gordhamer zitiert Steve Jobs, der eine kraftvolle, aber selten anerkannte Erkenntnis festhält (Gordhamer 2013, S. 9): cc

„Mir wurde klar, dass intuitives Verstehen und Bewusstsein wichtiger ist als abstraktes Denken und logische Analyse.“ (Gordhamer 2013, S. 9)

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4  Die Anwendung

Wir sind in der Lage, viele Intuitionen zu empfangen, die durch unser spirituelles Leben ermöglicht werden. Weil sie plötzlich auftauchen und plötzlich verschwinden, müssen wir sie sofort einatmen, um sie zu einem Teil unserer eigenen zu machen. Die Inspiration kommt vom Lateinischen inspirare, was so viel bedeutet wie tief einatmen. Wir müssen die Intuition einatmen, um sie in uns selbst zu integrieren und nicht zu verlieren. Intuitionen und Inspirationen werden von unserem Intellekt gesammelt und mit unserem Wissen und unseren inneren Bildern verglichen. Intellekt ist eine Kombination der lateinischen Wörter intra-legere und collectio. Mit unserem Intellekt assimiliert und synthetisiert unser Ego-Geist in uns selbst alles, was in ihm enthalten ist, zusammen mit dem, was wir von außen erfahren. So entsteht Kreativität in uns. Leider beschränken sich die meisten von uns nur auf mentale Aktivitäten oder wenn wir überhaupt psychologische Quellen einbeziehen, dann nur in den Grenzen unserer psychomentalen Fähigkeiten. Wir nutzen nicht die unbegrenzten Ressourcen des gesamten Kosmos, um unseren Intellekt in kreativen Bestrebungen zu unterstützen. Dies ist wie das Leben als Fisch in einem Aquarium, in dem die Grenzen des Aquariums durch ein begrenztes Bewusstsein definiert sind. Die Fische haben es noch nie erlebt und wissen daher noch nicht, dass ihr Aquarium in einem größeren Ozean liegt. Indem wir unsere Intuitionen und Inspirationen mit unserem Wissen verbinden, erlauben wir uns, kreativ zu sein. Wir können diese Verknüpfung entweder selbst durchführen oder sie gemeinsam angehen, indem wir Möglichkeiten und Wünsche mit anderen erforschen und teilen. Eine sehr gute Praxis ist der Liebende Dialog von Dürr, wie er zuvor vorgestellt wurde. Er eröffnet uns die Möglichkeit, neue Dimensionen gemeinsam mit anderen zu erleben. Empathie und Mitgefühl sind wesentliche Voraussetzungen, um an den Manifestationen teilhaben zu können, die sich aus einem ehrlichen Geben und Nehmen mit anderen ergeben. Viele glauben, dass aus dem rationalen Verstand trotz seiner Grenzen große Kreativität entstehen kann. Oftmals ist der erste Ansatz zur Förderung der Kreativität einfach gerichtetes Denken. Ich habe diesen Ansatz gewählt, bevor ich mit der Meditation begonnen habe. Ich besuchte Seminare mit Edward de Bono über Laterales Denken und mit Tony Buzan über How to use your Head. Während dieser ersten Jahre im Wirtschaftsleben war es eine großartige Erfahrung. Es hat mir gut gedient. Es war besser als Leerlauf, aber nicht die ultimative Lösung. Wenn die Psychologie hinzukommt, wird die Erfahrung über die des rein rationalen Denkens hinaus erweitert. Jack B. Soll und Katherine L. Milkman sowie John W. Payne gehen auf diese mentale Anstrengung ein und geben Empfehlungen in Outsmart Your Own Biases. Die Autoren verwenden das Wort Intuition sieben Mal:

4.16  Intuition, Kreativität, Innovation: Geschenke aus dem Inneren

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1) „Du könntest deiner Intuition vertrauen, die dich in der Vergangenheit gut geführt hat, und sie auf ihren Weg schicken. Das ist es, was die meisten Führungskräfte sagen, was sie tun würden, wenn wir dieses Szenario in unseren Kursen über die Entscheidungsfindung im Management aufstellen. 2) Das Problem ist, es sei denn, Sie gehen gelegentlich gegen Ihren Bauch, Sie haben Ihre Intuition nicht auf die Probe gestellt. Sie können nicht wirklich wissen, was Ihnen dabei hilft, gute Entscheidungen zu treffen. 3) Aber wie der Psychologe Daniel Kahneman gezeigt hat, ist es auch eine häufige Quelle von Voreingenommenheit, die zu schlechten Entscheidungen führen kann, weil unsere Intuitionen uns häufig in die Irre führen. 4) In Situationen wie diesen sind wir weit davon entfernt, entscheidungsreif zu sein, wir sind mental, emotional und physisch verbraucht. Wir kommen damit zurecht, dass wir uns noch stärker auf intuitive Urteile des Systems und weniger auf sorgfältige Argumentation verlassen. Die Entscheidungsfindung wird schneller und einfacher, aber die Qualität leidet oft darunter. 5) Die meiste Zeit jedoch ist Delegation nicht angemessen und es liegt an Ihnen, dem Manager, zu entscheiden. Wenn das der Fall ist, können Sie Ihre eigenen Vorurteile überlisten. Sie beginnen damit, zu verstehen, woher sie kommen: Übermäßiges Vertrauen in die Intuition, fehlerhaftes Denken oder beides. In diesem Artikel beschreiben wir einige der hartnäckigsten Verzerrungen, die es gibt: Tunnelblick über Zukunftsszenarien, Ziele und Optionen. Aber Bewusstsein allein reicht nicht aus, wie Kahneman, der über seine eigenen Erfahrungen nachdenkt, betont hat. So bieten wir auch Strategien zur Überwindung von Verzerrungen an, die aus den neuesten Forschungsergebnissen zur Psychologie des Urteils und der Entscheidungsfindung gewonnen wurden. 6) Wir sind kognitive Geizhälse – wir mögen es nicht, unsere mentale Energie mit Unsicherheiten zu verbringen. Es ist einfacher, einen Abschluss zu suchen, so wie wir es tun. Dieses hemmt in unserem Denken, was uns dazu bringt, uns auf eine mögliche Zukunft zu konzentrieren (in diesem Fall ein Büro, das wie geplant arbeitet), ein Ziel (jemanden einzustellen, der es unter diesen Umständen bewältigen kann) und eine Option für Isolation (der Kandidat vor uns). Wenn dieses enge Denken eine fesselnde Geschichte verwebt, kommt System 1 ins Spiel: Intuition sagt uns vorzeitig, dass wir bereit sind, uns zu entscheiden, und wir wagen uns mit großem, unbegründetem Vertrauen vorwärts. Um unsere Entscheidungen zu fördern, ist es unerlässlich, den Blickwinkel an allen drei Fronten zu erweitern. 7) Obwohl Sie eine kritische Masse an Optionen benötigen, um fundierte Entscheidungen zu treffen, müssen Sie auch starke Konkurrenten finden  – mindestens zwei, aber idealerweise drei bis fünf. Natürlich ist es einfach, dem Tauziehen des System-1-Denkens nachzugeben und eine falsche Wahl zu treffen, um Ihre bevorzugte Option zu rationalisieren. (Wie ein Elternteil, der ein energetisches Kleinkind fragt: ‚Möchtest Du heute ein Nickerchen oder zwei?‘ Aber dann betrügst du dich nur selbst.) Eine Entscheidung kann nicht besser sein als die beste Option, die in Betracht gezogen wird.“ (Soll et al. 2015, S. 64–71)

Meine Interpretation dieser Auszüge ist, dass die Autoren einen akzeptablen, aber begrenzten Weg fördern, aber sie wissen nicht wirklich, was Intuition bedeutet,

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4  Die Anwendung

woher sie kommt oder wie wir uns darauf vorbereiten können, mehr davon zu erhalten. Deshalb empfehlen sie mentale Optionen, wie unter 2,26 schon erwähnt: • • • • • • • • • •

An die Zukunft denken Drei Schätzungen vornehmen Zweimal überlegen Außenansicht Nachdenken über Ziele Rat suchen Nachdenken über Optionen Durch gemeinsame Bewertung Ausprobieren des „Fluchtmöglichkeiten“-Tests Bekämpfung motivierter Voreingenommenheit

Durch die Anwendung dieser Methoden können wir durch die Schaffung von mehr intellektuellen Assoziationen deutlich effektiver und effizienter werden, aber unser großes Potenzial an Intuition, das sich aus dem Unbewussten ergibt, wird nicht genutzt. Unser großes Potenzial der Intuition liegt also außerhalb unseres Denkvermögens. Jeder hat Intuitionen, aber meistens zu wenige. Wir können den Intuitionsfluss wesentlich steigern, wenn wir gelernt haben, an unsere unbewusste spirituelle Dimension anzuschließen. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir innen spirituell wachsen, bekommen wir mehr Intuitionen von außen geschenkt. Und ethisch und moralisch sind wir dann ohnehin auf gutem Kurs. Man muss also vorbereitet sein, damit Intuitionen in hohem Maß fließen. Louis Pasteur bringt diese Erkenntnis kurz und knapp auf den Punkt: cc

Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist (Pasteur 1933, S. 348)

Diese deutsche, oft zitierte Übersetzung ist jedoch aus meiner Sicht irreführend. Zufall hat für mich eine doppelte Bedeutung. Entweder es passiert etwas zufällig, also ohne Grund und Sinn oder es fällt uns etwas zu aus gutem Grund oder mit Sinn. Das Letztere hat Pasteur aus meiner Sicht gemeint, oder ich würde ihn so interpretieren. Was ist mit Geist gemeint? Das ist wieder das Dilemma unserer deutschen Sprache. Soll unser Verstand, also unsere Denkfunktion sich mit Wissen anreichern oder soll unser Spirit, die spirituelle Dimension des Geistes, durch Nicht-Denken, sich erwartungslos offenhalten? Meiner Meinung nach müssen wir beides tun, aber die Beschränktheit der ersten Option und die Weite der zweiten

4.16  Intuition, Kreativität, Innovation: Geschenke aus dem Inneren

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Option wissen und erfahren haben. Also, wir müssen lernen, studieren und uns ins Wissen vertiefen und damit auch das zu lösende Problem definieren und strukturieren und wir müssen lernen, genau diesen rationalen Prozess loszulassen, um den Raum für das Transrationale zu öffnen. Das französische Originalzitat hilft uns weiter: cc

„Le hasard ne favorise que les esprits préparés.“ (Pasteur 1933, S. 348)

Es geht um den vorbereiteten Esprit! Wenn man nun Esprit aus dem Lat. ex spiritus (aus dem spirituellen Geist) ableitet, dann bedeutet Geist und Esprit die spirituelle Dimension, die oberhalb unseres Körpers, unseres Verstandes sowie der Seele liegt, die vorbereitet sein muss. Dieses ganze Buch beschäftigt sich ja genau mit dieser Vorbereitung und Öffnung im Zusammenhang mit Ethik und Moral. Nach dem Studium der Erfolgsgeschichten von Astronauten, Künstlern und Wissenschaftlern kommen die Autoren des Buches Intuition, Kreativität und ganzheitliches Denken – Neue Wege zum bewussten Handeln zu folgenden Schlussfolgerungen: • „Dass an der Basis menschlichen Bewusstseins eine unmanifestierte, nach Worten von Brahms kosmische Ebene von Kreativität existiert. • Dass menschliches Bewusstsein fähig ist, diese transzendente Ebene der Schöpfung durch inneren Selbstbezug, d h. meditative Versenkung, zu erfahren. • Dass diese selbstbezogene Ebene sozusagen in einem selbstbezogenen Bewusstseinszustand „zwischen Wachen und Schlafen“ angesiedelt ist. • Dass diese Ebene jenseits der üblichen „Denkinhalte“ liegt und deshalb nicht durch Nachdenken erfahren werden kann. • Dass die Erfahrung dieser Ebene zu einer ungewöhnlichen Entfaltung kreativer, intuitiver, intelligenter und ethischer Werte führt. • Dass herausragende Leistungen durch die „Ganzheitserfahrung“ dieser Ebene möglich werden. • Dass diese Ebene als der Ursprung menschlicher Kreativität und Intuition anzusehen ist und damit die eigentliche Basis menschlicher Existenz und der damit verbundenen subjektiven Aspekte beinhaltet.“ (Volkamer et al. 1991, S. 37) Innovationen sind erfolgreich am Markt eingeführte Erfindungen, die oft aus dem offenen und ehrlichen Dialog mit dem Kunden resultieren. Außendienstmitarbeiter, Techniker und Marketingverantwortliche, die Achtsamkeit und Mitgefühl entwickelt haben, sind hervorragend auf erfolgreiche Innovationen vorbereitet und positioniert. Den Weg zu erfolgreichen Innovationen ebnen Intuition und Kreativität.

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4  Die Anwendung

Kreativität im Management beschränkt sich nicht nur auf Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten. Auch zahlreiche andere Managemententscheidungen können intuitiv und mit großem Erfolg getroffen werden. Viele Innovationen scheitern einfach daran, dass sie die Produkte unseres egozentrierten Verstandes sind, ohne spirituellen Input. Mehr als die Hälfte aller Fusionen und Übernahmen scheitern, was zum Verlust von Investitionskapital führt. Persönliche und organisatorische Unzulänglichkeiten, die bei mangelnder Achtsamkeit unvermeidlich sind, führen zu Strategien, die zum Scheitern verurteilt sind und ganze Unternehmen belasten.

4.17 Resilienz: eine wesentliche Qualität Resilienz ist ein Geschenk für jeden, der sein inneres Wachstum entwickeln lässt. Wenn wir den Empfehlungen dieses Buches folgen, werden wir widerstandsfähiger gegen die unzähligen Versuchungen unmoralischer Handlungen. Wir werden auch widerstandsfähiger gegen Burn-out, Depressionen, Angststörungen und weitere psychische und physische Krankheiten. Die zahlreichen und vielfältigen Veröffentlichungen auf dem Markt, die sich mit Burn-out und Depressionen befassen, zeugen von dem Leid, das die Welt in unserer schnelllebigen, unpersönlichen, egozentrischen Hightechgesellschaft erfährt. Was ist Resilienz? Der Begriff stammt aus dem Bereich der Physik. Er bezieht sich auf die Elastizität eines Materials, (vom Lat.: resilire  – zurückschlagend). Brigitte Dorst schreibt in ihrem Buch Resilienz: „Das Wort Resilienz ist in den letzten Jahren in vielen Bereichen der Psychologie, in der Psychotherapie, der Beratung sowie im Coaching immer bedeutsamer geworden. Wir können Resilienz verstehen als eine Art psychisches Immunsystem, das die inneren Stabilisierungs- und Heilungskräfte umfasst. Resilienz hat zu tun mit folgenden Fragen: • Wie können Menschen schwierige Lebenssituationen, Krisen und Traumata überwinden, ohne dauerhaft Schaden zu nehmen oder zusammenzubrechen? • Wie können Kinder gedeihen und auch Erwachsene weiterwachsen, trotz widriger Lebensbedingungen? • Wie können Menschen ihre seelische und körperliche Gesundheit erhalten und Freude am Leben finden?“ (Dorst 2015, S. 13):

Auf diesem Gebiet wird wegen seiner Bedeutung für unsere Gesellschaft viel geforscht. Neben den psychologischen Symptomen wird auch der Nutzen ver-

4.17  Resilienz: eine wesentliche Qualität

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schiedener Medikamente untersucht. Auffallend oft brennen Menschen, die übergewichtig sind und an Müdigkeit und Schlaflosigkeit leiden, aus. Wir können direkt beobachten, dass diejenigen, die zu lange zu hart gearbeitet haben, ohne eine qualitativ hochwertige Freizeit zu nehmen, in der sich sowohl der Körper als auch der Geist erholen können, anfällig für das Ausbrennen sind. Was wird empfohlen? Wissenschaftler und Therapeuten sind heute überwiegend der Meinung, dass wir unsere Belastbarkeit gezielt ausbauen können. Eine Pause von der Arbeit, eine Veränderung der Art unserer Arbeit oder weniger Arbeit wird als Anfang empfohlen. Das Programm wird von Entspannungstechniken, Sport und gesunder Ernährung begleitet. Das hört sich alles positiv an, aber suchen wir an den falschen Stellen nach der Ursache für das Ausbrennen? Ignorieren wir die zugrunde liegende Ursache, während wir nur an den Symptomen herumbasteln? Wieder einmal werden die Ursachen in der Außenwelt gesucht, während der Einfluss des Inneren ignoriert wird. Es ist so viel einfacher, die Schuld auf Faktoren außerhalb von uns selbst zu schieben, als auf diejenigen in uns selbst. Burn-out kann durch äußere Faktoren ausgelöst werden, aber der Grund dafür, dass diese Faktoren zu einem Zusammenbruch führen, liegt im Inneren. Dies entspricht voll und ganz meinen persönlichen Erfahrungen. cc

Burn-out ist die Implosion des Egos

Wenn das Ego aufgrund des erhöhten Drucks von außen zusammenbricht, haben die meisten von uns nichts in sich wachsen lassen, was das kollabierende Ego aufnehmen kann. Das ist das Problem. Persönliches inneres Wachstum ist eine notwendige Voraussetzung für die Heilung, wird aber meistens nie versucht oder erreicht. Durch psychologisches oder spirituelles Training wird unsere Belastbarkeit gegenüber Stress durch das konsequente Wachstum der inneren Reife radikal erhöht. Erinnern Sie sich an das Zeugnis von C. G. Jung, der nach einer unglaublich reichen Lebenszeit von Erfahrungen zu dem Schluss kam, dass die Trennung von der heiligen inneren Quelle, dem Göttlichen, die Ursache aller psychischen Krankheiten ist. Sobald die Verbindung zur Seele verloren ist, gleiten wir in ein Meer der Verzweiflung. Die Heilung liegt eindeutig in der Wiederherstellung unserer Verbindung zu unserer Seele. Dies kann durch die Methoden der Tiefenpsychologie zusammen mit Lehren der spirituellen Weisheit und einer Studie über das Verhältnis der Quantenphysik zu unserer individuellen Psyche erreicht werden. Auf diese Weise sprechen wir den Kern des Problems an und nicht nur die Symptome. Das Ergebnis ist eine dauerhafte Belastbarkeit.

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4  Die Anwendung

Brigitte Dors sieht Intuition, Imagination und Fantasie als die Resonanzkräfte der Tiefenpsychologie. Sie empfiehlt die Stärkung der Seele mit inneren Bildern und Symbolen. Das Inhaltsverzeichnis ihres Buches liest sich dementsprechend: • • • • • • • • • • •

„Die Straßen des Lebens erkunden: der Weg Schutz und Geborgenheit finden: das Haus Wachsen und festen Stand haben: der Baum Schwierige Aufgaben bewältigen: der Berg Das innere Licht wieder hervorlocken: die Sonne Die Lebensquellen wiederfinden: das Wasser Hoffen und neu beginnen: der Regenbogen Im eigenen Zentrum ankommen: Spirale und Labyrinth Verbinden und Zusammenhalten: Faden, Band und Seil Der Weisheit des Herzens trauen: das Herz Bewährten Wegweisern folgen: Märchen und Geschichten als Lebenshilfe“ (Dorst 2015, S. 6)

Wenn wir dem Weg der Individuation oder Meditation folgen und diese Übungen täglich aufrechterhalten, werden wir unsere Widerstandskraft stärken, sodass die vielen externen Stressoren, die wir in unserem täglichen Leben erfahren, leichter ertragen werden können.

4.18 Z  usammenfassung aktueller Studien über die Wirkung der Achtsamkeitsmeditation In jüngster Zeit ist das Interesse an den neurokognitiven und psychologischen Effekten der Meditation gestiegen, insbesondere an der Achtsamkeitsmeditation und daran, wie sie zu größerer Lebensqualität und Belastbarkeit führen kann. Einige Beispiele aus dieser wissenschaftlichen Forschung, zusätzlich zu den in ­Abschn.  3.2.2 vorgestellten, folgen als Zitate aus einer Reihe von Veröffentlichungen.

4.18.1 Gehirn- und Immunfunktion Veränderungen im Gehirn und in der Immunfunktion, die durch Achtsamkeitsmeditation hervorgerufen werden:

4.18 Zusammenfassung aktueller Studien über die Wirkung …

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„Die zugrunde liegenden Veränderungen in biologischen Prozessen, die mit gemeldeten Veränderungen in der psychischen und physischen Gesundheit als Reaktion auf Meditation verbunden sind, wurden nicht systematisch erforscht. (…) Wir berichten zum ersten Mal über signifikante Erhöhungen der linksseitigen anterioren Aktivierung, ein Muster, das zuvor mit positiven Auswirkungen verbunden war, in den Meditierenden im Vergleich zu den Nicht-Meditierenden. Wir fanden auch bedeutende Zunahmen der Antikörper-Titer (eine Blutprobe) zum Grippeimpfstoff in der Medi­ tation, die mit denen in der Warteliste-Kontrollgruppe verglichen wurden. Schließlich, die Größenordnung der Zunahme der linksseitigen Aktivierung prognostiziert die Größenordnung des Antikörper-Titer-Anstiegs der Impfstoffe. Fazit: Diese Ergebnisse zeigen, dass ein kurzes Programm in der Achtsamkeitsmeditation nachweisbare Effekte auf die Gehirn- und Immunfunktion hat. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Meditation die Gehirn- und Immunfunktion positiv verändern kann und unterstreichen den Bedarf an zusätzlicher Forschung.“ (Davidson et al. 2003, S. 564)

4.18.2 Angst und Depressionen Der Effekt der achtsamkeitsbasierten Therapie von Angst und Depression: eine metaanalytische Untersuchung: „Die Suche ergab 39 Studien mit insgesamt 1140 Teilnehmern, die eine auf Achtsamkeit basierende Therapie für eine Reihe von Erkrankungen erhielten, darunter Krebs, generalisierte Angststörung, Depressionen und andere psychiatrische oder medizinische Erkrankungen. Schätzungen der Effektgröße deuten darauf hin, dass die auf Achtsamkeit basierende Therapie mäßig wirksam war, um Angstzustände (Hedges’ g = 0,63) und Stimmungssymptome (Hedges’ g = 0,59) von der Vor- bis zur Nachbehandlung in der Gesamtprobe zu verbessern. Bei Patienten mit Angst- und Stimmungsstörungen wurde diese Intervention mit Effektgrößen (Hedges’ g) von 0,97 bzw. 0,95 zur Verbesserung der Angst- und Stimmungssymptome assoziiert. Fazit: Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die auf Achtsamkeit basierende Therapie eine vielversprechende Intervention zur Behandlung von Angst- und Stimmungsproblemen in der klinischen Bevölkerung ist.“ (Hofmann et al. 2010, S. 169):

4.18.3 Stressabbau und -bewältigung Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion zur Stressbewältigung bei gesunden Menschen: ein Rückblick und eine Metaanalyse:

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4  Die Anwendung

„Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR) ist eine klinisch standardisierte Meditation, die bei vielen psychischen und physischen Störungen eine konsistente Wirksamkeit gezeigt hat. Weniger Aufmerksamkeit wurde den möglichen Vorteilen gewidmet, die sie bei gesunden Probanden haben kann. MBSR zeigte einen unspezifischen Effekt auf die Stressreduktion im Vergleich zu einer inaktiven Kontrolle, sowohl bei der Stressreduktion als auch bei der Steigerung der Spiritualitätswerte, und einen möglichen spezifischen Effekt im Vergleich zu einer Intervention, die darauf ausgelegt war, strukturell äquivalent zum Meditationsprogramm zu sein. Eine direkte Vergleichsstudie zwischen MBSR und Standard-­ Relaxationstraining ergab, dass beide Behandlungen gleichermaßen in der Lage waren, Stress abzubauen. Darüber hinaus gelang es MBSR, das grübelnde Denken und die Angst zu reduzieren sowie Empathie und Selbstmitleid zu steigern. Fazit: MBSR ist in der Lage, den Stresspegel bei gesunden Menschen zu reduzieren. Wichtige Einschränkungen der eingeschlossenen Studien sowie der Mangel an Evidenz über mögliche spezifische Effekte von MBSR im Vergleich zu anderen unspezifischen Behandlungen unterstreichen jedoch die Notwendigkeit weiterer Forschung.“ (Chiesa und Serretti 2009, S. 593)

4.18.4 Koronare Herzerkrankungen Meditation und koronare Herzkrankheit: Ein Rückblick auf die aktuellen klinischen Beweise: „Brustschmerzen durch koronare Herzkrankheiten (KHK) machen in den USA jährlich mehr als 8 Millionen Besuche in der Notaufnahme aus und unterstreichen die Notwendigkeit kardiovaskulärer Interventionen, um diese hohe Zahl zu reduzieren. Meditation – ein Zustand der Kontemplation, Konzentration und Reflexion – hat das Potenzial, zur Verringerung der CV-Krankheit beizutragen. (…) Schlussfolgerungen: In den letzten Jahrzehnten haben mehrere Studien die positiven Auswirkungen der Meditation auf verschiedene CV-Risikofaktoren gezeigt. Neben der Senkung der CV-Mortalität hat sich auch gezeigt, dass Meditation die Bedingungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus Typ 2, Dyslipidämie und hohe Cortisolwerte verbessert.“ (Ray et al. 2014. S. 696)

4.18.5 Schmerz und Lebensqualität Wirksamkeit der Achtsamkeitsmeditation über Schmerz und Lebensqualität bei Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen: „Die Genesung von Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen (LBP) ist von mehreren physischen und psychischen Faktoren abhängig. Daher wollten die Autoren die

4.18 Zusammenfassung aktueller Studien über die Wirkung …

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Wirksamkeit der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (MBSR) als Mind-Body-­ Intervention auf Lebensqualität und Schmerzschwere bei Patientinnen mit unspezifischem chronischem LBP (NSCLBP) untersuchen. Die Ergebnisse zeigten, dass MBSR wirksam bei der Reduzierung der Schmerzschwere bei den Patienten war, die acht Sitzungen der Meditation praktizierten, die signifikant geringere Schmerzen als Patienten berichteten, die nur die übliche medizinische Versorgung erhielten. Schlussfolgerungen: Die MBSR als Geist-Körper-Therapie mit Körperscan, Sitzund Geh-Meditation war eine effektive Intervention zur Reduzierung der Schmerzschwere und Verbesserung der physischen und psychischen Lebensqualität von Patienten mit NSCLBP.“ (Banth und Ardebil 2015, S. 128)

4.18.6 Depression Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie bei Depressionen: Trends und Entwicklungen: „Die auf Achtsamkeit basierende kognitive Therapie (MBCT) wurde als psychologische Intervention für Personen entwickelt, die von einem depressiven Rückfall bedroht sind. Mögliche Veränderungsmechanismen für diese Intervention stehen im Einklang mit ihren theoretischen Grundlagen und beinhalten eine Zunahme der Achtsamkeit und/oder eine Abnahme negativer repetitiver Gedanken. Es gibt konsistente empirische Belege für die Verwendung von MBCT zur Verringerung des Risikos eines depressiven Rückfalls.“ (MacKenzie und Kocovski 2016, S. 125)

4.18.7 Achtsamkeit und medizinische und psychologische Gesundheit Beziehungen zwischen Achtsamkeitspraxis und Ebenen der Achtsamkeit, medizinischen und psychologischen Symptomen und Wohlbefinden in einem auf Achtsamkeit basierenden Stressabbauprogramm: „In einer Stichprobe von 174 Erwachsenen in einem klinischen Mindfulness-Based Stress Reduction (MBSR)-Programm wurden Beziehungen zwischen der häuslichen Praxis der Achtsamkeitsmeditationsübungen und den Ebenen der Achtsamkeit, der medizinischen und psychologischen Symptome, des wahrgenommenen Stresses und des psychischen Wohlbefindens untersucht. Dies ist ein Gruppenprogramm mit acht Sitzungen für Einzelpersonen, die sich mit stressbedingten Problemen, Krankheiten, Angstzuständen und chronischen Schmerzen befassen (…)

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4  Die Anwendung

Schlussfolgerungen: Es wurde festgestellt, dass eine Zunahme der Achtsamkeit die Beziehungen zwischen formaler Achtsamkeitspraxis und Verbesserungen der psychologischen Funktionsweise vermittelt, was darauf hindeutet, dass die Praxis der Achtsamkeitsmeditation zu einer Zunahme der Achtsamkeit führt, was wiederum zu einer Symptomreduktion und einem verbesserten Wohlbefinden führt.“ (Carmody und Baer 2008, S. 23)

Wenn wir uns selbst die Gabe der Meditation schenken, verbinden wir uns direkt mit den Segnungen des Kosmos. Sind das nicht allein verlockende Gründe für uns, inneres Wachstum zu betreiben, auch wenn wir nicht die Verantwortung für ein nachhaltiges Wirtschaften im Sinne der neuen integralen Business Ethik 3.0 übernehmen wollen? Kreativität, Belastbarkeit, gesteigerte Gesundheit, größere Ausgeglichenheit in unserem Leben und noch nie da gewesene Zufriedenheit sind garantiert. Ist das nicht genug? Wer weiß, vielleicht findet mit der Zeit dann eine Veränderung unseres inneren Bewusstseins statt. Ethik und Moral werden daraus wachsen und werden eine Bereicherung in unserem äußeren persönlichen und beruflichen Leben. Wirklich eine Win-win-Situation!

Literatur Ackermann, A. (2004). Easy zum Ziel. München: Peter Erd. Amann, S. (2015). Jung und unfair. Der SPIEGEL, 14, Hamburg. Banth, S., & Ardebil, M. D. (2015). Effektivität der Achtsamkeitsmeditation über Schmerzen und Lebensqualität von Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen. Front Psychologie, 2013(4), 1020. Veröffentlicht online 2014 Jan 10. Und International Journal of Yoga 2015 Jul–Dez, 8(2), 128–133. BCG. (1968). What is the growth share matrix? https://www.bcg.com/de-de/about/our-history/growth-share-matrix.aspx. Zugegriffen am 08.04.2020. Beise, M., & Schäfer, U. (4./5./6. April 2015). Die Zerstörer. Süddeutsche Zeitung, Nr. 78. Berger, W. (2013). Business reframing. Wiesbaden: Springer Gabler. Brinkmann, R. (8. Mai 2008). Keine faulen Kompromisse. FAZ. Brinkmann, R., & Stapf, K. (2005). Innere Kündigung. München: Beck. http://ergonomie-­ am-arbeitsplatz.de/innere-kuendigung/. Bünder, H., & Koch, B. (8. Juli 2015). Die Kapriolen der Energie-Versager. FAZ. von Carlowitz, H.  C. (1713). Sylvicultura Oeconomica. Leipzig: Braun. https://digital. slub-dresden.de/werkansicht/dlf/85039/127/cache.off. Zugegriffen am 15.04.2020. Carmody, J., & Baer, R. A. (2008). Relationships between mindfulness practice and levels of mindfulness, medical and psychological symptoms and well-being in a mindfulness-­ based stress reduction program. Journal of Behavioral Medicine, 31(1), 23–33. Epub 2007 Sep 25.

Literatur

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Reflexionen als Epilog von Richard Warrington

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Achtsames Bewusstsein Was ist das? Wie erreichen wir das? Ist es wichtig? Warum?

Die Antworten auf diese Fragen bilden den Inhalt dieses Buches. Ein notwendigerweise kühner, aber mitfühlender und einfühlsamer Ansatz wurde bei der umfassenden Entfaltung des Durcheinanders verfolgt, das wir Menschen aus unserem Leben gemacht haben, und auch, warum es unvernünftig ist, zu erwarten, dass weitere rationale Überlegungen uns herausheben werden. Nur durch ein größeres Verständnis und eine größere Akzeptanz unserer angeborenen intuitiven Fähigkeit, Recht von Unrecht zu erkennen, durch die Erhöhung unseres Bewusstseins für uns selbst und die Umarmung unserer spirituellen Natur, um unsere Verbundenheit mit dem ganzen Leben zu erfahren, können wir hoffen, mit der wesentlichen persönlichen Transformation gesegnet zu werden, die uns aus unserem egozentrischen Verstand heraushebt und uns als Führungspersönlichkeiten positioniert, die durch Res­pekt geachtet werden. Wir leben in herausfordernden Zeiten, gesellschaftlich und individuell. Über Jahrtausende haben Zivilisationen zwischen fortschreitender Evolution und beunruhigender Dezentralisierung gewechselt. Dunkle Zeiten voller Enttäuschungen

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Meyer-Galow, Business Ethik 3.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30786-8_5

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und Rückschläge sind für uns keine Fremdwörter, aber auch nicht das Auftauchen erleuchteter Individuen, die sich, wenn die Zeiten am dunkelsten sind und wir reif für Führung sind, der Herausforderung stellen, einen Weg nach vorn aufzuzeigen. Jeder erfolgreiche Vorschlag zur persönlichen Weiterentwicklung, ungeachtet des einzigartigen Kontextes, in dem jede historische Periode eingehüllt ist, muss in uns als intuitiv gesund und vernünftig nachklingen. Die meisten Vorschläge für persönliches, spirituelles und moralisches Wachstum haben ihre Wurzeln in der Antike. Viele haben zuvor verschiedene spirituelle Disziplinen oder psychoanalytische Praktiken hervorgebracht, die sich in dem Maße unterscheiden, in dem sie unseren Verstand oder unseren Geist ansprechen. Auf dem Weg dorthin, in der westlichen Welt, fand unser Ansatz, die Natur unserer Realität zu erforschen, einen anderen Ausdruck als der vieler östlicher Gesellschaften, mit dem katastrophalen Ergebnis, dass unser Ego-Geist und unser intuitives Bewusstsein nicht mehr gut zusammenspielten. Wir haben die Verbindung zwischen den beiden getrennt. cc

Was ist die Wurzel unserer Individualität?

Schließt die Individualität eine gemeinsame Einheit von Zweck, Begehren, Res­pekt und Mitgefühl aus? Ist unsere scheinbare Einzigartigkeit wirklich wichtig? Wir sind alle auf der gleichen Erdkugel inkarniert, um unser Lernen über uns selbst und andere zu fördern und die transformierende Kraft der Liebe zu erfahren, um vollständiger verwirklicht zu werden. Aber unsere wichtigsten Lehren, einander zu lieben und die Liebe zu erweitern, sind allzu oft diejenigen, die wir vernachlässigen. Sind wir individuell wirklich so verschieden oder ist es eher so, dass wir uns nie die Mühe gemacht haben, unser kindliches Ego zu disziplinieren, das darauf besteht, dass wir so besonders sind? Ist unser persönlicher Erfolg als Mensch genauso wichtig wie unser Erfolg als Mensch? Als Sänger und Songwriter fragt uns Elvis Costello, was so lustig ist an Frieden, Liebe und Verständnis? Professor Dr. Erhard Meyer-Galow hat mutige, aber sanft verwobene Angebote aus Tiefenpsychologie und Individuation zusammen mit Beobachtungen aus der Quantenphysik, die eindeutig die Wechselwirkung zwischen Denken und Materie begründen, in den uralten Gobelin spiritueller Traditionen und Praktiken verwoben und verlockend empirische Beweise zusammen mit mitfühlender Anleitung zu Praktiken angeboten, die uns zu einem größeren Bewusstsein der Achtsamkeit ermutigen können. Dabei ermutigt er uns zu einer individuellen, intuitiven Offenbarung: der Erkenntnis, dass wir eng miteinander verbunden sind und mit der gesamten Schöpfung mitschwingen. Als jemand, der seit mehreren Jahrzehnten die innere Reifung durch aktives Suchen und kritisches Hinterfragen von Wissen sowie die Aufnahme und Umar-

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mung von intuitiver Weisheit in sich aufgenommen hat, als jemand, der in der Lage ist, sowohl das Tun als auch das Sein in vollem Umfang zu erleben, hat Professor Meyer-Galow die meisten, wenn nicht sogar alle Ansätze, die er in diesem Buch fördert, unternommen, erlebt und davon profitiert. Seine Entscheidung, bewusst das allumfassende „Wir“ und nicht das präskriptive „Du“ zu verwenden, ist die Erkenntnis, dass wir alle gemeinsam daran beteiligt sind, und seine Erkenntnis, dass jede wirkliche, dauerhafte Lösung für unsere gegenwärtige moralische und ethische Krise in der Welt von jedem von uns, unabhängig von unserem Bewusstseinsstatus, unternommen werden muss. Es gibt keinen Ersatz für Authentizität. Das Wissen über etwas ist ein blasses Spiegelbild des Wissens über etwas. Kein Studienumfang, der uns zu mehr Wissen führen könnte, kann mit einer direkten, persönlichen Erfahrung verglichen werden. Wir sind desillusioniert von spirituellen Führern, die Gott nie direkt erlebt haben, und ebenso abweisend von Business Coaches und Beratern, die nie erfolgreich ein ethisches Unternehmen geführt haben. Professor Meyer-Galow hat einen veränderten Bewusstseinszustand erreicht, der ihn dazu gebracht hat, direkt eine höhere, vereinigende kosmische Energiekraft zu erfahren, die viele von uns Gott nennen. Er hat auch eine lange und glänzende Karriere als CEO einer Reihe von Industrie­ unternehmen und gemeinnützigen Institutionen hinter sich, in denen seine nachhaltige Handschrift ein progressiver, produktiver und allumfassender Führungsstil ist. Sein Wissen, seine Weisheit, sein Einfühlungsvermögen und sein Respekt für andere ermutigen uns, seiner Führung zu vertrauen und uns zu begeistern, seine Vorschläge in unserem beruflichen und privaten Leben anzuwenden. Es gibt nichts Glaubwürdigeres als Erfolg. Es fügt der Theorie Authentizität hinzu. Unsere Welt ist sehr vielfältig, geprägt durch Geografie und Kultur sowie durch spirituelle Überzeugungen und religiöse Rituale. Aber unsere Unterschiede müssen nicht geteilt oder begrenzt werden, sie können sogar ein Sprungbrett für weiteres persönliches Wachstum sein, indem sie uns zu einer größeren Wertschätzung des Reichtums verhelfen, der mit der Vielfalt einhergeht. Eine Erforschung der verschiedenen Weisen, in denen die Menschen in anderen Gesellschaften gelernt haben, in Harmonie mit der Natur zu leben, ihrer interessanten Nahrungsmittelauswahl und alternativen Zubereitungsweisen ähnlicher Speisen, zusammen mit ihren Zeremonien, die das Erwachsenwerden, die Hochzeits- und Todesrituale feiern, kann uns sehr bereichern und vereinen. Wir können auch die Gelegenheit nutzen, zu entdecken und zu erforschen, wie andere die Natur einer höchsten organisierenden Einheit oder Gottheit wahrnehmen und wie sie dieser größeren energetischen Präsenz huldigen. Differenzen werden erst dann spaltend, wenn wir als Erwachsene uns von unserem unreifen Ich zuerst oder Sieger nehmen alles in Form eines Ego-Geistes domi-

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nieren lassen, anstatt die größere emotionale und spirituelle Reife zu fördern, die erkennt, dass, wie auch immer wir andere behandeln, alles sich auf uns selbst zurückwirft. Wenn wir Mitarbeiter als teure Verbindlichkeiten und nicht als zu bewertende, zu pflegende und zu fördernde Vermögenswerte behandeln, beginnen wir einen einschränkenden, selbstzerstörerischen Weg, der letztlich nur zu persönlichem und unternehmerischem Versagen führen kann. Unsere Seele und unser Geist hungern nach der Erkenntnis, die es ihnen erlauben wird, uns zu dienen, wie sie es tun sollen, aber unser Ego verlangt, dass es zuerst gefüttert wird, und wenn es einmal gesättigt ist, sorgt es dafür, dass wir selbstbegrenzend werden und nicht mehr in der Lage sind, über unsere geistige Unterernährung hinauszuwachsen. Unser Ego kann unsere egozentrischen Einstellungen rationalisieren, indem es die Verantwortung für sie auf unsere Eltern, unsere Lehrer, Gleichaltrigen oder unsere politischen, spirituellen oder religiösen Führer überträgt. Aber in Fairness werden die anderen und ihre Lehren meistens auch von ihrem Ego-Geist verführt und sabotiert. Wir müssen also die Verantwortung für unsere eigenen Grenzen übernehmen und dürfen uns nicht durch die Grenzen anderer definieren lassen. Letztendlich müssen wir die oft einsame und schmerzhafte Lektion lernen, wie wir in reifer Harmonie mit unserem Ego allein leben können. Die Reise ist schwierig, oft mit enttäuschender Entmutigung von außen, aber sobald wir die Absicht formulieren und anfangen, uns unserem empfänglichen, intuitiven Selbst zu öffnen, sind wir mit Inspiration von innen gesegnet. Während wir beginnen, unser Selbst zu ermutigen, um die Offenbarung unseres kooperativen und kollektiven Platzes in einer Weltgesellschaft zu offenbaren, stellen wir fest, dass wir in den vielen Realitäten, die unser tägliches Leben ausmachen, friedlicher präsent sind. cc

Perfektion ist ein bewegliches Ziel

Das Beste, was wir erreichen können, ist, uns in der Annahme zu entspannen, dass, wenn wir die Absicht haben, uns der Vollkommenheit sanft anzunähern, wir dort ankommen werden, wo wir am besten in der Lage sind, uns selbst und anderen mit einem freudigen Herzen zu dienen. Wir leben in einer komplexen und dualen Welt und sind ein integraler Bestandteil von Polaritäten. Nord und Süd, heiß und kalt, Gesundheit und Krankheit, hell und dunkel. Seien wir uns darüber im Klaren, dass Polaritäten nicht spaltend sind, sie trennen nicht. Sie sind nicht exklusiv wie die Dualität, sondern inklusiv, beides wesentliche polare Komponenten, die die Vielfalt zu einem einzigen, einheitlichen Ganzen vereinen. Die Natur fördert und ermutigt die Vielfalt in allen materiellen und fühlenden Schöpfungen. Die Pflege unseres Bewusstseins, dass Vielfalt natürlich ist, hilft uns, unsere Einheit mit allem anderen zu erkennen, zu erkennen, dass

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unsere wahrgenommenen Unterschiede einfach Kämpfe mit und in uns selbst sind. Diese Anerkennung ermöglicht es uns, andere Menschen mit dem gleichen liebevollen Mitgefühl zu erreichen, wie wir selbst es von anderen erwarten und schätzen würden. Sie ermutigt uns zu moralischen Entscheidungen und ethischem Handeln. Sie vervollständigt uns und nur durch diesen Prozess der Vollendung in uns selbst können wir mit der ganzen Menschheit vollständig werden. Es gibt viele Routen den Berg hinauf, aber alle Wege führen zum Gipfel. Die Ablehnung oder gar die schlichte Unterdrückung unserer dunklen Seite ungeachtet der Reinheit unserer Absichten hat für uns selbst und unsere gesamte Einflusssphäre fatale Folgen. Religiöse Lehren, die diesen Ansatz befürworten, haben es versäumt, den Konflikt zu verringern, ja sogar den Konflikt zwischen unseren Polaritäten Dunkel und Hell zu verschärfen. Jeder Aspekt muss innerhalb der Grenzen, die wir uns selbst setzen müssen, erkannt, angepasst und zum Ausdruck gebracht werden, sonst wird unser Konflikt nach außen projiziert und wird zum Weltkonflikt. Wir mögen die gleiche Herangehensweise an unsere dunklen und hellen Seiten haben, wie C. G. Jung es bei Sexualität und Spiritualität getan hat, indem wir jede Seite als die Gegenseite derselben Medaille betrachten, wobei jede Seite in ihrem Ausdruck gleich wichtig und für das dynamische Gleichgewicht, das unserem ganzheitlichen Selbst zugrunde liegt, ebenso wichtig ist. Während ich Erhard bei der Strukturierung dieses Buches unterstützte, fand ich mich oft in der Reflexion über die Myriade verschiedener spiritueller Pfade und religiöser Überzeugungen wieder. Dieses Thema wurde von vielen Autoren reflektiert, einer der überzeugendsten ist Eckhart Tolle in seinem Buch: cc

„A New Earth Awakening to Your Life’s Purpose.“ (Tolle 2006)

Meine eigene umfassende Auseinandersetzung mit dem Metaphysischen hat dazu geführt, dass viele traditionelle christliche Gebote beibehalten wurden, aber so neu positioniert wurden, dass das Licht, das sie einfangen und reflektieren, von einem nicht traditionellen Teil des Spektrums ausgeht. Wie unterscheiden sich die Konstrukte, die dem Geistigen und dem Religiösen zugrunde liegen? Warum ist ein integrativer Ansatz, der den Input aus der Tiefenpsychologie und der Individuation berücksichtigt, zusammen mit intuitiv entstehenden Erkenntnissen, die sich aus der intensiven inneren Arbeit ergeben, eher geeignet, uns auf eine Transformation unseres Bewusstseinszustandes vorzubereiten als die Akzeptanz der traditionellen religiösen Interpretation der Schriften? Erstens lassen sie uns erkennen, dass es Gedanken sind, die aus unserem Ego-Geistesbewusstsein hervorgehen, die zu unserem begrenzten Bewusstsein führen. Dieses begrenzte Bewusstsein wiederum hindert uns daran, unseren Weg in

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einen veränderten Bewusstseinszustand zu denken. Indem wir unseren Ego-Geist aufheben, können wir erkennen, dass wir nicht unsere Gedanken oder Erfahrungen sind, sondern uns mit einer universellen Intelligenz verbinden, die uns in das Bewusstsein versetzt, dass wir etwas ganz anderes sind als die Summe der Überbleibsel – so schwierig oder so angenehm sie auch sein mögen – unseres Lebens. Wir können uns nicht über einen selbst auferlegten, selbstzerstörerischen Zustand erheben, indem wir dieselben Prämissen anwenden, die den Zustand verursacht haben. Es bedarf einer Bewusstseinsverschiebung, damit wir aus unserem dysfunktionalen Zustand ausbrechen können. Alles, was nicht zu dieser Schicht gehört, ist zum Scheitern verurteilt. Erst wenn wir empfänglich werden, können wir zur Erleuchtung erwachen, was einen Bruch in der Kontinuität unserer normalen Denkmuster und Konditionierungen bedeutet, der es uns erlaubt, unser nicht erwachtes Selbst zu erkennen. Die in diesem Buch enthaltenen Informationen und Anregungen können uns jedoch helfen, eine persönliche Grundlage zu schaffen, die für eine Bewusstseinsverschiebung empfänglich ist und uns in die Lage versetzt, einen Gnadenakt zu empfangen, der die einzige Möglichkeit ist, unser Bewusstsein zu transformieren. Erhard erinnert uns so treffend daran, dass wir, wenn wir erst einmal anfangen, das nötige schwere Heben zu tun, für immer verändert werden, dass wir anfangen, moralische Entscheidungen zu treffen und ethischen Praktiken zu folgen, weil wir nicht anders können. Diese Veränderungen, die von anderen anerkannt werden, verschaffen uns den Respekt, der es uns erlaubt, selbstbewusste und kompetente Führungskräfte zu werden, ein Licht, das in der Wildnis leuchtet, auch wenn wir im Glauben auf einen Gnadenakt warten. Ein grundlegender Grundsatz der christlichen Lehre ist, dass wir in der Sünde geboren sind und gerettet werden müssen. Der Himmel weiß, wir müssen gerettet werden! Aber nicht von der Erbsünde. Das Neue Testament wurde auf Griechisch geschrieben, wobei Sünde bedeutet, dass man sich irreführen lässt, um falsch zu denken oder zu handeln, was im Allgemeinen zu einem Missverständnis des Lebensziels führt. Sie hat keine inhärente spirituelle Bedeutung und als Brennpunkt des Christentums fungiert sie als ein Ablenkungsmanöver, das dazu dient, unsere Bemühungen, uns auf eine wirkliche Transformation des Bewusstseins vorzubereiten, fehlzuleiten. Selbst wenn wir uns als Christen hingeben, ist es verwirrend und wenn wir verwirrt sind, leiden wir darunter. Die größere Tragödie ist, dass wir, wenn wir leiden, im Allgemeinen dafür sorgen, dass wir auch in anderen Menschen Leid verursachen. Jedes System, das die Evangelisation fördert, in der Individuen, die ein bestimmtes Glaubenssystem annehmen, versuchen, andere zu ihren Überzeugungen zu bekehren, fördert die Dualität zusammen mit ihrer inhärent spaltenden Natur. Es spricht für einen alten, müden, gescheiterten und unvernünftigen Glauben, dass wir Einheit erreichen können, indem wir die Spaltung fördern, in-

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dem wir ein Szenario wir gegen sie fördern. Es kann nur scheitern. Indem wir unserem ungezügelten Ich-Geist freien Lauf lassen, stellen wir sicher, dass wir unser eigener schlimmster Feind werden. cc

Wir müssen uns selbst aus dem Weg räumen, um voranzukommen

Es geht um Verbindungen. Wegen unserer historischen Weigerung, unsere Verbundenheit mit allem zu sehen, ist unsere Geschichte eine Geschichte des Wahnsinns, eine Geschichte, in der wir gewissenhaft auf Selbstzerstörung hinarbeiten. cc

Wir sind kollektiv dysfunktional

Unser Bewusstseinszustand und das Wohlergehen unseres Planeten stehen in direktem Zusammenhang miteinander. Ohne unsere Verbindung zu unserer Umwelt zu kennen, verschmutzen wir unser kostbares Wasser und töten die Pflanzen und Tiere ab, die für die Vielfalt der Natur notwendig sind, die ihr die Kraft und Ausdauer gibt, unseren Planeten zu erhalten. Wenn die Erde stirbt, sterben auch wir, langsam, von innen nach außen. Die Anerkennung unseres eigenen Wahnsinns leitet jedoch den Beginn von Vernunft, Heilung und Bewusstseinsveränderung ein. Da immer mehr Menschen ein neues Bewusstsein annehmen, ist auch unser Planet gezwungen, sich zu verändern; zunächst einmal mit beispiellosen, monumentalen, ja katastrophalen Umweltereignissen, wie sie derzeit weltweit realisiert werden. Im Laufe der Jahrhunderte wurden einige wenige Menschen mit der Anerkennung grundlegender Wahrheiten gesegnet, nach denen alle Religionen streben. Diese Wahrheiten wurden dann im Kontext ihrer eigenen religiösen Neigungen konzeptualisiert. Das frühe Christentum brachte die Mystik und die Gnostiker hervor. Das Judentum erkannte den Chassidismus an, und Kabbala und der Islam umarmten den Sufismus. Advaita Vedanta entstand aus dem Hinduismus und Zen und Dzogchen aus dem Buddhismus, die große Vollkomenheit. Etablierte Religionsführer fühlten sich durch diese Emporkömmlinge bedroht, was dogmatische Vorgaben zugunsten der Empfehlung der inneren Reifung als unseren Weg zu intuitiver Bewusstwerdung und nachfolgender Erleuchtung verworfen hat. Vor über 2500 Jahren erkannten sowohl Buddha in Indien als auch Lao Tse in China, der uns mit dem Tao Te King gesegnet hat, unseren dysfunktionalen Zustand. Sie versuchten, den Ausweg aus unserem Leiden aufzuzeigen, aber sie waren ihrer Zeit zu weit voraus. Ihre Lehren wurden von nachfolgenden Lehrern mit eigennützigen Agenden modifiziert, die selbst dysfunktional waren. Religionen begaben sich auf den rutschigen Hang, nicht inklusive, sondern exklusiv zu werden. Religiöse Führer begannen zu handeln, als ob sie Gott wären oder zumindest

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das ausschließliche Recht hätten, im Namen Gottes zu sprechen. Spaltungen förderten Intoleranz und Hass, Kriege wurden geführt und die Menschen wurden durch ihre Religionen und sogar innerhalb ihrer Religionen weiter gespalten. Es wurde: Mein Gott ist besser als dein Gott. Währenddessen wurde unser Gott aufgegeben. Erleuchtete Lehrer wie Buddha und Lao Tse hinterließen ein wertvolles Vermächtnis für diejenigen, die bereit sind, über den sich daraus ergebenden Wahnsinn hinauszuschauen und ihre einfache, ermächtigende Botschaft anzunehmen. Spiritualität hat wenig mit einem etablierten Glaubenssatz zu tun. Es geht um die Anerkennung unseres begrenzten Bewusstseins und darum, wie wir es ermöglichen können, dass es sich in uns ausdehnt. Unser Ich-Geist beschäftigt sich mit unserer Vergangenheit, Gegenwart und einer wahrscheinlichen Zukunft. Dieses künstliche, aber sehr praktische zweidimensionale Zeitkonstrukt, das sich von links nach rechts über eine Seite bewegt, erlaubt es uns, mit anderen Menschen in unserem täglichen Leben zu interagieren, aber es hindert uns daran, in jedem Moment vollständig präsent zu sein, um es vollständig zu leben. Ein nützlicheres Konstrukt der Zeit, um sich wirklich in jedem Moment mit unserem Selbst zu verbinden, ist ein dreidimensionales Konstrukt, in dem wir uns Zeit vorstellen, uns von einem einzigen Punkt auf einer Seite nach innen zu bewegen. cc

Achtsames Bewusstsein ist ein Segen,

der sich daraus ergibt, dass man mit der Weisheit des Universums voll präsent ist. Zu glauben, dass wir angekommen sind, die Wahrheit erkannt und akzeptiert zu haben, ist unvereinbar mit der Spiritualität. Je mehr wir zu unseren Überzeugungen werden, desto weiter entfernen wir uns von der wirklichen Spiritualität, die als eine Dimension in uns existiert, eine Dimension, die allein durch das Denken unzugänglich ist. Die Tatsache, dass die Spiritualität in der westlichen Welt, in der die Abhängigkeit vom Ich-Geist traditionell am weitesten verbreitet ist, an Fahrt gewinnt, ist bemerkenswert. Infolgedessen kommt es, auch aufgrund der Schrumpfung der Welt durch die digitale Revolution, die uns einen besseren Einblick in die östlichen Praktiken ermöglicht, zu einer Entleerung der Kirchen. Wir wenden uns von extern etablierten Ritualen und Proklamationen derer ab, die weitgehend unqualifiziert sind, um sie zu etablieren, und entdecken die Möglichkeiten, die in uns selbst liegen, neu. Dieses spirituelle Erwachen bedroht diejenigen, die sich mehr mit Dogmen als mit Prozessen beschäftigen, die sich als Antwort noch mehr in ihr unreifes Ego-Bewusstsein verlieben und radikaler werden, indem sie darauf bestehen, dass es der einzige Weg ist. Glücklicherweise, wenn die Spannung zwischen

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den beiden Polaritäten zunimmt, wird der Ego-Geist nachgeben. Je höher die Steifigkeit, desto anfälliger ist sie für Implosionen. Das letzte Wort überlasse ich D. H. Lawrence, der Lady Chatterley’s Lover in den 1920er-Jahren in England schrieb. Er lässt den Wildhüter, der Lady Chatterleys Geliebte ist, mit Lady Chatterley sprechen: „Mein Gott, die Welt muss heute kritisiert werden (…) und zu Tode kritisiert werden. Deshalb lasst uns das geistige Leben leben, und Ruhm in unserer Boshaftigkeit, und die verdorbene alte Show, einziehen. Aber, wohlgemerkt, es ist so: Während du dein Leben lebst, bist du in gewisser Weise ein organisches Ganzes mit allem Leben.“ (Lawrence 2010, S. 39)

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„Aber wenn man einmal mit dem mentalen Leben begonnen hat, pflückt man den Apfel.“ (Lawrence 2010, S. 39) „Sie haben die Verbindung zwischen dem Apfel und dem Baum gelöst: die organische Verbindung. Und wenn Sie nichts in Ihrem Leben haben, außer dem mentalen Leben, dann sind Sie selbst ein gerupfter Apfel. (…) Sie sind vom Baum gefallen. Und dann ist es eine logische Notwendigkeit, gehässig zu sein, genauso wie es eine natürliche Notwendigkeit ist, dass ein gepflückter Apfel schlecht wird.“ (Lawrence 2010, S. 39)

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Über den Autor

Professor Dr. Erhard Meyer-Galow (Jahrgang 1942) studierte Chemie an der Johann-­Wolfgang-GoetheUniversität in Frankfurt/M., war 1998/99 Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker GDCh und maßgeblich an der Gründung der Fachgruppe Wirtschaftschemie beteiligt. Er veranlasste in dieser Zeit auch die Gründung eines Stiftungslehrstuhls für Wirtschaftschemie an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Wilhelms-Universität Münster und hielt dort selbst viele Jahre Vorlesungen über Wirtschaftschemie. 1998 erhielt er für seine Verdienste das Bundesverdienstkreuz. Nach der Promotion in Anorganischer Chemie 1968 war er in führenden Positionen der chemischen Industrie tätig, wie beispielsweise als Vorsitzender des Vorstands der Hüls AG, der Brenntag AG und der Stinnes AG.  Damit verbunden war er auch Mitglied des Vorstandes der Veba AG. In diesen erfolgreichen Jahren der praktischen Erfahrung fühlte er sich der Wertsteigerung, Ethik und Moral, Nachhaltigkeit und einer empathisch mitfühlenden Unternehmens- und Personalführung besonders ver­ pflichtet.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 E. Meyer-Galow, Business Ethik 3.0, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30786-8

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Über den Autor

Er ist heute Autor, Speaker, Stifter und Sponsor und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen der Tiefenpsychologie, spirituellen Weisheitslehren, Quantenphysik und der ZEN-Meditation. In seinen Schriften und Vorträgen geht es um Achtsamkeit und Loslassen, Ethik und Moral, Intuition, Inspiration und Innovation sowie um die Steigerung der Kreativität aus erweiterten Bewusstseinsräumen. Die bei der GDCh angesiedelte Meyer-Galow-Stiftung für Wirtschaftschemie verleiht jährlich den Meyer-Galow-Preis für Wirtschaftschemie für Innovationen in der chemischen Industrie, die nachhaltig und für die Menschheit von herausragender Bedeutung sind. (https://www.gdch.de/gdch/stiftungen/meyer-galow-stiftung.html) Meyer-Galow ist seit 01.01.2019 Präsident der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e. V. (https://www.humboldt-gesellschaft.org/) Weitere Informationen zur Arbeit des Autors: www.ligw.de