Theologische Realenzyklopädie: Band 34 Trappisten/Trappistinnen - Vernunft II [Reprint 2020 ed.] 9783110892376, 9783110173888

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Theologische Realenzyklopädie: Band 34 Trappisten/Trappistinnen - Vernunft II [Reprint 2020 ed.]
 9783110892376, 9783110173888

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Theologische Realenzyklopädie Band X X X I V

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Theologische RealenzyMopädie In Gemeinschaft mit Horst Balz • James K. Cameron Christian Grethlein • Stuart G. Hall Brian L. Hebblethwaite • Karl Hoheisel W o l f g a n g Janke • Volker Leppin Knut Schäferdiek • Gottfried Seebaß Hermann Spieckermann • Günter Stemberger Konrad Stock herausgegeben von Gerhard Müller

Band XXXIV Trappisten/Trappistinnen - Vernunft II

Walter de Gruyter • Berlin • New York 2002

Redaktion: Dr. Albrecht D ö h n e r t Lieferung 1 Trappisten/Trappistinnen - Tübingen März 2002 Lieferung 2 / 3 Tübingen - Utopie/Utopisten August 2 0 0 2 Lieferung 4 / 5 Utopie/Utopisten - Vernunft II N o v e m b e r 2 0 0 2

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-017388-3 Bibliografische

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Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH 8c Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort In Band 33 unseres Werkes hatte ich vom Tod von Kurt Nowak und von Henning Schröer berichten müssen (S.V). An die Stelle von Kurt Nowak war bereits damals dankenswerterweise Herr Professor Dr. Volker Leppin getreten. Heute kann ich mitteilen, daß zur Freude von Verlag und Herausgebern Herr Professor Dr. Christian Grethlein die Verantwortung für das Fachgebiet Praktische Theologie übernommen hat und die Arbeit von Henning Schröer fortführen wird. Wir danken ihm herzlich dafür und wünschen ihm für die noch zu erarbeitenden wenigen Bände ein gutes Zusammenwirken mit Autorinnen und Autoren sowie mit Verlag und uns Herausgebern. Erlangen, 6. September 2002

Gerhard Müller

Trappisten/Trappistinnen

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Trappisten/Trappistinnen 1. Die Herausbildung des Ordens der Strengen Observanz 2. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart 3. Verbreitung des Ordens (Quellen/Literatur S. 3)

1. Die Herausbildung des Ordens der Strengen

Observanz

„Trappisten/Trappistinnen" ist eine volkstümliche Bezeichnung für Mönche und Nonnen des Ordens der -•Zisterzienser der Strengen Observanz. In der Bezeichnung spiegelt sich das Ansehen des bekanntesten unter den Klöstern des 17. Jh. in -»Frankreich, in denen junge Zisterzienser die weithin üblich gewordenen Milderungen der Regel des heiligen —»Benedikt verwarfen ( —» Benediktusregel), des Klosters La Trappe. Klöster, die sich dieser strengeren Observanz anschlössen, wurden wegen ihrer Ablehnung von Fleischspeisen - das Merkmal der strikten Befolgung der Regel - als „Abstinente" bezeichnet, während Klöster, die in der Ernährung und anderen Bereichen Anpassungen erlaubt hatten, die „Alten" hießen. La Trappe war eine feuchte, verfallene Abtei mit sieben Mönchen, die 1664 der Leitung des Abts Armand-Jean Le Bouthillier Abbé de Raneé (gest. 1700) unterstellt wurde. Raneé, ein Adliger, der den üppigen Lebensstil seiner Jugend mit Einkünften aus fünf Kommendatarabteien bestritten hatte, die er bereits als Zwölfjähriger übernommen hatte, entschied sich nach einem persönlichen Bekehrungserlebnis für den Eintritt in den Zisterzienserorden, der ihn schon länger unterstützt hatte. Seine Interpretation der Regel und der zisterziensischen Ideale war stark durch die Spiritualität der Wüstenväter und den Rigorismus des 17. Jh. beeinflußt. Das Büßerleben von La Trappe und die hohe Sterblichkeitsrate unter seinen Angehörigen erregten Ehrfurcht und Bewunderung in einer Zeit unerhörter Luxusentfaltung der oberen Klassen. Raneé wurde eine zentrale Gestalt der Klosterreform und spiritueller Berater mehrerer Gemeinschaften von reformorientierten Nonnen. Die Entstehung der Strengen Observanz ist vor dem Hintergrund des —»Gallikanismus und Jansenismus (—» Jansen/Jansenismus) des 17. Jh. zu sehen. Die gallikanische Kirche genoß fast völlige Unabhängigkeit von Rom, blieb aber im Verband der katholischen Kirche. Die Krone nahm alle kirchlichen Ernennungen vor, entschied in Streitsachen und behielt sich die Promulgation päpstlicher Entscheidungen in Frankreich vor. Zur gleichen Zeit bekämpfte ein moralisch rigoristischer Jansenismus sowohl den päpstlichen Zentralismus wie die staatliche Kontrolle über die Kirche und wetterte gegen aristokratische Extravaganz und jesuitische Theologie. Sehr bald hatte der zisterziensische Reformeifer, der in Rom und bei den Zisterzienserkongregationen der verschiedenen Nationen und Sprachgebiete auf Widerstand stieß, politische Auswirkungen. Als Kardinal Richelieu, Erster Minister Frankreichs und Kommendatar-Generalabt des Zisterzienserordens, 1642 starb, gaben sich die „Alten" „als treue Verteidiger der päpstlichen Rechte gegen weltliche Einmischung in zentrale religiöse Angelegenheiten" (vgl. Lekai 144), während die „Abstinenten" sich der Protektion der französischen Königin Anna von Österreich (1601-1666) erfreuten, die als Gegenleistung für die Opposition des Hofes gegen den Jansenismus auf päpstliche Duldung des Gallikanismus rechnete. Die Apostolische Konstitution In suprema (1666) erkannte die Strenge Observanz als legalen Zweig im Heiligen Orden der Zisterzienser an und verordnete vergeblich ein immerwährendes Schweigen in der umstrittenen Frage der Observanzen. 2. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart Mit der -»Französischen Revolution und der -»Aufklärung kam es zuerst in Frankreich, dann in ganz Europa zur gewaltsamen Aufhebung von Mönchsorden als Uberresten mittelalterlichen Aberglaubens. Diejenigen, die überlebten, verdankten es in Österreich-Ungarn weiterer Anpassung, indem sie die Schulen übernahmen, die die auf

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Trappisten/Trappistinnen

kaiserlichen Befehl vertriebenen Jesuiten verlassen hatten. Augustin de Lestrange (1754— 1827), der letzte Novizenmeister von La Trappe, lehnte die angebotene Pension wie den geforderten Eid auf die Revolutionsregierung ab und floh mit einundzwanzig Mönchen nach La Valsainte in der Schweiz. Hier wurden durch Lestranges „neue Reform" die Strenge verschärft, Nahrung und Ruhe noch mehr eingeschränkt und die Handarbeit ausgeweitet. Mit der zisterziensischen Tradition brechend, eröffnete Lestrange eine Schule für Knaben und bildete aus Lehrern, Kindern und geflohenen Nonnen verschiedener Orden, die in La Valsainte Zuflucht suchten, einen „Dritten Orden von Citeaux". Nach der französischen Invasion der Schweiz begab sich Lestrange mit 542 Mönchen, Nonnen und Schulkindern auf einen zweijährigen Zug durch Osteuropa zu einem erhofften Zufluchtsort in Weißrußland, von dort zurück nach Deutschland, nach Amerika und schließlich nach dem Sturz Napoleons wieder nach Frankreich und La Trappe. Als das Klosterleben wieder Fuß gefaßt hatte, verließen einige der neugegründeten Häuser der Strengen Observanz die verschärfte „neue Reform" Lestranges und wandten sich der „alten Reform" von La Trappe zu. Ein neuer Streit über die Observanzen schied die Zisterzienser in die Alte und die Strenge Observanz; letztere spaltete sich wiederum auf in die „neue Reform" unter Lestranges Aufsicht, eine „neue Reform" ohne Lestrange und die „alte Reform" von La Trappe. Im Jahre 1892 beendete Papst —•Leo XIII. einen untragbar gewordenen Streit, indem er auf einem Zusammenschluß der Strengen Observanz bestand. So entstand der „Orden der Reformierten Zisterzienser der Strengen Observanz", in volkstümlicher Bezeichnung „Trappisten". Zisterzienser der „alten" Tradition blieben weiter in verschiedenen Kongregationen organisiert, die zusammen den Heiligen Orden der Zisterzienser bilden (manchmal auch als „Gewöhnliche Observanz" [observantia communis] bezeichnet). Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (—• Vatikanum I und II) lebten Trappistenmönche, Laienbrüder und Nonnen streng abgeschlossen und erwarben ihren Unterhalt durch Landwirtschaft und Heimarbeit. In Reaktion auf den Ruf des Konzils an die Ordensleute, die Ideale ihrer Gründer wiederzuentdecken, orientierten sich die Trappisten stärker an der Regel und dem Ordensideal des 12. Jh. als an den Verschärfungen des 17. Jh., denen ihre eigene Observanz ihre Entstehung verdankte. Die Arbeit findet noch heute in der Abgeschlossenheit statt, doch verlassen Mönche und Nonnen auch das Kloster, wenn gesundheitliche Gründe, Geschäfte oder eine Ausbildung es erfordern. Motiv für die strenge, immerwährende Abstinenz einschließende Auslegung der Regel ist mehr das Wachstum in der Liebe und den -»Tugenden als der heroische Rigorismus, dem sich La Trappe verschrieben hatte. Strenges Schweigen und Zeichensprache dürfen z. B. im Notfall durch Sprechen unterbrochen werden. Gemeinsame Schlafräume sind in den meisten Klöstern durch Einzelzellen ersetzt worden. Die über acht Jahrhunderte gültige Unterscheidung zwischen Chormönchen/-nonnen und Laienbrüdern/-schwestern ist aufgegeben. Die Strenge Observanz verbreitete sich rasch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem in Nordamerika, Afrika und Asien. Äbte und Vertreter des Ordens kommen alle drei Jahre zum Generalkapitel und einmal jährlich zu regionalen Treffen zusammen. Neue Konstitutionen haben die kulturelle Verschiedenheit der Angehörigen in verschiedenen Sprachgruppen innerhalb Europas, in Asien, Amerika und Afrika berücksichtigt und ein „authentischeres monastisches Leben durch legitime Vielfalt" anerkannt. Zu den getrennten Generalkapiteln für Mönche und Nonnen tritt seit 1990 ein alle drei Jahre stattfindendes gemeinsames Treffen von Äbten und Äbtissinnen mit gleichem Stimmrecht. 3. Verbreitung des

Ordens

Im Jahre 1998, dem 900. Gründungsjahr des „neuen Klosters" in Citeaux, zählten die Zisterzienser der Strengen Observanz („Trappisten") etwa 100 Männerklöster und 70 Frauenklöster, die sich geographisch wie folgt verteilen:

Trappisten/Trappistinnen

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Europa: Frankreich (31), Spanien (18), Belgien (13), Irland (sechs), Niederlande (sechs), Italien (fünf), Großbritannien (vier, davon eines in England, zwei in Wales, eines in Schottland), Deutschland (drei), je ein Kloster in Österreich, Bosnien, Slowenien, Dänemark, Norwegen und der Schweiz. Amerika: USA (16), Kanada (sieben), Ecuador (zwei), Mexiko (zwei), Venezuela (zwei), Argentinien (zwei), Chile (zwei), je ein Kloster in Brasilien und in der Dominikanischen Republik. Afrika: Nigeria (drei), Kamerun (drei), Madagaskar (zwei), Angola (zwei), Kongo (zwei), Benin (zwei), je ein Kloster in Kenia, Zaire, Ruanda, Uganda und Marokko. Asien: Japan (sieben), Indonesien (drei), Indien (zwei), China (zwei), Philippinen (zwei), je ein Kloster in Israel, Libanon, Neuseeland, Australien, Neukaledonien, Taiwan und Korea. Ein in Rom residierender Generalabt besucht ständig die verschiedenen Niederlassungen in der ganzen Welt. Er wird unterstützt von einem Generalprocurator und Definitoren der verschiedenen Sprachgruppen. Im Vergleich dazu umfaßt der Zisterzienserorden (auch „Gewöhnliche Observanz" genannt) etwa 70 Männerklöster und 90 Frauenklöster in 13 Kongregationen. Sie sind zahlenmäßig am stärksten in Italien, Österreich, Deutschland und Spanien. Darüber hinaus gibt es verschiedene religiöse Orden, die sich von dem Zisterzienserideal inspirieren ließen und in irgendeiner Weise den Zisterziensern der Strengen Observanz angeschlossen sind. Dazu gehören 27 Häuser Spanischer Nonnen der Zisterzienserkongregation des Heiligen Bernhard (Föderation von Las Huelgas), etwa 20 Häuser der Bernhardinerinnen von Oudenaarde in Belgien und Afrika und etwa zehn Niederlassungen der Bernhardinerinnen von Esquermes in Frankreich, Belgien, England und dem Kongo. Quellen Jean Baptiste Chautard, L'Âme de tout apostolat, Abbaye de Sept-Fons J 1915; dt.: Innerlichkeit. Das Geheimnis des Erfolges im apostolischen Wirken, München 1921 Luzern 5 1947. - Armand-Jean Le Bouthillier de Rancé, De la sainteté et des devoirs de la vie monastique, 2 Bde., Paris 1683 Nachdr. Farnborough 1972. - Ders., Relation de la vie et de la mort de quelque religieux de l'abbaye de La Trappe, 5 Bde., Paris 1 7 1 7 - 1 7 1 8 2 1755. - Ders., Correspondance, hg. v. Alban John Krailsheimer, 4 Bde., Paris 1993 (Citeaux.SD 5). - Ders., T h e Letters of Armand-Jean de Rancé, Abbot and Reformer of La Trappe, hg. v. Alban John Krailsheimer, 2 Bde., Kalamazoo, Mich. 1984 (CistSS 80.81). - Vital Lehodey, Les Voies de l'oraison mentale, Paris 1908. - Thomas Merton, T h e Seven Storey Mountain, New York 1948; dt.: Der Berg der sieben Stufen, Zürich 1950 2 2001. - Ders., T h e Climate of Monastic Prayer, 1969 (CistSS 1); u.d.T.: Contemplative Prayer, Garden City, N.Y. 1971; dt.: Wahrhaftig beten, Freiburg i.Ue. 1971.

Literatur Michael Downey (Hg.), Trappist. Living in the Land of Desire, New York 1997. - Kaspar Elm (Hg.), Die Zisterzienser. Ordensleben zw. Ideal u. Wirklichkeit, Köln 1982. - Marie de la Trinité Kervingant, Des Moniales face à la Révolution française. Aux origines des Cisterciennes-Trappistines, 1989 (BBeau 14); engl.: A Monastic Odyssey, Kalamazoo, Mich. 1999 (CistSS 171). - T e r r y l N. Kinder, L'Europe Cistercienne, Paris 1997; dt.: Die Welt der Zisterzienser, Würzburg 1997. Louis Julius Lekai, T h e Rise of the Cistercian Strict Observance in Seventeenth Century France, Washington, D . C . 1968. - Ders., T h e Cistercians. Ideals and Reality, Kent, Oh. 1977. - Franz-Karl Freiherr v. Linden, Die Zisterzienser in Europa, Stuttgart 1997. - Polycarpe Zakar, Histoire de la stricte observance de l'Ordre cistercien. Depuis ses débuts jusqu'au généralate du cardinal de Richelieu ( 1 6 0 6 - 1 6 3 5 ) , 1966 (BCist 3).

E. Rozanne Elder

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Trauer I

Trauer I. II. III. IV. V. VI.

Religionsgeschichtlich In der Bibel Judentum Kirchengeschichtlich Systematisch-theologisch Praktisch-theologisch .

S. 8 S.ll

S. 14 S. 20 S.23

I. Religionsgeschichtlich 1. Trauer als ein Element des Bestattungsrituals 2. Trauern, weil die Götter trauern 3. Die Klage der Frauen 4. Trauerkleidung und Trauermusik 5. Trauer als Bewältigung der Angst (Literatur S. 7)

1. Trauer als ein Element des

Bestattungsrituals

Wenn es zutrifft, „daß alle Kultur ihr Zentrum im Problem der Sterblichkeit hat" (Assmann 49; vgl. 18f.), dann kommt den Trauerriten neben den Totenriten, von denen sie zu unterscheiden sind, besondere Bedeutung zu. Denn obwohl sie nur einen Bestandteil innerhalb der Ritualisierung (-»Ritus) des Bestattungskomplexes und der Thanatologie darstellen, werden gerade in der Trauer die Urängste des Menschen (Totengericht, Verhör und -»Strafe im Jenseits) rituell aufgefangen und sozial bewältigt (Morenz 134— 143). 2. Trauern, weil die Götter

trauern

Vereinzelt liefern trauernde Götter das mythische Vorbild für die Trauer der Menschen auf Erden: Im Alten -»Ägypten halten Isis und Nephthys an der Leiche des Osiris die Totenklage, deren Urbilder sie sind, verhüten die Verwesung seines Körpers und verhelfen dem Gott zu neuem Leben. „ O schöner K n a b e " , beten sie, „ich sehe dich nicht, und doch bangt mein Herz nach dir und meine Augen begehren d i c h . . . Ich rufe nach dir und weine, daß man es bis zum Himmel hört, aber du hörst meine Stimme nicht, und ich bin doch deine Schwester, die du auf Erden liebtest" (Adolf Erman, Die Religion der Ägypter, Berlin 1934 = 2 0 0 1 , 7 3 ) . So auch beklagen und beschützen die beiden Göttinnen jeden Toten, der zu Osiris geworden ist (Seeber 445). Auch aus Mesopotamien sind uns die Klagen der Götter um einen der ihren überliefert. Ein ugaritischer Text aus dem 13. J h . v. Chr. ist geradezu zum Paradigma für altorientalische Trauerzeremonien geworden. Dort heißt es in einer Klage um den toten Gott Baal: „Darauf der Freundliche, El, der Gütige, / Steigt hernieder von seinem Thron . . . / Er streut Asche der Trauer auf sein H a u p t . . . / Das Gewand bedeckt er mit einem Trauerkleid; / Die Haut mit einem Stein zerkratzt er . . . ; / Wangen und Kinnbacken zerfurcht er; / Die Länge seines Armes pflügt er / Wie einen Garten seine B r u s t . . . , Er erhebt seine Stimme und ruft: Baal ist t o t ! . . . I Hinter Baal will (auch) ich hinabsteigen in die Erde!" (Walter Beyerlin [Hg.], Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, 1975 [ G A T 1] 233f.). Vgl. schon das Gilgamesch-Epos: „Hört mich, ihr Ältesten! / Hört mich an! / Um Engidu wein' ich, / Um meinen Freund, / Wie Klageweiber bitterlich klagend" (Albert Schott, Das Gilgamesch-Epos, Stuttgart 1962, 51; Edsman 999).

3. Die Klage der

Frauen

Die Trauer trägt geschlechtsspezifische Merkmale: Frauen übernehmen besondere Funktionen bei der Totenklage (Klagefrauen, ganz selten Klagemänner); sie ritualisieren die Gefühle der Trauergemeinde und kanalisieren sie, wobei die Frauen immer wieder stärkere emotionale Regungen zeigen als die Männer („the women wail and the men dance", Huntington 36 ; vgl. Hartland 440). Ihnen wird auch die Einhaltung von Tabus (-»Mana und Tabu) und Abstinenzen eher zugetraut; d.h. sie trauern intensiver (ein Jahr und länger in Polynesien und Melanesien, zeitlebens die Witwen in Indien), sie

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fasten, halten die Reinigungs- und Keuschheitsgebote ein, fügen sich Selbstverletzungen zu (Abhacken eines Fingergliedes bei den Dani in Irian Jaya, Zerkratzen der Stirn mit Speerspitzen bei den Masaifrauen). Sie schlagen weinend und mit aufgelösten Haaren (apotropäischer Gestus) gegen Brust und Schenkel, halten andererseits die Schweigegebote ein (drei bis vier Monate bei den südamerikanischen Mbaya und Guaycurü; vgl. die Khasi von Meghalaya; Gerlitz 188), machen sich unkenntlich (Namensänderung, Verhängung des Totenzimmers, Geiger 1134) oder schlafen im gleichen Raum, in dem der Tote liegt (Hartland 439; Hasenfratz, Leben 133); sie entledigen sich ihres Schmucks und der Kleidung (Altägypter, Masai), während die Männer (z. B. vom Volk der Nyakyusa) die Bananenpflanzungen vernichten, um anzudeuten, daß das Reich des Todes vom Reich der Lebenden Besitz ergriffen hat (vgl. Dammann 42.192; Edsman 998). Frauen ertragen den Makel der Unreinheit, während der Tote noch über der Erde liegt. Vor allem verstehen sie sich auf die Gabe der revocatio, des Zurückrufens der Seelen von Kindern. „Mein Kind, Soundso, komm' zurück, kehre nach Hause zurück!", ruft die verzweifelte Mutter bzw. die Klagefrau beim Sterben eines Kindes und beginnt mit einer Speisung (für die Zulu vgl. Köhler 32f.; für das alte China vgl. de Groot 243). Klagefrauen können „gemietet" werden wie im Alten Ägypten, wo sie den Leichnam vom Sterbehaus bis zum Grab begleiteten. Auf diesem Weg werden ihre Klagen nur von Ekstasen unterbrochen, schrillen Schreien, heftigen Körperbewegungen, Raufen der Haare, Bewerfen mit Staub, Entblößungsgebärden usw. (Herodot 11,85). Im Alten Ägypten haben die Klagefrauen als drtj („die beiden Weihen"; Seeber 444) Zutritt zu den Ritual- und Opferhandlungen in der Einbalsamierungshalle und stehen zu Füßen und zu Häupten des Toten. Im antiken Griechenland (sogar noch in klassischer Zeit; Burkert 295 f.) konnte die Trauer bzw. Totenklage erzwungen werden: Achilleus zwang die gefangenen Trojanerinnen zur Klage um Patroklos (II. 23). Die sog. npödecriQ dauerte den ganzen Tag bzw. wurde bis zur Bestattung fortgesetzt und endete erst am 30. Tag mit dem Totenmahl. Früh (6. Jh. v. Chr.) gibt es Kritik an der Ungezügeltheit der Emotionen, der Dauer der Klagezeit und vor allem dem materiellen Aufwand; denn die Klagefrauen mußten bezahlt werden - vergeblich. Auch in der christlich-orthodoxen Kirche hat sich die Institution der Totenklage erhalten (Edsman 999). Im antiken Griechenland, vorislamischen Arabien und bei afrikanischen Völkern (Bergdama; vgl. Dammann 190f.) hat sich die Totenklage zu einer besonderen literarischen Gattung, einer Art „Trauerlyrik", entwickelt, die auch in christlicher Zeit gepflegt wird. In einem kurzen eindrucksvollen Klagelied der afrikanischen Ziba ruft die Witwe: „Mein Mann! / Mein M a n n starb! / Wo (bin) ich? / Die Schicksalsschläge töten mich." Und die Tochter stimmt in die Klage ein: „Mein König starb! / Der Tod raubte mir meinen Vater! Wohin soll ich gehen?". Immer wieder - vom Haus des Toten bis zum Rückweg vom Begräbnis - wird diese erschütternde Klage angestimmt und damit der Schmerz in eine rituelle Form gebracht, die die Trauer mehr noch als die emotionale Einzelklage zu verarbeiten hilft (Dammann 190). Die Hinterbliebenen vertrauen auf die Macht des Wortes im ritualisierten Lied.

4. Trauerkleidung

und

Trauermusik

Die Trauerfarben richten sich nach den ethnischen Kontexten: Weiß ist bei den Chinesen und mongolischen Völkern üblich (Farbe der Totengeister), Blau im Alten Ägypten, Schwarz in europäischen Kulturen (Opfer an die Götter der Unterwelt, Karfreitagsfarbe; vgl. Friedrich Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion, 1961 [ R M 1] 123.125.127). Die Trauerkleidung unterliegt bestimmten im Ritus begründeten Vorschriften. Das Li Ki z. B. ordnet sie nach Verwandtschaftsgraden bzw. der Intensität der Trauer: Beim Tode des Vaters kleidete sich der Sohn drei Jahre lang in Sackleinwand mit gezackten Ecken und mußte eine sackleinene Kappe mit Schnüren, dazu Strohsandalen tragen. Erst „nach dem dritten Trauermonat wäscht der Sohn seinen Kopf, am Ende des Jahres zieht er ein seidenes Trauergewand an, nach drei Jahren bringt er ein günstige Vorzeichen verheißendes Opfer d a r " (The Sacred Books 469).

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„Funerals are noisy affairs", sagt Huntington (46) von den tribalen Bestattungsriten. Die Trauermusik sowie das ganze Ambiente sind laut, schrill und bunt: Gongs und Trommeln werden geschlagen, Glocken geläutet, Xylophone, Metallophone, Klappern, Rasseln, die um die Fußknöchel getragen werden, angestimmt, Stöcke und Stampfinstrumente sollen Aufmerksamkeit erregen, die Geister der Verstorbenen besänftigen oder die Dämonen vertreiben: Im alten China kamen dazu bunte Fahnen und Laternen, im hinduistischen Bali sind es Verbrennungstiere aus Holz, in denen sich der Leichnam befindet, und kunstvoll gestaltete Leichentürme (bade, Sinnbilder des Weltenberges Meru mit seinen drei Sphären Unterwelt, Menschenwelt, Oberwelt), in die der Tote eingeschreint ist und mit denen er verbrannt wird. Huntington spricht abfällig von einer „Kakophonie", die die Bestattungsorchester von sich geben (bei den Berawan auf Borneo; Huntington 48), Dammann von „Lärmorgien" bei afrikanischen Völkern (192); aber Needham (Percussion 606 - 614) sieht zu Recht einen Zusammenhang zwischen der Trauermusik und dem Übergang in eine andere Seinssphäre, in die der Tote eingetreten ist und aus der er Macht über die Lebenden ausüben kann. Offensichtlich haben wir es mit einer vielfältigen Symbolik zu tun.

5. Trauer als Bewältigung

der Angst

Die Trauerriten gehören zu den rites de passage. Das wird an der Wegesymbolik deutlich: In der vedischen Religion führen Verwandte den Trauerzug in Zirkumambulationen zur Kremationsstätte. Ihnen folgt der Leichnam, getragen von Verwandten und Standesgenossen in ungerader Zahl, dann ein Opfertier, Klagefrauen mit aufgelösten Haaren, staubbedeckt; niemand darf zurückschauen (Gonda 131). Der Scheiterhaufen, auf den der Tote niedergelegt wird, wird dreimal mit Wasser umgössen, dann vom ältesten Sohn mit dem Opferfeuer (Herdfeuer!) angezündet. Nach Rückkehr von der Verbrennungsstätte leiten bestimmte Reinigungsriten den Weg zur sozialen Normalität ein: Zunächst werden die Folgen des Kontakts mit dem Toten beseitigt. Das geschieht im -»Hinduismus in bestimmter Reihenfolge: Das Haus des Verstorbenen wird durch Mantren, die der Priester betet, Blumen, Rauch, Kuhmist usw. entsühnt. Je nach Verwandtschaftsgrad sind die Observanzen von unterschiedlicher Dauer: Keuschheit (für die Söhne ein Jahr, für die Witwe zeitlebens), Fasten, Haar und Bart nicht scheren. Ein Reinigungsbad und das Anlegen neuer Kleider deuten schließlich das Ende der rites de passage an (Gonda 133). In der Regel will man eine Rückkehr des Toten verhindern, indem man den Weg für den Totengeist unkenntlich macht (Khasi von Meghalaya), ihn mit apotropäischen Zweigen (Taxus bei den Letten; Hasenfratz, Leben 142) belegt, Dornen streut, Gruben aushebt (Abgrenzung von Toten und Lebenden; vgl. Hermann Oldenberg, Die Religion des Veda, Berlin 1893 Stuttgart/Berlin 3/4 1923, 574.588). In Kulturen, in denen die Zweitbestattung üblich ist, gilt meistens das Gegenteil: Man will die Toten glücklich wissen und an ihrem Glück teilhaben. Huntington (102109) macht das an den dreiteiligen Bestattungsriten der Bara auf Madagaskar deutlich: 1) Erdbegräbnis (Abschied vom Toten im Haus der Frauen, dem „Haus der vielen Tränen", Überführung in das Einzelgrab, Durchführung der obligatorischen Riten); 2) Versammlung der Trauergemeinde einige Zeit danach (ausgelassene Darbietungen, Festmahle; „Leidmahl", vgl. Hasenfratz, Leben 146—150); 3) Wiederbestattung, wenn der Körper zerfallen ist (Waschen und Einkleidung des Skeletts, Überführung in die Familiengrabstätte außerhalb des Dorfes, Leichenmahl, ausgelassenes Dorffest, Rückkehr zur Normalität). Dieses Schema läßt sich auch bei den matrilinearen Khasi von Meghalaya verfolgen, doch vollzieht sich dort die Klage nach strengem Ritus: 1) Verbrennung, diverse Opfer, Trauermusik, erste Bestattung der Knochenreste im maw shieng (Einzelgrab); 2) dreitägige Tabuisierung der Angehörigen, Orakelbefragung, Reinigung, Kleiderwechsel; 3) Überführung in das maw phew (Familiengrab mit Geschlechtertrennung), wenn Sippenfriede eingekehrt ist, Hahnopfer, Festgelage (eventuell dritte Bestattung mit sämtlichen Verstorbenen der Sippe [kur] im Clangrab mit Musik und Tänzen); Ende der Trauerzeit (vgl. Gerlitz 188-193). Mehrfachbestattungen dienen der Krisen-

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b e w ä l t i g u n g u n d e r l e i c h t e r n d i e R ü c k k e h r z u r N o r m a l i t ä t , i n d e m sie e i n e r i t u a l i s i e r t e Wegesymbolik anbieten. D a m i t w i r d d i e T r a u e r z u r „ A n t w o r t d e s M e n s c h e n a u f d i e H e r a u s f o r d e r u n g des T o d e s " ( S t ö h r / Z o e t m u l d e r 188). R i t u a l i s i e r t d i e n t sie m i t i h r e n A s p e k t e n d e r W i e d e r h e r s t e l l u n g d e r k o s m i s c h e n u n d d e r s o z i a l e n O r d n u n g ; z u g l e i c h g a r a n t i e r t sie d e m T o t e n d e n g e f a h r l o s e n Ü b e r g a n g in e i n e a n d e r e E x i s t e n z f o r m u n d d a m i t d a s Seelenheil. O b w o h l zu einzelnen Kulturen Spezialuntersuchungen vorliegen (Reiner; Toynbee; W e r b r o u c k ; Wirz; H u n t i n g t o n / M e t c a l f usw.), steht eine M o n o g r a p h i e zur T r a u e r k u l t u r in d e r R e l i g i o n s g e s c h i c h t e b z w . eine T h a n a t o l o g i e auf r e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t l i c h e r G r u n d l a g e , welche die Aspekte T r a u e r , T r a u e r r i t e n u n d T r a u e r b e w ä l t i g u n g enthält, n o c h a u s . Sie ist ein d r i n g e n d e s D e s i d e r a t a n d i e R e l i g i o n s f o r s c h u n g . Literatur H a n s Abrahamsson, The Origins of Death. Studies in African Mythology, Uppsala 1951 (Studia Ethnographica Upsaliensia 3). - Emily M . 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Trauer II

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Peter Gerlitz

II. In der Bibel 1. Altes Testament

1. Altes

2. Neues Testament

(LiteraturS.il)

Testament

1.1. Definition 1.1.1. Allgemein. „Trauer", die Reaktion des Menschen auf Verlust- und Krisenerfahrungen innerhalb des persönlichen Lebens und innerhalb der Gemeinschaft, des Stammes oder Volkes, ist eine Grundkonstante menschlichen Verhaltens. Die literarischen Zeugnisse des Alten Orients (Klageliteratur Mesopotamiens) und des Alten Testaments verdeutlichen dieses zur Genüge. Auf den Verlust eines Menschen reagiert man mit Trauer und Klage. Auf die nationale Katastrophe des Untergangs von Städten, Tempeln und königlicher Dynastie, die mit dem Krieg einhergehen, reagiert man mit Trauer, -•Fasten und speziellen Klagegottesdiensten. Der Klage des einzelnen, die Not und Elend des Beters bedenkt, entsprechen auf der Seite des Volkes die exilisch-nachexilischen Volksklagelieder (Thr 2; 5; Ps 74 u.a.). 1.1.2. Ableitung des Begriffs. Standard-Terminus im Alten Testament für „trauern" bzw. „Trauer" sind 'bl (qal „trauern, vertrocknen", vgl. Jes 19,8; Am 8,8; hifil „trauern lassen"; hitpael „trauern, Trauerbräuche beobachten": Gen 37,34 u.ö.) und 'ebael „Trauer". Mit 'bl liegt ein terminus technicus zur Beachtung aller Trauerriten im Zusammenhang der Totenklage vor. Daneben begegnen spd („die Totenklage anstimmen"; z.B. Am 5,16; Mi 1,8), bkh („weinen", II Sam 19,2; Neh 1,4; 8,9) und der Terminus qinäh („Klagelied") bzw. das Verbum qyn. 1.2. Trauerriten Auf den bevorstehenden oder schon eingetretenen -»Tod eines Menschen (Totentrauer: II Sam 13,31 ff.; Jer 6,26 u.a.), auf das gegenwärtige oder zukünftige Unglück (Kriegsniederlage: Jos 7,6; II Sam l , l l f . ; Gerichtsdrohung: Ex 33,4; Num 14,39 u.a. bzw. Reaktion auf vollzogenes oder sich vollziehendes Gericht: Jes 3,26; Jer 4,28; Thr 1,4; 2,8; Hos 10,5; Joel l,9f.) reagierte man in Israel nicht anders als bei den semitischen Nachbarn. Manipulationen an Körper und Kleidung als nach außen hin sichtbarer Ausdruck der Trauer gehören zu einem fest umrissenen Kanon von Trauerriten. An körpersymbolischen Riten lassen sich in den alttestamentlichen Texten Kleider-, Staub- und Erdriten, bis hin zu Selbstverstümmelungsriten, unterscheiden. 1.2.1. Einzelne Trauerriten. Einzeln oder in Kombination begegnen folgende Verhaltensmuster: Zerreißen der Kleidung (Gen 37,34; II Sam 1,11; 3,31; II Reg 2,12 u.a.), Ablegen von Turban und Sandalen (Ez 24,17.23). Man legt das Sa^-Gewand, ein schwarzes, aus Ziegenhaar, später aus Kamelhaar bestehendes Trauer- und Bußgewand an (vgl. z. B. Gen 37,34; II Sam 3,31; I Reg 21,27). Die Haare werden wild hängen gelassen

Trauer II

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(Lev 10,6) oder gerauft (Esr 9,3); man schert sie ganz ab (Hi 1,20; Jer 16,6) oder schneidet sich eine Rand- bzw. Stirnglatze (Lev 19,27). Der Kinnbart wird gestutzt (Lev 19,27), Lippenbart und Haupt werden verhüllt (Ez 24,17; II Sam 19,5). Man schlägt sich auf Brust (Jes 32,12?) und Lenden (Jer 31,19) oder macht sich blutige Einschnitte in die Haut (Lev 19,28; Dtn 14,1). Vor Trauer und Kummer wälzt man sich im Staub (Jer 6,26), legt oder setzt sich auf die Erde nieder; Staub und Erde streut man sich auf das Haupt (Thr 2,10). Man fastet (II Sam 1,12). Bei der Totentrauer kommen die Totenklage (II Sam l,19ff.) und entsprechende Bestattungsriten (-»Bestattung) hinzu. Vielfach treten „Klagefrauen" (Jer 9,16) auf, um den Verstorbenen zu beweinen und die Trauer körpersymbolisch darzustellen. Die Trauerzeit ist unterschiedlich lang bemessen: sieben Tage (Gen 50,10), 30 Tage (Dtn 34,8) oder etliche Tage (so Gen 37,34; II Sam 13,37). Daß diese Bräuche in exilischer und nachexilischer Zeit im Volk verbreitet waren, zeigen die Rechtssätze und Verbote im -» Heiligkeitsgesetz (Lev 19,27f.) und im deuteronomisch-deuteronomistischen Schrifttum. Das Scheren des Kopfrandes und des Bartes (ursprünglich Haaropfer für den Verstorbenen bzw. die Dämonen?) und das Einritzen der Haut (apotropäisches Blutopfer) werden in Dtn 14,1 f. verboten. 1.2.2. Bedeutung der Trauerriten. Die Bedeutung und Interpretation der Trauerriten ist umstritten, zumal die alttestamentlichen Texte den Riten keine näheren Deutungen beilegen. Nach den älteren Vorarbeiten von H . J . Elhorst, A. Bertholet und P. Heinisch, die im Zusammenhang der Totentrauer den Sinn der Trauerriten im Totenkult und in einer zu leistenden Dämonenabwehr sahen, hat in jüngerer Zeit E. Kutsch die „Trauerbräuche" zusammen mit „Selbstminderungsriten" als Minderungsriten zusammengefaßt. Auf den „bedrohenden Aspekt des Todes" und die Berechtigung der älteren Interpretationen hat wiederum P. Welten (-»-Bestattung II) aufmerksam gemacht. Hatte schon Kutsch im Zusammenhang der „Trauerbräuche" auf diejenigen, die die Riten vollziehen, den Blick geworfen, so knüpft auch T h . Podella (Trauerriten) dort an, wobei er jedoch den Bezug der Riten auf die Hinterbliebenen und die damit gegebene soziale Funktion der Trauerbräuche betont. Der Tote ist aus der Familie und Gemeinschaft durch den Tod herausgelöst. Im Ritus wird dieses von den Trauernden nachvollzogen (Separationsritus). Durch die Bestattung wird der Tote der Jenseits- und Ahnenfamilie zugeführt. Die Bestattung (Marginalitätsritus) erschließt ihm diese neue Existenzweise. Das abschließende Leichenmahl (Aggregationsritus: z. B. Jer 16,7) bestätigt den Übergang. Der Verstorbene ist rite bestattet und hat die Jenseitsfamilie erreicht. Podella geht davon aus, daß für den Bereich der „Volksreligion" im alten Israel mit Nekromantie und „Totenpflege" zu rechnen ist. Gemeinschaftliche Trauer ermöglicht eine Neuordnung der Familienstruktur und löst als soziales Phänomen Statusdifferenzen auf. 1.3. Das kollektive

Trauer-Fasten

Eine besondere Form der kollektiven Trauer und der rituellen Bewältigung bildet das sog. Som-Fasten (vgl. Joel 2,15; Jon 3,5). Einzelne Elemente der Trauerriten (Kleiderzerreißen: Joel 2,13; Saq-Gewand: Joel 1,8.13) sind hier aufgenommen und zusammen mit bestimmten Gebetstexten (Volksklageliedern) zu einem festen Handlungsablauf verdichtet worden. Abgelöst von der Trauer um einen Toten handelt es sich um die öffentlich-kollektive Begehung einer Notlage. Folgende Elemente bestimmen nach Podella (Fasten 265) das kollektive Fasten: zeitliche Festsetzung und Einberufung des Volkes; kollektive Ausführung von Trauerriten; individueller Klagevortrag mit Orakelantwort und abschließende Proskynese mit Lobgesang. In Sach 7,5; 8,18 f. wird das Som-Fasten als eine institutionalisierte, öffentliche Feier zum Gedenken der Zerstörung -»Jerusalems (587 v. Chr.) vorausgesetzt. Die Volksklagelieder, die im Kontext dieser Trauer-Fastenfeiern entstanden sind (möglicher Sitz im

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Trauer II

Leben), spiegeln die theologische Bewältigung und Reflexion der Katastrophe von 587 v. Chr., Fall Jerusalems, Zerstörung des -»Tempels, Ende der davidischen Dynastie, wider (Emmendörffer). Thema dieser Klagegebete ist der Antwortversuch auf die drängende Frage, warum Jahwe dieses zulassen konnte. Es sind der Zorn Gottes und Gottes Ferne, die durch die Gebete überwunden werden sollen. Die Warum- und die Wie-langeFrage stehen im Mittelpunkt. Das Einst (Exodus; Landnahme; Dynastiezusage) und das Jetzt (verwüstetes Land; geschändeter Tempel) werden Gott gegenübergestellt. Jahwe ist zum Feind des Volkes geworden (Thr 2). Die exilischen Textvertreter (Thr 2; 5; Ps 74; 44; 80) lassen die Entwicklung von der Totenklage (Thr 2: Mischgattung) zur Volksklage erkennen. Die nachexilischen Volksklagen (Ps 79; 60; 83; 89 u.a.) zeigen, wie sich diese Klageform von ihrem ursprünglichen, geschichtlichen Sitz im Leben, den Fastenfeiern, losgelöst und auf literarischer Ebene weiterentwickelt hat. Diese Entwicklung findet dort ihr Ende, wo aus dem Trauer-Fasten ein Bußfasten geworden ist, die Klagepsalmen sich zu Bußpsalmen gewandelt haben (Nehemiabuch; Esrabuch). 2. Neues

Testament

2.1. Definition und

Ableitung

Die alttestamentlichen Bräuche und Vorstellungen und die Trauerriten des antiken Judentums (s.u. III) bilden den Hintergrund für das neutestamentliche Verständnis von „Trauer". Der Terminus dafür ist das Substantiv Xvnrj (16mal im Neuen Testament: z.B. Lk 22,45; Joh 16,6.20.22) bzw. das Verbum Aoneto (26mal aktiv und passiv). Damit zu vergleichen sind: Kkaico (40mal im Neuen Testament); nevßeco (lOmal: Mk 16,10 u.a.) bzw. das Substantiv nevdoq (5mal: Jak 4,9 u.a.). Während Xönrj seelischen wie körperlichen Schmerz, Kummer und Trauer ausdrückt, umfaßt jiEv6£(a/n£v6oq den Bereich von Klage und Trauer und bildet das Äquivalent zum hebräischen 'bl. 2.2. „Trauer"

in den neutestamentlichen

Schriften

2.2.1. „Trauer, Klage" (nevdoq). An prominenter Stelle in den Seligpreisungen (Mt 5,4) wird den „Trauernden" der -»Trost zugesprochen. Die, die jetzt an der Welt noch verzweifeln und leiden, sollen Tröstung erfahren. Sie sind glücklich zu schätzen (Makarismus). Alle Trauer dieses Äons soll im kommenden abgetan sein. Dagegen wird den „jetzt Lachenden" in einem apokalyptischen Weheruf (Lk 6,25) das Trauern und Zagen angedroht. Im Zusammenhang von Gemeindezucht und Buße kommt Tievdeco bei -»Paulus (I Kor 5,2; II Kor 12,21) vor. An die „trauernden" (TIEVBOÖVTEQ) und weinenden Jünger Jesu ergeht die Osterbotschaft (Mk 16,10). Als Reaktion auf ein göttliches Gerichtswort (Apk 18,7f.ll.l5.19: Gericht gegen „Babylon") und Drohwort (Jak 4,9: Mahnung zur Buße) ergehen die Klage und das Wehklagen. 2.2.2. „Trauer, Schmerz" {Äimrj). Die Belegstellen bei den Synoptikern sind unauffällig, insofern hier vom Schmerz bzw. der Trauer einzelner geredet wird (Mt 14,9; 18,31). Dazu gehört auch der „reiche Jüngling", der an der Radikalität des Nachfolgerufes scheitert (Mk 10,22 par. Mt 19,22). Im Rahmen der Passionsgeschichten wird sowohl von der „Trauer" der Jünger (Mk 14,19 par. Mt 26,22; Lk 22,45) als auch von Jesu Schmerz angesichts seines bevorstehenden Todes (Mt 26,37) berichtet. Innerhalb des johanneischen Schrifttums markiert das Stichwort „Trauer" {Avnrj) die eintretende Zäsur nach Jesu Kreuzigung und seiner Rückkehr zum Vater. In den Abschiedsreden Jesu (Joh 16,6.20.22) wird den Jüngern ihre Trauer vorhergesagt. Nicht zuletzt durch den Geist (Paraklet) soll die Traurigkeit dann aber in Freude verwandelt werden (Joh 16,20). Auch die Belegstellen in den paulinischen Briefen (Rom 9,2; 14,15; II Kor 2 , 1 - 7 ; 7,8ff.; 9,7; Phil 2,27; I Thess 4,13) lassen die normale Konnotation von „Schmerz" bzw. „Trauer" erkennen. In Auseinandersetzung mit seinen Gegnern in Korinth, die Paulus

Trauer III

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seinen Apostolat streitig machen, kommt es zur „Trauer" und zu Tränen (6XTy/ig). Die Gemeinde gelangt zur Vernunft und Umkehr (II Kor 7,9: fiSTävoia). Mußte Paulus die Gemeinde um Gottes willen betrüben („Tränenbrief"), dann zugunsten ihrer Umkehr zur Rettung (V. 9f.); die aus der Verfallenheit an die Welt herrührende Traurigkeit (// rod KÖaßOü Avntj) führt dagegen zum Tod (V. 10). Die Zugehörigkeit zu Gott und das Getrenntsein von der Welt, diesem Äon, implizieren die Bereitschaft des Christen, das Leid {16ntj) zu tragen (I Petr 2,19: Mahnung an die Sklaven). Literatur Horst Balz, Art. Ximrf. E W N T 2 2 (1992) 8 9 5 - 8 9 9 . - Ders., Art. nev9im: ebd. 3 (1992) 1 6 2 - 1 6 3 . - Arnulf Bauman, Art. 'äbal: T h W A T 1 (1973) 4 6 - 5 0 . - Alfred Bertholet, Art. Trauergebräuche, religionsgesch.: R G G 2 5 (1931) 1 2 5 3 - 1 2 5 7 . - Rudolf Bultmann, Art. Xöntj ktL: T h W N T 4 (1942) 3 1 4 - 3 2 5 . - Ders., Art. nevOoq ktL: ebd. 6 (1959) 4 0 - 4 3 . - Ders., Das Evangelium des Johannes, ">1941 " 1 9 6 8 (KEK 2), bes. 445 - 4 4 9 . - Hendrik J a n Elhorst, Die israelit. Trauerriten: Stud. zur semitischen Philologie u. Religionsgesch. FS Julius Wellhausen, 1914 (BZAW 27) 1 1 5 - 1 2 8 . - Michael Emmendörffer, Der ferne Gott. Eine Unters, der atl. Volksklagelieder vor dem Hintergrund der mesopotamischen Lit., 1998 (FAT 21). - Erhard S. Gerstenberger/Wolfgang Schräge, Leiden, 1977 (BiKon 1004). - Paul Heinisch, Die Totenklage im AT, 1931 (BZfr 1 3 / 9 - 1 0 ) . - Ders., Die Trauergebräuche bei den Israeliten, 1931 (BZfr 1 3 / 7 - 8 ) . - Ernst Kutsch, „Trauerbräuche" u. „Selbstminderungsriten" im A T : ThSt(B) 78 (1965) 2 5 - 42 = ders., KS zum AT, hg. v. Ludwig Schmidt/Karl Eberlein, 1986 (BZAW 168) 7 8 - 9 5 . - Eva Oßwald, Art. Trauer, Trauerbräuche: B H H 3 (1966) 2 0 2 1 - 2 0 2 3 . - Thomas Podella, Ein mediterraner Trauerritus: UF 18 (1986) 2 6 3 - 2 6 9 . - Ders., Som-Fasten. Kollektive Trauer um den verborgenen Gott im AT, 1989 ( A O A T 224). Ders., Das Lichtkleid J H W H s . Unters, zur Gestalthaftigkeit Gottes im A T u. seiner altorient. Umwelt, 1996 (FAT 15). - Herbert Schmid, Art. Trauerbräuche. II. Im AT, N T u. Judentum: R G G 3 6 (1962) lOOOf. - Klaas Spronk, Beatific Afterlife in Ancient Israel and in the Ancient Near East, 1986 ( A O A T 219). - Fritz Stolz, Art. 'bl: T H A T 1 (1978) 2 7 - 3 1 . - Winfried Thiel, Art. saq: T h W A T 7 (1993) 8 4 9 - 8 5 5 . - Roland de Vaux, Les institutions de l'Ancien Testament. I. Le nomadisme et ses survivances, institutions familiales, institutions civiles, Paris 1958 s 1989; dt.: Das A T u. seine Lebensordnungen. I. Fortleben des Nomadentums. Gestalt des Familienlebens. Einrichtungen u. Gesetze des Volkes, Freiburg i. Br. 1960 = 2 1964. - Hans Walter Wolff, Anthropologie des AT, München 1973 Gütersloh '1994 ( K T 91).

Michael Emmendörffer

III. Judentum 1. Rituelle Totentrauer 2. Kollektive Volkstrauer 3. Trauer Gottes (Quellen/Literatur S. 14)

Die Geschichte der Trauer im nachbiblischen Judentum ist geprägt von der ständigen Aufnahme und Abstoßung nicht jüdischer Bräuche einerseits und von der Spannung zwischen einem seit talmudischer Zeit, besonders aber seit dem Mittelalter weitgehend festgelegten -»Ritus und modernen Abweichungen davon andererseits. Zu unterscheiden ist zwischen der individuellen Totentrauer und der kollektiven Volkstrauer, die primär der Katastrophe des Jahres 70 gilt. Als Sonderphänomen kommt die Vorstellung von der Trauer Gottes hinzu. 1. Rituelle

Totentrauer

Die Gesetze (Halachot) und Gebräuche (Minhagim) der rituellen Totentrauer variieren stark nach Zeit und Ort, haben sich jedoch im ganz überwiegenden Teil des heutigen aschkenasischen Judentums zu einem Ritus verfestigt, dessen einzelne Züge je nach Standpunkt des Erklärers biblisch-theologisch, religionshistorisch oder - in letzter Zeit häufig - tiefenpsychologisch gedeutet werden. Einige im 1. Jahrtausend fest verankerte, örtlich zum Teil noch in der Neuzeit verbreitete Bräuche wurden aufgegeben oder abgemildert, so das Hängen eines dunklen Gewands über die Tür als Trauerzeichen oder (später) das Ausschütten der Wassergefäße, das Tragen besonderer Trauerkleidung, Ent-

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Trauer III

bloßen von Arm und Schulter, Barfußgehen, Verhüllen des Hauptes, Umstürzen der Betten, exzessive Gesten wie Haareraufen und Selbstverwundung, Klagefrauen und -männer. Andere Sitten (Jahrzeit und Jiskor, s.u.) wurden im Mittelalter wohl aus christlichem Milieu übernommen. So hat sich ein normativer, wenn auch nicht überall vollständig befolgter Ritus herausgebildet. Er kennt drei bzw. vier Trauerperioden von unterschiedlicher Intensität, zu deren Einhaltung nur die nächsten (erwachsenen) Angehörigen des Verstorbenen verpflichtet sind. Freiwillige Trauer, besonders um große Gelehrte, wie sie schon in talmudischer Zeit geübt wurde, ist damit nicht ausgeschlossen. Vom Eintritt des -*•'Todes bzw. dem Eintreffen der Todesnachricht bis zur Beerdigung (-•Bestattung) währt die Zeit der tiefsten inneren und äußeren Trauer und Verstörtheit, der Aninut. Der Onen übt nur die notwendigste Körperpflege (Unterlassen von Haareschneiden, Rasieren und Bad) und enthält sich von allen Genüssen, seien es die des Torastudiums, seien es die der ehelichen Beziehung. Von Gebetspflichten und dem Anlegen der Tefillin ist er befreit. Die wichtigste Pflicht des Onen ist das Einreißen der Kleider (Keriah), heute meist in der Leichenhalle vollzogen, Abmilderung und Formalisierung des ursprünglichen Kleiderzerreißens bei der Todesnachricht (Gen 37,34 par.; mMQ 111,7 par.). Nachdem der Onen auf dem Friedhof den Trost der in Doppelreihe (Schurah) stehenden Trauergäste entgegengenommen hat, kehrt er ins Trauerhaus zurück, wo die Lichter bis auf eine Kerze gelöscht und die Spiegel verhängt sind. - Nun beginnt die Trauerzeit der Awelut von sieben Tagen, meist Schiwa (hebräisch: sieben) genannt. Der Awel übernimmt zusätzlich zu den Pflichten der Aninut diejenige des Sitzens auf niedrigen Hockern oder dergleichen („Schiwe Sitzen"), Milderung des ursprünglichen Sitzens auf dem Boden (Thr 2,10 par.; bMQ 15b par.). Nachbarn oder Verwandte bereiten die Mahlzeiten, von denen die erste, nach der Beerdigung eingenommene, das sog. Erquickungsmahl, die wichtigste ist. Es werden keine Lederschuhe getragen, Uberrest des einstigen Barfußgehens (Mi 1,8 par.; bMQ 15b par.); das Haus soll nicht verlassen werden, und demnach soll, wenn möglich, Gottesdienst in ihm gehalten werden; Gruß und Gegengruß unterbleiben; Arbeit und Geschäfte darf der Awel nur ausüben, wenn äußerste Not ihn dazu drängt. - In der auf diese Trauerwoche folgenden Periode von 30 (bzw. 23) Tagen nach der Beerdigung, danach Scheloschim (hebräisch: dreißig) genannt, werden die strengen Vorschriften der Schiwa abgemildert. Hauptsächlich verboten sind intensive Körperpflege, Besuch von Festen und Heirat. Mit Ablauf dieser Zeit endet die Trauer für alle Angehörigen, die über die Eltern ausgenommen. Für diese gilt die Trauerzeit von einem ganzen Jahr bzw. von elf Monaten, in deren Verlauf von den Kindern zwar nicht mehr die Befolgung der strengen Trauerriten, aber Zurückhaltung im äußeren Auftreten erwartet wird. Was jedoch das Trauerjahr vor allem kennzeichnet, ist das „Sagen" des Kaddischgebets im Gottesdienst, das dem Sohn obliegt. (Fehlt ein solcher, so tritt ein Enkel, ein naher Verwandter, im äußersten Fall ein Beauftragter ein.) Im Kaddisch, dessen Inhalt nichts mit Totentrauer zu tun hat, dessen Rezitation aber geradezu sühnende Kraft zugeschrieben wird, erweist sich das Fortleben des Verstorbenen. - Auch nach dem Trauerjahr bleibt das Gedenken an die Eltern wach durch die sog. Jahrzeit, das jährliche Begehen des Sterbetages. (Die Übernahme des Wortes ins Englische und Neuhebräische zeigt die Universalität des Brauches.) Der Nachkomme soll an diesem Tag fasten bzw. mäßig essen, die Jahrzeitkerze entzünden, Torastudium und Wohltätigkeit pflegen, eventuell den Gottesdienst leiten, jedenfalls Kaddisch sagen, das Grab besuchen, dort Psalmen und Totengebete rezitieren und eventuell Mischna „lernen". Für alle übrigen Verstorbenen einer Gemeinde gibt es an vier Tagen im Jahr, nämlich eingeschoben in den Gottesdienst des Versöhnungstags und der drei Wallfahrtsfeste (-•Wallfahrt), ein Totengedenken, das sog. Jiskor (nach dem ersten Wort des Hauptgebets), auch Haskarat Neschamot (Seelengedächtnis) genannt. Gegen den Charakter bzw. das Verständnis mancher Gebete als Fürbitte für die Verstorbenen und noch mehr gegen das Anflehen der Verstorbenen um ihre Fürbitte wird immer wieder Polemik laut.

Trauer III

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- In den Gemeinden Deutschlands wurden die Namen von Märtyrergemeinden (seit dem Mittelalter) und von verdienten Gemeindemitgliedern aus den Nekrologen der sog. Memorbücher zuerst jeweils am Sabbat vor dem —>Wochenfest und an dem vor dem 9. Av (s.u. 2.) verlesen, dann auch an anderen Sabbaten, jeweils nach der Toralesung. Es entstand so ein eigenes literarisches Genus, ebenso wie das des sog. Traueralbums, das seit dem 19. Jh. für die persönliche Trauer um die Eltern angelegt wurde. 2. Kollektive

Volkstrauer

Von den Tagen der kollektiven (Volks-)Trauer (vgl. bereits Sach 8,19) ist der 9. Av — Tag der Zerstörung des Ersten und besonders des Zweiten -»Tempels — der weitaus bedeutendste. Im streng orthodoxen Judentum werden an ihm der Schiwa (s.o. 1.) ähnliche Riten befolgt: Niedrigsitzen, Enthaltung von Arbeit und Torastudium wie von allen körperlichen Genüssen, Grußverbot usw. Dazu tritt Fasten und eventuell Friedhofsbesuch. Der Gottesdienst ist gekennzeichnet durch die Lesung von Threni und die Rezitation von Kinot (Elegien) und Selichot (Bußgebeten in poetischer Form). Weitere kollektive Trauertage sind: 17. Tammus (Eroberung der Außenstadt Jerusalems im Jahr 70); von dort ab bis zum 9. Av drei Trauerwochen; 10. Tewet (Beginn der Belagerung der Stadt); 3. Tischri {Zorn Gedalja, bezieht sich auf II Reg 25,25); 13. Adar (Taanit Ester, auf Est 4,16 zurückgehend). Dazu traten bis ins 20. Jh. lokale Trauertage einzelner Gemeinden oder Landschaften. — Der orthodoxe Versuch, den 10. Tewet (s.o.) als nationalen Trauertag für die Opfer der Schoah einzuführen, hatte nur sehr begrenzten Erfolg. In Israel wird statt dessen der 27. Nissan, eine Woche vor dem Unabhängigkeitsfeiertag, als staatlicher Gedenktag (Jom ha-Schoah) mit säkularen Riten begangen. Beide Tage fallen in die sog. Omerzeit zwischen —»Pesach und Wochenfest, eine Zeit abgemilderter Trauer über eine legendäre Epidemie in talmudischer Zeit (bYev 62b) und wohl auch über die Opfer der Kreuzzugszeit. Die Trauer über die nationale Katastrophe des Jahres 70 wirkt vielfach in den Alltag hinein. So lautet der rituelle Trostspruch bei jeder Totentrauer: „Der Herr tröste dich inmitten derjenigen, die um Zion und Jerusalem trauern". Das regelmäßige Zerschlagen oder Zertreten eines Gefäßes bei der Hochzeit im aschkenasischen Judentum — im Ursprung vielleicht apotropäisch, später oft ethisch als Hinweis auf die Vergänglichkeit jedes Glücks gedeutet - wird als Erinnerung an das nationale Unglück verstanden usw. Der im Mittelalter entstandene Brauch einzelner Frommer, das ganze Jahr hindurch in einer mitternächtlichen Trauerliturgie der Katastrophe zu gedenken, wurde durch die lurianische ->Kabbala ab dem 16. Jh. als tiqqun chazot verbreitet. Er wird als Nachahmung der Trauer Gottes verstanden, der, einem markanten Talmudtext (bBer 3a) zufolge, selbst an allen drei Nachtwachen über Tempelzerstörung und -»Exil klagt. 3. Trauer Gottes Die Vorstellung von der Trauer Gottes wird in vielen Midraschtexten tradiert. Gottes Trauer kann sich auf die Sünde oder das Unglück einzelner Menschen in Vergangenheit und Gegenwart beziehen, wie auf den Fall -»• Adams (BerR 21,21), die Sintflut (yMQ 82c), Moses Tod (SifDev 305), den Tod eines Gelehrten (yAZ 42c) oder auf den gewaltsamen Tod des Hingerichteten, den die Schekhina wie ihren eigenen Schmerz empfindet (mSan VI,5 par.). Vor allem aber bezieht sich die Trauer Gottes auf die nationale Katastrophe der Zerstörung von Stadt und Tempel und des Exils, die ihn zutiefst betrifft. Klage und Trauer Gottes werden dramatisch geschildert, wobei oftmals von seinem Weinen, aber auch von der Übernahme der irdischen Trauerbräuche durch ihn die Rede ist (PesK 15,3 par.). Höhepunkte dieser Klage sind Weherufe und Weinen Gottes über sich selbst (bBer 3a; 59a; bHag 5b; bBB 74a; SER 28). Während die Trauer Gottes über den Sünder paränetische Funktion hat, hat diejenige über das nationale Unglück trö-

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T r a u e r IV

stende W i r k u n g : D a ß er m i t seinem Volk M i t l e i d h a t , ja sich selbst m i t ihm im Leid befindet, ist G a r a n t i e d a f ü r , d a ß er es n i c h t verlassen hat und einst erlösen wird. Quellen Mischnatraktat M Q Kap. III u. Gemara dazu in beiden Talmudim. - Außerkanonischer Traktat Sem: The Tractate „Mourning", transl. and ed. by Dov Zlotnick, New Haven 1966 (YJS 17). Mose ben Nachman [13. Jh.], Torat ha-adam, Jerusalem 1964. - Jakob ben Ascher [13./14. Jh.], Arbaa Turim, Joreh Deah, § § 3 4 0 - 4 0 3 . - Josef Karo [16. Jh.], Schulchan Aruch, Joreh Deah, §§340 - 403. - [Die drei vom 17. bis ins 20. Jh. am meisten verbreiteten und übersetzten volkstümlichen Handbücher mit Trauergebeten und -gebrauchen:] Elieser Liebermann ben Jiftach, Sefär ma'aneh laschon, Prag 1615. — Aaron Berechja ben Moscheh, Sefär Ma'avar Jabbok, Mantua 1626. - Simon Frankfurt(er), Sefär ha-chajjim, Amsterdam 1703. - Seder tisch'a be-av, Rödelheim o.J. - Salomon Ephraim Blogg, Sefer ha-hayyim. Israelit. Gebet- u. Erbauungsbuch. Gebete bei Krankheitsfällen, in einem Sterbehause u. bei dem Besuche der Gräber v. Verwandten. Betrachtungen u. Lehrvortr. im Trauerhause u. Zusammenstellung aller Trauer-Gebräuche (minhagim) u. -Vorschriften (dinim), Frankfurt a.M. 7 1893; 11., verm. u. verb. Aufl. bearb. v. Abraham Sulzbach, Basel o.J. [1983]. - Maurice Lamm, The Jewish Way in Death and Mourning, New York 1969. - Alfred J . Kolach, The Jewish Mourner's Book of Why, New York 1993. Literatur Michael Ashkenazi, „What is this Custom?". Funeral Rites and Confusion among Middle-class Israelis: Israel Social Science Research 8 (1993) 1 - 2 2 . - Nechemia (Nachum) Brüll, Die talmudischen Traktate über Trauer u. Verstorbene: J J G L 1 (1874) 1 - 5 7 . — Ismar Elbogen, Der jüd. Gottesdienst in seiner gesch. Entwicklung, Berlin 1931 = Hildesheim 1967, bes. 1 2 6 - 1 3 0 . - Emanuel Feldman, The Rabbinic Lament: J Q R 63 (1972) 5 1 - 7 5 . - Samuel C. Heilman, When a Jew dies. The Ethnography of a Bereaved Son, Berkeley, Calif. 2001. - Samuel Klein, Tod u. Begräbnis in Palästina z. Z . der Tannaiten, Berlin 1908. - Samuel Krauss, Talmudische Archäologie, Leipzig, II1911 = Hildesheim 1966, bes. 5 4 - 82.473 - 4 9 1 . - Peter Kuhn, Gottes Trauer u. Klage in der rabbinischen Überlieferung (Talmud u. Midrasch), 1978 (AGAJU 13). - Abraham Marmorstein, Some Rites of Mourning in Judaism: S M S R 10 (1934) 8 0 - 9 4 . - Joyce A. Slowocher, Mourning and the Holding Function of „Shiva": Contemporary Psychoanalysis 29 (1993) 3 5 2 - 3 6 7 . - Friedrich Thieberger (Hg.), Jüd. Fest - Jüd. Brauch, Königstein 2 1979, bes. 393 - 4 1 9 . 4 3 4 - 4 4 4 . - Magnus Weinberg, Memorbücher: Menorah 6 (1928) 6 9 7 - 7 0 8 . - Naphtali Winter (Hg.), Fasting and Fast Days, Jerusalem 1975. Peter K u h n

IV. Kirchengeschichtlich 1. Alte Kirche 2. Mittelalter 3. Reformationsjahrhundert 4. Das 17. Jahrhundert 5. Pietismus und Aufklärung 6. Das 19. und 20. Jahrhundert (Literatur S. 19) 1. Alte

Kirche

D a s frühe C h r i s t e n t u m e n t w i c k e l t seine individuellen und k o l l e k t i v e n A u s d r u c k s und D e u t u n g s f o r m e n v o n T r a u e r in e i n e m k o m p l e x e n P r o z e ß der A u f n a h m e , Weiterbildung und K r i t i k der T r a u e r k o n z e p t i o n e n von B i b e l (s.o. II), J u d e n t u m (s.o. III) u n d a n t i k e r U m w e l t . D i e strukturellen G r u n d e l e m e n t e der A b s c h i e d s t r a u e r i m T o d e s f a l l ( - • T o d ) als sozialer Pflicht von Sippe u n d F a m i l i e s o w i e ihre v o m Sozialstatus a b h ä n gigen R e p r ä s e n t a t i o n s f o r m e n bleiben e b e n s o erhalten w i e zahlreiche vorchristliche B r ä u c h e , die erst l a n g s a m verdrängt, u m g e p r ä g t o d e r mit n e u e m Sinngehalt versehen w e r d e n . D i e s gilt etwa für die exzessiven T r a u e r b e k u n d u n g e n d u r c h K l a g e f r a u e n , die traditionelle G e b ä r d e n s p r a c h e ( H a a r e r a u f e n , Z e r r e i ß e n der G e w ä n d e r u.a.) und die v o n —>Tanz u n d G e s a n g begleiteten T o t e n m ä h l e r , denen die K i r c h e n v ä t e r (—»Patristik) in ihrer auf A b grenzung v o n J u d e n t u m und P a g a n i s m u s zielenden K r i t i k den geistlichen (Psalmen-) G e s a n g und die E u c h a r i s t i e f e i e r entgegensetzen (vgl. T R E 5 , 7 4 3 f . ) . Als spezifisch christlich wird die v o r n e h m l i c h im Stillen g e ü b t e , v e r n u n f t k o n t r o l l i e r t - m a ß v o l l e T r a u e r n a c h d e m M e t r i o p a t h i e i d e a l e m p f o h l e n , f ü r w e l c h e u.a. die ihren S c h m e r z verinnerlichende - » M a r i a unter d e m K r e u z als frühes V o r b i l d dient. D e n W e g von der A b s c h i e d s t r a u e r

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im Todesfall zur Bußtrauer weist im monastisch-weltflüchtigen Denken (—•Mönchtum) die Forderung, nicht die selig Verstorbenen, sondern die noch Lebenden, also auch sich selbst, zu betrauern. Erst langsam greift mit der Verkirchlichung und Verrechtlichung des Rituals eine stärkere Bindung des ungehemmten Ausdrucks der Traueraffekte. Trotz dieser restriktiven Prägung wird die Trauer als Schmerz und Leidenschaft in der Abkehr von der stoischen Affektenlehre grundsätzlich akzeptiert (->Stoa/Stoizismus). Einen festen theologischen Ort findet sie erstmals im System der durch Johannes —»Cassianus dem Westen vermittelten Achtlasterlehre des könobitischen Mönchtums in Ägypten (-»Evagrius Ponticus). Hier stehen die Laster von Trauer (tristitia) und Trägheit (atcr/Seia, acedia) in engem Zusammenhang. Daneben gewinnt im Gefolge der paulinischen Unterscheidung von weltlicher und göttlicher Traurigkeit (tristitia saeculi und tristitia secundum deurn, II Kor 7,10), die zu einem festen Topos christlicher Trauerdeutung wird, der positive Begriff einer gottgefälligen Büß- und Sündentrauer als -» Tugend an Profil (nivdog, luctus). Sie wird zum Ideal monastischer Spiritualität, der im Klagen und Weinen über eigene und fremde -» Sünden seliggepriesenen Bußgesinnung {Kazävv^iQ, compunctio-, -»Buße). Sie wird zugleich als Grund und Frucht von Auferstehungshoffnung verstanden und so von erstarrten Trauerformen unterschieden. -•Augustin erweitert das monastische Konzept im Rahmen seiner —»Ethik, indem er die Trauer als Funktion der -»Liebe und somit der jeweiligen Gesamtausrichtung der menschlichen -»Existenz deutet. Der natürliche Traueraffekt bleibt jedoch unter dem Verdacht der ungeläuterten, d.h. irdisch gebundenen Liebe. In theologischer Hinsicht erscheint das Phänomen der Trauer somit negativ als Symptom eines auf die Sünde des Menschen zurückzuführenden Gottes-, Welt- und Selbstverlustes. Insofern dieser mittels Buße auf den ewigen Heilsgewinn hin transzendiert werden kann und muß, entspricht ihm ein positiver, auf die Überwindung der Sünde bezogener Trauerbegriff. 2.

Mittelalter

Mit der Affektenlehre des —»Thomas von Aquino gewinnt die metaphysisch orientierte Psychologie systematisch an Gestalt. Die Trauer, in der Tradition —»Gregors I. des Großen gleichbedeutend mit der acedia, festigt ihren Ort in der Siebenlasterlehre, erfährt aber eine entscheidende Dynamisierung. Als einer der menschlichen Grundaffekte, des begehrenden (konkupisziblen) Strebevermögens, wird sie je nach ihrer Beziehung zu Vernunft, Tugend (Glaube) und Gesamtziel des Menschen (ewige Glückseligkeit) ethisch differenziert beurteilt. Einerseits zeigt sie sich als Hemmnis im Daseinsvollzug, am schlimmsten als maßlose Trauer in krankhafter Melancholie und Wahnsinn. Andererseits erschließt sie die positiven Möglichkeiten der Nichtigkeitserfahrung, indem sie als seliggepriesene Trauer (Mt 5,4) Vernunft und -»Willen neu aktiviert. In der weiteren Entwicklung tritt die Breite der thomasischen Konzeption zurück. In den mittelalterlichen Tugend- und Lasterlehren erscheint die Trauer vorrangig als Moment der Haupt- oder Todsünde der acedia. Sie wird als Reueschmerz über die Sünden im Rahmen der tugendzentrierten Bußfrömmigkeit und als Thema von -»Anfechtung und Verzweiflung kultiviert und für die Kirchendisziplin genutzt, vermittelt durch die Laienkatechese, das Bußinstitut und die Trost- und -»Erbauungsliteratur. Mit der individuell und kollektiv eingeforderten Büß- und Straftrauer verbindet sich die Trauer als aktive Sorge um das Seelenheil der Verstorbenen. Vor allem die spätmittelalterliche Marien- und -»Passionsfrömmigkeit fördert über die Motive der tristitia Christi und der compassio Mariae die Individualisierung und Emotionalisierung der Trauer als Ausweis der Weltentsagung und Mittel der Heilssicherung. Neben extremen Artikulationen der Bußtrauer wie in der Geißlerbewegung (-»Geißler) bleibt die Tendenz zur Trennung von innerer tristitia salutis und äußerer tristitia mortis bestehen, wie die fortgesetzte Abwehr ostentativen Klagens und Weinens als typischen Zeichen von geistlicher Ungeduld, weiblicher Schwäche oder Mißachtung der Standespflichten zeigt. Besondere Fragestellungen religiöser Identitätswahrung ergeben sich im Bereich des kirchenrechtlich verweigerten Trauerri-

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tuals und der in Zeiten hoher Mortalität (Pest) verunmöglichten regulären Trauer. Eine markante Neuakzentuierung findet die Trauer im Bereich der -»Mystik, wo sie als Trägheit (acedia) mit der Gefahr der Verzweiflung bewußt gehalten, zugleich aber als Aufgabe in den Stufen weg der Läuterung zur uttio mystica eingegliedert wird. Im —»Humanismus kommt es — vor allem im Rahmen literarischer Inszenierung - bei stoischer Grundtendenz wiederholt zu einer stärkeren Würdigung der „natürlichen" Trauer als subjektiv-authentischer Erfahrung (Trostbriefe), aber auch zu vermehrter Kritik an traditionellen Formen öffentlicher Trauerbekundung. Die Suche nach einer angemessenen rhetorischen und weniger rituellen Kunst des Trauerns ist von Internalisierung und Privatisierung bestimmt (Collucio Salutati; F. -»Petrarca; vgl. Strocchia). Eine neue, das Standesdenken von Künstlern und Gelehrten prägende Dimension wächst dem Trauerverständnis durch den Florentiner Renaissancehumanismus zu, der die schöpferische Seite der Melancholie ([pseudo-aristotelische] pr. 30,1: Aristotelis Opera, ed. Gigon, 953a-955a; Aristoteles, übers. Flashar, 250-256; vgl. Klibansky/Panofsky/Saxl 5 9 - 7 6 ) mit der platonischen Mania-Lehre zusammenführt und so das Moment der Trauer wirkmächtig in den Geniegedanken integriert (M. —»Ficino, De vita libri tres, 1. 1, c. 4—6 u.ö.). 3.

Reformationsjahrhundert

Mit der reformatorischen Neuorientierung ändert sich der normative Bezugsrahmen für das Trauerverständnis. M. -»Luthers Abkehr vom Todsündenschema und der traditionellen Affektenlehre ist mit der Thematisierung des Glaubens als des vom Gotteswort bestimmten Grundaffekts verbunden, der mit der Gesamtexistenz des Menschen vor Gott auch über den Charakter der Trauer nach II Kor 7,10 entscheidet. Die göttliche tristitia, die zur göttlichen Freude weiterführt, wird Teil der Dialektik von -»Gesetz und Evangelium, was dem -»Dekalog einen prominenten Ort der praktischen Einübung zuweist. Genuine Elemente der mystischen Trauer gehen in die kreuzestheologische Deutung der Leidens- und Anfechtungserfahrungen ein. Die Melancholie bleibt als „höllischer Trauergeist" (Wilhelm Sarcerius) in endgeschichtlich-apokalyptischer Perspektive ein negativ besetzter Begriff. Er wird in der Tradition der Ketzerpolemik für die Abgrenzung gegen radikalreformatorische, altgläubige und innerprotestantische Gegner umfassend instrumentalisiert. Seine genialisch-schöpferische Komponente diskreditiert die Verbindung mit dem religiösen Enthusiasmus („Schwärmertum"; —»Schwärmer). Eine positivere Deutung der humanistisch-neuplatonischen Melancholiekonzeption im Rahmen reformatorischer Theologie bietet Ph. -»Melanchthon, der für die Weitergabe antik-humoralpathologischer Traditionen an den Protestantismus eine wichtige Rolle spielt. Den stoisch-humanistischen Abwertungstendenzen wirkt die augustinische Wertschätzung der „natürlichen" Trauer als Zeichen der menschlichen Liebesfähigkeit entgegen, doch bleibt auch im reformatorischen Deutungshorizont das Metriopathieideal und die Überlagerung von pathologisch-medizinischer und dämonischer Qualifizierung der ungeordneten Trauer und Melancholie bestimmend. Die spezifisch reformatorischen Akzente von Abschiedstrauer und Trost (-»Leichenpredigt) kommen bei Luthers Beerdigung stilbildend zur Geltung. Zugleich zeigen sich Ansätze zur Konfessionalisierung des Trauerverhaltens und seiner rituellen Gestaltung. Für diese ergeben sich im Kontext konfessioneller Abgrenzung neue Sinngebungsmöglichkeiten. So erhalten etwa das „Glaubensverhör" bei Sterbenden, welches über das selige Sterben im wahren Glauben vergewissern soll, und das Gedenken an Verstorbene unterschiedliche, von der konfessionsspezifischen Glaubens- und Jenseitsvorstellung mitbestimmte Funktionen für den individuellen und kollektiven Vollzug der Abschiedstrauer. 4. Das 17.

Jahrhundert

Die orthodoxe Lehrbildung (-»Orthodoxie) systematisiert die reformatorischen Umprägungen des Trauerverständnisses und sucht besonders in Diätetik, Temperamentenund Affektenlehre den Anschluß an die antiken und mittelalterlichen Grundlagen. Die

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Trost- und Erbauungsliteratur zeigt eine zunehmende, durch die Erfahrungen des -»Dreißigjährigen Krieges beförderte Spezialisierung im seelsorgerlichen Bemühen um Angefochtene, Schwermütige und Melancholiker, die sich auch im geistlichen Liedgut (-»Kirchenlied) niederschlägt. In der Frömmigkeitsbewegung J. -»Arndts wird die mystische Trauer konsequent gepflegt. Weiter vorangetrieben wird - besonders in -»England - die geistliche und medizinische Klassifizierung der Trauerphänomene, ihre enzyklopädische Aufarbeitung und ihre reflexive Darstellung. Robert Burtons Anatomy of Melaticholy (Oxford 1621) entfaltet das breite Traditionsmaterial theologischer und medizinischer Ab- und Ausgrenzung markanter Trauerphänomene erstmals im Blick auf die als eigene Gattung analysierte religiöse Melancholie, wie sie dem -»Puritanismus, aber auch allen Formen von Irr- und -»Aberglauben zugeschrieben wird. Bedeutsam ist, daß die Melancholie aufgrund eigener Erfahrungen nun zugleich als allgemein-menschliches Problem erscheint. Vor allem in England und Spanien entwickelt sich eine literarische, Renaissancegedanken aufnehmende Kultivierung der schmerzhaft-lustvollen Melancholie in Distanz zum kirchlichen Trauerverständnis (W. -»Shakespeare: Hamlet, Timon v. Athen; Miguel de Cervantes [1547-1616]: Don Quijote; vgl. Schleiner). Ein eigenes Feld kritischer Auseinandersetzung über angemessenes Trauerverhalten bietet die Entwicklung des barocken Hofzeremoniells mit seinen repräsentativen Trauerformen und die zunehmend detaillierter werdenden standes- und geschlechtsspezifischen obrigkeitlichen Trauerverordnungen. 5. Pietismus und

Aufklärung

Mit der Betonung von Buße und -»Bekehrung wächst in der pietistischen Reformbewegung die Bedeutung aktiver Sündentrauer als göttlicher Traurigkeit im Zeichen einer verinnerlichten, individuell geprägten Religiosität. Im Hallischen -»Pietismus wird diese Trauer im Bußkampf methodisiert und im Heiligungsstreben für das Universalprogramm christlich-sozialer Bildungs- und Erziehungsarbeit fruchtbar gemacht. Auch wenn die Bußtrauer auf den Durchbruch zur Gottesfreude angelegt ist, zeigen sich Tendenzen zur Habitualisierung der Trauer als Lebensform mit teilweise pathogenen Zügen. In den Augen orthodoxer wie aufklärerischer Gegner wird sie in Fortführung der Enthusiasmuskritik zum Begleitphänomen pietistischer Frömmigkeit überhaupt und steht für eine melancholisch-depressive Grundhaltung mit Hang zum Aberglauben und religiösen Fanatismus. Umgekehrt wird der Melancholieverdacht der Gegner als Verweigerung gegenüber der göttlichen Traurigkeit gesehen und die melancholische Disposition als besondere Chance geistlicher Erfahrung nach der Bekehrung hervorgehoben. Auch innerhalb der pietistischen Strömungen findet sich die polemische Instrumentalisierung der Melancholiediagnose. Die Erforschung und Aneignung der „heiligen" Affekte der biblischen Schriftsteller durch -»Gebet und -»Meditation bekommt eine eigene Bedeutung für die pietistische Bibelauslegung und die Umprägung der orthodoxen Inspirationslehre. Das für die Entwicklung der Biographik wichtige pietistische Literaturprogramm vertieft die Trauer- und Anfechtungsthematik im Rahmen der Lebensbeschreibungen der Wiedergeborenen. Die breite orthodoxe Rezeption der antiken und mittelalterlichen Affekten- und Temperamentenlehre geht verloren, doch ihre diätetische, für Medizin, Erziehung und praktische Lebensführung wichtige Seite wird pietistisch wie aufklärerisch fortentwickelt. Im Bereich der Trauer um die Toten verleiht die pietistische Bibelfrömmigkeit der nie verstummten Kritik an Fehlentwicklungen kirchlicher Trauerbegleitung neue Schubkraft. Das Ideal der maßvollen Trauer wird im Pietismus in der Regel im Namen von Selbstverleugnung und mystischer Gelassenheit verteidigt. Eine eigenständige Form der pietistischen, von österlicher Spiritualität getragenen Trauerkultur entwickelt die Herrnhuter Brüdergemeine (-»Brüderunität/Brüdergemeine). Dies zeigt sich z.B. in der Ostermorgenliturgie mit dem Verlesen der im Vorjahr Verstorbenen, dem Verständnis des Friedhofs als Ort der Auferstehungshoffnung

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(„Gottesacker") und dem Zurückdrängen öffentlicher Trauerbekundung (vgl. David 95 - 9 7 ; Meyer 285Í.343-346). In der Aufklärungsbewegung (-» Aufklärung) festigt sich seit der cartesianischen Abkehr von der aristotelisch-scholastischen Psychologie die analytische Sichtweise der Trauer. Trauer und Melancholie werden Phänomene „natürlicher" Erklärung und rationaler Beherrschung. Der Fortschritt der Medizin wird von der pädagogischen Zielsetzung der Affektenregulierung in Dienst genommen, wie die wachsende Bereitschaft zur Pathologisierung auffälliger Trauer- und Melancholieformen zeigt. Als Feinde von Vernunft, natürlicher Geselligkeit und aufgeklärter Religion gelten vor allem Melancholie und religiöser Enthusiasmus als Indikatoren von Aberglaube, Vorurteil und Intoleranz. Entsprechend lenken Stimmen der neologischen Aufklärung den Melancholieverdacht auf den Pietismus als Hort irrational-pathogener Glaubensüberzeugungen, während er in der radikaleren französischen Aufklärung in den Dienst der -»Religionskritik tritt. Als gottgefällig gilt der moderaten theologischen Aufklärung die Sündentrauer, die sich in der tugendhaften Glaubenspraxis selbst aufhebt. Freilich kann in der Spätaufklärung auch die vernünftig regulierte traurig-melancholische Gemütsverfassung als günstige Voraussetzung für die Tugendpraxis und das moralisch relevante Gefühl für das Erhabene zur Sprache kommen (I. -»-Kant). Die Ausdifferenzierung von Recht, Moral und Wohlanständigkeit (decus) erweitert im Blick auf das Trauerverhalten den praktischen Orientierungsbedarf, dem durch Fixierung des entsprechenden Standeswissens Genüge getan wird. Dies prägt noch die spätaufklärerische bürgerliche Anstandsliteratur. Gegen den intellektualistisch verengten Zugang zu den Affekten wehren sich die pietistisch inspirierten Bewegungen von Empfindsamkeit, -»•Sturm und Drang und -»Romantik, die Trauer und Melancholie als Mittel intensivierter Selbst-, Welt- und Gotteserfahrung mit hohem Kommunikationswert entdecken und in unterschiedlicher Weise, etwa in der Trauer als unerfüllter Sehnsucht nach dem Unendlichen, auch Theologie und Frömmigkeit Impulse geben (F.D.E. -» Schleiermacher). 6. Das 19. und 20.

Jahrhundert

Für die nachaufklärerische Entwicklung charakteristisch ist die starke Präsenz von Trauer und Melancholie in der religions- und kirchenkritischen Zeit- und Kulturdiagnostik und ihre Thematisierung in Dichtung und Philosophie (z. B. F. -»Hölderlin, F. -»Dostojewski], F. -»Nietzsche). Eine spezifisch christliche Deutung als ethische Aufgabe und religiöse Offenheit erfahren Trauer und Melancholie in Gestalt der Schwermut bei S. -»Kierkegaard und - in seinem Gefolge - bei R. -»Guardini. Als markante Vollzugsform religiös-kultureller Trauer stellt sich F. -»Overbecks Metatheologie des Abschieds vom sterbenden Christentum dar. Für die Trauer um die Toten bringt der gesamtgesellschaftliche Wandel, vor allem auch der Familien- und Sozialstrukturen, und die Pluralisierung der Lebenswelten ein beschleunigtes Auseinandertreten von öffentlicher und privater Praxis. Friedhofs- und Grabbesuch entwickeln sich zu eigenen Formen individualisierter Trauerbewältigung. Die im 19. Jh. beherrschend werdenden Formen besitzbürgerlicher Bürokratisierung der öffentlichen Trauerzeremonien (sog. Beerdigungsklassen) werden zunehmend Gegenstand der Kirchen- und Sozialkritik. Einen wichtigen Teilbereich (pseudo-) religiös-politischer Integrationsbemühung stellen die unterschiedlichen, vom jeweiligen Staatsverständnis und den medialen Möglichkeiten mitbestimmten Formen nationaler Trauerinszenierung dar. Insgesamt wird es in der von bindenden Symbol- und Ritualtraditionen entleerten modernen Gesellschaft immer schwieriger, Trauer als individuelle und soziale Größe kommunikabel zu halten. Dies zeigen nicht zuletzt die zeitgenössischen Versuche, sich über Möglichkeiten und Gestalten historischer Trauer im Gedenken an die Opfer des —»Nationalsozialismus zu verständigen (Holocaust-Mahnmal).

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Trauer V

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Hans-Martin Kirn

V. Systematisch-theologisch 1. Forschungslage 2. Ethische Fundierung 3. Soteriologische Deutung Bedeutung 5. Konsequenzen für die Gotteslehre (Literatur S. 22)

1.

4. Epistemologische

Forschungslage

Im Unterschied zur praktisch-theologischen Diskussion wird der Begriff „Trauer" systematisch-theologisch selten erörtert. Unter den Eigenschaften -»Gottes kommt er in der Tradition der Gotteslehre nicht vor, welche die „Erhabenheit" Gottes in den Mittelpunkt rückt (Pannenberg I, 365ff.). Die von Falk Wagner im Anschluß an Hegels Rede vom „Tod Gottes" formulierte „Revolutionierung des Gottesgedankens" (Wagner 149ff.) fokussiert die Frage nach Gottes Macht und ihrer Grenze, während Jürgen Moltmann die Leidensfähigkeit Gottes (Moltmann, Trinität 51 ff.) mit dem Begriff „Kummer" akzentuiert. Seine Ausführungen zur „Trauer" (ders., Kommen Gottes 140ff.) knüpfen dagegen an soziologische und psychologische Deutungen an. Doch wird eine systematisch-theologische Erörterung der Trauer gerade im Unterschied zu humanwissenschaftlichen Deutungen die Erneuerungsbedürftigkeit von Akteuren in den Mittelpunkt stellen, während A. —»Schopenhauer -»Leiden als Grundmuster des In-der-Welt-Seins auffaßt. Seine Metaphysik des Willens basiert auf der These der bleibenden Differenz von Idee und Erscheinung (Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 56,366). Er differenziert zwischen der Langeweile als Ausdruck eines Weltverhältnisses, das um die Sequenz vorläufiger Ziele und die Abwesenheit eines übergeordneten weiß (ebd. 1,195f.), und der Kunst als Erkenntnisform, die unabhängig vom Satz vom Grunde dem Betrachter und dem Künstler Wahrheit zugänglich macht (ebd. I, 217f.301ff.). Schopenhauer umreißt diese Erfahrung mit religiösen Begriffen, ohne eine spezifisch religiöse Weltdeutung vornehmen zu wollen, während sie vor allem im 19. Jh. indes als Ersatzreligion rezipiert wurde (Pikulik 189.192). Anders als die Ausdrucksform der Klage stellt die Trauer als Element von moderner Literatur für K.H. Bohrer eine Reflexionsleistung dar, die einen Distanzgewinn gegenüber der Endlichkeit des Vorhandenen erzielt (Bohrer lOf.). Bohrer beabsichtigt, -»Nietz-

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21

sches Thema der „ewigen Wiederkunft des Gleichen" als Ausdruck des Abschieds zu denken, was die zyklische Anlage des Uber- und Untergehens im „Zarathustra" nicht unbedingt nahelegt. Vielmehr findet sich eine uneinheitliche Bewertung der „Schwermuth" als Ausdruck der „grossen Sehnsucht" (Nietzsche 278ff.) oder als Zeichen von Trägheit (ebd. 369ff.). Das psychologische Verfahren Nietzsches schließt die Erfahrungsbezüge von Trauer auf und verweigert sich so dem reduzierenden Geltungsanspruch, den Schopenhauer und Bohrer je für philosophische bzw. literarische Diskurse erheben. Demzufolge ist auch theologisch die Erlösungsbedürftigkeit nicht mit der Erfahrung von Trauer gleichzusetzen, sondern die Erfahrungen von Trauer werden aus der Perspektive eines auf die Erlösung (—»Heil und Erlösung) hoffenden Akteurs strukturiert. 2. Ethische Fundierung Die spezifische Aufgabe einer systematisch-theologischen Reflexion des Begriffs besteht darin, die in der Erneuerungsbedürftigkeit der Akteure sichtbar werdende Differenz auf die Alltagserfahrung der Trauer zu beziehen. Das Gefühl und die soziale Situation der Trauer (s.o. II) implizieren die Erfahrung von Leere angesichts der Abwesenheit eines Liebenswerten. Unverzichtbar ist es, erstens die individualethische Relevanz zu denken, welche die Fähigkeit zu trauern, mithin zu lieben (-»Liebe), zum Indikator für das Selbstsein des Akteurs macht, welches der Vergänglichkeit und auch der Feindschaft Gottes (Hi 14,12) ausgesetzt ist. Zweitens gilt es, die sozialethische Relevanz zu beachten, wie sie sich in spezifischen Zeichensystemen zeigt. Die Codierung von Trauer wird verstanden sowohl durch die Fähigkeit des Akteurs zur Selbstinterpretation als auch durch die Erwartung bestimmter Zeichensequenzen in sozialen Vorgängen, die als zu betrauernd bezeichnet werden. Für die systematisch-theologische Begriffsbildung ergibt sich aus der Weite der ethischen Fundierung die Konsequenz, daß nicht ausschließlich Situationen angesichts des -•Todes eines geliebten Menschen in den Blick kommen, die den Akteur zur Meditation über die eigene Endlichkeit anleiten (Ebeling II, 142). Darüber hinaus eröffnen nämlich die Konnotationen Leere, Verlust, temporäre Abwesenheit eine Erweiterung des Begriffs Trauer in Richtung des Verhältnisses von Akteuren zu sozialen, gegenständlichen und natürlichen Umwelten sowie in bezug auf das Gottesverhältnis. Die semantischen Oppositionen Fest/Trauer bzw. Freude/Trauer bezeichnen die doppelte Fundierung des Begriffs in individual- und sozialethischer Hinsicht, der religiöse Konnotation insofern gewinnt, als Gott die Transformationen zur Krise bzw. zur Lösung zugeschrieben werden (Am 8,10; Thr 5,15; Jer 31,13; Jes 61,3). Die soziale Situation der Trauer wird poetisch in Landschaften verlagert (Erde, Wege Zions, Juda), auch begegnen in der -»• Passionsfrömmigkeit vielfältige Formen der Trauer über das Leiden und den Tod Jesu. Demgemäß wird Trauer der Ausdrucksfähigkeit von Akteuren zuzurechnen sein, die epistemisch in der Struktur von Zeichenprozessen, ethisch in der Struktur des Liebens (Dtn 6,5; Mt 22,37ff.; Stock) angetroffen wird. Die Festlegung auf Intersubjektivität, die -»Kierkegaard (II, 378ff.) vornimmt, muß daher als nicht sinnvolle Einschränkung der Reichweite des Begriffs betrachtet werden, zumal das Ideal der Selbstaufgabe in trauernder Liebe zu einem Verstorbenen der Struktur des Liebens nicht entspricht, wie sie beispielsweise durch das sog. „Doppelgebot" angezeigt ist. 3. Soteriologische

Deutung

Die Differenz Nähe/Abwesenheit Gottes ist nicht analog der Differenz Freude bzw. Fest/Trauer, weil der Begriff Trauer polyvalent ist. In der eschatologischen Perspektive wird die Aufhebung der Trauer in die ewige Freude namhaft zu machen sein (Apk 21,4), die als Aufhebung temporärer Abwesenheit zu verstehen ist, als die sie im Gottesverhältnis sowie in sozialen, gegenständlichen und natürlichen Verhältnissen sichtbar werden kann. Diese Aufhebung zeigt sich gleichfalls in der gespannten Erwartung der neuen Welt Gottes, die den Trost für die Trauernden als Erneuerung durch Gott begreift

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Trauer V

(Mt 5,4). Gottes Abwesenheit läßt sich durchaus als Glaubenserfahrung thematisieren, insofern sie auf die Erneuerungsbedürftigkeit der Welt verweist. Die Erfahrung der Nähe Gottes ließe sich auf Situationen der Trauer beziehen; umgekehrt können auch Glücksmomente auf dem Hintergrund einer Trauer über Gottes Abwesenheit erscheinen. 4. Epistemologische

Bedeutung

Da jede soziale Situation durch Verstehensrahmen Kontur gewinnt, ist für das Selbstverständnis von Akteuren festzuhalten, daß die Trauer eine „transzendentale Störung" (Bader 53) abbilden kann. Der vorgängige religiöse Deutungsrahmen wird durch eine Befindlichkeit des Gottesverhältnisses oder die Trauer, die sich in sozialen, gegenstandsbezogenen und natürlichen Verhältnissen zeigt, unplausibel und durch den Akteur bzw. die Akteure (z.B. bei Ritualen [—»Ritus]) variiert. Diese Variation ist zu denken als Veränderung des Gottesverhältnisses oder der Zuordnung von Gottesverhältnis und sozialen Situationen oder der Zuordnung von natürlichen und sozialen Situationen auf dem Hintergrund des Gottesverhältnisses usw. Als äußerste Möglichkeit gehört hierher auch der Ausfall der Einsicht in die Erneuerungsbedürftigkeit der Welt, die sich konkret darstellt in dem Mißtrauen, daß Gott die Differenz von Freude und Trauer nicht beseitigen wird. Weiterhin wäre die Unaufhebbarkeit der Differenz von vorgängigem Verstehensrahmen und Lebenserfahrung am Beispiel der Trauer zu veranschaulichen. Ungeachtet der Gewißheit des Akteurs, der die letztendliche Beseitigung der Trauer von Gott erwartet, erhalten sich das Gefühl und die soziale Situation der Trauer. An dieser Stelle wird auch der Anknüpfungspunkt praktisch-theologischer Reflexion erkennbar (s.u. VI). Von der Wahrnehmungsleistung der Akteure hängt es ab, inwieweit auf den Ebenen des religiösen Deutungsrahmens oder der konkreten Situation, welche die Trauer auslöst, das Unverständnis greift. Das Unverständnis entspricht ethisch der Unmöglichkeit von Liebe, insofern im Blick auf Personen und Gott (der in religiöser Kommunikation vielfach wie eine Person behandelt wird) die fehlende Reziprozität des Liebens beklagt wird. Im Blick auf soziale, gegenstandsbezogene und natürliche Welten wäre die Unmöglichkeit der Liebe als Mißlingen einer asymmetrischen Form von Liebe zu erläutern, die als Maßstab des Gelingens die -»'Wiederbringung der Dinge (Rosenau) vor Augen hat. Epistemologisch hieße dies, die Abwesenheit als Lücke im Prozeß der Vollendung der Welt zu verstehen. 5. Konsequenzen

für die

Gotteslehre

Da Gott Freude über die Umkehr des Gottlosen zugeschrieben wird, wäre es konsequent, obwohl biblisch nicht bezeugt, die Trauer als Eigenschaft Gottes zu denken, freilich nicht als Weltverlust, sondern als poetischer Ausdruck für die Distanz zwischen Gott und seinen Geschöpfen. Die Rede von der soteriologischen Ohnmacht der Geschöpfe (Rosenau) und der Fähigkeit Gottes zum Machtverzicht (Wagner) ist am Beispiel der Trauer nunmehr zu veranschaulichen: Gott erträgt die Unmöglichkeit des Glaubens, sei es als Unfähigkeit oder UnWilligkeit zu glauben (—»Theodizee). Literatur Günter Bader, Melancholie u. Metapher, Tübingen 1990. - Karl Heinz Bohrer, Der Abschied. Theorie der Trauer. Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin, Frankfurt a.M. 1996 M997. - Gerhard Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, 3 Bde., Tübingen 1979 3 1989. - Seren Kierkegaard, Der Liebe Tun: ders., GW, hg. v. Emanuel Hirsch, 19. Abt. I/II, hg. v. Hayo Gerdes, 1983 ( G T B 616f.). - Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christi. Eschatologie, Gütersloh 1995. - Ders., Trinität u. Reich Gottes, München 1980 I 1986. - Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra: ders., SW. Krit. StA, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München, IV 1980 2 1988. - Wolfhart Pannenberg, Syst. Theol., 3 Bde., Göttingen 1 9 8 8 - 1 9 9 3 . - Lothar Pikulik, Zweierlei Krankheit zum Tode. Uber den Unterschied v. Langeweile u. Melancholie im Lichte der Phil. Schopenhauers. Mit einer Anwendung auf die Lit.: Melancholie in Lit. u. Kunst. Beitr. v. Udo Benzenhöfer u.a., Hürtgenwald

Trauer VI

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Bernd Harbeck-Pingel

VI. Praktisch-theologisch 1. Vorbemerkung 2. Seelsorgerliche Begleitung der Trauer 3. Der Prozeß des Trauerns 4. Biblische Orientierungen für die kirchliche Praxis (Literatur S. 26) 1.

Vorbemerkung

Trauer ist ein unregelmäßiges, aber zugleich ein zentrales und häufig wiederkehrendes Motiv der pfarramtlichen Gemeinde- und Kasualpraxis (—•Kasualien), zugleich aber auch anderer kirchlicher Handlungsfelder wie der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge (—»Krankenseelsorge; —»Gerontologie), der psychologischen Beratungsarbeit und der Notfallseelsorge. Die seelsorgerliche Begleitung trauernder Angehöriger vor, während und nach einer Beerdigung vollzieht sich in der Gemeinde (-»Bestattung). Eigenart und Herausforderungen dieser kirchlichen Handlungsfelder im Umgang mit Trauer werden in der ->Praktischen Theologie mit den Kategorien von -*Seelsorge, -»Homiletik und -* Liturgie reflektiert. 2. Seelsorgerliche

Begleitung

der

Trauer

In der seelsorgerlichen Begleitung Trauernder kommt dem Angehörigengespräch in den Tagen vor der Beerdigung besondere Bedeutung zu. Dabei ist der Termin sorgfältig zu wählen. Er sollte nicht in der unmittelbaren Schockphase erfolgen, sondern auf der halben zeitlichen Wegstrecke zwischen -»Tod und Bestattung. Im Vordergrund steht das Verstehen des Unbegreiflichen. Der Beginn solcher Trauerbegleitung setzt bei dem an, was diese Situation verursacht hat: die Sterbegeschichte. Sie wird gelegentlich in medizinischer, häufiger aber in einer in Alltagssprache übersetzten populärmedizinischen Sprachvariante zum Ausdruck gebracht. Im Trauergespräch mit den Angehörigen kommt auch der gedanklichen und praktischen Vorbereitung der Beerdigung selber große Bedeutung zu. Zum Trauergespräch gehört die Lebensgeschichte des Verstorbenen, die von Angehörigen in der Regel selbstverständlich erzählt wird. Zur Vorbereitung der Trauerfeier ist es erforderlich, daß die pastoralen Begleiter den liturgischen Ablauf darstellen und so eine gedankliche Vorwegnahme und angemessene Vorbereitung dieser Situation ermöglichen. Trauerrituale der Gemeindepraxis (gemeinsames ->• Abendmahl mit dem Sterbenden, Aussegnung im Sterbehaus, -»Gebet, Psalmlesung, Singen von Chorälen) sind vor allem in Urbanen Bezirken weitgehend verschüttet. Weil diese Lebensformen im Alltag ungewöhnlich geworden sind, scheuen sich Menschen manchmal, in Lebenskrisen auf diese Hilfestellungen zurückzugreifen. Nur in einzelnen Bereichen werden sie weitergeführt oder neu aufgenommen. Dennoch bleibt Trauerbegleitung ein zentrales Arbeitsgebiet für Pfarrerinnen und Pfarrer im Gemeindepfarramt. Die universitäre Ausbildung hat sich auf diese Herausforderungen eingestellt. In der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge hat Trauerarbeit dort ihren Platz, wo es um die Begleitung Angehöriger von Sterbenden geht, aber auch in der Seelsorge an Mitarbeitenden im Altenheim und -»Krankenhaus. Trauer geschieht nicht nur in der Begegnung mit Tod und Sterben, sondern an allen Übergängen in der Lebensgeschichte. Der Mensch benötigt Hilfe für den Umgang mit Angst, weil Schwellenerfahrungen ambivalente und einander widersprechender Gefühle hervorrufen: einerseits Entlastung um

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Trauer VI

die Sorge für den Verstorbenen, zugleich jedoch die Angst, zu Lebzeiten des Verstorbenen etwas versäumt zu haben. Im Kern geht es bei Trauer um die Einsicht in die Endlichkeit des Lebens, auch des eigenen. 3. Der Prozeß des Trauerns 3.1. Trauer wird geprägt durch Ängste. Sie haben einen konkreten Ausgangspunkt, Erfahrungen, die Menschen verletzen und Zutrauen erschüttern. Ängste begleiten Trauernde oft über eine lange Zeit. Niemand kann der Angst vor dem Sterben ausweichen. Menschen können jedoch versuchen, eigene Ängste in ihr Leben zu integrieren. Zur Auseinandersetzung mit Ängsten gehört der Wechsel von Distanz und konfrontierender Auseinandersetzung. Erst beides zusammen läßt erlernen, mit Ängsten zu leben. Distanz verabsolutieren heißt, Angst letztlich zu verdrängen. Trauer zu verabsolutieren heißt, sich ständig mit der eigenen Angst auseinanderzusetzen. Erst im Wechsel zwischen Distanz und Auseinandersetzung gelingt Versöhnung mit Ängsten. 3.2. Trauer ist ein innerer Prozeß. Sie ist aber ebenso ein soziales Geschehen. Trauernde sind auf vertrauenswürdige Menschen angewiesen, auf Geborgenheit, Verständnis und Verschwiegenheit. Trauer wird als außerordentliche Schwächung und Verletzung erlebt. Niemand aber möchte sich in seiner Schwäche und Verletztheit veröffentlichen. Gleichzeitig aber braucht Trauern ein Gegenüber. Für Trauernde ist das eigentliche Gegenüber der Verstorbene. Er steht jedoch nicht in der bisher gewohnten Weise als Gegenüber zur Verfügung. Eine Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen bedarf verschiedener Stationen. Hier sind Begleiter unentbehrlich. In der Trauer gibt es Phasen und Lebensabschnitte, mit denen Menschen vorher nie konfrontiert waren. Lebensfrohe Menschen können plötzlich apathisch und zurückgezogen werden, humorvolle Menschen können plötzlich zynisch oder verletzend reagieren. Die Trauer geht Wege, die nicht leicht zu verstehen und zu begleiten sind. Zur Trauer gehört zunächst, den Tod zu bestreiten, ihn gerade nicht wahrhaben zu wollen. In der Trauerbegleitung wird unterschieden zwischen dem biologischen Tod (erster Tod) und dem kulturellen Tod (zweiter Tod). Der erste Tod wird erst dann verstanden und für wahr gehalten, wenn der soziale oder kulturelle Tod ihm gefolgt ist. Zum kulturellen Tod gehören Trauerfeier, der Weg zum Grab, die gemeinsame symbolische Form der Beerdigung, das Schließen des Grabes, der Weg zurück in das Trauerhaus, die Gemeinsamkeit nach der Beerdigung, der Abschied derer, die zur Beerdigung gekommen sind. Oft zerbrechen in Trauersituationen menschliche Beziehungen, die vorher keine Konflikte erkennen ließen. Es kann zu unerwarteten Streitigkeiten kommen, die Menschen ein Leben lang einander fremd werden lassen. Jede Trauer hat es mit der Frage nach -•Schuld zu tun. Die -»Seele kann Verlust nicht anders wahrnehmen als mit der Frage nach dem Schuldigen — auch wenn es keinen Schuldigen gibt. Diese Schuldsuche kann auch zur Selbstbeschuldigung führen. 3.3. Die Begleitung trauernder Menschen stellt eine Herausforderung dar, in der sowohl Gefahren als auch Chancen liegen. Zu den Erfordernissen verläßlicher Begleitung gehören Beteiligung ohne unmittelbare Betroffenheit, Umgang mit wechselseitigen Projektionen, berechtigten und unberechtigten Schuldzuweisungen und die Bereitschaft, Bindungen einzugehen und Abschied zu nehmen. Im Trauerprozeß nehmen Begleiter häufig eine Stellvertreter-Funktion wahr, die bei der Auseinandersetzung mit dem Verlust des Verstorbenen hilfreich sein kann. Sie sind dabei auch Objekt von aufsteigenden Aggressionen, die im Kern dem Verstorbenen gelten. Da sich der Verstorbene nicht wehren kann, verbietet sich der Trauernde zunächst, den Verstorbenen anzuklagen oder zu beschuldigen. Der helfende pastorale Begleiter muß realisieren, daß er ein Gegenüber für wechselnde Projektionen ist. Auch versöhnliche Empfindungen dem Verstorbenen gegenüber werden leicht auf den Begleiter übertragen. Diesen wechselnden Übertragungen

Trauer VI

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ist ein helfender Begleiter um so eher gewachsen, als er der Identifizierung und Nähe auch die eigene Distanzfähigkeit und aufmerksame Zuwendung hinzufügen kann. Trauernde und Begleitende müssen einen wechselvollen Weg gehen. Die Psychotherapeutin Verena Kast verwendet das Bild des Nomaden: Nur der kann sich trennen und vertraut auf weitere Bindungen, der abschiedlich existieren kann und weiß, daß er sich erneut niederlassen kann (Kast, Trauern). In der Trauerbegleitung werden zentrale Kräfte des Lebens erfahrbar. Menschen, die sich in der Hospizarbeit engagieren, berichten, daß oft erst an Lebensgrenzen die Tiefe dieses Lebens spürbar wird, die sonst im Alltag kaum wahrzunehmen ist (Schibilsky, Diakonie). Seelsorgerliche Krisenintervention ist angezeigt in der Begleitung von Angehörigen und Betroffenen bei Katastrophen und Unglücksfällen. Die Notfallseelsorge ist zu Beginn des dritten Jahrtausends ein professionell und ökumenisch entwickeltes Handlungsfeld pastoraler Praxis geworden, aber noch nicht flächendeckend anzutreffen. Notfallseelsorge geschieht auch in körperlich annehmender und bergender Zuwendung (MüllerLange). Schockierte Trauernde weinen, schreien, erstarren, klagen oder erzählen Lebensgeschichten der Gestorbenen. Begleitung geschieht im hörenden Verstehen und durch persönliche Nähe. Dabei kann auch gebetet oder gesegnet werden. 3.4. Individualisierung, Globalisierung und —»Säkularisierung bedeuten in der gegenwärtigen -»Gesellschaft für die Begleitung Trauernder: Der Einzelne steht mit seinem Lebensentwurf im Mittelpunkt aller Überlegungen. Weltweite Informations- und Medienkultur vermittelt den Menschen Trauerformen anderer Kulturen, die früher unerreichbar fern und damit auch nicht nachvollziehbar waren. Die Säkularisierung nimmt der christlichen -»Tradition die Selbstverständlichkeit, das einzig gültige Sinnkonzept an der Grenze des Lebens zu sein. Die christliche Welt- und Lebensdeutung steht in Konkurrenz zu anderen Sinnsystemen. Die Welt wird offen auch für veränderte Rituale, zugleich aber verlieren die bisherigen Rituale ihre Selbstverständlichkeit und damit ihre Plausibilität. Das wirkt sich auch auf die Begleitung Trauernder aus. Der einzelne erlebt sich als mit anderen nicht mehr vergleichbar. Jeder muß entscheiden, für welche Individualitätsmerkmale er sich entscheidet. Diese Entscheidung wird zwar dadurch erleichtert, daß es auch in dieser Kultur Stilbildungen, vorgeprägte Lebensstile gibt. Dennoch bleibt der Zwang zur Wahl. Das fällt gerade Menschen in Krisensituationen besonders schwer. In -»Krisen wird oft auf das Verhalten zurückgegriffen, das seit frühesten Kindheitstagen vertraut ist: Trotz, Wehmut, Wut, Kläglichkeit, Resignation. Die Entscheidungen sind dadurch schwieriger geworden, daß die dazugehörigen Geschichten und Zusammenhänge nicht mehr selbstverständlich vertraut sind und nicht mehr bei allen Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsam vorausgesetzt werden können. Die Kultur des Erinnerns löst sich in Teilwelten auf. 4. Biblische Orientierungen für die kirchliche Praxis Darum kommt bei der Begleitung Trauernder der pastoralen Begleitung eine zentrale Bedeutung zu. Kirche ist in dieser Gesellschaft die einzige Institution, die ein jahrtausendealtes, generationenübergreifendes Lebenswissen verfügbar hält, das gerade nicht von jeder Generation neu erfunden werden muß. Dieses Wissen ist in poetischer und erzählender Sprache der -»Bibel, im Liedgut der Kirche (-»Kirchenlied) und in den Ritualen der Gemeindepraxis (-»Ritus) überliefert worden. 4.1. Zu den Schätzen christlicher Tradition gehören biblische Texte. Für die homiletische Begleitung Trauernder eignen sich die für das Verständnis von Leid bedeutsamen Erkenntnisse aus dem Alten Testament. Im Mittelpunkt stehen die Klagepsalmen (-»Psalmen/Psalmenbuch), die prophetischen Traditionen (—»Propheten/Prophetie) und das Rechtsverständnis im alten Israel (-»Gesetz). In Klagepsalmen (Ps 13; 69,2-5.30) findet

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sich menschliches Leiden, Bedrückung und Verzweiflung zur Sprache gebracht als Ausdruck persönlichen Leidens. Biblische Klage hat ein dreifaches Gegenüber: -»Gott ist der Erste und der Letzte, dem diese Klage gilt. Sodann wendet sich diese Klage an den Klagenden selbst, ist Ausdruck seines Elends. Schließlich gilt die Klage auch den Feinden. Die alttestamentliche Forschung zeigt (Scharbert; Ruppert 279), welches Verständnis von Leid in Psalmen zu finden ist: die Gleichzeitigkeit von körperlichen Symptomen, Beklagen feindlicher Machenschaften, Entfremdung und sozialer Isolation bis in die engste Familie, dann auch ausgesprochene eigene Schuld. Ursachen und Wirkungen des Leides werden nicht voneinander getrennt, sondern als Gesamtzusammenhang verstanden. Dabei ist Klage durchgängig ein öffentlicher Vorgang, eine Angelegenheit des öffentlichen Interesses. Sie ist ein Ritual, das selber auch Wege zur Überwindung des Leidens weist. Zugleich werden damit Gegenkräfte zur Sprache gebracht: Vertrauen darauf, daß Leid gewendet werden kann. Klagepsalmen sind Gebetsformulare. Die Urklage ist die Klage über die Gottverlassenheit, die sich Jesus in seinem Sterben zu eigen gemacht hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Ps 22,2). 4.2. Im Neuen Testament wird Trauer beschrieben als der Weg von Gethsemane nach Emmaus. Die Gethsemane-Geschichte Jesu ist die Urgeschichte biblisch orientierter Seelsorge an Trauernden. Die sieben idealtypisch gedachten Stationen biblisch orientierter Trauer heißen: 1) Einsamkeit aufsuchen (bei extrovertierten Menschen besteht diese erste Station häufig in einer besonders chaotischen Form der aktuellen Lebensgestaltung); 2) Endgültigkeit wahrnehmen, wissen, daß es um unwiederbringlichen Abschied geht, der Trauernde vor Lebensentscheidungen stellt; 3) das Wissen um die Endgültigkeit dieser Entscheidung; 4) Endgültigkeit als ein Ringen mit Gott; 5) Überwindung des eigenen Widerstandes gegen die Endgültigkeit der Entscheidung, den Prozeßcharakter aller Lebensentscheidungen erahnen; 6) Loslassen von Erinnerungen, Ansprüchen und Enttäuschungen; 7) als Abschluß die Integration der Trauer in künftige Lebensvollzüge. Das kann jedoch niemand verordnen, es wird uns zu gegebener Zeit geschenkt. Wiederholung ist die Form, in der die Seele Unbegreifliches verstehen und begreifen lernt. Die Emmaus-Geschichte bildet ein weiteres Beispiel biblischer Trauerbegleitung: „Herr bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt" (Lk 24,29). Das ist die Sprache gelebter Traurigkeit, die ein Gespür für Grenzen gewonnen hat. Gefühle müssen zugelassen werden, müssen Raum gewinnen können. Dann können sie sich weiterentwickeln und zum inneren Wachsen helfen. Trauer kann zum Leben führen. Es wird entdeckt, was das Lebensnotwendigste ist. Die Bibel kennt dieses nomadische Grundgefühl (Hebr 13,14). Dieses „Lebensnotwendigste" hat mit Identität zu tun. Trauerarbeit ist Identitätsarbeit. Von der biblischen Wahrheit her wird die Ambivalenz des „Lebensnotwendigsten" verstehbar. 4.3. Für die homiletische Begleitung Trauernder gilt: Trauer braucht Zeit. Trauer braucht Wiederholung. Die Welt der Trauer ist die Sprach- und Erlebniswelt der Seele. Die Sprach- und Bildwelt des christlichen Glaubens hilft in der Begegnung mit Trauernden, weil die Bibel Sprachformen des Trauerns beinhaltet, die bis heute ihre Gültigkeit und Verläßlichkeit nicht verloren haben. Neben den biblischen Texten kann in der kirchlichen Praxis auf kirchenmusikalische Traditionsstücke zurückgegriffen werden. Abendchoräle wie Der Mond ist aufgegangen (Evangelisches Gesangbuch Nr. 482) sind verdichtete Trauererfahrungen, ausgedrückt in Bildern (Nacht, kosmische Ferne, Dunkelheit und abgrundtiefes Schweigen, der weiße Nebel der Verhüllung, -»-Krankheit und Schuld, -»Hoffnung auf -»Auferstehung), die Menschen in Lebenskrisen wegen ihrer Symbolik (-»Symbol) leichter zugänglich sind. Literatur Jürgen Barsch, Aus dem Tod in das Leben hinübergehen - Schwerpunkte der nachkonziliaren Totenliturgie: Trauernde trösten — Tote beerdigen. Bibl., pastorale u. liturg. Hilfen im Umkreis v.

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Michael Schibilsky

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Traum I

Traum I. II. III. IV. V. VI.

Religionsgeschichtlich Altes Testament . . , Judentum . . . Neues Testament Kirchengeschichtlich Praktisch-theologisch

S. 33 S.37 5.40 5.41 S.46

I. Religionsgeschichtlich 1. Allgemeine Einführung 2. Schriftlose Kulturen 3. Asiatische Religionen 4. Alter Orient 5. Griechisch-römische Antike 6. Islam 7. Moderne (Quellen/Literatur S. 32)

1. Allgemeine

Einführung

Im Traum begegnet dem Menschen eine geheimnisvoll-faszinierende, oft auch verstörende Anderswelt, die in den meisten Religionen numinose Wertigkeit annehmen kann. Bereits das Kind im Mutterleib träumt: der Traum ist ein anthropologisches Universale. Fast alle Sozietäten kennen eigene Techniken der Traumdeutung, die oft das Metier professioneller Traumdeuter sind. Die Oneiromantik kann Teil eines Systems „offizieller Religion" sein oder auch (wie im Christentum) stärker marginalisiert werden. Motive im Deutungsrepertoire wandern rasch und weit. Manche Übereinstimmungen (Hochzeit = Tod; Ausfall eines Zahnes = Tod eines Angehörigen etc.) können sich aus einem gemeinsamen psychogenen Substrat erklären, während andere Traumerzählungen interkulturell gewandert sein mögen („Brückentraum": Aarne/Thompson Nr. 1645). Andererseits erlaubt die Analyse von Traummaterial einen Einblick in die „Nachtseite" einer Kultur. Im religiösen Kontext begegnen Träume meist „geformt" und literarisch gestaltet, obwohl sie stärker als die häufig klischeehaften -»Visionen unverrechenbare, irrationale Anteile besitzen. Nur selten sind Träume konstituierende Elemente einer Religion. Meist gehören sie in das Feld der privaten Frömmigkeit (anders der Königstraum) bzw. des magischen Umganges mit Omina. Immerhin berufen sich Kultgründungen, Stiftungen von Heiligtümern etc. gerne auf Träume (Sarapis-Religion). Auch ist das Leben vieler Religionsstifter umgeben von Träumen: Buddhas Mutter Mäyä träumt, daß ein weißer Elefant in sie eingeht. Von ihrem Mann, König Suddhodana, herbeigerufene Brahmanen deuten, daß sie einen Weltherrscher oder einen Buddha gebären werde. Eine ganze Kaskade symbolträchtiger Träume kündet die Geburt Mahävlras an (s.u. 6. zu Mohammed; IV. zu Jesus). Semantisch überschneidet sich das Wortfeld „ T r a u m " oft mit demjenigen für „Schlaf". Die indogermanischen Sprachen z. B. haben von Hause aus zwei Vokabeln für den Traum, *oner (grie-

chisch övap, öveipog) und *suopniiom (lateinisch somnium, altindisch sväpna usw., von einem

Verb „schlafen"), die allerdings (aus Tabugründen?) in vielen Einzelsprachen durch andere Ausdrücke ersetzt wurden. Das deutsche Wort „ T r a u m " (althochdeutsch troum, germanisch wohl *draugma) bedeutet entweder „Trugbild" oder (wahrscheinlicher) „gespenstische Erscheinung" (altnordisch draugr „Gespenst"). Fundamental sind die Beziehungen des Traums zum -»Tod, die sich in chthonischer Traummythologie ausdrücken. In -»Griechenland sind Tod, Schlaf und Träume Kinder der Urgottheit „ N a c h t " (Hesiod, theog. 2 1 1 - 2 1 3 ) . Dieser Bezug bleibt auch später insofern bestehen, als viele Träume den Tod ankündigen. Traumlosigkeit gilt als böses Omen (Verlust der Kommunikation mit der göttlichen Welt); nur im Daoismus (-»Chinesische Religionen 6.) wird vom vollkommenen Menschen (zhert ren) gesagt, er habe keine Träume mehr. Fast alle Religionen kennen in der einen oder anderen Form die melancholische, aber auch befreiende Erfahrung, daß dem Leben selbst nur eine „traumhafte" Wirklichkeit zukommt (z.B. Mark Aurel 11,17; VI,31). Als eine Begegnung mit dämonischen Wesen wird durchgängig der Alptraum (eiäXzrn; „Alp, M a h r " ) gedeutet (Roscher; Jones). Böse Träume werden durch spezifische Riten abgewehrt; daneben kennt der Zauber Traumsendungen (öveiponöfinal). Andere Riten sollen die Wahrsagekraft steigern (pythagoreische Diätetik); im deutschen Volksglauben gelten „erste Träume" (in einem

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neuen Bett, neuen Haus etc.) bzw. solche zu bestimmten Zeiten (Weihnachten, Mittsommernacht) als besonders aussagekräftig. Die Dechiffrierungssysteme der Traummantik haben vielfach auf Modelle von Schriftinterpretation Einfluß gehabt. 2. Schriftlose

Kulturen

Die schriftlosen Kulturen haben ein nicht minder komplexes Verhältnis zum Traum als die Träger der Hochkulturen. Die australischen Ureinwohner kennen eine Verwurzelung von Natur und Kultur in einer protologischen „Traumzeit" (terminus technicus „the dreaming"; bei den Aranda: alcheringa), in welcher die Ahnen die Gegebenheiten der gegenwärtigen Welt geschaffen und dabei zahlreiche Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen haben. Verbreitet ist die Vorstellung, ein Teil der Person („-»Seele") verlasse im Traum den Körper (klassische, wenn auch klischeehafte Darstellung: James George Frazer, T h e Golden Bough. II. T a b o o and the Perils of the Soul, London J 1913, 3 6 - 1 0 0 ) . Die Erlebnisse des Traums seien also „Wahrheit", wenn auch besonderer Art. Diese Idee kann philosophisch weiterentwickelt werden (-»Plato; Pythagoreismus) oder auch als Superstition im Kontext einer andersartigen Anthropologie fortleben (Sage vom Binger Mäuseturm: nach germanischem Glauben erscheint ein Seelendoppel, die fylgia, im Traum als Tier, hier Maus). Im Schamanismus als „archaischer Ekstasetechnik" (Eliade) wird die Reise der Seele außerhalb des Körpers vielfach magisch-therapeutisch funktionalisiert. Trance und Traum sind allerdings sorgfältig zu unterscheiden. Doch geschieht die Initiation zum Schamanen in vielen Traditionen im Traum oder erhält zumindest durch einen solchen den wesentlichen Anstoß. Der Traum erschließt also eine innere Welt, deren Kenntnis dann die Trance ermöglicht. Auch dem Adepten des Vajrayäna begegnen im Traum hilfreiche Erscheinungen, z. B. der VajrayoginI, einer Däkinl, welche als Initiationsgottheit auftritt. Die Schau der Ahnen in Traum und Vision konnte in tribalen Gesellschaften politische Sprengkraft gewinnen. Die Begründer des nordamerikanischen Ghost Dance (vgl. TRE 2,438,41-439,52) 1870 und 1890, die Paiute-Schamanen Tavibo (gest. 1870) und Wovoka (1856?-1932), führten ihre Lehren auf Traumoffenbarungen zurück, ähnlich der Prophet der irokesischen „Longhouse-Religion", der Seneca-Schamane „Handsome Lake" (Ganio1 Dai lo', 1735-1815), der Führer der Absaroka (Crow), Plenty Coups (1848-1932), und andere prägende Gestalten indianischer Religionsgeschichte (-»Amerikanische Religionen). Die -»Religionswissenschaft des 19. Jh. hat verschiedentlich im Traum einen heuristischen Universalschlüssel zum Wesen des Religiösen gesucht, insofern aus der Dichotomie der Wirklichkeit in Traum und Wachen der Glaube an Seelen und Geister als Bewohner des Traumreiches entstanden sei („Animismus": Tylor). Diese Auffassung muß als obsolet gelten. Das Religiöse entzündet sich an Wahrnehmungen numinoser Wirklichkeit in allen Bewußtseinszuständen (vgl. Otto gegen die Ableitung des Seelen- und Ahnengeisterglaubens aus Träumen; anders Tuzin). 3. Asiatische

Religionen

„Ich, Zhuang Zhou, träumte einst, ich sei ein Schmetterling, ein hin und her flatternder . . . Schmetterling. . . . Plötzlich erwachte ich, und da lag ich, wieder ,ich selbst'. Nun weiß ich nicht: war ich da ein Mensch, der träumt, er sei ein Schmetterling, oder bin ich jetzt ein Schmetterling, der träumt, er sei ein M e n s c h ? " Diese berühmten Sätze aus dem Zhuang Z h o u (365 —290 v. Chr.) zugeschriebenen Zhuangzi (11,11) markieren das T h e m a philosophischen Nachdenkens über den Traum, welches sich durch viele Religionen Asiens zieht. Ist der Wachzustand an Realitätsgehalt dem Traumzustand tatsächlich überlegen? Schon die altindischen Upanishaden reflektieren über die Präsenz des Atmans (des Selbst) in den verschiedenen Bewußtseinszuständen (Wachzustand, Traumschlaf, traumloser Tiefschlaf und Trance), wobei die kreative Eigentätigkeit des Geistes im Traum herausgearbeitet wird (Brhadäranyaka-Upanisad 4 , 3 , 7 - 3 8 ; Chändogya-Upanisad 8,10,1). Doch hat die indische Volksreligion neben anderen mantischen Techniken (Astrologie) gerade die Traumdivination (svapnakäsana, svapnärthabodhana) in besonderen Ehren gehalten (von Negelein).

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Während sich der ältere -»Buddhismus noch wenig für den Traum (Pali supina, soppa) interessiert bzw. die kasuistische Traummantik verwirft (exemplarisch: Milindapañha 8,5), entwickeln vor allem die Mahäyäna-Schulen eine differenzierte Psychologie, welche auf hohem Niveau über das Wesen des Traumes und die variable Identität des Traumsubjektes reflektiert. Das in mehreren Fassungen umlaufende tibetische Buch der (Erlösung aus dem) Zwischenzustand beim Hören (bar-do thos-grol, gesprochen etwa Bardo-Thödol) charakterisiert die Übergangsphasen zwischen Tod und -»Wiedergeburt als eine Art komplexen Traumgeschehens, in dem sich karmische Gesetzmäßigkeiten in visionäre Bilder (u.a. Totengericht) umsetzen. Das von Näropa (11. Jh.) ausgebildete System der „sechs Yogas" (Bka'-brgyud-pa-Schule) kennt eine Technik des „Traum-Yoga" (rmi larn gyi mal 'byor). Diese soll den Adepten in die Lage versetzen, sich bei vollem Bewußtsein zwischen Traum- und Wachzustand zu bewegen und den illusionären Charakter beider zu durchschauen. 4. Alter Orient Alle orientalischen Völker kennen eine differenzierte Oneiromantik. In Mesopotamien sind zahlreiche Träume sowohl aus dem privaten Bereich (Briefe) als auch aus dem Staatsleben (Königsinschriften) und der religiösen Uberlieferung (Gilgameschepos; -•Babylonisch-assyrische Religion) bezeugt. A.L. Oppenheim hat in einer grundlegenden Arbeit ein assyrisches Traumbuch aus dem 7. Jh. in Omenform ediert (Protasis: Traum, Apodosis: Deutung, dazu Sühnerituale gegen „böse" Träume). Die Tempelinkubation dient weniger medizinischer Diagnose und Therapie wie in Griechenland, sondern eher zur Erlangung von Zukunftsschau und allgemeinen Ratschlägen. Von Interesse für die alttestamentliche Prophetie sind die Offenbarungen von Kultpersonen wie Laien, die aus dem Mari des 18./17.Jh. v.Chr. erhalten sind und zum Teil im Traum ergehen (TUAT 11,83-93; Ellermeier). Aus -»Ägypten (rsw.t „Traum" von rs, rys „erwachen", also „das Wachen im Schlaf") ist bereits in ramessidischer Zeit ein eigenes hieratisches Traumbuch (PChester Beatty III, Abfassung wohl schon im Mittleren Reich) bezeugt. Ägyptische Deutungen unterscheiden gerne nach dem „horischen" oder „sethischen" Charakter des Menschen, d.h. nach seiner Prägung durch den guten Gott Horus oder den bösen Gott Seth. Die Motive der demotischen Traumbücher (Volten) wirken auch auf die griechische Traumliteratur. Inkubation wird erst im graecoägyptischen Synkretismus zu einer zentralen Erfahrungsform. Häufig sind Königsträume (Sphinxstele Thutmosis' IV.), wie auch sonst im Orient (in Ugarit das Keret-Epos: KTU [Manfried Dietrich u.a., Die keilalphabetischen Texte aus Ugarit, I 1976 [AOAT 24/1] 1,14,1 usw.; wohl auch Aqhat-Epos: ebd. 1,17,1). 5. Griechisch-römische

Antike

In der griechisch-römischen Antike tritt der (gerne personifizierte) Traum (griech. oveipoq, övap, évónviov, lat. somnium) schon in der Ilias als Götterbote auf. Alt ist das Mißtrauen vor dem trügerischen Traum, der freilich nicht weniger aus der Götterwelt stammt als der Wahrtraum (II. 11,1-83; vgl. Od. XIX,547.562-567). Der Wunsch nach differenzierter Traumdeutung erzeugt früh einen Stand professioneller Traumdeuter (Ii. 1,63; später z. B. Horaz, sat. 1,6,144; Juvenal VI,588) und entsprechende Fachliteratur. Während aus hellenistischer Zeit nur Fragmente erhalten sind (Ausgabe: Del Corno; vgl. Tertullian, an. 46), besitzen wir im Oneirokritikon des Artemidor von Daldis (2. Jh. n. Chr.) ein umfassendes, zugleich theoretisch reflektiertes wie pragmatisch ausgerichtetes Werk, das im Abendland bis in die Neuzeit (wenn auch oft über Derivate) die einflußreichste Schrift zur Traumdeutung schlechthin geblieben ist (s.u. V.). Artemidor dechiffriert zahlreiche Traumsymbole, betont aber immer die Notwendigkeit einer Berücksichtigung von Charakter und Lebensumständen des Träumenden sowie von geschulter Intuition des Deutenden, dem sein Handbuch Regeln und Präzedenzfälle an die Hand geben will. Dabei differenziert er die Träume (1,1 f.) in évónviov (den aus Affekten geborenen Wunschtraum,

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mantisch wertlos) und öveipoi; (die Traumvision, in welcher sich die Zukunft ankündigt). Die Traumvisionen wiederum gliedern sich in die unverschlüsselten öveipoi decoptjfiaxiKoi und die symbolischen öveipoi äXXtjyopiKoi. Zur ersten Gruppe gehört die häufige Erscheinung einer verstorbenen Autoritätsperson.

Während die —»Stoa den Traumglauben wie überhaupt die Mantik in ihr Weltbild einzeichnet und damit quasi wissenschaftlich untermauert, unterzieht Cicero in den Traditionen der skeptischen Akademie beide einer eingehenden Kritik (De divinatione, 44 v.Chr.). Schon -»-Aristoteles hatte den Traum auf natürliche Ursachen zurückgeführt und korrekte „Vorhersagen" etwa für Krankheiten aus dem besseren Körpergefühl des Schlafenden, als Zufall oder als (modern gesprochen) „self-fulfilling prophecy" erklärt. Volksglauben und Kult stellten den Glauben an Träume dagegen niemals in Frage; auch die antiken Romane und die Weihinschriften bieten zahllose Belege für einen selbstverständlichen, alltäglichen Umgang mit ominösen Träumen. Viele Persönlichkeiten der Antike haben wichtige Lebensentscheidungen mit Träumen begründet (-»Sokrates, Mark Aurel, Dio Cassius, Plinius der Ältere, Lukian; auch praktisch alle römischen Kaiser; im Christentum z.B. -»Hieronymus; vgl. V.l.). In Inkubationsorakeln (Epidauros, Pergamon) erfährt der ratsuchende Kranke im Traum von der Gottheit Heilung oder Kenntnis der Therapiemittel. In den lepoi Xoyoi („Heiligen Reden") des Aelius Aristides ist uns ein ausführliches Traumjournal aus dem 2. Jh. n. Chr. erhalten. Die diagnostische Bedeutung des Traums wurde von vielen antiken Ärzten untersucht. Eine wichtige Rolle spielt der initiatorische Traum in den Mysterienreligionen (-»Mysterien/ Mysterienreligionen) (Apuleius, met. XI). 6. Islam Die islamische Traditionsliteratur (-»Islam) kennt Mohammed sowohl als Träumenden wie auch als Traumdeuter (Sahlh al-Buhär! 91; Fahd 255ff.). Die Entrückung des Propheten von Mekka nach -»Jerusalem (Sura 17) geschieht in einer Vision (ru'yä), die wohl als Traum zu fassen ist (doch vgl. Ez 8,3; die Legende von Mohammeds Himmelsreise [vgl. T R E 9,682,38ff.] ist nachkoranisch). Aufgrund dieser Vorgaben konnte sich die Traumdeutung (Koran: ta'wil al-ahläm) in der islamischen Welt mächtig entwickeln. Terminologisch wird in islamisch-theologischer Literatur zuweilen ru'yä auf Gott und hulrn auf den Teufel zurückgeführt, doch behandeln Lexikographie und Volkssprache beide Worte als Synonyme (Fahd 71f.; Fahd/Daiber). Bemerkenswert sind die häufigen Erscheinungen des Propheten in den Träumen des Gläubigen, welche Fragen der individuellen Lebensführung stark beeinflussen (Krenkow; Goldziher; Schimmel). Selbst Saddam Hussein hat die Legitimität des Golfkrieges (1991) mit einer Traumerscheinung Mohammeds begründet. Im Grenzbereich zwischen byzantinischer und islamischer Kultur steht das einflußreiche griechische Traumbuch des Achmet ibn Sirin (9./10. Jh.), angeblich Hoftraumdeuter des Kalifen Ma'mün. 7.

Moderne

S. -»Freud beginnt sein epochemachendes Werk Die Traumdeutung mit einer Diskussion älterer Traumliteratur, u.a. Artemidors (s.o. 5.). Dennoch markiert diese Schrift einen Paradigmenwechsel in der kulturellen Geltung des Traumes, der größer kaum gedacht werden könnte. Der Traum wird zum ausschließlich psychogenen Geschehen und zur „via regia zum Unbewußten". Damit ist er aus dem Bereich des Religiösen bzw. der Offenbarung entnommen, aber gegenüber der ihn völlig marginalisierenden -»Aufklärung doch auch aufgewertet, bis u.a. C . G . -»Jung und sein Umfeld die religiöse Dignität des Traumes wiederentdecken. Seitdem koexistieren in allen modernen Gesellschaften Relikte voraufklärerisch-mantischer und modern-tiefenpsychologischer Traumdeutung (außertherapeutisch-volkstümlich oft verbunden!) mit einem neuen religiösen Interesse am Traum als „Gottes vergessener Sprache" (s.u. VI.2. u. VI.3.). Daneben tritt die experimentelle Schlafforschung, deren Ergebnisse mit psychoanalytischen Modellen nicht immer zusammenstimmen. E. -»Bloch hat die utopische, gesellschaftsverändernde Imagination als Entfaltung des Tagtraumes qualifiziert (Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959, passim).

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Traum I

Eine eigene Kultur des Umganges mit Träumen hat die Esoterikszene (-»Esoterik) entwickelt. In der okkultistischen Lehre vom „Astralkörper" repristiniert sich die archaische Vorstellung von einem Seelenteil, der im Traum „wandert" (vgl. die parapsychologische Forschung zu „out-of-thebody experiences"). Die Relativierung der Wirklichkeit durch den Traum kennt die westliche Moderne meist nur als metaphysische Spielerei (vgl. den „roten König" in Lewis Carroll, Through the Looking Glass, IV 1871; dt.: Alice hinter den Spiegeln, Frankfurt a.M. "1996, oder Jorge Luis Borges, Las ruinas circulates: ders., El jardin de senderos que se bifurcan, Buenos Aires 1942; dt.: GW, München, III/l 1981, 124-130). Der säkulare Mensch der Neuzeit möchte in der Beachtung seiner Träume zu den Quellen seiner Kreativität vorstoßen und sich neue Erfahrung erschließen, damit aber auch das Religiöse zu seiner Lebenssteigerung instrumentalisieren - ein Prozeß, der sowohl religionsgeschichtlicher Erforschung als auch kritischer theologischer Begleitung bedarf (s.u. VI.2.). Quellen Zu 1.: Stephen Brook (Hg.), The Oxford Book of Dreams, Oxford/New York 1987. Zu 2.: Sir Walter Baldwin Spencer/Frances James Gillen, The Northern Tribes of Central Australia, London 1904. Zu 3.: Milinda's Questions, transl. by Isaline Blew Horner, London 1963 u.ö. (SBBud 22f.). - Julius v. Negelein, Der Traumschlüssel des Jagaddeva, 1912 ( R G W 11/4). - Patrick Olivelle, The Early Upanishads, New York/Oxford 1998. - Burton Watson (Hg.), The Complete Works of Chuang Tzu, New York/London 1968 u.ö. Zu 4.: Annelies Kammenhuber, Orakelpraxis, Träume u. Vorzeichenschau bei den Hethitern, Heidelberg 1976. - A. Leo Oppenheim, The Interpretation of Dreams in the Ancient Near East with a Transl. of an Assyrian Dream Book, 1956 (TAPhS NS 46/3). - Aksel Volten, Demotische Traumdeutung, 1942 (AAeg 3). Zu 5.: Publius Aelius Aristides. Hl. Berichte. Einl., dt. Übers, u. Komm. v. Heinrich Otto Schröder, 1986 (WKLGS). - Artemidori Daldiani Onirocriticon libri quinque, hg. v. Roger A. Pack, 1963 (BSGRT). - Asclepius. A Collection and Interpretation of the Testimonies, v. Emma J. u. Ludwig Edelstein, Baltimore, Md. 1945 Nachdr. Salem, N.H. 1988. - Charles A. Behr, Aelius Aristides and the Sacred Tales, Amsterdam 1968. — M. Tulli Ciceronis De Divinatione, hg. v. Arthur Stanley Pease, 2 Bde., Urbana, 111. 1920-1923 Nachdr. New York 1979. - Marcus Tullius Cicero, Über die Wahrsagung, hg. u. übers, v. Christoph Schäublin, München/Zürich 1991. - Darius Del Corno, Graecorum de re onirocritica scriptorum reliquiae, Mailand 1969. - Laura Hermes, Traum u. Traumdeutung in der Antike, Zürich/Düsseldorf 1996 [populär; Quellen in Übers.]. Zu 6.: Jonathan G. Katz, Dreams, Sufism and Sainthood. The Visionary Career of Muhammad al-Zawäwi, 1996 (SHR 71). - Leah Kinberg (Hg.), Ibn Abi al-Dunyä, Morality in the Guise of Dreams. A Critical Ed. of Kitäb al-Manäm, 1994 (IPTS 18). - Steven M. Oberhelman, The Oneirocriticon of Achmet. A Medieval Greek and Arabic Treatise on the Interpretation of Dreams, Lubbock, Tex. 1991. - Annemarie Schimmel, Die Träume des Kalifen. Träume u. ihre Deutung in der islamischen Kultur, München 1998. Literatur Zu 1.: Antti Aarne, The Types of the Folktale (1910), transl. and enlarged by Stith Thompson, '1961 (FFC 184). - The Dream and Human Societies, hg. v. Gustave Eduard v. Grunebaum/Roger Caillois, Berkeley, Calif. 1966. - The Dream Encyclopedia, hg. v. James R. Lewis, Detroit, Mich. 1995. - Hb. of Dreams. Research, Theories and Applications, hg. v. Benjamin B. Wolman, New York 1979. - Ernest Jones, On the Nightmare, London 1931 u.ö. - MIFL 2 6 (1958) 228. - Christoph Morgenthaler, Der rel. Traum, Stuttgart 1992. - Walter Friedrich Otto, Die Manen oder Von den Urformen des Totenglaubens, Berlin 1923 Darmstadt 41981. - Wilhelm Heinrich Roscher (s.u. zu 5.). - Klaus Thomas, Rel. Träume u. andere Bilderlebnisse, Stuttgart/Hamburg 1994. - Traum u. Träumen. Traum-Analysen in Wiss., Religion u. Kunst, hg. v. Therese Wagner-Simon/Gaetano Benedetti, Göttingen 1984. - Donald Tuzin, The Breath of the Ghost. Dreams and the Fear of the Dead: Ethos 3 (Winter 1975) 555-578. - Die Wahrheit der Träume, hg. v. Gaetano Benedetti/Erik Hornung, München 1997 (Er. NF 6). Zu 2.: Richard B. Applegate, Atishwin. The Dream Helper in South-Central California, Socorro, N.M. 1978. - Ruth Benedict, The Vision in Plain Culture: AmA 24 (1922) 1 - 2 3 . - Ronald M. Berndt, Art. Dreaming, The: EncRel 4 (1987) 479 -481. - Georges Devereux, Reality and Dream. The Psychotherapy of a Plains Indian, New York 1951; dt.: Realität u. Traum. Psychotherapie eines Prärie-Indianers, Frankfurt a.M. 1985. - Dreaming, Religion & Society in Africa, hg. v.

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II. Altes Testament 1. Begrifflichkeit 2. Traumerzählungen 3. Inkubationen und ähnliches fenbarungsmedium 5. Traumkritik (Literatur S. 36)

4. Träume als Of-

1. Begrifflichkeit Die semitischen Sprachen kennen im wesentlichen drei Wortfelder für den Traum: eines überschneidet sich mit demjenigen für „Schlaf" (akkadisch suttu „Traum", vgl. sittu „Schlaf"), das zweite mit demjenigen für „Schau, -»Vision" (arabisch ru'yä „Traum, Vision", hebräisch häzön, hizzäyon u.ä. „Vision, Schau", seltener: „Traum", akkadisch tabritu „Schau, Traum"), das dritte schließlich meint vielleicht von Hause aus den sexuellen Traum (hebräisch h'ldm „Traum" von hlm „stark sein, mannbar werden, Erektion", falls nicht eine eigene Wurzel htm „träumen" vorliegt, die dann auch im Aramäischen, Ugaritischen, Arabischen und Äthiopischen belegt wäre). Im Hebräischen ist h'ldm das gebräuchliche Wort für den Traum (60mal im Alten Testament, davon 20mal mit dem Verb in figura etymologica; das Verb 24mal im qal und 2mal im hiphil). Daneben tritt eine Reihe von angrenzenden Begriffen vor allem aus dem Wortfeld „Schau, Vision" (h'zöti layläh „Nachtgesicht").

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Traum II 2.

Traumerzählungen

Die narrativen Texte des Alten Testaments kennen sowohl schlichte Traumweisungen durch Gott bzw. seinen Engel (Gen 20,3.6; 26,24; 31,24.29.42; 4 6 , 2 - 4 [E]; Jdc 6,25; 7,9 u.ö.) als auch komplexe symbolische Träume (Gen 31,10 [E] u.ö.). Letztere benötigen einen Akt der Deutung, der nicht durch den Träumenden selbst geschieht (Gen 31,11-13 [E] [doch s.u.]). Volkstümlichem Erleben nahe steht Jdc 7,13f.: der Traum eines Midianiters als gutes Omen für Gideon vor der Schlacht. Einen vielschichtigen Einblick in altjüdischen Traumglauben vermittelt die -»• Josephnovelle mit ihren dreimal je zwei Träumen. Joseph ist schon in seiner Jugend Empfänger symbolischer Träume (Gen 37,511 [J])> die im familiären Gespräch dechiffriert werden. In Ägypten erweist er sich als begabter Traumdeuter sowohl für seine Mitgefangenen (Gen 4 0 , 5 - 2 3 [E]) als auch für den Pharao (Gen 41 [E]). Die Träume des Pharao und die Deutungen Josephs haben dabei ihr tertium comparationis in einem nur im Ägyptischen möglichen Wortspiel (vgl. Frenschkowski, Offenbarung I, 310). Die Schlüsselverse Gen 40,8.16.38 f. kontrastieren die erfolglose technische Mantik der ägyptischen Traumdeuter (hartummim [Gen 41,8.24] von ägyptisch hr-tb(i) < hr-tp „Vorlesepriester, Zauberer") mit der charismatischen Deutungskunst Josephs (vgl. Dan 1 f.4f. mit dem gleichen - auch im Akkadischen bezeugten - ägyptischen Fremdwort für die Hoftraumdeuter). Die Traumtexte der Josephnovelle wurden traditionell dem Elohisten zugeschrieben (außer Gen 37,3-10.19f. [J]), als dessen besonderes Kennzeichen die Vorliebe für den Traum galt (so schon J. -•Wellhausen [1876] 444). Neuere Infragestellungen der klassischen Quellenkritik haben entweder den einheitlichen Charakter der Erzählung betont oder rechnen mit Erweiterungen einer je ganz verschieden bestimmten Grundschrift (Schmitt). Nicht zuletzt relativiert Gen 3 7 - 5 0 die Kunst der berühmten ägyptischen Traumdeuter (vgl. später Dio Chrysostomus XI, 129; auch Artemidor verwendet ägyptisches Material): inhaltlich symmetrische Träume werden gegenläufig interpretiert (Deutung als Charisma!). Erst der hebräische Deuter kann den Königstraum (vgl. BerR 89,2) zum Wohl des Landes fruchtbar machen. Jakobs Traum von der Rampe (nicht: Leiter) zum Himmel (Gen 28,10-22) erzählt von der Auffindung der heiligen Stätte in Lus, dem späteren -»Bethel, und der Errichtung eines Kultes. Die ätiologische Sage (vgl. Gen 31,13; 35,1.6-16; ferner 3 2 , 1 - 3 ) ist später mit Motiven der Landverheißung angereichert worden und hat im Kontext des JakobZyklus auch initiatorische Züge (traditionell teils J [V. 13-16.19 o.a.], teils E [V. l l f . l 7 f . 2 0 - 2 2 o.ä.] zugeschrieben). Der Abschnitt hat weitreichende mythologische Bezüge und wird in Joh 1,51 zitiert (Jesus als „Stätte Gottes"). Alptraumhaftes eignet dem nächtlichen Ringkampf Jakobs mit einem zuerst unerkannten Numen Gen 32,23 - 3 3 [J], der ebenfalls ätiologische und initiatorische Affinitäten hat, ohne daß wie in Gen 28,10-22 eine Kultgründungssage vorliegt (beide Überlieferungen werden schon Hos 12,4f. verbunden; vgl. McKenzie). Das Motivrepertoire der Erzählung dürfte aus dem Glauben an eine nächtliche numinose Begegnung mit einem Flußdämon stammen, welche zum Vehikel einer Gotteserfahrung wird (vgl. entfernt Ex 4,24—26). Das Weichen der Gottheit vor dem Tageslicht ist nicht „primitiv" (Plautus, Am. 532f. von Jupiter!), sondern numinos (zum Ringkampf mit unbekanntem Gegner im Traum vgl. Artemidor [s.o. 1.5.] 1,60; Verlieren des Kampfes wäre Todesomen). Empfänger von Traumerscheinungen ist Jakob auch in Gen 31,11 — 13; 4 6 , 1 - 5 . 3. Inkubationen

und

ähnliches

Eine Inkubation (s.o. 1.5.) wird vielleicht in I Reg 3 , 5 - 1 5 par. II Chr 1 , 6 - 1 2 erzählt. Doch fehlt das Element der Wiederholbarkeit nach begleitendem Ritual (kritisch Husser u.a.). Affinität zu Inkubationen haben auch Gen 4 6 , 1 - 5 (JE) und vor allem 28,10-29, wo Jakob von der Heiligkeit des Ortes freilich zu Beginn nichts weiß (Oppenheim: „unintentional incubation"). In I Sam 3 ist nicht an eine von Eli „geplante" Gottesbegegnung Samuels gedacht; daher ist die nächtliche Audition keine kultische Inkubation, obwohl sie an heiligem Ort stattfindet. Einige Anspielungen

Traum II

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in Psalmen (3,6; 4,9; 63,3) und bei Jes 65,4 sind zu unspezifisch, um weitere Verbreitung einer Inkubationspraxis zu belegen. Im antiken Judentum sind Inkubationen auf Gräbern gut bezeugt (bSan 65b; bBer 18b; bNid 17a; vielleicht bHag 3b; Hieronymus, Is. 65,4; weiteres bei Frenschkowski, Traum Anm. 157), galten aber nach rabbinischem Verständnis als religiös illegitim. Alpträume sind wie in der ganzen alten Welt Omina göttlicher Heimsuchungen (Hi 7,13f.; Sir 40,5ff.; Weish 18,17-19). Auffällig oft sind Nicht-Israeliten Traumempfänger. Als Bestätigung des Traumes gilt seine Wiederholung, eventuell in differierender Bildlichkeit (Gen 37.41; Dan 2.3). Jes 29,8 zeigt, daß der Zusammenhang vieler Träume mit den Beschäftigungen und Sorgen des Tages gut bekannt war; Cant 3 könnte als erotischer Traum einer Frau verstanden werden. 4. Träume als

Offenbarungsmedium

Der Traum ist göttliches Offenbarungsmedium (Num 1 2 , 6 - 8 ; I Sam 28,6.15; Elihurede Hi 3 3 , 1 4 - 1 8 etc.), auf welches der Träumende erschrocken reagiert (Hi 4,12—16; 7,13f.), das aber auch außerhalb der Prophetie göttliche Mahnungen (Gen 20,3; Hi 3 3 , 1 4 - 1 8 ) und Weisungen (Gen 3 1 , 1 1 - 1 3 ; 4 6 , 1 - 4 u.ö.) vermittelt. Als solches steht er in Konkurrenz zu anderen Offenbarungsmedien. Einen Ausgleich versucht Num 12,6—8 (JE): Mose empfängt Offenbarung in direkter Schau Gottes, die anderen Propheten erkennen seinen Willen nur in Visionen und Träumen. Sauls katastrophalen Verlust jeder Kommunikation mit der göttlichen Welt beschreibt I Sam 28,6 als ein Schweigen Jahwes in Träumen, Urim und Prophetenwort (vgl. das hethitische Gebet A N E T 3 396 sowie M i 3 , 5 - 7 ) . Dagegen evoziert Joel 3 , l f . ein Eschaton, in dem „Offenbarung" ungehindert in Träumen und Visionen fließt und alle Generationen und Stände zu ihren Empfängern macht (vgl. Act 2 , 1 7 - 2 1 ) . Die Bileam-Inschrift von Deir 'Allä (ca. 750/650 v. Chr.) schildert Bileam offenbar als Empfänger visionärer Träume ( T U A T 11,138-147; vgl. Liber Antiquitatum Biblicarum 18,2.4), während Num 2 4 , 3 f . (J) eher an Auditionen bzw. Wortwiderfahrnisse in einer Trance denken läßt (doch vgl. Septuaginta zur Stelle und Num 2 2 , 8 f . 2 0 [E]). Die nächtliche Schau (h"zön layläh) vieler Propheten oszilliert eigentümlich zwischen halluzinierender Wachvision, luzidem Traum und echtem Traum, besonders bei Sacharja (1,8: Nachtgesicht; vgl. aber 4,1 - der Engel weckt den Propheten aus der Vision), bzw. zwischen Traum und nächtlicher Audition (I Sam 15,16; II Sam 7 , 4 par. I Chr 17,3; I Reg 9,2 par. II Chr 7,12; Husser 268: „vision sans image, ou ,parole vie*"). Ähnlich Gen 3 7 - 5 0 kennt das Danielbuch (—•Daniel/Danielbuch) den deutungsbedürftigen „Königstraum", dessen Erfüllung das gesamte Reich tangiert (vgl. z. B. Herodot 1,107f.209; 111,30.124; VII,19). In Dan 2 und 3 , 3 1 - 4 , 3 4 wird in zwei Träumen mit Deutung die Problematik der Weltreiche behandelt. Daniel ist dabei ein den heidnischen „Weisen" überlegener charismatischer Traumdeuter (vgl. 1,17) bzw. Träumer. Der fließende Ubergang zwischen beiden Rollen und die Solidargemeinschaft zwischen Daniel und den Vertretern heidnischer Mantik (2,24.48) verdienen Beachtung. Träume sind auch die eschatologischen Visionen Dan 7 (V. 2: „Gesicht der N a c h t " ) und, trotz Fehlens der Vokabel „ T r a u m " , Dan 8 (vgl. V. I f . l 5 f . ) ; unklar sind andere Belege der Wortgruppe „Schau, V i s i o n " (9,22.24; 10,1.14). In Dan 7 schreibt Daniel seine Träume auf. Der Prophet (der Deuter von Träumen und Visionen war; vgl. noch 5,12 und Sach 6,14 [Symmachus]) bedarf in 7,16; 8,15f.27 (vgl. 12,8) seinerseits der Deutung durch den angelus interpres (vgl. Sach 1 - 6 ) . Die Oneiromantik ist Ausdruck einer umfassenden gottgegebenen, nicht verfügbaren, aber doch verläßlichen Weisheit Daniels (Dan 5 , l l f . u.ö.). Der Erzählzyklus um den Traumdeuter Daniel hat eine Vorgeschichte, welche durch 4 Q O r N a b = 4 Q 2 4 2 etwas erhellt wird (zu den griechischen Fassungen vgl. Meadowcroft). Wie in der Josephnovelle erweist sich im Danielbuch die Unterlegenheit der heidnischen Zeichendeuter gegenüber dem geistbegabten Israeliten, womit das Werk Stellung zur Konkurrenz lebensbegleitender paganer M a n t i k gegenüber jüdischer Führungs- und Bewahrungstheologie in einer Diasporasituation bezieht. Der Akt der Auslegung wird üblicherweise durch Derivate der Wurzel ptr ausgedrückt: hebräisch pesser „Deutung" (Aramaismus; nur Koh 8,1; vgl. Sir 38,14), pätar „auslegen" (Gen 40f. 9mal),

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pittäron/pitron „Deutung" (5mal in Gen 40f.); aramäisch p'sar „Auslegung" (31mal nur im Danielbuch, dazu das Verb 2mal in Dan 5,12.16); ähnlich im Akkadischen: pasäru sutta „einen/den Traum deuten" (CAD 17/3 [1992] 405 - 4 0 7 ) ; päsir sunäti „Traumdeuter" (vgl. Oppenheim). In der rabbinischen Literatur findet sich sowohl das hebräische als auch das aramäische Verb für „(Träume) deuten", während pesxr in Qumran zum zentralen Identifikationswort der Schriftauslegung wird (als terminus technicus aus der Traumdeutung übernommen?). Nur Jdc 7,15 steht ssebxr „Auflösung" (vgl. KBL3 1306; Fishbane 456f.).

Traumdeutung ist im Alten Testament also erstens religiöser Gemeinbesitz (Gen 37) oder zweitens mantisches Berufswissen (vor allem im Kontext der Königshöfe) oder drittens charismatische Gottesgabe (Joseph, Daniel). Herrschender Grundgedanke der theologisch reflektierten Passagen ist die vollständige Einbindung des Traumes und seiner Deutung in den Machtbereich Jahwes. 5.

Traumkritik

Neben diesen traumaffirmierenden Passagen gibt es im Alten Testament ein traumkritisches Stratum. Dtn 13,1—6 warnt vor Propheten und „Traumsehern" (kaum mit Husser Glosse), die das Volk zum Götzendienst veranlassen. Jeremia differenziert zwischen dem debar YHWH des echten Propheten und dem h"lôm der betrügerischen Falschpropheten (Jer 23,25 - 3 2 ; vgl. 27,9f. und 29,8f.). Diese Zurücksetzung des Traums (welche nebenbei die Existenz einer ausgedehnten Oneiromantik im Umfeld des Jerusalemer —•Tempels beweist) wird vielleicht in Sach 10,2 (spät) fortgesetzt, kann aber nur als Nebengleis israelitischer Frömmigkeit im Ringen um Kriterien wahrer und falscher Prophétie gelten. Mi 3 , 5 - 7 redet nicht generell traumkritisch, sondern sagt einer „klientenbezogenen", kommerziellen Wahrsagung den Zusammenbruch ihrer spirituellen „Kraft" voraus. Prophetische Traumkritik und Hierarchie der Offenbarungsmodi (Num 12; s.o. 4.) sind aus einem Bedürfnis nach Absicherung der Offenbarungsauthentie vor der Konsolidierung der Tora als Norm jüdischen Lebens entstanden. Auch die Weisheit kennt eine (sozusagen proto-aufklärerische) Relativierung des Traumglaubens. Koh 5,2.6 leugnet jeden Offenbarungsgehalt von Träumen. Später unterscheidet Sir 34[31],1—8 (vgl. 40,5c-7) zwischen Träumen, die, aus der -» Seele geboren, dieser einen Spiegel vorhalten (ein faszinierend moderner Gedanke; vgl. Philo, Som 11,206), und solchen, die von Gott gesandt sind; nur den letzteren sei Beachtung zu schenken. Wie in vielen Traditionen kann der Traum schließlich metaphorisch für das Flüchtige, Unwirkliche stehen (Hi 20,8; Ps 73,20; Jes 29,7f.), freilich auch für das Überwältigende, in dem Gott die Wirklichkeitserfahrung des Menschen heilvoll entgrenzt (Ps 126,1: „Als Jahwe das Geschick Zions wandte, da waren wir wie die Träumenden"). Literatur Jan Bergman/G. Johannes Botterweck/Magnus Ottosson, Art. hälam: ThWAT 2 (1977) 9 8 6 998. — David McLain Carr, From D to Q. A Study of Early Jewish Interprétations of Solomon's Dream at Gibeon, 1991 (SBL.MS 44). — Frederick H. Cryer, Divination in Ancient Israel and Its Near Eastern Environment. A Socio-Hist. Investigation, 1994 (JSOT.S 142). - Ernst Ludwig Ehrlich, Der Traum im AT, 1953 (BZAW 73). - Michael Fishbane, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford 1985,447-457. - Marco Frenschkowski, Offenbarung u. Epiphanie, 11995 (WUNTII/79), bes. 3 0 5 - 3 1 0 . 3 2 6 - 3 3 2 . - Ders., Traum (s.u. zu IV.). - Robert Karl Gnuse, The Dream Theophany of Samuel, New York/London 1984. - Cornelis Houtman, What did Jacob see in His Dream at Bethel?: VT 27 (1977) 3 3 7 - 3 5 1 . - Jean-Marie Husser, Le songe et la parole, 1994 (BZAW 210). -Murray Lichtenstein, Dream Theophany and the E Document: JANES 1/2 (1969) 45 - 5 4 . - Steven L. McKenzie, The Jacob Tradition in Hosea X I I , 4 - 5 : VT 36 (1986) 311-322. - Timothy John Meadowcroft, Aramaic Daniel and Greek Daniel. A Literary Comparison, 1995 (JSOT.S 198). A. Leo Oppenheim (s.o. I. Quellen zu 4.). - Rolf Rendtorff, Jakob in Bethel. Beobachtungen zum Aufbau u. zur Quellenfrage in Gen 28,10-22*: ZAW 94 (1982) 5 1 1 - 5 2 3 . - Andreas Resch, Der Traum im Heilsplan Gottes. Deutung u. Bedeutung des Traums im AT, Freiburg u.a. 1964. Wolfgang Richter, Traum u. Traumdeutung im AT. Ihre Form u. Verwendung: BZ NF 7 (1963) 2 0 2 - 2 2 0 . - Hans-Christoph Schmitt, Die nichtpriesterliche Josephsgesch., 1980 (BZAW 154). Klaus Seybold, Der Traum in der Bibel: Therese Wagner-Simon/Gaetano Benedetti (Hg.), Traum

Traum III

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III. Judentum 1. Antikes Judentum

1. Antikes

2. Nachantikes Judentum

(Quellen/Literatur S. 39)

Judentum

Das antike Judentum beschäftigt sich intensiv mit den Traumerzählungen der hebräischen Bibel, produziert selbst zahlreiche literarische Traumberichte und reflektiert vielfach über Träume. Auffällig ist das hohe Maß an Übereinstimmung mit griechischhellenistischen Auffassungen sowohl im Bereich der religionsphilosophischen Theoriebildung als auch in dem der Folklore: der Traumglaube gehört zum religiösen Konsens der alten Welt. -»Philo von Alexandrien hat fünf Bücher De somniis geschrieben (erhalten nur IV/V, die als I/II gezählt werden), in denen sich auf hohem theoretischem Niveau stoische Differenzierungskunst an den Träumen des Pentateuch bewährt. Der Religionsphilosoph unterscheidet (1,1 f.; 11,1) drei Typen religiös relevanter Träume (die „profanen" werden nicht behandelt): 1) klare, nicht auslegungsbedürftige Träume, in denen Gott direkt spricht (im verlorenen Buch vor 1. wohl an Gen 2 0 , 3 - 7 ; 31,24 illustriert); 2) der menschliche Geist (voü?) und der göttliche Logos wirken zusammen, und die ->• Seele kann in plötzlicher Ekstase Zukünftiges erblicken (Gen 2 8 , 1 2 - 1 5 ; 3 1 , 1 0 - 1 3 ) ; 3) die Eigenbewegung der Seele selbst erzeugt ohne direktes Eingreifen Gottes einen Enthusiasmos, in dem sich ihr Zukünftiges erschließt (Josephsgeschichte), letzteres eine verbreitete platonische Idee. Die aus der Seele geborenen Träume sind im Gegensatz zu Typ 1 „Rätsel" und bedürfen der technischen Deutung. Dieses Gliederungsschema stammt aus Poseidonios (vgl. Cicero, div. 1,64) und findet sich auch später öfters (Frenschkowski 331). Insgesamt entwickelt Philo seine Traumlehre im gedanklichen Kontext einer Theorie des Zusammenspiels zwischen Seelenkräften und göttlichem Wirken in der Welt, d.h. in einer theologischen Psychologie.

Die erzählende Literatur reichert biblische Vorlagen vielfach mit Träumen an. So z.B. die griechischen Zusätze zu Esther A I —11; F l - 1 0 : Mordechais symbolischer Traum vom Kampf zweier Drachen mit separater Deutung (durch ihn selbst) nach dem Eintreffen der Ereignisse (auch der griechische Roman vom Typ Heliodors kennt den Gedanken, erst die Erfüllung mache den Traum verständlich). Joseph und Daniel bleiben für die Haggada die exemplarischen Traumdeuter. Auch der Historiker —»Josephus sah sich in den Fußstapfen seines alttestamentlichen Namensvetters selbst als Empfänger und Deuter mantischer (nicht: prophetischer!) Träume (Bell 111,351; Vita 208-210). Seine Geschichtswerke erzählen die alttestamentlichen Träume breit nach, streuen grundsätzliche Äußerungen über die Wichtigkeit der Träume ein (Ant 11,86.222; Bell VII,349) und füllen auch die nachbiblische Geschichte etwa des herodianischen Herrscherhauses mit zahllosen Traumberichten (Gnuse). Ant XVIII,166 weiß von einem Hohenpriester, der nicht amtieren konnte, weil er im Traum Geschlechtsverkehr hatte (also rituell unrein war). Namentlich die Essener waren Traumdeuter (Bell II,112f. = Ant XVII,345-348; vgl. Bell 11,159; Ant XV,372-379) und überhaupt inspirierte Wahrsager (vgl. Philo, VitCont 26 von den Therapeuten). Häufig sind in der erzählenden Literatur Erscheinungen der Großen der Vorzeit im Traum (Jeremia: II Makk 15,11 — 16), vor allem verstorbener Rabbinen, die ihren Schülern mit Rat oder Ermahnung zur Seite stehen (viele Belege: Bill. 1,57-59.148.225; 11,228231). Mehrfach werden professionelle jüdische Traumdeuter genannt (bBer 55b; EkhaR 1,1; Kristianpoller 38-43), die auch der paganen Welt ein vertrautes Bild waren (Juvenal VI,546; Porphyrius, vit. Pyth. 11; vgl. Josephus, Ap 1,211); Joseph galt gar als Gründer der Traumdeutung (Justin-Pompeius Trogus 36,2). Alpträume — oft Omina göttlicher

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Traum III

Strafen (Weish 18,17-19) - vermeidet man am besten durch Gerechtigkeit am Tage (Arist 213-216). Die rabbinische Literatur kennt zahlreiche Traumdeutungen, die sich in bBer 55a—56b zu einem förmlichen „Traumbuch" verdichten (vgl. die älteren, kleineren Sammlungen yMSh 4,9,55b-c; yKil 9,3f. 32b; yKet 12,1 35a; EkhaR 1,1). Ein Grundgedanke ist die Abhängigkeit der Erfüllung von der Deutung: „Alle Träume richten sich nach dem Mund", d.h. sie hängen in ihrer Erfüllung vom Wortlaut der Auslegung ab (bBer 55b; EkhaR 1,1 u.ö.). „Ein ungedeuteter Traum ist wie ein ungelesener Brief" (bBer 55b; ein auch später — z. B. -»Zohar 1,199b — vielzitiertes Diktum). Die Auslegungsmethoden - im Prinzip die gleichen, wie sie aus der hellenistischen Literatur zur Sache bekannt sind—bedienen sich der Wortassoziation, der Buchstaben- und Zahlensymbolik (-• Buchstabensymbolik; -+ Zahl/Zahlenspekulation/Zahlensymbolik) (Gematrie, Notariqon), der Paronomasie usw. Die Regeln der Traumdeutung und die der rabbinischen Schrifthermeneutik weisen große Ähnlichkeiten auf (Lieberman; Fishbane): diese hat von jener gelernt. Auffallend ist die hohe Übereinstimmung in Methodik und Details mit Artemidor (s.o. 1.5.) und anderen Quellen antiker Traumdeutung. Jüdisches Proprium ist der reiche Gebrauch von Schriftzitaten (vgl. immerhin die pagane Homerverwendung). Vielfach ist bezeugt, daß man Arten von Träumen „suchte", also das Omen hervorrufen wollte (schon Jub 44,3). Auch über unterschiedliche Verläßlichkeit von Träumen machte man sich Gedanken: „Rabbi Jochanan sagte auch: Drei Arten von Träumen gehen [sc. sicher] in Erfüllung: ein Traum am frühen Morgen [wenn sich die Tageseindrücke verflüchtigt haben], ein Traum, den ein Freund über einen hat, und ein Traum, der in einem Traum gedeutet wird. Einige fügen hinzu: ein Traum, der wiederholt wird" (bBer 55b; es folgt der Schriftbeweis aus Gen 41,32). Ein wichtiger Gegenstand philosophischen Nachdenkens war die präzise Offenbarungsdignität des Traums und sein Verhältnis zur Prophetie. Die Formulierung „Der Traum ist ein Sechzigstel der Prophetie" (bBer 17b; 57b) hat noch spielerischen Charakter (ebd.: „Der Schlaf ist ein Sechzigstel des Todes"); bei den mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen wird die Relation Traum - Prophetie dann ein viel verhandeltes Thema. 2. Nachantikes

Judentum

Im nachantiken Judentum entfaltet -»Mose ben Maimon in seinem Moreh hannebükim („Führer der Unschlüssigen", ursprünglich arabisch) eine ausführliche Theorie des Traumes als einer Tätigkeit der Imagination ohne Beteiligung von Intellekt und Sinneswahrnehmung. Im Kontext seiner Lehre vom Wesen der Prophetie (die sich für ihn ganz aus den natürlichen, sittlich geläuterten Seelenkräften entwickelt: ebd. 11,32.36) nehmen die in der hebräischen Bibel bezeugten Träume die Stufen drei bis sieben einer gestaffelten Typologie von elf Stufen der Prophetie ein (ebd. 11,45): Traumbild, Traumaudition, Dialog im Traum, Dialog mit einem Engel, Dialog mit Gott. Überlegen ist vor allem die Wachvision (vgl. zum ganzen Maimonides, Mischne Tora, Jesode Hattora 7,1 f.). Die Konzeption des Maimonides wirkt auch im Christentum nach und wird schon von -»Albert dem Großen zur Sache ausgeschrieben (De somno et vigilia 3; vgl. De divinatione 10). Im Kontrast zu diesen rationalen philosophischen Erwägungen kennt die mittelalterlich" jüdische Mystik (—»Kabbala) den Traum als Ort gefährlicher Nähe zwischen menschlicher, himmlischer und dämonischer Welt. Die Seele ist im Schlaf vom Körper getrennt und kann zum Himmel emporsteigen (Zohar I,83a); sie begegnet dort freilich auch ihrem Richter (Zohar III,121b). Nur ein erinnerter Traum geht in Erfüllung (Zohar 1,199b). In der iberischen kabbalistischen Mystik des 15./16. Jh. spielt der Offenbarungsdialog mit einem Engel im magisch induzierten Traum eine große Rolle (Idel). Als volksmedizinisches Mittel gegen böse Träume gilt nach -»Abraham ben Meir Ibn Ezra z.B. der Amethyst (hebräisch 'ahlamäh von hlm „träumen"). Rabbi Eleazar ben Judah von Worms (ca. 1165-ca. 1230), der letzte große Gelehrte der Chaside Aschkenaz-Bewegung,

T r a u m III

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schreibt ein Sefer Hokhmat ha-nefes („Buch der Weisheit der S e e l e " ) , das - obwohl separat überliefert und gedruckt (Lemberg 1876) - Teil 4 seines Hauptwerkes Sodë razzayä („Geheimnisse der Geheimnisse") ist und eine ausführliche Traumlehre auf der Basis einer Philosophie der Beziehungen zwischen Seele und G o t t entwirft. Selbstverständlich hat es auch jüdische Traumbücher gegeben, die auf praktische Bedürfnisse zugeschnitten waren und die einzelne Traummotive deuteten. Im Ostjudentum fand Beachtung vor allem das Werk Mefasher helmin (Saloniki 1515; später meist unter dem hebräischen Titel Pitrôn halomôt) des in Konstantinopel ansässigen Arztes und Gelehrten S a l o m o Almoli (vor 1485 - nach 1542), welches in Amsterdam 1694 auch in jiddischer Übersetzung erschien und oft nachgedruckt wurde. Er unterscheidet intuitive und technische Deutung und bietet eine Art harmonisierende Anthologie der gesamten jüdischen Tradition vom babylonischen - » T a l m u d über Hai G a o n und Gersonides bis zu kabbalistischen Texten zum T h e m a . Die jüdischen Frömmigkeitsbewegungen des 17./18. J h . entfalten einen reichen Traumglauben, bewegen sich dabei aber in den Bahnen des Vorgegebenen. Die jüdische Aufklärung (Haskala) blickt ähnlich der christlichen distanziert bis verächtlich auf ekstatische Erfahrungsformen, Mystik und Träume; die großen jüdischen Offenbarungstheologien des 18. und 19. J h . behandeln das T h e m a meist nicht einmal peripher. Hinsichtlich des T r a u m s fangen weder jüdische n o c h christliche T h e o l o g i e die Vielfalt der lebendigen Religion ein, die damit einmal mehr ihre sachliche Vorordnung vor jener erweist. Schwierig ist die Frage zu beantworten, welchen Einfluß jüdische Traumfolklore auf S. -»Freud (s.o. 1.7.) genommen haben könnte. Dieser hat sein Judentum zwar nicht im religiösen Sinn praktiziert, war aber z.B. seit 1897 engagiertes Mitglied der Wiener B'nai B'rith-Loge. Bezüge liegen nicht auf der Hand, obwohl Freud jüdische Traumbücher u.ä. erwähnt und wohl auch tatsächlich gelesen hat. Quellen Bill. 1,53-63. - Dream Interpretation from Classical Jewish Sources by Shelomo Almoli, transi, and annotated by Yaakov Elman, Hoboken, N.J. 1998. - Alexander Kristianpoller, Aberglauben. Traum u. Traumdeutung, 1923 (MTal 4,2,1) Nachdr. Darmstadt 1972. - The Wisdom of the Zohar. An Anthology of Texts, hg. v. Fischel Lachower/Isaiah Tishby, Oxford, II 1989, 809-830. Literatur Zu 1.: Philip S. Alexander, Bavli Berakhot 5 5 a - 5 7 b . The Talmudic Dreambook in Context: J J S 46 (1995) 2 3 0 - 248. - Boudewijn Dehandschutter, Le rêve dans l'Apocryphe de la Genèse: Willem Cornelis van Unnik (Hg.), La littérature juive entre Tenach et Mischna, Leiden 1974 (RechBib 9) 4 8 - 5 5 . - Michael Fishbane (s.o. zu II.). - Marco Frenschkowski, Offenbarung (s.o. zu II.), I, 305-310.326-332. - Robert Karl Gnuse, Dreams and Dream Reports in the Writings of Flavius Josephus, 1996 (AGJU 36). - Richard Lee Kalmin, Dreams and Dream Interpreters: ders., Sages, Stories, Authors, and Ed. in Rabbinic Babylonia, Atlanta, Ga. 1994, 6 1 - 8 0 . - Armin Lange, Divinatorische Träume u. Apokalyptik im Jubiläenbuch: Matthias Albani/Jörg Frey/Armin Lange (Hg.), Studies in the Book of Jubilees, 1997 (TSAJ 65) 25 - 3 8 . - Saul Lieberman, Hellenism in Jewish Palestine, 1962 (TSJTSA 18) 7 0 - 7 8 . - Maren Niehoff, The Figure of Joseph in PostBiblical Jewish Literature, 1992 (AGJU 16). - Dies., A Dream which is not Interpreted is like a Letter which is not Read: JJS 43 (1992) 5 8 - 8 4 . - Brigitte Stemberger, Der Traum in der rabbinischen Lit.: Kairos 18/4 (1976) 1 - 4 2 . - Harry Austryn Wolfson, Philo, II 1947 5 1982, 55-59.81 f. (SGPS 2). Zu 2.: Nathan Amram, Sepher pithron chalomôth, Jerusalem 1901. - Lawrence Corey, Kabbalah and the Interpretation of Dreams: J. Marvin Spiegelman/Abraham Jacobson (Hg.), A Modern Jew in Search of a Soul, Phoenix, Ariz. 1986, 4 7 - 8 4 . - Theodor H. Gaster/Abraham Arzi u.a. (unsigniert), Art. Dreams: EJ 6 (1971) 208-211. - Moshe Idel, Nächtliche Kabbalisten: Er. NF 6 (1997) 8 5 - 1 1 7 . - Chaim Lauer, Das Wesen des Traumes in der Beurteilung der talmudischen u. rabbinischen Lit.: Int. Zs. f. ärztliche Psychoanalyse 1 (1913) H. 5. - Adolf Löwinger, Der Traum in der jüd. Lit., 1908 (MJVK 1 0 / 1 - 2 ) . - Alvin J. Reines, Maimonides and Abrabanel on Prophecy, Cincinnati, Oh. 1970. - Harry Austryn Wolfson, Hallevi and Maimonides on Prophecy: J Q R 32 (1941/42) 345 - 3 7 0 ; 33 (1942/43) 4 9 - 8 2 .

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Traum IV IV. Neues Testament 1. Allgemeines

1.

2. Die neutestamentlichen Schriften

(Literatur S. 41)

Allgemeines

Die frühe Christenheit hat grundsätzlich den gemeinantiken Glauben an die religiöse und mantische Bedeutung der Träume geteilt (vgl. Tertullian, an. 47,2), ohne daß der Traum zu einem zentralen Offenbarungsmedium geworden wäre. Auffällig ist das Fehlen von Träumen in den Charismenlisten des -»Paulus (vgl. Frenschkowski, Offenbarung I, 383). Falsch ist allerdings die Behauptung, daß Paulus keine Träume erwähne: sowohl II Kor 12,7 (vgl. Artemidor 11,48) als auch 12,9 (Engelrede) werden als Träume zu verstehen sein (nicht dagegen 1 2 , 2 - 6 ; kaum auch Gal 2,2). Zwar wird im ganzen frühen Christentum die technische Traummantik abgelehnt (s.u. V.), doch keineswegs der Traum selbst als Medium religiöser Erfahrung (Bovon gegen Oepke). Eine wichtige Beobachtung ist, daß die Ostererfahrungen niemals als Träume gedeutet werden. Der Traum ist aber das nahezu ausschließliche Mittel, in dem der antike Mensch (Heide wie Jude!) die Gegenwart der Verstorbenen erfährt, die ihm tröstend und mahnend zur Seite stehen. Die Ostererscheinungen können also nicht als regredierende Trauerarbeit gedeutet werden (so z. B. Lüdemann), sondern stellen eine eschatologische Erfahrung sui generis dar. 2. Die neutestamentlichen

Schriften

Starkes Interesse an Träumen hat unter den Evangelisten namentlich Matthäus. In den Christuslegenden (die Gattungsbestimmung „Midrasch" u.ä. trifft nicht zu) seiner Geburts- und Kindheitsgeschichten sind Traumempfänger Joseph (Mt 1,20; 2,13.19.22) und die Magier (Mt 2,12). Alle Träume sind Angelophanien (auch in 2,12, wie schon Protev 21,4 deutet), die der Bewahrung des neugeborenen Messias dienen. Formgeschichtlichen Rastern der Genesis (s. o. II.2.) folgend, stellen sie die lenkende Überlegenheit Gottes heraus. Mt 2 , 1 - 1 2 überhöht vielleicht in zeitgeschichtlicher Anspielung den triumphalen Huldigungszug des armenischen „Magiers" und Königs Tiridates VI. im Jahr 66 n. Chr. zu Nero (das wäre dann terminus post quem für die Entstehung der Legende). Doch hat der Textkomplex auch alttestamentliche Bezüge, sowohl solche peripherer Art (Bileam: Num 24,17; Josephsgeschichte) als auch zentral solche einer Mosetypologie. Gerade die nachalttestamentliche Moselegende erzählt gerne Träume über den biblischen Text hinaus (z. B. TPsJ zu Ex 2,15 vom Pharao; Josephus, Ant 11,212 von Amram). Damit entfaltet Mt l f . eine vielfältige Uberhöhungschristologie: Jesus ist mehr als Nero, Herodes (der von seinen Anhängern als neuer David gefeiert wurde), mehr als David, Mose etc.

Schließlich verwendet Matthäus auch im Kontext der Passion einen Traum (Mt 27,19), auf Grund dessen die Frau des Pilatus (ihr Name Procula ist spätere Erfindung) ihren Mann vor einer Verurteilung „dieses Gerechten" warnt. Das pagane Motiv der ominös angekündigten Unausweichlichkeit des unheilvollen Geschehens (vgl. den Traum der Calpurnia vor Cäsars Ermordung u.ä.) wird dabei insofern umgelagert, als Gottes heilsgeschichtlicher Plan und nicht das Fatum die Passion bestimmt. Matthäus verwendet durchgehend die im griechischen Alten Testament nicht belegte Wendung Kar' övap („im Traum"), welche sonst vor allem aus Weihinschriften bekannt ist, jedoch ihren kausalen Ton („aufgrund eines Traumes") verloren hat. Vermutlich hat das Judenchristentum auf hohem Niveau über Träume zu reflektieren gewußt (vgl. Pseudo-Clemens, hom. 17,13-17). Unklar ist, ob in Mt 27,53 Traumerscheinungen von Verstorbenen im Hintergrund stehen. Bei keinem frühchristlichen Autor spielen Träume und -»Visionen eine theologisch ähnlich zentrale Rolle wie bei Lukas. Sein Zyklus der Kindheitsgeschichten kennt allerdings nur Wachvision und Inspiration als Offenbarungsmodi. Ohne den Begriff „Traum" zu nennen, steht in Lk 16,28 (Sondergut) die volkstümliche Idee von warnend

Traum V

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im Traum erscheinenden Toten im Hintergrund (vgl. Frenschkowski, Offenbarung I, 360f.). Auch in Lk 12,20 (Sondergut) ist das Reden Gottes als im Traum geschehend zu denken. Zu einem wesentlichen Element pneumatischer Führung wird der gottgesandte Traum (neben der Vision) dann in der Apostelgeschichte: In Act 9,10-16 empfängt Ananias den Auftrag zur Taufe des Paulus wohl im Traum. In Act 16,9 f. erscheint dem Paulus ein Makedonier (sc. der Völkerengel der Makedonier). Häufig sind Christusund Engelerscheinungen in Traum (Act 18,9f.; 23,11; 27,23f.) und Visionen des Apostels (Act 22,17-22; vgl. die Damaskusvision 9.22.26), die der Ermutigung, Verheißung und Beauftragung dienen und (abgesehen von der Damaskusvision und vielleicht Act 16,9f.) vollständig als lukanische Redaktion zu verstehen sein werden (Weiser u.a.). In Act 12,9 weiß Petrus zuerst nicht, ob seine Befreiung Traum oder Wirklichkeit ist. Das Markusevangelium, das Corpus Johanneum und die meisten Briefe des Neuen Testaments erwähnen keine Träume, ebensowenig die Apokalypse (in interessantem Gegensatz zu vielen jüdischen Apokalypsen). Jud 8 greift Gegner als „Träumer" an, welche das Pneuma nicht besäßen, wohl weniger, weil diese „Irrlehrer" eine spezielle Traumkultur pflegten, sondern eher als allgemeine Abwertung: „Traumtänzer, Verrückte" (wie Cicero, nat. deor. 1,42). Alle Träume des Neuen Testaments sind literarisch gestaltet; nach einer „Erlebnisechtheit" kann kaum sinnvoll gefragt werden. Der symbolische Traum tritt zugunsten der Vision/Audition eines Engels, Christi etc. in den Hintergrund (Disambiguierung des Offenbarungsgeschehens). Als religionsgeschichtlich verfehlt muß es gelten, Traum und Vision unterschiedslos zusammenzufassen (Hanson; Güttgemanns), wie schon die ausgedehnte antike (in Judentum, Kirche und Islam fortgesetzte) Diskussion über ihre relative religiöse Wertigkeit und ihre unterschiedliche Psychodynamik beweisen. Der Traum ist ein Modus religiöser Erfahrung von eigener Dignität, der im Rahmen einer historischen Religionspsychologie des Christentums neu reflektiert werden muß; zugleich ist er ein zentrales Motiv christlicher Legendenbildung. Literatur

François Bovon, Ces chrétiens qui rêvent. L'autorité du rêve dans les premiers siècles du christianisme: Hermann Lichtenberger/Hubert Cancik/Peter Schäfer (Hg.), Gesch. - Tradition - Reflexion. FS Martin Hengel, Tübingen, III 1996, 631-653. - Raymond E. Brown, The Birth of the Messiah. New updated ed., New York u.a. 1993. - Marco Frenschkowski, Offenbarung I (s.o. zu IL). -Ders., Traum u. Traumdeutung im Matthäusevangelium: JAC 41 (1998) 5 - 47 (Lit.).-Robert Gnuse, Dream Genre in the Matthean Infancy Narratives: NT 32 (1990) 97-120. - Erhardt Güttgemanns, Die Semiotik des Traums in apokalyptischer Lit. am Beispiel von Apk. Johannis 1: LingBibl 59 (1987) 7-54. - John S. Hanson, Dreams and Visions in the Greco-Roman World and Early Christianity: ANRW II.23.1 (1980) 1395-1424. - Johannes Lindblom, Gesichte u. Offenbarungen, 1968 (SHVL 65). - Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, Göttingen 1994 Stuttgart 2 1994. - Gerard Mussies, Joseph's Dream (Matt 1,18-23) and Comparable Stories: Tjitze Baarda (Hg.), Text and Testimony. FS Albertus Frederik Johannes Klijn, Kampen 1988,177-188.-Albrecht Oepke, Art. övap: ThWNT 5 (1954) 220- 238. - Sogni, visioni e profezie nell'antico cristianesimo: Aug. 29 (1989). - Alfons Weiser, Die Apostelgesch., II 1985 (ÖTBK 5/2) 406 -415. - Alfred Wikenhauser, Die Traumgesichte des NT in religionsgesch. Sicht: Pisciculi. FS Franz Joseph Dölger, 1939 (JAC.E 1) 320-333. - Ders., Doppelträume: Bib. 29 (1948) 100-111.

V. Kirchengeschichtlich 1. Alte Kirche S.45)

2. Mittelalter

3. Frühe Neuzeit

4. Das 19. und 20. Jahrhundert

(Literatur

1. Alte Kirche —»-Origenes kann um 245-248 schreiben, „viele" würden durch Träume und Visionen zum Christentum geführt (Cels. 1,46; vgl. -»Gregor von Nyssa, or. 18,12, über seinen Vater). In ihrem Traumglauben befindet sich die Alte Kirche weitgehend im Konsens

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Traum V

mit ihrer Umwelt (doch unter Verlust der altgriechischen Affinität Traum — Tod). Theologische Bedeutung haben Träume besonders in Berufungs- bzw. Bekehrungserfahrungen und in den Märtyrerakten. Durch das zum Klischee erstarrte Motivinventar hindurch ist hier oft authentisches Traummaterial der frühen Kirche erhalten. So enthalten die Acta Perpetuae et Felicitatis (wohl 203) ein (authentisches) Traumtagebuch, das starkes Interesse sowohl im Kontext der historischen -»Religionspsychologie als auch der gender studies auf sich gezogen hat (von Franz; Miller, Dreams; Salisbury; vgl. Habermehl). Später wird der Traum zu einem wichtigen Motivfeld der -»Hagiographie. Manches Schwanken zwischen Traum, Tranceerfahrung und luzidem Traum bleibt (vgl. Miller, Dreams 133, zu Hermas). In einer interessanten Passage deutet -»Tertullian (an. 4 0 - 4 9 [um 206/207]) Träume aus der Eigentätigkeit der -»Seele - welche er im Widerspruch zum -»Piatonismus (aber in Nähe zur -»Stoa) als materielle Größe sieht - und sichtet kritisch gängige Traumtheorien (nach einer verlorenen Vorlage des Hermippus von Berytus [1./2. Jh. n. Chr.]). Seine Dreigliederung der Träume nach ihrem Ursprung in dämonische, menschliche und göttliche (von denen er noch die eigentliche -»Ekstase unterscheidet) ist auch sonst häufig (-»Hieronymus; -»Ambrosius; —»Prudentius; —>Cassianus). Der populäre christliche Traumglauben des 2./3.Jh. läßt sich etwa aus den Schriften -»Cyprians ablesen. In der -»Gnosis spielen Träume eine eher geringere Rolle als in der Großkirche. Ambrosius rezipiert die platonische Auffassung, daß sich im Traum die Fesseln zwischen -»Leib und Seele lockern und die Seele in die Welt der Ideen aufsteigen kann. Dagegen wendet sich die (ansonsten an -»Porphyrius orientierte) Traumtheorie -»Augustins: Die Träume entstehen aus der von der Sinneswelt im Schlaf getrennten Imagination (ohne Trennung von Leib und Seele); unterschieden werden banale phantasiae und (etwa durch Engel) inspirierte ostensiones, die teils klar, teils symbolisch sind (Augustin, gen. litt. XII; conf. X,30,41 f.; trin. XI,4,7; Erfahrungen im Grenzbereich Traum — Ekstase: civ. XVIII,18; zum Ganzen: Dulaey). Zentrale spirituelle Erfahrungen im Traum (Abwendung von der Rhetorik, Hinwendung zur Bibel) berichtet Hieronymus (ep. 22,30; vgl. ebd. 7 über obsessive Träume in der Wüste [geschrieben um 384]; Authentizität der Träume umstritten, von Miller, Dreams, mit Recht verteidigt). Für -»Evagrius Ponticus und andere asketische Autoren dient der Traum als Spiegel der Seele der geistlichen Selbstdiagnose des Mönchs (Refoule). Umstritten war die Schuldfähigkeit des Träumenden (verneint von Tertullian, Hieronymus und Augustin). Ganz in neuplatonischer Tradition steht das hochreflektierte Traumbuch des -»Synesius von Cyrene (403/404). Weitere Stimmen zu einer theologischen Traumtheorie sind -»Clemens von Alexandrien, paed. 11,9,77—82; Ps.-Clemens, hom. XVII,13—18; Gregor von Nyssa, hom. opif. 13 und an der Grenze zum Mittelalter -»Gregor der Große, dial. IV,50 (die Heiligen können die Träume nach ihrem Ursprung unterscheiden). Traumdeutern wird die Beibehaltung ihres Berufes nach der Taufe untersagt (KOHipp 16; vgl. Clemens, prot. II,ll,2f.). Doch findet pagane Inkubation eine Fortsetzung an Heiligengräbern und in byzantinischen Kirchen (besonders des Kosmas und Damian bzw. der Thekla; vgl. Trombley; Wacht), während die listenartigen Traumbücher zahlreiche populäre byzantinische Nachfolger haben (vgl. Die Volks-Traumbücher des byzantinischen Mittelalters). 2. Mittelalter In erster Linie wirken die biblischen Texte: Casdmons Traum folgt dem Muster alttestamentlicher Prophetenberufungen (-»Beda, hist. IV,24). Daneben werden der Kommentar des -»Macrobius zu Ciceros Somnium Scipionis und das 1175/76 von Leo Tuscus ins Lateinische übersetzte Traumbuch des Achmed ibn Sirin (s.o. 1.6.) intensiv rezipiert (lateinische Übersetzung des Artemidor erst 1538). Religiöser Traum und -»Vision sind zentrale Erfahrungskategorien des Mittelalters, die für das geistige Profil der Epoche nicht weniger zu beachten sind als die diskursive Theologie. Das Weiterleben paganer Elemente ist eher Ausnahme: Aislinge Öenguso, „Traum des Öengus" (Irland, 8. Jh.),

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rezipiert altkeltische Jenseitsmythologie. Philosophie und Theologie diskutieren vor allem den Ursprung der Träume. Sind sie Emanationen göttlicher Intelligenzen (-»Averroes/Averroismus)? Verdanken sie sich eher astralen bzw. körperlichen Einflüssen (Aristotelismus: -»Albert der Große, De somno et vigilia 3; -»Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale XXVI [ausführlichster traumtheoretischer Text des Mittelalters])? Die Scholastik versucht, philosophische, medizinische und theologische Gesichtspunkte zu vereinen (Thomas, S.th. II-II 174,3; 95,6). Daneben wird die volkstümliche Traummantik kodifiziert (Somttialia Danielis [ed. Martin], Somnialia Ioseph; laienastrologische Traumlunare). Aber auch Kritik am Traumglauben ist verbreitet (-»Johannes von Salisbury, Policraticus II,16f.: CChr.CM 118,99-106; Thomas von Froidmont, Liber de modo bene vivendi: PL 184,1301; beide 12. Jh.); das Decretum Gratiani 11,26,7,16 verbietet den Gebrauch des Somniale Danielis. Vor allem nimmt sich die religiöse Dichtung des Traumes an, der zum Rahmenmotiv wichtiger literarischer und religiöser Schöpfungen des Mittelalters wird: Der Roman de la Rose (zwischen 1230 und 1280) von Guillaume de Lorris (floruit 1230) und Jean de Meung (gest. um 1305), die bedeutendste französische Dichtung des Mittelalters, ist ebenso als Traum stilisiert (vgl. auch den Exkurs: ed. Daniel Poirion, Paris 1970,18,287— 18,514) wie William Langlands (ca. 1332-1376/77) mittelenglische gesellschaftskritische Versallegorie Piers the Plowman (3 Fassungen zwischen 1366 und nach 1386) oder Walter von Chatillons (ca. 1135 - ca. 1200) Dum contemplor animo. Später dichten in dieser Tradition noch Geoffrey Chaucer (ca. 1340—1400; The Book of the Duchess, 1369; House of Fame, 1379; Parlement of Foules, 1382; Legend of Good Women, 1386), Giovanni Boccaccio (1313-1375), der Pearl-Dichter (2. Hälfte des 14. Jh.) und viele andere. Als Traum gibt sich schon der altenglische Dream ofthe Rood (8. Jh.). Im deutschen Sprachraum ist allegorische Traumdichtung weniger beliebt. Auch Parodien sind möglich (Raoul de Houdenc, Songe d'enfer, vor 1234). -»Dantes Divina Commedia ist -»Vision, nicht Traum, erzählt aber Träume in der Binnenhandlung (Purg. 27,94-114). Nach einer Überlieferung fand man nach Dantes Tod einen verschollenen Teil des Textes erst, als der Dichter seinem Sohn im Traum den Ort des Versteckes gezeigt hatte. Berührungen zeigt die Traumdichtung mit der ab dem 12. Jh. in die -»Mystik integrierten Visionsliteratur (Offenbarungsempfänger bis zum 12. Jh. fast nur Männer, später häufiger Frauen). Doch wird zwischen Traum und Vision unterschieden (in der bildenden Kunst z. B. liegen Träumende mit geschlossenen Augen, Visionäre sitzen oder stehen mit weit offenen Augen); oft gilt die Vision (im Zustand kataleptischer Trance) als dem Traum überlegen (-»Birgitta von Schweden, Revelationes IV,139). 3. Frühe Neuzeit Die -»Renaissance bringt vor allem eine Profanisierung des Traummotivs mit sich. Niklas von Wyle (gest. 1478) übersetzte 1468 den Traum von Frau Glück des Aeneas Silvius Piccolomini (-»Pius II.), der ins Schlaraffenland führt. Die Traumallegorie Hypnerotomachia Poliphili (1499, Verfasser wohl Francesco Colonna) wird zu einem der berühmtesten Druckwerke der Renaissance. -»Luther hat sowohl den Traumglauben (WA 44,249,30-34) als auch die Traumbücher (WA 15,619-622) verachtet; die positiven neutestamentlichen Stellen zur Sache nimmt er nur widerwillig zur Kenntnis (ebd.). Th. -»Müntzer dagegen ließ Träume aufzeichnen. Unter den Reformatoren interessiert sich am stärksten -»Melanchthon für den Traum: er erzählt vielfach Träume, gestaltet sie in Gedichten (CR 10,576 Nr. 187) und widmet dem Thema lange Ausführungen in seinem Commentarius de anima (1540) bzw. dem Liber de anima (1553; dort de somniis = CR 13,99-101; vgl. schon die Quaestio de somniis = CR 1,778-780). Wohl ein Straßburger Prediger übersetzte und bearbeitete aus diesen Texten unter antitäuferischer Zuspitzung ein Essay, welches ab 1554 der deutschen Artemidorübersetzung des Walther Hermann Ryff (gest. 1548) beigegeben wurde und (unter Melanchthons Namen) zu den

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einflußreichsten Traumtraktaten des 16. J h . gehörte (CR 2 0 , 6 7 7 - 6 8 6 ) . Es werden natürliche, mantische, göttliche und dämonische Träume unterschieden und mit antiken und biblischen Beispielen illustriert (dazu: Grenzmann; Frenschkowski). An der Peripherie der Theologie blüht im 16./17. Jh. eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Traum (Thorndike; Titelliste bei Gräße), oft mit okkulten Neigungen (Beispiele: -»Agrippa von Nettesheim, De occulta philosopbia [Fassung von 1531/1533] 111,51; Hieronymus Cardanus, De somniis [1585; deutsch in Übersetzung schon 1563], der alle Träume für wahr hält und mit Offenbarungen durch Schutzengel rechnet). Ablehnung des Traumglaubens ist selten (F. -»Neri). Eine lebendige Anschauung des Traumglaubens an der Wende vom 16. zum 17. J h . vermitteln z. B. (für den englischen Sprachraum) die zahllosen Träume im Werk W. -•Shakespeares (besonders Richard III.), die mahnen und warnen, aber kaum eigentlich religiös sind. Protestantische Legende ist ein Traum -»Friedrich III. des Weisen am Tag vor Luthers Thesenanschlag, der die Geschichte des 16. J h . ankündigt, aber erst ab 1617 in zahlreichen Flugschriften verbreitet wird und im Vorfeld des -»Dreißigjährigen Krieges großen Einfluß hat. Häufig ist der Traum Metapher für die Flüchtigkeit des Daseins (so bei -»Calderón de la Barca, La vida es sueño, 1635). Das mittelalterliche Motivrepertoire der allegorischen Traumdichtung wandert ab der Renaissance in die Prosasatire (John Donne, Ignatius His Conclave, 1611; Francisco de Quevedo, Los sueños, 1627). Immerhin kann J . -»Kepler seine Astronomia lunaris in das Gewand eines Traumes kleiden (1634 postum ediert), und noch 1678/1684 publiziert der puritanische Prediger J . -»Bunyan sein im Gefängnis geschriebenes allegorisches Andachtsbuch in Gestalt

zweier Träume: The Pilgrim's Progress from this World, to that Which is to Come

(deutsch schon 1685). Die klare, präzise Prosa, die immense poetische Kraft und Lebendigkeit dieser Dichtung macht sie für Jahrhunderte zum meistgelesenen englischsprachigen Buch nach der Bibel, welches das puritanische Verständnis des Christseins in gerade in ihrer Schlichtheit unvergeßliche Bilder faßt. Die alte (nur für einen platten Rationalismus abwegige) Frage nach der moralischen Verantwortung für den Traum findet einen letzten dichterischen Ausdruck in Evas Traum in J . - » M i l t o n s Paradise Lost ( V , 1 - 1 2 1 ) , ehe sie aus der europäischen Literatur verschwindet. Die theologische Wahrnehmung des T h e m a s Traum im -»Pietismus bewegt sich zwischen Skepsis gegenüber Ansprüchen von „Sonderoffenbarungen" und Interesse an Erfahrungen religiöser Führung, vgl. die zögernden, vorsichtigen Bemerkungen von Ph. J . -»Spener.

4. Das 19. und 20. Jahrhundert Während die -»Aufklärung meist auf physiologische Traumerklärungen zurückfällt, entdeckt die - » R o m a n t i k den Traum als kreatives Geschehen in der seelischen Tiefe. In diesem Sinn zielt Gotthilf Heinrich Schubert (Die Symbolik des Traums, Bamberg 1814 [Faksimile-Ausgabe, Heidelberg 1968], erweitert J 1 8 2 1 3 1 8 4 0 ) über das traditionelle „ T r a u m l e x i k o n " hinaus und entwickelt eine Rhetorik des Traums als Ausdruck einer hieroglyphischen Sprache der - » N a t u r , Poesie und —»Offenbarung, welche der Mensch erst wieder neu verstehen lernen müsse. Während Dichter ihre Inspiration im 19. J h . wieder auf Träume zurückführen können (S.T. -»Coleridge; Robert Louis Stevenson [ 1 8 5 0 - 1 8 9 4 ] ; T h o m a s De Quincey [ 1 7 8 5 - 1 8 5 9 ] ) und -»Nietzsche (Die Geburt der Tragödie; Menschliches, Allzumenschliches) alle Metaphysik und Religion auf ein Mißverständnis der Traumerfahrung reduziert (s.o. 1.2.), dispensieren sich die Theologien des 19. J h . fast völlig von jedem Nachdenken über die religiöse Bedeutung des Traums. Eine Gestalt wie der Pädagoge Don Giovanni Bosco ( 1 8 1 5 - 1 8 8 8 ) , der alle großen Entscheidungen seines Lebens mit spirituellen Träumen in Zusammenhang bringt (Benz 115—125; auch in katholischen Darstellungen oft unterschlagen), ist im 19. J h . Ausnahme (zu S. -»Freud s.o. 1.7.). Eine Wiederentdeckung des Traumes und anderer nicht rational verrechenbarer religiöser Erfahrungsweisen brachte Anfang des 20. J h . nicht zuletzt die

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Pfingstbewegung, die ab etwa 1 9 6 0 auch in traditionellen Kirchen F u ß fassen konnte (-»Pfingstkirchen/Charismatische Bewegung), in jüngster Z e i t oft verbunden mit einem Problembewußtsein für tiefenpsychologische Aspekte des T h e m a s . Als Chiffre minderer wie höherer Realität kann der T r a u m phantastischer Verfremdung ebenso dienen wie der spirituellen Orientierung. T r o t z der E x p l o s i o n des psychologischen Wissens zur Sache hat sich die wissenschaftliche Theologie des T h e m a s auch im 2 0 . J h . nur in bescheidenen (eher praktisch-theologischen als systematischen) Ansätzen a n g e n o m m e n (s.u. VI.). Literatur Zu 1.: Jacqueline Amat, Songes et visions. 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VI. Praktisch-theologisch 1. Grundlegung 2. Die Rezeption psychologischer und psychoanalytischer Traumdeutungen 3. Der Traum als religiöse Erfahrung 4. Anwendungsfelder praktisch-theologischer Traumforschung 5. Desiderate praktisch-theologischer Theoriebildung zum Traum (Literatur S. 49)

1.

Grundlegung

Praktische Theologie, die Menschen als (religiöse) Subjekte ernst nehmen will, sieht sich herausgefordert, Träume als alltägliche, manchmal numinose Grunderfahrung des animal symbolicum (Cassirer 40) in ihre Reflexion mit einzubeziehen. Zudem begegnen Traumberichte, ihre Deutung, Kritik und Aneignung in biblischen und kirchlichen Traditionen. Praktische Theologie sucht diese in ihren unterschiedlichen Handlungsfeldern für das Selbst- und Weltverstehen heutiger Menschen fruchtbar zu machen. Die praktisch-theologische Auseinandersetzung mit Traum und Träumen wird dabei in vielfacher Weise von sozialwissenschaftlichen, insbesondere psychotherapeutischen Theorieansätzen beeinflußt, die seit Anfang des 20. Jh. zunehmend das kulturelle Verständnis des Traumes in westlichen Industrienationen prägen. 2. Die Rezeption psychologischer

und psychoanalytischer

Traumdeutungen

Dies gilt insbesondere für die von S. -»Freud und C.G. -»Jung begründeten Interpretationslinien der psychoanalytischen respektive tiefenpsychologischen Traumdeutung (vgl. o. I.7.). Nach Freud enthält die Traumsymbolik eine verkleidete, halluzinatorische Erfüllung eines verdrängten infantilen Wunsches mit sexuellem oder aggressivem Inhalt, die durch freie Assoziation und Deutung in der Übertragung zum Therapeuten aufgehellt werden kann. Diese epochemachende Sicht und ihre Entfaltung in der psychoanalytischen Symboltheorie wurde in der praktisch-theologischen Rezeption zum Ferment einer kritischen Theorie des glaubenden Subjekts und seiner Symbolbildungsprozesse (z. B. Haendler; Scharfenberg). Dabei wurden Weiterentwicklungen der Psychoanalyse - die stärkere Betonung des Beziehungs- gegenüber dem Triebaspekt in der psychoanalytischen Objektpsychologie (vgl. Rizzuto), die sozialen Dimensionen der Identitätsentwicklung (vgl. Erikson) oder die Erforschung narzißtischer Störungen - für eine Theorie der religiösen Symbolik (-»Symbol) und des religiösen Traums fruchtbar gemacht (z.B.

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Kiessmann; Heimbrock). Religionspsychologisch produktiv wurde auch Jungs Sicht, nach der Träume eine bewußtseinskompensatorische Funktion besitzen und den Prozeß der Individuation vorantreiben, indem sie zur Integration abgespaltener psychischer Komplexe herausfordern. Religiöse Träume im besonderen bringen nach dieser Auffassung in Kontakt mit geschichts- und kulturübergreifenden archetypischen seelischen Kräften (Anima/Animus, Selbst, Gottesbild) und haben als numinose Erfahrung lebenswendende Kraft auf dem Weg zur psychischen Ganzheit (vgl. z. B. die tiefenpsychologische Deutung von Träumen K. -»Barths durch Schildmann). Insgesamt fällt auf, daß die theoretischen Konzepte Freuds trotz ihrer religionskritischen Spitze (Freuds Traumdeutung enthält bereits in nuce seine Religionstheorie) innerhalb der (protestantischen) Praktischen Theologie produktiv rezipiert wurden, die an Jung anschließende religionspsychologische Deutung des religiösen Traums zwar nicht unbeträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit erhielt, in der praktisch-theologischen Fachdebatte aber insgesamt kritischer kommentiert wurde (vgl. Spiegel). Andere Ansätze der Traumforschung haben die Praktische Theologie in auffällig geringerem Maß beeinflußt. Dies gilt von weiteren Formen der therapeutischen Nutzung des Traums, die in Anlehnung und Kritik an Freud und Jung entwickelt wurden (z. B. phänomenologisch orientiert: Binswanger; Boss; gestalttherapeutisch: Perls; kunsttherapeutisch: Egger; in Paar- und Familientherapie: Traum Werkstatt; Buchholz; Bynum). Dies gilt ebenfalls von der systematischen empirischen Erforschung des Traums (seiner formalen und inhaltlichen Eigenarten, seiner Beeinflußung durch Alter, Geschlecht, soziale Faktoren etc.), die durch neue Untersuchungsmethoden (Einsatz von Schlaflabors und elektroenzephalographischen Techniken) ermöglicht wurde (vgl. Strauch/Meier). Vermehrt werden heute neuro- und kognitionspsychologische Funktionen des Traums für Informationsverarbeitung und -speicherung postuliert (vgl. z.B. Bareuther), wobei Frequenz, Form und Funktion des Träumens in den verschiedenen Schlafphasen weiterhin nicht restlos geklärt sind (vgl. Boothe/Strauch). 3. Der Traum als religiöse Erfahrung Für die praktisch-theologische Grundlagenarbeit bedeutsam ist die Deutung des (religiösen) Traums als religiöser Erfahrung heutiger Menschen, wobei Definitionen solcher Erfahrung stark von schulenspezifischen Vorannahmen bestimmt sind. Religiöse Träume werden in der tiefenpsychologischen Tradition Jungs beispielsweise als „vergessene Sprache Gottes" (in Aufnahme einer Formulierung Fromms: Sandford; Hark, Traum) gedeutet, die in ihrer erschütternd-numinosen Kraft an einen verlorenen Ursprung zurückbindet und auf psychische Integration tendiert (z. B. Frenkle; FroboeseThiele; Riess; Wittmann). Religiöse Bedeutung von Träumen wird andererseits semiotisch als Resultat eines dynamischen Interpretationsvorgangs der Selbstauslegung in einem „Hexalog" verschiedener Faktoren (Traum, träumende Person, Interpretation, bedeutungssteuerndes Regelsystem, Traumgegenstand und lebensgeschichtlich-pragmatische Konkretion) rekonstruiert (Morgenthaler, Traum, mit Rekurs auf Seitz) respektive aufgrund einer hermeneutischen Kritik moderner Traumdeutufigsmodelle vor allem an „Wurzelmetaphern" aufgewiesen, die in einem hermeneutischen Zirkel erschlossen werden und ultimate existentielle Anliegen des Menschen ausdrücken sollen (Bulkeley mit Rückgriff auf Gadamer). Wichtig für die praktisch-theologische Arbeit insgesamt wurden zudem Modelle einer psychologisch inspirierten Exegese biblischer Texte, mittels derer biblische Texte mit Deutungskategorien erschlossen werden, die sich auch aus der psychoanalytischen Interpretation von Träumen ableiten. So werden in einer archetypischen Geschichtshermeneutik biblische Texte an die träumenden Kräfte der Psyche zurückgebunden (Drewermann; Kassel; dazu kritisch: Raguse, Psychoanalyse), werden historisch-kritische und psychoanalytische Interpretationen biblischer Texte parallelisiert (Spiegel, Doppeldeutlich) oder der „Raum des Textes" in einer transdisziplinären theologischen Hermeneutik neu erschlossen (Raguse, Raum).

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Traum VI 4. Anwendungsfelder

praktisch-theologischer

Traumforschung

Das psychologische Verständnis religiöser Symbole und Metaphern, das sich gerade in der Auseinandersetzung mit (religiösen) Träumen gewinnen läßt, inspiriert auch die verschiedenen Teildisziplinen der Praktischen Theologie. Religiöse Symbole, wie sie unter anderem im Traum zu finden sind, dienen der Bewältigung psychischer Konfliktlagen und Ambivalenzen (Scharfenberg/Kämpfer) und zeigen Entwicklungspotentiale an — Funktionen, die sie vor allem für die seelsorgerliche Begleitung bedeutsam machen (Lemke). Vertiefte Einsichten erlauben Träume insbesondere in das menschliche Krisenerleben, z.B. die Erfahrung von Sterben, Tod und Trauer (z.B. Hark, Träume; Lückel; besonders häufig in der regressiven Phase der Trauer, vgl. Spiegel, Prozeß). Träume werden auch in der Gruppenseelsorge (Lindijer; Taylor), als Weg zu meditativer Tagebucharbeit (Kelsey) und Spiritualität (Grün) beansprucht. In der religionspädagogischen Arbeit bleibt die Auseinandersetzung mit Träumen ein Randphänomen, obschon sich am Beispiel religiöser Träume von Kindern und Jugendlichen interessante Einblicke in die Entwicklung des Selbst, des religiösen Urteils (Morgenthaler, Traum) und der Gottesbilder (Schwarzenau; Riedel) gewinnen lassen. Selten werden Schülerträume und biblische Traumberichte zum Gegenstand des Religionsunterrichts (z. B. Kreis; Oser/ Venetz/Merz). Träume werden aber wichtig im Zusammenhang symboldidaktischer Erschließungen religiöser Erfahrung (Biehl: „Symbole geben zu lernen") und als Sprachhilfe im Umgang mit biblischen Texten (Baldermann; Miller; Weidinger/Weidinger). Im Gottesdienst werden biblische Traumberichte immer wieder zum Ausgangspunkt von Predigten (z.B. Köhler; Klessmann/Bouke-von Waldthausen; Schmalstieg). Für die homiletische Arbeit insgesamt werden die gerade auch an Träumen gewonnenen tiefenpsychologischen respektive psychoanalytischen Zugänge zu biblischen Texten (s.o. 3.), aber auch zur gottesdienstlichen Liturgie (Scharfenberg) wichtig. Selten berücksichtigt werden Träume im Bereich kirchlicher Kybernetik, obschon es aufschlußreich ist, Träume auch in ihren sozialen Bezügen (Seiler) und ihrer kulturellen mythopoetischen Bedeutung (Tedlock) wahrzunehmen. Kirchenträume zeigen nicht selten eine erschließende, kirchenkritische Kraft (Barz; Hark, Kirchentraum), erlauben kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Symbolisierungen institutioneller Tabus (Morgenthaler, Traum) und werden für eine Theorie des Pfarramts insgesamt fruchtbar, da sie in einer bedrohten Welt lebenserhaltend zu handeln helfen (Josuttis). Im visionären Tagtraum (Schmidt) zeigt sich zudem die unerhörte Fähigkeit des Menschen, eine noch nicht sichtbare Welt zu entwerfen und zu gestalten (vgl. die Artikel in: Krauss). 5. Desiderate praktisch-theologischer

Theoriebildung

zum Traum

Insgesamt ist die Praktische Theologie bis heute kaum über punktuelle Bezüge auf die vielfältige Wirklichkeit des Traums hinausgekommen. Einige Desiderate für eine eigenständige Forschung und Theoriebildung zum (religiösen) Traum sind zu nennen. Popularisierte Traumdeutung findet als eine Form der Psychologisierung des Alltags außerhalb von Therapie und Wissenschaft heute ein breites Interesse, oft als Weg zur Selbstfindung im Zusammenhang mit religiösen Gestaltungsbedürfnissen (vgl. Schmidtchen). Solche religiösen Funktionen des Traumlebens sind in einer kritischen Theorie der Religion zu reflektieren und auch für die Theologie fruchtbar zu machen. Interessante Impulse sind zudem zu erwarten von einer detaillierten empirischen Untersuchung der Verbreitung religiöser Motive im Traumleben heutiger Menschen. Es ist anzunehmen, daß diese weitaus seltener sind und sich ihre Inhalte in einem stärkeren Ausmaß dem religiösen Alltag verdanken, als es das Bild des religiösen Traums vermittelt, das bisher durch die selektive literarische Verarbeitung auffälliger Träume von gebildeten Angehörigen der Mittelschicht geprägt war. Die Erforschung von Form und Inhalt der Träume von Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts (vgl. Ansätze der Untersuchung geschlechtstypischer religiöser Traumbilder bei Morgenthaler, Traum), verschiedener

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Konfession und Religion ließen weitere Rückschlüsse auf den Einfluß sozialer Bedingungen auf das (religiöse) Träumen zu. Dabei könnten auch die Aneignungsformen des tradierten religiösen Wissens, wie sie die nächtlichen Träume spiegeln, detaillierter analysiert werden. Von einer Untersuchung hermeneutischer und anthropologischer M o delle, die in Traumtheorien impliziert sind, ließen sich zudem weitere Impulse für die praktisch-theologische Grundlagenreflexion gewinnen (-»Vision). Nicht zuletzt wären die Methoden zu verfeinern, wie mit Träumen in den Handlungsfeldern der Praktischen Theologie vertieft gearbeitet werden kann. Literatur Zu 1.: Ernst Cassirer, Was ist der Mensch? Versuch einer Phil, der menschlichen Kultur, Stuttgart 1960. Zu 2.: Herbert Bareuther (Hg.), Traum u. Gedächtnis. Neue Ergebnisse aus psych., psychoanalytischer u. neurophysiologischer Forschung, Münster 1996. - Ludwig Binswanger, Traum u. Existenz, Marburg 1947. - Brigitte Boothe/Inge Strauch (Hg.), Der Traum. 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Trauung

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Marco Frenschkowski (Abschn. I - V ) Christoph Morgenthaler (Abschn. IV)

Trauung 1. Begriff und geschichtliche Aspekte 2. Verständnis und Bedeutung staltung 4. Weitere Aspekte und Ausblick (Literatur S. 56)

1. Begriff und geschichtliche

3. Zur liturgischen Ge-

Aspekte

1.1. Unter dem Begriff „Trauung" versteht der allgemeine Sprachgebrauch das öffentliche Zeremoniell im Rahmen der Eheschließung (-> Ehe/Eherecht/Ehescheidung). Etymologisch stammt das Wort „Trauung" von der Wortgruppe „-»Treue" ab, nicht von lateinisch traditio (Auslieferung, Übergabe). Aus dem ursprünglichen Gebrauch des Wortes „trauen" im Sinne von „glauben, hoffen, zutrauen" entwickelte sich die Bedeutung „Vertrauen schenken" und aus dem reflexiven „sich trauen" die Bedeutung „wagen", die seit dem 13. Jh. auch „ehelich verbinden" meint.

Daß gegenwärtig mit dem Begriff „Trauung" sowohl die standesamtliche Eheschließung als auch die kirchlich-liturgische Feier bezeichnet werden, ist Folge einer wechselvollen Geschichte, in der weltlich-rechtliche und religiös-kirchliche Elemente mehrfach verbunden und wieder getrennt wurden.

Trauung

51

1.2. Prinzipiell gibt es keine sich aus dem Wesen der Ehe oder den Schriften des Alten und Neuen Testaments ergebende Norm für den Trauakt (Niebergall 59). In der Frühzeit der Kirche lehnten sich die Christen bei der Eheschließung an die bestehenden Sitten, Formen und Gewohnheiten der römisch-hellenistischen Umwelt an. Nach römischem Recht war allein der partnerschaftliche Aspekt der Willensübereinstimmung der sog. Konsens - das die Ehe konstituierende Element. Die frühen Christen stellten dies nicht in Frage, betonten aber, daß nach Gen 2,23ff. und Mt 19,4ff. Gott Mann und Frau zusammenführt. Einen offiziellen staatlichen Akt oder kirchlichen Ritus gab es zunächst nicht. Es wurde allerdings Wert darauf gelegt, daß die Nupturienten ihren Entschluß dem -»Bischof zur Prüfung von Ehehindernissen mitteilten (vgl. IgnPol 5,2: „auf daß die Ehe sei nach dem Herrn und nicht nach sinnlicher Begierde"). Aus dem Brauch, im Anschluß an die Eheschließung einer Messe beizuwohnen, ging in Anlehnung an die Privatmesse die Brautmesse hervor, die eine Confirmatio und Benedictio der Ehe umfaßte. Rituelle Handlungen der Umwelt — wie die Verschleierung, die Bekränzung, die Segnung von Ringen und des Ehebettes - blieben bestehen und wurden zum Teil in das kirchliche Zeremoniell integriert (vgl. -»Ehe/Eherecht/Ehescheidung V und VI). 1.3. Das Mittelalter brachte eine Verkirchlichung, Klerikalisierung, Sakralisierung und Sakramentalisierung der Eheschließung. Für das Abendland wurde dabei vor allem der Einfluß germanischer Rechtsbräuche und damit das besitzrechtliche Element der Übergabe der Braut an den Bräutigam von Bedeutung. Demnach wurde die Ehe zwar durch privaten „Muntvertrag" (Verlöbnis) geschlossen, aber erst durch das Zusammensprechen der Eheleute durch einen Muntwalt - die sog. Kopulation - rechtskräftig vollzogen. Weil für den kirchlich gebundenen Menschen des Mittelalters kein wichtiger Akt ohne -»Gebet und -»Segen stattfinden durfte, lag es nahe, daß anstelle des Sippenvorstehers der zuständige -»Priester die Funktion des Muntwalts übernahm. Die „laikale" Eheschließung wurde zugunsten der „klerikalen" zurückgedrängt, was zur Folge hatte, daß die Eheschließung näher an den Kirchraum rückte und zunächst in den Eingangsbereich, zuweilen aber auch schon vor den -»Altar verlegt wurde. Aus dem ursprünglich segnenden und die Ehe bestärkenden Handeln wurde somit ein trauendes Handeln; dieser Prozeß war Ende des 12. Jh. im wesentlichen abgeschlossen. Parallel dazu verlief seit dem 8. Jh. die Sakramentalisierung der Ehe, die durch -»Mystik und -»Scholastik weiter ausgebaut wurde und 1563 im -»Tridentinum (Decretum Tametsi) ihren für die -»Römisch-katholische Kirche bis heute verbindlichen Abschluß fand. Danach wird die durch Konsens geschlossene Ehe (matrimonium ratum) zweier Getaufter unter der Assistenz eines Priesters zum -»Sakrament, das die Eheleute sich wechselseitig spenden. 1.4. Die Reformatoren lehnten in großer Einigkeit eine Sakramentalität der Ehe ab. -»Luther betonte, daß die Ehe zwar ein göttlicher Stand sei, die Eheschließung aber rechtlich ein „weltlich Geschäft". Um trotzdem zu garantieren, daß die Trauung den nötigen Ernst habe, legte er mit seinem Traubüchlein von 1529 einen Vorschlag für den liturgischen Ablauf einer Trauung vor. Die Eheschließung vor der Kirche und eine anschließende Segnung in der Kirche sind demnach vom Paar freiwillig begehrte Handlungen, die jedoch rechte Christen nicht würden entbehren wollen, wüßten sie doch, wie hoch man des göttlichen Segens und gemeinsamen Gebets bedarf zu diesem Stande (WA 30/3,74). -»Zwingli und —»Calvin dagegen verschränkten in ihren Vorlagen Eheschließung und gottesdienstliches Handeln miteinander (vgl. Jenssen 398). Die Mehrzahl der frühen -»Kirchenordnungen in den protestantischen Territorien orientierten sich im Ablauf der Trauung an Luthers Vorschlag, hielten jedoch nicht die Trennung von weltlichen und kirchlichen Akten aufrecht. Da ab dem 17. Jh. der -»Pfarrer das Paar weitgehend auf Anordnung des Fürsten, der zugleich summus episcopus war, traute und nur eine solche vom Pfarrer als Delegaten der -»Obrigkeit vollzogene Trauung die

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Trauung

Gültigkeit der Ehe garantierte, wurden weltliche Eheschließung und kirchliche Benediktion zunehmend in eins gesetzt. Im deutschsprachigen Bereich fand diese Entwicklung ihren Niederschlag auch in der Gesetzgebung, so z. B. im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 (11,1 § 136), wonach eine vollgültige Ehe allein „durch die priesterliche Trauung vollzogen" wird. 1.5. Gegen diesen enormen Einfluß der Kirche wandte sich die Kritik des aufstrebenden -»•Bürgertums. Während in -»-Frankreich und in den zeitweise zu Frankreich gehörenden Territorien schon ab 1793 die obligatorische Zivilehe eingeführt wurde, genehmigte -»Preußen lediglich eine Notzivilehe. Erst die Zivilstandsgesetzgebung des Deutschen Reiches von 1875 führte nach den heftigen Auseinandersetzungen des -»Kulturkampfes die pflichtmäßige Zivilehe zum 1. Januar 1876 im ganzen Reichsgebiet ein (weitere Daten bei Jenssen 403f.). Seitdem nimmt der Staat in ihm unterstellten Räumlichkeiten den Konsens der Brautleute entgegen und spricht die Kopulation aus. Dies nötigte die Kirche, die Notwendigkeit einer kirchlichen Trauung nach der standesamtlichen Eheschließung neu zu begründen und auch ihre Trauagenden entsprechend neu zu formulieren (vgl. Mahrenholz 14ff.). Der Terminus „Trauung" wird seitdem nun sowohl für das staatliche als auch das kirchliche Zeremoniell verwandt. 2. Verständnis und Bedeutung 2.1. Im Bereich der akademischen Theologie hat es von evangelischer Seite aus im 20. Jh. eine Fülle von Interpretationsvorschlägen gegeben, wie das kirchliche Handeln bei der Eheschließung zu verstehen sei, so z. B. als „Verkündigungs- und Bekenntnisakt" (W. -»Trillhaas), als „Dienstleistung im Namen Jesu" oder als „Ordination" (E. -»Lange), als „Gottesdienst am Beginn einer totalen Lebensgemeinschaft", als „Eingliederung in die Diakonie der Gemeinde" oder als „Hilfestellung während der Aufbauphase einer personalen Ehe" (Barczay), als „Feier des Lebens" (Josuttis; zu den einzelnen Definitionen vgl. Josuttis 54ff. und Jenssen 404ff.) oder als Gottesdienst, „in dem der Auferstandene zu den Wandernden stößt" (Seitz 19). Nach K.-H. Lütcke lassen sich aus den verschiedenen Positionen hauptsächlich vier Richtungen ableiten (Lütcke 70ff.): 1) Das Verständnis der kirchlichen Trauung als Ergänzung und Vervollständigung der standesamtlichen Eheschließung: Das Standesamt nimmt zwar formell den Konsens des Brautpaares — im Sinne der alten Verlobung - entgegen, dieser rechtliche Akt bedarf jedoch nach diesem Verständnis noch der Ergänzung und Vervollständigung durch das kirchliche Handeln (Dombois 99ff.). 2) Das Verständnis der kirchlichen Trauung als -wiederholende Interpretation der standesamtlichen Eheschließung: Die Aufgabe der kirchlichen Trauung besteht hier darin, die schon bei der standesamtlichen Eheschließung implizit enthaltenen religiösen Momente zu explizieren und in einen christlich-kirchlichen Interpretationshorizont zu stellen (Schäfer 487f.). 3) Das Verständnis der kirchlichen Trauung als Bekenntnis zu einer im christlichen Glauben geführten Ehe: Das Jawort in der Kirche wird hierbei umformuliert zu einem Bekenntnis zum christlichen Glauben (Seitz 47; Winkler 135). 4) Das Verständnis der kirchlichen Trauung als liturgische und/oder diakonische Veranstaltung anläßlich der standesamtlichen Eheschließung: Die Kirche ist demnach nicht an der Eheschließung beteiligt, sondern begleitet die weltliche Handlung seelsorglich mit einem Dank-, Bitt- und Segensgottesdienst (Lütcke 72ff.; Müller 112). Gegenwärtig unbestritten ist das Verständnis der kirchlichen Trauung als liturgische und diakonische Feier, da es zweifelsohne dem biblischen, urchristlichen und reformatorischen Handeln am nächsten kommt, indem es die weltliche Eheschließung nicht relativiert. Meinungsverschiedenheit herrscht darüber, ob die Trauung über den gottesdienstlichen Fest- und Begleitungscharakter hinaus auch als Anlaß zum aktiven Be-

Trauung

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kenntnis des Paares verstanden werden muß und welche theologischen Akzente bei der liturgischen Feier dann notwendigerweise zu setzen sind. 2.2. Betrachtet man die Trauung soziologisch und aus dem Erwartungshorizont der Paare, so ist zu konstatieren, daß oft die nichttheologischen Faktoren (schon Thilo, Faktoren 235 ff.) bei der Wahl und Gestaltung der kirchlichen Trauung die zentrale Rolle spielen. R. Nave-Herz hat dies in ihrer Studie Die Hochzeit eindrucksvoll dargelegt: Nach den Interviews von Nave-Herz löst meist erst die „Kinderfrage" ein Gespräch über eine mögliche Hochzeit aus. Die Eheschließung ist dann oft nur noch ein „rite de passage" im Hinblick auf die Elternrolle und somit besser als „rite de confirmation" zum Partner zu verstehen (Nave-Herz 42ff.). Wurden in dem Stufenprozeß vom Kennenlernen bis zum Entschluß zur Heirat meist weder die Gründung der nichtehelichen Lebensgemeinschaft noch die Verlobung ausgiebig gefeiert und öffentlich gemacht, so scheinen bei der Hochzeit diese versäumten Feiern nachgeholt und der zuvor gemiedene Öffentlichkeitscharakter nun in besonderem M a ß e gesucht zu werden. Nach den Befragungen von Nave-Herz bietet dazu nicht das Standesamt, sondern die Kirche den wirkungsvollsten und öffentlichsten Rahmen (ebd. 69ff.). Der Staat hat zwar mit Einführung der Ziviltrauung der Eheschließung einen öffentlichen Charakter verliehen, dies wird aber von Paaren oft nicht als solcher empfunden, weil die Trauung auf dem Standesamt meist hinter verschlossenen Türen stattfindet und nur eine selektive Öffentlichkeit geladen ist. Bei der kirchlichen Trauung hingegen bleibt die alte Einheit von Privatheit und Öffentlichkeit erhalten, da jeder, der will, sie miterleben kann. Das heißt, d a ß sich viele Paare für die kirchliche Trauung entscheiden, weil diese dem Gemeinschafts- und Repräsentationscharakter besser Rechnung trägt. Darüber hinaus läßt sich bei vielen Paaren auch eine „allgemeine Religiosität" erkennen, diese ist allerdings nur selten die verursachende Bedingung für die Wahl der kirchlichen Trauung (ebd. 88ff.).

Der Wunsch nach außerordentlicher Festlichkeit macht plausibel, warum sich bei Hochzeiten und Traugottesdiensten zahlreiche Spuren des Höfischen finden lassen. Kirche wird in den Akt der sozialen Wirklichkeitskonstruktion so eingebunden, daß sie der eigenen Inszenierung des gewandelten Status entspricht und — wenn möglich — der schwebenden Religiosität des Anlasses Ausdruck verleiht. Die Erwartung an den Pfarrer geht damit dahin, daß er einerseits „versierter Regisseur" der Rituale (-»Ritus) und andererseits Bezugsperson in der praktizierten Alltagsreligion ist. 2.3. Die praktisch-theologische Diskussion am Beginn des 21. Jh. vollzieht sich an der Schnittstelle zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnissen einerseits und der theologischen Legitimation der Trauung andererseits. Zu beobachten ist, daß sich neben Staat und Kirche zunehmend kommerzielle Ritualakteure etablieren, die auch Funktionen von Kirche übernehmen. Mediale Inszenierungen von Trauungen, die ein breit vorhandenes Bedürfnis nach -»Magie und Transzendenzbezug öffentlich befriedigen, sind hier ebenso zu nennen wie der stetig wachsende kommerzielle Markt an „Hochzeitsmessen", der Dienstleistungen aller Art bietet. Dadurch bekommt das jahrhundertelang bestehende Ritenmonopol der Kirche sowohl in bezug auf die ästhetische Gestaltung als auch in bezug auf die sinnstiftende Interpretation Konkurrenz. Dies berührt die Frage nach der Motivation und den Inhalten kirchlichen Handelns gleichermaßen wie die Frage nach einer adäquaten Auseinandersetzung mit den neuen Ritualakteuren (vgl. Lindemann 212ff.; „Traumhochzeit" [PTh]; Traumhochzeit [Hofgeismarer Vortr.] 33 ff.). Darüber hinaus wurde seit Anfang der 1990er Jahre in mehreren Landeskirchen (z. B. Evangelische Kirche im -»Rheinland, Evangelische Kirche in -»Westfalen, -»Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau [-»Hessen-Nassau]) ein Diskurs über „Trauung und Segnung" geführt, der seine besondere Schärfe durch die Frage erhält, ob das Trauritual auch bei homosexuellen Paaren Anwendung finden darf (vgl. Sexualität und Lebensformen 79ff.). Dabei zeigt sich deutlich, in welchem grundsätzlichen Dilemma sich die Trauung befindet: Wird das kirchliche Handeln nämlich wirklich auf eine reine gottesdienstliche Feier mit Segnung und Fürbitte anläßlich einer weltlichen und biographischen Schwelle reduziert und liturgisch auch

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Trauung

so gestaltet, daß die an einstiges kopulierendes Handeln erinnernden Elemente (abgewandelte Konsensfragen, Ringtausch, Trauurkunde usw.) wegfallen, so ist es nur konsequent, eine derartige Zeremonie auch auf andere Partnerschaftsformen zu übertragen (vgl. Stuhlmann 499ff.). Eine derartige Reduzierung steht jedoch im Widerspruch zu der traditionsgeschichtlich tief verwurzelten Vorstellung, wonach die kirchliche Trauung der die klassische Ehe und -»-Familie stabilisierende Initiationsritus ist, und trifft mit Trauversprechen und Ringtausch gerade die volkskirchlich als Höhepunkt des Ritus empfundenen Bestandteile. In der zum Teil sehr emotional geführten Diskussion bezüglich der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare zeichnet sich weder in der Frage der Bewertung homosexueller Gemeinschaften noch in der Frage einer adäquaten kirchlichen Begleitung ein über landeskirchliche Grenzen einheitliches Ergebnis ab. Einige Landeskirchen haben sich - nach zum Teil sehr kontroversen Beratungen und im Detail unterschiedlich - dazu entschlossen, gleichgeschlechtlichen Paaren eine „seelsorgerliche Begleitung" u.a. im Gemeindegottesdienst zu ermöglichen; diese Begleitung ist allerdings kirchenrechtlich keine Amtshandlung und soll in ihrer Gestaltung deutlich erkennbar von der Trauung unterschieden sein. Dies wird jedoch nicht verhindern können, daß die jeweiligen liturgischen Handlungen von einigen Paaren als Trauung verstanden werden.

3. Zur liturgischen

Gestaltung

Unabhängig von den unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten der Trauung ist das kirchliche Trauritual im Ablauf seiner einzelnen Elemente bis dato erstaunlich stabil geblieben. 3.1. Mittlerweile selbstverständlich ist, daß dem -»-Gottesdienst ein oder mehrere Traugespräche vorausgehen. Uber die notwendigerweise abzuklärenden Formalia hinaus wird sich in diesem „Gesprächsraum zu Dritt" oft um eine offene und wechselseitige Kommunikation bemüht, die es ermöglicht, über die Biographie des Paares und über den christlichen -»Glauben ins Gespräch zu kommen und die Fragen, Ängste und Wünsche des Paares bezüglich des liturgischen Ablaufs des Gottesdienstes zu besprechen. 3.2. Der liturgische Ablauf in den -»Agenden der -»Evangelischen Kirche der Union (1988) und der -»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deuschlands ( 2 1998), dem Arbeitsbuch zur Trauung (1990), der Reformierten Liturgie (1999) sowie in den zahlreichen landeskirchlichen Agenden und privaten Formularen (vgl. z. B. Baltruweit/Ruddat 165ff.) unterscheidet sich zwar in der Anordnung und Gestaltungsmöglichkeit einzelner Teile, läßt sich aber bei aller Differenzierung im einzelnen in ein fünfgliedriges Schema einfassen (vgl. Trauung [1983] 31ff.): in 1) den Eröffnungsteil, 2) den Wortverkündigungsteil, 3) das Trauversprechen mit eventuell sich anschließendem Ringwechsel, 4) die Segnung des Paares und 5) den abschließenden Dank- und Fürbittengebetsteil. Verschiedene Gestaltungsformen in der Praxis sind dabei nicht nur durch unterschiedliche Agendenvorgaben bedingt, sondern oftmals auch durch Wünsche des Hochzeitspaares, das von Einzelheiten präzise Vorstellungen hat, die zuweilen in Spannung zum evangelischen Trauungsverständnis stehen (vgl. Traumhochzeit [Hofgeismarer Vortr.] 48 ff.). Als -»Schriftlesungen finden sich in den Agenden überwiegend die Perikopen, die schon Luther in seinem Traubüchlein vorschlug, also Gen l,27f.31; 2,18.21-24; 3,16-19; Eph 5 , 2 2 - 24.25- 29; Mt 19,4 und Prov 18,22; als weitere mögliche Lesungen werden oft Koh 4,9-12a; I Kor 13; Phil 2 , 2 b - 5 ; Kol 3,14f. oder I Joh 4 , 7 - 1 2 vorgeschlagen. Die Trauansprache - vor oder nach der Schriftlesung - hat zur Aufgabe, „den seelsorglich bestmöglichen Weg zu finden, die Schwellensituation der Eheschließung theologisch verantwortlich zu explizieren und zu deuten" (Prößdorf 251; vgl. auch —•Kasualien 4.). Für das Trauversprechen finden sich zwei Formen: entweder antwortet das Ehepaar auf die entsprechenden Fragen des Pfarrers mit seinem „ J a " , oder die Eheleute bekennen sich vor der Gemeinde zu ihrer Ehe. Die vorgeschlagenen agendarischen Formulierungen (vgl. auch Trauung [1983] 83-104) differieren, betonen aber stets die christliche Dimension des Versprechens, das ein partnerschaftliches Leben in Liebe und Freiheit, Vertrauen und Hoffnung als Ideal hat. Der Ring-

Trauung

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Wechsel schließt sich meist dem Versprechen als Zeichenhandlung an, wenngleich dieses Element am deutlichsten eine Doppelung des standesamtlichen Ringtausches darstellt. Neuere Varianten für die Segnung des Ehepaares finden sich im Arbeitsbuch zur Trauung (42f.), das u.a. einen „entfalteten Segen" vorschlägt, an dem sich Verwandte und Freunde beteiligen. Eine Gelegenheit, die (Fest-)Gemeinde noch weiter an der Gestaltung des Gottesdienstes zu beteiligen, besteht zudem besonders im Dank- und Fürbittengebetsteil. Darüber hinaus lassen die meisten Agenden (außer der Reformierten Liturgie) auch die Möglichkeit offen, die Trauung mit einer Abendmahlsfeier zu verbinden.

3.3. Wünschenswert wäre, wenn das kirchliche Handeln bei der Eheschließung über den Traugottesdienst hinaus gestaltet würde. Wie jedoch eine „nachgehende Seelsorge" und die „Pflege eines kasuellen Gedächtnisses" (Baltruweit/Ruddat 164) im einzelnen gestaltet werden kann, ist theoretisch öfters angedacht als in der Praxis verwirklicht worden; letztlich verweisen solche Ansätze in den Bereich des Gemeindeaufbaus. 4. Weitere Aspekte und

Ausblick

4.1. Für die Trauung konfessionsverschiedener Paare (-»Mischehe) gibt es zwar seit 1971 eine von den beiden großen Kirchen gemeinsam vereinbarte und mehrfach überarbeitete Ordnung der kirchlichen Trauung für konfessionsverschiedene Paare, allerdings ist diese Ordnung nicht wirklich ökumenisch, da sie nur eine Assistenz des Pfarrers der jeweils anderen Konfession vorsieht. Weitaus fortschrittlicher ist die 1974 zwischen fünf Kirchen in Baden vereinbarte Ordnung Gemeinsame kirchliche Trauung, die ein gleichberechtigteres Zusammenwirken ermöglicht. Eine noch weitergehende kirchenrechtliche und liturgische Annäherung wäre wünschenswert, damit dem Wunsch vieler Paare nach einer konfessionsverbindenden Ehe und Feier besser entsprochen werden kann. 4.2. Der Gottesdienst anläßlich der Eheschließung mit einem nichtchristlichen Partner ist stets von der schwierigen Entscheidung überschattet, an welchen Punkten die Identität des christlichen Partners und der christlichen Feier gewahrt bleiben muß und was dem nichtchristlichen Partner liturgisch zugemutet werden darf. Je nachdem, ob der nichtchristliche Partner Angehöriger einer Religion ist, die einen Schöpfergott kennt oder nicht, ein Nichtgetaufter oder Konfessionsloser ist, müssen unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden, will man beiden Partner gerecht werden und ein wahrhaftiges Versprechen ermöglichen. Die seit 1974 erarbeiteten Formulare (vgl. z. B. Arbeitsbuch zur Trauung 76ff.; Gottesdienstliche Feier 14ff.) stellen schöpfungsorientierte und weisheitliche Aussagen in den Vordergrund, ändern aber auch zentrale Bestandteile wie z. B. die Traufragen zugunsten einer „Anrede". Fraglich ist, ob diese Formulare nicht eine Diskriminierung gegenüber der normalen Trauordnung bedeuten (Winkler 148). Sinnvoll ist der Vorschlag von Jenssen, von dem Prinzip abzugehen, „dass beiden Partnern gleichlautende Fragen gestellt und Versprechen abverlangt werden" (Jenssen 413). 4.3. Die Trauung Geschiedener ist „verpflichtend für evangelisches Denken" (Thilo, Art. Trauung 955). Diskriminierungen jeglicher Art sind unangebracht, auch bezüglich der gottesdienstlichen Gestaltung. Sah der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Wiederverheiratung 1970 noch „grundsätzlich als Ausnahme" an, so fällt diese Einschätzung heute deutlich liberaler aus. Inhaltlich stehen der zurückgelegte Weg und der Neuanfang meist besonders im Vordergrund. 4.4. Die volkskirchliche Trauung wird unter den vier großen —»Kasualien auch in Zukunft das größte Problemkind bleiben. Der fortschreitende Verlust der identitätsstiftenden Kraft institutionalisierter Religion sowie die unaufhaltsame Pluralisierung von Beziehungsformen wird das Nachdenken über die Trauung immer individueller gestalten. Neben den deduktiven Überlegungen, was Kirche den Paaren kerygmatisch, poimenisch, diakonisch und/oder liturgisch bieten kann und muß, werden verstärkt induktive Fragestellungen berücksichtigt werden müssen, nämlich was sich Paare eigentlich von Kirche wünschen, und zwar nicht nur in repräsentativer und inszenatorischer, sondern vor

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Trauung

allem auch in spiritueller Hinsicht. Dies beinhaltet, d a ß die Diskussion um „Sexualität und Lebensformen sowie T r a u u n g und S e g n u n g " fortgesetzt werden muß und die gewonnenen Ergebnisse immer wieder nach ihrem Wirklichkeitsbezug befragt werden müssen.

Literatur Ferdinand Ahuis, Der Kasualgottesdienst. Zw. Ubergangsritus u. Amtshandlung, 1985 ( C T h M . P T 12). - Arbeitsbuch zur Trauung, hg. vom Gemeinsamen Liturg. Ausschuß im Auftrag des Rates der EKU - Bereich D D R , der Kirchenleitung der Vereinigten Ev.-Luth. Kirche in der D D R u. der Konferenz der Ev. Kirchenleitungen in der D D R , Berlin/Altenburg 1990. - Fritz Baltruweit/Günter Ruddat, Gemeinde gestaltet Gottesdienst. II. Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung, Gütersloh 2000. - Gyula Barczay, Art. Trauung: PThH 2 1 9 7 5 , 5 8 6 - 6 0 1 ( = »1970,476-482). - Karl-Friedrich Daiber, Die Trauung als Ritual: EvTh 33 (1973) 5 7 8 - 5 9 7 . - Günther Dehn, Die Amtshandlungen der Kirche, Stuttgart 1950. - Hans Adolf Dombois/Friedrich Karl Schumann (Hg.), Weltliche u. kirchl. Eheschließung, 1953 (GIF 6). - Gemeinsame Feier der kirchl. Trauung. Ordnung der kirchl. Trauung f. konfessionsverschiedene Paare unter Beteiligung der zur Trauung Berechtigten beider Kirchen, hg. v. der Dt. Bischofskonferenz u. dem Rat der EKD, Leipzig/Freiburg i.Br./Hannover/Regensburg 1995. - Gottesdienstliche Feier anläßlich der Eheschließung zw. einem ev. Christen u. einem Nichtchristen, hg. v. der Ev. Kirche in Westfalen, Bielefeld 1992. - Silvia Hell, Die konfessionsverschiedene Ehe. Vom Problemfall zum verbindenden Modell, Freiburg i.Br. 1998. - Werner Horn, Die Trauung: Hb. der Liturgik, hg. v. Hans-Christoph Schmidt-Lauber/KarlHeinrich Bieritz, Leipzig/Göttingen 1995, 9 3 7 - 946. - Hans-Hinrich Jenssen, Die Trauung: ebd. 3 9 2 - 4 1 4 . - Ottfried Jordahn, Art. Trauung. Liturg.: EKL 3 4 (1996) 9 5 1 - 9 5 3 . - Manfred Josuttis, Der Traugottesdienst: Friedrich Wintzer (Hg.), Prakt. Theol., Neukirchen-Vluyn 1982 = 3 1990, 5 3 - 6 5 . - Peter Krusche, Die kirchl. Trauung als Begründung v. Freiheit u. Verantwortung in der Ehe: ThPr 17 (1982) 6 8 - 7 7 . - Friedrich-Wilhelm Lindemann, Der alte Wunsch nach Bedeutung. Pastoralpsych. Überlegungen zum Trauritual: PTh 82 (1993) 2 1 2 - 2 2 2 . - Karl-Heinrich Lütcke, Die Trauung: Hans-Dieter Bastian/Dieter Emeis/Peter Krusche/ders., Taufe, Trauung u. Begräbnis, München/Mainz 1978, 6 7 - 1 2 9 . - Martin Luther, Ein Traubüchlein f. die einfältigen Pfarrherrn (1529): WA 3 0 / 3 , 7 4 - 8 0 . - Christhard Mahrenholz, Die Neuordnung der Trauung, Berlin 1959. Manfred Mezger, Die Amtshandlungen der Kirche als Verkündigung, Ordnung u. Seelsorge, München, I 1957 = 2 1963 (Lit.). - Theophil Müller, Konfirmation - Hochzeit - Taufe - Bestattung. Sinn u. Aufgabe der Kasualgottesdienste, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988. - Fritz Mybes (Hg.), Die Trauung, Göttingen 1991. - Rosemarie Nave-Herz, Die Hochzeit. Ihre heutige Sinnzuschreibung seitens der Eheschließenden. Eine empirisch-soziologische Stud., Würzburg 1997. - Alfred Niebergall, Ehe u. Eheschließung in der Bibel u. in der Gesch. der alten Kirche, aus dem Nachlaß hg. v. Adolf Martin Ritter, Marburg 1985. - Detlev Prößdorf, Die gottesdienstliche Trauansprache. Inhalte u. Entwicklung in Theorie u. Praxis, 1999 (APTh 36) (Lit.). - Korbinian Ritzer, Formen, Riten u. rel. Brauchtum der Eheschließung in den christl. Kirchen des 1. Jt., 1962 = *1981 (LWQF 38). - Rolf Schäfer, Zur kirchl. Trauung: Z T h K 70 (1973) 4 7 4 - 488. - Hans v. Schubert, Die ev. Trauung. Ihre gesch. Entwicklung u. gegenwärtige Bedeutung, Berlin 1890. - Manfred Seitz, Die Predigt bei der Trauung: Trauung, hg. v. Breit/Seitz (s.u.) 1 1 - 3 1 . - Sexualität u. Lebensformen sowie Trauung u. Segnung. Vorlage des Ständigen Ausschusses an die Landessynode, Düsseldorf 1996. - Wolfgang Steck, Die soziale Funktion der kirchl. Trauung: WPKG 63 (1974) 2 7 - 4 6 . - Rainer Stuhlmann, Trauung u. Segnung. Bibl.-theol. Gesichtspunkte f. die Diskussion aktueller Fragen: PTh 84 (1995) 4 8 7 - 5 0 3 . - Hans-Joachim Thilo, Nichttheol. Faktoren bei der kirchl. Trauung: WPKG 62 (1973) 233 - 241. - Ders., Art. Trauung. Prakt.-theol.: EKL 3 4 (1996) 9 5 3 - 9 5 6 . - „Traumhochzeit". Kasualien in der Mediengesellschaft: PTh 88 (1999) (Themenh.). - Traumhochzeit. Trauung zw. Anspruch, Wunsch u. Wirklichkeit, Hofgeismar 1999 (Hofgeismarer Vortr. 17). - Trauung. Das kirchl. Handeln bei einer Eheschließung. Überlegungen, Ordnungen u. Texte zur Revision der kirchl. Trauungsagenden, hg. v. der Luth. Liturg. Konferenz, Hamburg 1983 (RGD 14). Trauung, hg. v. Herbert Breit/Manfred Seitz, 1975 = 2 1990 (CPH). - Eberhard Winkler, Tore zum Leben. Taufe - Konfirmation - Trauung - Beerdigung, Neukirchen-Vluyn 1995. - Henning Ziebritzki (Hg.), Traugottesdienste gestalten, Göttingen 2000 (DAW[S] 88). - Helmut Zschoch (Hg.), Liebe, Leben, Kirchenlehre. Beitr. zur Diskussion um Sexualität u. Lebensformen, 1998 (VKHW NF 2). - Paul Michael Zulehner, Heirat, Geburt, Tod. Ein Pastoral zu den Lebenswenden, Wien/ Freiburg i.Br./Basel 1976 = 3 1981. Detlev P r ö ß d o r f

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Treue Treue

1. Nichttheologische Bedeutung 2. Biblische Aspekte 3. Thomas von Aquino und die katholische Auffassung 4. Luthers Begriff der Treue 5. Soren Kierkegaard 6. Der Neuprotestantismus 7. Die Dialektische Theologie 8. Neuere protestantische Ethik 9. Neue Fragestellungen (Literatur S. 62)

Treue ist eine Eigenschaft von Personen, die sich in einem beständigen, verläßlichen Verhalten äußert. Die Treue ist an Beziehungen gebunden, die teils rechtlich-formalisiert wie der Vertrag, teils rein persönlich wie die -»Freundschaft sein können. Diese Doppelheit zeigt sich in den beiden englischen Entsprechungen loyalty (von franz. loi: Gesetz) und fidelity (von lat. fides: Glaube). 1. Nicbttheologische

Bedeutung

Der Begriff Treue ist in der nichtbiblischen Antike bekannt. So betrachtet Cicero (106—43 v. Chr.) das Wohltun (beneficentia) und die -»Gerechtigkeit (iustitia) als die beiden Grundbegriffe der -»Ethik. Von letzterer stellt er fest: Fundamentum autem est iustitiae fides, id est dictorum conventorumque constantia et veritas (De off. I,vii). In einem eher rechtlichen Sinn ist das Phänomen der Treue in der Formel ex bona fide gemeint. Sie sei bei allen Transaktionen des täglichen Lebens angebracht (ebd. III,xvii). Treue meint somit die dem -»Vertrauen des anderen entsprechende Einstellung und Handlungsweise. Der Begriff bona fides ist in die deutsche Rechtsterminologie als „Treu und Glauben" eingegangen. 2. Biblische

Aspekte

In der Gedankenwelt der Bibel ist Treue ein entscheidender Bestandteil der persönlichen Beziehung zwischen -»Gott und -»Mensch. Im Alten Testament ist diese Beziehung vom Bilde des Vertrages (-»Bund) her dargestellt. Gott erweist Treue (hxsxd) allen, die den Bund einhalten und der Gebote gedenken (Ps 103,17f.). Auch die angemessene Antwort des Menschen auf Gottes Bundes-Treue kann als Treue bezeichnet werden. Sie äußert sich in der Einhaltung der mosaischen Gebote (I Reg 2,4). Treue kann auch eine Eigenschaft der Untergebenen im Verhältnis zum König sein (II Sam 20,2). Schließlich zählt Treue zu den Eigenschaften des -»Messias (Jes 11,5). Im Neuen Testament zeigt sich Gottes Treue (niotiq,) darin, daß er die Gläubigen in die Gemeinschaft mit seinem Sohn -»Jesus Christus berufen hat (I Kor 1,9). Diese Treue ist nach -»Paulus dieselbe wie die im Alten Testament bezeugte. Die Treue Gottes besteht, obwohl die Juden sie nicht mit Treue, sondern mit Untreue (amazia) beantwortet haben (Rom 3,3). Im Kontext dieses Gedankenganges erscheint der Begriff nioTig Xpioxoö bzw. 7t]oov. Wird der Genitiv subjektiv aufgefaßt, ist hier von einer besonderen Treue Christi als Erwiderung der göttlichen Treue die Rede. Die Treue Christi wäre dann der Grund der Rechtfertigung der Gläubigen (Rom 3,26). Diese neuerdings vorgeschlagene Interpretation (Hays) widerspricht der gängigen Auffassung der paulinischen „Rechtfertigungslehre". In den Evangelien dient der im Gleichnis vorkommende treue Diener als Bild der Treue der Gläubigen (Mt 24,45). Der Begriff Treue faßt somit ein Grundmotiv biblischer Ethik zusammen: Gott erweist mit seiner Treue dem Menschen Güte, und als Teil der Erwiderung dieser Güte ist der Mensch imstande, sowohl Gott als seinen Mitmenschen Treue zu zeigen. 3. Thomas

von Aquino und die katholische

Auffassung

Nach -»Thomas von Aquino ist Treue als Erwiderung auf gezeigtes Vertrauen, z. B. durch Einhalten der Schweigepflicht, eine Forderung des natürlichen Gesetzes (servare fidem est de jure naturali; S.th. II-II,70,1). Die fidelitas beinhalte das Halten von Versprechen an andere (promissio; ebd. 88,3). Zum natürlichen Gesetz gehören auch die sich aus der Treue gegen Gott ergebenden Verpflichtungen. Die Gott erwiesene Treue

58

Treue

ist die Erwiderung des Menschen auf dessen Souveränität und Wohltaten (ebd.). Parallel zur zwischenmenschlichen Treue des Versprechens gibt es daher eine auf Gott bezogene Treue des Haltens der religiösen Gelübde (vota). Thomas rechnet im Anschluß an -•Augustin die Treue (fides) als eines der drei in der -»Ehe enthaltenen Güter. Als -»Sakrament symbolisiert die Ehe die Vereinigung Christi mit der Kirche. Da diese Vereinigung ohne Ende sei, müsse die Ehe unauflöslich sein. Hierin ist die den Eheleuten gebotene Treue begründet: Et hoc pertinet ad fidem, qua sibi invicem vir et uxor obligantur (Summa contra gentiles IV,78). Die Lehre der -»Römisch-katholischen Kirche hat diese klassische Auffassung der Ehe und damit die Einschätzung der ehelichen Treue beibehalten. Es hat sich jedoch die Lehre derart entwickelt, daß das Gut der Fortpflanzung und Kindererziehung nicht als dominierender Sinn der Ehe aufgefaßt wird, sondern daß die Liebe der Partner immer mehr hervorgehoben wird. Eheliche Treue ist sowohl ein Festhalten an der die Ehe ins Leben rufenden Einwilligung als auch Ausdruck der einigenden Liebe, und sie ist durch das Gut der Kinder geboten. In neueren Dokumenten wird die Treue als Ausdruck der Würde des Menschen dargestellt (Garcia de Haro). Untreue wird als Angriff gegen die Unauflösbarkeit der Ehe angesehen; sie ist eine in sich böse Handlung und hat den Charakter der Todsünde (-»Sünde). 4. Luthers Begriff der Treue In der Gotteslehre M . -»Luthers hat der Begriff Treue, zumindest implizit, einen zentralen Platz. Grundeigenschaft Gottes ist sein allmächtiger -»Wille, der sich auch als Wille zur -»Erlösung des Menschen betätigt. Im Bereich des Heils zeigt sich der persönliche Charakter der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Die Treue Gottes ist von Luther nicht so sehr von dem Phänomen des Vertrages her, sondern eher von demjenigen des Versprechens (promissio) gedacht. Aber letztendlich beruht die Beständigkeit der Treue Gottes auf der Unveränderlichkeit seines Willens. Da Luther dem Glauben des Menschen jeglichen Leistungscharakter abspricht, kann er Treue nicht als geleistete Einstellung Gott gegenüber einschätzen. In diesem religiösen Sinne ist für sie neben —»Glaube und -»Hoffnung im Grunde kein Platz. Auch als ethischen Begriff ersetzt Luther Treue durch andere Denkmodelle. Thema seiner Ethik ist weitgehend die Verwirklichung der christlichen Nächstenliebe im Bereich des „Weltlichen". Zu diesem gehört auch die Ehe, die von Luther nicht als Sakrament, wohl aber als eine der von Gott geschaffenen Ordnungen menschlicher Grundbeziehungen angesehen wird. Treue im sexuellen Sinn gehört für ihn selbstverständlich zur christlichen Ehe, da die Sündhaftigkeit der -»Sexualität nur innerhalb der Ehe eingegrenzt werden kann. Auch im Zusammenhang der anderen weltlichen Ordnungen spricht Luther kaum von Treue. Ihr entspricht jedoch etwa im Bereich des Politischen der (prinzipiell begrenzte) -»Gehorsam gegenüber der -»Obrigkeit. 5. Seren

Kierkegaard

Obwohl „Treue" im Werk S. -»Kierkegaards keine terminologisch prägnante Bedeutung hat, spielt der Begriff von der Sache her eine zentrale Rolle, theologisch, ethisch und existenziell. So ist eine der Treue entsprechende Eigenschaft Gottes die Unveränderlichkeit. Als -»Schöpfer überläßt Gott alles dem Wandel, aber selbst bleibt er unveränderlich. Auch Gottes Wille in bezug auf den einzelnen Menschen ist unveränderlich. Aufgabe des Menschen ist es, seinen Eigenwillen „absterben" zu lassen und wie ein gehorsames Kind „immer sicherer und immer seliger in dieser Unveränderlichkeit" zu ruhen (Kierkegaard, Augenblick 273). Im Kontext der Ehe ist die Treue gegenüber der Gattin unlöslich mit der Treue zu Gott und zu dem Ehestand verbunden. Die Ehe ist göttlich, nicht so sehr im Sinne einer Ordnung, sondern als Ort, wo der einzelne dem unveränderlichen Gott begegnet. Die Gottesbeziehung ermöglicht die Verwandlung des sinnlich-seelischen Eros in eine geistige Beziehung, die nur durch freien Entschluß zu-

Treue

59

stände kommt. Durch den Entschluß wird die erotisch bedingte Verliebtheit aufgehoben: die Ehe ist vom Glauben an die Unveränderlichkeit der Zärtlichkeit des Anderen gekennzeichnet. Treue in diesem Sinne bewirkt, daß die eheliche Beziehung nicht wie die bloße Verliebtheit der Zeit ausgeliefert ist. Dies zeigt sich in dem Gedenken an den verstorbenen Ehegatten als einer Treue über den Tod hinaus (ders., Stadien). Die Treue gegenüber dem Verstorbenen hat nach Kierkegaard nicht nur seinen Platz innerhalb der Ehe, sondern ist eine Gestalt christlicher Nächstenliebe überhaupt. Das Gedenken an einen Verstorbenen ist eine der größten Wohltaten, denn es kann sich hier nicht um verdeckte Eigenliebe handeln, da in diesem Fall vom anderen keine Gegenleistung zu erwarten ist. So ist „der Liebe Tun, eines Verstorbenen zu gedenken ..., ein Tun der treuesten Liebe" (ders., Der Liebe Tun 388). Die verschiedenen ethischen Aspekte des Phänomens Treue, die Kierkegaard behandelt, lassen sich als Manifestationen einer Grundproblematik verstehen: der Treue des einzelnen gegen sich selbst im Sinne des Satzes „indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat" (ders., Krankheit 134). 6. Der

Neuprotestantismus

In einer klassischen protestantischen Ethik wie derjenigen des dänischen Theologen Hans L. Martensen (1808-1884) wird der Gedanke von der göttlichen Leitung des Weltgeschehens geschichtsphilosophisch verstanden. Gegenüber -»Hegel hebt Martensen jedoch hervor, daß die bewegende Kraft der Geschichte das Wirken des persönlichen Gottes sei. Ziel dieses Wirkens sei die Erziehung des Menschengeschlechtes über einen Zustand wachsender gesellschaftlicher Emanzipation zur Vollendung im Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes). Im Zusammenhang dieses persönlichen Wirkens in der Geschichte spricht Martensen ausdrücklich Gott Treue zu: der göttliche Wille bewahre in aller Ewigkeit die Treue gegen sich selbst (Martensen §17). Martensens Ethik hat programmatisch den Charakter einer Neuformulierung der lutherischen Ethik. Allerdings führt seine positive Einschätzung von Gedankenmotiven der Moderne zu einer stärkeren Betonung menschlicher Freiheit und Selbsttätigkeit. Hiermit mag zusammenhängen, daß Treue bei Martensen eine auf Gott bezogene Grundtugend des Menschen ist. In der Tugendlehre seiner Ethik ist Treue zunächst eine Eigenschaft Christi als Vorbild für die Gläubigen (ebd. §76). Bei diesen ist Treue derjenige Aspekt der Liebe zu Gott, der die Form und Gestalt christlicher -»Tugend überhaupt ausmacht (ebd. § 104). In seiner Lehre vom Gesetz verhält sich Martensen kritisch gegen die sich in seiner Zeit zu Wort meldenden Fürsprecher der sog. „freien Liebe". Mit ihrer Kritik der traditionellen Ehe seien sie als Form des Antinomismus einzuschätzen. Als Verteidigung des Gelübdes der ehelichen Treue führt er an, daß der Sinn der Ehe nicht nur die gegenseitige Leidenschaft sei. Die Ehe sei vielmehr eine von Gott gewollte Ordnung, so daß Treue eine Verpflichtung nicht nur unter den Eheleuten, sondern auch Gott gegenüber sei (ebd. §129). In seiner politischen Ethik betrachtet Martensen Fortschrittsdenken und Konservatismus als gleichermaßen notwendige Einstellungen, wobei letztere die Denkart der Treue sei (ebd. §146). 7. Die Dialektische

Theologie

Nach E. -»Brunner ist das Gottesverhältnis im Bund begründet, weshalb es den Charakter eines „Treueverhältnisses" hat. Menschlicher Glaube ist, sich in das an den Bund geknüpfte Handeln Gottes einstellen zu lassen, und dieser Glaube ist, theologisch gesehen, das Prinzip der Ethik (Brunner 39ff.). Nun ist das Handeln Gottes, welches die Ethik begründet, in Schöpfung und Erlösung differenziert. Das Schöpfungshandeln manifestiert sich darin, daß dem Gegebenen eine Gestalt aufgeprägt ist, die jeweils eine Forderung an den einzelnen richtet. Die Gestalt hat den Charakter von Schöpfungsordnungen. Als Gemeinschaftsordnungen bilden sie den Rahmen, innerhalb derer der Mensch seinem Nächsten begegnet. Die wichtigste dieser Ordnungen ist die durch den

60

Treue

natürlichen Trieb der Sexualität konstituierte Beziehung zwischen Frau und Mann. Diese Beziehung ist der stärkste Gegenbeweis gegen den Individualismus. Jeder einzelne hat ja seine Existenz „aus der Gemeinschaft von Mann und Weib" (ebd. 195). Diese Existenzstruktur der Dreiheit von Frau, Mann und Kind ist die eine der beiden Tatsachen, die für den Status der Einehe als Schöpfungsordnung sprechen. Die andere ist die geschlechtliche Liebe, die wesensmäßig „monistisch" ist, d. h. exklusiv und bleibend. Die beiden Tatsachen drücken den Willen des Schöpfers aus, „daß Liebe ihren eigenen Sinn finde in jener Verbundenheit, die Treue heißt". Es ist die „Verantwortlichkeit der Treue" und nicht der Eros, die die Verbundenheit mit dem anderen Menschen bewirkt. Die Ehe ist somit nicht nur ein Liebesbund, sondern vor allem ein Treubund (ebd. 344). Eheliche Treue umfaßt wesensmäßig das Geschlechtsleben. Das „Böse im Geschlechtlichen" ist eben seine Abtrennung von der Dreierbeziehung. Um diesem Bösen zu wehren, ist dem Geschlechtlichen die Scham als „Hüterin an der Schwelle des Einmaligen" gesetzt. Sie kann nur dem Treuegelöbnis des Ehegatten weichen (ebd. 334). In der Theologie K. -»Barths ist Treue eine entscheidende Eigenschaft Gottes, indem sie seinen Willen kennzeichnet, zu dem Menschen in Beziehung zu treten. Die Treue Gottes dem Menschen gegenüber zeigt sich im Bund, und ihr entspricht die Forderung an den Menschen, seinerseits Gott Treue zu zeigen. Die eheliche Treue muß nach Barth in engem Zusammenhang mit diesen grundsätzlichen theologischen Aussagen verstanden werden. Sie wird in dem zur Schöpfungslehre gehörigen Teil der Ethik behandelt. Diese hat das Wort Gottes in seiner Gestalt als Gebot geltend zu machen, das immer konkret als Einzelgebot erscheint. Zusammenhängend sind die Gebote Gottes dadurch, daß der lebendige Gott einer ist und „sich selbst auch darin treu", daß sein Gebot ein einziges ist (Barth 16). Nach Barth hat schon die Schöpfung Gottes den Gnadenbund mit dem Menschen als „inneren Grund" (ebd. 43), und so kann es bei ihm keine Lehre von den Schöpfungsordnungen im üblichen Sinne geben. Gleichwohl gibt es eine Ethik des geschöpflichen Seins des Menschen. Ein grundlegender Aspekt dieses Seins ist die Begegnung zwischen menschlichem Ich und Du, in der der Mensch seine Gottebenbildlichkeit als Mitmenschlichkeit bezeugt. Der erste und exemplarische Bereich der Mitmenschlichkeit ist nun die Beziehung zwischen Mann und Frau. Der Mensch ist gerade in der geschlechtlichen Differenziertheit geschaffen und ist als solcher ein Gleichnis der Bundesbeziehung Gottes zum Menschen. In der Beziehung zwischen den Geschlechtern hat der Begriff Treue in dreierlei Weisen einen zentralen Platz. Die ,,erste[n] grundlegende[n] Treueforderung" besteht darin, „der eigenen Geschlechtlichkeit unter allen Umständen treu zu bleiben" (ebd. 170). Sowohl das Umtauschen der Geschlechtsrollen als auch die Suche nach einem neutralen Menschlichen jenseits der Geschlechter wäre eine Verletzung dieser Treueforderung. Diese Treue bedeutet weiter, daß eine bestimmte „Ordnung" im Verhältnis der Geschlechter eingehalten werden muß: der Mann muß der Frau vor- und übergeordnet sein. Diese Ordnung ist noch nicht die besondere Gestalt der Ehe, die allerdings Mitte und Telos der Geschlechterbeziehung ist und die ihre besondere Treue beinhaltet. Die Ehe beruht auf exklusiver Liebe und hat den Charakter einer gleichermaßen exklusiven Lebensgemeinschaft. Eheliche Treue ist sowohl auf die Exklusivität, auf den Charakter der „Einehe" als auch auf die lebenslängliche Dauer gerichtet. Als positive Grundbestimmung dieser Treue gilt: „Ehe als Lebensgemeinschaft ist das Sein und Verharren in der Ausrichtung eines bestimmten Mannes auf eine bestimmte Frau und umgekehrt" (ebd. 214). Weder die Liebe noch die Lebensgemeinschaft können allerdings als solche die Unbedingtheit der Treueforderung begründen. Das kann nur das Gebot des gnädigen Gottes, das eher eine Einladung ist, „in dieser menschlichen Gemeinschaftsform die Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen abzubilden, in der Wahl der Liebe sein freies, gnädiges Erwählen, im Bund der Ehe die Treue seines Bundes" (ebd. 221). Gerade die Einzigartigkeit und Einmaligkeit der Liebes- und Ehepartner sind ein Abbild der zum Bund gehörigen Gnadenwahl. Trotz seiner Betonung der Exklusivität der ehelichen Beziehung lehnt Barth nicht die Zweitehe nach dem Tod des Ehegatten ab. Hier könne man nicht von „Ausbruch aus der Treue gegen den Verstorbenen" reden (ebd. 226). 8. Neuere

protestantische

Ethik

Der amerikanische Theologe Paul Ramsey ( 1 9 1 3 - 1 9 8 8 ) sieht, weitgehend in Übereinstimmung mit Barth, menschliche Grundrelationen als Bünde des Lebens (covenatits oflife). Theologisch gedeutet sind solche Bünde konkrete Verwirklichungen des einen

Treue

61

Bundes Gottes mit den Menschen. Als solche sind sie von der sich bindenden Liebe geprägt und somit moralisch-verantwortliche Bänder zwischen Menschen (moral bonds). Ramsey macht den Begriff des Bundes gegen den dominierenden atomistischen Individualismus geltend unter Einbeziehung von moralphilosophischen Begriffen seiner Gegenwart. So faßt er christliche Ethik als „Regel-Agapismus" im Gegensatz zu einem den Individualismus bestätigenden „Handlungs-Agapismus" auf. Und er bestimmt den humanen Begriff des Bundes als institutionsartige Handlungsweise (practice). Der Begriff Treue gehört unlöslich zu den Bünden des Lebens, indem diese nicht nur punktuelles Handeln, sondern Beständigkeit fordern. Nach Ramsey besteht ein enger Zusammenhang zwischen der individualistischen Vernachlässigung der Bänder zwischen Menschen und dem Ubersehen des Zusammenhanges zwischen dem einen Augenblick und dem nächsten. Bundestreue beinhaltet demgegenüber gerade Beständigkeit sowohl in der persönlichen Beziehung als auch im zeitlichen Verlauf. Die Ehe ist nun einer der grundlegenden Bünde des Lebens. Sie fordert Treue auch im sexuellen Bereich, da sie als gegenseitigen und exklusiven Tausch des Rechtes zu Handlungen definiert werden kann, die zu einer engen Lebenseinheit tendieren (Ramsey, Deeds 17). Das christliche Verständnis der Ehe als „steadfast covenant" muß als Gegensatz zum individualistischen Begriff der Ehe als Vertrag gesehen werden. Die Forderung der ehelichen Treue kann als „rule of practice" aufgefaßt werden, ist also darin begründet, daß die Ehe als Institution eine durch Liebe geprägte wahre Form der Bünde zwischen Menschen ist. Ramsey macht den Bundesgedanken nicht nur in seiner Ehe- und Sexualethik geltend, sondern auch in der medizinischen Ethik. Auch Beziehungen wie die zwischen Patient und Arzt bzw. medizinischem Forscher betrachtet er als „covenants of life". Die grundlegende ethische Frage ist, was in diesen konkreten Relationen die Treue (faithfulness) des einen Menschen gegenüber den anderen bedeutet. Medizinethische Regeln sind als Kanons der Treue (canons of loyalty) zu verstehen. So haben etwa die seit dem Nürnberger Code (1947; vgl. Encyclopedia of Bioethics, ed. Warren T. Reich, New York, 4 [ 2 1978] 2763 f.) geltenden Bestimmungen über informierte Einwilligung {¡nformed consent) den Charakter von „canons of loyalty". Ramsey versteht Einwilligung nicht als Verwirklichung der Autonomie des einzelnen, sondern als Ausdruck einer Treue, die sowohl Patient als auch Mediziner aufgrund der gemeinsamen Aufgabe der Bekämpfung von Krankheit zeigen.

Bei dem dänischen Theologen K.E. ->L0gstrup erscheint der Begriff Treue zwar innerhalb einer sich als lutherisch verstehenden ethischen Konzeption, aber ohne ein explizites Verständnis der Ehe als Schöpfungsordnung. Legstrup sieht vielmehr die Ehe als sozialen Rahmen einer personalen Beziehung, die einerseits auf dem natürlich-biologischen Phänomen der Erotik, andererseits auf einer grundsätzlich romantisch verstandenen Liebe beruht. Nach Logstrup besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem erotischen Streben nach Erfüllung und dem der Liebe innewohnenden Wunsch nach freier Erwiderung durch den anderen Menschen als Selbst. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich ein Verlangen nach Beständigkeit und damit das ethische Phänomen der Treue. In der theologischen Ethik S. Hauerwas' hat der Begriff Treue einen Stellenwert, der mit demjenigen bei Martensen vergleichbar ist, was mit einer gewissen Übereinstimmung der beiden Entwürfe zusammenhängt. Bei beiden ist das Subjekt der Ethik der Gläubige als Teil der christlichen Gemeinschaft, beide weisen den Tugenden einen zentralen Platz innerhalb christlicher Ethik zu, und für beide ist die —»Eschatologie eine wesentliche Dimension der Ethik. Bei Hauerwas ist die Eschatologie allerdings nicht geschichtsphilosophisch dargestellt, sondern narratologisch. Christ sein heiße, sich als Teil von Gottes alles umfassender Geschichte (story) zu verstehen und infolgedessen die Tugenden der durch Gottes Geschichte konstituierten Gemeinschaft erwerben. In seiner Geschichte erweise Gott eine kontinuierliche Treue (faithfulness). Eine entscheidende Eigenschaft der Christen sei die Treue gegenüber Jesu Leben, Tod und Auferstehung. Dieses durch Treue gekennzeichnete Eingebettetsein in die Erzählung vom gottgewollten Gang

62

Tridentinum

der Welt bildet die Voraussetzung für das im engeren Sinne ethische Handeln des Christen. 9. Neue

Fragestellungen

Alle maßgeblichen theologischen Ethiker des 20. Jh. verteidigen die eheliche Treue auch im sexuellen Bereich und lehnen vor- und außereheliche Sexualität ab. So kritisiert etwa Barth Vorstellungen vom „Eheversuch" und von der „Zeitehe" von der im Verhältnis von Frau und Mann innewohnenden Tendenz auf Dauer her. Ramsey verteidigt die Auffassung der Ehe als exklusiven Bund gegen die Denkweisen der sog. sexuellen Revolution. Man muß aber feststellen, daß die tatsächliche Lebensweise der Gegenwart, auch unter Christen, in vielen Ländern nicht mehr der traditionellen christlichen Sexualund Eheethik entspricht. Es stellt sich damit die Frage, ob dem Begriff der Treue innerhalb neuer Formen der Geschlechterbeziehung ein neuer Sinn gegeben werden kann. Zur gegenwärtigen Denkweise gehört auch eine wachsende Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, auch von Seiten evangelischer Kirchen. Das Problem der Treue hat in diesem Zusammenhang einen ganz neuen Aspekt, indem männliche Homosexualität in besonderem Maße dem Risiko der HIV-Infektion ausgesetzt ist. Literatur Karl Barth, KD III/4, Zürich 1957. - Emil Brunner, Das Gebot u. die Ordnungen. Entwurf einer prot.-theol. Ethik, Zürich 1939. — Cicero, De officiis, hg. v. Carl Friedrich Wilhelm Müller, 1901 (BSGRT). - Ramón García de Haro, Matrimonio Sc famiglia nei documenti del magistero, Mailand 1989; engl.: Marriage and the Family in the Documents of the Magisterium. A Course in the Theology of Marriage, San Francisco 1993. - Stanley Hauerwas, The Peaceable Kingdom. A Primer in Christian Ethics, Notre Dame, Ind. 1983; dt.: Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christl. Ethik, Neukirchen-Vluyn 1995 (Evangelium u. Ethik 4). - Richard B. Hays, The Faith of Jesus Christ. An Investigation of the Narrative Substructure of Gal. 3 : 1 - 4 : 1 1 , Chicago 1983. Seren Kierkegaard, GW, Düsseldorf/Köln; 15. Abt. Stadien auf des Lebens Weg, 1958; 19. Abt. Der Liebe Tun. Etliche christl. Erwägungen in Form v. Reden, 1966; 24. u. 25. Abt. Die Krankheit zum Tode, 1954; 34. Abt. Der Augenblick. Aufs. u. Sehr, des letzten Streits, 1959. - Knud Ejler Logstrup, Norm og spontanitet. Etik og politik mellem teknokrati og dilettantokrati, Kopenhagen 1972; dt.: Norm u. Spontaneität. Ethik u. Politik zw. Technik u. Dilettantokratie, Tübingen 1989. - Hans L. Martensen, Die christl. Ethik. I. Allg. Theil, Gotha 1871 Berlin «1892. - Donald A. Miller, Concepts of Family Life in Modern Catholic Theology. From Vatican II through „Christifideles Laici", San Francisco 1996 (Distinguished Research Ser. 3). - Paul Ramsey, Deeds and Rules in Christian Ethics, 1965 (SJTh.OP 11) London 1983. - Ders., The Patient as Person. Explorations in Medical Ethics, New Häven, Conn. 1970.

Svend Andersen

Treuga Dei —• Frieden

Tridentinum

(1545-1563)

1. Vorgeschichte len/Literatur S. 73)

1.

2. Geschäftsordnung

3. Verlauf

4. Das Papsttum und das Konzil

(Quel-

Vorgeschichte

Der —•Konziliarismus, der meinte, die im Konzil (-> Synode) versammelte Christenheit stehe über dem Papst, war im 15. Jh. gescheitert. Das -»Papsttum, gestärkt aus diesem Kampf hervorgegangen, verbot Appellationen an ein Konzil, durch die päpstliche Entscheidungen modifiziert oder gar rückgängig gemacht werden könnten. Zwar drohten Fürsten und Theologen Rom öfter mit der Einberufung oder der Appellation an ein Generalkonzil, aber erst 1511 trat eines unter französischem Einfluß in Pisa zusammen. Geschickt parierte Julius II. und berief selbst eine Generalsynode ein (-»Late-

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ransynoden II). Als diese 1512 begann, brachen die in Pisa Versammelten ihre Arbeit ab. Der Versuch einer konziliaren Opposition schien endgültig gescheitert zu sein. Das hinderte die Universität —»Paris aber nicht, a m 27. M ä r z 1518 gegen das von - • L e o X . und -»Franz I. von Frankreich geschlossene Konkordat an ein Konzil zu appellieren. A m 28. November 1518 rief ebenfalls M . - » L u t h e r das Konzil gegen den seiner M e i n u n g nach schlecht beratenen Papst an. Er wiederholte die Appellation nochmals a m 17. November 1520, nachdem er bereits im Sommer desselben Jahres Kaiser -»Karl V. und den „Christlichen Adel deutscher N a t i o n " aufgefordert hatte, eine Z u s a m m e n k u n f t der Christenheit durchzuführen, u m zu einer R e f o r m der Kirche zu k o m men. N a c h d e m bereits in der Alten Kirche Konzile von weltlichen Obrigkeiten einberufen worden waren, hielt Luther angesichts der Notlage ein erneutes Eingreifen von Obrigkeiten f ü r legitim. Er griff auch auf die -*Gravamina nationis germanicae zurück. Zuletzt waren sie 1518 auf dem Augsburger Reichstag behandelt worden. Angesichts der in ihnen zum Ausdruck k o m m e n d e n Kritik an der römischen Kurie drohte Luthers Vorschlag zu einer Erneuerung des Konziliarismus zu führen, bei dem sich Reformvorschläge mit grundsätzlicher theologischer Kritik verbinden konnten. Karl V. hat das auf dem Wormser Reichstag 1520/21 verhindert (-»Reichstage der Reformationszeit). Aber auf der Vers a m m l u n g der Stände in N ü r n b e r g 1523 forderten diese am 5. Februar, der Papst möge im Einvernehmen mit dem Kaiser innerhalb eines Jahres ein allgemeines, freies, christliches Konzil in Deutschland einberufen. Es sollte also eine alle Länder repräsentierende, keine v o m Papst dominierte und eine dem Schriftprinzip folgende Synode sein. Auch Laien sollten Sitz und Stimme haben: Kaiser u n d Papst laden gemeinsam zu dieser Z u s a m m e n k u n f t ein; nur d a n n ist es „christlich". Ein Konzilsort in Deutschland müsse ein Ubergewicht italienischer Bischöfe verhindern, wie das erfahrungsgemäß in R o m der Fall wäre. Neben der T ü r k e n a b w e h r (-»Türkenkriege) sollte das Konzil die Luthersache und die R e f o r m der Kirche behandeln. - » H a d r i a n VI. konnte sich darauf nicht einlassen. Auch -»Clemens VII. w u ß t e die E i n b e r u f u n g eines Konzils zu verhindern, mochte es 1524 erneut von einem Nürnberger Reichstag oder auch von Karl V. gefordert werden, der es ebenfalls zur D u r c h f ü h r u n g der R e f o r m f ü r erforderlich hielt. Wegen der G e f a h r eines erneuten Konziliarismus stellte der Papst immer wieder Bedingungen, die seine Zugeständnisse zur Einberufung eines Konzils als illusorisch erwiesen. Dazu trug seine uneheliche Geburt bei, von der er dispensiert worden war, so d a ß er Kleriker hatte werden k ö n n e n . Aber w ü r d e ein Konzil das respektieren? Selbst die D r o h u n g mit einem deutschen Nationalkonzil k o n n t e Clemens VII. nicht umstimmen. Anders -»Paul III. Er machte nicht nur R e f o r m f r e u n d e wie G. -»Contarini zu Kardinälen, sondern erklärte mit Beginn seines Pontifikates, das Konzil einberufen zu wollen. D a f ü r hielt er jedoch eine Verständigung zwischen Karl V. und Franz I. f ü r erforderlich. Im F r ü h j a h r 1535 ließ Paul III. durch Sondergesandte in Deutschland, Frankreich u n d Spanien ein Konzil ankündigen. Als Versammlungsort schlug er M a n t u a , Turin, Piacenza oder Bologna vor - eine Stadt auf der Apenninhalbinsel sollte es also sein, keine in Deutschland. Franz I. lehnte zunächst ab, gab aber schließlich nach und erklärte sich mit M a n t u a einverstanden. Dorthin w u r d e das Konzil a m 2. Juni 1536 zum 23. M a i 1537 einberufen. Drei Aufgaben sollte sich die Generalversammlung widmen: 1) Verurteilung der Häresien, 2) R e f o r m der Kirche und 3) Herstellung des Friedens unter den christlichen M ä c h t e n , damit die T ü r k e n abgewehrt werden könnten. Der -»Schmalkaldische Bund lehnte die Einladung ab: Frei und christlich im bisher geforderten Sinn erschien ihm die geplante Z u s a m m e n k u n f t nicht, von einem O r t in Deutschland zu schweigen. Wichtiger war, d a ß Franz I. seine Zusage widerrief: Er fürchtete, d a ß der eigentliche Gewinner eines Konzils sein Rivale Karl V. wäre, denn eine Beseitigung der - » R e f o r m a t i o n in Deutschland m u ß t e f ü r den Kaiser M a c h t z u w a c h s bedeuten. Als der Herzog von M a n t u a der Kurie f ü r den Schutz der Konzilsväter hohe

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finanzielle Forderungen zur Bezahlung von Söldnern stellte, bestimmte Paul III. Vicenza als Konzilsort. Aber auch diese Translation brachte keine Bewegung: die päpstlichen Konzilslegaten L. —•Campeggio, Ludovico Simonetta (gest. 1568) und G. —• Aleandro blieben allein. Die Skepsis gegenüber dem Zustandekommen eines Konzils war allgemein. Am 21. Mai 1539 wurde es auf unbestimmte Zeit vertagt. Bewegung kam erst wieder in das Geschehen, als sich Paul III. und Karl V. im September 1541 in Lucca trafen. Der Kaiser empfahl als Konzilsort Trient. Für diese Stadt sprach, daß sie noch zum Heiligen Römischen Reich gehörte. Zugleich lag sie aber dem Kirchenstaat relativ nahe. Der Papst mochte sich zunächst damit nicht anfreunden, drohte dort doch ein zu großer kaiserlicher Einfluß. Er empfahl statt dessen wieder Mantua oder Ferrara oder gar Cambrai. Schließlich gab er aber nach und berief am 22. Mai 1542 das Konzil zum 1. November 1542 nach Trient ein. Im Sommer dieses Jahres brach aber ein neuer Krieg zwischen Karl V. und Franz I. aus, so daß im Januar 1543 außer den päpstlichen Legaten Pietro Paolo Parisio, G. -•Morone und R. -»Pole fast kein Bischof anwesend war. Im Mai waren es lediglich zehn Bischöfe, so daß das Konzil am 29. September 1543 suspendiert wurde. Dem Kaiser war es ernst mit einer Reform der Kirche, die nach seiner Meinung der Reformation die wichtigsten Kritikpunkte entziehen konnte. Er versprach diese Reform beim Speyrer Reichstag 1544 und wurde deswegen vom Papst am 24. August 1544 getadelt. Dennoch ließ Karl V. sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen. Im Frieden, den Franz I. mit ihm am 18. September 1544 schloß, konzedierte der französische König, daß ein Konzil in Trient, Cambrai oder Metz zusammentreten könne. Paul III. hob daraufhin am 30. November 1544 die Suspension der angesagten Generalsynode in Trient auf und setzte als deren Beginn den 15. März 1545 fest. Als Legaten ernannte er Giovanni Maria del Monte (-»•Julius III.), Marcello Cervini (1501-1555), der als Papst den Namen Marcellus II. annahm, und wieder Kardinal Pole. Der Papst stellte Truppen für einen Krieg gegen den Schmalkaldischen Bund, und der Kaiser versprach die Beschickung des Konzils nach seinem Sieg über die Protestanten. Aber seine Kriegsvorbereitungen zogen sich in die Länge. Um Zeit zu gewinnen, ließ er 1545 in Regensburg ein neues Kolloquium mit den Evangelischen durchführen. Wegen dieser Verzögerung erwogen die Konzilslegaten, das Konzil nach Rom oder nach Ferrara zu verlegen, was Karl V. im Oktober 1545 scharf ablehnte. Daraufhin befahl Paul III., die Generalsynode am 13. Dezember 1545 in Trient zu eröffnen. 2.

Geschäftsordnung

Das Konzil war „schlecht oder gar nicht vorbereitet" (Beumer 113). Dies überrascht. Denn seit zwei Jahrzehnten war über seine Notwendigkeit debattiert worden. Aber es gab z. B. keine Geschäftsordnung. Klar war nur, daß der Papst am 17. April 1545 die Bestellung von Prokuratoren ohne hinreichenden Grund abgelehnt hatte: Er wünschte, daß die Bischöfe selbst in Trient erschienen; lediglich die deutschen Bischöfe sollten Vertreter entsenden können. Klar war auch, daß eine Abstimmung nach Nationen nicht vorgesehen war, wie sie im Konzil von —»Konstanz erfolgt war. Die Frage der Stimmberechtigung war vom Papst in seiner Einladungsbulle nicht klar beantwortet worden, als er festgelegt hatte, stimmberechtigt seien die Patriarchen, Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und alle „anderen, denen durch Recht oder Privileg Sitz und Stimme auf den allgemeinen Konzilien eingeräumt worden ist". Waren damit auch Laien und weltliche Obrigkeiten gemeint? Die Legaten interpretierten dies - sicher im Sinn der römischen Kurie - gemäß den päpstlichen mittelalterlichen Generalsynoden und räumten außer den Bischöfen und Äbten nur noch den Generalministern der Bettelorden — 1562 auch dem Generaloberen der Jesuiten - Sitz und Stimme ein. Die Arbeit wurde vorbereitet in „Deputationen" oder Theologenkongregationen. Ihre Vorlagen wurden in den „Generalkongregationen" diskutiert, der Versammlung der Stimmberechtigten. War eine Einigung erzielt, dann wurde über den Text in einer

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Sessio der Konzilsväter abgestimmt. Die Abgabe der Stimme erfolgte öffentlich und mündlich. Wichtiger als dieser Geschäftsgang ist aber, daß allein die Legaten das Recht besaßen, Vorlagen einzubringen. Sie bestimmten gelegentlich auch die Diskussion so massiv, daß es zu Unmut unter den Konzilsvätern kam. Entscheidend ist, daß die päpstlichen Legaten befugt waren, das Konzil gegebenenfalls zu beenden oder an einen anderen Ort zu verlegen. Damit hatte Paul III. ihnen eine große Verantwortung, aber auch viel Macht anvertraut. Diese Vollmachten sollten verhindern, daß antirömische oder konziliare Meinungen die Übermacht gewönnen. Aber auch vor politischem Einfluß mußte man sich hüten. Es waren nämlich Gesandte weltlicher Mächte anwesend. Vor allem der Einfluß des Kaisers sollte in Trient nicht zu groß werden dürfen. Aber weder Karl V. noch sein Nachfolger -»Ferdinand I. erschienen jemals persönlich beim Konzil. Dasselbe gilt von den französischen Königen und den Päpsten. Es lag am Geschick der Konzilslegaten, wie sie angesichts der von ihnen vorgefundenen Provisorien das Einvernehmen mit den Konzilsvätern herstellten. In Angelo Massarelli (1510-1566) besaß die Generalsynode vom 1. April 1546 bis zum Ende der Sitzungen im Dezember 1563 einen umsichtigen Konzilssekretär, der unterschiedlich ausführlich protokollierte, so daß bei Voten, die in Rom nicht genehm sein würden, neben seinen absichtlich kurzen Notizen auch die Ausführungen dieser Redner (soweit erhalten) berücksichtigt werden müssen. Massarelli hat erst nach Abschluß des Konzils aufgezeichnet, wie faktisch während der Arbeit verfahren worden war. 3. Verlauf 3.1. Erste Tagungsperiode

1545-1547

(1548)

Als die Konzilslegaten am 13. Dezember 1545 die Generalsynode eröffneten, waren außer ihnen der Ortsbischof Kardinal Cristoforo Madruzzo, vier Erzbischöfe, 21 Bischöfe und fünf Ordensgeneräle anwesend - für ein ökumenisches Konzil nicht eben überzeugend. Man bemühte sich in Rom mit Erfolg um weitere Teilnehmer. Insgesamt nahmen an der ersten Tagungsperiode etwa 100 Prälaten teil, die aber nie gleichzeitig anwesend waren. Von ihnen waren etwa drei Viertel Italiener. Die Gruppe der Spanier war klein, besaß aber Einfluß, weil sie sich mit den Stimmberechtigten aus Neapel, Sizilien und Sardinien absprach. Frankreich war mit drei Bischöfen vertreten. Aus Deutschland war Weihbischof Michael Heiding aus Mainz angereist, der am 18. Mai 1545 in Trient eingetroffen war, das Konzil aber bereits am 8. Januar 1546 wieder verließ. Ihm waren Sitz und Stimme von den päpstlichen Legaten zugestanden worden, was sie den nicht-bischöflichen Prokuratoren des Erzbischofs von -»-Trier und des Bischofs von Augsburg nicht einräumten, obwohl Paul III. ihnen die Möglichkeit dazu gegeben hatte; diese durften nur beratend tätig werden. Aus der Schweiz, Ungarn und Polen sind während der ersten Tagungsperiode keine Bischöfe gekommen. Zu den Prälaten kamen etwa 100 beratende Theologen hinzu. Nach der Eröffnung wurde die Arbeit zügig aufgenommen: Welche Fragen sollten zunächst behandelt und offiziell auf die Tagesordnung des Konzils gesetzt werden? Paul III. forderte die Verurteilung der Häresie. KarlV. hielt dagegen an der Priorität der Reform fest; über die Lehre sollte erst nach Ankunft der Protestanten verhandelt werden. Am 8. Februar 1546 erklärte Del Monte, Dogmen und Reform sollten gleichzeitig besprochen werden — ein Kompromiß, der einen längeren Verfahrensstreit verhinderte. Diese Entscheidung wurde in Rom zwar getadelt, aber dann doch hingenommen. Es blieb während des gesamten Konzils dabei, daß Lehre und Erneuerung der Kirche gleichzeitig behandelt wurden. Das wurde dadurch erleichtert, daß Paul III. am 23. März 1546 erlaubt hatte, auch die Reform der römischen Kurie zu diskutieren - unbeschadet dessen, daß er sich selbst die Abstellung von Mißbräuchen dort vornahm. Die Eröffnung des Konzils wurde als erste Sessio gezählt. Die zweite Sitzung wurde am 7. Januar 1546 durchgeführt. Hier wurde ein „Beschluß über Lebensweise und an-

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deres, was beim Konzil zu beobachten ist" gefaßt. Bereits hier mußte eine wichtige Weichenstellung vorgenommen werden. Einige Konzilsväter beantragten nämlich, das Konzil solle sich als universalem Ecclesiam repraesentans bezeichnen. Aber das klang den Legaten zu konziliaristisch: Konnte diese Synode sich als „die gesamte Kirche repräsentierend" bezeichnen, obwohl der Papst nicht anwesend war? Sie setzten es mit Zustimmung der Mehrheit durch, daß von der „hochheiligen, ökumenischen Generalsynode in Trient" gesprochen wurde, die sich „im Heiligen Geist legitim versammelt" hat, und zwar unter dem Vorsitz der drei vom Apostolischen Stuhl ernannten Legaten. So oder ähnlich wurde fortan formuliert. Rom mußte also ein Wiedererwachen des Konziliarismus in Trient nicht befürchten. In der dritten Sessio am 4. Februar 1546 machte sich die Generalsynode das —»Nicäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis zu eigen; es sollte die Grundlage bilden für die „Beseitigung der Irrlehren" und für die „Verbesserung der Sitten", den Hauptaufgaben dieses Konzils. In der vierten, am 8. April 1546 durchgeführten Sitzung wurde der Umfang der Bibel festgelegt — er entsprach dem der Vulgata (—»-Bibelübersetzungen) und umfaßte dadurch auch die deuterokanonischen Bücher des Alten Testamentes. Für die Auseinandersetzung mit der Reformation war es wesentlicher, daß auch die „ungeschriebenen Traditionen, die aus dem Mund Christi selber von den Aposteln vernommen oder von den Aposteln selbst nach Mitteilung des Heiligen Geistes gleichsam von Hand zu Hand überliefert" wurden, nicht nur akzeptiert, sondern der biblischen Überlieferung gleichwertig an die Seite gestellt wurden. Diese Traditionen (-»Tradition) betreffen den Glauben und die Sitten und sind „in der katholischen Kirche" durch „ununterbrochene Nachfolge erhalten" worden. H. Jedin meinte, es „ist kaum zu bezweifeln, daß die überwiegende Mehrheit der Väter die apostolischen Traditionen als einen die Schrift ergänzenden Offenbarungsstrom auffaßte" (HKG [J] IV, 490). Noch problematischer mußte es für zu erwartende protestantische Konzilsteilnehmer sein, daß die Bibel nur in dem Sinn auszulegen sei, den „die heilige Mutter, die Kirche", festgelegt habe. Denn das mußte sie an Luthers Hinweis auf eine der drei Mauern erinnern, durch die die römische Kurie sich zu einer uneinnehmbaren Festung zu machen versuchte (WA 6,411 f.). Zur Vorbereitung der Lehrdekrete wurden „Irrtumslisten" herangezogen, „d.h. Sammlungen von Stellen aus dem Schrifttum der Reformatoren, die teils den Schriften der katholischen Kontroverstheologen, teils in zunehmendem Maße auch den Originalschriften der Reformatoren selbst entnommen waren" (Ganzer, Konzil 53). Aber man war nicht frei im Umgang damit. Luther war ja exkommuniziert worden. Obwohl Kardinal Pole, der dritte Konzilslegat, zu einer vorbehaltlosen Prüfung des gegnerischen Schrifttums aufrief, kam diese nicht zustande. Von der fünften Sessio an wurden nicht nur Lehraussagen gemacht, sondern auch Dekrete über Reformfragen formuliert. Die Konzilsväter forderten an diesem Tag, dem 17. Juni 1546, die Ausbildung des Klerus zu verbessern. Auch sollte es den Bischöfen erlaubt sein, gegen Prediger vorzugehen, die Irrlehren verbreiten oder Ärgernis erregen, selbst wenn diese exemt sind, also etwa den Bettelorden angehören. In der Lehre widmete man sich dem Problem der Ursünde. Augustinisch geprägte Theologen wie G. —»-Seripando versuchten durchzusetzen, die Konkupiszenz als sündhaft zu bezeichnen. Das gelang aber nicht. Die Ursünde wird durch die Taufe vergeben. Was zurückbleibt, ist Begierlichkeit, die erst durch entsprechende Taten zur Sünde wird (—»Sünde VII). Das nächste Thema, dem sich das Konzil widmete, war die Frage nach der —»Rechtfertigung des Christen. Die Legaten meinten, es sei der wichtigste Artikel, mit dem sich die Generalsynode zu befassen habe. In der Tat hatten die Reformatoren dieses Problem in den Mittelpunkt von Theologie und Predigt gerückt. Das Konzil hat sich fast sieben Monate lang diesem Thema gewidmet. Zwei Entwürfe wurden von Seripando erstellt, die aber vom Präsidium so stark umgearbeitet wurden, bevor es sie zur Diskussion stellte, daß der General der Augustinereremiten seine Vorstellungen nicht wiedererkannte. Auch aus Rom wurden erbetene Gutachten überschickt. Um Zeit zu gewinnen, wurde

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eine Verlegung des Konzils nach Bologna erwogen, was die römische Kurie gerne gesehen hätte, aber sie wurde dann doch nicht vorgenommen. Die Diskussionen erwiesen sich als kompliziert. Pole forderte, die Begriffe der Gegner nicht zu meiden, wenn sie zutreffend seien, und sich der biblischen Sprache zu bedienen. Weil er sich damit nicht durchsetzen konnte, verließ er „wegen Krankheit" bereits am 28. Juni 1546 Trient und machte seinem Ärger in einem Brief vom 28. August 1546 an Morone Luft. „Am 16. Oktober 1546 wurde Pole auf eigenes Ansuchen von seiner Funktion als Legat des Konzils entbunden. Der Grund war nicht nur sein angegriffener Gesundheitszustand, wie offiziell angegeben wurde. Das entscheidende Motiv war seine Unzufriedenheit über den Fortgang der Arbeit am Rechtfertigungsdekret" (Ganzer, Konzil 59). Dieses Dekret wurde am 13. Januar 1547 einstimmig angenommen. In ihm wurde „das Unvermögen der Natur und des Gesetzes, die Menschen zu rechtfertigen", betont. Rechtfertigung ist -»-Gnade Gottes und zugleich -»Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen. Auch wurde die Bedeutung des -»Glaubens unterstrichen. Zugleich forderte man eine Vorbereitung auf die Rechtfertigung und deren Wachsen. Auch gibt es Verdienste, so daß das ewige Leben als Gnade und zugleich auch als Lohn bezeichnet wird. „Gegen die eitle Zuversicht der Irrlehrer" (Contra inanem haereticorum fiduciam) - nämlich die von ihnen vertretene Heilsgewißheit der Glaubenden - und die „vermessene Annahme der Vorherbestimmung" (Praedestinationis temerariam praesumptionem) wurde Widerspruch eingelegt. Die Rechtfertigung sola fi.de („allein durch den Glauben") wurde abgelehnt. Das Konzil versuchte, Formulierungen zu finden, die mehrheitlich zustimmungsfähig waren. Daß alle Konzilsväter das Dekret akzeptierten, mag damit zusammenhängen, daß es Interpretationen zuließ, die alle Gruppen billigen konnten. Auch ist der Wunsch nach Harmonie nach einem so langwierigen Prozeß nicht zu unterschätzen. Eine sehr schwierige Klippe mußten die Konzilsväter bei der Frage der bischöflichen Residenzpflicht umschiffen - noch während der dritten Tagungsperiode sollte sie zur Zerreißprobe werden. In dem Reformdekret, das zusammen mit dem Rechtfertigungsdekret angenommen wurde, wurde für alle Pfründen, mit denen seelsorgerliche Aufgaben verbunden sind, die Residenz der Pfründeninhaber gefordert. Wer sechs Monate lang abwesend ist, soll ein Viertel der Einkünfte verlieren und nochmals ein Viertel, wenn er ein ganzes Jahr seiner Pflicht nicht nachkommt. Gleichzeitig wird den Bischöfen ihre Visitationsaufgabe eingeschärft und ihnen verboten, in anderen Diözesen ohne Billigung des Ortsbischofs Gottesdienste zu feiern oder Weihen vorzunehmen. Bereits am 3. März 1547 konnte die siebte Sessio durchgeführt werden. Hier wurde ein neues Thema behandelt: die —»Sakramente. An sieben Sakramenten, die Christus eingesetzt habe, wurde gegen Luthers Einwände (vgl. WA 6 , 4 9 7 - 5 7 3 ) festgehalten. Auch über die -»Taufe äußerten sich die Konzilsväter und verurteilten die Wiedertaufe. Die -»Firmung wurde als bischöfliche Aufgabe bestätigt. Im Reformdekret dieses Tages wurde unerlaubte Pfründenkumulation streng verboten, das Visitationsrecht der Bischöfe erweitert und ihnen auch die Aufsicht über Hospitäler eingeschärft. Doch seit Februar 1547 brauten sich dunkle Wolken zusammen: Paul III. kündigte am 22. Januar das Bündnis mit dem Kaiser und rief seine Hilfstruppen aus Deutschland zurück - noch bevor Karl V. am 24. April 1547 den Schmalkaldischen Bund endgültig besiegt hatte. Der römischen Kurie schien der Kaiser zu mächtig zu werden. Auch unterstützte der Kaiser nicht die päpstliche Familienpolitik. Unter diesem Bruch mußte das Konzil leiden. In seiner achten Sitzung am 11. März 1547 wurde die Translation nach Bologna mehrheitlich beschlossen; Grund: Ausbruch von Flecktyphus. Aber deswegen hätte man das Konzil nicht verlegen müssen, sondern auch unterbrechen können. Die Anhänger des Kaisers blieben in Trient zurück, ohne an dieser Krankheit zu sterben. Die übrigen Prälaten und Theologen zogen in den Kirchenstaat. Dort wurde über weitere Sakramente gearbeitet und in Generalkongregationen diskutiert. Auch Re-

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formfragen wurden besprochen. Es wurde aber kein einziges Dekret verkündet - in Rom wollte man die antikaiserliche Politik nicht auf die Spitze treiben. Auf den beiden Sessionen am 21. April und am 2. Juni 1547 wurde lediglich beschlossen, die Sitzungen zu vertagen. Am 15. Januar 1548 ließ der Kaiser in Bologna und am 23. Januar 1548 in Rom Protest gegen die Konzilsverlegung einlegen. Es wurde am Kaiserhof überlegt, das Konzil von der Minderheit in Trient weiterführen zu lassen — ein „ökumenisches" Konzil ohne päpstliche Zustimmung. Daraufhin suspendierte Paul III. am 1. Februar 1548 die Bologneser Verhandlungen. Das Konzil war ein Torso geblieben. Die kaiserliche Seite akzeptierte nur die Arbeit in Trient, während nach päpstlicher Meinung das Konzil in Bologna weitergeführt worden war. 3.2. Zweite Tagungsperiode

1551/52

Am 14. November 1550 wurde in Rom die Weiterführung des Konzils in Trient beschlossen. Der neue Papst, Julius III., verwies in der Einberufungsbulle auf seine persönliche Mitarbeit als Präsident während der vorhergegangenen Tagungen. Er meinte, wegen seines Alters könne er nicht persönlich anwesend sein; das Konzil werde er aber durch seine Legaten leiten lassen. Als Ursache für die Einberufung verwies er auf die „Zerwürfnisse in unserer Religion", die in Deutschland entstanden sind, einem Land, in dem man bisher „in Ausübung der wahren Religion" und in der „Ehrfurcht gegen den obersten Hohenpriester als den Stellvertreter Christi" keinem anderen Land je nachgestanden habe. Der Papst verwies auch auf Bitten des Kaisers, daß das Konzil nach Trient zurück- und fortgeführt werde. Die Eröffnung sollte am 1. Mai 1551 vorgenommen werden. Karl V. wollte, daß auch die protestantischen Stände beim Konzil anwesend sein sollten. Diese hatten sich nach dem kaiserlichen Sieg dazu bereit erklärt, aber gefordert, daß die Leitung der Generalsynode nicht dem Papst zugestanden werden dürfe und daß die bereits getroffenen Beschlüsse über den Glauben, die etwa von Ph. —»Melanchthon oder J. -»Calvin scharf kritisiert worden waren, neu unter Zugrundelegung des Schriftprinzips diskutiert werden müßten. Gesandte — Juristen und Theologen — aus den Kurfürstentümern Brandenburg und Sachsen, dem Herzogtum Württemberg und der Reichsstadt Straßburg machten sich auf den Weg. In Sachsen und Württemberg hatte man sich mit neuen Bekenntnissen (Confessio Saxonica und Confessio Virttembergica) auf die Gespräche vorbereitet. Auch sonst war Deutschland gut vertreten: Es erschienen die drei geistlichen Kurfürsten, zehn Bischöfe aus Deutschland und der Schweiz und die deutschen Theologen J. -»Gropper, Eberhard Billick (1499/1500-1557) und Ambrosius Pelargus (1493—1561). Auch Spanier waren gut vertreten, während Franzosen nicht erschienen. Die Teilnahme von Italienern mußte von der päpstlichen Kurie finanziell gefördert werden. Termingemäß wurde das Konzil von dem Präsidenten Kardinal Marcello Crescenzio (1500—1552) und seinen Mitpräsidenten Bischof Sebastiano Pighino und Bischof Luigi Lippomani (1500-1559) am 1. Mai 1551 eröffnet (elfte Sessio). Die Hauptlast lag auf den Schultern des Präsidenten. Von der Hierarchie her gesehen, war das Präsidium schwächer besetzt als 1545-1548. Festgelegt wurde bei der Eröffnung lediglich, daß die nächste Sitzung am 1. September 1551 durchgeführt werden solle. Beschlossen wurde an diesem Tag aber nur, in der nächsten, der dreizehnten Sitzung am 11. Oktober 1551, ein Dekret über die Eucharistie zu publizieren und Fragen der Reform zu behandeln. In dieser Sessio vom 11. Oktober wurde die Realpräsenz Jesu Christi in der Eucharistie festgestellt und die Transsubstantiation der Elemente als sehr geeignet für die Interpretation der Wesensverwandlung bezeichnet. Verurteilt wurde die Lehre, Christus sei nur beim Empfang des -»Abendmahls gegenwärtig. Im Reformdekret ging es um die Aufsicht der Bischöfe über die Sitten ihrer Untergebenen und um Prozeßverfahren. Kommt es zu Rechtsverfahren gegen Bischöfe, wenn diese abgesetzt oder ihnen ihr Amt entzogen

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werden soll, dann soll dies vom Papst entschieden werden. Einige Abschnitte über die Eucharistie wurden vertagt, darunter die Frage nach der Kommunion unter beiden Gestalten. Schließlich wurde noch den Protestanten - so wurden sie bezeichnet - freies Geleit zugesichert. Diese hatten dies gewünscht. Sie verhandelten mit den kaiserlichen Botschaftern, aber nicht mit dem Präsidium des Konzils. Denn dies hätte die Anerkennung der päpstlichen Leitung bedeutet. Dazu war nur Kurbrandenburg bereit. An der Generalkongregation vom 24. Januar 1552 nahmen Gesandte Kursachsens und Württembergs teil. Aber zu einer Verständigung über die Streitfragen kam es nicht. Die Evangelischen beharrten auf einem freien, nicht vom Papst geleiteten Konzil und auf einer Wiederaufnahme der Debatte über bereits getroffene Lehrentscheidungen, während für die Konzilsväter nur die Weiterarbeit unter dem Präsidium der päpstlichen Legaten in Frage kam. Inzwischen war auch schon am 25. November 1551 in der 14. Sitzung ein Lehrdekret über -»Buße und letzte Ölung (-»Krankensalbung) verabschiedet worden. Darin wurde festgehalten, daß die Buße aus Reue (contritio), Beichte (confessio) und Genugtuung (satisfactio) bestehe. Auch wurde aufgrund göttlichen Rechtes die Beichte aller schweren Sünden gefordert, die nach der Taufe begangen wurden. Die letzte Ölung ist ein von Christus eingesetztes Sakrament, auch wenn sie erst im Jakobusbrief mitgeteilt wird (promulgatum). Sie teilt Gnade mit, tilgt Sünden und richtet die Kranken auf. Im Reformdekret geht es um das Weihe-, Ämter- und Patronatsrecht. Die Klosterkommenden - daß Dritte die Einnahmen eines Klosters zugewiesen bekommen — wurden nicht gänzlich abgeschafft. Als dies kritisiert wurde, kam es zu einer scharfen Rüge durch Kardinal Crescenzio, was Adolf von Schaumburg, Erzbischof von Köln, die Frage stellen ließ: „Ist das noch ein freies Konzil?". Spanier und Deutsche meinten, die Reform werde von den Interessierten nur halbherzig betrieben. In der 15. Sessio vom 25. Januar 1552 erhielten die Protestanten ein verbessertes freies Geleit zugesagt. Aber ein Dekret wurde nicht beschlossen, sondern die Sitzung vertagt. Denn die Rüstungen des Kurfürsten -»Moritz von Sachsen ließen den Ausbruch eines Krieges befürchten, was die deutschen geistlichen Kurfürsten zur Abreise veranlaßte. Präsident Crescenzio war schwer erkrankt. Karl V. sträubte sich gegen eine Suspension, die aber dann doch, und zwar in der 16. Sitzung vom 28. April 1552, ausgesprochen wurde. Der Plan des Kaisers, mit Hilfe eines Konzils die Einheit der Christen in Deutschland wiederherzustellen, war mißlungen. Auf dem Gebiet der Kirchenreform hatte die Generalsynode bisher kaum etwas bewirkt. Es gab nur wenige Prälaten, die von sich aus Mißstände abstellten; die großen Hemmnisse, die von der römischen Kurie ausgingen, bestanden fort. Lediglich auf dem Gebiet der Lehre waren Entscheidungen gefallen. 3.3. Dritte Tagungsperiode

1562/63

Erst -»Pius IV. berief das Konzil wieder ein. Erneut stellte sich die Frage, ob es um ein neues gehe, wie -»Ferdinand I. und Frankreich es forderten, oder um die Fortsetzung des bisherigen, wie es -»Philipp II. von Spanien wünschte. Die Berufungsbulle vom 29. November 1560 sprach von einer Aufhebung der Suspension. Auch die Einberufung nach Trient legte die Deutung nahe, daß sich Spanien durchgesetzt hatte. Doch ließ der Text auch Interpretationen im Sinne Frankreichs und des Kaisers zu. Das Konzil sollte Ostern 1561 beginnen. Zu Konzilslegaten wurden Kardinal Ercole Gonzaga (15051563), Kardinal Giacomo Puteo (der aber erkrankte und an dessen Stelle Kardinal Mark Sittich von Hohenems [gest. 1595] trat), Kardinal Seripando, Kardinal S. -»Hosius und Kardinal Ludovico Simonetta ernannt - ein gewichtiges, aber nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch wegen interner Differenzen bald in Schwierigkeiten geratendes Gremium. Gonzaga und Seripando, die ranghöchsten Legaten, hielten sich seit dem 16. April 1561 in Trient auf. Da sich aber die Mächte wegen der Zweideutigkeit des Berufungstextes zurückhielten, war noch bis zum Herbst 1561 unsicher, ob das Konzil

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zustande kommen würde. In einem Geheimbreve sicherte Pius IV. Philipp II. zu, daß das Konzil fortgesetzt werde. Dieser drängte deswegen die spanischen Bischöfe zur Abreise. Auch Ferdinand I. sicherte die Abordnung von Gesandten zu. Nur Frankreich hielt sich weiterhin zurück. Dort fand im August/September ein Religionsgespräch mit den Calvinisten statt (vgl. T R E 28,662f.), das in Rom die Befürchtung weckte, die Reformation werde sich in Frankreich durchsetzen. Um so dringlicher mußte ein Konzil erscheinen, so daß die päpstliche Kurie die italienischen Bischöfe dringlich zur Reise nach Trient mahnte. Erst am 18. Januar 1562 konnte die Generalsynode eröffnet werden. Es waren 109 Kardinäle und Bischöfe sowie je vier Äbte und Ordensgeneräle anwesend. Die nächste, die 18. Sitzung, wurde für den 26. Februar angesagt. In ihr sprach man sich aber nur gegen verderbliche Bücher aus und kündigte eine Verlautbarung über freies Geleit an, die am 4. März 1562 verkündigt wurde und die für Deutsche, aber auch für Angehörige anderer Nationen gelten sollte. Die 19. Sessio am 14. Mai 1562 und die 20. am 4. Juni 1562 verlautbarten nur Vertagungsbeschlüsse. Dies geschah, weil unter den Konzilsvätern ein heftiger Streit über die Residenzpflicht der Bischöfe entbrannt war. Fast die Hälfte sprach sich in der Generalkongregation vom 20. April 1562 für eine Anwesenheitspflicht iure divitto aus. Was aber göttlichen Rechtes ist, davon kann der Papst nicht dispensieren. Es ging diesen Konzilsvätern darum, daß die Bischöfe Seelsorger der ihnen anvertrauten Menschen sein sollten. Faktisch hätte eine Residenzpflicht iure divitto jedoch die Handlungsmöglichkeiten der Päpste stark eingeschränkt. Hatten diese doch Diözesanbischöfe zur Arbeit an der Kurie nach Rom gerufen oder sie als Nuntien in die verschiedensten Länder geschickt. Viele Bischöfe hatten sich von der Residenzpflicht dispensieren lassen, weil es sich z. B. in Rom oder Venedig angenehmer lebte als in einer kleinen Diözese. Pius IV. verstand diese Debatte als einen Angriff auf sein Amt und verbot ihre Weiterführung am 11. Mai. Er gab Gonzaga und Seripando die Schuld an der Diskussion und erwog ihre Abberufung. Simonetta stellte sich in Rom als den einzigen wahren Verteidiger der päpstlichen Rechte dar der Konflikt spaltete auch das Präsidium. Immerhin gelang es diesem am 16. Juli 1562 (21. Sessio), ein Dekret über die Kommunion unter beiden Gestalten und die Kommunion von Kindern zu erlassen. Man knüpfte an die Diskussionen während der 2. Tagungsperiode an und führte die sachliche Arbeit fort — ein Beitrag zur Kontinuität des Konzils. Inhaltlich wurde festgelegt, daß die Laien und die nicht Messe lesenden Priester nicht durch göttliches Recht verpflichtet seien, unter beiden Gestalten von Brot und Wein zu kommunizieren. Vielmehr könne die Kirche Vorschriften über die Austeilung der Elemente machen und den Laienkelch verbieten. Festgehalten wird auch, daß der ganze Christus unter jeder Gestalt gegenwärtig ist und daß die Kinder nicht zur Kommunion verpflichtet sind. In einem Nachtrag wird offengelassen, ob der Laienkelch „jemand, einer Nation oder einem Reich" gestattet werden könne. In einem längeren Reformdekret vom 16. Juli geht es um die Erteilung von Weihen, um die Errichtung neuer Pfarreien, um die jährliche Visitation aller Pfründen durch den Bischof und um den Ablaß, der ohne Entgelt eingesammelt werden soll. In der 22. Sessio am 17. September 1562 wurde die Lehre über das Meßopfer formuliert: Das von Christus gefeierte Abendmahl ist ein Sühneopfer, das im Meßopfer vergegenwärtigt wird. Es gilt Lebenden und Verstorbenen und wird von Christus selbst dargebracht. Die Privatmesse bleibt erlaubt; der Gebrauch der Volkssprache wird nicht für angebracht gehalten. Im Reformdekret blieb man wieder sehr allgemein und berücksichtigte die von weltlichen Obrigkeiten benannten Mißstände fast nicht, so daß nahezu alle Botschafter am 16. September 1562 gegen das am folgenden Tag zu erwartende Reformdekret und gegen die bisherige Behandlung der Reformen Protest einlegten. Die Bitte um Gewährung des Laienkelches, geäußert von Ferdinand I. und dem bayerischen Herzog, wagte das Konzil nicht zu entscheiden. Es überließ diese Frage

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dem Papst - eine konziliare Chance war vertan, aber auch ein Konflikt mit Rom vermieden. Die nächste Sitzung wurde erst am 15. Juli 1563 durchgeführt, also zehn Monate später. Inzwischen hatte das Konzil seine tiefste Krise erlebt, die es näher an das Scheitern als an ein erfolgreiches Ende brachte. Am 13. November 1562 waren Kardinal Charles Guise und 13 französische Bischöfe in Trient eingetroffen. Guise griff sofort in die Debatte über die Residenzpflicht ein und wurde zum wichtigsten Sprecher der Episkopalisten. Je stärker diese die Verpflichtungen des Bischofs betonten, desto mehr bemühten sich ihre Gegner, die Papalisten, um eine Berücksichtigung der päpstlichen Rechte. Kompromisse schienen ausgeschlossen, das Konzil war paralysiert. Da starben Gonzaga (am 2. März 1563) und Seripando (am 17. März 1563). Pius ernannte nur einen einzigen neuen Legaten, nämlich Morone. Dieser entmachtete Simonetta, gewann Guise und setzte einen Kompromiß durch, der Verständigung und sinnvolle Weiterarbeit ermöglichte. In der 23. Sessio (15. Juli 1563) wurde zunächst die Lehre über das Sakrament der Priesterweihe definiert: Das Priesteramt ist von Christus eingesetzt worden; die - wie man meinte - protestantischen Auffassungen vom Bischofsamt wurden anathematisiert. Eine Stellungnahme zum Primat des Papstes wurde vermieden. Im Reformdekret wurde eine klarere Sprache als bisher geführt, damit Seelsorge wirklich geleistet werde. Das für den Erhalt höherer Weihen erforderliche Alter wurde festgelegt; das Recht, Beichte abzunehmen, bleibt denen vorbehalten, die dazu von ihrem Bischof die Vollmacht erhalten. Vor allem wurde die Errichtung eines Priesterseminars in jeder Diözese vorgeschrieben, vor allem für Arme, die hier ausgebildet werden sollen. In größeren Bistümern können auch mehrere Seminare eingerichtet werden — ein Beschluß mit erheblichen Folgewirkungen. In der 24. Sitzung am 11. November 1563 wurde die -»Ehe als Sakrament definiert und ihre Unauflöslichkeit festgestellt. Auch habe die Kirche das Recht, Ehehindernisse zu benennen. Im Reformdekret Tametsi wurde die öffentliche Eheschließung vor einem Priester und zwei bis drei Zeugen gefordert; nur dann ist eine Ehe gültig. Außerdem wurden jährliche Diözesansynoden angeordnet sowie alle drei Jahre Provinzialsynoden für die Erzbistümer. Auch wurden die Befugnisse des Bischofs gegenüber Exemten erweitert, wenn es um seelsorgerliche Belange ging — erst jetzt wurden die Reformfragen nachdrücklich angegangen. Die letzte, 25. Sessio stand unter erheblichem Zeitdruck. Nachrichten von einer Erkrankung des Papstes führten zu einer Vorverlegung des Sitzungstermins, denn Morone hätte das Konzil abbrechen müssen, wenn der Papst gestorben wäre. Er wollte es rasch zu Ende führen, was auf Zustimmung der Prälaten traf. In der zweitägigen Sessio am 3. und 4. Dezember 1563 wurden behandelt: das -•Fegfeuer, die Verehrung der —»Heiligen, ihrer -»Reliquien und ihrer —>Bilder sowie der Ablaß, also zwischen Rom und der Reformation strittige Themen. Daß die bisherige Linie fortgesetzt wurde, nämlich Beibehaltung der Tradition bei einigen Korrekturen, ist nach dem Verlauf des Konzils verständlich. Ein eigenes, 22 Kapitel umfassendes Dekret über „Ordensleute und Klosterfrauen" kam hinzu. Schon hier ging es um Reform, aber natürlich auch im letzten Reformdekret dieser Synode, in dem nochmals die Pflichten der Kardinäle und Bischöfe eingeschärft werden; aber auch der Zweikampf wird angesprochen, der streng verboten wird. Im letzten, 21. Kapitel dieser Verlautbarung wurde festgestellt, daß alle Reformbeschlüsse dieses Konzils die Vollmacht des Papstes nicht antasten. Die bereits begonnenen Arbeiten über einen Index „verdächtiger oder gefährlicher" Bücher konnten genauso wenig zu einem Abschluß gebracht werden wie die über einen -•Katechismus, das Meßbuch und das Brevier. Die Konzilsväter beschlossen, „alles von ihnen zustande Gebrachte dem heiligsten römischen Papste" zu übergeben, „damit es durch dessen Urteil und Obergewalt vollendet und verkündet werde." Sie verwiesen auch darauf, daß sie sich bemüht hätten, „die hauptsächlichsten Irrtümer der Ketzer unserer Zeit" zu verurteilen und gleichzeitig „die wahre und katholische Lehre" auf-

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zustellen. Sollten noch weitere Erklärungen oder Entscheidungen erforderlich sein, dann möge sie der Papst treffen, oder er möge auch ein neues Konzil einberufen, „wenn er es für notwendig hält". Den Abschluß bildete die Verlesung und nochmalige Annahme sämtlicher Lehr- und Reformdekrete der drei Tagungsperioden, die dem Papst zur Bestätigung vorgelegt wurden. Sechs Kardinäle, drei Patriarchen, 25 Erzbischöfe, 169 Bischöfe, sieben Äbte und sieben Ordensgeneräle unterschrieben. 4. Das Papsttum und das Konzil Das Konzil hat die römische Kurie viel Geld gekostet: Die Legaten erhielten eine recht hohe Aufwandsentschädigung, die aber nicht immer genügte, so daß sie auch auf eigene Einkünfte zurückgreifen mußten. Die Konzilsbeamten mußten bezahlt werden. Arme Bischöfe erhielten Unterstützungen, damit sie den teuren Konzilsort nicht rasch wieder verließen, so daß ein „auf den Papst gemüntzer Spottvers" lautete: Quos precibus duxit, nunc pretio retinet (die er durch Bitten herbeigeholt hat, hält er jetzt durch Geld fest). „Die Mehrzahl der italienischen Bischöfe" erhielt Zahlungen. „Der Verdacht, daß die Unterstützungen nach der Gesinnungstüchtigkeit höher oder niedriger bemessen wurden, ist aufgrund der vorliegenden Unterlagen nicht vollständig zu widerlegen" (Jedin, Geschichte TV/2, 191 f.). Immerhin waren dadurch mehr Prälaten in Trient anwesend - und daß sie normalerweise die päpstliche Linie befolgten, konnte aus der Sicht Roms nicht schaden. Aber wichtiger war, wie man dort mit dem umging, was auf dem Konzil beschlossen worden war. An der Kurie gab es starke Widerstände, waren doch nun Reformfragen anhängig. Aber Pius IV. trat für die Anerkennung aller in Trient gefaßten Beschlüsse ein und setzte sich durch. Erst am 30. Juni 1564 wurde die Bestätigung schriftlich formuliert. Die entsprechende Bulle (Benedictus Deus) wurde auf den 26. Januar 1564 zurückdatiert. Um konziliare Neigungen im Keim zu ersticken, behielt sich der Papst die Interpretation der Dekrete vor und übertrug am 2. August 1564 deren Durchführung einer Kardinalsdeputation. Das waren entscheidende Maßnahmen. Denn bis jetzt waren die konziliaren Beschlüsse Papier geblieben. Besonders für die Reform bedurfte es aber einschneidender Eingriffe. Nicht nur weitere Päpste wie -»Pius V., sondern auch einzelne Prälaten wie C. —• Borromeo setzten sich mit Erfolg für Reformen ein. Die Reform der römischen Kurie wurde bereits von Pius IV. eingeleitet und erreichte mit einer Neuordnung unter -»Sixtus V. einen Höhepunkt. Allerdings gab es auch viel Widerstand gegen Reformen. Die Einrichtung von Priesterseminaren z. B. zögerte sich in vielen Diözesen wegen der dafür erforderlichen Finanzen erheblich hinaus. Auch wurden Pfründenkumulationen nicht immer verboten. In manchen Fällen waren sie sogar hoch erwünscht, wenn dadurch etwa in deutschen geistlichen Fürstentümern deren Existenz gesichert erschien, weil sie von Angehörigen des Hochadels eingenommen wurden (z.B. -»Köln 1/2.). Zur Vereinheitlichung der Lehre trug die -tProfessio fidei Tridentina bei, die von allen Klerikern und kirchlichen Lehrern vor der Annahme ihrer Ämter geleistet werden mußte. Der von den Konzilsvätern gewünschte Katechismus erschien 1566 (—*Catechisrnus Romanus). Die während des Konzils geleisteten Arbeiten an einem Index verbotener Bücher wurden bereits 1564 in Rom in einer Bulle publiziert (-»Zensur). Auch die Bemühungen um ein neues Meßbuch (-»Agende) und ein neues Brevier (-»Pius V.; -»Stundengebet) zeitigten Ergebnisse. Die Päpste führten also alle Arbeiten zu Ende, die ihnen von den Konzilsvätern überlassen worden waren. Das trug zur Zentralisierung und zur Stärkung des Papstamtes bei. Mit der Ablehnung der reformatorischen Theologie, die man nicht zu integrieren verstand, wurde das Gebiet enger, das als römisch-katholisch definiert worden war. Damit hat auch diese Kirche zum „Prozeß der Konfessionalisierung des Christentums" einen wesentlichen Beitrag geleistet (Müller, Tridentinum 1016). Das ursprünglich in Rom gefürchtete Konzil stärkte die römisch-katholische Kirche und das Papsttum, dem es gelungen war, sich als Entscheidungs- und Ausführungsorgan durchzusetzen.

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Aktuell wurden die Lehrdekrete des Tridentinums seit 1980. 1981 wurde beschlossen zu prüfen, ob die gegenseitigen Verwerfungen des 16. Jh. noch heute kirchentrennend sind. Dem wurde in bezug auf Rechtfertigung, Sakramente und - » A m t nachgegangen. Das Ergebnis, daß die Verdammungsurteile nicht aufrecht erhalten werden müssen, wenn die jeweiligen Entscheidungen in ihrer Intention und unter Berücksichtigung des wirklich Gemeinten interpretiert werden, war und ist auf katholischer wie evangelischer Seite umstritten. Am weitesten einigten sich der -»Lutherische Weltbund und die römischkatholische Kirche im Verständnis der Rechtfertigungslehre. Auch dies ist heftig kritisiert worden. Es zeigt sich, daß die Texte des Konzils von Trient nach wie vor entscheidend wichtig sind, nicht nur für diejenige Kirche, die dieses Konzil als das 19. „ökumenische Konzil" zählt, sondern auch für die übrige Christenheit. Quellen Cánones et decreta sacrosancti oecumenici et generalis Concilii Tridentini sub Paulo III, Julio III, Pió IV, Pontificibus maximis, Rom 1564; viele Nachdr., z.B.: Aemilius Ludovicus Richter, Leipzig 1853; COD 3 1973, 660-799; der lat. Text mit dt. Übers, zuletzt bei Josef Wohlmuth (Hg.), Dekrete der ökum. Konzilien. III. Konzilien der Neuzeit, Paderborn 2001; der lat. Text mit engl. Übers, bei H.J. Schroeder, St. Louis/London 1941. - Umfassend: CT 1 - 1 3 / 2 , 1901-2001 (jetzt vollst.). - Hubert Jedin, Krisis u. Wendepunkt des Trienter Konzils (1562/63), Würzburg 1941. Jesus Olazarán, Documentos inéditos Tridentinos sobre la justificación, Madrid 1957. - Josef Susta, Die röm. Kurie u. das Konzil v. Trient unter Pius IV., 4 Bde., Wien 1904-1914. Literatur Allgemein: Giuseppe Alberigo, I Cataloghi a stampa dei partecipanti al Concilio di Trento editi durante il medesimo: RSCI 11 (1956) 345 - 3 7 3 ; 12 (1957) 49 - 64. - Concilium Tridentinum, hg. v. Remigius Bäumer, 1979 (WdF 313). — Klaus Ganzer, Kirche auf dem Weg durch die Zeit, 1997 (RGST.S 4). - Ders., Gesamtkirche u. Ortskirche auf dem Konzil v. Trient: RQ 95 (2000) 167-178. - Ders., Art. Trient. 3. Konzil: LThK 3 10 (2001) 2 2 5 - 232. - Ders., Hubert Jedin u. das Konzil v. Trient: Heribert Smolinsky (Hg.), Die Erforschung der KG. Leben, Werk u. Bedeutung v. Hubert Jedin (1900-1980), 2001 (KLK 61) 103-116. - II concilio di Trento e il moderno, hg. v. Paolo Prodi/Wolfgang Reinhard, 1996 (AISIG.Q 45). - II Concilio di Trento nella prospettiva del terzo millennio, hg. v. Giuseppe Alberigo/Iginio Rogger, Brescia 1997 (Collana „Religione e Cultura" 10). - Hubert Jedin, Das Konzil v. Trient. Ein Überblick über die Erforschung seiner Gesch., Rom 1948. - Ders., Gesch. des Konzils v. Trient, Freiburg i.Br., I 1949 2 1951 II 1957 21978 III 1970 IV 1975 (Lit.). - Ders., Kirche des Glaubens - Kirche der Gesch., 2 Bde., Freiburg i.Br. 1966. - Ders., Ursprung u. Durchbruch der Kath. Reform bis 1563: HKG(J), IV 1967, 449-520. - Ders., Das Papsttum u. die Durchführung des Tridentinums (1565-1605): ebd. 521-560. - Die kath. Konfessionalisierung, hg. v. Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling, 1995 (SVRG 198). - Das Konzil v. Trient im ökum. Gespräch, hg. v. der Kath. Akademie Hamburg, 1996 (PKAH 15). Gottfried Maron, Das Schicksal der kath. Reform im 16. Jh.: ZKG 88 (1977) 218 - 229 = ders., Die ganze Christenheit auf Erden, Göttingen 1993, 123-135. - Ders., Das Konzil v. Trient in ev. Sicht: MdKI 46 (1995) 107-114. - Nelson H. Minnich, The Changing Status of the Theologians in the General Councils of the West. Pisa (1409) to Trent (1545-63): AHC 30 (1998) 196-229. Gerhard Müller, Art. Tridentinum: RGG 3 6 (1962) 1012-1017. - Ders., Das Konzil von Trient: ZW 34 (1963) 740-750 = ders., Causa Reformationis, Gütersloh 1989, 304-314. - Ders., Luthers Lehre im Urteil der röm.-kath. Kirche: Luther - zw. den Zeiten, hg. v. Christoph Markschies/ Michael Trowitzsch, Tübingen 1999, 87-105. - Kurt Dietrich Schmidt, Die kath. Reform u. die Gegenreformation, 1975 (KIG 3 Lfg. L/l). - Marek Sygut, Natura e origine della potestá dei vescovi nel Concilio di Trento e nella dottrina successiva (1545-1869), Rom 1998 (Collana Tesi Gregoriana. Ser. Diritto Canonico 30). - Alain Talion, La France et le Concile de Trente (15181563), Rom 1997 (BEFAR 295) (Lit.). - WKT. - Emst Walter Zeeden, Konfessionsbildung, 1985 (SMAFN 15). Zu 1.: Ernst Bizer, Die Wittenberger Theologen u. das Konzil 1537: ARG 47 (1956) 77-101. - Ekkehard Mühlenberg, Scriptura non est autentica sine authoritate ecclesiae (Johannes Eck). Vorstellungen v. der Entstehung des Kanons in der Kontroverse um das reformatorische Schriftprinzip: ZThK 97 (2000) 183 - 209. - Gerhard Müller, Die röm. Kurie u. die Reformation (15231534), 1969 (QFRG 38). - Ders., Zur Vorgesch. des Tridentinums. Karl V. u. das Konzil während des Pontifikates Clemens' VII.: ZKG 74 (1963) 83-108 = ders., Causa (s.o. Allg.) 315-353. - Eike

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Trier I. Kurfürstentum 1/1. Mittelalter 1/2. Von der Reformation bis 1803 II. Universität

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I. Kurfürstentum 1/1. Mittelalter (Quellen/Literatur S. 79)

Die Anfänge der weltlichen Herrschaft Trierer Bischöfe liegen im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter. Im 6. Jh. führte Nicetius (525/26-566) in der Stadt Trier und deren Einzugsbereich ein Bischofsregiment spätantiken Typs, das u.a. in der Errichtung einer großen Befestigungsanlage („Nicetiusburg") bei Neumagen zu fassen ist. Strukturell davon zu trennen ist die Bischofsherrschaft (früh-)mittelalterlicher Ausprägung, die - nach der nur vorübergehenden Existenz einer Grafschaft im Trierer Raum im frühen 7. J h . - insbesondere die Trierer „Bischofsdynastie" (Basin [gest. 705], Liutwin [gest. 722/723], Milo [gest. 761/762]) von der zweiten Hälfte des 7. bis in die zweite Hälfte des 8. J h . ausübte. -»Karl der Große zerschlug um 772 den „Trierer Bischofsstaat" und setzte eine Grafschaft an dessen Stelle. Gleichzeitig erhielt die Trierer Kirche, vielleicht in Anknüpfung an nicht überlieferte merowingische Privilegien, die Immunität, die 816 von Ludwig dem Frommen (813/814-840) in erweitertem Umfang bestätigt wurde. Am Ende des 9. Jh., als Trier unter Erzbischof Ratbod (885-915) das politische Zentrum des kurzlebigen lotharingischen Sonderreiches war, wurde im Rahmen des sich ausbildenden Reichskirchensystems eine neue, für die spätere Trierer Territorialbildung grundlegende Entwicklung eingeleitet: Zwischen 897 und 902 erreichte Ratbod von den Königen Zwentibold ( 8 9 5 - 9 0 0 ) und Ludwig dem Kind ( 9 0 0 - 9 1 1 ) die Restitution der von Karl dem Großen entzogenen Rechte und Einkünfte sowie die Ausstattung der Trierer Kirche mit wichtigen Privilegien: Aus der bis dahin einheitlichen Grafschaft in Trier- und Bidgau wurde der Stadt und Umland umfassende Trierer Comitat herausgelöst und in wesentlichen Teilen dem Erzbischof übertragen, der damit in Trier die Stadtherrschaft einschließlich der Gerichtsbarkeit innehatte, über Münze, Zoll und wohl auch Markt verfügte und schließlich auch im Gebiet der Trierer Grafschaft wichtige fiskalische Rechte besaß. Das umstrittene Immunitätsprivileg —»Ottos I. von 947 markierte einen vorläufigen Abschluß der Verdrängung der Grafengewalt, indem es die familia der Trierer Kirche der alleinigen Gewalt des Erzbischofs unterstellte. Im Vergleich mit ähnlichen Prozessen in den anderen rheinischen Bischofsstädten steht Trier zeitlich an der Spitze und war vielleicht vorbildgebend. Gleiches gilt für die Ausstattung mit königlichen Forstbannprivilegien, deren territorialbildende Wirkung die Forschung betont hat: 897 erlangte Erzbischof Ratbod einen großen Bannforst auf dem Hunsrück (Dhron, Idar, obere Nahe, Straße Losheim-Zerf-Trier), dessen Bereich indes 949 wohl aufgrund von Widerständen des ansässigen Adels nach Westen verschoben werden mußte. Mit dem Übergang der reichen Abtei St. Maximin 934 in den Besitz des Königs ging auch deren im Privileg von 897 mitinbegriffener Waldbesitz verloren. Nördlich der Mosel stieß das Trierer Erzstift ebenfalls auf Widerstände: Erzbischof Theoderich ( 9 6 4 - 9 7 7 ) erhielt 973 einen großen Forst in der Eifel zwischen Lieser, Mosel, Sauer und der Linie EchternachKyllburg-Manderscheid; auch dieses Gebiet konnten die Erzbischöfe allerdings nur in stark verkleinertem Umfang (Linie Quintbach, Kordel, Olk, Sauer, Mosel) in einem Raum behaupten, der kaum Möglichkeiten zum Landesausbau bot. Traditionell war das Trierer Erzstift von seinen geistigen Beziehungen wie auch von der Besitzlage her nach Westen ausgerichtet; eine folgenreiche Umorientierung trat um

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die Jahrtausendwende ein, als zwei Momente zusammentrafen, die wohl in kausalem Zusammenhang stehen: Zum einen beschnitt insbesondere der Aufstieg der Grafen von Luxemburg im 10. Jh. die Trierer Möglichkeiten im Westen trotz königlicher Förderung immer deutlicher. Die Luxemburger führten zwischen Trier und Metz, im Bidgau und an der mittleren Mosel eine energische Erwerbspolitik und betrieben systematisch die Besetzung der umliegenden Bischofsstühle. In der „Moselfehde" (1008-1017) scheiterte zwar am Widerstand König -•Heinrichs II. der Griff seines Schwagers Adalbero von Luxemburg nach dem Trierer Erzstuhl und damit dessen Eingliederung in den luxemburgischen Machtkomplex, doch ist noch das gesamte 11. Jh. von Auseinandersetzungen zwischen Trier und Luxemburg geprägt. Zum anderen entstand mit der Schenkung des Fiskus Koblenz 1018 (mit Münze, Zoll und Stift St. Florin und wohl auch der Grundherrschaft Humbach-Montabaur) und der Übertragung der Grafschaft Marienfels im Einrichgau 1031 an Erzbischof Poppo (1016-1047) ein neuer Besitzschwerpunkt Triers am Mittelrhein und im Westerwald. Der mittelrheinische Raum lag, wie nicht zuletzt die Ausdehnung des Trierer Diözesansprengels zeigt, schon seit der Spätantike im Interessengebiet der Trierer (Erz-)Bischöfe, hatte aber bis dahin eine nachgeordnete Rolle gespielt. Die sich aus dieser Konstellation ergebende territorialpolitische Aufgabe, entlang der Mosel eine Landbrücke zwischen beiden Besitzschwerpunkten zu schaffen, konnten die Erzbischöfe freilich erst Jahrhunderte später erfüllen. Bis zum frühen 12. Jh. läßt sich eine systematische Trierer Erwerbspolitik kaum erkennen, vielmehr sind trotz mühsamer Behauptungsversuche Verluste und Entfremdungen - so z. B. der Verlust der Grafschaft Marienfels an die Grafen von Arnstein — unübersehbar. Man hat für die - nicht allein durch die nachlassende Wirksamkeit königlichen Schutzes erklärbare — Erosion der weltlichen Machtstellung der Trierer Erzbischöfe strukturelle Ursachen wie die kontinuierliche Besetzung des Erzstuhles durch das Königtum mit Landfremden ohne familiären Rückhalt im Raum ermittelt und auf das im Vergleich zu -»Köln und -»-Mainz festzustellende Trierer Unvermögen zur Adaption zeitgemäßer Herrschaftsformen hingewiesen, das etwa die Stiftsministerialität als selbstbewußten Widerpart statt als verläßliche Stütze der Erzbischöfe auftreten ließ. Eine weitere mögliche, freilich im Zusammenhang noch näher zu erforschende Erklärung könnte die starke Konzentrierung der erzbischöflichen Ressourcen im späten 10. und im 11. Jh. auf die aufwendige Erneuerung der Sakraltopographie des „heiligen Trier" bieten. Vielleicht ist es bezeichnend, daß Poppo 1042 die zweifellos bedeutenden Einkünfte des Koblenzer Zolls an das neugegründete Trierer St. Simeonstift vergab, statt sie etwa für den Burgenbau zu verwenden — wobei man sich freilich vor Anachronismen in der Bewertung zu hüten hat. Zum Glücksfall für die territoriale Entwicklung des Trierer Erzstifts wurde der Pontiflkat des Lothringers Albero von Montreuil (1131—1152). Als erster Trierer Erzbischof erkannte er den Aufbau einer — nicht mehr in erster Linie auf das Königtum gestützten — weltlichen Herrschaft als zentrale Aufgabe, die sich für die Reichskirche aus den gewandelten Bedingungen nach dem —•Investiturstreit ergab. Von Fortune begünstigt betrieb Albero erfolgreich eine zielstrebige Territorialpolitik. Er entzog die erzstiftischen Einkünfte der weitgehenden Verfügung des Trierer Burggrafen Ludwig von der Brücke und stellte die Finanzen des Erzstifts trotz hoher Aufwendungen für die zum Teil langwierigen Fehden auf eine neue, sichere Basis. An der mittleren Mosel gelang ihm mit der Eroberung der Burgen Arras und Treis ein wichtiger Einbruch in die Machtstellung der rheinischen Pfalzgrafen (-»Pfalz), die nach ihrer Abdrängung aus dem kölnischen Raum in der zweiten Hälfte des 11. Jh. energisch den Aufbau eines patrimonialisierten Herrschaftskomplexes im Maifeld und an der Mittelmosel betrieben und dabei auch die - bis in die Stadt Trier hinein wirksame - Obervogtei des Erzstifts instrumentalisierten. Die luxemburgischen Positionen im Wittlicher Raum konnte Albero durch die Eroberung von Manderscheid und den Bau der Neuerburg erheblich schwächen. Sein wichtigster Erfolg war die gegen starke Widerstände behauptete Übertragung des reichen

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Königsklosters St. Maximin 1139 durch König Konrad III. (1138-1152), der seine Wahl wesentlich Albero zu verdanken hatte. Der damit für Trier verbundene deutliche Zuwachs an Besitz und an Herrschaftsrechten war in dieser Phase um so wichtiger, als er auf Kosten der Luxemburger erfolgte, deren Stellung als Maximiner Vögte quasi obsolet wurde. Nach der schwierigen, von Fehden geprägten Phase des Bistumsschismas von 1183 bis 1189 erreichte Johann I. (1189-1212) eine nachhaltige Konsolidierung. Er erwirkte 1197/98 den pfalzgräflichen Verzicht auf die Obervogtei des Erzstifts, was neben einer erheblichen Stärkung der erzbischöflichen Stadtherrschaft in Trier u.a. zur Folge hatte, daß nach dem Wegfall ihres machtpolitischen Rückhalts auch viele kleinere Adlige ihre Vogteirechte resignierten bzw. in ein direktes Lehnsverhältnis zu Trier traten. Über den von ihm zielstrebig erweiterten Bestand des Erzstifts schuf sich Johann mit dem Liber annalium iuriutn (abgeschlossen 1215/1217) einen systematischen Überblick. Verzeichnet ist dort ein von der Saar bis in den Westerwald reichendes Konglomerat von meist punktuellen Besitzungen, Einkünften und Rechten mit Schwerpunkten im Westen um Merzig, Saarburg, Trier und Wittlich und im Osten, durch eine deutliche Lücke an der Mittelmosel getrennt, um Münstermaifeld, Koblenz und Montabaur (s. die Karte bei Burgard). Trierer Territorialpolitik war im 13. Jh. vor allem Burgenpolitik. Die Erzbischöfe Theoderich von Wied (1212-1242), Arnold von Isenburg (1242—1259) und Heinrich von Finstingen (1260-1286) vermehrten durch die Übernahme fremder und den Bau eigener Anlagen die Zahl der Landesburgen von sieben auf 19. Unter Theoderich griff die Trierer Territorialpolitik mit der Errichtung der Burg Montabaur in Humbach gegen nassauische Herrschaftsansprüche in das rechtsrheinische Erzstift aus, dessen Position mit der vormals Sayner Burg Hartenfels 1249 weiter verstärkt wurde. Arnold errichtete mit Stolzenfels die, von Ehrenbreitstein abgesehen, erste Trierer Burg am Mittelrhein. Die übrigen Anlagen sicherten die Trierer Stellung an der Mosel (Bernkastel, Marienburg bei Alf, Thurant, Koblenz), auf dem Maifeld (Mayen, Münstermaifeld) und in der westlichen Eifel (Kyllburg). Erst seit dem Ende des 13. Jh. kann man von einer erzbischöflichen Städtepolitik (1291/vor 1298 königliche Stadtrechtsprivilegien für Montabaur, Mayen, Bernkastel, Welschbillig und Wittlich) sprechen, die in der territorialpolitischen Konzeption als konsequente Fortentwicklung der Burgenpolitik gedeutet wird und mehr Reaktion auf die Städtegründungen benachbarter Herrschaftsträger als Trierer Initiative war. Die fiskalische Basis ihrer Territorialpolitik konnten die Erzbischöfe im 13. Jh. bei weitem nicht den gewachsenen Belastungen anpassen. Der durch Arnold dem Trierer Simeonstift um 1250 entzogene ertragreiche Koblenzer Zoll, zweifellos die bedeutendste Finanzquelle des Erzstifts, ging durch das unglückliche Agieren Heinrichs 1262 zu großen Teilen für mehr als vier Jahrzehnte verloren. Gleichwohl haben dieser Erzbischof und sein Nachfolger Boemund von Warsberg (1289-1299) mit dem Erwerb von Bernkastel (1280) und vor allem des Reichsguts Cochem (1294/1298) an der Mittelmosel entscheidende Erfolge zur Verbindung der beiden Besitzschwerpunkte um Trier bzw. Koblenz erzielt. Wichtigste, aber keineswegs einzige Voraussetzung dafür war die während der ersten Hälfte des 13. Jh. gelungene Verdrängung der Pfalzgrafen von der Mosel unter maßgeblicher Mitwirkung der Kölner Erzbischöfe, deren eigene territoriale Ambitionen an der Mosel Episode blieben. Doch erwuchs Trier ein neuer Konkurrent mit den Grafen von Sponheim, denen es gelang, gleichsam komplementär zu ihrem Hausbesitz rechts der mittleren Mosel 1274 links des Flusses die Reichspfandschaft Kröv zu erwerben und gegen jahrhundertelange Trierer Erwerbsbemühungen (größtenteils) zu behaupten. Den größten Schub erhielt die innere wie die äußere Entwicklung des Erzstifts unter Balduin von Luxemburg (1308-1354), dem bedeutendsten spätmittelalterlichen Trierer Erzbischof, unter dem es erstmals seit Albero reichspolitisch — neben den Königswahlen von 1308, 1314 und 1346 ist hier vor allem der Kurverein von Rhens (1338) zu nennen

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- eine führende Rolle unter den rheinischen Kurfürstentümern spielte. Sein langer Pontifikat, der den großen Einfluß deutlich werden läßt, den der persönliche Faktor in einem günstigen Umfeld haben konnte, brachte dem Erzstift insgesamt erhebliche Erweiterungen im Westrich, im Maifeld, an der Lahn und vor allem am Mittelrhein (1312 Reichspfandschaften Boppard und Oberwesel) und, eng damit verknüpft, durch die systematisch betriebene Ausschaltung bzw. Mediatisierung konkurrierender Herrschaftsträger und -gewalten eine deutliche Steigerung der erzbischöflichen Landesherrschaft. Gestützt auf herrscherliche Privilegien, die er unter geschicktem Einsatz seiner Kurstimme gezielt erwarb, erweiterte Balduin über Ankauf, Anpfändung, aber auch gewaltsam erzwungene Anerkennung seiner Ansprüche auf Lehns- und Gerichtshoheit wie keiner seiner Vorgänger und Nachfolger Umfang und Qualität der erzbischöflichen Landesherrschaft. Eine vor allem durch Rheinzölle erheblich gestärkte und von jüdischen Fachleuten kompetent verwaltete fiskalische Basis des Erzstiftes, das er in Weiterführung früherer Ansätze nach luxemburgischen Vorbild administrativ durchgliederte und mit einer konsequent schriftlichen Verwaltung versah, verschaffte Balduin die umfangreichen Mittel für seine ambitionierte, freilich auch von Rückschlägen (Sponheim, Westerwald) nicht freie Territorialpolitik. Der Luxemburger hat den Trierer „Kurstaat" nicht geschaffen, aber ihm im inneren wie im äußeren im wesentlichen die Form gegeben, die er bis zum Ende des Alten Reiches behalten sollte. Kaum weniger tatkräftig und ähnlich großräumig agierte sein zweiter Nachfolger Kuno von Falkenstein (1360/1362-1388). Das von ihm — wie von Balduin - hinterlassene große Barvermögen zeugt von Kunos außerordentlichen, auch als Administrator des Mainzer (1348-1354) und des Kölner Erzstifts (1363-1371) bewiesenen fiskalischen Fähigkeiten. Gegen die seit Anfang des 14. Jh. deutlich zu Tage tretenden Selbständigkeitsbestrebungen der Stadt Trier erreichte er 1364 hofgerichtlich die formale Anerkennung der erzbischöflichen Stadtherrschaft, ohne damit eine endgültige Lösung herbeizuführen. Nach der großen Rolle, die das erheblich gewachsene und herrschaftlich stark verdichtete Trierer Erzstift den größten Teil des 14. Jh. dank der überragenden Persönlichkeiten Balduins und Kunos in der Reichspolitik bzw. in den Rheinlanden gespielt hatte, ist seit dem Pontifikat Werners von Falkenstein (1388-1418) eine insgesamt nachlassende Bedeutung Kurtriers innerhalb des rheinischen Territorialsystems unverkennbar - ein Phänomen, das spätestens seit der zweiten Hälfte des 15. Jh. freilich auch für die Kurfürstentümer Köln und Mainz zu beobachten ist. Einen Tiefpunkt markiert das als „ M a n derscheider Fehde" bekannte Trierer Bistumsschisma 1430-1437. Der reichspolitisch umtriebige Jakob I. von Sierck (1439-1456) hat als Kanzler Friedrichs III. (1440-1493) eine Reihe von Privilegien zur Konsolidierung des Erzstifts erwirkt, doch die meisten von ihnen nicht umsetzen können; erst seinem Nachfolger Johann II. von Baden (14561503) ist gegen erhebliche Widerstände 1471 eine Realisierung der fiskalisch wichtigen Landzollerhöhungen von 1442 gelungen. Der Herrschaftsmittelpunkt Kurtriers, unter Balduin noch eindeutig die Bischofsstadt, verlagerte sich seit dem Ende des 14. Jh. in den Koblenzer Raum, der unter Johann II. und Jakob II. von Baden (1503-1511) die herausragende Bedeutung erlangte, die er in der Frühen Neuzeit als erzbischöfliche Residenz haben sollte. Deutliche, weit über die in den älteren Wahlkapitulationen verlangte Privilegienwahrung hinausgehende Ansprüche des Domkapitels auf eine Mitregierung des Erzstifts finden sich erstmals 1399 im gescheiterten Versuch, Werner wegen angeblicher Regierungsunfähigkeit einen Koadjutor beizugeben und ihn damit faktisch abzusetzen. Doch blieb dies Episode. Die Ausbildung der (weltlichen) kurtrierischen Landstände vollzog sich unter den Erfahrungen der Manderscheider Fehde gegen das für das Schisma verantwortliche Domkapitel, nicht mit ihm, wie etwa in Köln. 1456 einigten sich Grafen, Herren und Ritterschaft, Städte und Pflegen, nur einem allgemein anerkannten neugewählten Erzbischof zu huldigen, der sich zudem dem Domkapitel gegenüber nicht zum Nachteil des Landes verpflichtet haben dürfe. Der neue Erzbischof Johann II. ließ die

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Einung von Kaiser und Papst verbieten und konnte im Verein mit dem Domkapitel fast fünf Jahrzehnte die Formierung der weltlichen Stände verhindern, wobei sicher eine Rolle spielte, daß der Kurfürst dank der ertragreichen Rheinzölle und des zu Subsidien herangezogenen Pfarrklerus lange Zeit nicht auf außerordentliche Landessteuern angewiesen war. 1502 erkannte er - bezeichnenderweise im Zusammenhang mit einer ständischen Steuerbewilligung - jedoch den erneuerten, jetzt auch mit eigenen Institutionen versehenen Bund an, der sich anläßlich der Bestellung Jakobs II. zum Koadjutor formiert hatte und nun zum Ausgangspunkt der frühneuzeitlichen kurtrierischen Landstände wurde. Quellen Gesta Trevirorum integra, bearb. v. Johannes Hugo Wyttenbach/Michael Franciscus Joseph Müller, 3 Bde., Trier 1836-1839. - Gesta Treverorum (cont.), bearb. v. Georg Waitz, 1848 (MGH.SS 8) 111-260; 1879 (MGH.SS 24) 368-488. - Johann Nikolaus v. 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Friedrich Pfeiffer

1/2. Von der Reformation bis 1803 1. Reformation 2. Gegenreformation und katholische Reform 3. Der Kurstaat zwischen dem Reich und Frankreich 4. Die Aufklärung 5. Das Ende (Quellen/Literatur S. 85)

1.

Reformation

Nachdem M. -»Luther 1518 auf dem Augsburger Reichstag (-»-Reichstage der Reformationszeit) vergeblich zum Widerruf gedrängt worden war, sollte der Trierer Erzbischof und Kurfürst Richard von Greiffenklau (reg. 1511-1531) für eine Vermittlerrolle gewonnen werden. Auf dem Wormser Reichstag am 17./18. April 1521 führte der Trierer Offizial Dr. Johannes von der Eck(en) (nicht zu verwechseln mit dem Ingolstädter Luthergegner Johannes —»Eck) die Verhandlungen. Anschließend führte Richard von Greiffenklau mehrere Gespräche mit Luther. Dieser letzte Versuch, den Streit beizulegen, scheiterte. Das -»'Wormser Edikt wurde in Trier öffentlich verkündet, scheint im Kurstaat aber keine große Rolle gespielt zu haben, da es dort nur geringe Spuren einer reformatorischen Bewegung gab. Der Ritter Franz von Sickingen (1481-1523), begeisterter Anhänger Luthers, begann eine Fehde gegen den Erzbischof von Trier, angeblich um ein eigenes Fürstentum zu gewinnen und Kurfürst zu werden. Er belagerte die Stadt Trier im September 1522 vergeblich. Zur Zeit des -»Bauernkriegs 1525 gab es im Kurfürstentum Trier nur einzelne lokale Unruhen, die kein Ausdruck evangelischer Gesinnung waren, aber den Zorn über die besonderen Rechte der Geistlichen und Klöster zum Ausdruck brachten. Johann III. von Metzenhausen (reg. 1531-1540) knüpfte 1539 vergeblich Verhandlungen mit dem -»Schmalkaldischen Bund an. Beim Hagenauer Konvent 1540 war er einer der Präsidenten, und am folgenden Wormser Kolloquium (vgl. T R E 28,659,16-55) nahm der Trierer Theologe Ambrosius Pelargus (1493 -1561) teil. Johann V. von Isenburg (reg. 1547—1556) führte aufgrund der kaiserlichen Formula reformationis ecclesiasticae (1548) im selben Jahr eine Diözesansynode und 1549 ein Provinzialkonzil durch, an dem auch die lothringischen Suffraganbistümer Metz, Toul und Verdun teilnahmen, und veröffentlichte deren Reformdekrete (Decreta Concilii Provincialis Trevirensis, 1549). Infolge der Fürstenrevolution 1552 zog Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach (reg. 1541-1554) mit seinen Truppen durch das Erzbistum Trier und wurde, da Widerstand sinnlos erschien, von der Stadt Trier aufgenommen. Evangelisch gesinnte Ratsmitglieder holten auf Fürsprache J. -»Calvins im Juni 1559 K. -»Olevian in seine Vaterstadt, damit er bei der Einführung der Reformation helfe. Durch mitreißende Predigten des jungen Gelehrten wuchs rasch die Zahl der „Konfessionisten", wie die Anhänger der Augsburger Konfession genannt wurden. Kurfürst Johann VI. von der Leyen (reg. 1556—1567) belagerte seine Hauptstadt, die am 25. Oktober 1559 kapitulierte. Da der Anspruch Triers, freie Reichsstadt zu sein, nicht anerkannt war, konnte man sich nicht auf den -»Augsburger Religionsfrieden berufen. Welche Bedeutung man den Trierer Ereignissen im Reich beimaß, sieht man daran, daß bereits vier Wochen später eine 26köpfige Gesandtschaft evangelischer Fürsten in Trier eintraf. Olevian und elf weitere Gefangene konnten das Land verlassen; es folgte die Ausweisung aller Bürger, die nicht zur katholischen Konfession zurückkehren wollten.

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Bei der militärischen Einnahme von Koblenz 1562, das als Hauptstadt des Niedererzstifts mehr Freiheiten haben wollte, ist die Absicht einer kirchlichen Reform nicht nachweisbar. Die Trierer Kurfürsten haben in ihrem Territorium und auch in Gebieten mit strittigen Rechten an der Mittelmosel konsequent mit militärischer Gewalt die katholische Konfession erhalten, so im „Kröver Reich", einem Kondominat, an dem Kurtrier nur mit einem Drittel und die Grafschaft Sponheim (Pfalz-Zweibrücken und Baden) mit zwei Dritteln beteiligt waren. Das Erzbistum Trier als geistliches Gebiet war wesentlich größer als der Kurstaat und umfaßte von der Maas die Mosel entlang bis an die Lahn einen 392 km langen Streifen (s. Karte). Dadurch erstreckte sich das Erzbistum von Hessen, wo Landgraf -•Philipp von Hessen seit 1524 ein Vorkämpfer der Reformation war, bis auf das Gebiet der spanischen Niederlande, in denen die evangelische „Ketzerei" durch die Könige Karl I. (Kaiser -»Karl V.) und —•Philipp II. hart unterdrückt wurde. Im Osten und Südosten des Erzbistums konnte sich die Reformation ausbreiten (das östlich des Rheins gelegene Archidiakonat Dietkirchen ging für die katholische Kirche größtenteils verloren), während das große Archidiakonat Longuyon im Westen von der Reformation nur wenig berührt wurde. 2. Gegenreformation

und katholische

Reform

Nachdem Johann IV. von der Leyen durch energisch-gewaltsames Handeln Trier beim alten Glauben und im Kurstaat gehalten hatte, drängte er zur Durchführung von -•Katholischer Reform und Gegenreformation auf eine rasche Niederlassung der -»Jesuiten in Trier. Bereits am 20. Juni 1560 trafen die ersten Patres ein. Sie übernahmen das Gymnasium sowie die Philosophische und die Theologische Fakultät der Universität (s.u. II.). Jakob III. von Eitz (reg. 1567-1581) erwies sich als besonderer Förderer der kirchlichen Reform und der Jesuiten. Er übergab ihnen 1570 das Franziskanerkloster als Kolleg und eine reiche Dotierung (die heute einen Grundstock der Weingüter der Stiftung Friedrich-Wilhelm-Gymnasium bildet). Die Verkündigung des -»Tridentinums 1569 erfolgte im Vergleich zu anderen deutschen Bistümern früh. Die Jesuiten förderten Predigt (besonders die Dompredigt), Katechese, häufigen Sakramentenempfang und die Marienverehrung und betreuten die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Sodalitäten und Kongregationen. 1581 gab es bereits 73 Jesuiten in Trier: 20 Priester, zehn Adjutores und 43 Novizen. Durch das Noviziat, das 1606 ein großes Gebäude beziehen konnte, hatte Trier das größte Kolleg in der rheinischen Ordensprovinz. 1580 wurde ein zweites Kolleg mit Gymnasium in Koblenz zur Festigung des Katholizismus am Mittelrhein errichtet. 200 Jahre lang, bis zur Aufhebung des Ordens 1773, haben die Jesuiten das Geistesleben bestimmt. Jakob von Eitz gelangen die letzten großen territorialen Zugewinne für den Kurstaat. 1570 entschied das Reichskammergericht gegen die Reichsunmittelbarkeit der Abtei St. Maximin vor den Mauern von Trier und ihres Territoriums, die jedoch ihre Äbte bis 1669 immer wieder beanspruchten. 1576 wurde die Abtei Prüm mit ihrem großen Gebiet in der Eifel dem Kurstaat inkorporiert. Das mehrhundertjährige Emanzipationsstreben der Stadt Trier und der zwölf Jahre dauernde Prozeß um die Reichsunmittelbarkeit scheiterten, als am 18. März 1580 das Urteil Kaiser Rudolfs II. (reg. 1576-1612) erging, daß Trier dem Erzbischof und Kurfürsten unterworfen sei. Dem trug die neue Stadtverfassung („Eltziana") von 1580 Rechnung. Die Auseinandersetzungen um das Amt St. Maximin und die Stadt Trier bildeten neben jahrelangen Mißernten einen Teilaspekt bei der nach 1580 einsetzenden großen Hexenverfolgung (—•Hexen), die als „reichskhündig Exempel" die Zeitgenossen in Erstaunen setzte. Im Gebiet von St. Maximin gab es mindestens 400 Hinrichtungen. Der von tiefer Hexenfurcht geplagte Kurfürst Johann VII. von Schönenberg (reg. 1581 -1599) wurde in seinem Eifer von Weihbischof Peter Binsfeld unterstützt, dessen Tractatus de confessionibus maleficorum et sagarum (1589) als Leitfaden für die Hexenverfolgung

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im Herzogtum Bayern diente. Nach einem vorläufigen Stillstand 1596 gab es eine neue Prozeßwelle um 1630. Im Kurstaat fanden die Prozesse 1654 ihr Ende, in Kondominien erst in den 1680er Jahren. Neben den Jesuiten war der Kapuzinerorden (-> Kapuziner) die wichtigste Neugründung zur Zeit der Gegenreformation; er stand besonders im Dienst der Volksmission. 1615 wurden die Kapuziner nach Trier, 1623 nach Cochem und 1627 nach Ehrenbreitstein (Tal) geholt. Die Schriften des Martin von Cochem (1634-1712) hatten bis ins 19. Jh. starken Einfluß auf die Volksfrömmigkeit. 3. Der Kurstaat zwischen dem Reich und Frankreich Kurfürst Lothar von Metternich (reg. 1599-1623) strebte eine Staats- und Verwaltungsreform an, ebenso die Sanierung der Finanzen. 1615 begann er den Neubau der Kurfürstlichen Residenz in Trier. Im -»Dreißigjährigen Krieg überschätzte Philipp Christoph von Sötern (reg. 1623-1652), der vorher bereits Fürstbischof von Speyer war, die finanziellen und politischen Möglichkeiten des Kurstaates. Mit seiner absolutistischen Regierungsweise brachte er das Domkapitel und unter anderem die Stadt Trier gegen sich auf. Trier nahm 1630 spanische Truppen gegen den Landesherrn auf, der 1632 gegen die schwedische Bedrohung ein Schutzbündnis mit Frankreich schloß. Der Ehrenbreitstein und andere trierische Festungen sowie die Stadt Trier erhielten französische Besatzungen. 1635 eroberten spanische Truppen Trier und nahmen den Kurfürsten in Haft, der bis 1645 in Luxemburg, Linz/Donau und schließlich Wien in kaiserlichem Gewahrsam blieb. Der Kurstaat wurde vom Domkapitel regiert; die eigentlichen Herren waren die Spanier. Nach der Rückkehr von Philipp Christoph besetzte 1649 das Domkapitel den Kurstaat und nahm den Kurfürsten erneut gefangen. Karl Kaspar von der Leyen wurde 1650 zum Koadjutor des Erzbischofs gewählt und übernahm wenig später die Nachfolge (1652-1676). Die Gefahr, der Kurstaat könne dem Reich verlorengehen, war gebannt. Der Heilige Rock, die bedeutendste Reliquie des Trierer Doms, nach der Überlieferung der ungenähte Rock Christi, war zwischen 1512 und 1585 in einem zeitweise siebenjährigen Turnus ausgestellt worden. 1655 sollte die Ausstellung dem Aufbau des religiösen Lebens nach den Kriegswirren dienen und fand mit mindestens 200.000 Pilgern ein großes Echo. Die nächsten Ausstellungen erfolgten erst wieder 1810 und 1844 (vgl. TRE 8,559,50-560,22). Der Trierer Kurstaat litt nicht nur 30, sondern mehr als 100 Jahre lang bis 1737 als Aufmarschgebiet fremder Truppen unter den aufeinanderfolgenden Kriegen. Als Karl Kaspar 1672 der Allianz von Kaiser, Spanien und Holland beitrat, besetzten im Jahr darauf französische Truppen den größten Teil des Erzstifts. Zur Gewinnung eines besseren Schußfeldes zerstörten sie 1674 fast alle Klöster und Stifte außerhalb der Trierer Mauern. 1675 siegte das Reichsheer in der Schlacht an der Konzer Brücke (Saarmündung) über die Franzosen und konnte die Stadt Trier befreien. Dabei kam es zu einem Pogrom unter den Juden, an den die Trierer jüdische Gemeinde mit einem Fasttag (bis ins 20. Jh.) gedachte. 1679/80 begannen die französischen Reunionen, die das Erzstift hart trafen. Annektiert wurden Gebiete des späteren Saarlandes und mehrere Kondominate, darunter das Kröver Reich an der Mosel. Von der neuen Festung Montroyal oberhalb von Trarbach kontrollierte Frankreich das ganze Obererzstift. Im Pfälzischen Krieg (1688-1697) wurde das Erzstift systematisch verwüstet. Kurfürst Johann Hugo von Orsbeck (reg. 16761711) residierte auf dem sicheren Ehrenbreitstein. Auch im Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) war Trier die meiste Zeit von französischen Truppen besetzt. 200 Jahre nach dem letzten Trierer Erzbischof und Kurfürsten aus dem Hochadel (Jakob von Baden, gest. 1511) und nach elf Kurfürsten aus dem Niederadel wurde Karl von Lothringen (reg. 1711-1715) gewählt. Er erlangte in den Friedensschlüssen von Rastatt und Baden 1714 die Räumung Triers und des Erzstifts. Erst sein Nachfolger Franz Ludwig

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von Pfalz-Neuburg (reg. 1716-1729, mit Pfründenhäufung auch Bischof von Breslau und Worms, Hoch- und Deutschmeister, Fürstpropst von Ellwangen und Koadjutor von Mainz) konnte tatkräftig den Wiederaufbau des ruinierten Landes in Angriff nehmen. Den 1717 durch einen Brand stark beschädigten Trierer Dom ließ er barock umgestalten, die seit 1689 mit großem Schaden für Wirtschaft und Handel zerstörte Trierer Moselbrücke bis 1721 wiederherstellen. Franz Georg von Schönborn (reg. 1729-1756) ließ sich im Unterschied zu seinen drei Vorgängern wieder die Priester- und Bischofsweihe spenden, was unter den Zeitgenossen Aufsehen und Beifall erregte. Die Weiterführung der Reformpolitik wurde noch einmal durch den Polnischen Erbfolgekrieg gestört. 17341737 wurden Trier und das Oberstift von den Franzosen besetzt, während im Niederstift um Koblenz kaiserliche Truppen Quartier nahmen. Nach der endgültigen Abtretung des Herzogtums Lothringen durch das Reich an Frankreich belasteten die neue Grenzziehung und die erst 1778 geregelten Grenzbereinigungen im Saargau die Wirtschaftsentwicklung im Erzstift. Bekannt ist Franz Georg bis heute durch den Wiederaufbau der 1674 zerstörten Stiftskirche St. Paulin bei Trier unter Beratung durch Balthasar Neumann (1687-1753) als barockes Meisterwerk. Nicht nur Trier erhielt barocke Neubauten; zu nennen sind ferner Dikasterialgebäude und Marstall unterhalb der Festung Ehrenbreitstein und das (1806 abgebrochene) Lustschloß Schönbornslust bei Koblenz. Auch der Nachfolger Johann Philipp von Walderdorff (reg. 1756-1768) trat als Bauherr hervor. Er errichtete das Jagd- und Lustschloß Engers am Rhein (bei Neuwied) und den Rokokoflügel der Trierer Residenz. Dieser war aber nur eine Glanzzeit von wenigen Jahren vergönnt, da der Nachfolger, Clemens Wenzeslaus von Sachsen (reg. 1768-1801/12), seine Residenz in Koblenz bauen ließ. Mit seiner Fest- und Weinfreude (mit dem Motto „Uns wohl — und Niemandem übel"), die durch private und öffentliche Schulden nicht getrübt wurde, war Johann Philipp bei der Bevölkerung beliebt. 4. Die Aufklärung Wie im übrigen katholischen Deutschland setzte die Zeit der -»Aufklärung im Erzbistum Trier um die Mitte des 18. Jh. ein. Das erste Eindringen erfolgte unter Franz Georg von Schönborn. Nachdem der Trierer Weihbischof und Kirchenrechtler Lothar Friedrich von Nalbach (amtierend 1730-1748) die traditionellen Auffassungen vertreten hatte, war die Berufung von Johann Nikolaus von Hontheim (1701-1790; —»Febronius/ Febronianismus) 1738 als Offizial nach Koblenz in die Nähe des Kurfürsten wichtig. Dort gelangte er in Verbindung mit Geheimrat Georg von Spangenberg (gest. 1779). 1748 kam Hontheim als Weihbischof nach Trier, und es wurde der Kanonist Georg Christoph Neller (1709-1783) an die Unversität berufen. Hontheims dreibändige Historia Trevirensis diplomatica et pragmatica (1750) und der 1757 folgende zweibändige „Vorläufer" (Prodromus historiae Trevirensis) waren bedeutende Geschichtswerke. Das Amt des Weihbischofs (Suffragan) war einflußreich, weil dieser in der Zeit zwischen 1664 und 1790 zugleich Generalvikar und mit der geistlichen Verwaltung in den französischen und luxemburgischen Gebieten des Erzbistums im Westen betraut war (1784 wurde ein eigenes Generalvikariat Longwy für die terra Gallica in Frankreich errichtet). Unter Johann Philipp von Walderdorff verstärkte sich der Einfluß der Aufklärung bei gleichzeitiger Beschränkung der beherrschenden Rolle der Jesuiten an der Universität. 1763 erschien in Frankfurt am Main von Hontheim mit Beteiligung von Neller unter dem Pseudonym Justinus Febronius das Werk De statu ecclesiae et legitima potestate Romani Pontificis, in dem er dem Papst lediglich einen Ehrenvorrang vor den Bischöfen zugestand (—»Febronius/Febronianismus). 1769 einigten sich die Vertreter der drei rheinischen Erzbistümer auf 31 Gravamina, die dem Kaiser vorlegt wurden, damit unter dessen Schutz die deutsche Kirche ihre Freiheit von Rom wiedererhalten könne. Kaiser Joseph II. (reg. 1765-1790) ließ die Aktion aber im Sande verlaufen. Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Sachsen zog sich darauf von der Union der rheinischen Erzbischöfe, die auch bei den anderen (Suffragan-)Bischöfen wenig Gegenliebe gefunden

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hatte, zurück. Nach längerem Hin und Her und unter größten Bedenken unterzeichnete Hontheim 1778 den von Papst Pius VI. (1775—1799) und Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Sachsen geforderten Widerruf der Lehren von De statu ecclesiae. In dem 1781 veröffentlichten ausführlichen Kommentar seines Widerrufs (Commentarius in suam retractationem) schwächte Hontheim diesen ab und stützte sich auf die gallikanischen Sätze von 1682 (vgl. T R E 12,19,27ff.). Die Errichtung einer eigenen Nuntiatur für Bayern 1784 führte zu Protesten der Bischöfe im deutschen Reich. Vertreter der vier Erzbischöfe trafen sich im Juli/August 1786 zum Emser Kongreß und formulierten in 22 Artikeln, der Emser Punktation, ein reichskirchliches Reformprogramm. Abgesehen von der Berücksichtigung in der kaiserlichen Wahlkapitulation von 1790 hatte Ems keine Folgen. Die Pläne der Erzbischöfe scheiterten am Widerstand der Kurie und der Bischöfe, noch bevor die Reichskirche als Folge der —»Französischen Revolution und der Expansion Frankreichs zusammenbrach. Unter Clemens Wenzeslaus erfolgte eine Reihe von Reformdekreten: Reform des Volksschulwesens und der Lehrerbildung, Reform der Priesterausbildung und Ansätze zu einer allgemeinen Hochschulreform, Klosterreform, Liturgiereform, Reduktion der Feiertage und Beschränkung der Wallfahrten, Bekämpfung von Auswüchsen des religiösen Brauchtums. Diese Reformen erfolgten nach dem Vorbild anderer katholischer Staaten wie -»Österreich (das größtenteils zum Erzbistum Trier gehörige Herzogtum -»Luxemburg war Teil der österreichischen Niederlande) oder Kur-Mainz, waren aber teilweise recht begrenzt. So wurden keine Klöster aufgehoben, mit Ausnahme des kleinen Nonnenklosters St. Afra in Trier, und die Umwandlung der Abtei St. Maximin in ein weltliches Stift unterblieb. Das 1784 erlassene Toleranzedikt für Protestanten sollte allein „jenen Handelsleuten und Fabrikanten, so dem erzstiftischen Kommerze und dem Lande einen wesentlichen Dienst zu leisten im Stand sind", Duldung verschaffen unter Ausschluß von Bürgerrechten und Ämtern. Noch ehe manche Reformen zu wirken begonnen hatten, wurden sie bereits zurückgenommen, da nach dem Ausbruch der Französischen Revolution Kurfürst Clemens Wenzeslaus und seine Berater vor den möglichen Folgen des Überbordwerfens alter Traditionen zurückschreckten. Auch für die Zeit vor 1789 dürfen die starken Kräfte der Beharrung nicht unterschätzt werden. Als Nachfolger des Weihbischofs von Hontheim war 1777/78 der Reaktionär Jean Marie Cuchot d'Herbain (amtierend 1778-1794) eingesetzt worden. Neben aufgeklärten Klerikern im adeligen Domkapitel, in der Abtei St. Maximin und im Simeonstift in Trier lebten in anderen Abteien und Klöstern Anhänger der Tradition; auch die meisten Weltgeistlichen waren konservativ eingestellt und beeinflußten die Bevölkerung. Die Lesegesellschaften trugen zur Emanzipation des Bürgertums und zur Verbreitung der Aufklärung bei. Die Trierer und Koblenzer Lesegesellschaften wurden 1783 gegründet und 1793 wieder verboten. 5. Das Ende Im 1. Koalitionskrieg zogen 1792 preußische Truppen durch das Kurfürstentum gegen die französische Revolutionsarmee. Französische Emigranten hatten sich in der kurfürstlichen Residenzstadt Koblenz gesammelt, so daß „Coblentz" zum Inbegriff der Gegenrevolution wurde. Johann Wolfgang von -»Goethe war in Begleitung seines Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar, der als preußischer General an der „Campagne in Frankreich" teilnahm, in Trier und an der Mosel und erlebte die Niederlage in der Kanonade von Valmy. Nach der Erstürmung der Pellinger Schanze südlich von Trier durch Revolutionstruppen am 8. August 1794 wurden die Stadt und der linksrheinische Kurstaat besetzt. Mit der Einführung der Departementseinteilung 1798 (darunter das Departement de la Sarre, Trier, und das Departement Rhin et Moselle, Koblenz) wurde das linksrheinische Gebiet neu organisiert und in den französischen Staat integriert. Der Frieden von Luneville 1801 brachte die völkerrechtliche Anerkennung. Der rechtsrheinische Kurstaat mit Ehrenbreitstein und Limburg an der Lahn wurde 1802 von Nassau-Weilburg in Besitz genommen, was im Reichsdeputationshauptschluß 1803 bestätigt

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wurde. Die Zuständigkeit des Erzbischofs Clemens Wenzeslaus, der bis zu seinem Tode 1812 in Augsburg residierte, w a r auf das rechtsrheinische Erzbistum beschränkt. Links des Rheins w u r d e 1802 unter französischer H e r r s c h a f t ein neues Bistum Trier für das Saar-Departement gebildet. Quellen 1. Bibliographie und Jahrbücher: Mittelrhein-Moselland-Bibliogr., Trier, 1975/76 (1978)-1990 (1992); u.d.T.: Rheinland-Pfälzische Bibliogr., Trier, 1991 (1992ff.); vgl. http://www.rlb.de/rpb. Trierische Jb. 1 (1950) - 9 (1960); fortgef. u.d.T.: Kurtrierisches Jb. 1 (1961) ff. - Die Trierischen Jb. 1950-1985. Gesamtregister v. Jürgen Merten unter Mitarb. v. Hiltrud Merten, Trier 1986. 2. 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Gunther Franz

II. Universität

(1455/73-1798)

1. Gründung und Geschichte bis 1798 Literatur S. 88)

l. Gründung und Geschichte

2. Die Entwicklung bis zur Gegenwart

(Quellen/

bis 1798

Mit zwei Bullen vom 2. und 12. Februar 1455 („1454", Jahresbeginn nach dem Annunziationsstil am 25. März) errichtete Papst -»Nikolaus V. auf Antrag des Trierer Erzbischofs Jakob von Sierck (reg. 1439-1456) das Studium Generale Trevirense (Artistenfakultät und die drei höheren Fakultäten). Als Vorbild diente die Universität -»Köln. Versuche, -»Nikolaus von Kues als Förderer oder gar spiritus rector der Universitätsgründung zu erweisen, haben bisher kein überzeugendes Ergebnis gebracht. Da Erzbischof Johann II. von Baden (reg. 1456-1503) keine Absicht zur Universitätsgründung erkennen ließ, erwarb die Stadt Trier für 2.000 Gulden die Stiftungsprivilegien und erklärte am 16. März 1473 die Universität für eröffnet. Es war die 14. Universität auf Reichsboden. (Man führte aber später den Ehrentitel „uralte Universität", und der Jurist Jakob Meelbaum [1598-1671] suchte in der 1657 gedruckten Schrift Sylva academica die Blüte der Trierer Universität zur Römerzeit zu erweisen.) Papst -»Sixtus IV. bestätigte am 26. Mai 1474 die Privilegien, wies der Universität die vom Erzbischof benannten Pfründen (sechs Kanonikate) zu und inkorporierte ihr neben drei Trierer Pfarrkirchen auch die von Andernach, Diedenhofen (Thionville) und Echternach. Aufgrund des Widerstands der betroffenen Institutionen war die Finanzierung lange Zeit ungesichert, da auch die Möglichkeiten der Stadt beschränkt waren. Die ersten beiden Rektoren waren Nikolaus Mommer von Ramsdonk und Johannes Leyendecker, der die Erfurter Statuten zum Vorbild nahm. Das Universitätsgebäude an der Dietrichstraße besteht teilweise noch heute (Sozial- und Arbeitsgericht). Als Beispiele für Einflüsse des Humanismus sind der Jurist Ludolf von Enschringen (1474-1505 an der Universität), der Franziskaner Th. Murner, der 1515 über die Institutionen las, und Bartholomaeus Latomus (Steinmetz; um 1498-1570) aus Arel/Arlon (Luxemburg) zu nennen. Der Dominikaner Ambrosius Pelargus (Storch; 1493-1561) fungierte 1547 als Prokurator der Erzbischöfe von Köln und Trier und 1551-52 als Theologe auf dem Trienter Konzil (—»Tridentinum). Mitte des 16. Jh. waren wegen der „Sterbens- und Kriegsläufe" und der Geldknappheit an der ganzen Universität nur noch ein oder zwei Magistri (Professoren oder Doktoren) übrig geblieben. Weil die Philosophie nicht mehr gelehrt wurde und aufgrund der evangelischen Gesinnung eines Teils des Rates, wurde 1559 der aus Trier stammende Jurist und Theologe K. -»Olevian von der Stadt beauftragt, Unterricht in Philosophie, besonders der Dialektik -»Melanchthons, zu erteilen. Nach dem Scheitern des Reformationsversuches wurden die Philosophische und die Theologische Fakultät 1561 dem nach Trier geholten Jesuitenorden übertragen, der auch das Gymnasium betreute. Die -•Jesuiten hatten ihre eigene Studienordnung, fügten sich aber wie in -»Mainz formal in die alte Universitätsverfassung ein (die neuen Universitätsstatuten von 1562 bestimm-

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ten, d a ß das Jesuitenkolleg für immer unberührt bleibe). So wurden eine große leistungsfähige Institution und eine kleine Restuniversität, die vor allem aus der Juristischen Fakultät bestand, zusammengekoppelt. Die Medizinische Fakultät hat bis zur Universitätsreform 1722 kaum Spuren hinterlassen. Die Jesuiten erhielten 1570 das ehemalige Franziskanerkloster als „Dreifaltigkeitskolleg", wo auch die philosophischen und theologischen Vorlesungen stattfanden. Sie haben die Ehre des Rektorates seit 1591 anderen überlassen und so eine große Zahl von Prälaten als Protektoren der Universität und des Kollegs gewonnen. Professoren der beiden Fakultäten waren bis 1764 ausschließlich Jesuiten mit einer einzigen Ausnahme: Der aus Gouda stammende Theologieprofessor Cornelius Loos (um 1540/46-1595/96) schrieb eine Schrift gegen die Hexenprozesse (-»Hexen) und ging nach dem 1593 erzwungenen Widerruf nach Brüssel. Sein Gegner war Weihbischof Peter Binsfeld, der einen neuen Hexenhammer schrieb und 1587/88 Rektor der Universität war. Der Jurist Dietrich Flade (1534-1589), kurfürstlicher Stadtschultheiß und zeitweise Rektor, wurde 1589 als „ Z a u b e r e r " verbrannt. Heute bekanntester Theologe war der Jesuitenpater F. von —»Spee. Wegen der Auseinandersetzung um den Druck der Cautio Criminalis in Köln wurde Spee als Professor der Moraltheologie nach Trier versetzt und zum Professor der Bibelwissenschaft befördert. Der Jesuit Christoph Bro(u)wer (1559-1617) war ein tüchtiger Geschichtsschreiber. Da die Universität „soviel das Studium juris civilis et canonici auch medicina betrifft, fast in völligen Ruckgang geraten" (Schreiben im Landeshauptarchiv Koblenz 1C12806) war, führte Kurfürst Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (reg. 1716-1729) 1722 eine Universitätsreform durch. Überragende Persönlichkeiten waren die miteinander befreundeten Gelehrten Johann Nikolaus von Hontheim (1701-1790; —•Febronius/Febronianismus), 1733-1738 Professor an der Juristischen Fakultät, 1748-1778 Weihbischof, und Georg Christoph Neller (1709-1783), seit 1748 Jura-Professor in Trier. Sie waren Juristen und Historiker, kümmerten sich um die Reform der Universität in Auseinandersetzung mit den Jesuiten und lösten die Bewegung des Febronianismus aus. Nachdem der Jesuitenorden 1762 in Frankreich, unter anderem wegen seiner Stellungnahme gegen den —»Gallikanismus, aufgehoben worden war, drohte Gefahr für die Universität, wenn die Theologiestudenten aus der auch fast das ganze Gebiet von Lothringen umfassenden Kirchenprovinz nicht mehr in Trier hätten studieren dürfen. Deswegen wurden 1764 zusätzliche theologische Lehrstühle mit -»Benediktinern besetzt. 1667 wurde ein Seminar für adlige Theologiestudenten („Lambertinum") gestiftet, dem auch Freistellen für Bürgerliche angegliedert wurden und das unter Leitung der Jesuiten stand. Erst mit der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 erhielt Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Sachsen (reg. 1768-1801/12) die Möglichkeit, ein Priesterseminar zu gründen, dessen Besuch für alle Kandidaten der Diözese verpflichtend war. Das Seminarium Clementinum erhielt bis 1779 einen Neubau im Anschluß an das ehemalige Jesuitenkolleg, das jetzt als Universitätsgebäude dient. Die Theologische Fakultät wurde rechtlich mit dem Seminar verbunden. Der Bibelwissenschaftler Johann Gertz (1744-1824; seit 1774 Professor in Trier) war ein Schüler von J . D . -»Michaelis in Göttingen und vertrat zusammen mit anderen „Göttingern" eine gemäßigte -»Aufklärung. Nach dem Einzug der französischen Revolutionstruppen 1794 wurde am 28. April 1798 die Universität Trier wie die anderen linksrheinischen Universitäten Köln, Mainz und Bonn geschlossen und bis 1804 durch eine Zentralschule (école centrale) ersetzt. Die „uralte" Trierer Universität war im Kreis der europäischen Akademien keine herausragende Institution. Die Theologische Fakultät hatte allerdings ein überregionales Einzugsgebiet über die Sprachgrenze hinweg (Luxemburg, Frankreich und das spätere Belgien) mit dem Zentrum im Raum zwischen Maas und Rhein. Die Vorlesungen wurden bis 1789 ausschließlich lateinisch gehalten. Mitte des 18. Jh. wurde die Universität besucht von mehr als 200 Theologen, 80 Juristen und einzelnen Medizinern neben 1.000 „Philosophen" (einschließlich der Gymnasiasten; es gab keine Trennung zwischen Gymnasium und Philosophischer Fakultät).

Trier II

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N a c h der Eröffnung der Universität 1473 gab es keine Universitätsbibliothek, da man die Bibliotheken der Klöster und Stifte benutzen konnte. Die 1560 begründete Jesuitenbibliothek war mit 10.000 Bänden für Theologie und Philosophie gut ausgestattet. Dazu kam 1722 eine kleine Universitätsbibliothek für Jura, Geschichte und Medizin. Beide Bestände sind vollständig in der Stadtbibliothek, die 1970 nicht mit der neuen Universitätsbibliothek vereinigt wurde, erhalten. 2. Die Entwicklung

bis zur

Gegenwart

Nachdem unter Bischof Charles Mannay (amtierend 1 8 0 2 - 1 8 1 6 ) 1805 das Priesterseminar wieder eröffnet werden konnte, wurde dieses fast 150 Jahre lang Ort der Pflege und Weitergabe der katholischen Theologie im Bistum Trier. 1950 wurde am Priesterseminar eine Theologische Fakultät kraft päpstlichen Rechts errichtet, die durch staatliche Anerkennung das Recht besitzt, akademische Grade zu verleihen und Habilitationen vorzunehmen. 1970 wurde die Universität Trier-Kaiserslautern errichtet, die 1975 in zwei selbständige Universitäten umgebildet wurde, in Trier mit Schwerpunkt auf den Geistes- und Sozialwissenschaften. Mit der Theologischen Fakultät, die 1992 ihren ersten Standort auf den Universitätscampus verlegte, wurde ein Kooperationsabkommen geschlossen. Die evangelische Theologie ist zur Zeit durch eine Honorarprofessur im Fach Geschichte an der Universität vertreten. Das 1960 an der Universität Mainz gegründete Institut für Cusanus-Forschung ( - » N i k o l a u s von Kues) wurde 1980 nach Trier verlegt. Es wird von der Cusanus-Gesellschaft getragen und ist eine wissenschaftliche Einrichtung der Universität und der Theologischen Fakultät Trier. 1947 wurde von den deutschen Diözesen das Deutsche Liturgische Institut mit einer Spezialbibliothek gegründet. Quellen Leonhard .Keil, Akten u. Urkunden zur Gesch. der Trierer Univ. I. Das Promotionsbuch der Artistenfakultät (1473-1603), Trier 1917 (Trier. Archiv, ErgH. 16); II. Die Promotionslisten der Artistenfakultät v. 1604-1794, nebst einem Anh. Verz. der an der juristischen Fakultät Trier v. 1739 bis 1794 immatrikulierten Studenten u. einiger . . . Professoren, Trier 1926.- Archivalienverzeichnis: Trauth (s.u.) 393—425. Literatur Aufklärung u. Tradition (s.o. Literatur zu 1/2.). - Elke Czemohorsky, Die Auflösung der alten Univ. Trier am Ende des 18. Jh.: Trierer Beitr. Aus Forschung u. Lehre an der Univ. Trier 8 (1980) 1 6 - 2 2 . - Heinz Duchardt (Hg.), Die ältesten Generalstatuten der Univ. Trier v. 1475: Jb. westdt. Landesgesch. 4 (1978) 129-189. - Gunther Franz, Geistes- u. Kulturgesch. 1560-1794: 2.000 Jahre Trier (s.o. Lit. zu 1/2.) III, 2 0 3 - 3 7 3 , bes. 2 1 6 - 245. - Ders., Friedrich Spee als Professor an der Trierer Univ.: Aus reichen Quellen leben. Ethische Fragen in Gesch. u. Gegenwart. FS Helmut Weber, hg. v. Hans-Gerd Angel u.a., Trier 1995, 101-108. - Ders., Gelehrte aus Trier u. dem Moselland: Bilder v. Gelehrten, hg. v. Richard Hüttel, Trier 1997 (Ausstellungskat. Trierer Bibliotheken 30) 108-127 u. Farbtaf. I—VIII. — Wolfgang Hauth, Trier u. Nikolaus v. Kues, Trier 1990. - Karl Hengst, Jesuiten an Univ. u. Jesuitenuniversitäten, 1981 (QFG NF 2). - Richard Laufner, Die kurtrierischen Landstände u. die Trierer Univ. im 18. Jh.: FS f. Alois Thomas. Archäologische, kirchen- u. kunsthist. Beitr., Trier 1967, 2 3 9 - 2 4 4 . - Michael Matheus, Das Verhältnis der Stadt Trier zur Univ. in der 2. Hälfte des 15. Jh.: Kurtrierisches Jb. 20 (1980) 6 0 - 1 3 9 . - Ders., Die Trierer Univ. im 15. Jh.: 2.000 Jahre Trier (s.o. Lit. zu 1/2.) II, 5 3 1 - 5 5 2 . - Arnd Morkel, Die alte Trierer Univ.: Kurtrierisches Jb. 34 (1994) 77 - 92. - Matthias Paulus, Lage u. Gebäude der Univ., des Jesuitenkollegiums u. des Lambertinischen Seminars zu Trier: Staatliches Friedrich-WilhelmGymnasium Trier. FS zur Feier des 350jährigen Jubiläums der Anstalt, Trier 1913, 1 - 3 3 . - Peter Alexander Reuss, Gesch. des Bischöflichen Priesterseminars (Seminarium Clementinum) zu Trier, Trier 1890. - Michael Trauth, Eine Begegnung v. Wiss. u. Aufklärung. Die Univ. Trier im 18. Jh., Trier 2000 (Lit.). - Verführung zur Gesch. FS zum 500. Jahrestag der Eröffnung einer Univ. in Trier, 1473-1973, hg. v. Georg Droege u.a., Trier 1973. - Emil Zenz, Die Trierer Univ. 1473-1798, Trier 1949. Gunther Franz

Trillhaas Trillhaas, Wolfgang 1. Eigenart

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(1903-1995)

2. Leben

3. Werk

4. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 91)

1. Eigenart Wolfgang Trillhaas kann äußerst unterschiedlich beschrieben werden: Er war Praktischer ebenso wie Systematischer Theologe; er stand zwischen Liberalismus und Luthertum, blieb dabei stets in Auseinandersetzung mit der zunächst bereitwillig rezipierten -•Dialektischen Theologie und war beteiligt an ökumenischem Gespräch; zugleich war er Religionsphilosoph, vor allem mit Interesse an der -»Phänomenologie (im Sinne Alexander Pfänders [1870—1941], nicht —»Husserls). In der Hochschulpolitik war er ein Ordinarius alter Schule und zugleich ein von seiner ländlichen Gemeinde in Franken sehr geliebter Seelsorger. In Publikationen zeigte er pädagogisches Geschick, die Fähigkeit zur Elementarisierung, sensible Wahrnehmung und steten Praxisbezug; in den universitären Lehrveranstaltungen, vor allem in den von ihm besonders geschätzten Vorlesungen, vermochte er zu faszinieren und durch unbefangenen Zugriff auf die verschiedensten Fragen anzuregen, dabei achtete er darauf, durch Konkretionen den Blick für das Wesentliche zu vermitteln und blieb unerbittlich auf die Beachtung der Vernunft bedacht. Fragen beantwortete er geduldig, er konnte komplizierteste Dinge verständlich machen, doch machte ihm der Umgang mit abweichenden Meinungen Mühe; er band seine Schüler an seine Person. Im Privaten war er eine komplexe Persönlichkeit, ebenso distanziert wie zu warmherziger Zuwendung und großer Nähe fähig, aufmerksam in der Pflege kultivierter Freundschaften, literarisch befähigter und feinsinniger Briefautor, künstlerisch begabt, malend und dichtend. Zu theologischem Gespräch gern bereit, war er im Hinblick auf seinen Glauben wenig auskunftsfreudig, doch lassen seine ihm sehr wichtigen Predigten und seine Gedichte eine tiefe persönliche Frömmigkeit erkennen. 2. Leben Auskünfte über sein Leben gibt Wolfgang Trillhaas selbst in Aufgehobene Vergangenheit (1976): Er wurde am 31. Oktober 1903 als Sohn eines Militärpfarrers und einer Lehrerin in -»Nürnberg geboren, das älteste von vier Kindern. Die Nüchternheit der fränkischen lutherischen Kirchlichkeit wirkte ebenso prägend wie der „unkonventionelle, große Lebensstil" (ebd. 25) im großelterlichen Haus in München mit seinem kulturell weiten Horizont. Weitere wesentliche Impulse erfuhr er in der -»Jugendbewegung, besonders durch W. -»Stählin. Trillhaas studierte von 1922 bis 1925 Philosophie und Theologie an den Universitäten -»München, -»Erlangen und -»Göttingen u.a. bei dem Phänomenologen Alexander Pfänder, bei P. -»Althaus, W. -»Eiert, E. -»Hirsch und vor allem K. -»Barth. Nach Examen und Ordination ging er 1926 als Stadtvikar nach Regensburg, 1928 nach Erlangen (Predigt- und Schuldienst, Standortpfarrer bei der Reichswehr; ab 1935 Stadtpfarrer, ab 1943 zusätzlich Dorfpfarrer in Möhrendorf). Dort wurde er 1931 mit der Schrift Seele und Religion, das Problem der Philosophie Friedrich Nietzsches zum Doktor phil., 1932 mit Predigt und Lehre bei Schleiermacher zum Lic. theol., 1944 mit Grundzüge der Religionspsychologie zum Doktor theol. promoviert. Die Praxis vor allem im schulischen Unterricht führte zu einer ersten Infragestellung der Maximen der Dialektischen Theologie, weiteres bewirkte das Interesse an Religionsbegriff und phänomenologischem Vorgehen. Die 1933 erfolgte Habilitation in Praktischer Theologie (Schleiermachers Predigt und das homiletische Problem) war Reaktion auf lebhaft empfundene Defizite in der religionspädagogischen und homiletischen Ausbildung: „Ich wollte die . . . Praktische Theologie so direkt, handfest und praktisch auffassen und vortragen, wie es nur immer möglich war. Ich wollte sozusagen das meinen Studenten nachliefern, was man mir, als ich Student und mehr noch als ich Vikar war, schuldig geblieben war" (ebd. 155, s. auch 42ff.). Seine Mitarbeit bei der Bekennenden Kirche (-»Nationalsozialismus und Kirchen) - ungeachtet etlicher Vorbehalte wegen

90

Trillhaas

des autoritären Führungsstiles - verhinderte seine Berufung nach -»Halle. 1938 starb seine Frau kurz nach der Geburt des vierten Kindes, in der 1939 geschlossenen zweiten Ehe wurden drei weitere Kinder geboren (1974 Tod der zweiten Frau, 1975 Wiederverheiratung). 1945 wurde er ordentlicher Professor für Praktische Theologie in Erlangen. 1946 erfolgte der Ruf nach Göttingen, dort blieb er bis zur Emeritierung 1972, zunächst als Professor für Praktische Theologie; 1954 wechselte er im Wunsch nach thematischer Erweiterung und aus seinem Anspruch nicht genügender Anbindung an die kirchliche Praxis in die Systematik. Neben seiner Lehrtätigkeit war er Universitätsprediger, 1949 und 1950 Rektor, zehn Jahre lang Mitglied der Landessynode; er arbeitete in verschiedenen staatlichen, kirchlichen und ökumenischen Gremien mit und lehrte von 1956 bis 1966 an der Technischen Hochschule Hannover. Sein vielfältiges Engagement fand u.a. Anerkennung in Ehrenpromotionen der Universitäten Helsinki und Wien. Am 24. April 1995 verstarb Wolfgang Trillhaas in Göttingen; begraben ist er auf dem Neustädter Friedhof in Erlangen. 3. Werk

Das Werk von Wolfgang Trillhaas umfaßt verschiedene zu Standardwerken gewordene Lehrbücher, weit über 100 wissenschaftliche Aufsätze, zahlreiche Rezensionen, die Mitherausgeberschaft an verschiedenen Sammelbänden und Zeitschriften, u.a. den Evangelischen Kommentaren, und eine große Anzahl oft essayistischer Texte zu aktuellen Fragen der Zeit. Charakteristisch sind das Bemühen um den Praxisbezug allen theologischen Denkens, die Bereitschaft, vermeintlich Selbstverständliches auszusprechen, das Wissen um die erschließende Kraft der Elementarisierungen, das gelegentlich auch vor Vereinfachungen nicht zurückscheut, ein Gespür für notwendige Diskurse und der Mut, tabuisierte Themen anzusprechen, das seiner Zeit oft weit vorausliegende Bemühen um Vermittlung zwischen Theologie und Philosophie oder Psychologie und in zahlreichen Einzelfragen der Konservativismus der Stellungnahmen - so im Hinblick auf das „eigentliche Wesen" der Frau (Dienst2 34), das sich mit der Funktion der Gemeindeleitung nicht vertrage (diese Position hat sich, nach mündlicher Auskunft, später gewandelt) oder bezüglich der Homosexualität, die als „Abnormität" (Sexualethik 72) gewertet wird. In der Predigtlehre ist Trillhaas' wesentliches Anliegen die Anbindung der prinzipiellen -»Homiletik an die konkrete -»Predigt der Kirche; Predigt ist „Dienst am Wort" und bleibt darum, auch in Kasualansprachen, an einen Text gebunden (Predigtlehre5 17.162; vgl. Die wirkliche Predigt 201; Einführung 20ff.71). Zugleich kann er -»Liturgie als „Befreiung" angesichts einer Inflation der Predigt werten (Liturgie 96; Die wirkliche Predigt 199). In der -»Seelsorge bemüht er sich zum einen frühzeitig um eine Einbeziehung psychologischer Fragestellungen, zum anderen um ein verstehendes Wahrnehmen der religiösen Dimension menschlicher Erfahrungen (Welt 25ff.95ff.; vgl. Religionsphilosophie 102ff.l94ff.); seine Seelsorgekonzeption (Winkler 150) resultiert aus dem Verständnis der Gemeinde als Leib Christi: In der mutua consolatio fratrum verhilft sie dem einzelnen zur Menschenwürde und bewahrt ihn vor Vereinsamung durch Hilfe zur Gemeinschaft mit Gott und Einbindung in die Gemeinde (Dienst 62 ff.72). Seine intellektuell redlichen systematisch-theologischen Lehrbücher sind für künftige Praktiker geschrieben: Der Problembestand wird vollständig dargeboten und ebenso übersichtlich wie klar erörtert. 4.

Wirkung

Trillhaas war ein wichtiger Lehrer zahlreicher gegenwärtiger Praktischer und Systematischer Theologen - er selbst hob H.-J. Birkner, H. W. Schütte, H. Fischer, D. Rössler, F. Wintzer, T. Rendtorff und H. Donner wegen besonderer thematischer Nähe hervor - , er wirkte prägend auch durch die Vermittlung des Kontaktes zu Emanuel Hirsch, den er selbst sehr wohl differenziert wahrnahm. Seine homiletischen Schriften, ebenso

Trinität I

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Ethik und Dogmatik sind nach wie vor als Lehrbücher zu empfehlen, aber im eigentlichen Sinne schulbildend hat er, möglicherweise wegen einer gewissen Uneindeutigkeit seiner um Vermittlung verschiedenster Richtungen bemühten Position, nicht gewirkt. Doch wird er in einigen Lehrbüchern ausdrücklich und mit Recht gewürdigt, so z. B. bei Hans Martin Müller: „Trillhaas' Predigtlehre ist das einzige überzeugende Beispiel für eine umfassende Aufnahme der Grundgedanken der Dialektischen Theologie in ein System homiletischer Kunstlehren. Seine lutherisch geprägte Theologie und seine philosophische Bildung haben ihn vor aller Prinzipienreiterei bewahrt, seine Praxiserfahrung hat seinen Blick für die ,wirkliche Predigt' geschärft, so daß seine in straffer F o r m vorgetragene Lehre ihren Zusammenhang mit den pfarramtlichen Aufgaben nirgends verleugnet" (Müller 146). Quellen (in Auswahl) 1. Bibliogr.: Hans "Walter Schütte, Bibliogr. Wolfgang Trillhaas (bis 31.10.1963): ThLZ 89 (1964) 229-232. 2. Praktische Theologie: Ev. Predigtlehre, München 1935 5 1964. - Der Dienst der Kirche am Menschen. Pastoraltheol., München 1950 1 1958. - Die wirkliche Predigt: Hajo Gerdes (Hg.), Wahrheit u. Glaube. FS Emanuel Hirsch, Itzehoe 1963, 193 - 205. - Liturgie u. Sprache: ders. (Hg.), Verständigung. FS Hanns Lilje, Hamburg 1969, 8 3 - 9 7 . - Einf. in die Predigtlehre, Darmstadt 1974 41989. - Zu den Sachen selbst. Rückblick auf ein problematisches Fach: Theologia scientia eminens practica. FS Fritz Zerbst, hg. v. Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Freiburg i.Br./Wien 1979,23 - 3 4 . 3. Predigten: Vom Leben der Kirche. Ein Jg. Predigten, München 1938. - Von den Geheimnissen Gottes. Predigten, Göttingen 1956. - Predigten aus den Jahren 1956-1966, Göttingen 1967. 4. Weitere Veröffentlichungen: Grundzüge der Religionspsychologie, München 1946; u.d.T.: Die innere Welt. Religionspsychologie, 2 1953. - Ethik, 1959 3 1979 (GLB). - Dogmatik, 1962 *1980 (GLB). - Sexualethik, Göttingen 1969 2 1970. - Religionsphil., 1972 (GLB). - Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976. Literatur Hans-Joachim Birkner/Dietrich Rössler (Hg.), Beitr. zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, FS Wolfgang Trillhaas, Berlin 1968. - Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck (Hg.), Gesch. der Prakt. Theol. Darg. anhand ihrer Klassiker, Leipzig 1999 (APrTh 12), bes. 519f. Wolfgang Offele, Das Verständnis der Seelsorge in der pastoraltheol. Lit. der Gegenwart, Mainz 1966, bes. 194-215. - Hans Walter Schütte/Friedrich Wintzer (Hg.), Theol. u. Wirklichkeit. FS Wolfgang Trillhaas, Göttingen 1974. - Hans Martin Müller, Homiletik. Eine ev. Predigtlehre, 1996 (GLB). - Klaus Winkler, Seelsorge, 1997 2 2000 (GLB). Corinna Dahlgrün Trinität I. II. III. IV.

Alte Kirche Mittelalter Reformationszeit Systematisch-theologisch (mit Berücksichtigung der Kirchengeschichte seit 1577)

S. 100 S. 105 S. 110

I. Alte Kirche 1. Zum Problem 2. Biblische Vorgaben 3. Trinitätstheologische Antriebe und erste Klärungsversuche 4. Der trinitätstheologische Streit im 4. Jahrhundert 5. Die Rezeption des „nizänischen" Dogmas im Westen 6. Die Rezeption des „nizänischen" Dogmas im Osten (bis zu Gregorios Palamas) (Quellen/Literatur S. 98) 1. Zum

Problem

M. -»Servet (der diese Erkenntnis bekanntlich mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen im ->Genf J. -»Calvins bezahlen mußte) hatte unzweifelhaft recht: In der Bibel gibt es

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Trinität I

noch keine Lehre von der göttlichen „Dreifaltigkeit". Diese Lehre ist vielmehr eine spätere kirchliche Zusammenfassung dessen, was Christen lesend und verstehend in der Bibel, besonders im Neuen Testament, bezeugt fanden. Umgekehrt, so wird sich zeigen, wäre es ohne die Bibel und ihre Vorgaben schwerlich zur Ausbildung dieser Lehre gekommen. Ob es allerdings noch heute notwendig oder auch nur opportun sei, an diesem Punkt über die biblische Botschaft hinauszugehen, oder ob man lieber - um der großen Verstehens- und Verständigungsschwierigkeiten, die die Trinitätslehre im interreligiösen Dialog (zumal mit dem -»Judentum und -»Islam), aber nicht nur dort, bereitet — darauf verzichten solle (wofür seit längerem z. B. Ohlig plädiert), ist eine ganz andere Frage, über die hier nicht zu befinden ist. Wohl aber ergibt sich für uns aus dem skizzierten Problemstand, daß wir (anders, als es in der Mehrzahl der patristischen Beiträge zum Thema geschieht, so auch jüngst u.a. in den Aufsatzsammlungen von Hübner, Der paradox Eine; Markschies, Trinità) bereits bei den biblischen Vorgaben einzusetzen und mit einem markanten Einschnitt im Zusammenhang des frühchristlichen Konzentrationsprozesses in der 2. Hälfte des 2. Jh. (der sog. „gnostischen Krise" [-»Gnosis/Gnostizismus II] und ihrer Überwindung), besonders der Kanonisierung der christlichen Bibel (-»Kanon), zu rechnen haben. Diese Kanonisierung bedeutete nicht, daß die Bibel fortan als ausschließliche Glaubensquelle und -norm gegolten hätte. Sie verdrängte und ersetzte niemals die lebendige Verkündigung der Kirche, wie sie sich an der „Glaubensregel", der „Richtschnur der Wahrheit" ( —>Glaubensbekenntnis[se] V.2.), orientierte. Damit ist allerdings nicht etwa eine zweite, unabhängige Norm neben oder gar über der Schrift gemeint, sondern „der bündige Ausdruck der christlich-kirchlichen Verkündigung zu allen Zeiten und an allen Orten" (Ritter: TRE 13,403,39ff.); man könnte auch sagen: der „Kanon im Kanon", die (nota bene christologisch-soteriologische und zugleich trinitarische) „Mitte der Schrift". So gesehen träfe es nur die halbe Wahrheit, wollte man darauf bestehen, „eine biblische Lehre von Christus", „die dann entweder von Athanasius oder von Arius mehr oder weniger richtig vorgetragen" worden sei, habe es nie gegeben; „sondern beide Parteien beriefen sich für ihre dogmatischen Positionen auf biblische Texte" (so E.P. Meijering in einem älteren Diskussionsbeitrag, zit. bei Markschies, Trinità 64, Anm. 267). Entscheidend war indessen offensichtlich — und ist es wohl bis heute —, ob eine Schriftauslegung nicht nur (irgend)einen biblischen Anhalt hat, sondern auch dem biblischen Gesamtsinn gemäß ist, ob sie die „Mitte der Schrift", ihren Skopus trifft, eben: ob sie der „Glaubensregel" entspricht oder nicht! 2. Biblische Vorgaben Es liegt nahe, bei der Nachfrage nach biblischen Anhaltspunkten für die altkirchliche Trinitätslehre sofort auf die - wenigen - „triadischen" Formeln (I Kor 12,3-6; II Kor 13,13; Mt 28,19) zuzugehen, die den „einen Geist", den „einen Herrn", den „einen - • G o t t " bzw. „-»Jesus Christus", „Gott" und „Heiligen Geist" oder „Vater", „Sohn" und „Heiligen Geist" mit- und nebeneinander nennen, ohne etwas darüber auszusagen, in welchem Verhältnis diese zueinander stehen (und deshalb in der Tat als „triadisch", nicht „trinitarisch" zu bezeichnen sind); anders z.B. Joh 16,26, wo sich zumindest Ansätze zu einer Verhältnisbestimmung finden, wenn dort vom „Geist der Wahrheit" ausgesagt wird, er gehe vom Vater aus, werde vom Sohn gesandt und gebe Zeugnis von ihm. Allein, auch wenn man noch die eine oder andere, unsicherere Stelle (wie Rom 11,36; Gen 18,2; Jes 6,2f.) hinzunimmt, auf die die Alten zu rekurrieren pflegten, bleibt dennoch die Schriftbasis viel zu schmal, als daß sie ausgereicht hätte, eine solch weittragende Lehre wie die der Trinität Gottes zu begründen, falls sich nicht noch ganz andere, viel elementarere exegetische Zwänge ergeben hätten. Vor allem die nicht wenigen Aussagen über Jesus Christus als „Sohn Gottes", das „Gott in Christo" (II Kor 5,19), die Übertragung des Kyriosnamens nicht nur auf Christus (wie meist), sondern auch auf den Geist (II Kor 3,17), und erst recht die johanneischen Formeln, in denen die Einheit

Trinität I

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Christi mit dem Vater ausgesprochen wird (vgl. Joh 1,1.14; 3,35; 5,26; 10,30.38; 1 4 , 9 11.20; 17,11 u.ö.), durch all das fühlte sich die altkirchliche Theologie zu einem sachlichen Ausgleich herausgefordert. Hinzu kamen solche biblischen Stellen, die ein pneumatologisches Problem (-»Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben I.III) aufwarfen: Aussagen wie der Geist mache lebendig (II Kor 3,6), er sei der Herr (II Kor 3,17), genauso wie die umgekehrte Prädikation „ G o t t ist Geist" (Joh 4,24); ferner die Tatsache, daß II Kor 3,17 dasselbe vom Geist ausgesagt wird wie Joh 8,36 vom Sohn, nämlich, daß er freimache, oder daß im selben Johannesevangelium Christus teils als Empfänger (Joh l,32f.), teils als Spender des Geistes bezeichnet wird (15,26; vgl. Lk 24,49), während nach einer anderen Stelle der Vater den Geist sendet (Joh 14,16.26). - Ergab sich nicht nach allem in der Tat der Weg zur Trinitätslehre nahezu zwingend, vorausgesetzt, man nahm alle diese Aussagen wörtlich und fühlte sich darüber hinaus herausgefordert, sie gedanklich möglichst auf einen Nenner zu bringen und, nicht zuletzt, sie mit dem biblischen EinGott-Glauben (-»Monotheismus II.IV; -»-Gott II.IV.V) auszugleichen? Es läßt sich gewiß mit einigem Recht sagen, daß sich innerhalb nur zweier Jahrzehnte - vom Zeitpunkt der Kreuzigung Jesu bis etwa zur Abfassungszeit des paulinischen -•Philipperbriefes mit seinem berühmten Christushymnus (Phil 2 , 6 - 8 ; -»Hymnen) — „christologisch" beinahe „mehr ereignet hat als in den ganzen folgenden sieben Jahrhunderten bis zur Vollendung des altchristlichen Dogmas" (Hengel 11). Aber ebenso wahr ist - jedenfalls in heutiger exegetischer Sicht —, daß „von einer Einlinigkeit oder gar geschichtlichen Notwendigkeit der Entwicklung schwerlich zu reden ist. Es hat eine außerordentliche Vielfalt christologischer Vorstellungen und Modelle in der Frühzeit des Christentums, aber auch früh schon den Abbruch von Traditionen gegeben" (Ritter: H D T h G I 2 , 25), auch wenn sich bereits innerhalb des Neuen Testaments insgesamt abzeichnete, daß der „hier entstehende Typ einer ,hypostatischen * Logos-Christologie ... alle anderen noch erkennbaren Christologien (etwa messianische und adoptianische Christologie, Engelchristologie)" überflügeln werde (Vollenweider 300f.). 3. Trinitätstheologische

Antriebe

und erste

Klärungsversuche

Blickt man über die Grenzen des Neuen Testaments hinaus, so zeigt sich zunächst eine eher noch größere Mannigfaltigkeit (-»Clemens von Rom; Zweiter -»Clemensbrief; -»Didache; -»Barnabasbrief; -»Ignatius von Antiochien; -»Hermas; -»Papias; -»Polykarp von Smyrna; Ascensio Jesajae [-»Apokalyptik V.2.2.3.]). Herrschten anfangs judenchristliche Traditionen (-»Judenchristentum), einschließlich der aus dem Frühjudentum übernommenen Engellehre, vor, so machte sich gegen Ende des 2. Jh. die Dominanz hellenistischen Denkens im Großraum des Römischen Reiches zunehmend bemerkbar und verhalf am Ende den aus ihm erwachsenen Entwürfen zum Sieg. Eine Sonderstellung nimmt innerhalb dieser Entwicklung die ignatianische Briefsammlung ein, so sehr, daß man gar an eine Fälschung des Ganzen aus der Zeit um 165-175 gedacht hat (so jüngst vor allem Hübner, Der paradox Eine). Die Argumente pro und contra dürften so gewichtig sein, daß beide Möglichkeiten: die traditionelle Ansetzung der (echten) Ignatianen auf das 2. oder 3. Jahrzehnt des 2. Jh. (mit allen Konsequenzen) oder die Spätdatierung der Fälschung (-»Pseudepigraphie) - einschließlich einer Gesamtinterpretation des Corpus im Licht der Fälschungsthese! - , ernsthaft erwogen werden müssen. Einstweilen aber scheint „die These vom pseudepigraphen Charakter des Corpus Ignatianum . . . mit ganz erheblichen Problemen belastet" zu sein, „die bei Annahme der Echtheit entfallen" (Merz 371), während eine theologiegeschichtliche Verortung des Corpus im späteren 2. Jh. nur möglich, aber keineswegs bewiesen und auch ohne umfassende Untersuchung zur Theologiegeschichte des 2. Jh. nicht beweisbar sein dürfte (ebd.; vgl. zur Begründung vor allem den Exkurs „ Z u r Integrität und Authentizität der Briefe des Polykarp und des Ignatius": ebd., 349-382). Was alle Strömungen miteinander verband: daß sie entschieden am Ein-Gott-Glauben festzuhalten gedachten. Für die christliche Gnosis traf das allerdings immer mehr nur

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Trinität I

bedingt zu. Sie rechnete vielmehr mit vielstufigen Entwicklungs- und Vermittlungssystemen zwischen Gott und Materie, vergleichbar den Zwischenwesen des Mittelplatonismus, und dem verborgenen Abstieg des Erlösers, stieß damit freilich auf den geballten Protest des Monarchianismus, für den der rigorose alttestamentliche und jüdische Monotheismus auch der Christenglaube war und blieb (vgl. KTGQ I, Nr. 29b.c). Wenn deshalb Christus als Gott bekannt werde, müsse dafür ein Aussagemodus gefunden werden, der die göttliche „Monarchie" nicht verletze (s. Hübner, Der paradox Eine 236 u.ö.). So aber glauben die „Monarchianer" (Noet von Smyrna [2. Jh.]; Sabellius [3. Jh.]; „Praxeas" u.a.), die göttliche Monarchie sicherzustellen, daß sie behaupten, „als ein und derselbe existiere, was Vater und Sohn genannt werde ... je nach dem Wechsel der Zeiten" (ebd. 45). Solche Betrachtungsweisen wurde von späteren Autoren oft als Häresie des „Sabellianismus" bezeichnet, in einigen modernen Dogmengeschichtswerken auch als „Modalismus". Es ist vor allem den Forschungen Hübners zu verdanken, daß man allmählich begreift, der „Monarchianismus" sei mehr gewesen als eine marginale Reaktion des „volkstümlichen Glaubens" (foi populaire) auf die „gelehrte Theologie" (theologie savante). Trotzdem behauptete er nicht allein das Feld. Ihm konkurrierten vielmehr einerseits eine christologische Konzeption, die jede Präexistenz Christi leugnete und annahm, der Mensch Jesus sei von Gott (etwa in der Jordantaufe) zum Sohn adoptiert worden (Adoptianismus; führende Vertreter die beiden gelehrten Kleinasiaten und römischen Schulhäupter Theodotus der Bankier und Theodotus der Gerber [vgl. KTGQ I, Nr. 29a]), andererseits eine stärker unter griechisch-philosophischem Einfluß ausgebildete pluralistische Gotteslehre, wie sie - unter Aufnahme der Logosspekulation — zuerst bei den Apologeten -»-Justin dem Märtyrer und ->Theophilus von Antiochien begegnet. Auch —•Tertullian gesellte sich ihnen später zu (der den „Monarchianismus" als „Patripassianismus" bekämpfte, d.h. diesem die These unterstellte, der „Vater" selbst „habe gelitten" — eine Verletzung des „Apathieaxioms" [Gott kann nicht leiden]!). Wenn sich noch im Laufe des 2. und 3. Jh. aus einer Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten immer klarer die eine herausschälte: die Trias Vater — Sohn - Geist, dann hängt das nicht zuletzt mit der Kanonisierung des Neuen Testaments zusammen, dessen Sprache sich durchsetzt (normativ vor allem Mt 28,19). So entstammen die wichtigsten trinitätstheologischen Beiträge denn auch den maßgeblichen Kanons- und Schrifttheologen der Zeit: —»Irenäus von Lyon (epid. 3.6.7.10; haer. IV,6; 33,7f.), Tertullian (Prax. 1,1—3; 2,1.3f.5; 9,1.3; 12,1—3; 13,6; 25,1; 31,lf. u.ö.) und vor allem -»Origenes, bei dem auch die Geistlehre erstmals zum selbständigen, relativ ausführlich behandelten Thema gemacht wird (princ. I, praef., 4; 1,3; 2,7; 4,4,1.5) - und zwar mit ebenso „subordinatianischem" Gefälle wie bei Tertullian (bei dem übrigens erstmals der Begriff Trinität [trinitas] begegnet [Prax. 2,1—4]); nicht umsonst haben deshalb auch bei der „Lösung" des trinitätstheologischen Problems Theologen eine führende Rolle gespielt, die in der Tradition des Origenes standen (Dünzl). Von epochaler Bedeutung war, daß Origenes nicht nur erstmalig von „drei Hypostasen" in der Gottheit redete (in Joh. comm. 11,75 u.ö.), wobei — trotz aller Unterschiede (—>Plotin redet nicht von „drei Hypostasen") — „historisch tatsächlich recht plausibel" ist, daß „Plotin und Origenes in diesem Punkt gemeinsam von der Lehre des Ammonios [sc. Sakkas...] abhängig seien" (Ziebritzki 176; vgl. ebd. 176—181), sondern auch die „Dreifaltigkeit" Gottes nicht mehr nur, wie Irenäus, in der Heilsgeschichte ( 0 i K 0 V 0 ß i a ) sich offenbaren sah („ökonomische Trinität"), sondern daß er sie in Gott selbst verlegte (also die „ökonomische" mit einer „immanenten Trinitätslehre" verband). Er argumentierte dabei ganz „griechisch", nämlich mit dem Gedanken der „Unveränderlichkeit" Gottes, indem er fragte, inwiefern das Wort (Joh 1) und der Geist wirklich Gott seien, wenn sie einen zeitlichen Anfang hatten, bzw. inwiefern von Gott ein Handeln innerhalb der Heilsgeschichte ausgesagt werden könne, das nicht — wie er selbst — ewig sei, und folgerte, daß die „Zeugung [des eingeborenen Sohnes aus dem unerschaffenen Vater]

Trinität I

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so ewig und ohne Unterbrechung" ist „wie die Erzeugung des Glanzes aus dem Licht" (princ. 1,2,4 [KTGQ I, Nr. 32h]). Die Weise, wie dann die Trinitätslehre des Origenes von -•Dionysius von Alexandrien rezipiert und, wenigstens mittelbar, von Dionysius von Rom (gest. 268) in Frage gestellt wurde („Streit der Dionyse"), war in der Tat, falls der Überlieferung halbwegs zu trauen ist, ein Vorspiel zu dem Dogmenstreit des 4. Jahrhundert 4. Der trinitätstheologische

Streit im 4.

Jahrhundert

Er verlief, kurz gesagt, in drei Phasen: 318(?)/325, 326/61, 362/81, und endete mit der Verurteilung der radikalen wie gemäßigten „Arianer" (d.h. der „Eunomianer [-»Eunomius] oder Anhomöer" und der „Arianer oder Eudoxianer") durch das Konzil von Konstantinopel (->Konstantinopel, Ökumenische Synoden I); in seiner Schlußphase verband er sich mit dem „pneumatologischen Streit" (-»Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben IV.2.), endend mit der Verurteilung der sog. „Pneumatomachen" („Geistbekämpfer") als „Semiarianer", ebenfalls in Konstantinopel 381. Der alexandrinische Presbyter Areios/Arius (—»Ananismus) war jedoch allenfalls als Auslöser der durch die Unvereinbarkeit der sich im 3. Jh. herausbildenden trinitätstheologischen Modelle heraufbeschworenen Krise beteiligt und spielte alsbald keinerlei aktive Rolle mehr, so daß man nicht länger vom „arianischen Streit" sprechen sollte. 4.1. Erste Phase. Den unmittelbaren Anstoß gaben unzweifelhaft die Aktivitäten des Arius in Alexandrien (und bald auch darüber hinaus), der - wahrscheinlich unter dem Einfluß des mittelplatonischen Gottesbegriffes (-»Plato/Platonismus II) - die Transzendenz und Selbstursächlichkeit Gottes (-•Gott I) dermaßen stark betonte, daß sich die subordinatianische Tendenz der origeneischen Trinitätstheologie (in deren Tradition er ebenso stand wie sein Kontrahent und Bischof Alexander [312—328]) noch wesentlich verschärfte, mit der Konsequenz, daß ihm der Logos/Sohn zwar als göttlich und vorzeitig aus Gott geboren, aber nicht als gleichewig mit dem Vater galt (Hauptaussage u.a. [KTGQ I, Nr. 54b]: „Es war einmal, da er nicht war" [>Jv nore oze ODK ^v]). Da für ihn ferner Gott primär der Schöpfer war, glaubte er (entsprechend Prov 8,22-25), unbefangen vom Sohn als „Geschöpf" sprechen zu dürfen, wenn dieser auch unendlich verschieden sei von allen anderen Geschöpfen (ebd.). Eine alexandrinische Synode (wohl um 318) schloß ihn deswegen aus; doch fand der Konflikt im übrigen Orient eine solche Resonanz, daß sich auch die von -»Konstantin I., bald nach Erringung der Alleinherrschaft, einberufene erste reichsweite Bischofssynode, die 1. ökumenische Synode von -•Nicäa, mit ihm befassen mußte. Spitzensätze des Arius wurden anathematisiert, dieser selbst, weil er sich nicht beugen mochte, zusammen mit anderen überzeugungstreuen Anhängern ausgeschlossen und als positive Lehre des Konzils formuliert, daß der Sohn mit dem Vater „eines Wesens" (ößoo6aio Alexander Halesius) zu gedanklicher Höhe. Im Begriff des summum bonum diffusivum sui verbindet er augustinisches Einheitsdenken mit dem Richardschen Gedanken der göttlich-personalen Liebeswirklichkeit, wie sie — echt franziskanisch - in der Gestalt Christi aufleuchtet, der darin die trinitarische Analogie von Mensch und Schöpfung in vollkommener Weise verwirklicht. Im Begriff der vollkommenen Selbstmitteilung als Form des göttlichen Wesens (Itin. c.VI a.2) entfaltet Bonaventura eine Dynamik vor allem der innertrinitarischen Hervorgänge, die in großer Nähe zur griechischen Tradition vom ursprungslosen Vater als der fons plenitudinis (Brev. I c.3) ihren Ausgang nimmt und sich - darin im Unterschied zur thomistischen Tradition - per modum naturae in den Sohn als Bild des Vaters (Brev. I c.3) und Urbild der Schöpfung (Brev. I c.2), sowie per modum voluntatis in den Geist als Band von beider gegenseitigen Liebe (Brev. I c.3) fortsetzt. Dieses dreifach-personale Ineinander der Liebe bleibt dabei dennoch dem Essentialen nahe, auch wenn Bonaventura es mit dem Begriff der circumincessio beschreibt, der die Dynamik der griechischen Perichorese aufzunehmen sucht. Johannes -»Duns Scotus nähert das Gedankengut Bonaventuras noch deutlicher an das augustinische Wesensdenken an, indem er das unendliche Sein Gottes (Lect. I d.2 p.2 q. 1 - 4 n.255) als Prinzip der personalen Hervorgänge in Gott betont. Z u einem Schlüsselbegriff wird ihm dabei die distinctio formalis (Lect. I d.2 p.2 q . 1 - 4 nn. 2 7 0 275), durch die personale Proprietäten und Wesense/n^e/i in Gott unterschieden werden.

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Trinität II

Insgesamt wird bei ihm ein kritischer Standpunkt bezüglich rationaler Trinitätserkenntnis spürbar; zugleich wird das Wesen Gottes in der systematischen Differenzierung von potentia dei absoluta und ordinata in neuer Weise als unbedingte -»Freiheit gefaßt. 5. Ausgeprägt unitarische Tendenzen im mittelalterlichen

Trinitätsdenken

Als Repräsentant dominikanischer Mystik entwickelt Meister -»Eckhart im Ausgang von der psychologischen Trinitätsperspektive ein ausgesprochenes Einheitsdenken. Seine christologisch zentrierte Einigungslehre von der Gottesgeburt im Seelengrund (Eckhart 1/1, 109,2-113,7) erblickt darin einen im Vater ansetzenden trinitarischen Prozeß der Entwerdung als Rückführung des Menschen in den absoluten Urgrund der Gottheit, in den hinein zuletzt alle trinitarisch-individuellen Differenzen sowohl Gottes als auch des Menschen (Eckhart 1/3, 523) aufgehoben werden. Eine kosmologische Ausweitung erfährt diese unitarische Sicht schließlich bei Nikolaus von Kues, der darin einen Ausgleich der Trinitätsvorstellung mit außerchristlichunitarischem Gottdenken anstrebt. In seiner Methode einer negativen Theologie deutet er den Weltprozeß als eine von der Dreieinigkeit (bzw. dem Vater) ausgehende Dynamik der Ent- und Einfaltung (explicatio/complicatio) der Schöpfung aus und in Gott als ihren Urgrund unter der Vermittlung des Gott-Menschen, die in die transrationale DreiEinheit Gottes (De pace fidei VII.VIII) einmündet, in der zuletzt alle Gegensätze im Sinne des Non-aliud zusammenfallen. Vor dem Hintergrund dieser überzahlhaften göttlichen Einheit (De docta ign. 1,5.7) erscheinen die augustinischen Ternare unitas-aequalitas-connexio für Gott bzw. materia-forma-connexio für die Schöpfung, die Nikolaus durch vielfache mathematische Triaden anreichert, um darin die analoge Verknüpfung von Trinität und Kosmos zu spiegeln (De possest 321 ff.), als sprachlogische Formalisierungen, bei denen fraglich bleibt, ob sie den Horizont der Einheit auf die trinitarische Differenz des Anderen wirklich überschreiten. Wirksam für das Welt- und Menschenbild der -»Neuzeit wurde der Kusaner in der atheistischen Umdeutung durch G. —»Bruno. 6. Spekulative Zurückhaltung

im spätmittelalterlichen

Nominalismus

In deutlichem Anschluß an Duns Scotus teilt der spätfranziskanische -»Nominalismus, wie er in der gemäßigt-ockhamistischen Position eines G. -»Biel Verbreitung findet, dessen trinitätstheologische Prämissen in der Betonung der Einfachheit des dreieinigen Gottes (I d.2 qq. 1 - 2 ) , der Verwendung der Formaldistinktion (I d.2 q.1.11) und dem Verstehen Gottes als Freiheit bzw. Freigebigkeit (III d.26, q.u., D 61-74) innerhalb einer zurückhaltenden Unterscheidung von potentia dei absoluta und ordinata. In seiner erkenntniskritischen Reduktion echten Wissens auf die konkrete Einzelerkenntnis verstärkt der Nominalismus die scotistische Tendenz, den strengen Offenbarungscharakter der Trinität in einem durchgängigen sola fide creditum zu betonen, der sie jeder geschichtlichen Vernunfterkenntnis entzieht. Dies gilt auch dann, wenn Biel die rationalen Erklärungsversuche der scholastischen Tradition aufgreift und mittels nominalistischer Sprachanalyse für die Trinitätslehre auswertet. Von Anfang an bleibt jedes begriffliche Reden über Gott unpräzise und vorläufig (I Prol., q.l C 31-33). In dieser spekulativen Zurückhaltung wirkt der spätscholastische Nominalismus weiter auf das ursprüngliche Anliegen der -»Reformation, Trinität jenseits aller Spekulation allein im -»Glauben entgegenzunehmen. Mit der Betonung der Freiheit, in der die analogia libertatis die analogia entis ablöst, öffnet die spätfranziskanische Gottesrede ideengeschichtlich zugleich in positiver Weise die Tür zur Neuzeit. Quellen Anselm v. Canterbury, Opera Omnia, hg. v. Franz S. Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt, I 1968. - Gabriel Biel, Collectorium circa quattuor libros sententiarum, hg. v. Wilfried Werbeck/Udo Hofmann, Tübingen, I 1973 III 1979. - Bonaventura, Opera omnia. V. Opuscula varia theologica, Quaracchi 1891. - DH. - Duns Scotus, Opera omnia. XVI. Lectura in librum primum sententiarum, Vatikanstadt 1960. - Meister Eckhart, Die dt. u. lat. Werke. I. Die dt. Werke, hg. u. übers, v.

Trinität III

105

Josef Quint, Stuttgart, 1/1 1958 1/3 1976. - Gilbert v. Poitiers, The C o m m . on Boethius by Gilbert of Poitiers, hg. v. Nikolaus M . Häring, 1966 (STPIMS 13). - Ders., Tractatus de Trinitate, hg. v. Nikolaus Häring: R T h A M 39 (1972) 1 4 - 5 0 . - Nikolaus v. Kues, Phil.-Theol. Sehr., hg. v. Leo Gabriel, 3 Bde., Wien 1964-1967. - Petrus Lombardus, Sententiae in IV libros distinetae, Grottaferrata 1971.1981 (SpicBon 4 - 5 ) . - Richard v. St. Viktor, De Trinitate, hg. v. Jean Ribaillier, 1958 (TPMA 6); dt.: Die Dreieinigkeit, hg. v. H a n s Urs v. Balthasar, 1980 (CMe 4). - T h o m a s v. Aquin, S.th., I/II 1934 III 1939 (DThA). Literatur 1. Theologiegeschichtliche Übersichten: Ferdinand Christian Baur, Die christl. Lehre v. der Dreieinigkeit u. Menschwerdung Gottes in ihrer gesch. Entwicklung, Tübingen, II 1842. - Franz Courth, Trinität in der Scholastik, 1985 (HDG Il/lb) (Lit.). - Ders., Art. Trinität/MA: H W P 10 (1998) 1500-1504 (Lit.). - Theodor de Régnon, Études de théologie positive sur la Sainte Trinité. II. Théories scholastiques, Paris 1892. - Leo Scheffczyk, Lehramtliche Formulierungen u. DG der Trinität: MySal 2 (1967) 2 0 2 - 220. - Albert Stohr, Die Hauptrichtungen der spekulativen Trinitätslehre des 13. Jh.: T h Q 106 (1925) 113-135. 2. Einzeluntersuchungen: Rudolf Haubst, Das Bild des Einen u. Dreieinen Gottes in der Welt nach Nikolaus v. Kues, 1952 (TThSt 4). - Ders., Streifzüge in die cusanische Theol., Münster 1991, bes. 255 - 324 (Lit.). - Klaus Obenauer, Summa Actualitas. Z u m Verhältnis v. Einheit u. Verschiedenheit in der Dreieinigkeitslehre des hl. Bonaventura, 1996 (EHS.T 559) (Lit.). - Kurt Ruh, Die trinitarische Spekulation der dt. Mystik u. Scholastik: Z D P 72 (1953) 24 - 5 3 . - Leo Scheffczyk, Die heilsgesch. Trinitätslehre des Rupert v. Deutz u. ihre dogmengesch. Bedeutung: Kirche u. Überlieferung. FS Josef Geiselmann, hg. v. Johannes Betz/Heinrich Fries, Freiburg i.Br. 1960, 9 0 - 1 1 8 . - Michael Schmaus, Die theologiegesch. Tragweite der Trinitätslehre des Anselm v. Canterbury: AAns 4/1 (1975) 2 9 - 4 5 . - Hans Christian Schmidbaur, Personarum Trinitas. Die trinitarische Gotteslehre des hl. T h o m a s v. Aquin, 1995 (MThS.S 52) (Lit.). - Martin A. Schmidt, Gottheit u. Trinität nach dem Komm, des Gilbert Porreta zu Boethius „De Trinitate", 1956 (StPh.S 7). - Johannes Schneider, Die Lehre v. dem dreieinen Gott in der Schule des Petrus Lombardus, 1961 (MThS.S 22). - Martin Schniertshauer, Consummatio Caritatis. Eine Unters, zu Richard v. St. Victors De Trinitate, 1996 (TSTP 10) (Lit.). - Martijn Schrama, Gabriel Biel en zijn leer Over de allerheiligste drievuldigheit, 1981 (VKHUT 9) (Lit.). - Friedrich Wetter, Die Trinitätslehre des Johannes Duns Scotus, 1967 (BGPhMA 41/5) (Lit.). H e r m a n n Stinglhammer

III. R e f o r m a t i o n s z e i t 1. Luther 1.

2. Melanchthon

3. Calvin

(Literatur S. 109)

Luther

„Erstlich g l e u b e ich v o n hertzen den h o h e n artickel der g o e t t l i c h e n maiestet / d a s vater / s o n / heiliger Geist drey unterschiedliche p e r s o n e n / ein rechter / einiger / nat ü r l i c h e r / wahrhafftiger G o t t ist / schepfer h i m m e l s und der erden / aller dinge w i d d e r die Arianer / M a c e d o n i e r / Sabelliner u n d der g l e y c h e n ketzerey / . . . w i e d a s alles bis her beyde yn der R o e m i s c h e n kirchen u n d y n n aller Welt bey den Christlichen kirchen g e h a l t e n ist" ( W A 2 6 , 5 0 0 , 2 7 - 3 0 ) . „ D a s sind die drey person / u n d ein G o t t / der sich u n s allen selbs g a n t z und gar g e g e b e n hat / mit allem d a s er ist u n d h a t " ( W A 2 6 , 5 0 5 , 3 8 f . ) . In diesen beiden Passagen aus d e m M . - » L u t h e r s Schrift Vom Abendmahl Christi v o n 1528 a b s c h l i e ß e n d e n Bekenntnis scheint seine Trinitätstheologie in nuce z u s a m m e n g e f a ß t zu sein. A u f der einen Seite rezipiert Luther das D o g m a der altkirchlichen R e i c h s k o n z i l i e n m i t ihrer, heute zumeist „ n e u n i z ä n i s c h " g e n a n n t e n , Trinitätstheologie, einschließlich ihrer A b g r e n z u n g e n gegenüber d e n als „ k e t z e r e y " identifizierten L e h r f o r m e n des - » Arian i s m u s (vgl. o. 1.4.1.), der M a c e d o n i e r oder P n e u m a t o m a c h e n ( T R E 1 2 , 2 0 0 , 2 5 - 3 6 ; vgl. o. 1.4.3.) und d e s Sabellianismus ( T R E 1 6 , 7 2 0 , 1 8 - 2 8 ; vgl. o. 1.3.). A u f der anderen Seite verbindet Luther die altkirchliche Trinitätstheologie mit der reformatorischen Erkenntnis der - » R e c h t f e r t i g u n g des Sünders allein aus - » G n a d e , die allein im - » G l a u b e n , der auf d e m allein m a ß g e b e n d e n Z e u g n i s der heiligen - » S c h r i f t gründet, a n g e n o m m e n w e r -

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Trinität III

den kann, und faßt diese Verbindung unter dem Leitbegriff des trinitarischen „SichGebens" Gottes zusammen. In seiner Rezeption der altkirchlichen Trinitätstheologie stützt sich Luther vor allem auf die drei altkirchlichen -» Glaubensbekenntnisse, die er auch mit deutscher Ubersetzung selbst edierte (WA 50,262-283), für die Verlaufsgeschichte des trinitarischen Streits auf —>Rufins lateinische Übersetzung der Kirchengeschichte des -»Eusebius von Caesarea, einige dem -»Athanasius von Alexandrien zugeschriebene Schriften, für die systematische Interpretation auf -» Augustins De trinitate sowie auf den Sentenzenkommentar des -»Petrus Lombardus mit seinen zusätzlichen Verweisen auf -»Ambrosius und -»Hilarius, und - aus der griechischen Tradition - auf die lateinische Übersetzung von De fide orthodoxa des -»Johannes von Damaskus (vgl. Markschies 4 4 - 5 2 ) . Auf dieser Textbasis gibt Luther ausführliche Darstellungen der altkirchlichen trinitarischen Streitigkeiten in Von den Konziliis und Kirchen (1539), aber auch in den Predigten zum Trinitatisfest (vgl. Asendorf, Theologie 25—46). Diese Textbasis mag gelegentliche negative Urteile über die drei großen Kappadozier erklären (vgl. z.B. WA.TR 1,106,5f. Nr. 252), deren trinitätstheologische Einsichten Luther aber aus Augustins De trinitate und aus den Zitaten des Damasceners bei Lombardus aufnimmt, oder in der Auseinandersetzung mit dem IV. Laterankonzil (-» Lateransynoden) in selbständiger Reflexion wiedergewinnt. Charakteristisch für Luther ist, daß er die altkirchlichen Bekenntnisse und Quellen als -»Schriftauslegung versteht. Das führt einerseits dazu, daß er an einer Theologie, die sich nur an den Formeln und Begriffen des Dogmas orientiert, harsche, auf die Schrift gestützte Kritik übt (vgl. Rationis Latomiana Confutatio, WA 8,117-118,5 von 1521), was ihm den Vorwurf J. -»Ecks einträgt, er sei Arianer (vgl. Gussmann II, 7f.), andererseits aber die Begrifflichkeit des Dogmas und die Theologoumena der Väter aufnehmen kann, wo diese sich — ihrem Selbstverständnis entsprechend — als Schriftauslegung erweisen. In ähnlicher Weise verfährt auch Luthers Kritik an den Antitrinitariern (vor allem H. -»Denck und Ludwig Hätzer [um 1500-1529]). Der Schriftbezug allein deckt die res der vocabula der trinitarischen Begrifflichkeit auf. Umgekehrt sagt Luther oft, daß die res der Trinitätslehre bereits vielfältig in der Schrift enthalten sei (Ita tres personae et unus Deus in scriptura clarissime probantur, WA 39/2,9), wenn auch die trinitarische Begrifflichkeit dort nicht vorkommt. Ist aber die Sache an der Schrift erfaßt, können auch die Begriffe anders und neu gefaßt werden (vgl. WA 39/ 2,305,17-19). Der Glaube, der sich in seiner Rede an der Schrift orientiert, spricht in der Trinitätslehre durch neue Sprachformen (vgl. WA 39/2,5,36), durch die dieselbe Sache neu und anders bezeichnet wird. Diese nova significatio verdankt sich der Weise, wie die Bedeutung derselben Wörter (wie -»Substanz, -»Natur und -»Person) von Gott selbst in Christus durch den -»Geist und so im vom Geist zur Klarheit gebrachten Zeugnis der Schrift erschlossen wird. In diesem Vorgang wird die von Gottes schöpferischem Reden in der Schöpfung (-»Schöpfer/Schöpfung) gesetzte Bedeutung wieder aufgedeckt. Hinter der - philosophisch gesehen: nominalistisch anmutenden - These von der nova significatio steht insofern ein theologischer Realismus, den Luther als trinitarischen Realismus explizieren kann, in dem er den Vater als Grammatica, den Sohn als Dialectica und den Geist als Rhetorica bezeichnet (vgl. WA.TR 1,564,2—7). Luther nutzt diesen Gedanken in den Promotionsthesen für Petrus Hegemon (1512-1560) zur Klärung des Begriffs der Relation in der Trinität. Während philosophisch gesehen Relationen als externe Relationen zwischen Substanzen begriffen werden und insofern keine eigene Subsistenz haben (vgl. WA 39/2,340,1 f.), so gilt in bezug auf die Trinität, daß Relationen als interne Relationen begriffen werden müssen, die das Personsein von Vater, Sohn und Geist konstituieren (In dit/inis relatio est res, id est, hypostasis et subsistentia, ebd. 3; vgl. dagegen Augustin [TRE 4,486,39-50]). Für Luther gilt insofern, daß für das rechte Verständnis trinitarischer Rede und ihrer Begrifflichkeit durch die Vernunft nichts, durch den Glauben aber alles gewonnen wird (WA 39/2,340,12f.).

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Diese Beziehung zwischen der Trinitätslehre und dem auf das Zeugnis der Schrift gegründeten Glauben expliziert Luther vor allem im katechetischen Zusammenhang. Während die zehn Gebote zusammenfassen, „was wir tuen sollen" (GrKat 3. Art.: BSLK 661,23f.), sagt das Credo, „was Gott uns tue und gebe" (ebd. 24f.). Durch diese Botschaft, die „eitel Gnade" (ebd. 34) ist, wird die Handlungsfähigkeit des Menschen im Glauben so rekonstituiert, daß er Gottes Willen mit „Lust und Liebe" (ebd. 36) tun kann. Der Gnadencharakter des Glaubens ist in Gottes trinitarischem Sich-Geben begründet: „Denn da hat er selbst offenbaret und aufgetan den tiefsten Abgrund seines väterlichen Herzens und eitel unaussprechlicher Liebe in allen dreien Artikeln. Denn er hat uns eben dazu geschaffen, daß er uns erlösete und heiligte und über das er uns alles geben und eingetan hatte, was im Himmel und auf Erden ist, hat er uns auch seinen Sohn und heiligen Geist geben, durch welche er uns zu sich brächte. Denn wir künnden ... nimmermehr dazu kommen, daß wir des Vaters Hulde und Gnade erkenneten ohn durch den H E R R N Christum, der ein Spiegel ist des väterlichen Herzens, außer welchem wir nichts sehen denn einen zornigen und schrecklichen Richter. Von Christo aber künnden wir auch nichts wissen, wo es nicht durch den heiligen Geist offenbaret wäre" (ebd. 6 6 0 , 2 8 - 4 6 ) .

Der trinitarische Glaube ist insofern in der Selbstvergegenwärtigung des trinitarischen Gottes verankert. Das trinitarische Gottesverständnis ist epistemisch insofern in dem von Gott selbst erschlossenen Gottesverhältnis begründet, welches ontisch im Verhältnis des trinitarischen Gottes zum Menschen gründet. Dieses wiederum hat seinen Grund im trinitarischen Selbstverhältnis Gottes: „Gleich wie der Vater ein ewiger Sprecher ist, der Sohn in Ewigkeit gesprochen wird, ist also der Heilige Geist in Ewigkeit der Zuhörer" (WA 46,60,4). Die Glaubenden haben im Geist durch Christus an diesem innertrinitarischen Gespräch teil. Die ökonomische Trinität, d.h. das Heilswerk Gottes des Vaters in Christus durch den Geist, erscheint so als die Selbst-Mitteilung der immanenten Trinität, d.h. des ewigen dreipersonalen Wesens Gottes. Betrachtet man, wie die bei Luther rezipierte altkirchliche Trinitätslehre durch den Gedanken des trinitarischen Sich-Gebens mit dem Hauptanliegen der reformatorischen Rechtfertigungslehre verbunden wird, zeigt sich, daß die Trinitätslehre in seiner Theologie keineswegs „wie ein erratischer Block stehen geblieben" (Eiert I, 191) ist, sondern sich in ihrer integrativen Funktion als „der höchst artikell ym glauben / darynnen die andern alle hangen" (WA 7,214,27) erweist. 2.

Melanchthon

Ph. -»Melanchthon hatte in den Loci communes von 1521 die Verhandlung des einen und dreifachen Gottes, die Trinitätslehre, zu jenen loci supremi gerechnet, von denen gilt: Mysteria divinitatis rectius adoraverimus quam investigaverimus (Die Geheimnisse der Gottheit sollten wir lieber anbeten als sie zu erforschen: Melanchthon, Loci communes 1 5 2 1 , 0 . 4 / 5 ; ed. Pöhlmann 18/19). Dieses wird einerseits mit der Unzulänglichkeit der scholastischen Behandlung dieser Themen begründet, andererseits damit, daß Paulus im Römerbrief die mysteria trinitatis auch nicht behandele (O. 17; ed. Pöhlmann 24/25). Allerdings wird in Artikel I des -»Augsburger Bekenntnisses (1530) die Trinitätslehre in einer korrekten Zusammenfassung der altkirchlichen Konzilien wiedergegeben. Melanchthon, der in der Apologie bemerkt, daß hier die Confutatio keine Lehrdifferenz feststellt, verweist darauf, daß dieser Artikel starken, guten, gewissen Grund in der heiligen Schrift hat (ApolCA I: BSLK 145,llf.). Von der zweiten aetas 1535 an wird eine ausführliche Behandlung der Trinitätslehre in den Loci vorgestellt, die in den Loci praecipui von 1559 voll ausgereift ist. Melanchthon antwortet auf die Frage, wer Gott sei (quis sit deus), mit einer langen Beschreibung, die zunächst das Wesen Gottes definiert, dann die Aussagen über den Sohn und den Geist zusammenfaßt und einen weiten Bogen von der Schöpfung zur Kirche schlägt, die erwählt ist, damit von ihr aus den sicheren Zeugnissen und durch das von den Propheten und Aposteln überlieferte Wort die eine und wahre Gottheit erkannt, angerufen und verehrt und im ewigen Leben gefeiert werde (vgl. StA II, 200,3-18). An die Erörterung der Schriftbelege zur Einheit und Einzigkeit Gottes schließt Melanchthon eine Erörterung zu den drei Personen der Trinität an, die

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er mit der Definition einleitet: Eine Person ist eine individuierte, denkende und nichtmitteilbare Substanz (Persona ... est substantia individua, intelligens et incommunicabilis-, StA II, 204,19ff.). Die Drei-Personalität Gottes wird sodann anhand der Leitfragen, wer und wie der Sohn und der Geist seien (StA II, 205,33 f.), erst in bezug auf den Sohn, unterstützt mit Schriftbelegen aus dem Neuen und Alten Testament, und sodann in bezug auf den Geist entfaltet. Melanchthon verbindet die Zurückweisung der Lehren M. —»Servets mit einer dogmengeschichtlichen Kritik der Lehren der Samosatener (Modalismus; -•Paulus von Samosata) und Arianer (Subordinatianismus; ->Arianismus) anhand von Schriftbelegen und Väterzitaten. Zugleich aber findet sich bei Melanchthon auch eine Überlegung, die sich an der Lehre von den vestigia Trinitatis in Augustins De trinitate (vor allem XII,11-12; vgl. TRE 4,687,3-16) und ihrem Bild von der Dreifaltigkeit und Einheit der mentalen Akte memoria, intellectus und voluntas des Geistes orientiert. Während der menschliche Geist beim Denken ein Bild der Gegenstände des Denkens malt, das schnell vergeht, zeugt der Vater in seiner Selbstbetrachtung ein Bild, das Subsistenz hat, weil es in der Wesensmitteilung des Vaters begründet ist. Dieses Bild ist der Sohn (vgl. StA II, 207,16—20). Melanchthon steht mit seinem in den Loci von 1521 vertretenen Grundsatz, Christus zu erkennen heiße, seine Wohltaten zu erkennen (Hoc est Christum cognoscere, beneficia eins cognoscere; StA II, 20,27f.), einerseits Pate für die Traditionen protestantischer Theologie, die in der Konzentration auf das Heilsgeschehen die Beschäftigung mit der Trinität zurückweisen, andererseits aber auch für die Traditionen, die den spekulativen Zugang über die Entsprechungen der vestigia trinitatis zur immanenten Trinität erneuern. 3. Calvin J. -»-Calvin behandelt die Trinitätslehre im ersten Buch der Institutio in der Ausgabe letzter Hand und gibt ihr damit ihren Platz im Zusammenhang der Begründung der Gottes- und Selbsterkenntnis des Menschen vor der Entfaltung der Schöpfungslehre. Im Gegenüber zu den „kalten Spekulationen" derer, die sich um eine Klärung der Frage des Wesens Gottes (quid sit deus) bemühen, setzt Calvin mit der Frage an, qualis sit deus ...et quid eius naturae conveniat scire (Inst. 1,2,2: „Uns liegt mehr daran zu wissen, was für ein Gott er ist und was seiner Art [natura] gemäß ist"; Calvin, Unterricht: ed. Weber 3). Gotteserkenntnis ist nur als von Gott in der Offenbarung in seinem Wort gewährte Teilhabe an seiner Selbsterkenntnis (vgl. Inst. 1,13,21: ed. Weber 70) möglich und ist daher an Gottes Selbsterschließung als Vater, Sohn und Geist gebunden. Die Erkenntnis der Trinität muß sich darum am biblischen Zeugnis orientieren, kann aber auf dieser Basis auch die stets an ihrem Gegenstand zu überprüfende Angemessenheit der altkirchlichen Begrifflichkeit erfassen. So kann Calvin den Personbegriff folgendermaßen definieren: „Ich verstehe also unter Person eine subsistentia in Gottes Wesen, die in ihren Beziehungen zu den anderen eine unübertragbare Eigenheit besitzt (quae ad alios relata, proprietate incommunicabili distinguitur)... Denn jede der drei Subsistenzen ist in Beziehung zu den anderen durch ihre Eigenheit unterschieden. Diese .Beziehung' (relatio) wird deutlich zum Ausdruck gebracht; denn wo man einfach und ohne nähere Bestimmung von ,Gott' redet, da bezieht sich dieser Name auf den Sohn und den Geist ebenso wie auf den Vater. Sobald man aber den Vater mit dem Sohn vergleicht, bezeichnet die ,Eigenheit' (proprietas) den Unterschied zwischen ihnen. Weiterhin behaupte ich, daß die Eigenheit der Person nicht übertragbar ist, weil es z. B. nicht angeht, auf den Sohn anzuwenden oder zu übertragen, was dem Vater als Merkmal zur Unterscheidung zukommt" (Inst. 1,13,6: ed. Weber 58f., korrigiert).

Nachdem Calvin in einer ausführlichen Argumentation aus der Schrift die Gottheit des Sohnes (Inst. 1,13,7—13) und des Geistes (Inst. 1,13,14-15) begründet hat, wendet er sich der Einheit und Dreiheit in der Dreieinigkeit im Verhältnis des Werkes nach außen und nach innen zu. Ausgangspunkt der Klärung ist Calvins an -»Basilius von Caesarea (spir. 38.48-56) erinnernde Zusammenfassung der Struktur des trinitarischen

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Handelns: „ . . . dem Vater ist der Anfang des Wirkens (principium agendi) zugeschrieben, er ist aller Dinge Quelle und Brunnen, dem Sohne eignet die Weisheit, der Rat und die geordnete Austeilung (in rebus agendis dispensatio), dem Geist die Kraft und Wirksamkeit im Handeln (virtus et efficacia actionis)" (Inst. 1,13,18: ed. Weber 68). Calvin versucht in der Explikation dieser Formel einen klaren begrifflichen Weg zu finden, die Gefahren des Subordinatianismus und des Modalismus gleichermaßen zu vermeiden: „Nämlich, wenn wir bekennen, an den einen Gott zu glauben, so versteht man unter ,Gott' das eine und einfache Wesen (unicum et simplicem essentiam), in dem wir drei Personen oder Hypostasen begreifen. Wird Gottes Name ohne nähere Bestimmung gebraucht (indefinite), so ist nicht weniger der Sohn und der Geist als der Vater gemeint. Tritt neben den Vater der Sohn, so ist das Verhältnis zu beachten (in medium venit relatio), und so unterscheiden wir zwischen den Personen. Nun aber stehen die Eigenheiten der Personen untereinander in einer gewissen Ordnung (proprietates in personis ordinem secum ferunt), so daß der Vater Anfang und Ursprung (principium et origo) ist. Wo also der Vater und der Sohn und der Geist zusammen genannt werden, da wird der Name ,Gott' in besonderer Weise dem Vater beigelegt. Dadurch wird die Einheit des Wesens beibehalten und die Ordnung bewahrt; aber dies nimmt doch der Gottheit des Sohnes und des Geistes nichts" (Inst. 1,13,20: ed. Weber 69). Diese Darstellung wirft die Frage auf, ob die Eigenständigkeit der Personen auf diese Weise gewahrt ist oder ob Calvin tatsächlich eine „leise modalisierende Trinitätslehre" vertritt (vgl. Eßer). Calvin beantwortet diese Frage, indem er seine Formulierungen vom Vater als principium et origo und von dem ordo in der Trinität in der Auseinandersetzung mit der auf Basilius zurückgehenden Auffassung expliziert, Sohn und Geist seien in ihrer Gottheit aus der Person des Vaters abgeleitet. Calvin unterscheidet hier genau zwischen dem göttlichen Wesen von Sohn und Geist und ihrem Personsein. Die Gottheit existiert absolut aus sich selbst (absoluta ex se ipsa), und wenn der Sohn Gott ist, existiert er (im Blick auf seine Gottheit) aus sich selbst (ex se ipso esse). Während in bezug auf seine Gottheit Christus sein Wesen ohne principium ist und deswegen der Gottesname Jahwe auf ihn angewandt werden kann (Inst. 1,13,23: ed. Weber 72), hat sein Personsein sein principium in dem Vater: „So hat sein Wesen keinen Anfang, aber seine Person hat ihren Anfang in Gott selber" (Inst. 1,13,25: ed. Weber 75). Das principium des Vaters hat keine ontologische Priorität in bezug auf das Wesen, sondern ist ausschließlich eine ratio ordinis oder eine dispositio der trinitarischen Relationen: „Wir geben zwar zu, daß nach Ordnung und Reihenfolge der Anfang der Gottheit im Vater liegt. Aber wir erklären es für eine abscheuliche Erdichtung, wenn man sagt, einzig dem Vater sei das göttliche Wesen eigen, als ob er also den Sohn zum Vater gemacht hätte (filii deificator esset)" (Inst. 1,13,24: ed. Weber 74). Durch diese Entfaltung der Trinitätslehre gelingt es Calvin zu zeigen, daß wir die Frage nach dem göttlichen Wesen (quid sit deus) nie beantworten können, aber ausgehend von der Selbsterschließung Gottes in Christus durch den Geist, wie sie in der Schrift bezeugt und vom Geist gewiß gemacht wird, durchaus eine Antwort auf die Frage qualis sit deus gewinnen können, die darin gründet, daß sich Gott im Geist und durch Christus so erschließt, wie er in sich selbst ist. Calvin hat mit Luther und Melanchthon gemeinsam, daß sie keine material neue Trinitätslehre entwickelten, sondern die altkirchliche Trinitätslehre aus der Schrift am Maßstab der Schrift neu begründeten und sie als angewandte trinitarische Theologie in der Explikation der Grundvollzüge des christlichen Glaubens entfalteten. Literatur Paul Althaus, Die Theol. Martin Luthers, Gütersloh 1962 5 1980. - Ulrich Asendorf, Die Theol. Martin Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1989. — Ders., Die Trinitätslehre als integrales Problem der Theol. Luthers, 1994 (VLAR 23) 113-130. - Irena Backus, Aristotelianism in Some of Calvin's and Beza's Expository and Exegetical Writings on the Doctrine of the Trinity: Olivier Fatio (Hg.), Histoire de L'exégèse au XVIe siècle, Genf 1978, 3 5 1 - 3 6 0 . - Horst Beintker, Luthers Gotteserfahrung u. Gottesanschauung: Helmar Junghans (Hg.), Leben u. Werk Martin Luthers, Göttingen 1983, 3 9 - 6 2 . - Philip W. Butin, Révélation, Redemption and Response. 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Christoph Schwöbel

IV. Systematisch-theologisch (mit Berücksichtigung der Kirchengeschichte seit 1577) 1. Altprotestantische Orthodoxie 2. Pietismus und Aufklärung 3. Hegels Trinitätsphilosophie 4. Schleiermacher: die Trinitätslehre als „Schlußstein der christlichen Lehre" 5. Offenbarungstrinität: Karl Barth und Karl Rahner 6. Die Renaissance trinitarischer Theologie 7. Die Aufgaben der Trinitätslehre (Literatur S. 119)

1. Altprotestantische

Orthodoxie

In der altprotestantischen -»Orthodoxie wird die Trinitätslehre in die schulmäßig aufgebaute —»Dogmatik integriert. Darin spiegelt sich die Rezeption der altkirchlichen Trinitätslehre in den reformatorischen Kirchen. Sie erhält ihren Platz in der Regel nach den Prolegomena in der Gotteslehre. Diese beginnt - folgen wir dem Aufriß von C.H. Ratschow nach der Theologia positiva acroamatica (Rostock 1664) von Johann Friedrich König (1619-1664) - mit der Erörterung -»Gottes als dem objektiven, d.h. aus ihrem Gegenstand folgenden Zweck der Theologie (finis theologiae obiectivus), und setzt sich fort in der Erörterung des Verhältnisses zwischen der Gotteserkenntnis durch die natürliche -»Vernunft (lutnen naturae - cognitio naturalis) und durch die gnadenhafte übernatürliche -»Offenbarung Gottes (lutnen gratiae — cognitio supernaturalis et revelata). Darin spiegelt sich die veränderte Bestimmung im Verhältnis von -»Philosophie

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und -»Theologie. Während die Reformatoren in der Orientierung am Schriftkriterium eine scharfe Abgrenzung gegenüber den Formen philosophischer Arbeit vollzogen, die material mit der Lehre der römischen Kirche verbunden zu sein schienen, zugleich aber die Methoden der philosophischen Arbeit zur Explikation der an der Heiligen —»Schrift gewonnenen Glaubenseinsicht kompetent verwendeten, nahmen die Theologen des 17. Jh. ein „positives inneres Verhältnis von Theologie und Philosophie" (Ratschow II, 18) an. Die notitia dei naturalis wird dabei stets in Zusammenhang damit gesehen, daß die Menschen dem durch das lutneti naturale bekannten Gott die geschuldete Verehrung verweigerten und deswegen „keine Entschuldigung haben" (Rom 1,20). Die Erörterung der geoffenbarten Gotteserkenntnis beginnt nicht mit einer Klärung der Eigenart der Offenbarungserkenntnis im Gegenüber zur natürlichen Gotteserkenntnis, sondern orientiert sich an der Frage nach dem Wesen Gottes (quid sit deus). Ihre Eigenart, d.h. die Art und Weise des Gegebenseins von Offenbarungserkenntnis, wird durch ihren Gegenstand bestimmt. Darum wird die Offenbarungserkenntnis Gottes sofort im Blick auf ihren Gegenstand trinitarisch (cognitio dei uni-trini), im Blick auf ihren Charakter als heilsvermittelnd (salvifica) und im Blick auf ihre Quelle als schriftorientiert (e verbo dei scripto hausta) charakterisiert (König § 23; Ratschow II, 45). Die Offenbarungserkenntnis wird in Onomatologia, die -»-Erkenntnis des Wesens Gottes aus den in der Schrift bezeugten göttlichen Namen, und Pragmatologia, die Erkenntnis Gottes aus seinen Werken, unterteilt. Von daher kann das Wesen Gottes zuerst für sich (absolute considerata, d.h. abgesehen von den trinitarischen Beziehungen) erörtert werden, woran sich die Darlegung der absoluten Eigenschaften Gottes (z. B. Vollkommenheit, Einheit, Wahrheit, Güte, Ewigkeit, Unveränderlichkeit etc.) und der Eigenschaften Gottes, die sich auf die Wirksamkeit Gottes beziehen (Leben, Allwissenheit, Allweisheit, -»Liebe, - » G n a d e , -»Barmherzigkeit, -»Heiligkeit, -»Gerechtigkeit), anschließt. Erst dann erfolgt die Reflexion auf das dreipersönliche Wesen Gottes, die essentia dei relative considerata, wobei „relativ" hier dasselbe bedeutet wie „in der Beziehung der drei Personen". Hier wird prononciert hervorgehoben, daß die Dreiheit Gottes ein Mysterium ist, das allein auf Grund der Offenbarung, die in der Schrift Alten und Neuen Testaments bezeugt ist, erkannt werden kann (Principium ergo per quod innotescit et adstrui debet mysterium hoc, sola revelatio divina est, et quidem tum veteris tum novi testamenti scripturis nobis communicata; König § 79; Ratschow II, 82). Die onomatologische Behandlung widmet sich der Klärung der griechischen und lateinischen Begrifflichkeit der Trinitätslehre, müßte diese allerdings unter der Voraussetzung, daß die Trinität allein aus der in der Schrift bezeugten Offenbarung erkannt werden kann, in ihrem Verhältnis zu den biblischen Zeugnissen explizieren. Das geschieht in der Pragmatologie, wo ausgehend von der in biblischen Belegen bezeugten Pluralität im göttlichen Wesen die Namen von Vater, Sohn und -•Geist erhoben werden. Diese sind vom einen göttlichen Wesen nicht in der Sache, sondern im Begriff (non re, sed ratione) unterschieden. Allerdings ist die Unterscheidung der Personen in ihrer Subsistenz und im Wirken real, insofern sie das eine göttliche Wesen auf unterschiedliche Weise haben: der Vater als fons et principium (Quelle und Grund), der Sohn per aeternam generationem (durch ewige Zeugung) und der Geist per aeternam spirationem (durch ewige Hauchung vom Vater und vom Sohn). Dennoch ist dies nur ein Unterschied in der Person, nicht aber hinsichtlich der Zeit oder der Würde, weil sie öfioovoioi sind. Als Konsequenzen der Homoousie werden die Perichorese, die Gleichheit der Personen, die vollkommene Gemeinschaft aller Wesensvollkommenheiten und schließlich die Identität in den opera ad extra herausgearbeitet (vgl. König § 91 f.; Ratschow II, 83). Diese über die Trinität als ganze gemachten Aussagen werden dann an jeder der einzelnen Personen entfaltet, dem ordo personalis folgend, zunächst im Blick auf den Vater, dann auf den Sohn und schließlich im Blick auf den Heiligen Geist. Hier wird zunächst der trinitarische Name (Vater, Sohn, Geist) erläutert und sodann ein Beweis der Gottheit gegeben. Die Besonderheit der Person im Verhältnis zu den anderen Personen wird in den proprietates ad intra formuliert, die Besonderheit im ungetrennten gemeinschaftlichen Wirken im Verhältnis zur Schöpfung wird in den proprietates ad extra zusammengefaßt. Die traditionelle Aufgliederung der proprietates, relationes und notiones findet sich bei J. -»Gerhard in den Loci theologici (Jena 1610-1625, lo. III c. II §66): Es gibt drei proprietates (ad intra)-. paternitas (Vater), filiatio (nativitas) und spiratio (processio). Es gibt vier relationes (ad intra): generatio activa - generatio passiva und spiratio activa - spiratio passiva. Vom Vater ist also

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generatio activa im Verhältnis zum Sohn und spiratio activa im Verhältnis zum Geist, vom Sohn generatio passiva im Verhältnis zum Vater und spiratio activa im Verhältnis zum Geist, vom Geist spiratio passiva im Verhältnis zum Vater und zum Sohn auszusagen. Dies wird in fünf notiones (Leitbegriffen) zusammengefaßt: innascibilitas, paternitas, filiatio und spiratio activa et passiva. Davon zu unterscheiden sind die heilsgeschichtlichen missiones (Sendungen): (vom Vater) die Sendung des Sohnes in die Welt und die Sendung des Geistes in der Zeit, (vom Sohn) das Gesandtsein vom Vater und die Sendung des Geistes, (vom Geist) das Gesandtwerden vom Vater und vom Sohn. Während in diesen Begriffen interne Relationen innerhalb der Trinität erfaßt werden, bringen die proprietates ad extra Aspekte zur Geltung, die, obwohl alle Werke nach außen gemeinschaftlich und ungetrennt von der ganzen Trinität vollbracht werden, doch einer Person besonders zugeeignet (appropriiert) werden. Das sind für den Vater: Schöpfung, Erhaltung, Weltregierung; für den Sohn: Erlösung des Menschengeschlechts; für den Geist: -»Heiligung.

2. Pietismus und

Aufklärung

Die systematische Integration der Trinitätslehre in das Gerüst der Schuldogmatik, die die natürliche Gotteserkenntnis, die Erkenntnis des absoluten Wesens Gottes und die Dreipersonalität Gottes als Aspekte eines Zusammenhangs erfaßte, erwies sich - wie exemplarisch an N.L. -»Zinzendorf, H.S. -»Reimarus und J.S. -» Semler gezeigt werden

kann — gegenüber der Kritik von Seiten des -»Pietismus wie von Seiten der -»Aufklärung

als nicht tragfähig. Zinzendorf, der zwar seine Treue gegenüber dem -»Augsburger Bekenntnis betonte (Hauptschriften VI, bes. 4 - 5 . 6 7 - 6 8 ) , aber die mangelnde Ausrichtung auf das Heilsgeschehen in CA I kritisierte, kam auf der Grundlage der Bibel und der Erkenntnis des Herzens zu der Auffassung, daß alle trinitarischen Aussagen direkt von Jesus, der die Totalität der Heilswirklichkeit für die Menschen ist und alle opera ad extra zusammenfaßt, und somit indirekt von den Glaubenden ausgesagt werden müßten. Die Glaubenden stehen ausschließlich durch -»Jesus Christus in Beziehung zu Vater und Geist. Ist Jesus der Bräutigam der Seele des Glaubenden, so wird Gott der Vater zum Schwiegervater der Glaubenden und der Heilige Geist zu ihrer Mutter (vgl. Meyer). Die Idee der Appropriation wurde von Zinzendorf aus biblischen Gründen ganz zurückgewiesen, so daß Christus als Schöpfer verstanden wurde, der allein in der natürlichen Ordnung der Welt offenbart sei.

Die in vielen Punkten extravagante und von J.A. -»Bengel scharf kritisierte Trinitätsauffassung Zinzendorfs weist auf ein systematisches Problem hin. Bei Zinzendorf deutet sich eine doppelte Disjunktion an: Die persönliche Glaubenserfahrung wird zur Leitlinie der Interpretation der Schrift, auch wenn deren Literalsinn dieser Deutung zu widersprechen scheint, und die Bekenntnistradition der Kirche wird zu einer die persönliche Glaubenserfahrung und die von ihr aus interpretierte Schrift nur ungenügend spiegelnden Lehrformulierung. Der Zusammenhang von Glaubenskonstitution, Schriftzeugnis und Gotteslehre, den die reformatorische Theologie als Zusammengehörigkeit von immanenter und ökonomischer Trinität zu interpretieren versuchte, der von der Schultheologie des 17. Jh. noch einmal in einer großen Synthese formuliert wurde, zerfällt in seine Bestandteile. Wird das Schriftzeugnis ganz aus der Perspektive der christozentrischen Heilserfahrung des einzelnen gelesen, ist der Zusammenhang zwischen der Schrift und der altkirchlichen Bekenntnistradition nicht mehr zu erkennen.

Die Disjunktion zwischen Glaubenserfahrung, Schriftzeugnis und Lehrformulierung wird in scharfer Form von der -»Religionskritik der deutschen Aufklärung geltend gemacht. Für Reimarus ist die ursprüngliche historische Bedeutung des Neuen Testaments ausschließlich im Zusammenhang des zeitgenössischen Judentums zu sehen, so daß das Verständnis Jesu als „Sohn Gottes" und das Verständnis des „Geistes" sich radikal von der Lehre der Konzilien des 4. Jh. unterscheidet. Aber auch die Religion des Neuen Testaments ist kein Wegweiser für die gegenwärtige religiöse Praxis, die sich an der moralischen Wahrheit der natürlichen Religion zu orientieren hat. Eine parallele Disjunktion macht sich auch in der von der Aufklärung inspirierten, gleichwohl aber Reimarus einer umsichtigen theologischen „Beantwortung" würdigenden Theologie Semlers bemerkbar. Die biblischen Traditionen werden nach Maßgabe der historischen Methode untersucht und kritisch gegen die Lehrtraditionen der Kirche

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und ihre metaphysische Begrifflichkeit gewendet. „Vom 4ten Jahrhundert fängt man an, metaphysische Ungewißheiten in Glaubensformeln zu bestimmen", schreibt Semler in seiner Vorrede zu Samuel Clarkes Die Schrift-Lehre von der Dreyeinigkeit (Frankfurt/ Leipzig 1774, 40; vgl. Hornig 133) und fordert so, die historische Dogmenkritik und die christliche Privatreligion kritisch und konstruktiv aufeinander zu beziehen. Die Trinitätslehre, so wie sie in der Bekenntnistradition der Kirche zum Ausdruck kommt, wird damit der äußerlichen Religion des öffentlichen Kultus übergeben. Die Disjunktion von Geschichte, gegenwärtiger Erfahrung und metaphysischem Begriff erscheint so bei den Pietisten, den religionskritischen Aufklärern wie bei aufgeklärten Theologen als Hindernis für die Rezeption der Trinitätslehre - und sei es nur als Problem.

3. Hegels

Trinitätsphilosophie

In der Geschichtsmetaphysik G.W.F. -»Hegels wird umgekehrt die Trinitätslehre als begriffliches Modell benutzt, um die dialektische Einheit von Geschichte und gegenwärtiger Erfahrung im Medium des metaphysischen Begriffs darzustellen. „Hegel hat der Theologie, zumindest der protestantischen, die Trinitätslehre als Problem zurückgegeben" (Jaeschke 83). Dies geschieht allerdings in der Form einer Tnnit'itsphilosophie, die die Elemente der traditionellen Trinitätslehre aufnimmt und sie zum Integral des Hegeischen Systems umformt. Hegel setzt sich damit kritisch vom pietistischen Fideismus wie von den rationalistischen Theologien der Aufklärung ab, für die „die wichtigsten Lehren, z. B. der Glaube an die Dreieinigkeit, viel von ihrem Interesse verloren haben" (Hegel I, 67). Die Identität des Gegenstandes von Philosophie und Religion zeigt Hegel, seit 1824, anhand einer Darstellung der christlichen Religion am Leitfaden von drei Elementen: der immanenten Trinität, der Christologie und der Lehre vom Geist. Gott ist als das Allgemeine von Ewigkeit „dreieinig", „der Gott, der sich unterscheidet, aber darin identisch mit sich selbst bleibt" und damit „das, was in der christlichen Religion Dreieinigkeit heißt" (Hegel III, 125). Das ewige Dreieinigsein ist der „Vater", der „Sohn" als die sich selbst objektiv gegenständliche Göttlichkeit und der Geist, die Aufhebung dieser Unterschiedenen als Geist oder als „ewige Liebe: der heilige Geist" (ebd. 201). Die Geschichte Gottes, in der Gott aus seiner dreieinigen Selbigkeit heraustritt, ist für Hegel die dialektische Geschichte des Geistes: „Geist ist die göttliche Geschichte, der Prozeß des sich Unterscheidens, Dirimierens und dies in sich selbst zurücknehmend" (ebd. 120). Die Selbstentäußerung Gottes und seine Selbstauslegung im geschichtlich Besonderen ist das Reich des Sohnes. Der ewige Sohn realisiert die „Bestimmung des Andersseins", die gegenüber der ursprünglichen ewigen Dreieinheit das „Recht der Verschiedenheit" wirklich werden läßt, durch die Erschaffung der Welt. Die Selbstmanifestation des Geistes, seine Notwendigkeit, sich selbst zu erscheinen, ist Ausdruck des schöpferischen Wesens Gottes. Dieses Erscheinen des allgemeinen Geistes für sich selbst als Besonderes geschieht in der Menschwerdung Gottes „in der sinnlichen Gegenwart" (ebd. 146) des Menschen Jesus von Nazareth. Die Selbstentäußerung des Allgemeinen an das Besondere erfährt ihre äußerste Zuspitzung im Kreuzestod Jesu: Der Tod Jesu ist der Tod des Todes selbst, als Negation der Negation, die im Besonderen gegenüber dem Allgemeinen liegt, das „Element der Versöhnung des Geistes mit sich" (ebd. 61f.). Der Geist kann so als das mit dem Besonderen versöhnte Allgemeine so wirksam werden, daß diese Versöhnung eine soziale Gestalt als Gemeinde gewinnt. „Die Einzelheit der göttlichen Idee... als ein Mensch verwirklicht sich erst in der Wirklichkeit", indem sie die einzelnen Menschen „zur Einheit des Geistes, zur Gemeinde zurückbringt" (ebd. 69), so daß Gott in der universalen Geistes-Gegenwart einer umfassenden Gemeinschaft seine Wahrheit und Wirklichkeit erlangt. Hegel hat mit dieser geschichtsmetaphysischen Rekonstruktion der Trinitätslehre den Anstoß für spekulative Neufassungen der Trinitätslehre bei den von ihm beeinflußten Theologen gegeben.

4. Schleiermacher:

die Trinitätslehre als „Schlußstein der christlichen

Lehre"

F.D.E. -*Schleiermacher verhandelt die Trinitätslehre in den Epilegomena seiner Glaubenslehre und bestimmt damit ihren Status neu. Da sie material nichts anderes zur

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Sprache bringt als das, was in den Aussagen über die „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur" (Schleiermacher, Glaube § 170 [458]) in den Lehren von der Person Christi und vom Gemeingeist der Kirche schon gesagt ist, bringt die Trinitätslehre als „Schlußstein" des Gewölbes der Dogmatik „diese Gleichstellung des Göttlichen in jeder dieser Vereinigungen mit dem in der andern, und so auch beider mit dem göttlichen Wesen" (ebd. [459]). Dabei will Schleiermacher aber auch „stehenbleiben" (ebd.), insofern auf diese Weise deutlich wird, daß die Trinitätslehre „nicht eine unmittelbare Aussage über christliches Selbstbewußtsein, sondern nur eine Verknüpfung mehrerer solcher" (ebd. § 170 Leitsatz [458]) ist. Indem er diese kombinatorische Funktion der Trinitätslehre zum Zentrum der Darstellung macht, kann Schleiermacher sie indirekt mit dem christlichen Selbstbewußtsein verknüpfen. Geht die Trinitätslehre aber darüber hinaus und lehrt eine „Verewigung des Seins Gottes für sich und des Seins Gottes für die Vereinigung als gesonderter" (ebd. [461]), entwickelt sich also eine immanente Trinitätslehre, wäre das nach Schleiermacher einerseits nicht schriftgemäß, andererseits wäre eine solche Aussage aber als Aussage über eine „übersinnliche Tatsache" für die „Glaubenslehre" als Auslegung des christlichen Selbstbewußtseins auch nicht relevant. Deshalb ist auch „die Unabhängigkeit jener Hauptangelpunkte der kirchlichen Lehre, Sein Gottes in Christo und in der christlichen Kirche, von der Trinitätslehre festzustellen" (ebd. [461]). Auf Grund dieser Anbindung an das christliche Selbstbewußtsein will Schleiermacher (mit Verweis auf -»Anselm von Canterbury, K. —>Daub und indirekt auch auf Hegel) alle apriorischen Ableitungen einer Dreiheit in Gott zurückweisen. Schleiermacher gesteht zu, daß, wenn „ewige Sonderungen im göttlichen Wesen" angenommen werden müßten (ebd. §171 [463]), auch notwendig folge, daß einerseits „jede der drei Personen den anderen gleich" und „dem göttlichen Wesen gleich" (ebd. § 171 [462]) gedacht werden müßte. Das jedoch sei nicht denkbar und vorstellbar, da jede Unterscheidung zwischen den Personen (z. B. die Relation der „ewigen Zeugung" des Sohnes von dem Vater) einen Unterschied in der „Macht" zwischen Vater und Sohn zum Ausdruck bringt und damit Gleichheit im Sinne von (numerischer und quantitativer) Identität nicht zu denken ist. Schleiermacher bestreitet also z.B. -•Calvins Gedanken, daß die Wesensgleichheit der Personen durch die Ordnung der trinitarischen Relationen nicht aufgehoben wird. Das Verhältnis der drei Personen zu dem einen Wesen Gottes analysiert Schleiermacher mit Hilfe des Modells von Gattungsbegriff und Einzelwesen und kommt so zu dem Schluß, daß entweder realistisch die Einheit als Begründung der Dreiheit hervortreten oder nominalistisch die Dreiheit als Ausgangspunkt zur Bestimmung der Einheit gedacht werden müsse. Schleiermacher deutet an, daß mit dem zweiten Weg „das für unser frommes Selbstbewußtsein unmittelbar Daseiende, die Gottheit des Heiligen Geistes und die Gottheit Christi" hervortreten müssen, allerdings um den Preis der ,,Gefahr[,] an das Tritheistische zu streifen" (ebd. [466]). In bezug auf die Frage, ob den drei Personen die „göttliche Ursächlichkeit", die im Selbstbewußtsein als „schlechthinnige Abhängigkeit" aufgefaßt werde, in gleicher Weise zukomme oder in je durch ihr Personsein bestimmter, stellt Schleiermacher dar, daß die Mehrheit der Tradition für die erste Lösung optiert (damit die Ursächlichkeit aber eigentlich dem göttlichen Wesen zuspricht), merkt aber an, daß es auch denkbar sei, daß nach Analogie der beiden Willen Christi „die drei Personen dasselbe verrichten jede auf ihre eigene Weise, also auch mit ihrer eignen Tat" (ebd. [467]). Aber auch hier sieht Schleiermacher die Gefahr, daß „die göttliche Einheit dann ganz nominalistisch zurücktritt" (ebd.). Trotz dieses negativen Ergebnisses seiner Prüfung der Ansprüche der traditionellen Trinitätslehre kommt Schleiermacher doch zu einer verhalten positiven Bewertung der Aufgabe der Trinitätslehre. Diese besteht darin zu zeigen, „daß dieses eigentümliche Sein Gottes in anderem [in Christus und in der Kirche] bestimmt werden müsse in seinem Verhältnis, sowohl zu dem Sein Gottes an und für sich, als zu dem Sein Gottes in bezug auf die Welt überhaupt" (ebd. § 172 [469]). Wo Schleiermacher die Schwierigkeit sieht, daß „wir keine Formel für das Sein Gottes an sich unterschieden von dem Sein

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Trinität IV

Gottes in der Welt" (ebd. [470]) haben, setzen die Neuformulierungsversuche der Trinitätslehre im 20. Jh. an. Schleiermacher selbst sah die Möglichkeiten zur Lösung dieser Aufgabe einerseits darin, die erste Schwierigkeit der Verhältnisbestimmung der Einheit des Wesens zur Dreiheit der Personen so zu lösen, daß auf exegetischer Basis zu überprüfen sei, ob „die ursprüngliche und ewige Sonderung innerhalb des göttlichen Wesens" (ebd. [472]) so belegt sei, daß eine sabellianische Konzeption der Trinitätslehre auszuschließen ist. Ist dies nicht der Fall, sieht Schleiermacher hierin eine konstruktive Entwicklungsmöglichkeit, die sogar an der Unveränderlichkeit des göttlichen Wesens festhalten kann, wenn sie zwischen ewigem Ratschluß und zeitlicher Ausführung unterscheidet. 5. Offenbarungstrinität:

Karl Barth und Karl

Rahner

Nach der antispekulativen Wendung der evangelischen Theologie durch A. -»Ritsehl und der Zuwendung zur kritischen Dogmengeschichtsschreibung bei seinen Schülern und Anhängern wurde die Trinitätstheologie in der evangelischen Theologie primär ein Gegenstand dogmenhistorischer Forschung. Die offenbarungstheologische Konzentration der Theologie Ritschis läßt sich als programmatische Umsetzung von ->Melanchthons Diktum aus den Loci von 1521 begreifen: „Denn das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen" (hoc est Christum cognoscere, beneficia eius cognoscere; Melanchthon: ed. Pöhlmann 22). In der katholischen Theologie wird im Zuge der neuthomistischen Reorientierung die hochscholastische Trinitätslehre in systematischer Vollständigkeit restituiert (vgl. die Ubersicht bei Del Colle). K. -»Barth und K. -> Rahner haben die Trinitätslehre ausgehend von der Offenbarungslehre neu begründet und damit der im letzten Viertel des 20. Jh. einsetzenden Renaissance trinitarischer Theologie entscheidende Impulse gegeben. Barth behandelt die Trinitätslehre, im Gegensatz zu Schleiermachers Zuweisung an die Epilegomena, in den Prolegomena der Kirchlichen Dogmatik. Die Trinitätslehre antwortet auf die Frage, wie der Dogmatik ihr Gegenstand gegeben wird. Insofern das „Wort Gottes" nicht eine Information über Gott zum Inhalt hat, sondern „Gott selbst in seiner Offenbarung" ist, ergibt sich die Notwendigkeit einer trinitarischen Entfaltung aus dem Begriff der Selbstoffenbarung, der nach Barth besagt, „daß Gott selbst in unzerstörbarer Einheit, aber auch in unzerstörbarer Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein ist" (KD 1/1, 311). Barth unterläuft damit die von Schleiermacher hervorgehobene Schwierigkeit, wie denn „hinter" dem Wirken Gottes in Christus und im Geist der Kirche noch „Sonderungen" im göttlichen Wesen zu denken seien, damit, daß er den Begriff der Trinität aus der Einheit und Unterschiedenheit Gottes in seiner Selbstvergegenwärtigung begründet. Für Barth stellt sich somit das Problem der Trinitätslehre anhand der Fragen „Wer ist Gott in seiner Offenbarung?", „Was tut er?" und „Was wirkt er?" und anhand der Antworten, die darauf in den biblischen Zeugnissen gegeben werden. Auf Grund des biblischen Zeugnisses wird deutlich, daß von Gott in „unzerstörbarer Einheit" und „unzerstörbarer Verschiedenheit" als „Offenbarer", „Offenbarung" und „Offenbarsein" geredet werden muß. Form und Inhalt der biblischen Offenbarung fallen insofern in dem einen Satz zusammen: „Gott offenbart sich als der Herr" (KD 1/1, 331), in dem der „Sinn" der Trinitätslehre formuliert wird. Daß Gott sich als der „Herr" offenbart, heißt für Barth, daß er in „allen seinen Seinsweisen sich selbst gleich, ein und derselbe Herr ist" (ebd. 403). Gott „offenbart sich" bedeutet, daß Gott den Menschen begegnen und sich ihnen verbinden kann, „weil er Gott ist in diesen drei Seinsweisen als Vater, Sohn und Geist, weil die Schöpfung, die Versöhnung, die Erlösung, das ganze Sein, Reden und Handeln, in dem er unser Gott sein will, begründet und vorgebildet ist in seinem eigenen Wesen, in seinem Gott sein selber" (ebd. 403f.). Daß Gott als Vater, Sohn und Geist Gott pro nobis sein will, ist insofern in seinem trinitarischen Gottsein vorgebildet. Insofern ist in der immanenten Trinität die ökonomische Trinität „begründet und vorgebildet". Beide sind verbunden durch die Selbstoffenbarung Gottes, die sicherstellt, daß Gott so in Beziehung zu sich selbst ist, wie er in Beziehung zu uns ist. Gott handelt in der Offenbarung so, wie er ist (vgl. u. 7.).

Rahner setzt ein bei der Beobachtung, daß in der klassischen westlichen Tradition — scholastischer wie altprotestantischer Prägung - der Traktat De Deo uno der Lehre

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Trinität IV

von der Drei-Personalität Gottes vorangestellt wird. Dadurch gerät die Trinitätslehre in eine „splendid isolation" (Rahner, Gott [1967] 324), die sie für „die religiöse Existenz uninteressant" werden läßt: „Es sieht so aus, als ob alles, was für uns selbst an Gott wichtig ist, schon vorher im Traktat De Deo uno gesagt worden wäre" (ebd.). Unter dem Aspekt der Einheit Gottes erscheinen seine Eigenschaften „philosophisch abstrakt und sehr wenig heilsgeschichtlich konkret" (ebd. 325). Die abstrakte Entfaltung der Lehre von der Einheit Gottes führt dazu, daß die Lehre von den göttlichen Personen in ihrer Dreiheit auf Formalaussagen reduziert wird. Dagegen protestiert Rahner leidenschaftlich: „So kann es nicht sein. Die Trinität ist ein Heilsmysterium. Sonst wäre sie nicht geoffenbart. Dann muß auch deutlich werden, warum sie ein solches ist. Dann muß in allen Traktaten der Dogmatik deutlich werden, daß die darin behandelten Heilswirklichkeiten selbst nicht verständlich werden können ohne Rückgriff auf dieses Ursprungsmysterium des Christentums" (ebd. 327). Da die Trinität das „Ursprungsmysterium" des Christentums ist, muß sie in allen Teilen der Dogmatik die Darstellung der Heilswirklichkeit strukturieren. Für Rahner folgt daraus zunächst, daß der „immanente" göttliche Logos „streng derselbe" ist wie der ökonomische. Das Wirken Jesu ist die Selbstmitteilung des Logos in seiner Heilswirklichkeit für uns. Daraus folgt, daß die traditionellen „Sendungen" (missiones) der Person nicht nur appropriiert, sondern ihr eigentümlich, also eine genuine proprietas sind (vgl. ebd. 329). Allgemein wird diese Einsicht in dem „Grundaxiom" formuliert: „Die .ökonomische' Trinität ist die .immanente' Trinität und umgekehrt" (ebd. 328). Die Diskussion um diesen Grundsatz ist ein entscheidender Auslöser der Renaissance der trinitarischen Theologie.

Barth und Rahner gemeinsam ist, daß sie die „Selbstoffenbarung" bzw. „Selbstmitteilung" Gottes für die Menschen als bestimmend für die Rede vom Sein Gottes betrachten. Die „Heilsgeschichte" (Rahner) bzw. das „biblische" Zeugnis wird so zum Ausgangspunkt der begrifflichen Explikation der Trinitätslehre. Indem die Offenbarung alles Reden von Gott fundiert, die durch die Offenbarung gesetzte Wirklichkeit aber trinitarisch zu interpretieren ist, wird die Trinitätslehre zum Integral der Dogmatik. Allerdings ziehen beide, Barth wie Rahner, aus dieser Einsicht kaum Konsequenzen für die Konzeption der Trinitätslehre selber. Durch die Verwendung des Begriffs der „Seinsweisen" für den Personbegriff scheint Barth eine „leise modalisierende Trinitätslehre" zu vertreten, wie sie sein Schüler Ernst Wolf (1902—1971) (zu Unrecht) bei Calvin feststellen zu können glaubte. Rahner, der die Annahme von drei Subjektivitäten in Gott entschieden ablehnte (ebd. 366), kann darum der realen und relationalen Identität und Mutualität der Personen in der Trinität keinen angemessenen begrifflichen Ausdruck geben. Die Renaissance trinitarischer Theologie setzt dort an, wo die Einsicht in die Funktion der Trinitätslehre als Integral der Dogmatik mit einer Neukonzeption des Personverständnisses im Verhältnis zum Verständnis des einen göttlichen Wesens verbunden wird. 6. Die Renaissance

trinitarischer

Theologie

Im letzten Viertel des 20. Jh. kommt es zu einer weitgehenden Renaissance trinitarischer Theologie, die Theologen aus unterschiedlichen konfessionellen Traditionen und kulturellen Kontexten in ökumenischer Gemeinschaft verbindet. Diese neue Zuwendung zur Trinitätslehre spricht der Trinitätslehre einerseits gesamttheologische Bedeutung zu und hebt ihre Beschränkung auf einen abstrakten Sonderlocus der Dogmatik auf; andererseits versteht sie diese als Explikation der Grundvollzüge des christlichen Glaubens im -»Gottesdienst und in der Praxis des christlichen Lebens. Deren ökumenische Relevanz zeigt sich deswegen nicht nur auf der Ebene theologischer Lehre, sondern auch im Kontext gottesdienstlichen Lebens und in der Bestimmung des Verhältnisses der Gemeinschaft unterschiedlicher Kirchen in der Koinonia der einen Kirche Jesu Christi. Starke Impulse zur Neukonzeption der Trinitätslehre im Rahmen einer trinitarischen Theologie gingen Anfang der achtziger Jahre vor allem von drei Entwürfen aus: Jürgen Moltmanns Trinität und Reich Gottes (1980) aus der reformierten Tradition, Robert

Trinität IV

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W. Jensons The Triune Identity (1983) aus lutherischer Perspektive und John Zizioulas' Being as Communioti (1985) aus der griechisch-orthodoxen Tradition. Moltmann, dessen Bachtitel schon andeutet, daß Trinität und Reich Gottes in wechselseitiger Beziehung gedacht werden sollen, entfaltet die Trinitätslehre aus der „Passion Gottes", die er als Zugang zur „Geschichte des Sohnes" interpretiert, von der her er die „Geschichte des dreieinigen Gottes mit der Welt" interpretiert. Moltmann kommt dabei zu unterschiedlichen Zuordnungen der drei Personen der Trinität in der Geschichte: In Sendung, Hingabe und Auferweckung Christi tritt die Sequenz „Vater — Geist - Sohn" hervor, in der Herrschaft Christi und der Sendung des Geistes die Beziehung „Vater - Sohn - Geist" und in der eschatologischen Vollendung die Beziehung „Geist - Sohn - Vater". Moltmann unterscheidet zwischen der Konstitutionsebene, die sich auf die Ursprungsrelation konzentriert, und der Beziehungsebene, in der wechselseitige Relationalität vollzogen wird. „Der gemeinsame Nenner dieser wechselnden Muster ist zweifellos die Gottesherrschaft" (Moltmann, Trinität 111), die sich in der Gemeinschaft mit Gott als Teilhabe an der Gemeinschaft in Gott verbindet. Moltmann entfaltet die trinitarische Theologie als Kritik des „politischen" und „klerikalen Monotheismus" und leitet daraus die Vorstellung eines „personalen Sozialismus" und „sozialen Personalismus" (ebd. 217) im Zusammenhang des „Reiches der Freiheit" als gemeinsamen Zielpunkt menschlicher und göttlicher Geschichte ab. Jenson entfaltet das trinitarische Geschehen auf der Basis des biblischen Zeugnisses als identitätskonstituierende Geschichte, in der Gott der Vater als das „Woher" der göttlichen Ereignisse erschlossen wird, der Geist als das „Wohin", die Macht der Zukunft, die in Jesus als dem Sohn versöhnt werden. Jenson faßt so (ähnlich wie Rahner) die processiones der klassischen Trinitätslehre mit den missiones zusammen und ergänzt sie durch zwei „liberations" des Vaters und des Sohnes durch den Geist. „Gott" bezeichnet, „what happens between Jesus and the one he calls ,Father' and the Father's Spirit in whom Jesus turns to him" (Jenson, Point 38f.), und ist identisch mit der energeia des göttlichen Lebens. Das göttliche Wesen ist für Jenson wie für -»Gregor von Nyssa reine „Unendlichkeit". Wenn wir fragen, was unendlich ist, werden wir auf das Leben Gottes in der Geschichte von Vater, Sohn und Geist zurückverwiesen, das die Zeit umgreift und uns einen Ort im Leben Gottes gibt. Zizioulas hat demgegenüber eine trinitarische Ontologie der -»-Person entwickelt, die in der Ontologie der trinitarischen Personen begründet ist. „Person" wird damit zu einem logisch und ontologisch ursprünglichen Begriff, der weder aus dem Begriff der -»Substanz noch aus dem Begriff des Akzidens abgeleitet werden kann. Das ist für Zizoulas die „Revolution in der griechischen Philosophie" (Zizioulas, Being 36) im Denken der Kappadozier. Die die personale Identität der Personen von Vater, Sohn und Geist konstituierenden Relationen konstituieren in diesem Entwurf zugleich ihre ontologische Gemeinschaft: Einheit und Vielheit, Besonderheit und Gemeinschaft, sind insofern - trinitarisch betrachtet - gleichursprünglich. Allerdings wird bei Zizioulas diese Gleichursprünglichkeit (-»Basilius von Caesarea folgend) so entfaltet, daß sowohl die Person von Sohn und Geist als auch die Einheit Gottes in der Gemeinschaft der trinitarischen Personen in der Person des Vaters begründet sind: „The ,one God' is the Father, and not the one substance, as Augustine and medieval Scholasticism would say" (Zizioulas, Doctrine 52). Schleiermachers Frage nach der Vorordnung der Gattung vor dem Einzelwesen ist insofern in bezug auf die Trinität unsachgemäß. Geschaffene Personen, die allerdings den Klassifikationsbegriffen der Natur unterworfen sind, gewinnen ihre Identität durch die in der Taufe dargestellte und in der Eucharistie vollzogene Begründung ihrer Identität in der personalen Gemeinschaft von Vater, Sohn und Geist. Die Trinität wird so zum Urbild der Gemeinschaft der Kirche als Koinonia, in der die vielen Kirchen gemeinsam die eine Kirche sind. Gemeinsam ist diesen Entwürfen die Abkehr von einer am Verständnis Gottes als oberster Substanz oder als höchstem Subjekt orientierten Metaphysik und die Hinwendung zum Versuch der Entfaltung einer relationalen trinitarischen Ontologie. Wolfhart Pannenberg hat im ersten Band seiner Systematischen Theologie diese neuen Impulse trinitarischer Theologie - in Auseinandersetzung mit Moltmann und Anregungen von Jenson und Zizioulas aufnehmend — systematisch entfaltet. Pannenberg geht davon aus, daß die Begründung der Trinitätslehre nicht wie bei Barth aus der formalen Struktur des Offenbarungsgeschehens erfolgen kann, sondern von „dem Inhalt der Offenbarung Gottes in Jesus Christus" und damit „vom Verhältnis Jesu zum Vater, wie es im Zusammenhang der Botschaft von der Gottesherrschaft seinen Ausdruck gefunden hat" (Systematische Theologie I, 331), ausgehen muß. Damit erscheint die „wechselseitige Selbstunterscheidung von Vater, Sohn und Geist als konkrete Gestalt der trinitarischen Relationen" (ebd. 335). Pannenberg versucht, den gemeinsamen Mangel west- und ostkirchlicher Traditionen, die die innertrinitarischen Relationen ausschließlich als „Ursprungsrelationen" erfassen, dadurch zu über-

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winden, daß er sie als wechselseitig konstituierende Relationen begreift und so den von Johannes von D a m a s k u s formulierten Gedanken der Perichorese nicht nur als Darstellung der trinitarischen Einheit versteht, sondern auf die Konstitution trinitarischen Personseins anwendet. Das hat zur Folge, daß die trinitarischen Personen „nicht nur als verschiedene Seinsweisen eines einzigen göttlichen Subjekts" begriffen werden müssen, sondern als „selbständige Aktzentren" (ebd. 3 4 7 ) . Die „ M o n a r c h i e des V a t e r s " ist daher als „Resultat des Z u s a m m e n w i r k e n s " (ebd. 353) der drei göttlichen Personen zu verstehen. W i r d nicht nur die Konstitution der Personen aus ihren Relationen begriffen, sondern auch ihre Einheit, ist „die Einheit ihres Wesens . . . nur in ihren konkreten Lebensbeziehungen zu finden" (ebd. 3 6 3 ) . Pannenberg entfaltet diese Einheit des göttlichen Wesens als das dynamische „ K r a f t f e l d " des Geistes, der seine konkrete Gestalt in der Liebe hat. Die Liebe erlaubt es, die Einheit Gottes als konkrete Gestalt innerhalb der Trinität und in ihrem Weltverhältnis so zu denken, daß die Einheit des Wesens Gottes mit seinem Dasein und seinen Eigenschaften als Zielbestimmung göttlichen Wesens erscheint. Die Erscheinung der Einheit des göttlichen Wesens mit der Dreiheit der Personen ist insofern nur eschatologisch zu bestimmen und inhaltlich als Geschehen der Liebe zu begreifen.

In den vorgestellten Entwürfen verändert sich die Rolle der Trinitätslehre: Von einem einzelnen Lehrstück der materialen Dogmatik wird sie zur „Rahmentheorie" des christlichen Glaubens. Dieser Anspruch kann nur eingelöst werden, wenn gezeigt werden kann, welche theologischen Explikationsmöglichkeiten sich durch eine in der Trinitätslehre begründete trinitarische Theologie im Blick auf die materialen Themen der Dogmatik ergeben. Dazu sind Entwürfe zur Schöpfungstheologie und Theologie der Kultur (Gunton, The One; ders., Triune Creator), zur Christologie, Ekklesiologie und zur —»Eschatologie sowie zur ökumenischen Theologie zur Diskussion gestellt worden. Allerdings stellt sich damit auch die Aufgabe einer Explikation der Trinitätslehre als Grundlegung einer trinitarischen Theologie in allen Aspekten christlichen Glaubens und Lebens. 7. Die Aufgaben

der

Trinitätslehre

Soll gezeigt werden, daß die Trinitätslehre als „Rahmentheorie" des christlichen Glaubens und als Integral christlicher Lehre fungieren kann, müssen folgende Aufgaben (vgl. Schwöbel, Trinitätslehre) im weitergehenden theologischen Diskurs bearbeitet werden: 1) Es muß gezeigt werden, inwieweit die Trinitätslehre die Identität des Gottes des christlichen Glaubens explizieren kann, wie sie in den biblischen Zeugnissen entfaltet wird, auf dieser Grundlage im -»Glaubensbekenntnis als Antwort auf die Zusage des Evangeliums formuliert wird und in der Praxis des Gottesdienstes in der Anrufung von Vater, Sohn und Geist zum Ausdruck gebracht wird. Das Gottesverständnis des christlichen Glaubens wird auf diese Weise in seiner Verankerung im Gottes Verhältnis des christlichen Glaubens entfaltet, das wiederum durch die Selbstvergegenwärtigung Gottes des Vaters durch Christus im Heiligen Geist begründet wird. 2) Es muß trinitätstheologisch entfaltet werden, wie die Einheit und Verschiedenheit des Handelns Gottes in der Beziehungseinheit von Vater, Sohn und Geist begründet ist, so daß das trinitarische Handeln Gottes als Selbstmanifestation seines trinitarischen Seins verstanden werden kann. Die Unterscheidung zwischen der Beziehung, die Gott in seinem trinitarischen Sein ist (immanente Trinität), und seiner trinitarisch strukturierten Beziehung zur Welt (ökonomische Trinität) entspricht der Freiheit des Handelns Gottes in der Schöpfung (creatio ex nihilo) und in der -»Rechtfertigung. Auf dieser Basis müßte jedes Handeln Gottes als trinitarisches Handeln und jede Eigenschaft Gottes als trinitarische Eigenschaft expliziert werden. 3) Damit steht zur Debatte, wie die personale Identität von Vater, Sohn und Geist begrifflich so erfaßt werden kann, daß die Einheit Gottes nicht aufgehoben wird, und umgekehrt, wie die Einheit Gottes so verstanden wird, daß sie die personale Identität von Vater, Sohn und Geist nicht negiert. Die neueren Entwürfe der Trinitätstheologie konvergieren in dem Vorschlag, daß diese Aufgabe nur eingelöst werden kann, wenn

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der relationalen Konstitution des Personseins ein relationales Verständnis des Wesens Gottes korreliert ist. 4) Die Trinitätslehre kann als R a h m e n t h e o r i e für die Entfaltung des Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens fungieren, wenn es ihr gelingt, alle Aspekte des Verhältnisses von G o t t , M e n s c h und Welt im H o r i z o n t des trinitarischen Glaubensbekenntnisses zu erfassen, ohne die Perspektive des christlichen Glaubens - d.h. die Rückbindung des Glaubens an das kontingente Ereignis der Selbstvergegenwärtigung Gottes in W o r t und S a k r a m e n t - zu transzendieren. Literatur Christine Axt-Piscalar, Trinitarische Entzauberung des patriarchalen Vatergottes: Z T h K 91 (1994) 4 7 6 - 4 8 6 . - Lewis Ayres, The Trinity. Classic and Contemporary Readings, Oxford 1997. - Gottfried Bachl, Die Analogie des Weiblichen in der Trinität: ThPQ 124 (1976) 1 2 7 - 1 4 0 . - Hans Urs v. 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Trishagion

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Christoph Schwöbel

Trinitatisfest —»Feste und Feiertage Trishagion (Quellen und Literatur S. 123)

Der liturgische Hymnus Trishagion ist eine Erweiterung des häufig auch als Trishagion bezeichneten —»Sanctus und von diesem zu unterscheiden. Er lautet: "Ayiot; 6 OEÖQ, "Ayioq 'IayopÖQ, "Ayioq 'AdävaxoQ, ¿Xeijaov ijßäg und wird gemeinhin übersetzt: „Heiliger Gott, heiliger Starker, heiliger Unsterblicher, erbarme dich unser". Zwar wird immer wieder (z. B. Brock 33, Anm. 17 nach Engberding 169) behauptet, er sei als Aussage und nicht als Akklamation zu verstehen und mit: „Heilig ist Gott " wiederzugeben; doch es gibt gute Gründe für das herkömmliche Verständnis. Die Verwendung des Nominativs (auch mit bestimmtem Artikel) anstelle des Vokativs ist im biblischen und

122

Trishagion

byzantinischen Griechisch belegt, und auch die kirchenslavische Übersetzung versteht mit der Verwendung der nur attributiv, nicht prädikativ stehenden langen Form des Adjektivs (svatyj) den Hymnus als Akklamation. Das Trishagion begegnet in der byzantinischen und in anderen östlichen Liturgien (-»Liturgie; Abendmahlsfeier) häufig. In allen östlichen Liturgien mit Ausnahme der ägyptischen wird es vor den Schriftlesungen gesungen (außer an einigen Herrenfesten, an denen statt dessen Gal 3,27 gesungen wird); es wird dabei zunächst dreimal gesungen; anschließend wird nach dem „Ehre sei dem Vater" der letzte Teil wiederholt und dann das gesamte Trishagion erneut gesungen. Ebenso leitet das dreimal gesprochene Trishagion eine mit dem Vaterunser endende (oft insgesamt als Trishagion bezeichnete) Gruppe von Gebeten ein, die vor den Offizien gesprochen sowie bei verschiedenen Litaneien und Prozessionen gesungen wird. Im römischen -»Ritus ist die Verwendung des Trishagion auf die Karfreitagsliturgie beschränkt (s. TRE ll,122f.), in der es einen Teil der Improperien bildet; in anderen westlichen Liturgien jedoch, so in der gallikanischen und der mozarabischen Liturgie, wurde es häufiger verwendet. Erstmals erwähnt wird das Trishagion im Liber Heraclidis des —»Nestorius. Es heißt dort, daß in —• Konstantinopel eine Serie von Erdbeben so lange angedauert habe, bis das Trishagion als der Hymnus geoffenbart worden sei, mit dem Gott angerufen werden soll (Liber Heraclidis, ed. Paul Bedjan, Leipzig 1910, 400; übers, v. François Nau, Paris 1910, 319). Eine ausführlichere Form dieser Geschichte findet sich in einem Schreiben von Papst Felix III. (483 -492) an den antiochenischen Patriarchen Petrus den Walker (gest. 488; ep. 3: PL 58,309f.). Danach wurde der Hymnus einem in den Himmel versetzten jungen Mann offenbart. Diese Geschichte wird in verschiedenen Quellen wiederholt, darunter in der Chronographie (a.m. 5930) des Theophanes Homologetes (um 760-817); sie alle beruhen wahrscheinlich auf einem nicht mehr erhaltenen Abschnitt aus der Kirchengeschichte von Theodoros Anagnostes (5./6. Jh.). Eine noch ausführlichere Fassung findet sich unter dem 25. September im Konstantinopeler Synaxar des 10. Jh. und im Basilius-Menologion. Danach wird der junge Mann in den Himmel versetzt und versichert nach seiner Rückkehr, das Trishagion ohne theopaschitischen Zusatz (s.u.) sei der wahre, von der irdischen Kirche zu übernehmende himmlische Gesang. Im übrigen vermerken alle überlieferten Fassungen, daß dem Trishagion nichts hinzugefügt werden soll, und die älteste, von Nestorius mitgeteilte Fassung spricht von einem antitheopaschitischen Gehalt des Hymnus. Als Datum seiner Offenbarung wird der 25. September 438 genannt (Brightman [531 Anm. 2] hat dazu wohl zutreffend vermerkt, daß dies wahrscheinlich das Datum seiner Einfügung in die byzantinische Liturgie ist und nicht das einer Offenbarung bzw. Entdeckung). Eine andere frühe Bezeugung des Trishagion begegnet in den Akten des Konzils von —»Chalkedon (ACO II/l/l, 195); dort ist es Teil der Akklamation der Bischöfe der Diökesis Oriens (was vermuten läßt, daß seine Konstantinopeler Herkunft nicht außer Frage steht). Deutliche Zeugnisse für seinen tatsächlichen Ursprung gibt es nicht. Nach —»Photius hat im 6. Jh. ein byzantinischer Mönch namens Job behauptet, das Trishagion sei eine Verbindung des DreimalHeilig von Jes 6 und der Bezeichnung Gottes als „Gott, der Starke, der Lebendige" in Ps 41,3 (LXX Mss.) unter Ersatz des einsilbigen Partizips (CÜV (lebend) durch „unsterblich" (Bibl. cod. 222: ed. René Henry, Paris, III 1962, 180f.). So gut wie sicher ist, daß es durch das cherubische Dreimal-Heilig von Jes 6,3 angeregt ist. Eine auffallende Vorwegnahme des Trishagions scheint in der Paraphrase dieser Stelle im Jesaja-Targum auf: „Und einer empfing vom anderen, und sie sagten: Heilig in den Himmeln der Höhe ist das Haus seiner Schekinah; heilig auf Erden ist das Werk seiner Kraft, heilig in aller Ewigkeit ist der Herr der Heerscharen" (6,3: Alexander Sperber [Hg.], The Bible in Aramaic. III. The Latter Prophets According to Targum Jonathan, Leiden 1962, 12f.). Wie im Fall des Sanctus begegnen in der Uberlieferung unterschiedliche Auffassungen über den Adressaten des Trishagion. Im Anschluß an das traditionell vorherrschende Verständnis des Sanctus hat die Kirche von Konstantinopel die -»Trinität als Adressaten

Trishagion

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des Trishagion angesehen; die syrischen Christen dagegen sahen nach dem in der ostsyrischen Tradition geläufigen Verständnis des Sanctus im Trishagion den Sohn angesprochen. Das führte zu einer erbitterten Auseinandersetzung, als Petrus der Walker (s. TRE 23,225,43-50) die Akklamationen des Trishagion durch den Zusatz ö azaopœOeiç Si ' ijfiàç („der für uns gekreuzigt ward") erweiterte. Für ihn und andere, die das Bekenntnis von Chalkedon verwarfen, weil sie darin die Einheit Christi nicht hinreichend gewahrt sahen, stellte dieser Zusatz heraus, daß der, der im Fleisch gelitten hat, der Sohn, die zweite Person der Trinität ist. Für die Konstantinopeler Auffassung dagegen schien er die Leidensfähigkeit der göttlichen Natur zu besagen und so der Häresie des Theopaschismus (-»Jesus Christus II.5.2.) das Wort zu reden. Diese Uneinigkeit über den theopaschitischen Zusatz zum Trishagion, obwohl tatsächlich nur ein wechselseitiges Mißverständnis, war ein lang anhaltender Streitpunkt zwischen den Orthodoxen und den von ihnen so genannten -»Monophysiten. Die Konstantinopeler Synode von 692 (Trullanum II oder Quinisextum) verurteilte den Zusatz (c. 81), und im 8. Jh. setzte sich -»Johannes von Damaskus in de orthodoxa fide (c. 54) wie auch in einer besonderen Abhandlung (epistola de hymno Trisagio) aus orthodoxer Sicht damit auseinander. 512 führte der Streit in Konstantinopel zu viertägigen Unruhen. Sie wurden durch ein Dekret des Kaisers Anastasios I. (491-518) ausgelöst, das die Einfügung der theopaschitischen Formel in das Trishagion verfügte und zur Folge hatte, daß rivalisierende Mönchsgruppen die beiden Fassungen des Hymnus gegeneinander ansangen und dann, „als ihre Lungen erschöpft waren, zu den handfesteren Argumenten von Knüppeln und Steinen griffen" (Gibbon [ed. Womersley] 966; allgemein ebd. Kap. 47). Das randalierende Volk verlangte die Absetzung des Kaisers, der die Erhebung nur dadurch zu Ende brachte, daß er barhäuptig ohne Diadem im Hippodrom erschien (s. die Berichte bei Theodoros Anagnostes 508: ed. Günther Christian Hansen, 1971 [GCS 54] 144,24-145,19; Marcellinus Comes: ed. Brian Croke, Sydney 1995 [Byzantina Australiensia 7] 35f.; Johannes Malalas 15,19; Evagrios, h.e. 111,44; Theophanes, a.m. 6005). Außer in seiner Grundfassung begegnet das Trishagion in der östlichen liturgischen Dichtung häufig auch in einer angereicherten Form, in der seine trinitarische oder christologische Deutung zum Tragen kommt. So schließt z. B. im byzantinischen Ritus einer der Verse der Vesper für den Heiligen Abend nach der Entfaltung des Geheimnisses der Menschwerdung: A là KpâÇcopev "Ayioç ô 0eôç, ô 17azrjp ô âvapxoç • "Ayioç 'Iaxopôç, ô Yiàç ô aapKœdeiç • 'Ayioç AOâvaxoç, zà IlapâKhjzoç IlveSpa" Tpiàç Ayia, ôôÇa aoi („Darum wollen wir rufen: Heiliger Gott, der Vater ohne Anfang; heiliger Starker, der fleischgewordene Sohn; heiliger Unsterblicher, der Tröster Geist; heilige Dreieinigkeit, Ehre sei dir", Menaion zum 24. Dezember). In Ägypten lautet eine frühe angereicherte Fassung: "Ayioç ô 0eôç • ô KaxaôeÇâpevoç ßp£(f>OQ ÈK napOévoo zexOfjvai. "Ayioç iaxopôç • à £7t ' âyicaAœv Mapiaç êvexOfjvai Be,Xr\aa.ç. "Ayioç âOâvazoç- ô èXOcbv âvâxaaOai zàv 'Aâàfi ÈK zoo 'Aiâoo. Xpiazàç ô 0eàç rjpcöv • êXétjaov tifiâç („Heiliger Gott, der auf sich genommen hat, als Säugling aus der Jungfrau geboren zu werden; heiliger Starker, der in den Armen Marias getragen werden wollte; heiliger Unsterblicher, der gekommen ist, Adam aus der Unterwelt zu führen; Christus unser Gott, erbarme dich unser", Ostracon Ad. 39: Walter Ewing Crum, Coptic Ostraca, London 1912; zit. nach Engberding 168 Anm. 8). Quellen und

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124

Tritojesaja

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Andrew Louth

Tritojesaja 1. Die tritojesajanische Frage 2. Das Heil Zions (Jes 6 0 - 6 2 ) 3. Die Bedingungen des Heils (Jes 5 6 - 5 9 ) 4. Die Durchsetzung des Heils (Jes 63 - 66) (Literatur S. 129)

1. Die tritojesajanische

Frage

Mit „Tritojesaja" werden die Kapitel 56-66 des Jesajabuchs (-»Jesaja/Jesajabuch) und ihre Verfasser bezeichnet. Der Kunstname wurde erstmals von Bernhard Duhm in seinem 1892 erschienenen Kommentar (XIII; [ 4 1922 = 5 1968] 15) vergeben. Nachdem Johann Christoph Döderlein (1745—1792) und J . G. -»Eichhorn in Jes 40—66 einen zweiten, von dem Propheten des 8. Jh. verschiedenen Jesaja aus der Exilszeit (-»Exil), den sog. —»Deuterojesaja, entdeckt hatten, erkannte man sehr bald, daß sich vieles in Jes 56—66 nach Form und Inhalt deutlich von der geschlossenen Komposition in Jes 40—55 abhebt. Duhm zog die Konsequenz und wies die fraglichen Kapitel in Gänze einem anderen Schriftsteller zu, den er „der Kürze halber" Tritojesaja nannte und in die Zeit —»Esras, kurz vor der Wirksamkeit -»Nehemias in -»Jerusalem, datierte. Damit stand die tritojesajanische Frage auf der Tagesordnung der Forschung. Weithin einig ist man sich bis heute über die Abtrennung von Jes 56—66. Gelegentliche Bestreitungen (Maass) können sich auf literarische und sachliche Querbeziehungen berufen, die gar nicht zu leugnen sind, aber „eher gegen als für Deuterojesaja" sprechen (Duhm [1892] XVIIIf.; [ 5 1968] 19). Die Zitate und Anspielungen auf Jes 4 0 - 5 5 und darüber hinaus (notiert bei Cheyne; Zillessen; Abramowski; Elliger, Deuterojesaja; Odeberg u.a.) haben in Jes 56—66 eine „Umbiegung" (Duhm, ebd.; eingehend dazu Zimmerli; Beuken; Steck, Studien; Lau) erfahren, die nicht einfach mit der Variation im Sprachgebrauch ein und desselben Propheten erklärt werden kann, sondern die Einheitlichkeit von Jes 4 0 - 6 6 in Zweifel zieht und im übrigen auf eine - wie immer geartete - Abhängigkeit, d.h. auf bewußte Nachahmung des Originals, schließen läßt. Mit der Abtrennung von Jes 5 6 - 6 6 ist das Verhältnis von Deutero- und Tritojesaja aber keineswegs geklärt. Offen ist, wer oder was sich hinter der literarischen Größe „Tritojesaja" verbirgt, und darin gehen die Meinungen erheblich auseinander. Für lange Zeit setzte sich die von Duhm „der Kürze halber" aufgestellte Einheitshypothese durch (Littmann; Zillessen; Elliger; Zimmerli; Odeberg; Bonnard; Polan). Sie lebt von dem Postulat des dichtenden -»Propheten. Für die Eigenheiten der einzelnen Stücke ist der inspirierte Autor, für die Zusammenstellung der epigonale Sammler oder Redaktor verantwortlich (-»Redaktionsgeschichte/Redaktionskritik 4.4.). Die vielen Bezugnahmen Tritojesajas auf Deuterojesaja sind der Grund, warum „seine Schrift der deuterojesajanischen angehängt wurde" (Duhm [1892] X I X ; [ s 1968] 19). Elliger (Verhältnis) identifizierte schließlich den Verfasser von Jes 5 6 - 6 6 mit dem Redaktor von Jes 40—55 und erklärte Deuterojesaja zum Meister und Tritojesaja zu dessen „Schüler". Weder die Einheitshypothese noch die damit verbundene biographische Erklärung der literarischen Querbeziehungen hat sich bewährt. Viele neuere Arbeiten (Westermann;

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Pauritsch; Sehmsdorf; Vermeylen, Prophète; Sekine; Steck, Studien; Koenen; Lau) rechnen - wie vor und vereinzelt nach Duhm üblich (vgl. die Tabelle bei Cramer; Abramowski) - wieder mit verschiedenen Verfassern. Als Kern der Überlieferung werden nicht selten die Kapitel 60—62 angesehen, die Deuterojesaja am nächsten stehen, der Rest wird auf verschiedene andere Autoren und Redaktoren verteilt. Die literarkritische Differenzierung zieht eine differenzierte Sicht der literarischen Querbeziehungen nach sich. Dabei kristallisieren sich drei Hypothesen heraus: 1) die formgeschichtliche oder herkömmliche Logiert- und Sammlungshypothese-, nach ihr geht der Grundbestand auf Logien eines oder mehrerer anonymer Propheten, des Propheten und Deuterojesaja-Schülers „Tritojesaja" (Westermann; Sekine; Koenen) oder einer Tritojesaja-Schule (Pauritsch; Sehmsdorf; Hanson), nebst Einzeltexten aus vorexilischer (Vermeylen), exilischer und nachexilischer Zeit zurück, die von einem oder mehreren Redaktoren gesammelt, miteinander verbunden und an die deuterojesajanische Schrift angehängt, im Zuge dessen ergänzt und an den Kontext angeglichen wurden; 2) die redaktionsgeschichtliche oder Fortschreibungshypothese-, nach ihr hat es weder einen Propheten „Tritojesaja" noch ein selbständiges Tritojesajabuch gegeben; vielmehr handelt es sich um redaktionelle Auslegungstexte, die von vornherein in und für ein vorgegebenes Buch, zunächst das Deuterojesaja- (Jes 6 0 - 62 angeschlossen an Jes 40-55), dann das ganze Jesajabuch (Jes 56—59 und Jes 63—66 angeschlossen an Jes 1—62), geschrieben wurden (Steck, Studien); 3) die Vermittlungshypothese, ein Verschnitt aus 1) und 2); danach stammen die Texte in Jes 5 6 - 6 6 von schriftgelehrten Autoren, „Tritojesaja" und drei „Tradentenkreisen", die in literarischer Abhängigkeit, aber unabhängig vom Kontext, Deuterojesaja, bald auch den ursprünglichen „Tritojesaja" sowie Jesaja und andere Prophetenschriften auslegen. Die Schriftstücke und weitere Einzelüberlieferungen seien von Redaktoren zusammengestellt und nach äußerlichen Gesichtspunkten an das Jesajabuch angehängt worden (Lau). Von den drei Hypothesen hat die von Steck begründete zweite die größte Wahrscheinlichkeit für sich. 1) berücksichtigt die durchgängigen literarischen Querbeziehungen nicht genug und hängt noch zu sehr an einem überkommenen Prophetenbild, 3) erkennt zwar den — mit der Inspiration keineswegs konkurrierenden — schriftgelehrten Charakter sämtlicher Texte an, reißt den Zusammenhang mit der literarischen Hauptvorlage, dem Jesajabuch, aber unnötig auseinander und arbeitet mit der künstlichen Unterscheidung von Autor und Redaktor. Nur was die literarkritische Feindifferenzierung der Texte anbelangt, wird man den Forschern unter 1) und 3) Recht geben müssen. Steck nimmt drei mehr oder weniger einheitliche Fortschreibungsschübe, Jes 60-62, Jes 5 6 - 5 9 und Jes 63-66, an. Die von ihm vorgetragenen Beobachtungen und Argumente für die literarischen und sachlichen Zusammenhänge sind gewichtig, erklären sich im Einzelfall aber ebensogut, wenn nicht besser, mit der für die Blöcke im Ganzen von ihm selbst favorisierten Ergänzungshypothese. Entstehungsort der tritojesajanischen Texte ist Jerusalem. Die vorausgesetzten zeitgeschichtlichen Verhältnisse lassen sich nicht mit Bestimmtheit fixieren (dazu Gressmann; Littmann; Cramer; Hanson und besonders Steck, Heimkehr; ders., Studien). Die Datierung hängt von der Entstehungshypothese ab. Mit vorexilischer Entstehung einzelner Texte rechnen nur wenige, von vielen wird das Gebet in Jes 63-64 für exilisch gehalten (doch vgl. unten). Ansonsten gilt: terminus post quem ist der in Jes 60 vorausgesetzte Bau des Zweiten -»Tempels, terminus ad quem die Bezeugung des ganzen Jesajabuchs im Väterhymnus von Jesus Sirach (Sir 48,22-25) und in den Handschriften von -»Qumran (Steck, Jesajarolle). 2. Das Heil Zions (Jes 60-62) Ihren Anfang nahm die tritojesajanische Überlieferung in Jes 60—62. „Steh auf, werde licht, denn dein Licht ist gekommen, und die Herrlichkeit JHWHs strahlt über dir!" Angeredet ist eine Frau, wer sie ist, wird nicht gesagt. Daß es sich um Zion-Jerusalem

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handelt, kann nur wissen, wer vorher Jes 40-55, des näheren Jes 49—54 (ab 49,14), gelesen hat, wo die Stadt als Frau JHWHs und Mutter von Kindern vorgestellt ist. Allein dieser Umstand widerrät der Annahme, mit 60,1 beginne ein ehemals selbständiges Logion oder Schriftstück eines anonymen Propheten, und zwingt zu dem Schluß, daß der tritojesajanische den deuterojesajanischen Text nicht nur kennt und benutzt, sondern als Kontext voraussetzt. Im weiteren von Jes 60 wird die Anrede in V. 1 dahingehend entfaltet, daß der Lichtglanz JHWHs, der über Zion erstrahlt und die Stadt leuchten läßt, auf diese Weise auch in die Welt leuchtet und Völker und Könige anzieht (V. 2f.). Mit ihnen kommen die „Söhne und Töchter" Zions, die jüdische -»Diaspora (V. 4.9), und vor allem die Schätze der Völker nach Zion-Jerusalem (V. 5 - 9 ) . Damit könnte der Text gut enden, doch schließen sich in V. 10—22 noch verschiedene Präzisierungen an, von denen einige — vielleicht — ursprünglich (V. 13.15f., sofern es sich auch in V. 7.9 und im Ganzen um eine Gottesrede handelt; V. 14, sofern man die Wiederaufnahme von V. 3 als bewußtes Stilmittel ansehen darf; vgl. Steck, Studien 50ff.l20ff.), die meisten jedoch nachgetragen sind: Fremde, nicht die Söhne, bauen die Mauern Jerusalems auf und sorgen dafür, daß die Tore offen stehen und der Völkertribut zur Dauereinrichtung wird (V. 10f., vgl. V. 5.7); unwillige Völker und Königreiche werden umkommen (V. 12); die Bewaldung des Libanon kommt, um den Tempel zu schmücken (V. 13, vgl. V. 6.7b); die Söhne der Bedrücker kommen, um sich vor Zion niederzuwerfen (V. 14, vgl. V. 3); JHWH wandelt Zions Schmach in ewige Wonne und läßt sie - einmalig (nach V. 1 - 9 ) bzw. dauerhaft (nach V. lOf.) — die Milch der Völker schlürfen und an der Brust von Königen trinken (V. 15f.); J H W H selbst ist es, der das Gold und das Silber bringt und für geordnete Verhältnisse in den eigenen Grenzen sorgt (V. 17f.); er ist auch das ewige Licht, das Sonne und Mond überflüssig macht (V. 19f.); die Bewohner Zions werden Gerechte sein und das Land erben (V. 21); das Volk soll in Bälde kräftig werden und sich mehren (V. 22). In seiner Substanz speist sich der Text aus Jes 49 und 55. Er will auf neue Weise ausführen, wer der „Knecht J H W H s " ist, der in Jes 49,6 zum „Licht der Völker" gemacht wird, welche Rolle die Völker dabei spielen, die nach Jes 49,14ff. die „Söhne und Töchter" Zions heimführen und vor Zion huldigen (vgl. besonders V. 18.22 f. mit 60,3.4.9; 49,26 mit 60,16), und was der Völkerzug darüber hinaus zur „Verherrlichung" beiträgt, von der Jes 55 spricht (vgl. V. 5.13 mit 60,9 sowie 60,7.13). Das Hauptinteresse richtet sich auf das Verhältnis zur Völkerwelt, deren Zug nach Zion in Jes 49 eine untergeordnete Rolle spielt und sich in Jes 60 verselbständigt (vgl. schon 45,14 und Hag 2,6ff.). Inspiriert von dieser Auslegung wird der Fortschreibungstext bald selbst zur Grundlage weiterer Explorationen, die aus ihm, seinen Vorlagen und anderen Texten des Deutero- und schließlich des ganzen Jesajabuchs zusätzliche Details ableiten und das Bild vom Heil Zions nach verschiedenen Seiten sukzessive vervollständigen, teilweise (besonders in 60,17f.l9f.21.22) theologisch modifizieren. Im selben Stil wächst die Überlieferung in Jes 61—62 an. Nach der Anrede der zum „Knecht J H W H s " gewordenen Frau Zion in Jes 60 ergreift in Jes 61 der „Knecht JHWHs" selbst das Wort: „Der Geist des Herrn J H W H liegt auf mir, da JHWH mich gesalbt hat, den Armen frohe Botschaft zu bringen, hat er mich gesandt, zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, den Gefangenen Freiheit auszurufen, den Gebundenen Lösung, ein Jahr des Wohlgefallens JHWHs auszurufen, einen Tag der Rache für unseren Gott, zu trösten alle Trauernden..." (V. 1—3). Das Ich des redenden Gottesknechts, das vom Heil anderer kündet, taucht in V. 10 f. wieder auf und dankt seinem Gott für das Heil, das ihm selbst widerfahren ist. Dazwischen stehen Explikationen des Heils, von denen V. 4.9 über andere spricht und ihnen den Wiederaufbau und ihren Nachkommen Ruhm verheißt, V. 5f. andere direkt anredet und V. 3f. neu auslegt (vgl. 60,10f.l4.16), V. 7f. ihren Gott zitiert und V. 9 einen neuen Sinn gibt (vgl. 60,14.21 sowie Mi 3,9f.). Wenigstens V. 5—8, wenn nicht schon V. 4.9, sind Zusätze, die die

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Ich-Rede des Knechts in V. 1—3.10f. unterbrechen und mit theologischen Epexegesen anreichern. Das Ich von Jes 61 ist der Gottesknecht aus Jes 42 und 49 (vgl. besonders 42,6; 49,8ff.) und wird in eins gesehen mit denen, die in 40,1 — 11 zur Weitergabe der Heilsbotschaft aufgefordert werden, in 40,9—11 heißt der Freudenbote Z i o n . Für gewöhnlich identifiziert m a n das Ich mit d e m Propheten. Die literarischen Vorlagen und die Selbstaussagen in 61,10f. lassen jedoch den von Steck (Studien 16f.l33f.) gemachten Vorschlag als sehr viel plausibler erscheinen, d a ß es sich um niemand anderen als den „ K n e c h t " Zion von Jes 60 handelt, wohin auch eine Vielzahl sprachlicher und sachlicher Bezüge bestehen (vgl. 61,3 mit 60,6.7.9.13.19; 61,10f. mit 60,15). Steck (Studien 129ff.) zieht daraus die Konsequenz, d a ß Jes 6 0 - 6 1 im G r u n d t e x t vom selben Verfasser stammen und mit der von Kratz (Kyros 206ff.) nachgewiesenen Ebed-Israel-Schicht in Jes 4 0 - 5 5 zu verbinden seien. Als sicher k a n n danach gelten, d a ß Jes 60 Fortschreibung von Jes 4 0 - 5 5 und Jes 61 Weiterführung von Jes 4 0 - 5 5 . 6 0 ist, die den Vortext, mit dem „Tag der R a c h e " in 61,2 übrigens auch Jes 34,8 und also den ganzen Jesaja (dazu Steck, Studien 106ff.; aber auch Lau 75f.), voraussetzt. O b die Fortschreibung in einem oder in zwei Anläufen erfolgte, ist demgegenüber zweitrangig. Jedenfalls jünger ist die Fortsetzung in Jes 62, die wiederum auf Jes 6 0 - 6 1 im Verbund mit Jes 4 0 - 5 5 und mit 6 2 , 1 0 - 1 2 darüber hinaus auf den ganzen Jesaja (Jes 35) blickt. Sämtliche - ursprünglichen und mit der Zeit zugewachsenen — T h e m e n aus Jes 6 0 - 6 1 haben hier - wiederum nach und nach (vgl. Steck, Studien 124f.) — eine Bündelung und Akzentverlagerung erfahren. H i n t e r g r u n d ist die Verzögerung des Heils von Jes 6 0 - 6 1 , die, wie in den Zusätzen in Jes 6 0 - 6 1 , zur Intensivierung und theologischen Zentrierung der Verheißungen f ü h r t : Ein neuer, von J H W H bestimmter N a m e und die Beziehung zu J H W H selbst sind das „ L i c h t " , das Z i o n leuchten soll ( 6 2 , 1 . 2 - 5 nach 60,1 ff.), sie heben die Verlassenheit auf (nach 60,14 sowie 49,14ff.; 54); die (wiederaufgebauten) M a u e r n Jerusalems dienen als Standort der Wächter, die keine R u h e geben, bis J H W H Zion-Jerusalem z u m Lobpreis auf Erden gemacht hat (62,6f. nach 60,10f.; 61,3.10f.); die Fremden, die nach 60,10f. die M a u e r n bauen, nach 61,5 zu Feldarbeitern degradiert werden, werden ganz aus dem heiligen Volk ausgeschieden und b e k o m m e n nichts zu essen (62,8f. nach 61,5f.); die H e i m k e h r der Diaspora, des „heiligen Volkes" und der „Erwählten J H W H s " , steht als Akt f ü r sich unmittelbar bevor ( 6 2 , 1 0 - 1 2 nach 60,4.9 sowie 40; 35; 11,11 ff.; dazu besonders Steck, Heimkehr). So sind dem Jesajabuch mit Kap. 60, 61 und 62 nacheinander eine Reihe von Abschlüssen zugewachsen, die zunächst nur Deuterojesaja, in manchen Zusätzen und vor allem mit dem auf das Scharnierstück Jes 35/40,1—9 rekurrierenden Ende in 62,10—12 den ganzen Jesaja fortschreiben. Sie handeln von der Verherrlichung Zions und dem Beitrag der Völker, wobei sich im Laufe der Fortschreibungsgeschichte der Blick mehr u n d mehr verengt u n d auf die inneren Verhältnisse in Z i o n und im Gottesvolk sowie die Beziehung zu J H W H richtet. 3. Die Bedingungen

des Heils (Jes 56—59)

Wo die Fortschreibungsgeschichte von Jes 6 0 - 6 2 endet, beginnt die Entwicklung in den Kapiteln 5 6 - 5 9 . Kerntext, der an die Heimkehrverheißung in Jes 55,12f. anschließt u n d zu Jes 60—62 h i n f ü h r t , ist hier die Gottesrede 57,14—19: „(Und er spricht:) Schüttet a u f , schüttet auf, b a h n t einen Weg! R ä u m t den Anstoß aus d e m Weg meines Volkes!" Die Formulierung a h m t 40,3 u n d 62,10 nach, doch meint „der Weg meines Volkes" hier nicht die H e i m k e h r der Diaspora, sondern - im übertragenen Sinne wie 55,8 f. und 57,17 - den Lebens- und Heilsweg des Volkes, der von Hindernissen befreit werden m u ß , um das Heil von Jes 6 0 - 62 zu erlangen (vgl. 57,15.18 mit 6 1 , 1 - 3 ; 57,19 mit 60,9). An J H W H , der nach Jes 8,11.14 z u m „ H i n d e r n i s " auf dem „Weg des Volkes" geworden ist, soll es nicht liegen; er, der nach Jes 6,1.3 der „ H o h e und E r h a b e n e " und der „Heilige" heißt, will nicht länger im Gericht gegen sein Volk streiten und zürnen, sondern die

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Verheißungen von Jes 6 0 - 6 2 wahr machen und nach Jes 9,1—5 mit dem Licht auch den „Frieden für fern und nah" bringen (57,15-19). Die Aussagen bewegen sich im Horizont des ganzen Jesajabuchs. Sie nehmen den Gerichtsbeschluß von Jes 6 - 8 zurück und leiten so über zu der mit Jes 9 korrelierten Verheißung von Jes 6 0 - 6 2 . Nur müssen dafür auch die - im Jesajabuch ausführlich beschriebenen - Heilshemmnisse im Volk selbst, die zum Gericht von Jes 6—8 geführt haben, vorher beseitigt werden (57,14.17). Bei der Formulierung von Jes 5 7 , 1 4 - 1 9 dürfte neben Jes 6 - 8 auch Jer 6,13 f. par. 8,10f. und 6,16—21 (besonders V. 16.21) eingewirkt haben. Dies und die - vermutlich zeitgeschichtlich bedingte - Nötigung zur theologischen Weiterarbeit an der tritojesajanischen Überlieferung waren der Anlaß, die nach wie vor bestehenden Heilshemmnisse im Volk an Ort und Stelle ausführlicher zu behandeln. Nach dem Vorbild von Jer 6 (sowie Jer 12,7ff. u.a.) entstand so die Scheltrede in 5 6 , 9 - 5 7 , 1 3 , die - mit oder ohne die Uberschrift 56,1 - wiederum an Jes 55 (besonders V. 1 - 3 . 1 2 f . ) anschließt. Sie hält den „Hirten", d.h. den Führern des Volkes (56,9-12), einer direkt angesprochenen Gruppe von Hurensöhnen ( 5 7 , 3 - 5 ) und der ebenfalls direkt angesprochenen Frau Zion (57,6—13), ihre sozialen und vor allem kultischen Frevel vor, um deutlich zu machen, um was es bei dem „Hindernis" in 57,14 geht, das den Eintritt des Heils von 57,15ff.; 6 0 - 6 2 aufhält und das es zu beseitigen gilt. 5 7 , l f . 2 0 f . schränken die Verheißung ein auf den Gerechten und schließen die Frevler im Volk aus; 5 6 , ( 1 ) 2 - 8 dehnen sie aus auf alle in Israel und unter den Völkern, die den Sabbat halten und sich dem Bund JHWHs (vgl. 61,8) anschließen. Ebenso hat sich in Jes 5 8 - 5 9 eine umfängliche Erörterung verschiedener Heilshindernisse zwischen die Verheißung in 5 7 , 1 4 - 2 1 und 6 0 - 6 2 geschoben, die in Jes 58 soziales Wohlverhalten zum rechten Fasten erklärt (V. 1 - 1 2 ) und kultische Vergehen anprangert (V. 13f.), in Jes 59 Recht und Gerechtigkeit als Weg zu Gott und seinem Heil, dem neu bestimmten Licht von Jes 6 0 - 6 2 (vgl. 5 8 , 8 - 1 2 ; 59,9), das machtvolle Einschreiten JHWHs gegen seine Feinde (58,15ff.) und am Rande auch die Völkerfrage (59,18f.) zum Thema hat. In 59,21 werden der Prophet und seine Nachkommen (vgl. 8 , 1 6 - 1 8 ) als Gottesknecht und Mittler der Offenbarung und des Heils angesprochen (dazu Steck, Jesaja). Die Texte sind nach und nach entstanden und vielfach ergänzt, nehmen ihre Formulierungen aus dem ganzen Jesajabuch und anderen Prophetenschriften und verleihen der deutero- und davon abhängigen tritojesajanischen Heilsverheißung für Zion-Jerusalem und das Gottesvolk einen - schon stark an die Paränesen der Apokalyptik und die synoptischen Evangelien erinnernden - eschatologisch motivierten (sozial-)ethischen, stellenweise kultkritischen und im ganzen gesetzlichen Charakter (zur Analyse im einzelnen vgl. Koenen und Lau; zum literarischen Horizont und zur Gesamtanlage der Texte vgl. Steck, Studien 1 6 9 - 2 1 3 ) . 4. Die Durchsetzung

des Heils (Jes 63—66)

Nach den verschiedenen Buchschlüssen in Jes 62 (V. 1 - 7 . 8 f. 1 0 - 1 2 ) setzt der nächste große Schlußteil des Jesajabuchs in 63,7 ein. Das dazwischen eingeschobene Gerichtswort 6 3 , 1 - 6 , das wie 59,18; 60,12; 61,2 („Tag der Rache für unseren Gott" nach 34,8) mit kräftigen Farben die Vernichtung der Völker ausmalt, ergänzt die Heimkehr der Diaspora in 6 2 , 1 0 - 1 2 nach Jes 35 um diesen einen, die positive Sicht der Völker in Jes 6 0 - 6 2 einschränkenden Gesichtspunkt nach Jes 34 (vgl. auch 4 9 , 1 4 - 2 6 , hier V. 2 4 - 2 6 ) . Es wird von den nachfolgenden Fortschreibungen in Jes 6 3 - 6 6 vorausgesetzt, aber modifiziert. Das folgende Gebet in Jes 6 3 , 7 - 6 4 , 1 1 klingt zunächst wie ein Echo auf die Heilsaussagen von 62,11 f . / 6 3 , 1 - 6 : „An die Gnadenerweise JHWHs will ich erinnern, an die Ruhmestaten JHWHs, gemäß allem, was J H W H für uns getan hat, und die Fülle des Guten für das Haus Israel, das er ihnen getan hat, gemäß seiner Barmherzigkeit und der Fülle seiner Gnaden." Doch nach einer kurzen Erinnerung an die Vorzeit (V. 8f.)

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schlägt der hymnische Ton ab V. 10 plötzlich um in eine Anklage des Volkes, der verstockten „ S ö h n e " und „ K n e c h t e " J H W H s , sowie in Klagen, Anklagen und eindringliche Bitten zu J H W H , dem „ V a t e r " und Schöpfer seines Volkes, die nun J H W H selbst an die Vorzeit erinnern und ihn um sein Einschreiten bitten. Das Gebet wird von vielen als Einzeltext aus der Exilszeit angesehen, der mehr oder weniger zufällig ins Jesajabuch und an seine jetzige Stelle geraten sei. Wie Steck (Studien 233 ff.) vorgeschlagen und Goldenstein im einzelnen nachgewiesen haben, fügen sich die Formulierungen jedoch vorzüglich in die nähere und fernere Umgebung des ganzen Jesajabuchs im damals erreichten Umfang von Jes 1,1—63,6 ein und sind für diesen Kontext wie gemacht. Der Beter nimmt - angesichts anhaltender Heilsverzögerung - gewissermaßen das Amt der Wächter und Erinnerer von 62,6 f. wahr, eine Stelle, die ihn über das Stichwort der „ R u h e " und des „Schweigens" auf Ps 83 und die Idee gebracht haben könnte, das Buch mit einem auf die im Jesajabuch verheißene eschatologische Wende berechneten Gebet im Stil der Volksklage zu beschließen. Topik und theologische Prägung weisen in späte Zeit, nicht weit von ->Hiob, —>Kohelet und dem werdenden Psalter (-•Psalmen/Psalmenbuch). Doch bei dem Gebet als Abschluß des Buches ist es nicht geblieben. Vor allem die massiven und theologisch brisanten Anklagen Gottes (vgl. 63,17), konfrontiert mit der Überlieferung und zeitgeschichtlichen Erfahrungen, trieben zur Formulierung einer Antwort auf das Gebet in Jes 6 5 - 6 6 (vgl. Steck, Studien 221 ff.; Koenen 159ff.). Die Antwort setzt in 65,1 unvermittelt als Gottesrede ein und umfaßte ursprünglich 6 5 , 1 - 7 , vielleicht auch nur 65,1 f., und 65,16b—25. J H W H weist die Vorwürfe zurück und erklärt die Not als gerechtes Gericht für begangene Kultvergehen (V. 1—7). Dafür wird die Erschaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde in Aussicht gestellt, die, wie mit Anklang an Deuterojesaja gesagt wird, alles Frühere vergessen macht und auch die vorausgegangenen Verheißungen, auf die vielfach angespielt wird, überbietet. 6 5 , 8 - 1 6 a sowie 6 6 , 1 - 6 . 1 4 b - 1 7 schränken den Kreis derer ein, denen die Antwort gilt, und scheiden die „ K n e c h t e " und „ E r w ä h l t e n " J H W H s von ihren „ B r ü d e r n " , die J H W H verlassen haben und dem Götzendienst nachgehen (vgl. 57,3ff.7ff.; 65,3—7). In 66,7—14a werden diejenigen, denen die Verheißung von 6 5 , 1 6 b - 2 5 gilt, mit den „Söhnen Z i o n s " aus Jes 4 9 - 5 4 und 6 0 - 6 2 identifiziert. 6 6 , 1 6 . 1 8 - 2 4 trägt schließlich noch nach, daß die Scheidung zwischen Frommen und Sündern nicht nur in Israel, sondern, der Neuerschaffung von Himmel und Erde entsprechend, in einem universellen Weltgericht an „allem Fleisch" (vgl. 40,5; 49,26) vollzogen wird, was den Völkern wie in 5 6 , 2 - 8 die Möglichkeit eröffnet, in den Dienst J H W H s zu treten. Der universelle Horizont der Gottesantwort in Jes 6 5 - 6 6 erinnert nicht nur an Gen 1 (vgl. Steck, Himmel), sondern lenkt nicht von ungefähr zurück auf den Anfang des Jesajabuchs, wo Himmel und Erde als Zeugen der Anklage gegen die abgefallenen „ S ö h n e " J H W H s angerufen werden (Jes 1,2). Vom ersten bis zum letzten Vers erweisen sich die tritojesajanischen Stücke als schriftgelehrte Prophetie, die unter Bezugnahme auf den Kontext des Buches und andere schriftlich vorliegende Überlieferung sowie in Anbetracht sich wandelnder zeitgeschichtlicher Umstände des 5 . - 2 . J h . v. Chr. das Jesajabuch fortschreibt und im Zuge dessen auslegt und redaktionell bearbeitet. Literatur 1. Ausgewählte Kommentare seit Duhm: Bernhard Duhm, 1892 "1922 = 51968 (HK 3/1). - Karl Marti, 1900 (KHC 10). - Paul Volz, 1932 (KAT 9/2). - Claus Westermann, 1966 "1981 (ATD 19). - John L. McKenzie, 1968 (AncB 20). - Pierre-Emile Bonnard, 1972 (EtB). - Roger N. Whybray, 1975 '1981 (NCeB). - John D.W. Watts, Waco, Tex. 1987 (Word Biblical Commentary 25). - Willem A.M. Beuken, Jesaja deel IIIA/B, Nijkerk 1989 (De Prediking van het Oude Testament). - Grace I. Emmerson, 1992 (OTGu). 2. Monographien und Artikel: Rudolf Abramowski, Zum literarischen Problem des Tritojesaja: ThStKr 96 - 9 7 (1925) 90-143. - Thomas Kelly Cheyne, Intr. to the Book of Isaiah, London 1895; dt.: Einl. in das Buch Jesaja, Giessen 1897. - Karl Cramer, Der gesch. Hintergrund der Kap. 5 6 - 6 6

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Troeltsch, Ernst

(1865-1923)

1. Die Anfänge 2. Die „Kleine Fakultät" in Göttingen 3. Bonn und Heidelberg 4. „Umbildung" der Theologie 5. Deutung des Protestantismus 6. „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" 7. Lehrtätigkeit in Berlin. Geschichtsphilosophie 8. Wirkungsfelder des Theologen, Kulturtheoretikers und Wissenschaftspolitikers 9. Rezeptionsgeschichte (Quellen/ Literatur S. 138) 1. Die

Anfänge

Ernst Peter Wilhelm Troeltsch w u r d e a m 17. F e b r u a r 1 8 6 5 als Kind des praktischen Arztes Ernst Troeltsch und seiner F r a u Eugenie, geb. Koeppel, in H a u n s t e t t e n bei Augsburg geboren (zur Biographie: Drescher, Ernst Troeltsch; Wesseling). N a c h der G y m nasialzeit an der Studienanstalt St. A n n a in Augsburg 1 8 7 4 - 1 8 8 3 und dem einjährigen Militärdienst begann er im Wintersemester 1 8 8 4 / 8 5 an der Theologischen Fakultät der Universität - » E r l a n g e n mit dem Studium der Theologie. Die M o t i v e zur Studienwahl hat Troeltsch rückblickend mit einem „urwüchsig starke[n] religiöse[n] D r a n g " begründet: „In der Theologie hatte m a n d a m a l s so ziemlich den einzigen Z u g a n g zur M e t a physik und äußerst spannende historische P r o b l e m e " (Gesammelte Schriften [GS] IV, 4). In der Verbindung von M o t i v e n metaphysischen Denkens mit strengem historischem Methodenbewußtsein zeichnet sich eine spannungsreiche Denkstruktur ab. Sie wird in dem umfangreichen und k o m p l e x e n Werk von den Anfängen her mit systematischer Konsequenz verfolgt, zunächst im Blick auf die Konstitutionsprobleme einer wissen-

Troeltsch

131

schaftlichen Theologie im Kontext der modernen -»Wissenschaft sowie in der Bestimmung des Verhältnisses von —•Religionsphilosophie und -»Religionsgeschichte, des weiteren in der Frage nach der Gegenwartsbedeutung des Protestantismus in der Geschichte der Entstehung der modernen Welt und der daran anschließenden Untersuchung der theologischen und historischen Grundstrukturen der Sozialethik des Christentums und schließlich in dem geschichtsphilosophischen Projekt der Gestaltung einer künftigen europäischen Kultursynthese. Troeltsch hat die großen T h e m e n seines Werkes in der Überzeugung eines T h e o l o g e n verfolgt, den die innere Dynamik und das dezidierte Gegenwartsinteresse seiner Fragestellung über die Schranken der binnentheologisch ausgerichteten Denkformen hinausführte und der in der Kommunikation mit den neu sich formierenden Kulturwissenschaften der Theologie neue Perspektiven erschlossen hat. Z u m Wintersemester 1885/86 wechselte Troeltsch von der bayerischen Landesuniversität an die Universität -»Berlin. Z w a r vermittelte ihm die Reichshauptstadt die aktuelle Begegnung mit der Kultur und der politischen Geschichte -»Preußens, aber der Student der Theologie fand hier noch keinen seine akademischen Interessen befriedigenden theologischen Lehrer. Z u m Wintersemester 1886 ging Troeltsch, angeregt von J . - » W e i ß , dem späteren Schwiegersohn A. - » R i t s c h l s , nach - » G ö t t i n g e n . Die von Ritsehl begonnene Umbildung der Theologie mit dem Ziel, der in der persönlichen Glaubensgewißheit gründenden Freiheit der christlichen Lebensführung gegenüber dem Dogmatismus der „ k i r c h l i c h e n " Theologie im Prozeß der theologischen Theoriebildung R a u m zu schaffen, faszinierte die jüngere Theologengeneration. Die seit F.C. - » B a u r in systematischer Absicht betriebene kritische Dogmen- und Theologiegeschichte bildete das Medium, in dem im Gefolge F.D.E. -»Schleiermachers die Debatte um das Selbstverständnis der T h e o l o g i e unter den Bedingungen der M o d e r n e geführt wurde und M ö g lichkeit wie Notwendigkeit einer zeitgerechten Neubildung der T h e o l o g i e in Kontinuität mit ihren biblischen und reformatorischen Quellen kontrovers verhandelt wurden. Troeltsch trat in diese Debatte ein mit seiner Erstlingsschrift Johann Gerhard und Me-

lanchthon.

Untersuchung zur Geschichte

der altprotestantischen

Theologie,

mit der er

1891 in Göttingen den akademischen Grad eines Lizentiaten erwarb und zugleich von der Fakultät habilitiert wurde. Z u v o r hatte er 1888 in Ansbach die theologische Aufnahmeprüfung abgelegt und war im Anschluß daran in das Predigerseminar in M ü n c h e n eingetreten. Am 2. Dezember 1888 wurde er in der Matthäuskirche zu M ü n c h e n ordiniert und nach kurzer Tätigkeit als Hilfsgeistlicher für die wissenschaftliche Fortbildung nach Göttingen beurlaubt.

2. Die „Kleine Fakultät"

in

Göttingen

In Göttingen war Troeltsch eng verbunden mit einer Gruppe junger Privatdozenten und Habilitanden, die mit religionsgeschichtlichen Untersuchungen der Bibelforschung neue, über die normativ besetzte innerchristliche Exegese hinausgehende Perspektiven erschlossen und zugleich Klarheit über die zukünftige Aufgabe der Theologie zu gewinnen suchten. Z u diesem als „Kleine F a k u l t ä t " bekannt gewordenen Kreis gehörten W. -»Bousset, W. -»Wrede, Alfred Rahlfs ( 1 8 6 5 - 1 9 3 5 ) , Heinrich H a c k m a n n ( 1 8 6 4 1935) und Johannes Weiß. Die Troeltsch dabei zugeschriebene R o l l e eines Systematikers und Dogmatikers der -»Religionsgeschichtlichen Schule ist von ihm später als Aufgabe einer „religionsgeschichtlich orientierten D o g m a t i k " beschrieben worden, die von einer „universalhistorischen Religionsvergleichung" her die „prinzipielle und allgemeine Höchstgeltung des Christentums für unseren Kultur- und Lebenskreis zu e r w e i s e n " habe (GS II, 507.509). Diese Aufgabe hat Troeltsch in seiner zweiten selbständigen Publikation, der aus einem Vortrag hervorgegangenen Schrift Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902), in einer bis heute maßgeblichen Weise ausgeführt. D i e Habilitation eröffnete dem 26jährigen Privatdozenten den Weg, in Lehrtätigkeit, akademischen Vorträgen und literarischer Produktion die Fragestellung auszuarbeiten, wie er sie im Ausblick seiner Habilitationsschrift formuliert hatte: Im „Konflikt des

132

Troeltsch

modernen Weltverständnisses mit der im Dogma repräsentirten antiken Weltauffassung" die Stellung der -»Reformation und der protestantischen Theologie in Kontinuität zur „Gesammtbewegung der Theologie" zu bestimmen (Troeltsch, Vernunft 212f.). 3. Bonn und

Heidelberg

Bereits im März 1892 wurde Troeltsch auf Empfehlung von Bernhard Weiß, dem Berater des preußischen Kultusministers, auf ein Extraordinariat nach —»Bonn berufen. Als Mitglied der Bonner Evangelisch-Theologischen Fakultät nahm Troeltsch 1893 an dem Bonner theologischen Ferienkurs teil, einer Einrichtung zur Vermittlung theologischer Wissenschaft an die Pfarrerschaft. Die vier Vorträge, die Troeltsch dafür ausgearbeitet hat, sind der erste größere Text, in dem Troeltsch seine Fragestellung entwickelt. Unter dem Gesamtthema Die christliche Weltanschauung und ihre wissenschaftlichen Gegenströmungen (GS II, 227-327) diskutieren die Vorträge den Weltanschauungskonflikt unter der kritischen Frage nach der „Zusammenbestehbarkeit" von Christentum und moderner Wissenschaft. Die von Albrecht Ritsehl und seiner Schule vertretene Begründung der Theologie in der religiösen Gewißheit und persönlichen Entscheidung, deren theologische Geltung in der christlichen Gemeinde verortet ist, erscheint Troeltsch als Rückzug in ein apologetisches Reservat. Troeltsch begreift die Denkbewegung der Theologie in Beziehung zum geistigen Gesamtleben und sieht die Theologie in der Pflicht, die „Veränderung des modernen Denkens seit den letzten zwei Jahrhunderten" und den Gegensatz zu den „Denkweisen und Anschauungen, innerhalb deren das Christentum seiner Zeit entstanden ist und seine kirchliche Fixierung erhalten h a t " , konstruktiv aufzunehmen und über eine „gründliche Umbildung der Theologie" der Kontinuität mit der christlichen Uberlieferung eine neue theologische Form zu geben (ebd. 325f.). Das gilt in erster Linie für die Dogmatik, sofern sie der „stille Koeffizient aller Predigt" ist, der das „Zusammenbestehen einer weltlichen Bildung mit der religiösen Wahrheit" zu ermöglichen hat (Vernunft 3). Aus dieser Aufgabenstellung folgt für Troeltsch die methodische und inhaltliche Wendung zur Religionsgeschichte und zur Geschichtsphilosophie, die sich zur theologisch inspirierten kulturwissenschaftlichen Fragestellung ausweitet und wandelt. Durch eine umfangreiche Rezensionstätigkeit in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verschafft sich Troeltsch das wissenschaftliche Rüstzeug zu deren Konkretisierung. Nach der schon bald erfolgenden Berufung an die Universität -»Heidelberg zum Sommersemester 1894 bestimmt zunächst die theologische und religionsphilosophische Auseinandersetzung innerhalb der Schule Ritschis im Kreise der Freunde der Christlichen Welt, deren Konferenzen das Forum für die Debatten der modernen Theologie abgeben (Kritische Gesamtausgabe [KGA] V, Einleitung), die Agenda von Ernst Troeltsch. Eine literarische Kontroverse mit seinem Berliner Lehrer J . W . M . Kaftan um die „Selbständigkeit der Religion" und um Probleme der Erkenntnistheorie dient dazu, die Prinzipienfragen der Theologie zu vertiefen und zu verschärfen. Als Hauptgegensatz zu Kaftan tritt die von Troeltsch geforderte Anwendung der wissenschaftlichen Ansprüchen gemäßen historischen Methode hervor, mit der eine „supranaturalistische Sonderstellung" des Christentums, wie sie Kaftan vertrete, nicht mehr zu vereinbaren sei (Kaftan, Selbständigkeit 19.25). Der akademische Streit ist zugleich kennzeichnend für Differenzen in der Wahrnehmung der Religionspraxis. Während Kaftan sich an dem orientiere, was „die Gemeinde" verlangt, lenke das methodisch ausgewiesene historische Bewußtsein die Aufmerksamkeit auf die „Menge der wissenschaftlich denkenden Zeitgenossen", die „durchaus christlich gesinnt" seien, aber keine „kirchliche Bindung für ihr D e n k e n " anerkennten (E. Troeltsch, Geschichte und Metaphysik: Z T h K 8 [1898] 1 - 6 9 , hier 67). 4. „Umbildung"

der

Theologie

Die für Troeltsch eigentümliche Fragestellung bezieht sich nicht allein auf die prinzipiellen methodischen und erkenntnistheoretischen Probleme, wie sie sich der Theologie

Troeltsch

133

im Spannungsfeld der modernen Wissenschaften stellen. Sie zielt immer wieder auf analoge Spannungen und Gegensätze in der kirchlichen Praxis und auf religionspraktische Folgerungen für die Kirche und für die vom geschichtlichen Christentum geprägte Kultur. Nicht soll die religiöse Praxis auf die supranaturale Denkform der Theologie fixiert werden, sondern die Theologie soll als Lehre und Erkenntnis des Christentums der Selbstverständigung des religiösen Bewußtseins der Gegenwart dienen. Darin hat die programmatische Forderung nach einer „Umbildung" der Theologie ihre systematischkonstruktive wie historisch-praktische Zielrichtung. So beschließt Troeltsch viele seiner publizierten Texte, in denen grundsätzliche Probleme der Religionstheorie behandelt werden, mit einer Zuspitzung auf die gegenwärtige praktische Lage von Religion und Kirche. Die Absolutheitsschrift, mit der die religionsphilosophisch-theologische Auseinandersetzung zu einem vorläufigen Abschluß kommt, ist dafür ein markantes Exempel. Nach der historisch-kritischen Destruktion eines ungeschichtlichen Begriffs von „künstliche^] Absolutheit" (Coakley, Christ) würdigt er positiv den Sinn und die Notwendigkeit einer von unhaltbaren dogmatischen Ansprüchen befreiten „naiven Absolutheit" der praktisch gelebten Frömmigkeit (KGA V, 210ff.). Von der „historischen Methode", die Troeltsch von der „dogmatischen M e t h o d e " unterschieden wissen will, spricht er darum als „meiner theologischen M e t h o d e " (GS II, 729), weil die „echte, moderne Historie" eine „Stellung zum geistigen Leben überhaupt in sich schließt" (ebd. 731), die dem modernen Bewußtsein entspricht und darum allein geeignet ist, die Aufgabe der Theologie unter modernen Bedingungen zu verantworten, wie das die alte Dogmatik unter den für sie geltenden Voraussetzungen getan hat. Von dieser in die allgemeine Geistesgeschichte integrierten theologiegeschichtlichen Perspektive her sind deswegen auch die Gründe zu sehen, mit denen Troeltsch den kulturgeschichtlichen Veränderungsprozessen der Moderne nachgeht. Troeltschs Geschichtsauffassung geht davon aus, daß die grundlegenden Umformungen des modernen Geistes (Wesen des modernen Geistes [1907]: GS IV, 297—337) kein neues Datum darstellen. Sie haben sich schon seit Beginn des 18. Jh. vollzogen. So betont er immer wieder, er vertrete keine neue Problemstellung, die „Gründe liegen seit 200 Jahren in der L u f t " (GS II, 730). Nur habe die Theologie sich, aufs Ganze gesehen, den Konsequenzen dieser Problemstellung nicht zureichend gestellt. Daher nimmt Troeltsch die materiale historische Untersuchung der Veränderungen in Angriff, die sich in den kulturellen, religiösen wie politischen, philosophischen und sozialen Konstellationen der Moderne aufweisen lassen. Die leitende Fragestellung bewegt sich um das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in der Christentumsgeschichte, insbesondere hinsichtlich der Bedeutung der Reformation. 5. Deutung

des

Protestantismus

Angeregt und gefördert wurden diese Untersuchungen durch die enge Diskursgemeinschaft mit Heidelberger Kollegen. Troeltsch gehörte zu dem von A. -»Deißmann ins Leben gerufenen Eranoskreis, in dem sich u.a. der Philosoph Wilhelm Windelband (1848-1915), der Jurist Georg Jellinek (1851-1911), der Soziologe M . ->Weber und der Historiker Eberhard Gothein (1853-1923) trafen. In erster Linie aber waren es die „Fachmenschenfreundschaft" (Graf, Fachmenschenfreundschaft) mit M a x Weber und die methodische Ausweitung des Blicks durch die im Entstehen begriffene Soziologie (->Religionssoziologie), die den historischen Untersuchungen eine ausgewiesene systematische Struktur und kategorische Bestimmungen zu geben geeignet waren. Große Resonanz wie Kritik fanden in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit die Arbeiten zur Geschichte des -»Protestantismus in der Neuzeit (KGA VII und VIII). In Auseinandersetzung mit der in der protestantischen Theologie wie Geschichtsschreibung vorherrschenden Auffassung von der Reformation als dem Beginn der Neuzeit k o m m t Troeltsch dabei zu einem vielschichtig differenzierten Ergebnis, in dem die schon länger vertretene Unterscheidung zwischen einem Alt- und einem -> Neuprotestantismus aus

134

Troeltsch

der innertheologischen Deuteperspektive überführt wird in eine gesamtgeschichtliche Betrachtung der Veränderungsprozesse der kulturellen Gesamtlage. Diskontinuitäten und Kontinuitäten werden von Troeltsch analysiert und unterschieden (Albrecht). Hinsichtlich der Wirkung der Reformation auf die Entstehung der modernen Welt unterscheidet Troeltsch die starken mittelalterlich-katholischen Elemente der Theologie -•Luthers und der Sozialethik der Reformation des 16. Jh. von den Elementen kulturgeschichtlicher Kontinuität, in der der Altprotestantismus, wenngleich wider Willen und nichtintentional, historisch zur vorbereitenden Wirkungsgeschichte im Prozeß der Entstehung der Moderne zu rechnen sei. Der Neuprotestantismus dagegen habe sich selbst bereits unter dem Einfluß der Moderne und in Wechselwirkung mit ihrem Entstehen gebildet, also nicht die -»Neuzeit herbeigeführt. In dieser Hinsicht sei der Neuprotestantismus repräsentativ für eine Diskontinuität innerhalb der Geschichte des Protestantismus selbst. In dem Maße, in dem die theologische und kulturgeschichtliche Selbstreflexion der Moderne auf ihre Konstitutionsbedingungen sich der Kontinuität mit der Reformation zu vergewissern suche, könne dann auch post festum von einer konstruktiven Bedeutung der Reformation in der Wechselwirkung von Protestantismus und Moderne gesprochen werden, in der die „Gewissensreligion des protestantischen Personalismus" als die der modernen Kultur „entsprechende Religiosität" (Bedeutung des Protestantismus 101) auch ohne direkten historischen Kausalzusammenhang das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in einer Dauerreflexion präsent halte. Besonderes Gewicht erhält in diesen Studien die Neubewertung der Trägerschichten des Protestantismus. Troeltsch weist, angeregt durch Georg Jellineks Die Entstehung der Menschen- und Bürgerrechte (1904), der angelsächsischen und nordamerikanischen Religionsgeschichte mit den religiösen Motiven der politischen Kultur der -> Religionsfreiheit und der Freiheits- und -> Menschenrechte eine Leitfunktion zu, in der, im Unterschied zu Prägungen des deutschen Luthertums, vom Calvinismus ausgehend das Freikirchentum der Sekten und des Spiritualismus einflußreich waren. Troeltsch entwirft in kritischer Zuspitzung ein zeitdiagnostisch gezieltes Gegenbild zur religiös-politischen Verfassung des deutschen Luthertums im Kaiserreich. An diese Untersuchungen und Ergebnisse hat sich eine intensive kontroverse Debatte von Kirchen- und Profanhistorikern angeschlossen, die in der jüngsten Phase der Erforschung der sog. Frühneuzeit in ein neues Stadium eingetreten ist. 6. „Die Soziallehren

der christlichen

Kirchen und

Gruppen"

Troeltsch hat seine Studien in dem groß angelegten und rezeptionsgeschichtlich wirksamsten Hauptwerk Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1911; GS I) zusammengeführt (Graf, Bücher), das er methodisch und inhaltlich als Gegenstück zu A. -»Harnacks Dogmengeschichte konzipierte (Mehlhausen). Den Ausgangspunkt der konzeptionellen Leitidee bildet der in seinen bisherigen Arbeiten in vielen Varianten analysierte „Gegensatz" (GS I, vii) zwischen der alten Theologie und der modernen Welt. Den Einsatzpunkt bei der inhaltlichen Darstellung der Soziallehren gibt die -•Ethik, denn das Christentum sei „vor allem Praxis", und auf dem „praktischen Gebiet" zeigten sich die schwerwiegendsten „Gegensätze" der Gegenwart gegen die überkommene kirchliche Sozialethik (GS I, viii). Die konstruktive Leitidee, die den umfangreichen geschichtlichen Stoff konzeptionell strukturiert, zielt darauf ab, den neuzeitspezifischen „Gegensatz" von Christentum und moderner Welt von seiner historischen Fixierung weg in den Ursprüngen des Christentums selbst zu identifizieren und als eine mit der eschatologischen Predigt Jesu und der ihr nachfolgenden Kirchwerdung des geschichtlichen Christentums gesetzte und bleibend eingestiftete Grundstruktur zu begreifen. Getragen wird diese konzeptionelle Leitidee von der theologischen Vision, daß die Auseinandersetzung der Gegenwart um das Verhältnis von Christentum und moderner Welt keine von außen her aufgenötigte Problematik sei, sondern in systematisch zu

Troeltsch

135

rekonstruierender Kontinuität mit den Ursprüngen des Christentums selbst stehe. Der Ursprung dieser dialektischen Grundstruktur wird aus dem „Grundgedanken der Predigt Jesu" erhoben (GS I, 3 4 - 3 8 ) , die mit der Ankündigung des kommenden Gottesreiches die Selbstheiligung der Gläubigen und die Sammlung der Gemeinde in Erwartung des Gottesreiches hervorrufe und zugleich mit dem Doppelgebot der Liebe die Christen für eine Ethik der Zuwendung zur Welt in Anspruch nehme. Diese ursprüngliche Doppelstruktur der christlichen Predigt wird von Troeltsch in begrifflicher Abstraktion als „absoluter Individualismus" und zugleich „absoluter Universalismus" gefaßt (GS I, 39f.), wobei der Ausdruck „absolut" auf die geschichtlich offenen und unbestimmten Formen der Gestaltung verweist. Troeltsch sucht diese Doppelstruktur mit Hilfe der neu erworbenen soziologischen Begrifflichkeit zu explizieren, die von der Predigt Jesu als der den Prozeß des geschichtlichen Christentums steuernden originären religiösen Idee bestimmt sei. Die soziologische Konzeptualisierung dieser Grundstruktur bildet sodann das interpretatorische Gerüst für die Darstellung der Geschichte der christlichen Soziallehren, deren Epochen als spannungsreicher und wechselvoller Prozeß des Gegensatzes und des Ausgleichs zwischen religiösem Individualismus und ethischem Universalismus dargestellt werden. Der Ausgleich wird vollzogen durch den Kompromiß des -»Naturrechts, dessen Konzeption als Fundament der katholischen Einheitskultur ausgestaltet wird. Die soziologische Konstante in diesem Prozeß bildet die Gestaltung der sozialen Organisation des Christentums, in der die mit den Ursprüngen des Christentums gesetzten fortwirkenden Spannungen und Gegensätze von Troeltsch in der Typologie von -»Kirche, -»-Sekte und -»-Mystik historisch identifiziert und theologisch-soziologisch systematisiert werden (Molendijk). Die theologische wie soziologische Gesamtkonzeption der Soziallehren ist eine originäre Schöpfung von Ernst Troeltsch, die weder in der Theologie noch in den historischen Kulturwissenschaften von einem kongenialen Entwurf überboten worden ist. In ihre Genese wie in ihre materialreiche Durchführung sind mannigfache Anregungen aus dem kulturwissenschaftlichen und historisch-soziologischen Diskurs der zeitgenössischen Wissenschaften eingegangen, wobei der intensive Austausch mit Max Weber ebenso hervorzuheben ist wie der mit Georg Simmel (1858-1918; vgl. Voigt). Troeltsch hat die Soziallehren im Kontext seiner Analysen der modernen Kultur verfaßt. Die sozialgeschichtlichen und theologischen Darstellungen des Katholizismus, des Protestantismus und des Spiritualismus lassen sich insofern auch auf den kritischen zeitdiagnostischen Subtext hin lesen, der das konstruktive Interesse des Autors an der „lebendig-gegenwärtigen Neugestaltung" zu erkennen gibt, für die „neue Gedanken nötig" sind, „die noch nicht gedacht sind" (GS I, 985). Richtungweisend für den Zusammenhang zwischen historischer Untersuchung und Gegenwartsdiagnose ist das Motiv, das christliche Ethos zu erfassen, „das ein dauernder Besitz der europäischen Menschheitsbildung geblieben ist" (ebd. 58). Die soziale Gestaltung dieses Ethos und der es theologisch fundierenden Ursprünge ist für Troeltsch die zentrale Zukunftsaufgabe der Kirche (ebd. 879ff.). 7. Lehrtätigkeit

in Berlin.

Geschichtsphilosophie

Im Jahre 1914 erhielt Troeltsch einen Ruf an die Berliner Universität auf einen Lehrstuhl in der Philosophischen Fakultät. Frühere Versuche im Jahr 1908, Troeltsch nach Berlin in die Theologische oder Philosophische Fakultät zu berufen, scheiterten an innerfakultären und politischen Widerständen (Drescher, Ernst Troeltsch 215ff.). Mit dem Beginn der Lehrtätigkeit 1915 konzentrierte sich Troeltsch auf Probleme der Geschichtsphilosophie mit dem Ziel, einen über die historische Forschung hinausgehenden „Gedanken von dem wahrscheinlichen oder erstrebenswerten Fortgang" der Geschichte zu entwickeln (GS III, vii). Als Ergebnis dieser in Vorlesungen und Seminaren diskutierten und in zahlreichen Einzelpublikationen vorbereiteten Gedankengänge legte Troeltsch 1922 in seinem zweiten Hauptwerk Der Historismus und seine Probleme den ersten

136

Troeltsch

Band vor (GS III; KGA XVI), der die „begriffliche Grundlegung" einer künftigen materialen Geschichtsphilosophie erörtert. In der Zielsetzung führt Troeltsch dabei die in den Soziallehren entwickelte konzeptionelle Leitidee der reflexiven Verschmelzung der geschichtlich wirksamen ideellen Gegensätzlichkeiten und Widerstrebungen fort. Die in der Reflexivität des geschichtlichen Bewußtseins präsente Bewegung fordert an Stelle einer scheinbar objektiven Teleologie der Geschichte eine „vom Subjekt her zu schaffende gegenwärtige Kultursynthese des Europäismus" (GS III, viii), die als Fortführung und Weiterbildung der Grundstrukturen der Christentumsgeschichte angelegt ist, wie sie in seinen bisherigen Arbeiten vorbereitet ist. Die detaillierte Rekonstruktion der geschichtstheoretischen Debatten seit dem 18. Jh. bildet den Hauptinhalt des ersten Bandes. Die „materiale, in ethische Zukunftsgestaltung auslaufende Geschichtsphilosophie" (GS III, 83) wird von Troeltsch nur in Umrissen skizziert. Sie sollte in einem zweiten Band ausgeführt werden. Daß Troeltsch auch hier der Struktur seines an der Christentumsgeschichte ausgebildeten theologisch-soziologischen Programms folgt, läßt sich zumindest andeutungsweise erkennen, wenn es am Ende heißt: Die praktisch-kulturelle Aufgabe der Gegenwart in der Schaffung einer zukunftsfähigen Kultursynthese bestehe darin, „dem ideologischen Gehalt einen neuen soziologischen Leib zu schaffen und den soziologischen Leib" mit einer neuen „Umbildung der großen historischen Gehalte zu beseelen" (GS III, 771). So ähnlich hatte Troeltsch schon die praktische Aufgabe am Ende der Soziallehren gekennzeichnet, wo es von der Synthese von Kirche, Sekte und Mystik heißt, die Zukunftsaufgaben in der Vereinigung dieser drei Grundformen zu einem ihre differenten Motive vereinenden Gebilde seien Aufgaben soziologisch-organisatorischer Art, die dringender seien als alle „Aufgaben der Dogmatik" (GS I, 982). Während der Vorbereitungen auf eine Vortragsreise nach England, zu der Baron Friedrich von Hügel (1852-1925), mit dem Troeltsch seit langem freundschaftliche Beziehungen unterhielt (vgl. Ernst Troeltsch, Briefe an Friedrich von Hügel. 1901 — 1923, hg. v. Karl-Ernst Apfelbacher/Peter Neuner, Paderborn 1974), die Einladungen organisiert hatte (Chapman, The „sad story"), starb Ernst Troeltsch am 1. Februar 1923. Die für England vorbereiteten und übersetzten fünf Vorträge hat von Hügel unter dem nicht von Troeltsch selbst formulierten Titel Der Historismus und seine Überwindung (Berlin 1924) auf deutsch und zuvor unter dem Titel Christian Thought. Its History and Application (London 1923) auf englisch publiziert. Ernst Troeltsch hat, ausgehend von seinen theologie- und kulturgeschichtlichen Analysen der Stellung von Theologie und Christentum in der Moderne, den Anspruch auf eine umfassende religiös-theologische Deutung der Wirklichkeit über eine binnentheologisch besorgte Apologetik hinaus erneuert. Sein umfangreiches Œuvre hat in seiner wissenschaftlichen Produktivität und in seinem Themenreichtum in der neueren Theologie nur an Schleiermacher einen Vergleich. In Aufnahme der von Schleiermacher initiierten Reform der protestantischen Theologie beteiligte er sich intensiv an Diskussionen in der Religionsgeschichte, der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, sowohl in einer umfangreichen Rezensionstätigkeit als auch aktiv eingreifend. Stets suchte er den Punkt zu ermitteln, an dem in den kulturwissenschaftlichen Debatten zentrale Themen der Theologie zu entdecken und kritisch so zu reformulieren sind, daß ihr universales Deutepotential erkennbar wird. Auch wo er sich unter Theologen als Fremdling zu fühlen Anlaß hatte, hielt er an seiner Vision einer dem Geist des Christentums gerecht werdenden Umbildung der Theologie als spezifischer und eigenständiger Kulturwissenschaft fest. 8. Wirkungsfelder

des Theologen,

Kulturtheoretikers

und

Wissenschaftspolitikers

In den 20 Jahren seiner Heidelberger Lehrtätigkeit hat Troeltsch regelmäßig Vorlesungen zur Dogmatik gehalten (Birkner). Die dazu verfaßten Thesen und Nachschriften der Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912 sind mit einem Vorwort von Martha Troeltsch unter dem Titel Glaubenslehre 1924 veröffentlicht worden (Wyman, Concept).

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Den Abschluß seines Œuvres in Gestalt einer systematischen Religionsphilosophie und Ethik verhinderte sein früher Tod. Die Sammlung von Aufsätzen und größeren Abhandlungen aus der Zeit zwischen 1895 und 1913, die er als zweiten Band der Gesammelten Schriften den Soziallehren folgen ließ, ist von ihm mit der Bemerkung eingeleitet, die Sammlung ergebe „ein Bild des Ganzen, wie es mir vorschwebt", mit der charakteristischen Erläuterung, was ihm vor Augen stehe, sei ein „relativ konservatives System der Erhaltung und Sammlung unserer religiösen Kräfte", fundiert in einem „kritischen Transzendentalismus", wobei das „Spezifisch-Religiöse" bei Wahrung seiner Freiheit integriert werde „in das wissenschaftliche Denken" (GS II, vii). In der Selbsteinschätzung eines konservativen Modernisierers reflektiert sich der Spannungsreichtum wie die Unruhe, die Troeltsch als Theologen und Kulturtheoretiker angesichts des widersprüchlichen „Wesens des modernen Geistes" (GS IV) und der Verfassung der akademischen Theologie vorangetrieben haben. Die wissenschaftliche Tätigkeit Troeltschs in den Geisteswissenschaften spiegelt sich in den zahlreichen Aufgaben und Ehrungen im akademischen Leben. So war er verantwortlich für das Fachgebiet Dogmatik in der ersten Auflage von Die Religion in Geschichte und Gegenwart, zu der er selbst umfangreiche Beiträge beisteuerte; er war Mitherausgeber der Zeitschrift für Theologie und Kirche (1907) und des Archivs für Religionspsychologie (1914 ff.), gehörte zum Herausgeberkreis von Logos (Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur) und des Archivs für Kulturgeschichte. 1910 war er beteiligt an der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Er gehörte zu den Mitbegründern der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (1909), war korrespondierendes Mitglied zweier Akademien, der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1912), die ihn 1922 zum ordentlichen Mitglied wählte, sowie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Ehrendoktor der Theologie in Göttingen (1897) und —»Oslo (1921), der Philosophie in —• Greifs wald (1903) und der Rechtswissenschaften in -»Breslau (1911). Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nahm Troeltsch aktiv Anteil an den kirchlichen und politischen Prozessen, z. B. als Mitwirkender im -»Evangelisch-sozialen Kongreß, als Mitglied der Ersten Badischen Kammer, als politischer Publizist in der Kriegszeit und den ersten Jahren der neuen Republik, in der er zugleich auch als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und des Preußenparlaments sowie als Unterstaatssekretär im preußischen Kultusministerium tätig war. Die von 1919 bis 1922 für die von Ferdinand Avenarius (1856—1923) herausgegebene Halbmonatsschrift Kunstwart und Kulturwart verfaßten politischen Kommentare, die er zunächst anonym als „Spektator" zeichnete und die unter dem Titel Spektator-Briefe nach seinem Tode 1925 in Auswahl von Hans Baron publiziert wurden, zeigen ihn als entschiedenen Verteidiger der jungen Demokratie und sind zutreffend als „Briefe über die Demokratie an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (Claussen, Nachwort 315) bezeichnet worden. 9.

Rezeptionsgeschichte

Die nach dem Ersten Weltkrieg sich zu Wort meldende Theologie einer neuen Generation betrachtete, in Verbindung mit der sog. Lutherrenaissance und im Fahrwasser eines zeittypischen Antihistorismus, Troeltsch als Repräsentanten einer „liberalen" Theologie und somit als Gegenbild und Antipoden ihres kulturkritischen religiösen Wollens, dessen eigenes Profil gleichwohl von der Auseinandersetzung mit Troeltsch nachhaltig geprägt ist. Zugleich mit dieser Diskontinuität bewegt sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Theologie der 20er Jahre des 20. Jh. in Kontinuität mit den Intentionen und der wissenschaftlichen Grundeinstellung, wie sie das Werk Troeltschs bestimmt haben (Wolfes), mit einer fortdauernden Wirkung bis in die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Sein Werk repräsentiert auf konstruktive Weise die spezifische Reflexivität protestantischer Theologie in der Umstrittenheit der Moderne im Folgezusammenhang der Christentumsgeschichte.

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Die schon zu Troeltschs Lebzeiten, seit der Absolutheitsschrift und den Protestantismusstudien zunehmende, lebhafte Auseinandersetzung mit seinen Positionen setzte sich über die Theologie hinaus und unabhängig von deren Kontroversen fort in der Philosophie, der Geschichtswissenschaft und der Religionssoziologie. Letztere hat vor allem in den USA durch die Brüder Reinhold und Helmut Richard —»Niebuhr großen Einfluß erlangt, verstärkt durch die Übersetzung der Soziallehren im Jahre 1931, die als Textbuch zu einem Standardwerk an den Universitäten wurde. Über die Rezeption Troeltschs auch in anderen Ländern wie Frankreich, Italien, England, Skandinavien, China oder Japan gibt es bisher noch keine zuverlässige Untersuchung. Im Zusammenhang mit dem Neubeginn einer konstruktiven Rezeption Troeltschs seit den 70er Jahren des 20. Jh. (Clayton, Ernst Troeltsch) hat sich eine intensive Troeltschforschung entwickelt, unterstützt von der 1981 gegründeten Ernst-TroeltschGesellschaft. Der daraus resultierende Diskussions- und Forschungsprozeß ist zu einem erheblichen Teil dokumentiert in bisher zwölf Bänden der seit 1984 erscheinenden Troeltsch-Studien und in den Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft (seit 1982 13 Bände). 1995 wurde auf der Grundlage der ersten umfassenden Ernst Troeltsch Bibliographie (1982) die Arbeit an einer auf 2 0 Bände angelegten Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe (KGA) begonnen, von der 1998 als erster Band Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) (KGA V) erschienen ist. Im Jahr 2001 erschien der Band K G A VIII, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913), es folgen die Bände 7, 15 und 16. In Japan ist 1981 eine zehnbändige Ausgabe erschienen (Tokio 1981), und es wird eine Gesamtausgabe seiner Schriften geplant. Von einer französischen Studienausgabe ist bisher ein Band erschienen (Ernst Troeltsch Œuvre, ed. Pierre Gisel u.a., III. Histoire de religions et destin de la théologie, ed. J e a n - M a r c Tétaz, Paris 1996). Die zunehmende Anzahl von englischen Übersetzungen dokumentiert auf ihre Weise den Anstieg der neuen Troeltschrezeption. Quellen 1. Hauptschriften von Ernst Troeltsch: Vernunft u. Offenbarung bei Johann Gerhard u. Philipp Melanchthon. Unters, zur Gesch. der altprot. Theol., Göttingen 1891. - Die Absolutheit des Christentums u. die Religionsgesch. (Tübingen 1902 2 1912): Ernst Troeltsch, KGA, Berlin/New York, V 1998. - Prot. Christentum u. Kirche in der Neuzeit (Berlin 1906 2 1909): Ernst Troeltsch, KGA, Berlin/New York, VII 2002. - Die Bedeutung des Protestantismus f. die Entstehung der modernen Welt (München 1906 »1911 [HB 24]): Ernst Troeltsch, KGA. VIII. Sehr, zur Bedeutung des Protestantismus f. die Entstehung der modernen Welt, Berlin/New York 2001, 183-316. - Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911. - GS, Tübingen; I. Die Soziallehren der christl. Kirchen u. Gruppen, 1911; II. Zur rel. Lage, Religionsphil. u. Ethik, 1913; III. Der Historismus u. seine Probleme, 1922 (NA Ernst Troeltsch KGÀ 16 in Vorb.); IV. Aufs, zur Geistesgesch. u. Religionssoziologie (s.u. 2.). - Naturrecht u. Humanität in der Weltpolitik, Berlin 1923. 2. Postume Veröffentlichungen: Christian Thought. Its History and Application, hg. v. Baron Friedrich v. Hügel, London 1923. - Der Historismus u. seine Überwindung, Berlin 1924. - SpektatorBriefe. Aufs, über die dt. Revolution u. die Weltpolitik 1918/1922, hg. v. Hans Baron, Tübingen 1924. - GS. IV. Aufs, zur Geistesgesch. u. Religionssoziologie, hg. v. Hans Baron, Tübingen 1925. - Dt. Geist u. Westeuropa. Ges. kulturphil. Aufs. u. Reden, hg. v. Hans Baron, Tübingen 1925. Im Erscheinen ist die Ernst Troeltsch Krit. GA, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf/Volker Drehsen/ Gangolf Hübinger/Trutz Rendtorff, Berlin/New York 1998 ff. (zit. KGA). 3. Bibliographie: Ernst Troeltsch Bibliogr., hg., eingel. u. kommentiert v. Friedrich Wilhelm Graf/Hartmut Ruddies, Tübingen 1982. - Verzeichnis der Neuerscheinungen seit 1973: Mitt. der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 5 (1990) ff. - Klaus Günther Wesseling, Art. Troeltsch, Ernst: BBKL 12 (1997) 4 9 7 - 5 6 2 . Literatur Christian Albrecht, Hist. Kulturwiss. neuzeitlicher Christentumspraxis, 2000 (BHTh 114). Ders., Troeltschs Umdeutung des Neuprotestantismus-Begriffs: Mitt. der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 13 (2000) 1 - 3 4 . - James L. Adams, Ernst Troeltsch as an Analyst of Religion: JSSR 1 (1961)

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Trost I

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Trost I. Bibel und J u d e n t u m II. Kirchengeschichtlich III. Praktisch-theologisch

S. 147 S. 150

I. Bibel und J u d e n t u m 1. Altes Testament 2. Zeit des Zweiten Tempels Judentum und spätere Entwicklung (Literatur S. 146) 1. Altes

3. Neues Testament

4. Rabbinisches

Testament

Der hebräische W o r t s t a m m nhm hat eine vielfältigere Bedeutung als die des Tröstens, auch wenn Piel-Formen meist dies bedeuten. Im Niphal herrscht die Bedeutung „ber e u e n " vor, aber auch „sich trösten lassen" ist mehrfach eine adäquate Wiedergabe; eine gemeinsame Basis der beiden Hauptbedeutungen ist wohl anzunehmen. Die zahlreichen Belege des Bedeutungsfeldes „ t r ö s t e n " lassen sich je nach Subjekt in zwei klar getrennte Gruppen unterteilen: in der einen Textgruppe ist der Tröster ein M e n s c h , in der größeren zweiten ist es G o t t selbst, der tröstet. 1.1. Menschen als Tröster begegnen nur in Erzähltexten und bei - » H i o b . Anlaß des Trostes ist der Verlust eines nahen Angehörigen - Vater, M u t t e r , Kind - oder, wie im Fall Hiobs, umfassendes persönliches Unglück, das neben eigener - » K r a n k h e i t und Vera r m u n g den Verlust Angehöriger einschließt. Meist sind die Tröstenden Mitglieder der Familie; A u s n a h m e ist der A m m o n i t e r k ö n i g , dem - » D a v i d Boten schickt, um ihn über den T o d seines Vaters zu „ t r ö s t e n " (II Sam 1 0 , 2 f . ; I C h r 1 9 , 2 f . ) ; wegen der Distanz zwischen den Handelnden kann m a n eher an eine f o r m a l e Bekundung des Beileids denken. Was zum Trost gesagt wird, ist nirgends e r w ä h n t ; m a n m a g an Zusprechen neuen Lebensmutes denken, wenn - » I s a a k sich nach dem T o d seiner M u t t e r tröstet, indem er Rebekka zur Frau n i m m t (Gen 3 4 , 6 7 ) , oder David Batseba über den T o d ihres

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Trost I

Kindes tröstet, indem er mit ihr schläft und ein Kind zeugt (II Sam 12,24; ebenso Ephraim in I Chr 7,22f.). Ein Tröstungsmahl setzt Jer 16,7 voraus: Man tröstet jemanden wegen des -»Todes eines Verstorbenen, indem man mit ihm das Trauerbrot bricht und ihm den Trostbecher reicht. Die Freunde Hiobs leisten ihm zuerst wortlos Gesellschaft; indem sie ihr Gewand einreißen und sich Asche auf das Haupt streuen, bekunden sie ihre Teilnahme an Hiobs Trauer (Hi 2 , 1 1 - 1 3 ) . Sobald sie aber reden und Argumente vorbringen, lehnt Hiob sie als „leidige Tröster" (16,2) ab, die ihn mit Nichtigem trösten wollen (21,34). Wenn ihn nach wiedererlangtem Glück die Verwandtschaft besucht, ihn „tröstet" und reich beschenkt, werden damit die Familienbande wiederhergestellt; der zu späte „Trost" ist eher Abbitte für ihre Abwesenheit in der Zeit von Hiobs Not. Rein menschlichem Trost begegnet das Buch Hiob mit Skepsis. 1.2. Gott als Tröster begegnet in zahlreichen Prophetentexten, vor allem in —»Deutero- und —»Tritojesaja. Ziel des göttlichen Trostes ist ganz Israel bzw. Jerusalem oder Zion; Inhalt des Trostes ist die Wiederherstellung Israels und damit der besonderen Beziehung Gottes mit seinem Volk wie in der Zeit vor der verschuldeten Bestrafung im Untergang Jerusalems und Israels Verbannung. Solange das Unheil frisch ist, gibt es keinen Trost: „Zion hat keinen Tröster"; „fern von mir ist ein Tröster" - wie ein Refrain durchziehen solche Aussagen das Buch der Klagelieder (Thr 1,2.9.16.17.21). Wo falsche Propheten Israel Trost zusprechen wollen, ist es nichtiger Trost (Sach 10,2). Gott allein ist es, der in vollem Sinn Trost schaffen kann: „Ich bin es, der euch tröstet" (Jes 51,12); „der Herr hat sein Volk getröstet" (49,13), indem er Jerusalem erlöst (52,9), seine Fundamente wieder errichtet (57,18) und das Volk in Jerusalem Trost finden läßt (66,13). Im Auftrag Gottes verkündet sein Gesalbter das Gnadenjahr des Herrn und tröstet damit alle Trauernden Zions (61,2). Nicht klar ist, wer in 40,1 von Gott beauftragt wird, sein Volk zu trösten; man denkt an Mitglieder des himmlischen Hofstaats ebenso wie an Propheten oder andere Menschen. Der Einzelmensch als Empfänger göttlichen Trostes findet sich vornehmlich in den -»Psalmen. Wo der unschuldig Verfolgte unter Menschen keinen Tröster erwarten kann (Ps 69,21), vertraut er darauf, daß Gott ihn trösten wird (71,21), indem er ihn rettet (86,17). Der Trost des Beters ist es, daß er auf Gottes Verheißung bauen kann und Gottes Urteile gerecht sind (119,50.52.76.82). 2. Zeit des Zweiten

Tempels

Die vom Alten Testament vorgegebenen Linien werden weitergeführt, dabei jedoch manche Akzente verschoben. In den Texten von -»Qumran ist es fast ausschließlich Gott, der tröstet. 4Q176 (Tanchumim) führt nach einer kurzen Einleitung, in der man Gott bittet, für sein Volk und Jerusalem wunderbar einzugreifen, unter dem Titel „aus dem Buch Jesaja Tröstungen" eine Reihe tröstlicher Texte aus Deuterojesaja an, beginnend mit 40,1. Das von Gott gewirkte endzeitliche Heil ist die erwartete Tröstung Israels. 4Q434a, vielleicht ein Tischsegen, erwartet ebenfalls von Gott Tröstung seines Volkes in Jerusalem (vgl. Jes 66,13). In den Hodayot ist es analog zu den Psalmen der einzelne Beter, der Gott als „Tröster aller" (4Q432 Frgm. 3) und „Tröster Trauernder" (1QH Frgm. 21,3) anruft; Trost ist hier explizit mit Umkehr des Beters und Vergebung durch Gott verbunden (1QH 14 [früher 6],7f.; 17 [9],13; 19 [ll],31f.); diesem Vorbild folgt auch das Mitglied der Gemeinde: „Geschlagene tröste ich nicht, bis vollkommen ihr Wandel" ist (1QS 10,21). Auch in den nach Untergang Jerusalems und Zerstörung des -»Tempels im Jahr 70 entstandenen Apokalypsen (-»Apokalyptik/Apokalypsen) geht es um den Trost des Volkes Israel. Diesen Trost kann der Visionär ihm zusprechen, nachdem Gott ihn über Sinn und Ziel der Geschichte aufgeklärt hat. Trost erfährt man in der Erkenntnis, daß Gottes Beschluß gerecht war (IV Esr 10,16; syrBar 78; zu Gottes Gerechtigkeit als prineipium consolationis siehe Michael E. Stone, Fourth Ezra. A Commentary on the Book

Trost I

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of Fourth Ezra, Minneapolis, Minn. 1990, 318-320), vor allem aber im Ausblick auf das Ende der Zeiten, den Untergang des römischen Reichs, die Erlösung Israels und die Erneuerung Jerusalems, das im Gegensatz zum früheren unvergänglich sein wird; darin besteht Baruchs „Wort des Trostes" (syrBar 81,1 und insgesamt 78—85; vgl. IV Esr 12,8 fr.). Der einzelne Trauernde als Objekt des Trostes begegnet im Vergleich eher selten. Die um den Verlust ihres Sohnes trauernde Frau (die sich dann als Zion herausstellt) tröstet Esra nicht nur mit dem Hinweis auf Gottes Gerechtigkeit, sondern auch mit dem verbreiteten Hinweis, daß alle sterben müssen (IV Esr 10,10), ein Motiv, das, aus der heidnischen Umwelt übernommen, sich auch wiederholt auf jüdischen Grabsteinen der Zeit findet: „Sei mutig, niemand ist unsterblich" (dazu Pieter W. van der Horst, Ancient Jewish Epitaphs, Kampen 1991, 120-122; Joseph S. Park, Conceptions of Afterlife in Jewish Inscriptions, 2000 [WUNT 11/121] 5 0 - 5 2 ) . 3. Neues

Testament

Auch das Neue Testament führt weithin die von der Tradition vorgegebenen Linien fort, deutet sie natürlich christlich aus. Der Tröster im vollen Sinn ist Gott selbst, „der Gott allen Trostes", durch dessen Trost allein, der dem Gläubigen durch Christus überreich zuteil wird, auch der Mensch die Kraft hat, andere zu trösten und auch im Leiden die -»Hoffnung zu bewahren (II Kor l,3ff.); auch in II Kor 7,6.13 ist „Gott, der die Niedrigen tröstet", der Ursprung jedes Trostes, der -»Paulus aber auch durch die Ankunft des Titus und dessen positive Erfahrung in der Gemeinde von Korinth vermittelt wird (vgl. I Thess 3,7). Im Segenswunsch von II Thess 2,16f. wird —»Jesus Christus mit Gott dem Vater gemeinsam handelnd (Verb im Singular) dargestellt als der, „der ewigen Trost und gute Hoffnung gewährt" und der auch die Empfänger des Briefes trösten möge. Trost erfährt die christliche Gemeinde wie schon das Judentum vornehmlich auch aus den Verheißungen der Schrift, „damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben" (Rom 15,4; vgl. I Makk 12,9: „unser Trost sind die heiligen Bücher, die wir besitzen"). So schildert Lk 2,25 Simeon als jemanden, der „auf den Trost Israels wartete" - wohl an Aussagen wie Jes 40,1 anknüpfend; Lk 2,38 wandelt den Ausdruck mit der Wendung „die auf die Erlösung Jerusalems warteten" ab. Hat sich auch diese Erwartung aus christlicher Sicht erfüllt, bleibt dennoch auch hier die Hoffnung auf die endgültige Verwirklichung göttlichen Trostes, wenn „die Trauernden getröstet werden" (Mt 5,4), wenn die Verheißungen der Schrift in Erfüllung gehen und Gott „alle Tränen von ihren Augen abwischen wird. Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage" (Apk 21,4). Die Kontinuität mit der jüdischen Tradition ist hier voll gewahrt. 4. Rabbinisches

Judentum

und spätere

Entwicklung

Die Zerstörung des Tempels und die andauernde Unterwerfung Israels durch die Völker sind seit dem Jahr 70 n. Chr. für das jüdische Volk als ganzes die wesentliche Ursache seiner Trostbedürftigkeit. Am 9. Ab als Jahrestag des Unheils wird regelmäßig in den Synagogen dazu gepredigt und in den Schriften Trost geschöpft. Ekha Rabba, der Midrasch zu Threni (—»Klagelieder), enthält so nicht nur die Klage Israels über den Verlust, sondern zugleich Trost in der Gewißheit, daß Gott weiter zu Israel steht, mit ihm ins -»Exil gegangen ist und mit ihm mitleidet. In diesem Wissen betont der Midraschist, daß wider allen äußeren Anschein das machtlose Israel durch den Besitz der Tora den anderen Völkern überlegen ist, weiser sogar als die Athener oder Alexander der Große. Zahlreiche volkstümliche Erzählungen heiterer Art durchziehen diesen Midrasch und überstrahlen so die Trauer des Tages mit trostvoller, geradezu heiterer Zuversicht (siehe Galit Hasan-Rokem, Folklore and Midrash in Rabbinic Literature, Stanford 2000). Ab dem 5. Jh. entwickelt sich ein längerer liturgischer Zyklus um den 9. Ab, dem drei Strafsabbate vorangehen und sieben Trostsabbate folgen, wozu die prophetischen Trosttexte als Lesetext und Predigtvorlage dienen (so zuerst in PesK 1 3 - 2 2 ,

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Trost I

dann in PesR 2 6 - 3 7 ) . Gott bleibt der Tröster seines Volkes; „Trost" im vollen Sinn ist die von ihm erhoffte endzeitliche Erlösung (tSan 6,6 u.ö.). Das erklärt auch, daß der Messias den Eigennamen Menachem, „der Tröster", bekommt (yBer 2,4; EkhR 1,16 und spätere Apokalypsen wie z. B. Sefer Serubbabel; vgl. Arnold Goldberg, Die Namen des Messias in der rabbinischen Traditionsliteratur: ders., GSt, I 1997 [TSAJ 61] 2 0 8 274). Gott ist der Tröster auch des einzelnen Trauernden. Laut mMid 2,2 pflegte man im Tempel zu einem Trauernden zu sagen: „Der in diesem Hause wohnt, tröste dich". Ein Trostgebet für die Trauernden in bKet 8b endet: „Der Herr der Tröstungen tröste euch. Gepriesen sei, der die Trauernden tröstet". Daraus entwickelt sich die bis heute übliche Formel, wenn man den Trauernden nach dem Begräbnis sein Beileid ausdrückt: „Der Herr tröste euch mit den übrigen Trauernden Zions und Jerusalems". Wenn der Mensch Trauernde tröstet, folgt er damit dem Vorbild Gottes (bSot 14a, belegt mit Gen 25,11). -+Trauer wie Trost sind im Judentum stark ritualisiert (-»Ritus II; —•Bestattung III). Das beginnt mit der geregelten Form der Beileidsbekundung am Friedhof, setzt sich im „Tröstungsmahl" (se 'udat habra'ab, siehe schon mSan 2,1; bMQ 27b) und im als „Tröstung der Trauernden" genannten Besuch während der sieben Tage der Trauer (Schiv 'ah) fort und ist auch beim Synagogenbesuch der Leidtragenden klar geregelt. „Tröste niemand, solange sein Toter vor ihm liegt", warnt mAv 4,18 vor verfrühtem Trost; eine zeitliche Abstufung beim Trost von Trauernden empfiehlt auch Sem 14,12, um auf deren inneren Zustand Rücksicht zu nehmen. Eine bis heute gelesene mittelalterliche Trostschrift hat Nissim Ibn Shahin (ca. 9 9 0 1062) nach arabischen Vorbildern verfaßt. Sein Schönes Werk über Errettung (bzw. im arabischen Titel Erleichterung nach Unglück) ist eine von moralischen Überlegungen gerahmte Sammlung jüdischer Erzählungen, deren Protagonisten aus verschiedenem Unheil errettet werden. Völlig anderer Art ist die Meditation der traurigen Seele des Abraham bar Chijja (ca. 1065/70—1136), eine philosophische Schrift über die Schöpfung, das gottgewollte Leben in der Welt, Buße und Jenseits, vielleicht zur Lektüre in der Zeit um den Versöhnungstag bestimmt. Ein „Trostbrief" (Iggeret ha-Nechama) an eine größere Gruppe von unter schwerem Druck zum Islam übergetretenen Juden stammt von Maimon, dem Vater von -»Mose ben Mainion (Maimonides), um etwa 1160 in Fes geschrieben. Das Motiv der Zwangskonversion spielt auch bei Samuel Usque (16. Jh.), einem portugiesischen Marranen, eine Rolle; in seinem Werk Consolafao as tribulafoes de Israel deutet er die jüdische Geschichte als Beleg, daß Gott Israel nicht verlassen hat; die Reformation, nach seiner Meinung auch durch Zwangskonvertiten verursacht, ist mit ihrer Spaltung des Christentums ein Zeichen für das nahe Ende der Zeiten und die messianische Erlösung. Insgesamt hatte jüdische Geschichtsdarstellung lange Zeit, wie zuvor die —• Apokalyptik, auch Trostfunktion. Literatur Abraham bar Hayya, The Meditation of the Sad Soul, transl. with an Intr. by Geoffrey Wigoder, London 1969. - Helmut Barie, Trösten u. Getröstetwerden soll nicht aufhören, solange die Erde steht (Psalm 23,4): ThBeitr 31 (2000) 1-2. - Louis M . Barth, The „Three of Rebuke and Seven of Consolation" Sermons in the Pesikta de Rav Kahana: JJS 33 (1982) 5 0 3 - 5 1 5 . - Georg Fischer, Das Trostbüchlein. Text, Komposition u. Theol. v. Jer 3 0 - 3 1 , 1993 (SBB 26). - Avner Gil'adi, Sabr (Steadfastness) of Bereaved Parents. A Motif in Medieval Muslim Consolation Treatises and some Parallels in Jewish Writings: J Q R 80 ( 1 9 8 9 - 9 0 ) 3 5 - 4 8 . - Giovanni Helewa, Un ministerio paolino. Consolare gli afflitti: Ter. 44 (1993) 3 - 5 1 . - Brigitte A.A. Kern, Tröstet, tröstet mein Volk! Zwei rabbinische Homilien zu Jesaja 40,1 (PesR 30 u. PesR 2 9 / 3 0 ) , 1986 (FJB 7). - Nissim ben Jacob Ibn Shahin, An Elegant Composition concerning Relief after Adversity, transl. from the Arabic by William M . Brinner, 1977 (YJS 20). - Alexander Sand, Mahnung, Trost u. Verheißung. Die Prophetenrede der Joh-Apokalypse: Josef Hainz (Hg.), Theol. im Werden. Stud. zu den theol. Konzeptionen im NT, Paderborn 1992, 4 3 3 - 4 4 8 . - Otto Schmitz/Gustav Stählin, Art. napoKaXeco-. T h W N T 5 (1954) 7 7 1 - 7 9 8 . - Horacio Simian-Yofre, Art. nhm: T h W A T 5 (1986) 3 6 6 - 3 8 4 . - Hans Joachim Stoebe, Art. nhm pi. trösten: T H A T 2 (1976) 5 9 - 6 6 . - Elsie R. Stern, Beyond Nahamu.

Trost II

147

Strategies of Consolation in the Jewish Lectionary Cycle for the 9 th of Av Season: SBL, Annual Meeting 1998, I 1998 (SBL.SP 37) 1 8 0 - 204. - Lieve Teugels, Consolation and Composition in a Rabbinic Homily on Isaiah 40. Pesiqta' de Rav Kahana' 16: Studies in the Book of Isaiah. FS Willem A . M . Beuken, hg. v. Jacques van Ruiten, 1997 (BEThL 132) 4 3 3 - 4 4 6 - Samuel Usque, Consolaçao as tribulaçoes de Israel, Ferrara 1553.

Giinter Stemberger

II. Kirchengeschichtlich 1. Grundmuster (Literatur S. 152)

1.

2. Antike und Alte Kirche

3. Mittelalter

4. Seit der Reformationszeit

Grundmuster

Es gibt eine grundsätzliche Trostbedürftigkeit des Menschen angesichts der im -»Leiden erfahrbaren Differenz zwischen menschlichem Wünschen und entgegenstehender Außenwelt, die epochenübergreifend Gegenstand abendländischer Reflexion war. Um dieser Differenz zu begegnen, wurden als Trost verschiedene Erklärungsmodelle entwikkelt, die sich inhaltlich jeweils einem von vier Grundmustern zuordnen lassen (Weyhofen 249ff.): (a) Die Welt ist notwendig so, wie sie ist; (aa) Trost erklärt dies und rät, mit dem eigenen Willen die Faktizität der Welt zu akzeptieren (so vor allem die ->Stoa); (ab) Trost erklärt dies und rät, sich aus allen Beziehungen zur Welt herauszuziehen und sich mit einem ihr jenseitigen Dasein zu vereinen (so vor allem die christliche -»Mystik). (b) Die Welt ist nicht notwendig so, wie sie ist; vielmehr ist der gegenwärtige Zustand nur Durchgangsstadium einer Entwicklung zum Guten; (ba) Trost verweist auf entsprechende Veränderungen bereits in der Gegenwart und ruft dazu auf, sich entsprechend zu verhalten (so z.B. Teile der alttestamentlichen Prophetie; —»Propheten/Prophetie); (bb) Trost beschränkt sich auf die Antizipation einer besseren Z u k u n f t und begreift das Leiden an der gegenwärtigen Differenz als positiv, weil das leidende Individuum die notwendige Veränderung der Welt für sich bereits vollzogen hat (so z.B. die biblische -»Apokalyptik).

2. Antike und Alte Kirche Die griechische und römische Konsolationsliteratur (z.B. Senecas Trostbriefe-, s.a. -•Erbauungsliteratur 1.3.), deren Formen und Topoi als allgemeines Bildungsgut die Trostpraxis des frühen Christentums beeinflußten, war geprägt von dem den verschiedenen philosophischen Schulen gemeinsamen Bestreben, die in Unruhe geratenen -»Affekte durch die -»Vernunft zu beherrschen bzw. sie mindestens auf ein angemessenes Maß zu reduzieren, da Glück nur durch vernunftgemäßes Leben zu erlangen sei. Z u den Grundtopoi der klassischen Consolatio gehörten u.a.: 1) das Wissen um den rechten Zeitpunkt zwischen höchster Affekterregung und chronischer Affektverhärtung; 2) die Forderung der Beschränkung der Affekte auf ein durch den -»Logos beherrschbares M a ß ; 3) die heilende Wirkung der -»Zeit als Grund f ü r die Veränderlichkeit von Schmerz und verbunden mit der Aufforderung, sich nicht von Veränderlichem bestimmen zu lassen; 4) die Nutzlosigkeit und Schädlichkeit der -»Trauer wegen ihrer Unfähigkeit, etwas am betrauerten Zustand zu ändern; 5) Forderung der Einsicht in das allen gemeinsame, unabänderliche Los, mit dem auch andere leben (müssen); 6) Darstellung der Trauer als Zeichen der Unersättlichkeit; 7) Darstellung des Todes als Erlösung von weltlichen Übeln (Weyhofen 7 7 - 8 9 ) .

Die von den Kirchenvätern (-»Patristik) überlieferte Trostliteratur umfaßt zu einem großen Teil -»Predigten (Homilien und Themenpredigten, z. B. über Märtyrer) sowie Trauerreden und -briefe. Formen und Topoi entsprachen dabei häufig (besonders bei -»Gregor von Nyssa; -»Gregor von Nazianz; -»Ambrosius von Mailand) der antiken -»Rhetorik; die stärkere Ausrichtung auf -»Verkündigung führte aber zu Veränderungen: statt antiker Dichter wurden in der Argumentation nun biblische Situationen und Personen herangezogen, Gebete und theologische Argumentation eingebaut; als Grund

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Trost II

für die herrschenden Übel in der Welt wurde die —»Sünde benannt. Die Auferstehungshoffnung (-»Auferstehung) ermöglichte neue Trostgründe, indem sie den natürlichen -•Tod nicht nur als Ende des -»Leidens, sondern als Durchgang in eine bessere Ewigkeit qualifizierte. Die Differenzierung des Todes in drei Arten (geistiger/natürlicher/Seelentod) verband zudem Trost mit Paränese: durch vorgezogenes Der-Welt-Absterben (geistiger Tod) konnte der Seelentod vermieden werden, wodurch der natürliche Tod seinen Schrecken verlor.

3. Mittelalter Der deutsche Begriff „ T r o s t " , dessen indogermanische Wurzel die Festigkeit eines Kernholzes ( D W b 9,1,2 [1952] 902) bezeichnete, ist im Mittelalter noch identisch sowohl mit „ R a t " („Trostbüchlein für die Schwangeren") wie auch mit „ H i l f e " (selbst als Waffenbeistand) in deren heutiger Bedeutung. In der mittelalterlichen Frömmigkeit spielte die Auseinandersetzung mit Leiden und Tod eine wichtige Rolle, weshalb die Konsolationsliteratur weite Verbreitung fand. Ein Beleg ist die in vielen Auflagen und Übersetzungen über mehrere Jahrhunderte nachgedruckte Consolatio Philosophiae des -»Boethius: Sie sammelte die Trostgründe der antiken Philosophie und vollzog als Gespräch der Philosophie mit dem zum Tode verurteilten Autor eine Abstraktion vom konkreten Leiden zum Problem der Disharmonie der Welt; für letzteres bot sie dann als Trost, daß die Disharmonie in einem höheren Erkenntnismodus keine mehr ist, weil die -»Vorsehung Gottes den Sieg des Guten garantiert.

In der christlichen mittelalterlichen Konsolationsliteratur lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: Die besonders vom Mönchtum getragene stoisch-asketische Frömmigkeit fand ihren Ausdruck analog zu Boethius' Werk in umfangreichen christlichen Trostkompendien (z.B. J. -»Gerson; Johannes von Dambach [1288-1372]): in Wahrheit sei Leiden ein Gut, weil es dem wahren Glück der Seele nütze; Trost liege darin, den Verstand von allen Willensregungen zu befreien, die auf äußere Güter gerichtet sind. Die „Kunst des heilsamen Lebens" suchte in der Betrachtung des Todes die Hinfälligkeit alles Irdischen zu erkennen und die Hoffnung auf die Seligkeit nach dem Tod zu richten. Die in der Mystik vollzogene radikale Spiritualisierung der Armutsbewegung teilte die Deutung von Leiden als Folge falscher Ausrichtung auf irdische Güter und das Ideal der Entsagung und der Weltflucht; allerdings führte sie den Gegensatz von irdischen und wahren Gütern dahingehend weiter, daß bereits im irdischen Leben die wahren Güter in der inneren Einheit mit Gott erfahrbar seien. Trost biete die Gottesgeburt in der Seele, die zur richtigen Erkenntnis führe und so Leiden als Gleichförmigwerden mit Christus in innerer Freude ertragen lasse (z. B. Meister -»Eckhart, J. -•Tauler).

Im Spätmittelalter richtete sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf den Zeitpunkt des Todes selbst, in dem -»Anfechtungen den Sterbenden plagen und zum Heilsverlust führen könnten. Die Ars-moriendi-Litetatur ( - » A r s moriendi) gab deshalb für den rechten Umgang mit diesen Anfechtungen Anleitungen: Trost bestehe darin, die Sterbenden zur - » R e u e zu ermahnen und im demütigen —»Vertrauen auf G o t t zu bestärken, damit sie im rechten -»Glauben sterben. Als Hilfen dienten die Zusage der Gültigkeit der Heils Verheißungen, der Sakramentsempfang und verschiedene -»Gebete.

4. Seit der

Reformationszeit

Angesichts von Bemühungen, -»Heilsgewißheit durch eine Vielzahl von Bußübungen und Frömmigkeitsleistungen zu erreichen, betonte die reformatorische Theologie, daß „Jesus Christus . . . unser einziger Trost im Leben und im Sterben" ist (-»Heidelberger Katechismus, Frage 1; -»Seelsorge I). In dieser Aussage kommt sowohl die Konzentration auf die Gottesbeziehung und damit auf die Anfechtung zum Ausdruck als auch die Abkehr vom mittelalterlichen Rat, das facere quod in se est als hinreichendes Argument für Heilsgewißheit zu sehen. Für -»Luther blieb jeglicher Trost,

Trost II

149

der auf dem Vertrauen in Qualitäten oder Handeln der eigenen Person beruht, angesichts des radikalen Zweifels der Erwählungsanfechtung unzureichend; in Aufnahme einer in der Ars-monenJi-Literatur bereits angelegten Tendenz erkannte er demgegenüber Gottes versöhnendes Handeln in Christus als einzig wirksamen Trostgrund, dem alle Trostgedanken zugeordnet werden (vgl. Appel). Gottes tröstendes Handeln in Christus (extra nos) erreicht den Menschen als inneres Wort im Evangelium, das vermittelt wird durch äußere Worte und Zeichen: durch die Predigt der -»Vergebung der Sünden, die Sakramente, das Schlüsselamt und per mutuum colloquium et consolationem fratrum, die deshalb ebenfalls als Trost bezeichnet werden können (ASm IV: BSLK 449; vgl. auch CA 25: BSLK 97ff.; F C Epit. XI: BSLK 819f.). Es geht dabei nicht um einen Appell an die ratio; für Luther ist Trost Erfahrung der Nähe Gottes als delectatio und gaudium. Ergänzend zum geistlichen Trost empfiehlt er in der Anfechtung der tristitia religiosa daher oft den sog. contemptus diaboli (Verachtung des -»Teufels) durch Musik (-»Musik und Religion) und die gemeinsame, fröhliche Beschäftigung auch mit weltlichen Dingen, aus denen die laetitia spiritualis hervorgehen könne (Mennecke-Haustein). Protestantische Trostschriften und -»Gesangbücher lassen erkennen, daß Trost zunächst mit dem Kern der christlichen Botschaft identifiziert, in der Praxis aber zunehmend als eigenes Gebiet eingegrenzt wurde (H.-C. Piper, Rubrik; Klein). Dies wird schon bei Ph. -»Melanchthon deutlich, der 1521 am Ende der Einleitung der Loci communes (CR 21,85) den Trost der Gewissen als Ziel der christlichen Erkenntnis bezeichnet und in spätere Ausgaben dann einen eigenen Locus De calamitatibus et de cruce et de veris consolationibus (CR 21,934ff.) aufnimmt. Die meist als „Trostbüchlein" erscheinenden Anleitungen zur Sterbebereitung, die zunächst oft Abhandlungen zum Sünden- und Rechtfertigungsverständnis waren, bemühten sich Mitte des 16. Jh. stärker um die konkrete Situation und suchten u.a. mit dem Abdruck von Gebeten und Beichtformeln sowie Katechismusauszügen pastorale Anweisungen für den Einzelfall zu geben (Klein). Die Trostschriften hatten auch auf körperliche Leiden therapeutische 'Wirkung durch die Erklärung von Leiden, seine Darstellung als von Gott begrenzt, sowie im Ausblick auf künftiges Heil und in der Lenkung der Aufmerksamkeit vom eigenen zu fremdem Leid (Passion Christi), besonders aber in den angebotenen Möglichkeiten zur gemeinsamen Leidverarbeitung (Schenda; vgl. Steiger, Melancholie). In der anglikanischen Kirche erreichten auf Trost ausgerichtete Erbauungsschriften im 17. Jh. ebenfalls weite Verbreitung (z. B. Richard -»Baxter, The Saints Everlasting Rest, London 1650; Jeremy -»Taylor, Rule and Exercises of Holy Living, o . 0 . 1 6 5 0 ; ders., Rule and Exercises of Holy Dying, London 1651). Die weitgehende Vernachlässigung der biblischen Tradition der Klage gegenüber der stützenden Funktion von Trost in der Geschichte des Christentums erleichterte in der Moderne die Kritik an der Trostpraxis der Kirche. Die -* Religionskritik seit dem 18. Jh. befragt die christliche Religion auf ihre faktische Wirkung in der Gesellschaft und reduziert sie dabei auf eine die Moral stützende und im Leiden beruhigende Trostfunktion. Diese lehnt sie als Vertröstung ab, weil sie die Menschen davon abhielte, die äußeren, weltlichen Ursachen für ihr Leiden wahrzunehmen und zu bekämpfen. S. -»Freud hat zudem auf der Basis seiner psychoanalytischen Theorie den Trost der Religion als eine überholte Stufe der Kultur beschrieben, deren neurotische Realitätsverdrängung zugunsten der Anerkennung faktisch leidvoller Realität aufzugeben sei. Seither steht religiöser Trost faktisch unter Ideologieverdacht (vgl. Brenning/Brocks/Gremmels) und muß seine Berechtigung gegenüber dem Vorwurf der Vertröstung jeweils neu beweisen. Im 20. Jh. kam es so zu Neuformulierungen christlichen Trostes mit anderen Begriffen wie z . B . Ermutigung (R -»Tillich) oder -»Hoffnung. (Literatur s.u. S. 152) Eike Kohler

150

Trost III

III. Praktisch-theologisch 1. Phänomenologisch und theologisch Aspekte (Literatur S. 152)

1. Phänomenologisch

und

2. Pastoralpsychologische Aspekte

3. Soziologische

theologisch

Phänomenologisch gesehen ist der Vielfalt der Erscheinungsformen von Trost (vgl. Langenhorst 2 8 0 - 2 8 4 ) gemeinsam, d a ß es sich jeweils um eine Reaktion auf menschliches Erleben der Unfähigkeit handelt, die eigenen Wünsche zu erfüllen, mit dem Ziel, das Erleben zum Positiven zu verändern. H e u t e wird der Begriff allgemein so gebraucht, d a ß Trost - im Gegensatz zur Hilfe - nicht primär auf leidverursachende äußere Faktoren einwirkt, sondern auf den Prozeß des Erlebens im Bewußtsein der leidenden Person. Dabei lassen sich f o r m a l zwei G r u n d m u s t e r unterscheiden: 1) die in den Bewußtseinsstrukturen enthaltenen Wertvorstellungen sollen verändert werden, um eine positivere Bewertung des Erlebens zu ermöglichen (z.B. durch Erklärung, als Mißverständnis oder durch Verweis auf einen verborgenen, positiven Sinn - oft Strafe oder Prüfung); 2) die Ansicht über das Gewicht des leidvollen Erlebens im Zusammenhang des gesamten Erlebens soll durch neue, angenehme Erlebnisse (z.B. Musik) oder Vorstellungen (Erinnerung an vergangenes/Hoffnung auf zukünftiges Glück; Verweis auf eigene Stärke oder größeres Leiden anderer) verändert werden.

Trost ist dabei stets dem Vorwurf der Vertröstung ausgesetzt, der zutrifft, w o die Auseinandersetzung mit der Realität bzw. das Engagement zur Veränderung verhindert wird. Theologisch gesehen ist die Situation des trostbedürftigen Menschen gekennzeichnet vom -»Leiden an der mangelnden eigenen Identität und Integrität. Angesichts der Endlichkeit menschlicher Existenz ist diese Situation zwar in ihren Ausprägungen kontingent, aber prinzipiell nur eschatologisch a u f h e b b a r . Der einzig wahre Trost besteht deshalb darin, die eigene Identität als in der Beziehung zu Gott begründet zu erleben. Die Ermöglichung dieses (Glaubens-)Erlebens liegt außerhalb menschlicher Reichweite in Gottes Heiligem -> Geist begründet, der deshalb auch „ T r ö s t e r " (Paraklet) genannt wird. In der christlichen Praxis geschieht Trost daher in Formen tröstenden Handelns, die allen Menschen zur Verfügung stehen, zugleich aber zum zeichenhaften Zeugnis f ü r erfahrenen und verheißenen Trost Gottes werden können. Christlicher Trost ist nur deutlich unterscheidbar, w o er verbal erfolgt und dabei christliches Gedankengut enthält. Er hat sein Proprium jedoch unabhängig vom gesprochenen Wort darin, d a ß von Seiten der Tröstenden die leidverursachende Realität nicht verdrängt, sondern im Blick auf Gottes Gemeinschaft mit uns in Christus ausgehalten wird und so die mitmznschUch-solidarische Gemeinschaft im Leiden zum Zeichen für die Gemeinschaft mit Gott wird (vgl. H . Luther). Besonders die Sprachform des Klagegebets verbindet die Anerkennung der leidvollen Realität mit dem Festhalten an der H o f f n u n g auf G o t t und bietet so implizit Trost. Die in der Solidarität liegende Relativierung von Leid läßt sich auch als „Freiheit des Evangeliums" (vgl. Tacke 95) bezeichnen, die sich als „ F r e i - m u t " im Bereich der -*Affekte und des Handelns auswirkt. Die solidarische Gemeinschaft als Basis christlichen Trostes kann je nach beteiligten Personen und Situationen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck k o m m e n . Für die -> Praktische Theologie ist Trost also eine spezifische Art zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung. Es ist daher hilfreich, neben der von literarischen Texten angebotenen Wahrnehmungs- und Sprachhilfe (Langenhorst) auf Erkenntnisse der Humanwissenschaften zurückzugreifen. 2. Pastoralpsychologische

Aspekte

Betrachtet m a n die in der psychoanalytischen Theorie herausgestellten psychischen Strukturen der zu tröstenden Person, so entspricht der durch die Gottesbeziehung ge-

Trost III

151

wonnenen Freiheit ein größerer Spielraum des Ich im Umgang mit den Anforderungen von Es und Über-Ich (-»Psychoanalyse). Aufgabe des Ich ist es, zwischen Es und Über-Ich ein psychisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Wirksamer Trost unterstützt das Ich dabei, die auftretenden Konflikte mit Es und Über-Ich in einer Weise zu bewältigen, daß das Ich dabei an Freiheit hinzugewinnt, und kann so zum Zeichen für den von Gott geschenkten Trost werden (vgl. Leist). Jeder psychische Konflikt löst (teilweise unbewußt bleibende) Erinnerungen an frühere Konflikterfahrungen und Bewältigungsstrategien aus. Diese Erinnerungen beeinflussen die Wahrnehmung der gegenwärtigen Konfliktsituation sowie die eingesetzten Bewältigungsstrategien. Dem entspricht eine persönlichkeitsspezifische Empfänglichkeit für bestimmte Formen von Trost (Schneider-Harpprecht): Ermöglichung des Rückzugs von der Außenwelt (z.B. Schlaf) hilft, die Auseinandersetzung mit streßauslösenden Reizen vorübergehend zu vermeiden. Körperkontakt als Trost hilft durch die als lustvoll empfundene äußere Wärmezufuhr, die Körperbeziehung und Selbstgefühl stärkt und dadurch Beziehungen zur Umwelt erleichtert. Essen und Trinken können als Versuch, den Objekthunger zu stillen, insbesondere bei Störungen im Selbstwerterleben tröstend wirken. Raumerleben, Musik und -*Phantasie können als Übergangsphänomene analog zu den kindlichen Übergangsobjekten (z. B. Daumen, Kuscheldecke) tröstend wirken. Phantasie (u.a. im -*Gebet wichtig, das selbst ein Übergangsobjekt darstellen kann, vgl. Grünewald) ermöglicht Hoffnung (s.u.) und damit die Entschädigung für Lustverzicht in der Realität. Der rationale Umgang mit Leid ermöglicht wie das Denken überhaupt den Aufschub der Triebbefriedigung und die Realitätsprüfung, um künftigen Lustgewinn zu ermöglichen. Rituale (-»Ritus) wirken als Trost, indem eine Gruppe durch ihren Vollzug in einer bestimmten Situation die eigene Identität sicherstellt und indem sie Möglichkeiten zum Ausagieren von Emotionen bieten in Situationen, in denen keine konkret wirksamen Handlungen möglich sind. Erinnerung wirkt tröstend durch Identitätsvergewisserung. Christlicher Trost bietet hier die Verknüpfung der eigenen Erinnerung mit kollektiven Erinnerungen des Christentums, die Teilhabe an der Gruppenidentität ermöglichen. Hoffnung ist antizipierte Zukunft, die mehr oder weniger realitätsnah sein kann. Im -> Humor begegnet das Ich Bedrohungen der Selbstachtung angesichts des Widerspruchs von Realität und Ideal (auch Gottesbild), indem es die Entscheidung zwischen beiden aussetzt und so das Gottesbild schützt.

Bei der Verarbeitung von Leiderfahrungen lassen sich einzelne Phasen unterscheiden, in denen jeweils unterschiedliche Bewältigungsformen in den Vordergrund treten und durch entsprechende Formen von Trost unterstützt werden können. An verschiedenen Krisensituationen (Behinderung, Todesnähe, Trauer um Verstorbene) sind unterschiedliche Modelle entwickelt worden, die darin übereinstimmen, daß vor der Phase der Annahme der neuen Situation Phasen der Unsicherheit, der Aggression und der Depression stehen (Schuchardt; Kübler-Ross; Spiegel; -»Trauer VI.). In einzelnen Phasen wird je nach Schwere der Leiderfahrung und verfügbaren Bewältigungsstrategien auch die Regression eine wichtige Rolle spielen; in der Ausbildung neuer, angemessener Bewältigungsstrategien unterscheidet sich die benigne von der malignen Regression (Winkler).

Die Frage nach wirksamen tröstenden Interventionen läßt sich auch differenzieren nach der auslösenden Situation. Hier sind die Möglichkeiten effektiver Hilfe zur Veränderung leidverursachender Faktoren und Strukturen zu prüfen. Trotz der Relativität aller äußerlichen Hilfen im Blick auf die Endlichkeit des Menschen bleiben sie notwendiger Ausdruck solidarischer Gemeinschaft (vgl. Kiessmann). Daneben ist eine graduelle Differenzierung der auslösenden Situation nach ihrer Wirkung auf die Identität der leidenden Person sinnvoll. Auch die Charakterstruktur der Tröstenden schränkt die zur Verfügung stehenden Trostmöglichkeiten ein. Zugleich besteht die Gefahr, daß durch Beschäftigung mit fremdem Leid die eigenen Sinnstrukturen fraglich werden und als Trost gedachtes Reden und Handeln mehr von eigenen Bedürfnissen und Abwehrmechanismen bestimmt als an Charakterstrukturen und Situation der zu tröstenden Person angepaßt wird (Lämmermann) .

152 3. Soziologische

Trost III Aspekte

Die christliche —»Religion insgesamt kann ebenfalls als Trost bezeichnet werden. Im Gegensatz zur Religionskritik (s.o. II.4.) bewerten Soziologen die tröstende Funktion der Religion für die Gesellschaft heute unter dem Stichwort der Kontingenzbewältigung (-*Kontingenz) positiv. Als Zentrum religiösen Trostes gilt es, angesichts der Bedrohung durch kontingente Ereignisse die gesellschaftlichen Sinnkonstrukte aufrechtzuerhalten. So sieht Niklas Luhmann die Notwendigkeit der Transformation von unbestimmbarer Komplexität der Umwelt in bestimmbare (benennbare) Komplexität; dieser Vorgang der „Chiffrierung" ist für ihn zentrale Aufgabe der Religion. Peter L. Berger betont demgegenüber den handlungstheoretischen Aspekt: Religion sichere die Welt gegen Bedrohung durch Anomie, indem sie der gesellschaftlich konstruierten Sinnordnung eine höhere Legitimation verleihe durch die Einbindung in eine das gesamte Universum umfassende, unverfügbare Ordnung (was freilich je nach Weltbild auch als Vertröstung gelten kann; vgl. Menne).

Ein tröstender Aspekt der Religion für den einzelnen kann demgegenüber auch darin liegen, daß sie zu Solidarität mit den Leidenden gegen leidverursachende gesellschaftliche Ordnungen führt (H. Luther; Menne). Literatur Helmut Appel, Anfechtung u. Trost im SpätMA u. bei Luther, 1938 (SVRG 165). - Christoph Asmuth, Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung: Albertus Magnus u. der Albertismus, hg. v. Maarten J . Hoenen/Alain de Libera, 1995 ( S T G M A 48) 1 8 9 - 205. - Albert Auer, Johannes v. Dambach u. die Trostbücher vom 11. bis zum 16. J h . , 1928 (BGPhMA 27). - Reinhold Bärenz, Die Trauernden trösten. Für eine zeitgemäße Trauerpastoral, München 1983. - Peter L. Berger, T h e Sacred Canopy, Garden City, N.Y. 1969; dt.: Zur Dialektik v. Religion u. Gesellschaft, Frankfurt a . M . 1973 = 1988. - Günter Bernt/Louise Gnädiger/Dietrich Schmidtke/Reinhard Gleißner, Art. Trostbücher: L M A 8 (1997) 1 0 4 8 - 1 0 5 1 . - Joachim Brenning/Roswitha Brocks/Christian Gremmels, Leid u. Krankheit im Spiegel rel. Traktatlit.: ThPr 7 (1972) 3 0 2 - 3 1 5 . - Mark S. Burrows, Jean Gerson and De Consolatione Theologiae (1418). T h e Consolation of a Biblical and Reforming Theology for a Disordered Age, 1991 ( B H T h 78). - Holger Eschmann, Trost in der Seelsorge: ders., Theol. der Seelsorge, Neukirchen 2000, 1 2 1 - 1 5 2 . - Erich Fascher, Trost bei Luther: Stat Crux dum volvitur orbis, hg. v. Georg Hoffmann/Karl H . Rengstorf, Berlin 1959, 7 7 - 97. - Ottmar Fuchs, Art. Trösten/Trost: PLSp (1988) 1 3 0 7 - 1 3 1 5 . - Constantin Grosse, Die Alten Tröster. Ein Wegweiser in die Erbauungslit. der ev.-luth. Kirche des 16. bis 18. Jh., Hermannsburg 1900. Albrecht Grözinger, Art. Consolatio: Hist. W b . der Rhetorik 2 (1994) 3 6 7 - 3 7 3 . - Friedhelm Grünewald, Das Gebet als spezifisches Übergangsobjekt: W z M 34 (1982) 2 2 1 - 2 2 8 . - G V U L 43 (1745) 946f. (Art. Theologie [Paracletische]); 45 (1745) 1 1 8 1 - 1 2 0 1 (Art. Trost). - Ulrich Heckel, Schwachheit u. Gnade. Trost im Leiden bei Paulus u. in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997. - Jürgen Henkys, Seelsorge u. Bruderschaft. Luthers Formel „per mutuum colloquium et consolationem fratrum" in ihrer gegenwärtigen Verwendung u. ursprünglichen Bedeutung, 1970 (AzTh R . 1/41). - Friedemann Heß, Trost oder Trostpflaster: B H E K S 61 (1995) 2 4 - 3 1 . - Michael Heymel, Trost f. Hiob. Musikalische Seelsorge, München 1999. - Luise Klein, Die Bereitung zum Sterben. Stud. zu den frühen reformatorischen Sterbebüchern, Diss. theol. Göttingen 1958. - Michael Kiessmann, Seelsorge zw. individuellem Trost u. politischem Anspruch: W z M 40 (1988) 3 9 4 - 4 0 4 . — Elisabeth Kübler-Ross, On Death and Dying, New York u.a. 1969; dt.: Interviews mit Sterbenden, Stuttgart 1969 " 1 9 9 9 . - Godwin Lämmermann, Vom Trösten Trauernder: PTh 86 (1997) 1 0 3 - 1 2 4 . - Georg Langenhorst, Trösten lernen?, Ostfildern 2000. - Marielene Leist, Uber das Trösten: B H E K S 61 ( 2 1996) 3 2 - 3 8 . - Robert Leuenberger, Trost im Verständnis des christl. Glaubens: C G G 10 (1980) 1 2 7 - 1 3 8 . - Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt a . M . 1977 5 1999. - Henning Luther, Die Lügen der Tröster: PrTh 33 (1998) 1 6 3 - 1 7 6 . - George W. McClure, Sorrow and Consolation in Italian Humanism, Princeton, N . J . 1991. - Fritz Meerwein, Trauer u. Trost in der Psychoanalyse: C G G 10 (1980) 1 1 9 - 1 2 6 . - Friedrich W. Menne, Die Verelendung des Trostes in unserer Gesellschaft: Begleitung v. Schwerkranken u. Sterbenden, hg. v. Paul Becker/Volker Eid, Mainz 1984, 1 3 0 - 1 4 9 . - Ute Mennecke-Haustein, Luthers Trostbriefe, 1989 ( Q F R G 56). - Christian Möller, Luthers Seelsorge u. die neueren Seelsorgekonzepte: Luther als Seelsorger, hg. v. Joachim Heubach, 1991 (VLAR 18) 1 0 9 - 1 2 8 . - Peter v. M o o s , Consolatio. Stud. zur mittellat. Trostlit. über den Tod u. zum Problem der christl. Trauer, 4 Bde., 1 9 7 1 - 1 9 7 2 ( M M A S 3 / 1 - 4 ) . - Hans-Christoph Piper, Anfechtung u. Trost. Eine Unters, über die Kreuz- u. Trostlieder im dt. ev.-luth. Gesangbuch v. der Reformation bis zum frühen 18. J h . , Diss. theol. Göttingen 1964. - Ders., Die Rubrik der Kreuz- u. Trostlieder im dt. ev.-luth. Gesangbuch v. der Reformation bis zum frühen 18. Jh.: J L H

Tschechien

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Trüber, Primus - • B i b e l ü b e r s e t z u n g e n , - » K i r c h e n s p r a c h e

Tschechien 1. Statistische Angaben 2. Geschichtlicher Uberblick 3. Die Kirchen in Tschechien 4. Zwischenkirchliche Beziehungen 5. Theologische Ausbildung 6. Diakonie 7. Staat und Kirche (Literatur S. 157) 1. Statistische

Angaben

D i e T s c h e c h i s c h e R e p u b l i k w u r d e a m 1. Januar 1993 als einer der z w e i N a c h f o l g e staaten der früheren T s c h e c h o s l o w a k e i (Unabhängigkeitserklärung a m 28. O k t o b e r 1918) gegründet. Sie u m f a ß t d a s alte Königreich B ö h m e n , die M a r k g r a f s c h a f t M ä h r e n ( - • B ö h m e n u n d M ä h r e n ) u n d österreichisch -»Schlesien, i n s g e s a m t 7 8 . 8 6 4 k m 2 mit 10,3 M i l l i o n e n E i n w o h n e r n (94% T s c h e c h e n , 3 % S l o w a k e n , 0 , 6 % P o l e n , 0 , 5 % D e u t s c h e , 0 , 2 % Ungarn, 1,7% Sonstige). D i e H a u p t s t a d t ist Prag (1,2 M i l l i o n e n E i n w o h n e r ) . T s c h e c h i e n ist ein hochindustrialisiertes Land (Instrumenten- und M a s c h i n e n b a u , Glas-, Keramik-, Papier-, Lederindustrie, C h e m i e u n d A u t o m o b i l b a u ) mit relativ h o h e n Z u w a c h s r a t e n . D i e Verfassung v o m 16. D e z e m b e r 1992 garantiert M e i n u n g s - u n d Religionsfreiheit, enthält j e d o c h k e i n e n Kirchenartikel. N a c h der V o l k s z ä h l u n g v o n 1991 sind ca. 3 9 % = 4 M i l l i o n e n Katholiken, 4 % = 4 0 0 . 0 0 0 g e h ö r e n zu evangelischen Kirc h e n . D i e O r t h o d o x e Kirche zählt ca. 5 0 . 0 0 0 Mitglieder. D a s R a b b i n a t in Prag betreut ca. 8 . 0 0 0 Juden (vor d e m Z w e i t e n Weltkrieg lebten 3 5 0 . 0 0 0 im Land). 2. Geschichtlicher

Überblick

D i e heutige T s c h e c h i s c h e R e p u b l i k mit ihrem N a t i o n a l b e w u ß t s e i n hat ihre historis c h e n Wurzeln im 19. Jh. D i e T s c h e c h e n sind der s l a w i s c h e S t a m m , der a m tiefsten in die M i t t e E u r o p a s v o r g e s t o ß e n ist u n d seine Selbständigkeit in vielen p o l i t i s c h e n

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Tschechien

Systemen erhalten hat. „Die vielseitige Berührung mit den Deutschen im Volksleben brachten Keime westeuropäischer Bildung früher zu ihm als zu anderen Slawen, und er bildete diese Keime in sich aus, ohne dadurch seinen angeborenen slawischen Charakter zu verleugnen" (Palacky 1823). J. —>Hus gilt als Symbol der tschechischen Geistesund Glaubensfreiheit sowie Begründer der tschechischen Schriftsprache. Zum ersten Mal wurde unter König Georg von Podiebrad (1458—1471) ein Staatswesen gegründet, in dem vorreformatorisches Gedankengut (Laienkelch, Priesterehe, freie Gemeindeorganisation) politisch umgesetzt werden konnte: Am Ende des 15. Jh. gab es 200 Gemeinden der böhmischen —>Brüderunität. J.A. —•Comenius, der letzte Bischof der -»•Böhmischen Brüder, lebt im Gedächtnis der Tschechen nicht nur als Gestalt der leidenden Kirche (lux in tenebris), sondern gilt mit seinen didaktischen Schriften und dem Gedanken der Pansophia als Vorläufer eines modernen Bildungssystems. Die Gegenreformation mit ihrem Jesuitismus (-•Jesuiten) blockierte die Entwicklung des Tschechentums. Deutsch war Staatssprache auch nach den Reformen und dem Toleranzedikt von Kaiser Joseph II. (1780-1791; ->• Josephinismus). Im 19. Jh. erwachte das Nationalgefühl vor allem im sprachlichen Bereich (Josef Jungmann [1773—1847], Bozena Nemcová [1820-1862]) und auf dem kulturellen Sektor (Bedrich Smetana [1824-1884], Antonin Dvorák [1841-1904], Leos Janácek [1854-1928]). Politisch kam die „Tschechoslowakei" mit dem Ersten Weltkrieg durch die Auflösung der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie Habsburgs zustande. Geistiger Vater der „ersten Republik" war der tschechische Philosoph und Politiker Tomás Garrigue Masaryk (1850-1937), seine humanistische Grundidee war eine „slawische Schweiz" im Herzen Europas unter tschechischer Führung. Nach 30 Jahren zerbrach das „Münchener Abkommen" unter dem Druck Nazideutschlands die Tschechoslowakei: Im September 1938 ging das Sudetenland an Deutschland (700.000 Tschechen verloren ihre Heimat), die Gegend um Teschen an Polen und Gebiete in der Ost- und Südslowakei an Ungarn. Im März 1939 wurde die -•Slowakei ein „freier" Staat. Tschechien wurde durch deutsche Truppen besetzt und war von 1939-1945 „Protektorat Böhmen und Mähren". Der letzte Präsident der demokratischen Tschechoslowakei, Edvard Benes (1884-1948), ging am 5. Oktober 1938 nach Großbritannien und versuchte von dort während des Zweiten Weltkrieges, den Kampf gegen die Deutschen zu koordinieren. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete für die drei Millionen Deutschen die „Vertreibung" (vyhnánt) bzw. den „Transfer" (odsutt). Im Februar 1948 trat Benes nach der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei zurück. Für 40 Jahre wurde das Land „sozialistisch": die Kirchen kamen unter Staatsaufsicht, ihr Eigentum wurde enteignet, die Klöster und Schulen wurden geschlossen, ihre soziale Tätigkeit unterbunden. Der Versuch vom Frühjahr 1968 („Prager Frühling"), unter dem Slowaken Alexander Dubcek (1921-1992) einen „Sozialismus mit menschlichem Gesicht" zu realisieren, scheiterte: am 21. August 1968 besetzten die Truppen des Warschauer Paktes das Land (bis 1991). Im Oktober 1968 wurden Tschechien und die Slowakei getrennt und bildeten einen Bundesstaat. Eine Gruppe von Intellektuellen bildete im Anschluß an die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki 1975 die „Charta 77", die sich für die Menschenrechte in der Tschechoslowakei einsetzte. In der Mitte der 80er Jahre gab es Reformen unter dem Motto peristroika und glasnost. Am 17. November 1989 kam es auch in Prag zu einer Studentendemonstration. Sie wurde zunächst brutal niedergeschlagen. Der gewaltfreie Widerstand der Bevölkerung führte jedoch zu einer „samtenen Revolution" auch in Tschechien. Nach einer kurzen Übergangszeit wurden im Juni 1990 freie Wahlen durchgeführt. Der führende Kopf der Charta 77, der Dramatiker Vaclav Havel (geb. 1936), wurde Staatspräsident. Am 31. Dezember 1992 folgte der „samtenen Revolution" eine „samtene Scheidung": 10,3 Millionen Tschechen und 5,3 Millionen Slowaken leben seitdem in einer eigenen Republik.

Tschechien 3. Die Kirchen in

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Tschechien

3.1. Die römisch-katholische Kirche ist mit 4 Millionen Gläubigen die größte christliche Gemeinschaft in Tschechien (39%). Sie ist mit der Geschichte und Kultur des Landes tief verbunden. Am kirchlichen Leben beteiligen sich die römisch-katholischen Christen in den verschiedenen Landesteilen unterschiedlich. Als Volkskirche hat sie unter der -* Säkularisation und der atheistischen Propaganda gelitten. Mancherorts ist eine Entwicklung zur Gemeindekirche spürbar. Nach der Wende von 1989 arbeitete sie energisch im Bereich der Diakonie und des Schulwesens. Ökumenisch war die Kirche, von Ausnahmen abgesehen, wenig aktiv. Die katholische Kirche versuchte, die 600.000 Gläubigen der „Untergrundkirche" aus sozialistischer Zeit mit ihren Priestern und Bischöfen in neuen Vereinsformen zu integrieren. 3.2. Die Altkatholische Kirche (Starokatolicka cirkev) geht auf das Jahr 1870 als Reaktion auf das erste —»Vatikanum (päpstliche Unfehlbarkeit) und utraquistische Traditionen zurück; 1.500 Mitglieder in 6 Parochien. 3.3. Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (Ceskobratrskä cirkev evangelickä). 1781 ermöglichte das Toleranzedikt Josephs II. die Sammlung der damals ca. 80.000 Protestanten in reformierten und lutherischen Gemeinden nach 160 Jahren Gegenreformation. 1918 vereinigten sich die tschechischsprachigen Gemeinden im böhmischmährischen und schlesischen Raum zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder. Sie ist presbyterial-synodal verfaßt. Bekenntnisgrundlage sind die Bekenntnisse der hussitischen und europäischen Reformation: die Vier Prager Artikel von 1421, die Confessio Augustana von 1530 (-+Augsburger Bekenntnis), die Brüderische Konfession von 1535 (nach der letzten Ausgabe von J.A. Comenius von 1662), die - » C o n f e s s i o Helvetica posterior von 1566 und die Confessio Bohemica von 1575. Symbol der Einheit ist der hussitische Kelch. Seit 1919 hat die Kirche eine eigene Ausbildungsstätte, die damalige Hus-, seit 1950 Comeniusfakultät, seit 1991 Evangelisch-Theologische Fakultät der Karlsuniversität (—»Prag). Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die -»Liberale Theologie das Übergewicht. Später entwickelte sich namentlich unter dem Einfluß von Josef Lukl Hromadka (1889—1969) eine eigenständige tschechische Theologie auf biblischer Basis unter dem Einfluß von K. -»Barth. Die Mehrzahl der 270 Gemeinden hat reformiertes Gepräge. Die Kirche zählt heute ca. 140.000 Mitglieder. Sie gehört zum -»Reformierten Weltbund und zum Weltrat der Kirchen. 3.4. Tschechoslowakische Hussitische Kirche (Cirkev ceskoslovenskä husitskä). Am 8. Januar 1919 bildet sich aus der -»Los-von-Rom-Bewegung die 1971 so genannte Tschechoslowakische Hussitische Kirche. Sie stand am Anfang stark unter dem Einfluß von Karel Farsky (1880-1927), einem von der römisch-katholischen Kirche konvertierten Priester, der als Patriarch die hierarchisch verfaßte Kirche leitete und dessen Liturgie Traditionen der Kirchen aus dem Orient und Okzident vereinigte. Diese Kirche fühlt sich dem nationalen Erbe Tschechiens besonders verpflichtet. Die Bekenntnisgrundlage ist in der Basis des Glaubens von 1971 festgelegt, 348 Fragen, die biblisch beantwortet werden. Die Kirche gehört dem Weltrat der Kirchen an und hat heute 324 Gemeinden mit 185.000 Mitgliedern. Ausbildungsstätte ist die heutige Husfakultät in der Prager Karlsuniversität. 3.5. Lutherische Kirchen in Tschechien. Die zwei lutherischen Kirchen, die Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in der CR (Evangelickä cirkev ausgburgskeho vynania v CR) und die Schlesische evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses (Slezskä cirkev a.v.), befanden sich im Konflikt. Die 21 Gemeinden im Teschener Gebiet sind meist polnischsprachig. 1994 bildeten sich diese beiden Kirchen aus der alten lutherischen Kirche österreichisch Schlesiens. Ein missionarisch-pietistisches und

Tschechien

156

ein eher traditionell orientiertes Luthertum standen sich gegenüber. Heute gewähren sie sich Gastrecht und suchen neue Kooperationsformen. 3.6. Die kleineren protestantischen Kirchen in Tschechien. Früher nannte man sie einfach „Missionskirchen", weil sie alle aus missionarischen Aktivitäten des Westens entstanden sind, wenngleich ihr Bewußtsein stark mit dem brüderisch-tschechischen Erbe der Reformation verbunden ist. 1) Die Brüderkirche (Ctrkev bratrskä) mit ihren 6.000 Vollmitgliedern und 33 Gemeinden kommt aus der kongregationalistischen Tradition. 2) Die Brüderunität - Unitas fratrum (Jednota bratrskä) hat 5.000 Mitglieder, ihre Heimat ist in Nordost-Böhmen. Sie begann ihre Arbeit 1861 im „Lande der Väter" und versteht sich als Erneuerungsbewegung der von —•Zinzendorf entwickelten brüderischen Frömmigkeit. 3) Brüderunität der Baptisten (Bratrskä jednota baptistü) seit 1885, 4.500 Vollmitglieder in 28 Kongregationen. 4) Evangelisch-methodistische Kirche (Evangelickä ctrkev metodistickä), entstanden aus einer amerikanisch-methodistischen Hilfsaktion 1918, 5.000 Mitglieder. 5) Die -*Adventisten (Ctrkev adventistü sedmeho dne) konstituierten sich 1919 und geben heute ihre Mitgliederzahl mit 12.000 an. 6) -*Pfingstkirchen sind frei organisiert, sie sind als Charismatiker auch in anderen Kirchen tätig. 4. Zwischenkirchliche

Beziehungen

Der 1955 gegründete Ökumenische Rat der Kirchen in der Tschechischen Republik hat zehn Mitgliedskirchen, die Apostolische Kirche, die Heilsarmee und die Tschechische Bischofskonferenz sind assoziierte Mitglieder, die Adventisten, Anglikaner und die Föderation der jüdischen Gemeinden haben Beobachterstatus. Der Rat ist bemüht, den geistlichen Austausch und die Auslandsbeziehungen der Mitgliedskirchen zu fördern. Er ist eingebunden in die ökumenischen Strukturen (Weltkirchenrat; Konferenz Europäischer Kirchen; —>Leuenberger Konkordie). Auf örtlicher Ebene dienen ökumenische Gebetswochen und gemeinsame Gottesdienste zur Vertiefung der Beziehungen. Eine besondere ökumenische Leistung war die gemeinsame tschechische Bibelübersetzung (1979; -•Bibelübersetzungen IV/4.9.), an der alle Konfessionen (einschließlich der römischkatholischen Kirche) sich beteiligten; Druck und Vertrieb besorgte die Bibelgesellschaft (—•Bibel V.7.). Vorläufer des ökumenischen Rates war der 1926 entstandene Bund der evangelischen Kirchen in der Tschechoslowakei. Seit 1993 existiert ein selbständiger Ökumenischer Rat für Tschechien. 5. Theologische

Ausbildung

Die kirchliche und theologische Ausbildung findet an den Universitäten in den Theologischen Fakultäten von Prag, Olomouc (Olmütz) und Ceske Budejovice (Budweis) statt (davon drei römisch-katholische). Außerdem organisieren einzelne Kirchen besondere Ausbildungsprogramme für kirchliche Mitarbeiter (Sozialarbeiter, Diakone, Prädikanten etc.). 6.

Diakonie

Das Jahr 1989 brachte einen grundlegenden Neuanfang in den diakonischen Aktivitäten fast aller Kirchen in Tschechien. In der römisch-katholischen Kirche kam es an vielen Stellen zu einer Revitalisierung der traditionellen Strukturen nach 40j ähriger Unterbrechung. Dezentrale gemeindeorientierte Einrichtungen (Sozialzentren, Altenheime, Behindertenhäuser, Beratungsstellen usw.) entstanden mit den entsprechenden Ausbildungszentren. Es bildeten sich neue Kooperationsformen mit staatlichen Stellen unter dem zentralen organisatorischen Dach der Diakonie vor allem in der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder.

157

Tübingen 7. Staat und

Kirche

Der Grundsatz „Trennung von Staat und K i r c h e " ist in Tschechien nicht durchgeführt, wenngleich schon in der ersten Republik ( 1 9 1 8 - 1 9 3 8 ) daraufhingearbeitet wurde. Selbst das sozialistische R e g i m e unterstützte die Kirche finanziell, übernahm die Personalkosten (Kirchengesetz von 1949) als Ausgleich für das verstaatlichte Eigentum der Kirchen. Auf diesem Wege gelang eine verschärfte Kontrolle, und der Staat konnte sich Einfluß auf die Personalpolitik der Kirche verschaffen. Die Öffentlichkeitsarbeit der Kirchen w a r erschwert. Der -»Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen w a r z w a r grundsätzlich möglich, praktisch jedoch k a u m durchführbar. N a c h dem Z u s a m m e n bruch des sozialistischen Staatswesens konnte sich die Kirche frei entwickeln. N a c h dem Kirchengesetz von 1 9 9 1 können alle registrierten Kirchen und religiösen Gemeinschaften ihre Tätigkeit uneingeschränkt im R a h m e n der allgemeinen Gesetze entfalten. Eine neue rechtliche Regelung zwischen dem Staat und den Kirchen (einschließlich der finanziellen Trennung und der Restitution verstaatlichten Kirchengutes) wird zur Z e i t in Tschechien vorbereitet. Literatur Annuario pontificio polyglotta Vaticanum, Freiburg i.Br. 2001 (AnPont). - Karel Capek, Masaryk erzählt sein Leben. Gespräche mit Karel Capek, Berlin 1936. - Bernhard Czerwenka, Das Persekutionsbüchlein, Güterloh 1869 Nachdr. Regensburg 1986. - Pavel Filipi, Zur Lage der Kirche u. Theol. in Tschechien: Wiener Jb. f. Theol., Wien, 1 (1996) 255 - 2 6 1 . - Jaroslav Kadlec, Prehled ceskych církevních déjin, 2 Bde., Rom 1987 = Prag 1991 (Lit., Quellen). - Ders., Déjiny cirkve v Ceskoslovensku (Die Gesch. der Kirche in der Tschechoslowakei), Prag 1993. - Karl Kaplan, Kirche u. Staat in der Tschechoslowakei. Die kommunistische Kirchenpolitik in den Jahren 1 9 4 8 1952, München 1990. - Kirchen in der Tschechischen Republik zehn Jahre nach der Wende, hg. vom ö k u m . Rat der Kirchen in der Tschechischen Republik, redigiert v. Gerhard Frey-Reininghaus, übers, v. Jiíí Otter, Prag 1999. - Emil F. Löffler, Kirche auf dem Kreuzweg. 40 Jahre Christenverfolgung in der Tschechoslowakei, Thaur 1994. - Milan Machovec, Thomas G. Masaryk, Graz 1969 [Text-Dokumentation S. 2 3 7 - 334], - Tomás Garrigue Masaryk, Russ. Geistes- u. Religionsgesch., 2 Bde., Jena 1913 = Frankfurt a.M. 1992. - Ders., Das neue Europa, übers, v. Emil Saudek, Berlin 1922 = Osnabrück 1976. - Jiri Otter, Das Los der dt.-tschechischen Nachbarschaft. Kleiner Spiegel der gemeinsamen Gesch. v. zwölf Jahrhunderten, Herspice 1994. - Ders., Tschechen v. Deutschen umarmt. Die wichtigsten Kap. der gemeinsamen Gesch., Marienbad 1995. - Frantisek Palacky, Gesch. der schönen Redekünste bei den Böhmen, Ostrava 1968. - Jan Patocka, Was sind die Tschechen? Kleiner Tatsachenber. u. Erklärungsversuch, Prag 1992 [Text dt. u. tschechisch]. - Rudolf Rican, Die Böhmischen Brüder, Berlin 1958 (Lit.). - Ders., Die Kirchenunion der tschechischen Evangelischen 1918: CV 11 (1968) 265 - 2 7 6 . - Oskar Sakrausky, Die Dt. Ev. Kirche in Böhmen, Mähren u. Schlesien 1 9 1 9 - 1 9 3 9 , 6 Bde., Heidelberg/Wien 1 9 8 9 - 1 9 9 5 . - Ferdinand Seibt, Deutschland u. die Tschechen, München 1993 3 1998. - Ders., Böhmische Verwirrungen: CV 38/2 (1996) 1 1 0 - 1 1 6 . - Dietmar Storch (Hg.), Tschechen, Slowaken u. Deutsche - Nachbarn in Europa, Bonn 1995. - Der trennende Zaun ist abgebrochen. Zur Verständigung zw. Tschechen u. Deutschen, hg. v. der Tschechisch-Dt. Arbeitsgruppe der Ev. Kirche der Böhmischen Brüder u. der EKD, Leipzig 1998. - Rudolf Urban, Die tschechoslowakische hussitische Kirche, Marburg 1973. Friedhelm Borggrefe

T s c h e c h o s l o w a k e i - » B ö h m e n und M ä h r e n , -»Slowakei, - » T s c h e c h i e n

Tübingen,

Universität

1. Die vorreformatorische Universität 2. Die protestantische Universität 3. Die staatlichüberkonfessionelle Universität 4. Tübinger Studienhäuser (Quellen/Literatur S. 164) 1. Die vorreformatorische Universität Die Universität Tübingen w u r d e 1 4 7 7 im Z u g e der sog. „zweiten Gründungswelle" deutscher -»Universitäten durch G r a f E b e r h a r d d . Ä . im B a r t von - » W ü r t t e m b e r g (reg. 1 4 5 9 - 1 4 9 6 ) errichtet, der im südlichen (Uracher) Landesteil des seit 1 4 4 2 geteilten

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Territoriums regierte und dem 1482 die Wiedervereinigung des Landes gelang, das 1495 zum Herzogtum erhoben wurde. Die Universitätsgründung in der damals nach Stuttgart zweitgrößten Stadt Württembergs stand in engem Zusammenhang mit Eberhards Bemühungen um Sicherung seines Einflusses auf die Kirche, um Kirchenreform und um Hebung der Bildung. Zur Finanzierung der Professuren verlegte der Graf mit päpstlicher Zustimmung (Bulle -»Sixtus' IV. vom 11. Mai 1476) acht der zehn Chorherrenpfründen und zwei Drittel der Einkünfte des Säkularlcanonikerstifts Sindelfingen, an dem seine Mutter Mechthild von der Pfalz (1419-1482) die Patronatsrechte besaß, an die Tübinger Pfarrkirche St. Georg. Schon seit 1470 hatte Eberhard den Plan verfolgt, diese Kirche in ein Kollegiatstift umzuwandeln. 1470 bis 1476 ließ er einen Chor anbauen (zwischen 1478 und 1489 durch einen Neubau ersetzt), der den Kanonikern zum Chorgebet dienen sollte, später aber auch von der Universität für Promotionen und andere feierliche Veranstaltungen benutzt werden konnte. Die Bulle vom 13. November 1476, mit der Sixtus IV. die Universitätsgründung genehmigte, wurde am 11. März 1477 durch Abt Heinrich Fabri von Blaubeuren (amtiert 1475—1495) publiziert, die bevorstehende Eröffnung der Universität durch Graf Eberhard am 3. Juli bekanntgemacht. Am 1. Oktober begannen die Vorlesungen, und am 9. Oktober wurden einerseits durch Abt Heinrich die ersten Statuten der Universität erlassen, andererseits durch Graf Eberhard ein Freiheitsbrief gewährt, in den ganze Sätze aus dem Freiburger Stiftungsbrief von 1457 übernommen waren. Im übrigen wies die Tübinger Verfassung, die unter Mitarbeit aus —»Basel berufener Dozenten wie des Juristen und ersten Rektors (1477/78) Johannes Vergenhans (1425-1510), genannt Nauclerus, und des Theologen und zweiten Rektors (Wintersemester 1478/79) Johannes Heynlin von Stein (ca. 1430/33-1496) entstand, deutlichen Basler Einfluß auf. Die Bestätigung durch Kaiser Friedrich III. (reg. 1440-1493) folgte allerdings erst am 20. Februar 1484. Die Universität hatte den klassischen Aufbau in vier Fakultäten. Jeweils drei Chorherrenstellen waren für die Professoren der Theologie und des Kirchenrechts bestimmt, die beiden übrigen wurden halbiert und dienten zum Unterhalt der vier Artisten. Je zwei Professoren des weltlichen Rechts und der Medizin wurden aus den Einkünften von fünf Pfarrkirchen unterhalten. Vor allem die Theologen und Juristen hatten neben der Lehre die Aufgabe, den Landesherrn zu beraten; die Theologen übernahmen außerdem kirchliche Funktionen. Der Stiftspropst war zugleich Kanzler der Universität. Die enge Verflechtung von Universität und Stift brachte allerdings Probleme mit sich, die 1482 durch Vereinigung der Stiftspfründen zu einem Gesamtvermögen, aus dem die Professoren besoldet wurden, ihre Lösung fanden. Daneben unterhielten die beiden in Tübingen ansässigen Bettelorden ein Studium (die -»Franziskaner seit 1477, die -»Augustiner-Eremiten seit 1479), besaßen aber keine eigenen Lehrstühle an der Universität. Dagegen hatten die von Eberhard ins Land geholten und stark geförderten -»Brüder vom gemeinsamen Leben seit der Berufung G. -»Biels (1484) eine theologische Professur inne. Als erstes Zweckgebäude der Universität wurde 1479/80 die Bursa errichtet (schon früh auch Contubernium genannt). Sie diente den Artisten als Wohn- und Studiengebäude, in dessen beiden Hälften nach Basler Vorbild via antiqua (Ostflügel) und via moderna (Westflügel) gleichberechtigt vertreten waren. Im Gebiet zwischen Stiftskirche und Augustinerkloster wurden weitere Gebäude für Lehrveranstaltungen und Wohnungen gekauft oder gebaut (das Collegiutn im ehemaligen Bebenhäuser Hof [Münzgasse], ein Hörsaalgebäude und die Sapienz [Domus sapientiae] neben der Bursa). Für die Theologen erwarb die Universität 1490 im Augustinerkloster einen Hörsaal. Am 16. Januar 1534 vernichtete ein großer Brand die Sapienz mitsamt Bibliothek und Archiv der Universität sowie ihre Umgebung. Als Ersatz wurde 1547 die Aula Nova (heute: Alte Aula) errichtet. Der bedeutendste Tübinger Theologe vor der Reformation war Gabriel Biel (1484— 1492 in Tübingen); sein Schüler Wendelin Steinbach (1489-1519) hat nicht nur Werke

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des Lehrers herausgegeben, sondern auch gehaltvolle Paulus-Auslegungen hinterlassen. Von einer „Schule Biels" oder einer „ersten -»Tübinger Schule" kann man aber nicht reden. Weder Heynlin, der Tübingen bald wieder verließ, noch Konrad Summenhart (1489—1502) oder andere Theologen haben hier bedeutendere Leistungen vollbracht. Unter den Artisten ragten der Gräzist Georg Simler (1475-1535) und der Mathematiker und Astronom Johannes Stöffler (1452—1531) hervor. Der -»Humanismus wurde in Tübingen vor allem durch Heinrich Bebel (1472/73-1518), 1497-1518 Professor für Rhetorik und Poesie, und den Juristen Martin Prenninger (1450-1501), genannt Uranius (1490-1501 in Tübingen), einen Schüler des M. —»Ficino, bekannt, ohne freilich breitere Wirkung auszuüben. Ph. —»Melanchthon war zwar 1512 bis 1518 hier immatrikuliert, hat aber seine Ideen zur Reform des Studiums in -»Wittenberg vorgetragen und verwirklicht, während J. —»Reuchlin nach früheren sporadischen Kontakten erst 1521, kurz vor seinem Tod (1522), einen Ruf nach Tübingen erhielt. Ein erstes, freilich wirkungsloses Echo auf die zeitgenössische Kritik an der -»Scholastik läßt sich in der Ordinatio —»Ferdinands I. von 1525 entdecken: im Verbot einer Richtungsbildung nach den beiden Wegen bei den Artisten und in einem Seitenhieb auf überflüssige Spitzfindigkeiten in der Sentenzenvorlesung der Theologen. 2. Die protestantische

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Sogleich nach der Schlacht bei Lauffen und der Wiedergewinnung seines Territoriums nahm Herzog Ulrich (1487-1550) noch im Mai 1534 mit der Reform der württembergischen Kirche auch die der Landesuniversität Tübingen in Angriff. Auf den Rat der oberdeutschen Reformatoren hin betraute er den Konstanzer Reformator A. -»Blarer und den Basler Philologen Simon Grynaeus (1493—1541) mit der -»Visitation und Reformation der Universität, die sich jedoch gegen alle Neuerungen sperrte. Dennoch erließ der Herzog bereits am 30. Januar 1535 eine neue Ordnung, in der unter anderem die schon von der habsburgischen Regierung 1525 angestrebte, aber nicht erreichte Vereinigung der beiden Bursen angeordnet wurde. Der erbitterte Widerstand der Universität gegen die Reform ließ sich nur durch Entlassung eines Teils der Professoren (darunter drei der vier Theologen) brechen. Bereits 1535 wurden der Reformator Grynaeus durch den Philologen Joachim Camerarius (1500-1574) ersetzt und die Reformkräfte durch den Juristen Johannes Sichard (1499—1552) sowie den Mediziner Leonhart Fuchs (1501 — 1566), einen bedeutenden Botaniker, verstärkt. Melanchthon dauerhaft nach Tübingen zurückzuholen war nicht möglich; doch kam er im September/Oktober 1536 wenigstens für einige Wochen als Ratgeber. Ein Ergebnis seiner Einflußnahme war Herzog Ulrichs zweite Ordnung vom 3. November 1536 mit stark humanistischen und zugleich evangelischen Akzenten, ein anderes die Gewinnung des Schwäbisch Haller Reformators J. -»Brenz als Commissarius (zusammen mit Camerarius) und als Professor für ein Jahr (April 1537 - April 1538). Die im Laufe des Jahres 1537 erarbeiteten und am 26. Januar 1538 vom Senat beschworenen Statuten betrafen freilich mehr die evangelische Ausrichtung und die Disziplin an der Universität im ganzen als die bereits geregelten Verhältnisse in den einzelnen Fakultäten. Brenz wirkte in Tübingen wohl vor allem durch seine Lehrtätigkeit (Vorlesungen über Exodus und Psalm 51) und durch seine Predigt. Ein Problem war damals allerdings noch nicht gelöst: der hartnäckige Widerstand des altgläubigen Kanzlers, des Juristen Ambrosius Widmann (gest. 1561). Er war am 12. Juli 1535 unter Mitnahme der Amtssiegel nach Rottenburg geflohen und hatte dadurch das Promotionswesen zum Erliegen gebracht. Zwar wurde 1538 eine Zwischenlösung gefunden; doch dauerte der Streit um Kanzleramt und Siegel bis zu Widmanns Tod an. Die Reformation hat humanistische Impulse (an der Artistenfakultät: Martin Crusius [1526-1607; 1559-1607 in Tübingen], Nikodemus Frischlin [1547-1590; 1568-1582 in Tübingen]), aber auch die führende Stellung der Theologie und zugleich den Einfluß der Kirche innerhalb der Universität verstärkt. In der zweiten Ordination Herzog Christophs (reg. 1550-1568) von 1561 wurde die Theologische Fakultät dauerhaft mit kirch-

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liehen Aufgaben betraut: Mit den drei theologischen Lehrstühlen waren jeweils die Funktion des Stiftspropsts, des Dekans und des Pfarrers der Stiftskirche verbunden. Außerdem war der Inhaber des ersten theologischen Lehrstuhls bis 1817 zugleich Kanzler der Universität. Unter dem Einfluß von Brenz schloß sich die Universität Tübingen wie das Herzogtum Württemberg der Wittenberger Form der Reformation an. Über die theologische Fakultät hinaus wurde die gesamte Universität der Verpflichtung auf das lutherische Bekenntnis unterworfen, an dessen Ausformulierung zur -»Konkordienformel der Tübinger Stiftspropst und Kanzler Jakob -»Andreae (Professor 1561-1590, Kanzler seit 1562) wesentlichen Anteil hatte. Bis zur Gewährung der -»Religionsfreiheit 1806 mußten sich alle Angehörigen des Lehrkörpers und alle Universitätsverwandten auf das —» Konkordienbuch verpflichten. So wurde Philipp Apian (1531 — 1589) 1583 aus seiner Tübinger Professur für Mathematik und Astronomie entlassen und J. —»Kepler später die Expektanz auf eine Professur verweigert, weil sie die Konkordienformel nicht ohne Vorbehalt unterschreiben wollten. Vor dem Hintergrund dieser Bekenntnisbindung wurde die theologische Fakultät unter dem Einfluß Jakob Andreaes, Jakob -»Heerbrands und Matthias Hafenreffers (1592-1619) zu einer Hochburg der lutherischen -»Orthodoxie. Für die lutherische Dogmatik wurden über Württemberg hinaus zunächst Heerbrands Compendium Theologiae (1573), später Hafenreffers Loci theologici (1600) vielbenutzte Lehrbücher. Daneben ging von Tübingen auch eine intensive konfessionelle Polemik aus. So wandte sich z.B. Lukas Osiander d.J. (1571-1638; 1619-1638 in Tübingen) nicht nur im christologischen Streit um die Kenosis (vgl. T R E 17,6,20—56) gegen die Gießener Lutheraner, sondern auch allgemein gegen Katholiken, Calvinisten und protestantische Dissidenten. Im übrigen schritt die Ausdifferenzierung der theologischen Fächer in Tübingen wie an anderen Universitäten nur langsam voran. Noch lange blieb die Schriftauslegung die zentrale Aufgabe der Lehrstuhlinhaber. Auf die drei Ordinarien waren seit der Reformation -»Pentateuch, -»Propheten und Neues Testament verteilt; einer von ihnen hatte außerdem eine systematische Darstellung der evangelischen Lehre zu geben. Durch die Ordinatio Herzog Christophs von 1561 trat ein Extraordinariat hinzu, das zunächst eng mit dem Theologischen Stipendium (dem „Evangelischen Stift"; s.u. 4.) verbunden war. Sein Inhaber, zugleich zweiter Superattendent des Stipendiums, hatte dort neben exegetischen Vorlesungen unter anderem Disputationen und Deklamationen zu leiten. Die Neuordnung von 1652 schuf für den zweiten Ordinarius das Fach „Kontroverstheologie" (controversiae)-, der erste war jetzt allein für das Alte, der dritte für das Neue Testament, der Extraordinarius für die -»Dogmatik (anhand von Hafenreffers Compendium) zuständig. Die Verteilung der Fächer auf bestimmte Professuren hat sich in der Folge freilich immer wieder geändert: teils weil die Personen wechselten (häufig durch Tod eines Stelleninhabers und Vorrücken des Nachfolgers aus einer nachgeordneten Position), teils durch die Vermehrung der Disziplinen um -»Moraltheologie, Kirchengeschichte (-»Kirchengeschichtsschreibung), -»Homiletik und andere. 1720 wurde ein viertes theologisches Ordinariat eingerichtet; daneben war auch in der Folgezeit immer wieder ein theologisches Extraordinariat besetzt. Wie die ganze Universität hatte die theologische Fakultät bis weit ins 19. Jh. hinein einen ausgeprägt konservativen Charakter. Dazu trugen nicht nur die eng ausgelegte Bekenntnisbindung und die Benutzung bestimmter vorgeschriebener Lehrbücher der Dogmatik (seit 1702 Johann Wolfgang Jägers Compendium Theologiae Positivae, seit 1782 Christian Friedrich Sartorius' Compendium Theologiae dogmaticae, von 1802 bis in die 1840er Jahre Gottlob Christian Storrs Doctrinae christianae pars theoretica e sacris literis repetita [1793]) bei, sondern auch die im 17. und 18. Jh. herrschende Rekrutierung des Lehrkörpers aus dem Land und die Sitte des Nachrückens, die einzelnen Familien (z.B. Osiander oder Harpprecht) großen Einfluß einräumte und es möglich machte, daß der Sohn dem Vater auf dem Lehrstuhl folgte. Anders als an der Reformuniversität -»Halle konnten die zukunftsträchtigen Bewegungen von -»Pietismus und -»Aufklärung

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in Tübingen kaum Fuß fassen, und anders als das von der Aufklärung geprägte -•Göttingen hat Tübingen bis ins frühe 19. Jh. keine großen philologischen oder naturwissenschaftlichen Leistungen hervorgebracht. Die Berufung des gelehrten J.A. —>Bengel wurde 1729 von der theologischen und 1733 von der philosophischen Fakultät erwogen und verworfen; weder Georg Bernhard Bilfinger (1693—1750), ein Anhänger von -»-Leibniz, hat in seiner kurzen Tübinger Zeit (1731-1735) der Aufklärung nennenswerten Einfluß verschafft, noch der Wolffianer Israel Gottlieb Canz (1690-1753; 1739 Professor der Philosophie, 1747—1753 der Theologie). An der Theologischen Fakultät begründete Gottlob Christian Storr (1746-1805; Professor 1777-1797) in Auseinandersetzung mit I. -»-Kant die „Ältere Tübinger Schule" (-»Tübinger Schulen 2.), die mit ihrem biblischen -•Supranaturalismus noch das erste Viertel des 19. Jh. beherrschte und in Tübingen bis heute nachwirkt. Im 17.-18. Jh. war auch die Juristische Fakultät bedeutend, die seit der Reformation fünf Römischrechtler und einen Kirchenrechtler besaß - nicht zuletzt durch ihre ausgedehnte, allerdings den mitteldeutschen Fakultäten nachstehende Konsiliarpraxis. Ihr Ansehen wurde auch nicht durch die Konversion Christoph Besolds (1577-1638; Professor 1610—1635) zum Katholizismus geschmälert. Der seit 1744 regierende katholische Herzog Karl Eugen (1728-1793) förderte zwar die Universität Tübingen (z. B. durch Einrichtung der Sternwarte auf dem nordöstlichen Schloßturm und Umbau der Aula Nova)-, er ließ sich von 1767 bis zu seinem Tod zu ihrem Rektor wählen und verlieh ihr 1769 den Namen Eberhardina-Carolina. Doch schuf er in der nach modernen Gesichtspunkten gegründeten, besonders den -»-Naturwissenschaften zugewandten und praxisbezogenen Hohen Karlsschule (1770-1794, seit 1775 in Stuttgart, 1781 zur Universität erhoben) eine ernsthafte Konkurrenz für Tübingen. 1791 zählte man in Stuttgart 556, in Tübingen nur noch 188 Studenten: vor allem Theologen, darunter —»Hegel, -»Hölderlin und —»Schelling. 3. Die staatlich-überkonfessionelle

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Am Beginn des 19. Jh. machte die Universität Tübingen tiefgreifende Wandlungen durch. Unter Friedrich II. (reg. 1797-1816, seit 1806 König) wurde sie zu einer Staatsanstalt, die ihre bisherige rein protestantische Prägung verlor. Bereits 1806 wurden wichtige korporative Rechte aufgehoben: die Besetzung freigewordener Professuren durch den Senat, die eigene Strafgerichtsbarkeit (ausgenommen geringfügige Vergehen) und die Zivilgerichtsbarkeit. Die Annahme akademischer Würden einer nichtwürttembergischen Universität wurde untersagt, 1807 sogar das Studium an einer solchen verboten. Die organischen Gesetze von 1811 sahen einen staatlichen Curator als oberste Kontrollinstanz vor, während der vom Minister ernannte Rektor nur noch Verkündigungs- und Vollzugsorgan staatlicher Befehle gegenüber dem Senat sein sollte. Nicht alle Vorschriften blieben in den folgenden Jahren erhalten; doch wurden unter Wilhelm I. (reg. 1816—1864) die korporativen Rechte nur in begrenztem Umfang wiederhergestellt. Eine wichtige Neuerung war die Aufnahme von Privatdozenten in das akademische Bürgerrecht (1817). Die studentische Bewegung organisierte sich seit 1807 in verschiedenen Corps und Landsmannschaften; 1816 wurde im Gasthaus „Weilheimer Kneiple" die Burschenschaft Arminia (seit 1818 Germania) gegründet. Genauso einschneidend wie die Umwandlung der Universität zur Staatsanstalt war der Wegfall ihres konfessionellen Charakters als Folge der Erweiterung des bisher rein evangelischen Württemberg um die im Reichsdeputationshauptschluß 1803 gewonnenen katholischen Gebiete und Reichsstädte. Mit dem Bekenntniszwang endete 1806 auch der lutherische Charakter der Landesuniversität. 1812 wurden in Ellwangen ein Generalvikariat für Württemberg und eine theologische Lehranstalt für die katholischen Geistlichen des Landes errichtet. Als die Behörde 1817 nach Rottenburg (seit 1821 Sitz eines Bischofs) übersiedelte, wurde die Lehranstalt als Katholisch-theologische Fakultät in die Universität Tübingen integriert. Daß jetzt nicht nur die konfessionelle Prägung, sondern auch die Dominanz der Theologie an der Universität beendet war, zeigt sich

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daran, daß 1817 die bisherige Verbindung zwischen Kanzleramt und erstem theologischem Lehrstuhl aufgehoben wurde. Nach zweijähriger Vakanz wurde 1819 der Mediziner Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth (1772-1835) erster nichttheologischer Kanzler (bis 1835). Ihm folgten mit einer Ausnahme (Carl Weizsäcker 1889-1899) durchweg juristisch gebildete Kanzler. Bedeutsam war auch eine Neuerung im Studiengang der evangelischen Theologen: 1821 wurde die bisher für das Evangelische Stift bestehende Regelung aufgehoben, daß jeder Student zu Beginn des philosophischen Studiums die Würde des Baccalaureus, an seinem Abschluß die des Magisters der Philosophie erwerben mußte. Dadurch verringerte sich schlagartig die Zahl und erhöhte sich allmählich das Niveau der nunmehr freiwillig durchgeführten Promotionen. Die Theologie nahm in Tübingen auch weiterhin eine hervorragende Stellung ein. Als letztes ihrer Hauptfächer gelangte die -»Praktische Theologie 1813 zu einem Ordinariat; für sie wurde 1815 durch Jonathan Friedrich Bahnmaier (1774—1841; in Tübingen 1814-1819) die Evangelische Predigeranstalt gegründet (seit 1816 mit Sitz in der Schloßkirche). 1826 fand eine durchgreifende Neuordnung der Evangelisch-theologischen Fakultät statt, bei der F. C. —»Baur berufen wurde; er wurde das Haupt der „Jüngeren Tübinger Schule" (-»Tübinger Schulen 3.). An der Katholisch-theologischen Fakultät wirkte eine Reihe bedeutender Gelehrter, die man später unter der Bezeichnung „Katholische Tübinger Schule" (—»Tübinger Schulen 4.) zusammengefaßt hat. Doch ist der Aufschwung der Universität im 19. Jh. noch stärker durch die ständige Ausweitung der nichttheologischen Fächer gekennzeichnet. 1817 wurde die Staats wirtschaftliche Fakultät als sechste Fakultät eröffnet. In der Ausdehnung der Philosophischen und der Medizinischen Fakultät spiegelt sich die Entwicklung der dort vertretenen Disziplinen wider. So wurde 1811 ein germanistischer Lehrstuhl, 1838 ein klassisch-philologisches Seminar eingerichtet. 1863 wurden die naturwissenschaftlichen Fächer aus der Philosophischen und aus der Medizinischen Fakultät ausgegliedert und zur ersten Naturwissenschaftlichen Fakultät Deutschlands vereinigt. 1802 wurde das Contubernium in der baufälligen Burse aufgehoben und der Umbau zu einem Clinicum begonnen, in dem seit 1805 der Mediziner Autenrieth wirkte. Da sich die rasch wachsende Universität nicht mehr in der Altstadt unterbringen ließ, wurden die neuen Kliniken und Institute im Norden der Stadt an den Hängen des Ammertals gebaut (1832/35 Anatomie am Österberg, 1846 neues Klinikum). Den Mittelpunkt dieser Bauten bildete das 1841/45 errichtete Universitätshaus (Neue Aula), das 1931 wesentlich erweitert wurde. In seiner Nähe entstand 1912 auch die neue Universitätsbibliothek, die an die Stelle der Bibliotheksräume auf Schloß Hohentübingen trat, während die Bursa nach dem schrittweisen Auszug der Mediziner wechselnde Institute und Seminare beherbergte. Nach Aufstellung des Generalbebauungsplans von 1958 wanderten die Kliniken und naturwissenschaftlichen Institute auf die Hügel nördlich der Stadt, auf denen auch große Studentenwohnheime entstanden. Während für einen Teil der Geisteswissenschaften Neubauten errichtet wurden („Hegelbau" 1959, „Neuphilologikum" 1974), zogen die Theologen 1963 aus der Neuen Aula in die ehemalige Medizinische Klinik um; 1989 erhielten sie ein modernes Bibliotheksgebäude. Im Laufe des 19. Jh. entwickelte Tübingen, das unter den deutschen Universitäten immer nur mittlere Größe erreichte, über Württemberg hinaus wachsende Anziehungskraft auf Lehrende und Studierende. Als erste Frau nahm Maria Gräfin von Linden (1869-1936) 1892 ein Studium auf und wurde 1895 zum Doktor der Naturwissenschaften promoviert. 1904 erlaubte Tübingen als fünfte von 21 deutschen Universitäten generell das Frauenstudium. Stärker als die neue Universitätsverfassung von 1912 veränderte die wachsende Mitwirkung der Studierenden (ein „Allgemeiner Studentenausschuß" wurde in den Revolutionstagen 1918 gegründet) das Leben an der Universität. Die nationalsozialistische Machtergreifung wurde in Tübingen von vielen Lehrenden und Studierenden begrüßt - auch von einigen Mitgliedern der Evangelisch-theologischen Fakultät, deren Ordinarius für Praktische Theologie Karl Fezer (1891-1960) 1933 zum

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Rektor ernannt wurde (bis 1935). Daß sich die Zahl der Entlassungen aus dem Lehrkörper in engen Grenzen hielt, war kein Ausdruck des Widerstandes gegen das neue Regime, sondern eine Folge der Berufungspolitik in den zurückliegenden Jahrzehnten. Die Gleichschaltung der Universität führte unter dem Rektor Friedrich Focke ( 1 8 9 0 1970) (Klassische Philologie) dazu, daß der Senat letztmals im Sommersemester 1937 tagte. Sein Nachfolger, der Psychiater Hermann Hoffmann (1891-1944), versuchte zusammen mit dem Anatomen Robert Wetzel (1898-1962) vergeblich, die beiden theologischen Fakultäten aus der Universität hinauszudrängen. Nach Kriegsende konnte die unzerstörte Universität Tübingen als erste in Deutschland am 15. Oktober 1945 wieder den Lehrbetrieb aufnehmen. Der Lehrkörper, aus dem 1945/46 mehr als ein Drittel der Professoren wegen politischer Belastung entlassen worden war (darunter der evangelische Neutestamentier G. -»Kittel, seit 1926 in Tübingen), wurde durch Berufung bedeutender Gelehrter (u.a. des Germanisten Friedrich Beißner [1905—1977], des Philosophen Eduard Spranger [1882-1963], des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt [ 1 9 0 0 1974] und des Historikers Hans Rothfels [1891-1976]) ergänzt; eine zwanzigjährige Blütezeit war die Folge. Als der 76jährige Philosoph E. -»Bloch 1961 von einer Reise in die Bundesrepublik nicht nach -»Leipzig zurückkehrte, erhielt er eine Gastprofessur, auf der er noch jahrelang eine intensive Wirksamkeit entfaltete. Später als an anderen deutschen Universitäten, aber mit ähnlichen Wirkungen, radikalisierte sich seit 1967 in Tübingen die Studentenbewegung. Alte Tübinger Strukturen und Traditionen wurden aufgehoben; u.a. zerschlug die Grundordnung der Universität von 1969 die Medizinische Fakultät in zwei, die Philosophische in fünf und die Naturwissenschaftliche Fakultät in sechs Fachbereiche. 1971 beschloß der Große Senat die Einführung des Präsidialsystems (1972 Präsident Adolf Theis), kehrte aber 1995 zur Rektoratsverfassung zurück. Den vorläufigen Höhepunkt immer neuer Eingriffe und Veränderungen bildete das baden-württembergische Universitätsgesetz von 2000, das im Hochschulrat (mit externen Mitgliedern), in Rektorat und Fakultätsvorstand Leitungs- und Aufsichtsgremien schuf und dadurch den Einfluß der bisherigen Selbstverwaltungsgremien (Senat, Fakultätsrat, kollegiale Kommissionen) aushöhlte. Politisch gewollte Drittmitteleinwerbung, Stiftungsprofessuren u.ä. untergraben zusätzlich die Autonomie der Universität. Unter Inanspruchnahme seiner Leitungsrechte verkündete das Rektorat 2001 einschneidende inhaltliche Umstrukturierungen zu Gunsten von Biowissenschaften und Informatik und zu Lasten der Geisteswissenschaften. Davon sind auch die beiden Theologischen Fakultäten betroffen. Nachdem sie jahrelang eine große Überlast in der Lehre getragen hatten (Maximum im Wintersemester 1984/85: 2250 evangelische und 1009 katholische Theologiestudierende bei insgesamt 23402 Immatrikulierten), wurden nach der Normalisierung der Studierendenzahlen (Sommersemester 2001: 526 evangelische, 354 katholische Theologiestudierende bei insgesamt 18.968 Immatrikulierten) bereits Stellenstreichungen vorgenommen, die sich im Zeichen der inhaltlichen Umorientierung fortsetzen werden. Die Arbeit der Evangelisch-theologischen Fakultät war seit Baur (1826-1860) immer durch das Nebeneinander der neuen historisch-kritischen Sichtweise und der in Württemberg tief verwurzelten biblizistisch-konservativen Neigungen geprägt. Immer wieder sind Konflikte zwischen Vertretern der beiden Richtungen aufgebrochen. In der Lehre dominieren nach Tübinger Tradition die exegetischen Fächer, besonders das Neue Testament, das auch nach der Errichtung eines eigenen neutestamentlichen Lehrstuhls (1898) für A. —»Schlatter noch bis zur Mitte des 20. Jh. von Vertretern anderer Disziplinen (zuletzt von dem Systematiker K. -»Heim) mitvertreten wurde. Der theologische Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg ist u.a. in der 1950 durch Gerhard Ebeling ( 1 9 1 2 2001; Kirchenhistoriker, dann Systematiker in Tübingen 1 9 4 6 - 1 9 5 6 , 1965-1968) mit vorwiegend Tübinger Mitherausgebern wiederbegründeten Zeitschrift für Theologie und Kirche sichtbar. Schwerpunkte in der Forschung setzen die seit 1956 eingerichteten Institute („Besondere Arbeitsbereiche"), an denen teilweise über Jahrzehnte hin Großprojekte betreut werden.

164 4. Tübinger

Tübingen Studienhäuser

Das 1536 von Herzog Ulrich nach M a r b u r g e r Vorbild gegründete „Hochfürstliche Stipendium", ein bis heute als „Evangelisches Stift" bestehendes Studienhaus f ü r den geistlichen N a c h w u c h s des Landes, w a r anfangs in der Burse und ist seit 1547 im ehemaligen Augustiner-Eremitenkloster untergebracht. Es erhielt 1557 eine O r d n u n g , die 1559 in die württembergische G r o ß e Kirchenordnung eingefügt wurde. Bis ins 19. Jh. fanden in ihm die Lehrveranstaltungen der theologischen Fakultät statt. Seine Repetenten (magistri repetentes), ursprünglich zur Abhaltung von Repetitionen des in Vorlesungen der Professoren behandelten Stoffes bestimmt, nach den Statuten von 1793 auch zu eigenen theologischen Vorlesungen ermächtigt, halten heute noch Übungen (loci). Bis 1849 w u r d e das Stift von einem Mitglied der Artistenfakultät als Magister Domus (seit 1752: Ephorus) geleitet, dem zwei Professoren der Theologie als Superattendenten (später auch: Inspektoren) zur Seite standen. Seit 1850 ist das Ephorat mit einer Lehrtätigkeit an der Theologischen Fakultät verbunden. 1910 w u r d e eine R e f o r m des Stifts eingeleitet, die 1928 mit seinem Übergang in Eigentum und Verwaltung der Landeskirche endete. Das Leben im Stift hatte bis weit ins 19. Jh. hinein einen klösterlich-klerikalen Zuschnitt. Durch die 1969 probeweise und 1974 endgültig eingeführte neue O r d n u n g w u r d e das Stift auch weiblichen Stipendiaten geöffnet. Im Gegensatz zur durchweg oder überwiegend konservativen Theologischen Fakultät w u r d e das Stift wiederholt zum Einfallstor moderner Strömungen: des Pietismus d u r c h Erbauungsstunden von Repetenten seit 1688, der Aufklärung im 18. Jh., der Ideen der -*Französischen Revolution, der Philosophie -»•Hegels durch die Vorlesungen des Repetenten D.F. -»Strauß 1832/33 und der T h e o logie A. -•Ritschis durch den Repetenten M a x Reischle (1858-1905) seit 1883/84. Herzog Christoph plante auch ein Studienhaus f ü r den Adel, der zum Dienst f ü r das Land bestimmt w a r . Doch erst sein Sohn, Herzog Ludwig (reg. 1568-1593), f ü h r t e diesen Plan aus, indem er an Stelle des ehemaligen Franziskanerklosters 1 5 8 7 - 1 5 9 2 ein Collegium illustre erbaute. Sein Nachfolger Friedrich I. (reg. 1593-1608) machte daraus eine Ritterakademie f ü r den protestantischen Adel Europas und trennte es ganz von der Universität. N a c h wechselvollem, durch längere Schließungen unterbrochenem Betrieb w u r d e das Collegium nach Abgabe seiner Einrichtung unter König Wilhelm I. 1817 aufgehoben. Seine H a u p t f u n k t i o n e n wurden von der Staatswirtschaftlichen Fakultät ü b e r n o m m e n , seine G e b ä u d e der Katholisch-theologischen Fakultät zur Errichtung eines Konvikts übertragen (heute: „Wilhelmsstift"). Quellen 1. Bibliographie: Bibliogr. zur Gesch. der Univ. Tübingen, bearb. v. Friedrich Seck u.a., Tübingen 1980 (Contubernium 27). 2. Urkunden und Gesetze: Urkunden zur Gesch. der Univ. Tübingen, hg. v. Rudolph Roth, Tübingen 1877 Nachdr. Aalen 1973. - Sammlung der württembergischen Schul-Geseze, 3. Abtheilung, hg. v. Theodor Eisenlohr, Tübingen 1843 = Vollständige, hist. u. krit. bearb. Sammlung der württembergischen Gesetze. XI. Universitätsgesetze bis 1843, hg. v. August Ludwig Reyscher, Stuttgart 1843. 3. Reihen: Bausteine zur Tübinger Universitätsgesch., hg. v. Volker Schäfer, Tübingen 1981 ff. - Contubernium. Beitr. zur Gesch. der Eberhard-Karls-Univ. Tübingen, hg. v. Hansmartin DeckerHauff u.a., Tübingen 1971-1988; Sigmaringen 1993-1996; Stuttgart 1998ff. - Werkschr. des Universitätsarchivs Tübingen, hg. v. Volker Schäfer, Tübingen 1975 ff. Literatur Martin Brecht, Das Augustiner-Eremiten-Kloster zu Tübingen: Ma. Erbe - ev. Verantwortung, hg. vom Ev. Stift Tübingen, Tübingen 1962, 45-91. - Ders., Die Entwicklung der Alten Bibliothek des Tübinger Stifts in ihrem theologie- u. geistesgesch. Zusammenhang: BWKG 63 (1963) 3-103. - Ders. (Hg.), Theologen u. Theol. an der Univ. Tübingen, Tübingen 1977 (Contubernium 15). - Hansmartin Decker-Hauff u.a. (Hg.), 500 Jahre Eberhard-Karls-Univ. Tübingen, 3 Bde., Tübingen 1977. - Fritz Ernst, Die wirtschaftliche Ausstattung der Univ. Tübingen in ihren ersten Jahrzehnten (1477-1534), Stuttgart 1929 (Darst. aus der württembergischen Gesch. 20). - Joachim Hahn/Hans

Tübinger Schulen

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Ulrich Köpf

Tübinger Schulen 1. Der Begriff „Tübinger Schule" 2. Die Ältere Tübinger Schule Schule 4. Die Katholische Tübinger Schule (Literatur S. 171)

1. Der Begriff „Tübinger

3. Die Jüngere Tübinger

Schule"

„Schule" bezeichnet nicht nur eine Institution, sondern auch gleichgerichtetes Streben oder gleichartige Überzeugung verschiedener Personen, insbesondere einen Überlieferungs-, Rezeptions- und Wirkungszusammenhang zwischen Lehrer und Schülern. Die Formulierung „Tübinger theologische Schule" begegnet schon im frühen 19. Jh. als Bezeichnung für die Lehre an der Theologischen Fakultät der Universität -»Tübingen seit dem letzten Viertel des 18. Jh. Für diese Schule war damals im Blick auf ihren Begründer Gottlob Christian Storr (1746-1805) die Bezeichnung „Storrsche Schule" üblich. Als F.C. —>Baur, der bei den ältesten Schülern Storrs studiert hatte und noch 1829 (drei Jahre nach Beginn seiner Tübinger Lehrtätigkeit) von -»Schleiermacher als Mitglied dieser Schule bezeichnet worden war, 1845 von theologischen Gegnern zum Haupt einer eigenen Schule ernannt wurde („Baursche Schule", auch einfach „Tübinger Schule"), widersprach er zunächst, nahm dann aber doch den Schulbegriff positiv auf. Konsequenterweise sprach er in seiner Darstellung der Fakultätsgeschichte (1849) von der auf Storr zurückgehenden Schule als der „alten Tübinger Schule". Bereits 1850 war „la nouvelle ecole de Tubingue" in Frankreich ein Begriff, obwohl meist einfach von der „Tübinger Schule" („l'ecole de Tubingue", „the Tübingen School") gesprochen wurde. Nachdem sich der Schulname allgemein durchgesetzt und z. B. Adolf Hilgenfeld (18231907) 1858 Baur als den „Altmeister der Tübinger Schule" bezeichnet hatte, ließ dieser sich die Einordnung gefallen und verteidigte seine Position noch 1859 in einer eigenen Schrift: Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart. Zur Näherbestimmung wurden verschiedene Adjektive herangezogen. Am wirkungsvollsten war zunächst der Name „Tübinger historische Schule" (Zeller); doch hat sich gegen die inhaltliche Cha-

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Tübinger Schulen

rakterisierung die rein zeitliche durchgesetzt: Im 19. Jh. sagte man „neuere" oder „neue", im 20. Jh. zunehmend „Jüngere Tübinger Schule". Auch auf die Katholisch-theologische Fakultät wurde der Begriff „Tübinger Schule" angewandt, jedoch seit den 30er Jahren des 19. Jh. zunächst nur im Sinne der Institution. Sodann wurde in der kirchenpolitischen Auseinandersetzung eine vom -»-Ultramontanismus beherrschte „neue", „jüngere", „moderne" der „alten Tübinger Schule" gegenübergestellt. In die theologiegeschichtliche Betrachtung wurde der Begriff einer „(katholischen) Tübinger Schule" erst 1862 von außen eingeführt (durch Alois Schmid [1825-1910] in Dillingen). Nachdem die Betroffenen selbst lange den Schulnamen gemieden hatten, den ihre Gegner polemisch gebrauchten, griffen sie ihn seit Ausgang des 19. Jh. zunehmend positiv auf und behaupteten sogar eine Kontinuität der „katholischen Tübinger Schule" bis zur jeweiligen Gegenwart. Z u m Fakultätsjubiläum 1967 meldete der Tübinger Kirchenhistoriker R. Reinhardt erstmals begründete Zweifel am Sinn des Schulnamens an, die er im folgenden untermauerte. Seine Kritik wurde durch A.P. Kustermann fortgeführt. Dagegen betonte der Tübinger Fundamentaltheologe M . Seckler noch jüngst die „Dauer und Fortdauer", ja einen nie abgerissenen „Identitätsstrom der Kath[olischen] T[übinger] Sch[ule]" (Seckler 289). Im Unterschied zu den drei gebräuchlichen Schulnamen aus dem 19. Jh. hat sich die nachträgliche Bezeichnung der Tübinger Theologie an der Wende vom 15. zum 16. Jh. als „Tübinger Bielschule" oder „erste Tübinger Schule" (Heiko A. Oberman, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen 1977, nach John T. Noonan Jr., The Scholastic Analysis of Usury, Cambridge, Mass. 1957) nicht bewährt. 2. Die Ältere Tübinger

Schule

Sie umfaßt das Schulhaupt Storr und eine relativ homogene Gruppe Tübinger Theologieprofessoren. Gottlob Christian Storr war 1777-1797 Professor an der Theologischen Fakultät, seit 1797 Konsistorialrat und Oberhofprediger in Stuttgart. Zu seiner Schule im engeren Sinne zählen die drei unmittelbaren Schüler Johann Friedrich Flatt (1759-1821, Professor seit 1792), Friedrich Gottlieb Süskind (1767-1829, als Nachfolger Storrs Professor 1798-1805, danach in verschiedenen kirchlichen Funktionen), und Karl Christian Flatt (der Bruder Johann Friedrichs, 1772-1843, Professor 1804-1812, seitdem in kirchlichen Ämtern). In weiterem Sinn rechnet man zur Älteren Tübinger Schule: Ernst Gottlieb Bengel (1769-1826, Enkel des berühmteren J.A. -»Bengel, auch er noch unmittelbarer Schüler Storrs, aber mit anderem Schwerpunkt seit 1806 Professor), Johann Christian Friedrich Steudel (1779-1837, seit 1815 Professor), den Baur als „letzten ächten Zögling und Vertreter der alten Tübinger Schule" bezeichnet, während Carl (von) Weizsäcker (1822-1899) in Christian Friedrich Schmid (1794-1852, seit 1819 in der Lehre tätig, seit 1826 als Ordinarius), dem hauptsächlichen Gegenspieler Baurs, „den letzten Ausläufer" der Schule sieht. Es handelt sich also um eine Reihe von Professoren, deren Schulrichtung mehr als vier Jahrzehnte, bis zu Bengels Tod 1826, an der Fakultät vorherrschte, um dann allmählich hinter den Einfluß Baurs zurückzutreten. Ihre Tätigkeit erstreckte sich weitgehend auf die biblische, vorwiegend neutestamentliche Exegese und auf die systematischen Fächer, während Schmid vor allem Neues Testament und Praktische Theologie, Bengel Kirchen- und Dogmengeschichte behandelte. Die Wirkung der Schule wurde durch ihre Zeitschriften verstärkt: das von J.F. Flatt begründete und seit 1803 von Süskind herausgegebene Magazin für christliche Dogmatik und Moral, deren Geschichte und Anwendung im Wortrag der Religion, Tübingen 1796-1812, und als dessen Fortsetzung, aber um Rezensionen erweitert, Bengels Archiv für die Theologie und ihre neueste Literatur, seit Band 5: Neues Archiv für die Theologie, Tübingen 1815/16-1826. Seine Nachfolge trat die von Steudel herausgegebene Tübinger Zeitschrift für Theologie an (Tübingen 1828/29-1840), an der vor allem die Professoren der Evangelisch-theologischen Fakultät mitwirkten. Daß sich unter den Mitarbeitern auch Baur befand, konnte in den ersten Jahren seiner Tübinger Wirksamkeit auswärts den Eindruck erwecken, auch er gehöre der Schule Storrs an.

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Inhaltlich läßt sich deren Position als biblischer —»Supranaturalismus bezeichnen, d.h. als die Überzeugung von einer in der Bibel enthaltenen übernatürlichen -»Wahrheit, die den Inhalt der christlichen Lehre bilde. Von Kants Begrenzung der theoretischen -•Vernunft in religiösen Fragen ausgehend sah Storr in der Heiligen -»Schrift eine die Vernunft übersteigende, aber durch die Autorität des göttlichen Gesandten Jesus und seiner Apostel beglaubigte —»Offenbarung. Er betrachtete demgemäß die —»Bibel nicht als Sammlung unterschiedlicher, in der Geschichte entstandener Schriften, sondern versuchte, sie als eine in jedem ihrer Teile authentische, in sich einheitliche Urkunde der Wahrheit zu erweisen. Mit großem Aufwand an Gelehrsamkeit wandte er sich gegen die Beobachtung von Widersprüchen und Fragwürdigkeiten innerhalb der Schrift. Um deren Glaubwürdigkeit zu sichern, ging er so weit, z. B. am paulinischen Ursprung des -•Hebräerbriefs festzuhalten. In seiner Dogmatik, die er in dem Lehrbuch Doctrinae christianae pars theoretica e sacris literis repetita (Stuttgart 1793) zusammenfaßte, argumentierte er mit isolierten Bibelstellen, denen er durchweg dieselbe Beweiskraft zuschrieb. Im Festhalten an der unbedingten Autorität und an einer undifferenziert verstandenen Wahrheit biblischer Aussagen folgte die Schule dem Lehrer. 3. Die Jüngere

Tübinger

Schule

Schwerer als die Ältere ist die Jüngere Tübinger Schule einzugrenzen, da bereits zwischen dem Schulhaupt und seinen Schülern keine Einigkeit über die Zugehörigkeit zur Schule bestand und da deren Umfang auch in der neueren Literatur unterschiedlich angegeben wird. Sicher ist nur, daß sie - im Unterschied zur Älteren Tübinger Schule - lediglich durch den allen Mitgliedern gemeinsamen Lehrer Ferdinand Christian Baur, der von 1826 bis zu seinem Tod als Nachfolger E.G. Bengels den Lehrstuhl für Kirchenund Dogmengeschichte innehatte, eine feste Vertretung in der Tübinger Fakultät besaß. Es ist Baur trotz mehrfacher Bemühungen nicht gelungen, auch nur die Berufung eines einzigen Schülers an seine Fakultät durchzusetzen. Offenkundig war er mit seiner Position, die bereits Bedenken gegen seine Berufung hervorgerufen hatte, zeitlebens in der Fakultät isoliert. Seinen Schülern blieb nicht nur in Tübingen, sondern auch außerhalb Württembergs ein theologischer Lehrstuhl versagt. Die meisten wanderten deshalb - in Tübingen oder im Ausland — in die Philosophische Fakultät ab, wo sie aber zuweilen noch theologisch weiterarbeiteten (besonders Eduard Zeller [1814—1908]). Andere mußten ganz auf eine akademische Karriere verzichten. Dem begabtesten unter ihnen - D.F. -•Strauß - blieb sogar der kirchliche Dienst verschlossen; er hat als freier Schriftsteller seinen Lebensunterhalt verdient. Angriffe und Verdächtigungen von außen trieben auch wiederholt einen Keil zwischen den Lehrer und einzelne seiner Schüler. Während sich Baur nach dem Erscheinen des Lebens Jesu, kritisch bearbeitet, von dessen Verfasser Strauß distanzierte und ihn 1860 nicht (wie Albert Schwegler [1819-1857], E. Zeller, Karl Christian Planck [1819-1880] und Karl Reinhold Köstlin [1819-1894]) zum engsten Schülerkreis zählte, hat sich später Hilgenfeld gegen die Bemühungen des Lehrers gewehrt, ihn der Schule zuzurechnen. Andererseits bezeichneten sich Theologen als „Tübinger", die weder Baur persönlich gekannt noch überhaupt in Tübingen studiert hatten, und auch in der späteren Literatur wird der Kreis der Schüler oft sehr weit gezogen. Die unterschiedlichen Umfangsbestimmungen des Schülerkreises sind in unterschiedlichen Kriterien der Abgrenzung begründet. Die Zeitgenossen sahen die Schule offenbar in erster Linie durch ihr Interesse an einer Rekonstruktion der Frühgeschichte des Christentums, sodann inhaltlich durch die Auffassung von einem grundlegenden Gegensatz zwischen der petrinisch-judenchristlichen und der paulinisch-heidenchristlichen Partei, schließlich methodisch durch den historisch-kritischen Umgang mit den Quellen, zumal mit den neutestamentlichen Schriften, konstituiert. Nach diesen Kriterien fallen manche Schüler aus dem Kreis heraus, die sich zwar eindeutig zu Baur bekannten und sogar für eine Berufung nach Tübingen vorgeschlagen (Christian Märklin [1807—1849]) oder zumindest in Erwägung gezogen (Gustav Binder [1807-1885]) wurden, aber nicht über

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Tübinger Schulen

die Geschichte der frühen Christenheit gearbeitet haben. Es ist deshalb angemessener, die Schule nach dem Verhältnis ihrer Mitglieder zu Baur zu beschreiben. Dabei sollte dieser allerdings nicht als der Schulstifter betrachtet werden, der er ursprünglich nicht sein wollte. Daß in Tübingen eine neue theologische Schule entstanden war, zeigte sich, worauf schon Ch. Burger hingewiesen hat, in aller Deutlichkeit erst an ihren Beiträgen zu den von Zeller begründeten, seit Band 6 (1847) hauptsächlich von Baur herausgegebenen Theologischen Jahrbüchern (1842—1857). Als ihr Nachfolgeorgan schuf Hilgenfeld 1858 die Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, die bis 1914 erschien - seit Band 36 unter verschiedenen (Mit-)Herausgebern. Als Rezensionsorgan der Schule dienten einige Jahre hindurch auch die von Schwegler herausgegebenen, weit über die Theologie hinausführenden Jahrbücher der Gegenwart (1843-1848). Im engeren Sinne bestand die Jüngere Tübinger Schule aus württembergischen Theologen, die in Tübingen studierten. Eine erste Gruppe von ihnen hatte Baur noch als Lehrer am niederen theologischen Seminar Blaubeuren erlebt: vor allem Mitglieder der „Geniepromotion", die 1825 das Seminar verließen und seit 1826 ihrem alten Lehrer in Tübingen wiederbegegneten. Unter ihnen ragt David Friedrich Strauß hervor, der Baurs Sichtweise noch vor dem Lehrer in kongenialer, aber auch besonders radikaler und einseitiger Weise zunächst auf die Evangelien und wenige Jahre später auf die Dogmengeschichte anwandte. Ihm war nach dem Erscheinen des Lebens Jesu (1835/36) eine Anstellung in Württemberg, nach dem Scheitern seiner Berufung nach -»Zürich (1839) eine akademische Laufbahn verschlossen. Trotz aller Distanzierungsbemühungen Baurs gehörte Strauß zweifellos zum Kern seiner Schule. Zu dieser Gruppe zählen ferner Friedrich Theodor Vischer (1807-1887), der sich frühzeitig von der Theologie löste, auf Literaturgeschichte und Ästhetik verlegte und für dieses Fach seit 1837 in Tübingen, Zürich und zuletzt Stuttgart Professuren erhielt, sowie Gustav Binder und Christian Märklin, die keine akademische Karriere machten, sondern in Pfarramt und Schuldienst tätig waren. Alle drei arbeiteten im Unterschied zu Strauß nicht über die Geschichte der frühen Christenheit, bekannten sich aber offen und nachdrücklich zu Baurs theologischen Prinzipien und setzten sich intensiv mit dem württembergischen -»Pietismus auseinander. Binder hielt 1874 dem gemeinsamen Freund Strauß die Grabrede, der seinerseits 1851 in einem „Lebens- und Charakterbild" dem frühverstorbenen Freund Märklin ein Denkmal gesetzt hatte. Unter den jüngeren Schülern Baurs ist an erster Stelle Eduard Zeller zu nennen, der 1847 sein Schwiegersohn wurde. Obwohl er neben verschiedenen theologischen Arbeiten, u.a. zum vierten Evangelium, gewichtige Platonische Studien (1839) vorgelegt hatte, scheiterten alle Bemühungen um seine Anstellung an der Tübinger Theologischen oder Philosophischen Fakultät. 1847 wurde er als außerordentlicher Professor der Theologie nach -»Bern berufen; aber nachdem er den Ruf auf ein theologisches Ordinariat in -»Marburg bereits angenommen hatte, wurde er 1849 aus theologischen, politischen und kirchenpolitischen Gründen in die Philosophische Fakultät abgedrängt. Hier führte ihn eine glänzende Laufbahn von Marburg über -»Heidelberg (1862-1872) nach -»Berlin (1872-1895). Auch als Professor der Philosophischen Fakultät hat er neben zahlreichen philosophischen, vor allem philosophiehistorischen, gewichtige theologische Arbeiten verfaßt. Sein Hauptwerk wurde aber Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung (zuerst Tübingen 18441852, mehrere Neuauflagen), in der er die Geschichte der antiken Philosophie aus dem Geist der Jüngeren Tübinger Schule in umfassender Weise kritisch und zusammenhängend darstellte. Der frühverstorbene Albert Schwegler veröffentlichte ähnlich wie Zeller zunächst Untersuchungen über -»Plato und das Neue Testament. 1846 erschien sein zweibändiges theologisches Hauptwerk Das nachapostolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner Entwicklung, das ihm endgültig eine Karriere in der Theologie verbaute. Im folgenden konzentrierte er sich auf Philosophie und Altertumswissenschaft, gab u.a. die Metaphysik des —»Aristoteles mit Übersetzung und Kommentar heraus (1847/48) und verfaßte als außerordentlicher Professor der Klassischen Philologie eine

Tübinger Schulen

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auf scharfsinniger Kritik der Tradition beruhende Rötnische Geschichte (1853-1858), die allerdings immer im Schatten des gleichnamigen und gleichzeitig (1854—1856) erschienenen Werks des bekannteren Theodor Mommsen (1817—1908) stand. Zwei weitere württembergische Vertreter der Schule, die Baur ausdrücklich als ihm nahestehend nannte, haben weniger profilierte theologische Positionen vertreten. Karl Reinhold Köstlin verfaßte zwei neutestamentliche Monographien, Der Lehrbegriff des Evangeliums und der Briefe Johannis und die verwandten neutestamentlichen Lehrbegriffe (1843) und Der Ursprung und die Komposition der synoptischen Evangelien (1853), sowie verschiedene Beiträge zu den Theologischen Jahrbüchern. Obwohl er eine moderate Form der „Tübinger" Sicht vertrat, blieb er ohne Aussicht auf eine theologische Professur, erhielt aber als Nachfolger Vischers die Professur für Literaturgeschichte und Ästhetik an der Philosophischen Fakultät (1858 als Extraordinarius, 1863 als Ordinarius). Sein Freund Karl Christian Planck befaßte sich in verschiedenen Arbeiten mit der jüdischen Religion wie mit der Frühgeschichte des Christentums, wobei er unter ausdrücklicher Einbeziehung des geschichtlichen Jesus den Beziehungen der frühen Christenheit zum Judentum besondere Aufmerksamkeit schenkte. Mit seinem Werk Die Weltalter, einem eigenen „System des reinen Realismus", verließ er 1850 auf Dauer das Arbeitsfeld der Jüngeren Tübinger Schule und konzentrierte sich von nun an auf systematisch-philosophische Arbeiten. Nicht so sehr wegen seiner Verbindung zu Baur, sondern weil seine eigenwilligen Ideen und seine daraus abgeleiteten politischen Forderungen bei Fachgenossen keinen Anklang fanden, konnte Planck nicht auf eine philosophische Professur hoffen. Er wurde deshalb Lehrer am Gymnasium in Ulm (1855) und am Seminar Blaubeuren (1869), zuletzt noch Ephorus in Maulbronn (1879). Aus dem Kreise der vielen Württemberger, die Baur gehört haben, wird in der Literatur zu Unrecht auch sein 1861 berufener Nachfolger Carl Weizsäcker (seit 1889 Kanzler der Universität) der Jüngeren Tübinger Schule zugerechnet. Jedoch stand der stärker von Schmid geprägte Weizsäcker der Schule zunächst sehr distanziert gegenüber, hat sich ihr allerdings als Tübinger Professor zunehmend genähert und in seinem Hauptwerk Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche (1886) ihren kritischen Standpunkt angeeignet. Von den Nichtwürttembergern stand Adolf Hilgenfeld aus der Altmark (1850-1890 Extraordinarius in —»Jena, erst 1890 Ordinarius) Baur sachlich am nächsten, obwohl er ihn nicht persönlich kannte, nie in Tübingen studiert hatte und sich immer dagegen wehrte, zu den „Tübingern" gezählt zu werden. Auch der Hesse Gustav Volkmar (1809—1893, seit 1853 an der Theologischen Fakultät Zürich) gehört mit seinen Beiträgen zu den Theologischen Jahrbüchern in die Nähe der Schule. Dagegen hatte A. —• Ritsch], der Baur 1845 und wieder 1854 in Tübingen besuchte und jahrelang in den Theologischen Jahrbüchern publizierte, nie ein ganz ungestörtes persönliches wie sachliches Verhältnis zu Baur und brach 1856 endgültig mit ihm. Was die Mitglieder der Jüngeren Tübinger Schule mit ihrem Lehrer und untereinander verband, das war — ungeachtet kleinerer inhaltlicher Differenzen - das vorbehaltlose Bemühen um eine konsequent historische Geschichtsbetrachtung, das auch die äußersten kritischen Konsequenzen nicht scheute. Im Gegensatz zur Älteren Tübinger Schule konnte die Jüngere Schule sowenig einen Unterschied im Umgang mit christlichen und nichtchristlichen Quellen wie eine Argumentation mit der äußeren Autorität oder dem göttlichen Offenbarungscharakter der Heiligen Schrift anerkennen. Sie erkannte, daß Quellenkritik immer Sachkritik an den Aussagen der Quellen einschließt. Konsequenterweise hat sie das -*'Wunder als Mittel historischer Erklärung auch auf dem Gebiet der Anfänge des Christentums verworfen und durch den Gedanken der Analogie ersetzt. Damit hat sie die unbefangene religionsgeschichtliche Betrachtungsweise auf das Christentum ausgedehnt. Daß sie durch ein solches Vorgehen nicht nur mit der älteren Tradition der Tübinger Fakultät, sondern mit jeder Art von —»Biblizismus oder konfessioneller Enge in Konflikt geraten mußte, ist verständlich. Man hat sie nicht nur der Respektlosigkeit vor der Offenbarung geziehen, sondern ihr auch die Benutzung philosophischer, zumal

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Tübinger Schulen

Hegelscher Kategorien bei der Rekonstruktion geschichtlicher Zusammenhänge zum Vorwurf gemacht. In Wirklichkeit haben Baur und seine Schüler durch Rückgriff auf geeignete Denkformen erstmals weit ausgreifende kirchen-, dogmen- und philosophiegeschichtliche Darstellungen geschaffen, die mehr waren als die bisherigen Stoffsammlungen. Aller weitere Erkenntnisgewinn beruht auf den von ihnen geschaffenen Voraussetzungen, auch wenn ihre Ergebnisse im einzelnen und ihre Sicht der Zusammenhänge im Fortgang der Forschung an vielen Punkten überholt worden sind. 4. Die Katholische

Tübinger

Schule

Bei den Personen, die seit Ausgang des 19. Jh. der „Katholischen Tübinger Schule" zugerechnet werden, handelt es sich fast durchweg um Professoren der Tübinger Katholisch-theologischen Fakultät. Herkömmlicherweise wird unterschieden zwischen dem „Gründer" der Schule, Johann Sebastian Drey (1777-1853, in Tübingen 1817-1846 Professor für Theologische Enzyklopädie, Dogmengeschichte und Dogmatik), sowie weiteren Angehörigen der ersten Generation - dem Moral- und Pastoraltheologen Johann Baptist -> Hirscher (Professor in Tübingen 1817-1839) und dem Kirchenhistoriker Johann Adam -»Möhler (Professor in Tübingen 1822-1835) - , führenden Theologen der zweiten Generation - dem Dogmatiker Franz Anton Staudenmaier (1800-1856; 1830 Professor in Gießen, 1837 in Freiburg), dem Exegeten (1837) und Dogmatiker (18391882) Johann Evangelist Kuhn (1806-1887) und dem Kirchenhistoriker (1836-1870) Karl Joseph Hefele (1809-1893) - , schließlich hervorragenden Vertretern der dritten Generation — dem Moraltheologen (seit 1867) Franz Xaver Linsenmann (1835-1898), dem Kirchenhistoriker (seit 1870) Franz Xaver Funk (1840—1907) und dem Neutestamentler und Dogmatiker (seit 1883) Paul Schanz (1841-1905). Daneben werden noch andere Professoren der Fakultät genannt; zuweilen wird der Kreis der „Tübinger" sogar über Tübingen hinaus auf andere Fakultäten ausgeweitet (wie bei F. A. Staudenmaier). So faßt Karl Werner 1866 unter dem Namen der Tübinger Schule die Männer zusammen, die in der Tübinger Theologischen Quartalschrift (dem Organ der Fakultät seit 1819 bis heute), den Gießener Jahrbüchern für Theologie und christliche Philosophie (18341836) und der Freiburger Zeitschrift für Theologie (1839-1849) publizierten. Äußerungen späterer Tübinger Fakultätsmitglieder von Paul Schanz über Karl Adam (18761966), Josef Rupert Geiselmann (1890-1970), Heinrich Fries (1911-1998) und Walter Kasper bis zu M . Seckler zeigen, wie sehr sie sich selbst in der Tradition dieser Schule sehen. Die weitgehende Offenheit und Unbestimmtheit ihres Umfangs wie ihrer sachlichen Merkmale charakterisiert in auffallender Weise das Reden von der „Katholischen Tübinger Schule". Der oben angeführte Personenkreis wird keineswegs (wie die Schulen Storrs oder Baurs) durch die Beziehung zu einem herausragenden Lehrer konstituiert. Drey erfüllte trotz seiner programmatischen Schriften nicht diese Funktion, wenn auch nach seinem Tod gesagt werden konnte, er sei „der anerkannte Vormann des LehrerKollegiums" gewesen (Joseph Mack, 1861). M a n kann nur dann versuchen, die Professoren der Katholisch-theologischen Fakultät in Tübingen zu einer „Tübinger Schule" zusammenzufassen, „wenn bestimmte Theologengruppen und einzelne Fächer ganz oder teilweise ausgeklammert bleiben" (Reinhardt 19). So wird in der Tat die erste, von der Aufklärung bestimmte Phase der Fakultätsgeschichte (1817 bis Mitte der 30er Jahre) gewöhnlich kaum beachtet, während man Drey und besonders Möhler stark hervorhebt. Dem Fehlen einer prägenden Lehrerpersönlichkeit entspricht die Unmöglichkeit, die Schule nach ihrer Denkrichtung, nach Methoden und inhaltlichen Ergebnissen zu charakterisieren. Seckler nennt dafür ein breites, aber unspezifisches Spektrum allgemeiner Merkmale: „die freie Partizipation an gleichwohl identitätsstiftenden Grundsätzen u[nd] Leitmotiven", als „zentrales Anliegen . . . die Neubestimmung der Identität des Christlichen... in den Horizonten eines neuen Geschichtsbewußtseins", „historisches] Problembewußtsein; [einen] historischen] Begriff der Institutionen u[nd] Doktrinen", „der

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Organismusgedanke als Interpretament der geschichtlichen] Entwicklung des Christentums u[nd] der Kirche", „konstruktive Verbindung v[on] hist[orisch]-krit[ischer] u[nd] spekulativer Methode bereits bei Drey" u.a., dazu eine „formale Trias": ,,[d]ie entschieden erstrebte Verbindung v[on] strenger Wissenschaftlichkeit, praktischer] Gegenwartsbezogenheit u[nd] unbeirrbarer, wenngleich selbständiger u[nd] mündiger Kirchlichkeit unter Respektierung der Grenzen der Orthodoxie" u.a. (Seckler 288f.). Literatur Ferdinand Christian Baur, Die ev.-theol. Fak. vom Jahr 1777 bis 1812: Karl Klüpfel, Gesch. u. Beschreibung der Univ. Tübingen, Tübingen 1849 Nachdr. Aalen 1977,216-247. - Ders., Die ev.theol. Fak. vom Jahr 1812 bis 1848: ebd. 389-428. - Ders., Ausgew. Werke in Einzelausg., hg. v. Klaus Scholder, V. Für u. wider die Tübinger Schule, Stuttgart-Bad Cannstatt 1975. - Christoph Bürger, Ferdinand Christian Baur u. die Tübinger Schule: EuA 54 (1978) 325-329. - Horton Harris, The Tübingen School, Oxford 1975. - Ulrich Köpf, Theol. Wiss. u. Frömmigkeit im Konflikt. Ferdinand Christian Baur u. seine Schüler: Ber. zur Wissenschaftsgesch. 11 (1988) 169-177. - Ders., Ferdinand Christian Baur als Begründer einer konsequent hist. Theol.: ZThK 89 (1992) 440-461. - Ders., Die theol. Tübinger Schulen: ders. (Hg.), Hist.-krit. Geschichtsbetrachtung. Ferdinand Christian Baur u. seine Schüler. 8. Blaubeurer Symposion, Sigmaringen 1994 (Contubernium 40) 9 - 5 1 . - Abraham Peter Kustermann, „Kath. Tübinger Schule". Beobachtungen zur Frühzeit eines theologiegesch. Begriffs: Cath(M) 36 (1982) 6 5 - 8 2 . - Ders., Die erste Generation der „Kath. Tübinger Schule" zw. Revolution u. Restauration: RoJKG 12 (1993) 11-34. - Rudolf Reinhardt, Die Kath.-theol. Fak. Tübingen im ersten Jh. ihres Bestehens: ders. (Hg.), Tübinger Theologen u. ihre Theol., Tübingen 1977 (Contubernium 16) 1 - 4 2 . - Max Seckler, Art. Tübinger Schule I. Kath. Tübinger Schule: LThK 3 10 (2001) 287-290. - Themenh.: T h Q 150 (1970) H. 1. - Carl v. Weizsäcker, Lehrer u. Unterricht an der ev.-theol. Facultät der Univ. Tübingen v. der Reformation bis zur Gegenwart: Beitr. zur Gesch. der Univ. Tübingen. FG bei der vierten Säcularfeier ihrer Gründung im Jahre 1877, Tübingen 1877, 127-172. - Eduard Zeller, Die hist. Tübinger Schule: H Z 4 (1860) 90-173; überarb. Abdr.: ders., Vortr. u. Abh. gesch. Inhalts, Leipzig 1865, 267-353.

Ulrich Köpf

Türkei 1. Begriffliche und räumliche Bestimmung 2. Entstehung des Reiches 3. Aufstieg und Ausformung des Staatswesens 4. Nicht-muslimische Konfessionsgruppen (millet-System) 5. Dezentralisierung und Reform 6. Republik Türkei (seit 1923) (Literatur S. 180)

1. Begriffliche und räumliche

Bestimmung

Der Begriff „Türkei" stand bis zum Beginn des 20. Jh. im europäischen Sprachgebrauch für das Osmanische Reich, insbesondere für seine Kerngebiete und seine militärische und politische Elite. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall des Osmanischen Reiches entsteht 1923 die Republik Türkei (Türkiye Cumhuriyeti-, s.u. 6.), die -»Kleinasien (oder auch: Anatolien) und den östlichen Teil Thrakiens zwischen Edirne und Istanbul mit einer Fläche von 780.576 km 2 umfaßt. Die Osmanen selbst verwendeten für ihr Reich weder die Begriffe „Türkei" noch „Osmanisches Reich", sondern belegten es mit eulogischen Bezeichnungen wie devlet-i 'aliyye („hocherhabenes Reich") oder memälik-i mahrüse („die [von Gott] beglückten Länder"); ebenso wählten sie für -•Konstantinopel (heute: Istanbul) neben der Bezeichnung Kostantiniyye oft auch Der-i Sa'ädet („Schwelle zur Glückseligkeit"). Im folgenden soll für die osmanische Zeit anstelle von „Türkei" der in der heutigen Historiographie übliche Begriff „Osmanisches Reich" verwendet werden. In Europa umfaßte das Osmanische Reich das gesamte Südosteuropa, d.h. in den heutigen Staatsgrenzen beschrieben -»Griechenland, -»Bulgarien, das ehemalige -»Jugoslawien (mit Ausnahme der nordwestlichen Gebiete Sloweniens und Kroatiens um Zagreb), -»Albanien, große Teile -»Ungarns, darüber hinaus -»Rumänien, Moldawien und nahezu das gesamte nördliche Küstengebiet des Schwarzen Meeres. In der arabischen Welt beherrschten die Osmanen den „Fruchtbaren Halbmond", der die heutigen Staaten

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-•Syrien, -»Libanon, Jordanien, -»Palästina und -»Israel sowie Teile des Irak einschließt; weiterhin die Küstenregionen des heutigen Saudi-Arabien, Kuwait, -»Ägypten, Jemen und einzelne Brückenköpfe an der Jemen gegenüberliegenden afrikanischen Küste des Roten Meeres bis hin zum H o r n von Afrika. Über die mediterranen Küstengebiete des nördlichen -»Afrika übten die Osmanen immer nur eine lose Herrschaft aus. Als Kerngebiet des Reiches — auch in osmanischer Sicht - darf das westliche Kleinasien sowie der Balkan gelten, in denen die osmanischen Institutionen tief verankert waren. 2. Entstehung

des

Reiches

Der türkischen Besiedlung Kleinasiens ging eine sich über mehrere Jahrhunderte erstreckende Wanderungsbewegung türkischer Stämme aus Mittelasien in den iranischmediterranen R a u m voraus. Dem allmählichen Eindringen türkischer Stämme in das östliche Kleinasien in der zweiten Hälfte des 11. Jh. versuchte -»Byzanz militärisch Einhalt zu gebieten. In den Schlachten von Manzikert/Malazgirt (1071) im östlichen Kleinasien und von Myriokephalon (1176) im Westen Kleinasiens wurden die Byzantiner von türkischen Nomadeneinheiten vernichtend geschlagen. Byzanz hatte damit Kleinasien an die türkischen Nomadenstämme verloren. In Kleinasien etablierte sich die in Konya residierende Dynastie der „Rumseldschuken" (der Begriff „ R u m " zielt hier auf die Gebiete, die früher der Herrschaft des „römischen" Byzanz unterstanden hatten). Mongolische Eroberungszüge überrollten jedoch auch Kleinasien: 1243 besiegten die Mongolen bei Kösedag (in der Nähe des heutigen Sivas) die Rumseldschuken, die sich von dieser Niederlage nicht erholten und als Dynastie zu Beginn des 14. Jh. verloschen. Die Seßhaftwerdung (oder: Teilseßhaftwerdung) der türkischen Nomaden in Kleinasien setzte bereits in seldschukischer Zeit ein. In den Städten dominierte noch christliche Bevölkerung. Die wichtigsten seldschukischen Zentren gingen aus byzantinischen Städten hervor: so ging z. B. Ankara aus Ancyra, Antalya aus Attalia, Kayseri aus Caesarea, Konya aus Iconium, Sivas aus Sebastea hervor. Im Vakuum zwischen den sich auflösenden Rumseldschuken und den in Kleinasien niemals wirklich die Macht übernehmenden Mongolen etablierten sich „Fürstentümer" unterschiedlicher Größe und Stärke. ' O s m ä n I. (reg. ca. 1281-1324), dem auch die osmanische Dynastie ihren Namen verdankt, begründete um das heutige Sögüt in Nordwestanatolien ein kleines Herrschaftsgebiet. 1326 fiel Prusa/Bursa an die Osmanen, deren erste Hauptstadt es wurde. Nach mehreren Feldzügen in Thrakien setzten sich die Osmanen ab 1354 in Europa (mit Gallipoli als Brückenkopf) fest und griffen in den Balkan aus. Der Erfolg der frühen osmanischen Eroberungspolitik verdankte sich der günstigen Lage am Grenzgebiet zu Byzanz und der unmittelbaren Nachbarschaft zur Balkanhalbinsel sowie der Verbindung von nomadischer Kampf- und Beutezugtaktik mit einer religiösen Motivation als Glaubenskrieger. Die Eroberung nicht-islamischer Herrschaftsgebiete (dar al-harb) und ihre Umwandlung in islamischer Herrschaft unterstehende Gebiete (dar al-isläm) war Aufgabe aller Muslime; dafür kämpfte der Glaubenskrieger (gäzT) im Rahmen des Glaubenskrieges (gihäd), der der Pflicht zum Gebet gleichgestellt war. Unter der byzantinischen Dynastie der Palaiologen (1259-1453) wurde 1261 das seit 1204 währende Interregnum der Kreuzfahrer (-*Kreuzzüge) beendet und die byzantinische Herrschaft in Konstantinopel wiederhergestellt. Die letzte Periode des byzantinischen Kaiserreiches begann. Im 15. Jh. schrumpfte jedoch Byzanz auf einen Stadtstaat zusammen und war darauf angewiesen, in internen Machtkämpfen die Osmanen zu Hilfe zu rufen. 3. Aufstieg und Ausformung

des

Staatswesens

Um 1361 konnten die Osmanen Adrianopel/Edirne einnehmen, das Bursa als Herrschersitz ablöste. Mit dem Sieg über die Serben auf dem Amselfeld (Kosovo polje) 1389 war die Position der Osmanen in Südosteuropa befestigt. Nach einem Interregnum zwi-

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sehen 1402 und 1413, bedingt durch den Einfall von Timur Leng (oder: Tamerlan) in Kleinasien und seinen gänzlichen Sieg über das osmanische Heer, konnten die Osmanen erst in der Mitte des 15. Jh. ihre frühere Ausdehnung und Schlagkraft wiedergewinnen. Am 29. Mai 1453 gelang den Osmanen unter Sultan Mehmed II. (mit dem Beinamen Fätih, der „Eroberer"; reg. 1444-1446 und 1451-1481) nach längerer Belagerung der Durchbruch durch die Landmauern Konstantinopels. Konstantinopel wurde zwar von den osmanischen Truppen geplündert, in den folgenden Jahrzehnten aber als Hauptstadt mit hohem Aufwand wiederbesiedelt (im großen Maße auch durch die Aufnahme von europäischen Juden) und wiederaufgebaut. Das Serail an der Landspitze und die großen Sultansmoscheen mit ihren Stiftungskomplexen prägen bis heute die Silhouette der Stadt. Sellm I. (reg. 1512-1520) eroberte den Fruchtbaren Halbmond, Süleymän I. der Prächtige (der türkische Beiname lautet Känürit, der „Gesetzgeber"; reg. 1520-1566) den Irak, Jemen und Ungarn. Einige Staaten wurden als Vasallen (z.B. Moldau, Walachei und das Krim-Chanat) an das Reich angebunden; schwer zugängliche Regionen wurden gegen jährliche Pauschalzahlungen weitgehend sich selbst überlassen (z. B. Libanongebirge, Montenegro, Wüstengebiete in Arabien); ansonsten wurde das Land einem komplexen Steuer- und Verwaltungssystem unterworfen. Ägypten, die wichtigste und einträglichste unter den arabischen Provinzen, stellte einen Sonderfall dar. Die Steuerabgaben Ägyptens wurden vom osmanischen Gouverneur in Form eines sehr hohen jährlichen Tributs an Istanbul überführt. Ägypten trug zudem die Kosten für die Organisation der jährlichen großen Pilgerkarawane nach Mekka und Medina. Auch in Zeiten weitgehender Autonomie, wie im 18. und 19. Jh., wurde meist durch die Zahlung des Tributs die osmanische Oberhoheit formal anerkannt. Die Moschee Al-Azhar in Kairo mit ihren angeschlossenen Lehranstalten stieg ab dem 16. Jh. zu einem Zentrum für religiöses Recht und Gelehrsamkeit in der arabischen Welt und darüber hinaus auf - eine Position, die sie bis heute zum Teil bewahrt hat. An der Spitze des osmanischen Staates stand der Sultan. Der Reichsrat (dwärt-t hümäyün), an dem die wichtigsten Staatsbeamten unter dem Vorsitz des Großwesirs teilnahmen, hatte lediglich beratende Funktion. Bereits im 16. Jh. zog sich jedoch der Sultan von den alltäglichen Verwaltungsaufgaben zurück und wurde im 17. und 18. Jh. oft zu einer Gallionsfigur im Machtkampf der Fraktionen des Hofstaates. Schon recht früh machte sich die osmanische Dynastie von den türkischen Nomadenclans, aus denen sie selbst hervorgegangen war, unabhängig. Ein zentralisierter Staat entstand, dessen Einrichtungen sich auf seldschukische und byzantinische Verwaltungstraditionen stützten. Die osmanische Gesellschaft zerfiel in die - allerdings nicht hermetisch voneinander geschiedenen - Klassen der (muslimischen und nicht-muslimischen) Steuerpflichtigen (die „Herde" oder re'äyä; wohl ab dem 18. Jh. wird der Begriff re'äyä nur noch für NichtMuslime verwendet) und die Klasse der steuerbefreiten, ausschließlich muslimischen, militärisch-administrativen Elite (beräyä). In enger Verbindung mit dem Heereswesen bestand ein präbendales Pfründesystem, das die Pfründe (ttmar) den Inhabern nur zur Nutznießung überließ. Die die Pfründe bearbeitenden Bauern waren personenrechtlich frei und nicht der Gerichtsbarkeit des Lehensnehmers unterworfen. Ob man von einem osmanischen Feudalismus sprechen kann, ist umstritten. Im Verlauf des späten 16. und des 17. Jh. löste sich das Pfründesystem auf, und bedeutende Teile des Staatsbodens wurden in Steuerpachten (iltizäm, mälikäne) umgewandelt. Zunehmend brachten Privatpersonen ihr Land und ihre Immobilien in das vor Konfiskationen geschützte und von Steuern befreite Stiftungssystem ( v a k f ) ein. Große Stiftungen jedoch waren nicht dem Wirtschaftskreislauf entzogen, sondern oft Zentren urbaner Entwicklung. Die Türken hatten vor ihrer Islamisierung Praktiken des —>Schamanismus angehangen, sich aber auch zum nestorianischen Christentum, -»Buddhismus und Judentum (so der Stamm der Chasaren) bekannt. Die osmanische Staatselite vertrat den sunnitischen -»-Islam und sah sich als Verfechter der islamischen Orthodoxie — besonders gegenüber dem Iran, dem seit dem 16. Jh. die Schia als Staatsreligion (-»Staatskirche/

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Staatsreligion I) diente. Unter den im sunnitischen Islam verbreiteten Rechtsschulen (madhab) folgte die osmanische Elite der pragmatisch gesinnten hanafitischen Rechtsschule - benannt nach dem im 8. Jh. wirkenden Rechtsgelehrten Abu Hanifa (die drei anderen sunnitischen Rechtsschulen, die malikitische, schafiitische und hanbalitische, sind ebenfalls nach bedeutenden Rechtsgelehrten benannt). Während das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten politisch begründet ist, erklärt sich die Existenz von vier sunnitischen Rechtsschulen aus voneinander abweichenden juristischen Traditionen. Im sunnitischen Islam existiert kein von den Gläubigen geschiedener und als Mittler mit besonderen Weihen ausgestatteter Klerus. Neben der mit rein weltlichen Aufgaben befaßten Administration bestand aber auch ein ausgebauter religiöser Apparat, der von den 'ulemä' (Rechtsgelehrten) geführt wurde: die 'ulemä' waren tätig als Vorbeter (imäm) in den Moscheen, als Lehrer in den islamischen Lehranstalten (medrese), als Richter (käzt, Kadi) und als juristische Gutachter {mufti, Mufti). Der ranghöchste Mufti und damit die höchste rechtsauslegende Instanz war der seyhülisläm. Weltlicher und religiöser Bereich waren eng miteinander verwoben: so mußte der Richter eine religiöse Ausbildung durchlaufen, übernahm dann aber weltliche judikative und exekutive Aufgaben. Neben seiner richterlichen Tätigkeit, bei der er auch für nicht-muslimische Konfessionsgruppen zuständig war, fungierte der Kadi als Notar und Standesbeamter; zudem war er mit der Versorgung der durchziehenden Heereseinheiten und der Festsetzung der Preise auf dem Markt betraut. Richterliche Entscheidungen waren nicht anfechtbar, sie hatten aber auch keine Präzedenzwirkung. Fortentwickelt wurde das Recht durch das von dem Mufti ausgestellte fatwä, d.h. ein Rechtsgutachten, das auf ad hoc-Anfragen zu spezifischen rechtlichen oder religionsrechtlichen Problemen erstellt wurde. Die Gutachten der Muftis hatten jedoch keine rechtskräftige Wirkung und mußten erst von der staatlichen Exekutive in einen Erlaß umgesetzt werden. Ein fatwä des seyhülisläm war auch notwendig, um die Absetzung eines Sultans zu legalisieren - in dieser formalen Hinsicht war die Autorität des Sultans beschränkt. Kadi und Mufti fällten ihre Urteile bzw. erstellten ihre Rechtsgutachten auf der Grundlage der sart'a, der islamischen Rechtslehre, in ihrer sunnitisch-hanafitischen Prägung. Die sart'a, die neben Ritus und Theologie auch Belange wie Heirat und Erbrecht regelte, war nicht dafür gerüstet, einem hoch entwickelten Staatswesen einen für alle Bereiche ausreichenden Rechtsrahmen zur Verfügung zu stellen; sie zeigte immer den Charakter eines frommen Strebens nach dem idealen Gemeinwesen. An die Seite des theoretisch hegemonialen religiösen Rechts trat daher weltliches Recht (kärtürt), kodifiziert in känünnämes. Der känün widmete sich praktisch-administrativen, vor allem fiskalischen und strafrechtlichen Fragen und zeigte regionale Unterschiede. Teilweise wurden auch die Rechtspraktiken eroberter Fürstentümer und Königreiche belassen. Im Gegensatz zu dem offiziell-orthodoxen Sunnitentum der osmanischen Elite bewahrte sich der türkische Volksislam in Kleinasien eine mystische Prägung. Bruderschaften, deren Glaubensinhalte teilweise weit von der sunnitischen Orthodoxie abwichen, nahmen einen wichtigen Platz ein: die Elitetruppe der Janitscharen (von türkisch yehi feri, „neue Soldaten") war z. B. über Jahrhunderte mit der Bektäsiyye-Bruderschaft eng verbunden. Nach der Eroberung der Randgebiete der arabischen Halbinsel fiel den osmanischen Sultanen das mit hohem Prestige ausgestattete Amt eines „Dieners der beiden heiligen Stätten" Mekka und Medina (hädim al-harameyri) in die Hände. Die Pilgerfahrt (hagg) nach Mekka, deren Organisation eine der Hauptaufgaben des Schutzherrenamtes über Mekka und Medina und die eine der fünf „Säulen" (neben Glaubensbekenntnis, Gebet, Almosensteuer und Fasten im Monat Ramadan) in der Pflichtenlehre des Islams ist, wurde jedoch niemals von einem der osmanischen Sultane vollzogen. Die Osmanen übernahmen mit der Eroberung Ägyptens auch die Würde des zuletzt in Kairo beheimateten Kalifats. Unter Süleymän I. diente die Kalifatswürde dazu, die Legitimität des Sultanats zu bekräftigen: das Kalifat sei den osmanischen Sultanen direkt von Gott

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verliehen worden. Der Anspruch, als Kalif das spirituelle Oberhaupt aller Muslime in der Welt zu sein, wurde wohl erst am Ende des 18. Jh. als Reaktion auf europäische Schutzansprüche für die nicht-muslimischen Gemeinden im Osmanischen Reich formuliert. Mit dem zunehmenden Machtverlust entdeckte die osmanische Elite das Mobilisierungspotential, das im Kalifat ruhte. Im dritten Artikel des russisch-osmanischen Vertrages von Küfük Kaynarca (1774), der Rußland gewisse Fürspracherechte zugunsten der griechisch-orthodoxen Kirche im Osmanischen Reich einräumte, wurde im Gegenzug der Sultan „als der souveräne Kalif der mohammedanischen Religion" bezeichnet. Allerdings versuchte erst 'Abdülhamld II. (reg. 1876-1909), durch dezidiert panislamische Gesten (u.a. durch den Bau einer Eisenbahnlinie von Damaskus nach Medina, die aus Spendengeldern der islamischen Welt finanziert wurde) Kapital aus seiner Stellung als Kalif zu schlagen. 4. Nicht-muslimische

Konfessionsgruppen

(millet-System)

Gewaltsame Bekehrungsversuche sieht das islamische Recht nicht als vorrangiges Ziel an, und sie wurden im Osmanischen Reich nicht systematisch unternommen. Da jedoch mit dem Bekenntnis zum Islam ein Status als Untertan erster Klasse und Privilegien (Steuernachlässe, Berechtigung zum Waffentragen) verbunden waren, läßt sich für Kleinasien und Gebiete auf dem Balkan wie Bosnien und Albanien eine über die Jahrhunderte hinweg zunehmende Islamisierung feststellen. Bestrafende Zwangsumsiedlungen von christlichen Gruppen und Stämmen in eine vollständige islamische Umgebung mündeten oft in die Bekehrung zum Islam. Konversionen zum Islam wurden oftmals nur oberflächlich begangen. So folgten Anhänger des jüdischen Mystikers —»Sabbatai Zwi seiner von den osmanischen Behörden erzwungenen Konversion zum Islam. Diese nach außen abgeschlossene und in Saloniki lebende Gruppe, dönme (türkisch für „Konvertit") genannt, praktizierte den Islam nach außen hin, bekannte sich aber intern zu einer messianischen Variante des Judentums. Die christliche Bevölkerung des Osmanischen Reiches setzte sich im wesentlichen zusammen aus der vor allem griechisch-orthodoxen Bevölkerung des Balkans; den in Kleinasien erhalten gebliebenen griechisch-orthodoxen Siedlungsgebieten (Westküste, Kappadokien) sowie der Bevölkerung —»Armeniens im östlichen Kleinasien; den verschiedenen Konfessionen zugehörigen Christen der arabischen Gebiete (u.a. die -»Nestorianische Kirche, die -»Jakobitische Kirche und die -»-Koptische Kirche, die -»Maroniten); der gemischten christlichen Bevölkerung in den Großstädten, vor allem Konstantinopel. Die beiden bekanntesten Elemente der osmanischen Herrschaft über die nicht-muslimischen Gemeinschaften - Knabenlese und millet-System - haben sich widersprechende Einschätzungen der osmanischen Herrschaft hervorgerufen: von der Sicht einer brutalen Herrschaft, die Kinder verschleppte (in der kollektiven Erinnerung der Balkanbevölkerung wird die Knabenlese als „Blutsteuer" bezeichnet; zur traditionell negativen europäischen Sicht der Osmanen vgl. -»Islam II), bis hin zum Bild eines ungewöhnlich toleranten Reiches (z. B. Kemal Karpat, Presidential Address: Middle Eastern Studies Association Bulletin 20 [1986] 9: „probably the most perfect Islamic State ever to come into existence"), das z. B. große Teile der aus Spanien vertriebenen Juden aufgenommen habe. Die im Vergleich zum damaligen Europa in der Tat auffallend große osmanische „Toleranz" gegenüber Nicht-Muslimen erklärt sich nicht aus einer naturrechtlich begründeten Humanität, sondern war von einer pragmatischen, an weltlichen Erfordernissen orientierten Religionslehre geleitet. Neben der Rekrutierung von Militärsklaven unter christlichen Gefangenen wurde vermutlich ab dem Ende des 14. Jh., sicherlich aber ab der Mitte des 15. Jh. das System der „Knabenlese" (devsirme) eingeführt: unter der christlichen Bevölkerung des Balkans wurden wiederholt die körperlich und geistig fähigsten Kinder einer Ortschaft ausgehoben, zum Islam bekehrt und einer ausführlichen Ausbildung unterworfen. Während

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der größere Teil von ihnen zu Militärsklaven (Janitscharen) ausgebildet wurde, konnten die Begabtesten in hohe Staatsämter gelangen. Die Knabenlese kam wohl um 1650 außer Gebrauch. Die klassische islamische Doktrin teilt die Ungläubigen in drei Gruppen ein: den außerhalb der islamischen Länder lebenden Ungläubigen (harbT); den sich vorübergehend im islamischen Herrschaftsgebiet aufhaltenden und für diese Zeit unter Schutz stehenden musta'min; und den der islamischen Herrschaft unterworfenen und eine spezielle Abgabe (gizya) leistenden Schutzbefohlenen (dimmt). Die im islamischen Herrschaftsbereich lebenden Nichtmuslime (anfangs wurden vom Islam nur die Angehörigen der „Buchreligionen" Christentum und Judentum anerkannt) stehen in einer Art von Vertragsverhältnis (dimma) zur islamischen Gemeinde, vermittels dessen den dimmts Schutz und Lebensrecht gewährt wird - unter der Bedingung, daß sie die islamische Herrschaft anerkennen. Das millet-System des Osmanischen Reiches ist eine weiterentwickelte und umfassendere Form der islamischen dimma. Die osmanischen Behörden ordneten die dimmts verschiedenen Konfessionsgemeinschaften, den millet, zu. Die millet hatten folgende Stufung des Ansehens: an erster Stelle stand das islamische millet, an zweiter und dritter Stelle das griechisch-orthodoxe und das armenische; an vierter Stelle fand sich das jüdische. Im Laufe des 19. Jh. wurden zahlreiche weitere millet anerkannt. Den millet oblagen in eigener Verantwortung legislative, judikative, fiskalische, religiöse, edukative und karitative Aufgaben, die sie durch die Erhebung von Steuern bestreiten konnten. Das gesamte Personenstandsrecht (aber auch zivilrechtliche Fälle, sofern nur die eigenen Konfessionsangehörigen betroffen waren) wurde vor konfessionseigenen Gerichtshöfen verhandelt. Es lag durchaus im Interesse des Reiches, die innere Verwaltung der christlichen Kirchen zu stärken, um die über das Reich verstreuten christlichen Gemeinden ohne direkten Eingriff und größeren Aufwand kontrollieren zu können. So wurde der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel zum Oberhaupt der gesamten griechisch-orthodoxen Bevölkerung des Reiches ernannt. Man muß sich allerdings davor hüten, unter dem millet eine durch die Jahrhunderte und für die verschiedenen Regionen des Reiches hinweg unveränderliche Organisationsform zu verstehen. Zu Recht wurde der in der Historiographie der letzten einhundert Jahre verwendete »i»7/et-Begriff als ein „historiographischer Fetisch" (Benjamin Braude, Foundation Myths of the Millet System: Christians and Jews I, 74; zur Begriffsgeschichte mit abweichenden Interpretationen: Michael Ursinus, Art. millet: EI 7 [1993] 61-64) kritisiert, weil er unberechtigterweise eine administrative und technische Konkretheit und Einförmigkeit suggeriere. In der Tat scheint keineswegs eine konsistente Bezeichnung und auch Organisation der nicht-muslimischen Kommunitäten in den verschiedenen Regionen des Reiches bestanden zu haben. 5. Dezentralisierung und

Reform

Ab dem 17. Jh. fiel das Osmanische Reich hinter den aufstrebenden europäischen Staaten zurück. Intern verschob sich die Macht zugunsten lokaler Machteliten. Zwar gelang es der Zentralregierung oft, die rivalisierenden lokalen Kräfte (die Janitscharengarnisonen, die jeweiligen Gouverneure und die einheimischen Notablen) gegeneinander auszuspielen und so die Herausbildung von wirklich selbständigen Herrschaften zu vermeiden, aber durch die Machtkämpfe wurden Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig geschädigt. Nicht nur im Vergleich zu den europäischen Mächten, auch absolut verlor das Zentrum des Osmanischen Reiches an Dynamik und Handlungsfähigkeit. Die osmanische Wirtschaft wurde zudem von einer Inflation, bedingt durch das Einströmen großer Mengen in Amerika gewonnenen Silbers, und von der Verlagerung der europäisch-asiatischen Handelsrouten vom östlichen Mittelmeer hin zur direkten Seeroute über das Kap der Guten Hoffnung geschwächt. Die ab dem 16. Jh. von den Osmanen im Rahmen der „Kapitulationen" (der Begriff leitet sich von den „Kapiteln" der Vertragswerke ab) gewährten Handelsprivilegien verwandelten sich im Verbund mit der euro-

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päischen Übermacht in quasi-kolonialistische Institutionen, die den europäischen Staaten große Handlungsmöglichkeiten und den europäischen Kaufleuten und ihren einheimischen protégés weitgehende Immunität gegenüber den osmanischen Behörden garantierten. Schon im 18. Jh. war das Osmanische Reich zu einer wirtschaftlichen Peripherie Europas geworden - als Markt für europäische Massenprodukte und als Lieferant von Rohstoffen. Die zweite, wiederum erfolglose Belagerung von Wien im Jahr 1683 (nach der ersten von 1529) mündete in eine Reihe von verheerenden osmanischen Niederlagen, infolge derer die Osmanen bis nach Serbien zurückgedrängt wurden. Die Osmanen mußten die Friedensschlüsse von Karlowitz (1699) und Passarowitz (1718) hinnehmen, die als erste von der Überlegenheit der europäischen Gegner geprägt sind. Napoleons Landung 1798 in Ägypten legte die militärische Hilflosigkeit des Reiches offen. Das 19. Jh. ist die Zeit der „Orientalischen Frage": eine Aufteilung des Reiches kam wegen einer Pattsituation zwischen den europäischen Großmächten mit ihren widerstreitenden Interessen nicht zustande, jedoch annektierten sie zahlreiche Randgebiete des Reiches und beanspruchten das Recht auf direkte Intervention in die innerosmanischen Angelegenheiten: Rußland trat als Fürsprecher der griechisch-orthodoxen Bevölkerung auf, Frankreich sah sich als Schutzmacht der Katholiken (zu denen etwa die mit Rom unierten Maroniten im Libanongebirge gehörten; England favorisierte im Gegenzug die Drusen). Ein Streit zwischen Frankreich und Rußland um das Hüteramt der Heiligen Stätten in Palästina mündete in den Krimkrieg (beendet durch den Pariser Frieden von 1856). Osmanische, zuerst allein auf eine erhöhte militärische Schlagkraft zielende Reformbemühungen angesichts der europäischen Überlegenheit reichen bis zum Anfang des 18. Jh. zurück. 1826 wurden die Janitscharen, die den größten Widerstand gegen eine Militärreform gezeigt hatten, zerschlagen und aufgelöst. Neue Heereseinheiten nach europäischem Vorbild wurden aufgebaut. Am 3. November 1839 erließ Sultan 'Abdülmecld (reg. 1 8 3 9 - 1 8 6 1 ) ein Reformdekret als ersten Schritt zu der in alle Bereiche der Staatsverwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft ausgreifenden Reformpolitik (wörtlich: tançïmât-i hayriyye, „wohltätige Verordnungen") in den folgenden Jahrzehnten. Das Dekret hatte drei Zielsetzungen: Garantie für Leben und Eigentum der Untertanen; ein reguläres und effizientes Besteuerungssystem; ein funktionierendes System der Rekrutierung und allgemeinen Wehrpflicht im osmanischen Heer. Der Begriff „Osmane", ursprünglich für die Dynastie selbst und die oberste Führungsschicht reserviert, wurde im 19. Jh. zur Konzeption eines osmanischen Staatsbürgers erweitert. Die Vorstellung einer osmanischen Nationalität konnte sich jedoch gegen die weitaus virulenteren partikularen Nationalismen (vor allem auf dem Balkan) nicht durchsetzen. Während die Bemühungen im Heeres- und Erziehungswesen sowie in der Verwaltung durchaus Erfolge zeitigten, gelang es den Osmanen nicht, eine stabile Wirtschaft zu begründen. Eingeengt durch die Kapitulationen, die überwältigende Dominanz der europäischen Wirtschaft, die das Reich zu einer Semi-Kolonie degradierte, und durch ein ungenügendes Verständnis weltwirtschaftlicher Zusammenhänge verstrickte sich das Reich ab dem Krimkrieg in einem Schuldengeflecht, das den Staat zwang, 1875 den Staatsbankrott zu erklären. Bis zum Ersten Weltkrieg floß knapp ein Drittel aller Steuereinnahmen in eine von Europäern geführte Schuldenverwaltung. Zwischen 1869 und 1876 wurden Bereiche des hanafitischen Rechts zum Gesetzbuch der mecelle kompiliert, das sich am französischen code civil orientierte. 1877 wurde ein Parlament ausgerufen, 1878 eine Verfassung nach europäischem Vorbild in Kraft gesetzt. Das Parlament wurde aber bereits 1878 von 'AbdülhamTd II. aufgelöst und erst mit der jungtürkischen Revolution von 1908 wieder einberufen. Von 1913 bis 1918 führte ein jungtürkisches Komitee, angeführt von dem Triumvirat Cemäl Pascha, Enver Pascha und Tal'at Pascha (von denen die beiden ersteren Armeeoffiziere waren), das Reich in den Krieg und in den militärischen Untergang. Durch die osmanische Reformgesetzgebung und die Übernahme westlicher Gesetzeswerke im 19. Jh. verbesserte sich der rechtliche und soziale Status der Nicht-Muslime.

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der größere Teil von ihnen zu Militärsklaven (Janitscharen) ausgebildet wurde, konnten die Begabtesten in hohe Staatsämter gelangen. Die Knabenlese kam wohl um 1650 außer Gebrauch. Die klassische islamische Doktrin teilt die Ungläubigen in drei Gruppen ein: den außerhalb der islamischen Länder lebenden Ungläubigen (harbt); den sich vorübergehend im islamischen Herrschaftsgebiet aufhaltenden und für diese Zeit unter Schutz stehenden musta'min; und den der islamischen Herrschaft unterworfenen und eine spezielle Abgabe (gizya) leistenden Schutzbefohlenen (dtmmi). Die im islamischen Herrschaftsbereich lebenden Nichtmuslime (anfangs wurden vom Islam nur die Angehörigen der „Buchreligionen" Christentum und Judentum anerkannt) stehen in einer Art von Vertragsverhältnis (dimtna) zur islamischen Gemeinde, vermittels dessen den dimmts Schutz und Lebensrecht gewährt wird — unter der Bedingung, daß sie die islamische Herrschaft anerkennen. Das millet-System des Osmanischen Reiches ist eine weiterentwickelte und umfassendere Form der islamischen dimma. Die osmanischen Behörden ordneten die dimmts verschiedenen Konfessionsgemeinschaften, den millet, zu. Die millet hatten folgende Stufung des Ansehens: an erster Stelle stand das islamische millet, an zweiter und dritter Stelle das griechisch-orthodoxe und das armenische; an vierter Stelle fand sich das jüdische. Im Laufe des 19. Jh. wurden zahlreiche weitere millet anerkannt. Den millet oblagen in eigener Verantwortung legislative, judikative, fiskalische, religiöse, edukative und karitative Aufgaben, die sie durch die Erhebung von Steuern bestreiten konnten. Das gesamte Personenstandsrecht (aber auch zivilrechtliche Fälle, sofern nur die eigenen Konfessionsangehörigen betroffen waren) wurde vor konfessionseigenen Gerichtshöfen verhandelt. Es lag durchaus im Interesse des Reiches, die innere Verwaltung der christlichen Kirchen zu stärken, um die über das Reich verstreuten christlichen Gemeinden ohne direkten Eingriff und größeren Aufwand kontrollieren zu können. So wurde der griechisch-orthodoxe Patriarch von Konstantinopel zum Oberhaupt der gesamten griechisch-orthodoxen Bevölkerung des Reiches ernannt. Man muß sich allerdings davor hüten, unter dem millet eine durch die Jahrhunderte und für die verschiedenen Regionen des Reiches hinweg unveränderliche Organisationsform zu verstehen. Zu Recht wurde der in der Historiographie der letzten einhundert Jahre verwendete m«7/ei-Begriff als ein „historiographischer Fetisch" (Benjamin Braude, Foundation Myths of the Millet System: Christians and Jews I, 74; zur Begriffsgeschichte mit abweichenden Interpretationen: Michael Ursinus, Art. millet-. EI 7 [1993] 61-64) kritisiert, weil er unberechtigterweise eine administrative und technische Konkretheit und Einförmigkeit suggeriere. In der Tat scheint keineswegs eine konsistente Bezeichnung und auch Organisation der nicht-muslimischen Kommunitäten in den verschiedenen Regionen des Reiches bestanden zu haben. 5. Dezentralisierung und

Reform

Ab dem 17. Jh. fiel das Osmanische Reich hinter den aufstrebenden europäischen Staaten zurück. Intern verschob sich die Macht zugunsten lokaler Machteliten. Zwar gelang es der Zentralregierung oft, die rivalisierenden lokalen Kräfte (die Janitscharengarnisonen, die jeweiligen Gouverneure und die einheimischen Notablen) gegeneinander auszuspielen und so die Herausbildung von wirklich selbständigen Herrschaften zu vermeiden, aber durch die Machtkämpfe wurden Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig geschädigt. Nicht nur im Vergleich zu den europäischen Mächten, auch absolut verlor das Zentrum des Osmanischen Reiches an Dynamik und Handlungsfähigkeit. Die osmanische Wirtschaft wurde zudem von einer Inflation, bedingt durch das Einströmen großer Mengen in Amerika gewonnenen Silbers, und von der Verlagerung der europäisch-asiatischen Handelsrouten vom östlichen Mittelmeer hin zur direkten Seeroute über das Kap der Guten Hoffnung geschwächt. Die ab dem 16. Jh. von den Osmanen im Rahmen der „Kapitulationen" (der Begriff leitet sich von den „Kapiteln" der Vertragswerke ab) gewährten Handelsprivilegien verwandelten sich im Verbund mit der euro-

Türkei

179

die mit einem hohen Bevölkerungswachstum einhergehende Landflucht) ins Wanken. Die Interventionen des - in der bürokratisch-paternalistischen Tradition der Tanzimat und Jungtürken stehenden - türkischen Militärs 1960, 1971 und 1980 (und zuletzt 1998 in der erzwungenen Abdankung des einer islamistischen Partei zugehörigen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan) basieren auf seiner Überzeugung, daß das Erbe des Kemalismus zu bewahren sei. Auf der anderen Seite förderte das Militär in den 1980er Jahren bewußt die Ideologie einer „türkisch-islamischen Synthese", nach der die türkische Nationalkultur untrennbar auf den beiden Säulen von Türkentum und Islam aufbaut. Die Loyalität der dem laizistischen Staat entfremdeten muslimisch gesinnten Bevölkerungsteile sollte damit wiedergewonnen werden. Das „Präsidium für Religionsangelegenheiten" (Diyanet Ifleri Ba§kanligt), dem rund 100.000 Beamte islamischer Konfession unterstehen, soll den Islam unter staatliche Kontrolle bringen, ist aber auch für die nicht-muslimischen Konfessionsgemeinschaften zuständig. Die ausschließlich islamischen Inhalte und Zielsetzungen der Institution verstoßen gegen das Prinzip eines laizistisch verfaßten Staates. Das kemalistische Laizismus-Prinzip wird von einem, den Konfessionsgruppen neutral gegenüberstehenden, Instrument zur Modernisierung der Gesellschaft zum Werkzeug eines ethnischen türkischen Nationalismus umgebogen. Während am Vorabend des Ersten Weltkriegs (1912) der Anteil der Christen an der Bevölkerung Kleinasiens bei 16,5% lag (Muslime: 14.536.142; Griechisch-Orthodoxe: 1.254.333; Armenier: 1.493.276; Syrer, Chaldäer und Nestorianer: 144.499; Juden: 76.498; andere: 31.604; Angaben bei McCarthy 110), ist der Anteil der autochthonen christlichen Kirchen an der Bevölkerung der Türkei auf derzeit 0,2 % zurückgegangen (Griechisch-Orthodoxe: 16.000; Armenier: 45.000; Syrisch-Orthodoxe: 15.000; Chaldäer: 2.000; römische Katholiken: 6.500; andere christliche Konfessionen: 9.850; Angaben bei Stoll 41). Der Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei (mit Ausnahme der Griechen in Istanbul und der Türken im griechischen Teil Thrakiens), aber auch sporadische Repressionen (pogromhafte Ausschreitungen, wie die vom 6 . - 7 . September 1955 gegen griechische Geschäfte in Istanbul, stellten eine Ausnahme dar) in den folgenden Jahrzehnten führten zu einer starken Verringerung der griechisch-orthodoxen Präsenz in der Türkei. Wie in anderen Staaten des Nahen Ostens wandern Christen überdurchschnittlich häufig in die westliche Welt aus. Mittlerweile treten die autochthonen Kirchen zahlenmäßig hinter den Christen zurück, die sich neu in der Türkei niederlassen (christliche Ehepartner türkischer Staatsangehöriger, russische Wirtschaftsemigranten) . Die Minderheitenschutzbestimmungen der Art. 37 - 44 des Abkommens von Lausanne sichern explizit nur Juden, Armeniern und Griechisch-Orthodoxen einen völkerrechtlich garantierten Status als „nicht-muslimische Minderheiten" zu. Andere christliche Konfessionen, wie die syrisch-orthodoxe (d.h. jakobitische) oder chaldäische (d.h. die mit Rom unierten Teile der nestorianischen Kirche), dürfen keine eigenen Schulen unterhalten und nicht ihre jeweiligen Sprachen (im Falle der Syrisch-Orthodoxen: Turoyo) unterrichten. Die derzeitig gültige Verfassung von 1982 erkennt den Begriff „Minderheit" nicht an und setzt in einigen Paragraphen sogar Minderheit und Separatismus gleich. Negative historische Erfahrungen der Türkei, wie der Mißbrauch des Rechtsinstituts der humanitären Intervention durch die europäischen Großmächte, die von einem kulturellen Überlegenheitsgefühl getragenen europäischen Missionsaktivitäten und ganz allgemein der Widerspruch von humanitärer Rhetorik und kolonialistischer Praxis, können teilweise die heutige rigide türkische Minderheitenpolitik erklären, entschuldigen sie aber nicht. Während die christlichen Minderheiten wegen ihrer demographisch marginalen Position für die Türkei mittlerweile kein politisches Problem mehr darstellen, so hat die Türkei noch keine schlüssige und zukunftstaugliche Antwort darauf gefunden, welchen Platz die großen Minderheiten der Kurden und Aleviten (eine von der sunnitischen Orthodoxie als „heterodox" bezeichnete islamische Konfessionsgruppe) im türkischen Gemeinwesen einnehmen sollen.

180

Türkei

Literatur Werke in türkischer Sprache u. in den Sprachen der Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches können erschlossen werden durch: Indlsl u. v.a. durch: Turkologischer Anzeiger, Suppl. zur W Z K M 68 (1976) if., ab Bd. 3 auch als Separatum. - Enzyklopädien zum Osmanischen Reich als Teil der islamischen Welt: EI. - CHIs. - LIW. - Umfassende Einf. in die Gesch. des Osmanischen Reiches: Histoire de l'Empire O t t o m a n , hg. v. Robert M a n t r a n , Paris 1989 (Lit.). - Klaus Kreiser, Der Osmanische Staat 1300-1922, München 2001 (Lit.). - Josef Matuz, Das Osmanische Reich, Darmstadt 1985 = z 1990 = 3 1996 (Lit.). - Stanford J. Shaw/Ezel K. Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, 2 Bde., Cambridge 1976-1977 (Lit.). Zu 2.: Claude Cahen, Pre-Ottoman Turkey, London 1968. - Colin Imber, The O t t o m a n Empire 1300-1481, Istanbul 1990. - Speros Vryonis, The Decline of Medieval Hellenism in Asia Minor and the Process of Islamization from the Eleventh through the Fifteenth Century, Berkeley, Calif. 1971. - Ernst Werner, Die Geburt einer Großmacht. Die Osmanen (1300-1481), 1966 M985 (FMAG 13 bzw. 32) (Lit.). - Paul Wittek, T h e Rise of the O t t o m a n Empire, London 1938. Zu 3.: An Economic and Social History of the O t t o m a n Empire, hg. v. Halil Inalcik u.a., 2 Bde., Cambridge 1994. - Suraiya Faroqhi, Kultur u. Alltag im Osmanischen Reich, München 1995. - Colin Imber, Ebus-su'ud. T h e Islamic Legal Tradition, Edinburgh 1997. - Halil Inalcik, The O t t o m a n Empire. The Classical Age 1300-1600, London 1973. - Rhoads Murphey, Ottoman Warfare 1500-1700, London 1999. - N e w Approaches to State and Peasant in Ottoman History, hg. v. Halil Berktay/Suraiya Faroqhi, London 1992 (Lit.). Speziell zu den nicht-türkischen Regionen des Osmanischen Reiches: Gesch. der arab. Welt, hg. v. Ulrich H a a r m a n n , München 1987 = '1991 = 31994 (Lit.). - Imperial Legacy. The Ottoman Imprint on the Balkans and the Middle East, hg. v. Carl L. Brown, New York 1996 (Lit.). - Die Staaten Südosteuropas u. die Osmanen, hg. v. H a n s Georg Majer, München 1989. - Maria Todorova, Imagining the Balkans, Oxford 1997; dt.: Die Erfindung des Balkans, Darmstadt 1999. Zu 4.: Christians and Jews in the O t t o m a n Empire, hg. v. Benjamin Braude/Bernard Lewis, 2 Bde., N e w York 1982 (Lit.). - Charles A. Frazee, Catholics and Sultans. The Church and the Ottoman Empire 1453-1923, London 1983 (Lit.). - Frederick W. Hasluck, Christianity and Islam under the Sultans, 2 Bde., Oxford 1929. - T h e Jews of the Ottoman Empire, hg. v. Avigdor Levy, Princeton, N.J. 1994 (Lit.). - Justin McCarthy, Muslims and Minorities. The Population of O t t o m a n Anatolia and the End of the Empire, New York 1983. — Theodore H. Papadopoullos, Studies and Documents Relating to the History of the Greek Church and People under Turkish Domination, New York 1973 = Aldershot 21990. Zu S.: Vahakn N . Dadrian, T h e History of the Armenian Genocide, Providence, R.I. 1995. Carter V. Findley, Bureaucratic Reform in the O t t o m a n Empire. The Sublime Porte 1789-1922, Princeton, N.J. 1980 (Lit.). - Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey, London 1961 = 2 1968 (Lit.).-Justin McCarthy, Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821-1922, Princeton, N.J. 1995 = 2 1996. - §evket Pamuk, The Ottoman Empire and European Capitalism 1820-1913, Cambridge 1987. - Ignace de Testa, Recueil des Traités de la Porte ottomane avec les puissances étrangères, 11 Bde., Paris 1864-1911. Zu 6.: Hansgerd Göckenjan, Die Türkei u. ihre christl. Minderheiten: OS 30 (1981) 9 7 - 1 2 9 . - Wolf-Dieter Hütteroth, Türkei, Darmstadt 1982. - Gotthard Jäschke, Der Islam in der neuen Türkei, Leiden 1951 (WI NS 1 / 1 - 2 ) . - Kemal Kirisci/Gareth M . Winrow, The Kurdish Question and Turkey, London 1997. - Justin McCarthy, Muslims (s.o. zu 4.). - Christian Rumpf, Das türkische Verfassungssystem, Wiesbaden 1996. - Günter Seufert, Politischer Islam in der Türkei, Stuttgart 1997 (Lit.). - Georg Stoll, Religion u. Laizismus in der Türkei: Konrad-Adenauer-Stiftung Auslandsinformationen 5 (1998) 1 9 - 4 3 . - Karin Vorhoff, Z w . Glaube, Nation u. neuer Gemeinschaft. Alevitische Identität in der Türkei der Gegenwart, Berlin 1995 (Lit.). - Erik J. Zürcher, Turkey, L o n d o n / N e w York 1993 (Lit.). Maurus Reinkowski

Türkenkriege

181

Türkenkriege 1. Überblick 2. Die Auseinandersetzungen im Mittelmeerraum 3. Die Türkenkriege in Südosteuropa und Ungarn bis zum Dreißigjährigen Krieg 4. Die Türkenkriege des 17. und 18. J a h r hunderts (Quellen und Literatur S. 183)

1.

Überblick

Die militärischen Konflikte des christlichen Europa mit dem expandierenden Osmanischen Reich (-»Türkei) fanden im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit auf zwei Schauplätzen statt: im Mittelmeer und auf dem Balkan. Im östlichen Mittelmeer waren neben spanischen vor allem venezianische und genuesische Interessen berührt. Das türkische Vordringen in Südosteuropa nach dem Fall -*Konstantinopels (1453) bis nach Bosnien gefährdete zu Beginn des 16. Jh. -»-Ungarn und —»Österreich. Um 1500 wurde die Türkenabwehr zwar grundsätzlich als gemeinchristliche Aufgabe verstanden und entsprechend von Päpsten und Kaisern unter Wiederbelebung der Kreuzzugsideologie propagiert; tatsächlich scheiterte ein gemeinsames Vorgehen aber an politischen Differenzen, besonders seit Ausbruch des habsburgisch-französischen Konflikts in der Zeit Kaiser -»Maximilians I. Die Klage über die Uneinigkeit Europas angesichts der Türkengefahr gehörte zum Grundbestand der westlichen Türkenliteratur nach 1453. 2. Die Auseinandersetzungen

im

Mittelmeerraum

In der Zeit Mohammeds II. (1451-1481) wurde der venezianische und genuesische Einfluß auf dem griechischen Festland, in der Ägäis und am Schwarzen Meer zurückgedrängt. Unter Bajasid II. (1481-1512) und Selim I. (1512-1520) fielen -»Syrien und Ägypten (1516/17) einschließlich der heiligen Stätten der Christenheit unter türkische Herrschaft mit der Folge einer Störung des europäischen Levante-Handels. Süleiman der Prächtige (1520-1566) forcierte die Expansion: 1522 wurde Rhodos den Johannitern abgenommen. Für das Vordringen in das westliche Mittelmeer bediente er sich des Korsaren Chaireddin Barbarossa, der von Algier aus die spanischen und italienischen Küsten plünderte und die Errichtung nordafrikanischer Stützpunkte Spaniens behinderte. 1531 unterwarf sich Tunis dem Sultan, 1533 erhielt Barbarossa den Oberbefehl über die türkischen Seestreitkräfte. Dem türkischen Vorstoß in das westliche Mittelmeer begegnete Kaiser -»Karl V. 1535 mit einem Flottenunternehmen gegen Tunis, das er Barbarossa wegnahm. Es war sein größter Erfolg gegen die Osmanen und ihre Verbündeten; eine Türkenliga zwischen Karl, seinem Bruder Ferdinand, dem Papst und -»Venedig scheiterte 1538 nach dem Seegefecht bei Prevesa, in dem sich Barbarossa gegen Andrea Doria, den Befehlshaber der kaiserlichen Flotte, behauptete. Der Angriff einer spanisch-genuesisch-neapolitanischen Flotte auf Algier endete im Oktober 1541 in einer Katastrophe. Frankreich nutzte die Möglichkeit, den Kaiser durch Kooperation mit der Pforte zu schwächen (Bündnis mit Chaireddin Barbarossa 1534, Verträge mit der Pforte 1535/36; Überwinterung einer türkischen Flotte in Toulon 1543/44). Erst 1571 war eine neue Türkenliga (Spanien, Papst, Venedig) erfolgreich, als Don Juan de Austria im Dienst -»Philipps II. von Spanien eine türkische Flotte bei Lepanto vernichtete. Diesem im Westen überbewerteten Sieg stand der Verlust von -»Zypern (1571) und Tunis (1570, endgültig 1574) gegenüber. Die maritime Vormachtstellung der Osmanen blieb unerschüttert und wurde im folgenden noch ausgebaut (Eroberung Kretas nach 1645). 3. Die Türkenkriege

in Südosteuropa

und Ungarn bis zum Dreißigjährigen

Krieg

Zugleich mit der Offensive im Mittelmeer forcierte Sultan Süleiman den türkischen Vormarsch auf dem Balkan. Die Einnahme Belgrads (1521) und die Schlacht bei Mohäcs (1526), in der König Ludwig II. von Ungarn und Böhmen den Tod fand, lösten im Reich ein Bedrohungsgefühl aus (Türkenfurcht), das bis zum -»Dreißigjährigen Krieg beherrschend blieb. Dennoch unternahmen die Reichstage nur halbherzige Anstrengungen,

182

Türkenkriege

um eine eilende oder beharrliche Türkenhilfe aufzubringen (-»Reichstage der Reformationszeit). Mit der Wahl -»Ferdinands I. zum König von Böhmen und Ungarn 1526 kamen der habsburgische und der osmanische Herrschaftsbereich in unmittelbaren Kontakt; im Mittelmeer wie an der Südostgrenze trug das Haus Habsburg fortan die Hauptlast der Türkenabwehr. Das ungarische (Gegen)königtum des Siebenbürger Wojwoden Johann Zapolya (1487-1540) konnte sich auf die Opposition gegen Ferdinand und auf die Türken stützen. Nach der Niederlage Zäpolyas gegen ein österreichisches Heer bei Tokay (1527) rückte der Sultan 1529 erneut nach Ungarn vor, eroberte Ofen, ließ Zapolya zum König krönen und belagerte vergeblich Wien (21. September bis 15. Oktober 1529). Gegen einen neuen Vorstoß der Türken 1532 wurde ein aus spanischen, italienischen und niederländischen Truppen verstärktes Reichsheer aufgestellt, das der Kaiser persönlich anführen wollte. Doch Süleiman brach den Feldzug ab, bevor es zu einem entscheidenden Treffen kam. 1533 schloß Ferdinand Frieden auf der Basis einer Teilung Ungarns zwischen Habsburgern und Türken und der Anerkennung seines Königtums in Rest-Ungarn. In der Politik der evangelischen Stände spielte die Türkengefahr bis zur Jahrhundertmitte eine wichtige verhandlungstaktische Rolle, indem sie als Hebel eingesetzt wurde, um die Habsburger zu Konzessionen in der Religionsfrage zu bewegen (-»Nürnberger Anstand [1532]; -»Frankfurter Anstand [1539]). Eine neue Situation schuf der Frieden von Crepy zwischen Karl V. und Franz I. (1544), der die französisch-türkische Allianz beendete und darüber hinaus die Möglichkeit eröffnete, die nach 1540 erneuerten Auseinandersetzungen in Ungarn (1541 türkische Eroberung von Buda und Pest) beizulegen. Der Waffenstillstand von 1545, der 1547 in einen Frieden mündete, legte die ungarischosmanische Grenze für eineinhalb Jahrhunderte fest. Das habsburgische Ungarn bestand fortan aus einem Gebietsstreifen bis zur Höhe des Plattensees, Ferdinand wurde den Türken tributpflichtig. Der Frieden war Voraussetzung für das militärische Vorgehen Karls V. gegen die Protestanten im Reich (-»Schmalkaldischer Krieg). Neue habsburgisch-türkische Grenzkonflikte wurden seit 1552 als Plünderungs- und Zerstörungsfeldzüge ausgetragen und durch Waffenstillstände mehrfach unterbrochen. Sultan Süleiman eröffnete, als Kaiser Maximilian II. 1565 -»Siebenbürgen zu unterwerfen versuchte, im hohen Alter noch einmal den Krieg, starb aber während der Belagerung von Sziget (1566). Der Frieden von Adrianopel (1568) bestätigte im wesentlichen den Status quo und wurde mehrfach verlängert. Der „lange Türkenkrieg" (1593-1606) begann mit einer für die kaiserlichen Truppen erfolgreichen Schlacht bei Sissek gegen den Pascha von Bosnien, wurde in den folgenden Jahren aber mit wechselndem Erfolg geführt. Der Frieden von Zsitvatorok (11. November 1606) bestätigte die durch den Krieg geschaffenen Verhältnisse. Kaiser Rudolf II. (1576-1612) wurde als König von RestUngarn und gleichberechtigter Partner des Sultans, Stephan Bocskay als Fürst von Siebenbürgen anerkannt, wobei Habsburger und Türken ihren Anspruch auf Oberherrschaft wahrten. Der habsburgische Türkentribut wurde durch eine einmalige Zahlung abgegolten. Der Frieden von 1606 beendete die Türkenkriege der Reformationsepoche; seine außerordentliche Dauerhaftigkeit war die Voraussetzung dafür, daß die Habsburger während des -»Dreißigjährigen Krieges ihre Kräfte auf das Reich konzentrieren konnten.

4. Die Türkenkriege

des 17. und 18.

Jahrhunderts

Die Feindseligkeiten wurden 1663 von türkischer Seite wieder eröffnet. Die Truppen Kaiser Leopolds I. (reg. 1658-1705) unter Fürst Raimund Montecuccioli (1609—1680) siegten bei Sankt Gotthard an der Raab (1664). Der Friede von Vasvär im selben Jahr war für den Kaiser, der im Westen freie Hand haben wollte, dennoch wenig vorteilhaft: er verpflichtete sich zu einer Geldzahlung und mußte Gebietsverluste sowie die türkische Oberherrschaft in Siebenbürgen hinnehmen. Der Frieden hielt bis 1683, als die Türken, ermutigt durch die Erfolge Ludwigs XIV. (reg. 1643—1715) im Westen, mit einem starken

Türkenkriege

183

Heer unter Großwesir Kara Mustafa gegen Wien vorrückten und es vom 15. Juli bis zum 12. September belagerten. Der Sieg der kaiserlichen Truppen in der Schlacht am Kahlenberg zwang sie zum Abzug. Das „ T ü r k e n j a h r " 1683 und die gescheiterte zweite Belagerung Wiens brachte die christlichen Heere erstmals seit über zwei Jahrhunderten in die Offensive (Heilige Liga von 1684 mit Polen, Venedig, -»Rußland). Die Türkenfurcht wich einem westlichen Überlegenheitsgefühl. Im folgenden „Großen Türkenkrieg" konnten Kurfürst M a x Emanuel von Bayern und Markgraf Ludwig von Baden (Türkenlouis) Belgrad beziehungsweise Bosnien zurückerobern. Entscheidend wurde der Sieg des Prinzen Eugen von Savoyen 1697 bei Zenta an der Theiß. Der Frieden von Karlowitz (1699) begründete Österreich-Ungarns Stellung als europäische Großmacht durch den Erwerb von Siebenbürgen und Ungarn mit Ausnahme des Banats; die Save wurde Grenzfluß. Eigene Verträge regelten die territorialen Verhältnisse zwischen Osmanischem Reich und Venedig beziehungsweise Polen. Der türkisch-österreichische Krieg von 1 7 1 6 - 1 7 1 8 wurde durch Siege des Prinzen Eugen bei Peterwardein und Belgrad entschieden. Im Frieden von Passarowitz (1718) erhielt Österreich das Banat, Teile Serbiens mit Belgrad und die kleine Walachei. Letztere gingen nach dem russisch-österreichischen Türkenkrieg von 1 7 3 7 - 1 7 3 9 wieder verloren (Frieden von Belgrad 1739). Nach dem Krieg 1 7 8 7 - 1 7 9 1 blieben die Grenzen im Frieden von Sistowa (1791) im wesentlichen unverändert. Die Initiative gegen die Osmanen ging im folgenden auf Rußland über, das auf dem Balkan und am Schwarzen Meer operierte, um die Öffnung der Meerengen für russische Schiffe zu erzwingen. Die militärischen Erfolge nach 1683 und ein durch die -»Aufklärung beförderter Einstellungswandel führten im 18. J h . allmählich zu einem neuen Türkenbild im christlichen Europa, das sich für die türkische Kultur zu interessieren und zu öffnen begann (Turquerie in Kunst und M o d e , Türkenopern, Übernahme von Lehnwörtern wie Sofa). Quellen und

Literatur

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184

Tugend

Tugend 1. Begriff 2. Tugenden in der Antike 3. Biblischer Hintergrund 4. Alte Kirche alter 6. Reformation und frühe Neuzeit 7. Neuere Entwicklungen 8. Ausblick Literatur S. 196)

5. Mittel(Quellen/

1. Begriff Tugend ist eine Disposition oder Eigenschaft des Charakters, der Bewunderung und Lob gebührt. Fast alle Gesellschaften betrachten bestimmte Charaktereigenschaften als besonders wichtig oder erstrebenswert, und die meisten verbinden darüber hinaus einzelne erwünschte oder unerwünschte Charaktereigenschaften mit bestimmten sozialen Rollen oder Typen. Zu einem großen Teil bildeten diese Traditionen der Tugenden und Laster den Ausgangspunkt für die systematische ethische Reflexion, die sich im Westen und vielen anderen Gesellschaften entwickelt hat. Dieser Artikel beschränkt sich auf die Tugendethik der westlichen christlichen Tradition, doch finden sich Parallelen in vielen anderen religiösen Uberlieferungen; ebenso spielt Tugendethik eine bedeutende Rolle in der Geschichte der säkularen Moralphilosophie. 2. Tugenden

in der

Antike

2.1. In der griechischen Gesellschaft entwickelte sich die Idee der Tugend als lobenswerte Charaktereigenschaft aus einem allgemeineren Begriff von Vortrefflichkeit, apeit], in Anwendung auf menschliche Wesen. Zunächst wurde menschliche Vortrefflichkeit mit bestimmten Rollen oder Funktionen in Verbindung gebracht; so waren für Homer Tapferkeit und Stärke die charakteristischen Vortrefflichkeiten oder Tugenden aristokratischer Krieger, Treue und Bescheidenheit die charakteristischen Tugenden von Frauen. M i t der athenischen Gesellschaft des 5. J h . v. Chr. verwandelten sich die Tugenden der kriegerischen Gesellschaft des archaischen Griechenland allmählich in Tugenden, die eher einer seßhaften, städtischen Lebensweise entsprachen. Im Laufe dieses Prozesses kam es zu ersten Versuchen einer systematischen Behandlung der Tugend, aus denen sich die Idee einer spezifisch menschlichen Form von Vortrefflichkeit herauskristallisierte, die dem menschlichen Wesen als solchem, ohne Bezug auf besondere Umstände oder Rollen, eigentümlich ist. Von da an war das Tugendthema eng mit der fundamentaleren Frage des menschlichen Lebensziels verbunden; Philosophen und andere Denker suchten den Ort der Tugend in einem guten Leben zu bestimmen und ihre ersten intuitiven Einsichten über die Tugenden im Licht umfassenderer Theorien über menschliches Glück und Vortrefflichkeit zu korrigieren. 2.2. Bei Plato (-»Plato/Platonismus) findet sich die erste ausführliche philosophische Erörterung der Tugenden, die sich vollständig erhalten hat, wenn auch schwer feststellbar ist, wieweit die in seinen Dialogen vertretenen Ansichten eher das Denken seines Lehrers (-»Sokrates) als seine eigene Position wiedergeben. Sokratisch-platonisch haben Tugenden als Formen von Wissen oder Einsicht in das wahrhaft Gute zu gelten; daher bilden die verschiedenen Tugenden wesentlich eine einzige Beschaffenheit, eine Auffassung, die als Lehre von der Einheit der Tugenden bekannt wurde (vgl. z.B. Plato, La. 198a-199c). Plato scheint diese Grundbestimmung im Sinne seiner Ideenlehre dahingehend interpretiert zu haben, daß das der Tugend eigene Wissen nur durch unmittelbare Erkenntnis der Ideen des Schönen, des Guten, des Gerechten und der anderen Ideen erlangt werden kann. Deren Wahrnehmung befähigt den Menschen, die verschiedenen Seelenteile in das richtige Verhältnis zueinander zu setzen; aufgrund dieser inneren Harmonie vermag er im Umgang mit anderen richtig zu handeln, während die Ideenschau ihn dazu motiviert (vgl. die Verknüpfung dieser Themen in resp. 514a-520e). 2.3. Piatos Schüler Aristoteles (-»Aristoteles/Aristotelismus) entwarf seine Tugendlehre auf der Basis einer philosophischen Psychologie, die eine Systematisierung und Kritik der populären Tugendvorstellungen ermöglichte und Kriterien zur Unterscheidung der wahren Tugenden von ähnlichen Phänomenen bereitstellte. Nach Aristoteles unterscheidet sich eine Tugend von den Anlagen der -»Seele wie von ihren irrationalen Regungen. Sie ist eine feste Grundhaltung, die sich

Tugend

185

in Handlungen äußert, die für die jeweilige Tugend charakteristisch sind. Näherhin artikuliert sich wahre Tugend auf einigen Handlungsfeldern durch Einhaltung einer Mitte; gemeint ist nicht ein mittlerer Zustand zwischen den Extremen irrationaler Leidenschaft, sondern eine richtige, durch pdvr]aiAffekte im Leben der tugendhaften Person war ein weiterer Streitpunkt zwischen ihnen und den Aristotelikern; ein ständiger Vorwurf bis heute lautet, sie propagierten Gleichgültigkeit und Mangel an Gefühl als Tugendideal. Genauere Prüfung zeigt indessen, daß sie nicht die Gemütsbewegung als solche, sondern übertriebene oder unangemessene Affekte als Vernunft- und tugendwidrig betrachteten. Die stoische Tugendlehre wurde den Christen durch eine Reihe von Quellen vermittelt, darunter vor allem die römischen Philosophen Seneca (4. v. Chr.—65 n. Chr.) und Cicero ( 1 0 6 - 4 3 v. Chr.). Senecas Lehre vom rationalen Charakter der Tugenden und seine Betonung der Einheit des Tugendideals für alle Menschen sollten auf die späteren christlichen Denker beträchtlichen Einfluß ausüben. Ciceros Bedeutung für die christliche Ethik kann kaum überschätzt werden. Seine eklektische Lehre von der Tugend war diejenige Gestalt stoischer Tugendethik, die für das christliche Denken maßgeblich wurde. Seine vierfache Einteilung der Tugenden in praktische Weisheit oder Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit sollte unter der Rubrik „Kardinaltugenden" im Mittelalter höchst einflußreich werden (inv. II, LH 159). Der Neuplatoniker -»Macrobius bietet in seinem Kommentar zu Ciceros Bericht über den Traum des Scipio am Ende von De re publica ( V I , 9 - 2 9 ) eine weitere systematische Untergliederung der Tugenden: politische Tugenden, die in einem Gemeinwesen von Bürgern ihren Ausdruck finden; reinigende Tugenden, welche die Seele reinigen und für die Schau vorbereiten; Tugenden der gereinigten Seele, die ihre Leidenschaften überwunden hat; exemplarische Tugenden, d.h. die in Gott existierenden Urbilder der Tugenden. Dieses Schema bestimmte weithin die mittelalterliche Erörterung der Kardinaltugenden. D a s — in Einzelheiten stark divergierende - Tugendverständnis der antiken Philosophen prägte die Diskussion bis in die M o d e r n e . Tugenden stellen erstens feste Beschaffenheiten der Seele o d e r des C h a r a k t e r s eines Individuums dar, die sich durch bestimmte Tätigkeiten ausdrücken. Zweitens schließen diese Qualitäten sowohl affektive wie intellektuelle Komponenten ein, d.h. kennzeichnend für die tugendhafte Person sind ihre jeweiligen Neigungen oder Gefühle und die rationale Beurteilung ihrer Handlungen. In den Diskussionen über die Tugend ging es um die Bedeutung und das Verhältnis dieser Komponenten zueinander.

3. Biblischer

Hintergrund

Gegenüber dem Schrifttum der hellenistischen Antike enthielten die hebräischen Schriften wenig vergleichbare Reflexion über wünschenswerte Grundhaltungen des C h a rakters. Die T e x t e kennen keine begriffliche Entsprechung zu „ T u g e n d " ; z w a r sind sie stark interessiert an der F r a g e n a c h der besten oder angemessensten menschlichen Lebensweise, aber dieses Interesse artikuliert sich bezeichnenderweise als N a c h d e n k e n über das Gesetz Gottes und die Weisheit, die es verleiht. Die Darstellungen des Weisen und des Toren in der Weisheitsliteratur (—•Weisheit/Weisheitsliteratur) lassen sich als Analogien zu griechischen und hellenistischen Schilderungen von Tugend und Laster auffassen, doch selbst hier geht es eher u m die Kennzeichnung von Lebensmustern als u m die F r a g e nach den jeweils zugrunde liegenden Dispositionen. Die neutestamentlichen Schriften enthalten k a u m systematische Ausführungen zum T h e m a Tugend, spiegeln aber den Einfluß der philosophischen und populären Tugend-

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Tugend

ideale ihrer Zeit. Bei -»Paulus begegnet häufig eine Aufzählung von Charaktereigenschaften oder Persönlichkeitstypen, die mit der christlichen Lebensweise im Einklang stehen, und solchen, die unvereinbar sind und Verurteilung verdienen (z. B. Gal 5,22ff.). Diese Kataloge bilden bis heute einen Ausgangspunkt für christliches Nachdenken über die Tugenden. Größeres Gewicht als diese summarischen Listen gewann jedoch in der christlichen Ethik die paulinische Gleichsetzung von -»Glauben, -»Hoffnung und -»Liebe mit Leitideen der christlichen Lebensführung (I Kor 13,13). Im Anschluß daran galten Glaube, Hoffnung und Liebe als die paradigmatischen theologischen Tugenden im Gegenüber zu den klassischen Kardinaltugenden - praktische Klugheit oder Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit - , die als die höchsten dem Menschen erreichbaren Tugenden betrachtet wurden. 4. Alte

Kirche

Langfristig war die einflußreichste Tugendlehre der Spätantike zweifellos diejenige des -»Augustin von Hippo, der stoische und neuplatonische Elemente mit der christlichen Tradition der theologischen Tugenden verschmolz. Wie Plato und die Stoiker betrachtet Augustin alle Tugenden im Grunde als Ausdruck einer einzigen Qualität, die für ihn aber die christliche Liebe ist (mor. eccl. 1,15). Als solche kann wahre Tugend nur von Gott verliehen werden. Was die liebende Person auszeichnet, ist die Fähigkeit, alle menschlichen Affekte in ihre richtige Ordnung zu bringen, indem sie Gott über alles liebt und die Geschöpfe als Ausdruck der Güte Gottes und, soweit sie mit Vernunft begabt sind, als potentielle Teilhaber im Genuß derselben liebt. Aus diesem Grund können die scheinbaren Tugenden der Nicht-Christen, obwohl an sich lobenswert und der menschlichen Gemeinschaft förderlich, doch nicht wahre Tugenden sein, weil sie sich auf falsche Ziele richten (civ. V,12.14). Zunächst war jedoch Augustins Tugendlehre weniger einflußreich als die Zusammenstellungen der Laster und der sie jeweils korrigierenden Tugenden bei Johannes -»Cassianus und -»Gregor I. dem Großen. Cassianus schrieb primär für Mönche und Asketen, Gregors Anliegen war der Kampf des Christen in der Welt. Aber beide sehen die größte Herausforderung des christlichen Lebens in der Erkenntnis und Uberwindung der zur -»Sünde führenden Laster. Um den Christen dabei zu unterstützen, brauchen Abt oder Priester ein gewisses M a ß an praktischer Kenntnis der lastertilgenden Eigenschaften, zu dem Cassianus wie Gregor verhelfen wollen. Ihre Versuche waren einflußreich und wurden im ganzen Mittelalter oft nachgeahmt. Die Patristik hinterließ also zwei Ansätze für die Behandlung der Tugenden: ein Schema kombinierte die klassischen Kardinaltugenden und die christlichen theologischen Tugenden, ein anderes ordnet sie nach den sieben tödlichen Lastern, zu deren Korrektur sie dienten. 5.

Mittelalter

Bis zur -»Scholastik des 12. Jh. wurde den Tugenden nur geringe systematische Aufmerksamkeit zuteil. Doch traktierten Priester und Prediger das ganze frühe Mittelalter hindurch Tugenden und Laster in Verbindung mit verwandten Themen wie den Gaben des Heiligen -»Geistes oder den Seligpreisungen. Daraus war bis zum 12. Jh. eine beachtliche Tradition entstanden, die zu Reflexion und zusammenfassender Darstellung einlud. 5.1. Zwei der einflußreichsten Frühscholastiker, Petrus —»Abaelard und -»Petrus Lombardus, bestimmten mit ihren gegensätzlichen Tugendtheorien in der Folge weithin die Diskussion. In seinem Dialogus inter philosophum, judaeum et christianum interpretierte Abaelard die Tugend aristotelisch als einen habitus, durch den Personen fähig sind, wahrhaft moralisch zu handeln und die höchste Seligkeit zu verdienen (PL 178, 1651c—1652a). Im Gegensatz dazu entwirft Petrus Lombardus in seinen Sentenzen eine rein theologische Tugendlehre, in der die Tugend eng mit der -»Gnade und den Gaben

Tugend

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des Heiligen Geistes verbunden ist (11,27,1). Im einzelnen definiert er Tugend in augustinischer Terminologie als eine gute Beschaffenheit des Geistes, die Gott in uns ohne unser Wirken hervorbringt (11,27,5). Im strengen Sinne wirkt Gott die Tugend in der Seele, und wir bringen tugendhafte Akte hervor durch Betätigung des freien -> Willens im Zusammenwirken mit Gottes Gnade. Daher „wird Gnade nicht unpassend Tugend genannt" (11,27,9). Folglich kann es keine Tugend ohne Gnade geben, so daß eine eigentlich philosophische Tugendanalyse in christlicher Theologie keinen Raum hat. Die weitere scholastische Diskussion stand im Zeichen der durch Abaelard und Petrus Lombardus verkörperten Spannung zwischen einem philosophischen und einem theologischen Ansatz. Unter den vielen Versuchen, beide Ansätze miteinander zu verbinden, kommt der Summa aurea des Wilhelm von Auxerre exemplarische Bedeutung zu, der zwischen den theologischen Tugenden, die von der Gnade abhängen, und den — mit den traditionellen Kardinaltugenden gleichgesetzten - politischen Tugenden des menschlichen Gemeinschaftslebens unterschied. Nach Wilhelm beruhen die politischen Tugenden auf den fundamentalen Prinzipien des natürlichen Gesetzes, deren Kenntnis allen Menschen durch die eingeborene Schau Gottes als des höchsten Gutes (Summa aurea 111,18 Einl.; 18,4) vermittelt wird. Die politischen Tugenden sind sowohl Vorbereitung für die theologischen Tugenden als auch Medium, durch welches diese sich in äußeren Akten nach Empfang der Gnade ausdrücken. Als solche sind sie in sich gut, wenngleich ohne die Gnade nicht heilbringend (ebd. 111,19 Einl.). Auf diese Weise wurden die Kategorien des Macrobius als Ausgangspunkt für eine theologische Interpretation der Kardinaltugenden angeeignet. 5.2. Ausdrücklich - aber kaum zu Recht - schreibt Wilhelm seine These, daß die Grundprinzipien der Tugend durch unmittelbare göttliche Erleuchtung erkannt werden, Augustin zu (ebd. 111,18,4). Eine andere, stark abweichende Fortentwicklung erfuhr das augustinische Denken in der Tugendlehre, die -»Bonaventura in den Collationes in Hexaemeron, einer Untersuchung über die Grenzen menschlicher Erkenntnis in Gestalt eines Kommentars zur ersten Schöpfungserzählung der Genesis, vorträgt. Bonaventura entfaltet sein Tugendverständnis in der siebten Collatio zu Gen 1,4 („Gott sah das Licht, daß es gut war, und er trennte das Licht von der Finsternis") im Anschluß an Macrobius. Die Ansicht des „nobilissimus Plotinus" und Ciceros, wonach die Tugenden auf dem Weg der Erleuchtung durch Gott, die Exemplarursache aller Tugenden, in die menschliche Seele gelangen (VII,3; ohne Erwähnung des Macrobius), erscheint Bonaventura nicht völlig falsch, obwohl er betont, daß wir die Kardinaltugenden eher durch Glauben als durch philosophische Erleuchtung empfangen. Dennoch konnten die Heiden nicht zum rechten Verständnis der Tugend gelangen, da sie ohne -»• Offenbarung das wahre Wesen und Wirken der Tugenden nicht verstehen konnten (VII,4). Die Tugenden wirken in der menschlichen Seele in dreifacher Weise, indem sie die Seele auf das Ziel hin ordnen, ihre Gefühle gerade richten und das Kranke heilen, wobei keine dieser drei Wirkweisen ohne die Offenbarung recht zu verstehen ist (VII,5). Weder konnten die Philosophen einsehen, wie die Tugenden die Seele auf ihr Ziel ausrichten, da ihnen -»Auferstehung und ewiges Leben als unsere letzte Bestimmung unbekannt waren (VII,6), noch begriffen sie, daß die Affekte der Seele nur durch die Gnade berichtigt werden können (VII,7); ebenso blieb ihnen wegen ihrer Unkenntnis der Sünde als eigentlicher Ursache der Krankheit der Seele die heilende Wirkung der Tugenden verschlossen (VII,8). Die Glauben und Hoffnung voraussetzende christliche Liebe ist das einzige Heilmittel für die Krankheit der Seele und Form aller Tugenden (VII,14). Den heidnischen Philosophen war es darum nicht nur unmöglich, die Tugenden zu verstehen, sondern auch sie zu erlangen, so daß ihre Tugenden nur ungeformte oder rudimentäre Spielarten ihrer christlichen Entsprechungen waren (VII,15). Deutlich ist Bonaventuras Überzeugung, daß volle Tugend ohne die Gnade unmöglich ist, weniger deutlich hingegen, wie weit seine Verwerfung der antiken Tugendtraditionen

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Tugend

eigentlich geht. Gegen die Auffassung, seine Tugendlehre sei von r a d i k a l e m M i ß t r a u e n gegen die klassische Philosophie g e p r ä g t ( E m e r y ; anders Kent), spricht, d a ß a u c h im Hexaemeron

keine völlige V e r w e r f u n g der klassischen M o r a l p h i l o s o p h i e zu erkennen

ist und er a n d e r s w o E l e m e n t e der aristotelischen Tugendlehre eindeutig zustimmend aufgreift. 5.3.

Die einflußreichste scholastische Tugendlehre ist zweifellos die des

Thomas

von A q u i n o . D e r verbreiteten A n n a h m e , die t h o m a n i s c h e Tugendlehre sei im wesentlichen aristotelisch, stehen wichtige U n t e r s c h i e d e zwischen Struktur und A u f b a u des T u g e n d t r a k t a t s bei T h o m a s und d e m aristotelischen Aufriß entgegen ( J o r d a n ) . Außerd e m h a t für T h o m a s nicht die aristotelische, s o n d e r n die augustinische Begriffsbestimm u n g des Petrus L o m b a r d u s p a r a d i g m a t i s c h e B e d e u t u n g : „ T u g e n d ist jene gute Beschaffenheit des Geistes, kraft deren m a n r e c h t lebt, die n i e m a n d schlecht g e b r a u c h t , die G o t t in uns o h n e uns b e w i r k t " (S.th. I-II 5 5 , 4 mit Z i t a t aus Sent. 2 7 , 5 ) . Letzteres gilt nach Thomas allerdings nur für die eingegossenen Tugenden, die Gott uns ohne Bewirken von unserer Seite verleiht (S.th. I-II 63,2). Die eingegossenen Tugenden haben mittelbar oder unmittelbar die Gemeinschaft mit Gott zum Ziel, im Unterschied zu den erworbenen Tugenden, die auf die Erlangung eines menschlichen, rational erfaßbaren Gutes hingeordnet sind. Als solche umfassen die eingegossenen Tugenden nicht nur die theologischen Tugenden, sondern auch eingegossene Kardinaltugenden, die sich von den erworbenen durch unterschiedliche Zielbestimmung unterscheiden (I-II 63,3.4). Thomas betont, daß niemand das Heil ohne die eingegossenen - theologischen wie kardinalen - Tugenden erlangen kann, erkennt aber an, daß die durch menschliche Übung erworbenen und auf menschliche Vervollkommnung gerichteten Tugenden wahrhaft gut sind, wenn auch in begrenzter Weise (I-II 62,1.2). Damit ist der Weg frei für eine philosophische Analyse der Tugenden, die Thomas weithin, aber nicht ausschließlich, auf der Basis der philosophischen Psychologie des Aristoteles entwickelt. Thomas folgt Aristoteles in der Bestimmung der Tugend als babitus, d.h. als feste Ausrichtung des Verstandes, des Willens und der Leidenschaften, welche die Person zur Wahl einer bestimmten Handlungsweise veranlaßt (I-II 55,1). Solche Ausrichtungen sind für das vernunftbegabte Geschöpf notwendig, um überhaupt handeln zu können; so muß z. B. das Sprachvermögen durch Fertigkeit in einer Sprache bestimmt werden, damit es zu wirklichem Sprechen kommt (I-II 49,4). Insofern schließen die Tugenden Verstandestüchtigkeiten wie das Wissen ein; diese sind ethisch neutral und nur in dem Sinne gut, daß sie den Handelnden in einer gewissen Hinsicht vervollkommnen (I-II 56,3; 57,1; 58,3). Diejenigen Tugenden dagegen, welche die Leidenschaften, den Willen und den Verstand, soweit er aufs Tun gerichtet ist, bestimmen, sind notwendig ethisch (I-II 58,1). Der Differenz der Vermögen des Verstandes, des Willens, der begehrenden und der reizbaren Kräfte entspricht eine Differenzierung der Tugenden: Klugheit, im strengen Sinne eine Verstandestugend, befähigt die Person zum Handeln im Einklang mit ihrer Grundauffassung vom Guten; Gerechtigkeit richtet den Willen auf das Gemeinwohl aus; Maßhaltung und Tapferkeit formen die Leidenschaften in der Weise, daß die Person das mit dem schlechthin Guten Übereinstimmende begehrt und entgegenstehende Hindernisse zu überwinden vermag (I-II 59,2; 6 0 , 3 - 5 ) . Auf diese Weise fügt Thomas das traditionelle Schema der vier Kardinaltugenden seiner moralischen Psychologie ein. Er referiert auch die Einteilung der Tugenden durch Macrobius (I-II 61,5), doch spielt sie in seinem Denken keine größere Rolle. Nach Thomas kann jede zu guten Handlungen führende Beschaffenheit in gewissem Sinn Tugend heißen, sittliche Tugenden im eigentlichen Sinne sind indes nur solche, die zu Handlungen führen, die ohne Einschränkung gut sind (I-II 65,1). Akte vollkommener Tugend sind nicht nur gut in jeder Hinsicht, sondern werden auch aus richtiger Einsicht getan, d.h. aus klarer Erkenntnis des wahren menschlichen Gutes und in beständigem Verlangen nach ihm. Alle Tugendakte sind so mit einem Klugheitsurteil verknüpft und werden im Stand der Gnade außerdem auf das letzte Ziel der menschlichen Person durch die Liebe hin geordnet. Auf diese Weise vertritt Thomas die Verknüpfung der Tugenden untereinander, zögert aber, die stärkere These von der Einheit der Tugenden zu übernehmen (ebd.). M i t der Scholastik ist das T u g e n d t h e m a keineswegs zur ausschließlichen D o m ä n e der h o h e n Schulen g e w o r d e n . W ä h r e n d der ganzen P e r i o d e w a r e n Tugenden ein beliebtes T h e m a in L i t e r a t u r , Predigt und Seelsorge, w o b e i meist das ältere S c h e m a der T u g e n d e n als K o r r e k t i v e für L a s t e r b e v o r z u g t w u r d e . D e n n o c h w a r a m A u s g a n g des M i t t e l a l t e r s die a k a d e m i s c h e T u g e n d l e h r e i m allgemeinen aristotelisch, sofern die Tugenden v o n

Tugend

189

einer philosophischen Psychologie der seelischen Anlagen her analysiert werden und ihre konkreten Bestimmung im Modell der „Tugendmitte" erfolgt. 6. Reformation

und frühe

Neuzeit

6.1. Nach verbreitetem Urteil erlebte die Theorie der Tugenden am Beginn der Neuzeit einen Niedergang, teils als Folge der Reformation, teils wegen der neuzeitlichen Verlagerung des Interesses auf universale moralische Regeln. Dieser These wird jedoch neuerdings zum einen entgegengehalten, daß die Abkehr vom aristotelischen Tugendmodell zugunsten einer ausschließlichen Orientierung des moralischen Werturteils am Willen bereits im späten 13. Jh. einsetzte. Zum anderen mehren sich die Zweifel, ob die Tugendethik in der Neuzeit wirklich aufgegeben wurde. Was wir in dieser Periode beobachten, ist nicht so sehr ein Niedergang der Tugendethik als vielmehr die Ersetzung des aristotelischen Tugendmodells durch andere Modelle. Im allgemeinen waren die Theologen der Reformation mißtrauisch gegenüber der scholastischen Tugendlehre, schien sie doch auf die Annahme der Möglichkeit menschlicher Selbstvervollkommnung ohne die Gnade hinauszulaufen. M. -»Luther vertrat jedoch trotz vernichtender Kritik der scholastischen Tugendethik ein Verständnis der -•Rechtfertigung und der Gaben des Heiligen Geistes, das deren positive, transformierende Wirkung hervorhob. Für ihn ist die christliche Erlösung nicht eine bloße Veränderung der Rechtsstellung gegenüber Gott, sondern auch eine Erneuerung des inneren Menschen durch die Gnade Gottes. Durch die Gnade wird das Individuum zu wahrhaftem, fröhlichem Glauben fähig, der wiederum aktive Bereitschaft zum Dienst am Nächsten erzeugt. Zur Beschreibung des Glaubens und der durch ihn erzeugten Dispositionen rekurriert Luther nicht auf das Tugendmodell, sondern spricht lieber von Gaben des Heiligen Geistes. Aber der wahre Christ ist für ihn selbstverständlich gekennzeichnet durch die bleibende Fähigkeit zu einer besonderen, eindeutig christlichen Antwort und Handlungsweise. Luther lehnte nicht eigentlich eine christliche Tugendethik ab, sondern ersetzte den scholastischen Tugendbegriff durch eine - in seiner Sicht - evangeliumsgemäßere Auffassung vom Charakter des wahren Christen. 6.2. Radikaler ist die Ablehnung der Tugendethik bei den Naturrechtstheoretikern der -»Neuzeit, beginnend mit H. -»Grotius, der die aristotelische Lehre von der Mitte nicht als zutreffende Beschreibung der sittlichen Handlung anerkennt. Ihm ist dieses Konzept zu ungenau, zudem ist es entbehrlich, weil die Gesetze der Natur alle nötige Orientierung für das moralische Urteil enthalten. Hier kündigt sich jene Dichotomie von Tugend und Gesetz an, welche die Auseinandersetzung über die Tugendethik bis in unsere Zeit stark geprägt hat. Dennoch räumten auch die modernen Naturrechtsdenker (—»Naturrecht) den Tugenden einen Platz ein bei der Erfüllung der sog. „unvollkommenen Pflichten", d.h. von Normen wie Wohlwollen und Dankbarkeit, die sich nicht präzis bestimmen lassen und aus entsprechenden Motiven zu erfüllen sind. 6.2.1. Das Moralkonzept des modernen Naturrechtsdenkens mit seiner Betonung der Norm und seinem eng umschriebenen Ort für die Tugenden gelangte in der katholischen Moraltheologie nach dem Konzil von Trient (-»Tridentinum) zur Herrschaft. Während katholische Moraltheologen weiterhin die traditionelle Terminologie der Kardinaltugenden und der theologischen Tugenden verwendeten, reduzierten sich diese mehr und mehr auf Organisationsprinzipien für moralische Regeln. An die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten erinnert in katholischer Theologie die Unterscheidung zwischen Pflichten, die allen Christen obliegen, und Praktiken, die zu tieferer Erfahrung der Gegenwart Gottes und vollkommener Unterwerfung unter seinen Willen führen. Erstere wurden der Moraltheologie zugewiesen, die einseitig legalistisch wurde, während die letzteren nur für die nach christlicher Vollkommenheit Strebenden gelten sollten und dem Bereich der aszetischen oder spirituellen Theologie zugerechnet wurden. 6.2.2. Daneben entwickelte sich im englischen Sprachraum ein moralphilosophischer Ansatz, der eine deutliche Verschiebung im Tugendverständnis zur Folge hatte. Er wird gewöhnlich als Theorie des „ - » M o r a l Sense" bezeichnet, da moralische Urteile nach Art von angeborenen Gefühlen

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Tugend

aufgefaßt werden. Nach Anthony Third Earl of -»Shaftesbury, der allgemein als Begründer dieser Richtung gilt, ist der moral sense ein deutliches Gefühl der Billigung oder Mißbilligung, bezogen auf eigene oder fremde Leidenschaften und Neigungen. Dieser moral sense eröffnet den Zugang zu einer objektiven moralischen Wirklichkeit, nämlich der Harmonie oder Disharmonie zwischen jenen Leidenschaften und Neigungen und den Beziehungen, die ihren Kontext bilden. So ruft Dankbarkeit gegenüber einem Wohltäter bei uns Billigung, Undankbarkeit dagegen Mißbilligung hervor, weil wir die Harmonie zwischen der Beziehung einer Verpflichtung und dem Gefühl der Dankbarkeit empfinden. Diese Harmonie ist ursprünglich, und doch haben wir zu ihr keinen Zugang unabhängig von unserem Gefühl der Billigung oder Mißbilligung, wie wir auch zur objektiven Kunstschönheit im Grunde keinen anderen Zugang als unsere ästhetischen Gefühle haben. Im Unterschied dazu stehen für D. -»Hume, dem einflußreichsten Vertreter der Theorie des moral sense, unsere Gefühle von Billigung und Mißbilligung in direktem Zusammenhang mit Handlungsmotivationen wie Tapferkeit, Großmut oder elterlicher Liebe. Er verknüpft diese Motive ausdrücklich mit Tugenden, die er deshalb als Fähigkeit, in einer bestimmten Weise zu antworten und zu handeln, interpretiert. Wesentlich ist, daß die Affekte und Neigungen, die die Wurzel der Tugenden bilden, nicht von der Vernunft abhängen, da einerseits die Vernunft für sich uns nicht zum Handeln bewegen kann und andererseits Leidenschaften nicht-kognitive Kräfte darstellen, von denen eine bestimmte Handlungsmotivation ausgeht. Eine wichtige Klasse von Tugenden hängt indessen indirekt von der Vernunft ab, nämlich die „künstlichen Tugenden" wie z. B. Gerechtigkeit, deren Entstehung und Ausübung die gesellschaftlichen Konventionen voraussetzt. 6.2.3. Humes Ruf als anti-theologischer Philosoph hat die Bedeutung der Theorie des moral sense für die theologische Ethik überschattet. Doch verdankt sich dieser Theorie der vielleicht bedeutendste tugendethische Entwurf der neueren Theologie des englischen Sprachraums, The Nature ofTrue Virtue (1765) von J. -»Edwards. Edwards, ein puritanischer Theologe in den USA, war mit der britischen Moralphilosophie dennoch gründlich vertraut; vieles war ihm bei seiner Beschäftigung mit der Tugendproblematik durch die Diskussion im dortigen Kontext vorgezeichnet. Gleichzeitig bot seine Darstellung eine anspruchsvolle Antwort auf die jede christliche Tugendethik begleitende Frage nach dem Verhältnis von christlicher und natürlicher Tugend. Für Edwards ist die Tugend eine bestimmte Willens- oder Gefühlshaltung. Außerhalb der erlösenden Gnade besteht die Tugend vor allem in der Liebe zur Schönheit, die sich in richtigen Verhältnissen zwischen Personen darstellt, die Edwards als Gerechtigkeit interpretiert. Für sich genommen macht diese Tugend weder gerecht, noch kann sie zur Erlösung führen; doch bildet sie das Fundament jeder menschlichen Gesellschaft und alles dessen, was ohne die Gnade an Güte im menschlichen Leben vorhanden ist. Wahre Tugend besteht dagegen in Wohlwollen gegenüber dem Sein im ganzen, und in diesem Sinne kann es Tugend nicht ohne die Gnade geben. Wie sich aber in der richtigen Ordnung der menschlichen Verhältnisse die Harmonie und Schönheit des Seins überhaupt spiegeln, so ist dieses Wohlwollen der wahren Gerechtigkeit nicht entgegengesetzt, obwohl es sie transzendiert. Wahre Tugend umfaßt und transformiert die Gerechtigkeit und die weiteren mit ihr verbundenen natürlichen Tugenden, statt sie zu zerstören oder einfach zu ersetzen. 6.3. Auf dem Kontinent entwickelt sich die Tugendethik ähnlich, wenngleich in etwas anderen Zusammenhängen. Der oft gegen I. —>Kant erhobene Vorwurf einer Reduktion der Moral auf genaue, aus Pflicht zu erfüllende Vernunftvorschriften trifft allenfalls auf seine frühe kritische Periode zu. Später hat Kant der Bedeutung der Tugend für einen der Sitten unvollständigen Begriff der Ethik Rechnung getragen. In seiner Metaphysik terscheidet er zwei grundlegende moralische Prinzipien, einmal die Verpflichtung, so zu handeln, daß dabei die vernünftige Freiheit aller Personen geachtet wird, zum anderen die Verpflichtung, im Blick auf solche Ziele zu handeln, die von allen vernünftigen Personen anerkannt werden können. Letztere umfassen die eigene Vollkommenheit und die fremde Glückseligkeit, ihre Beförderung fällt in den Bereich der Tugendethik. „Tugendpflichten" sind in zweifacher Hinsicht „unvollkommene Pflichten": sie lassen sich nicht genau spezifizieren, und sie können aus anderen Motiven als dem der Hochachtung für das moralische Gesetz, jedoch nicht aus blindem Antrieb, erfüllt werden. In beiden Aspekten kontrastieren sie mit den „vollkommenen Pflichten", die den Prinzipien des Rechts entsprechen. Das heißt indessen nicht, daß die unvollkommenen Tugendpflichten zweitrangig oder unwichtig wären. Während die Existenz der Gesellschaft und das moralische Leben des Individuums die Beobachtung der vollkommenen Pflichten zur Voraussetzung haben, liegt die nicht weniger entscheidende Bedeutung der unvollkommenen Pflichten darin, daß nur durch sie das Individuum die Glückseligkeit

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verdienen und die Vervollkommnung als moralisches Subjekt erlangen kann. Die Unterscheidung zwischen Regeln, die für die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft nötig, und Tugenden, die für den Charakter des Individuums erforderlich sind, hat sich als sehr einflußreich erwiesen und findet sich auch bei Autoren, die Kants Ethik ablehnen. 6.4. Für die theologische Ethik noch wichtiger ist F.D.E. —•Schleiermacher. Er bietet nirgends eine ausgearbeitete theologische Ethik; sein ethisches Hauptwerk Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) gibt sich als eine Kritik fremder Positionen, aus der indessen seine eigene Sicht zu erschließen ist. Das Thema ist aber keineswegs vernachlässigt, da für Schleiermacher Ethik und Dogmatik in gleicher Weise Ausdruck elementarer religiöser und christlicher Gemütszustände und als solche nicht voneinander zu trennen sind. Die Grundmotive von Schleiermachers Theologie sind so bekannt, wie ihre vollständige Ausführung schwierig ist. Jede echte Religion verdankt sich einem Bewußtsein des unendlichen und ewigen Grundes aller endlichen und zeitlichen Dinge und unserer schlechthinnigen Abhängigkeit von dieser göttlichen Wirklichkeit. Dieses Gefühl äußert sich notwendig in Form eines bestimmten religiösen Glaubens; im Christentum ist dies das Bewußtsein von Christus als dem Mittler zwischen Gott und Mensch. Obwohl Schleiermacher den christlichen Glauben nicht als einzigen Weg zu einem authentischen Gottesbewußtsein betrachtet, steht das Bewußtsein einer persönlichen Christusbeziehung im Zentrum seines Denkens. Es artikuliert sich wiederum in scheinbar gegensätzlichen Impulsen, die aber faktisch als notwendig zusammengehörig erfahren werden und auf die volle Entfaltung des Individuums und die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten gerichtet sind. Schleiermachers Hauptbeitrag zur Tugendethik dürfte in seiner theologischen Gesamtkonzeption liegen, an die eine Ethik der frommen Erfahrung oder des christlichen Charakters in der englischsprachigen und in der deutschen Theologie (-»Pietismus) anknüpfen konnte. Seine Theologie weist eine deutliche Verwandtschaft mit den genannten Tugendlehren des moral sense auf. Wichtiger noch ist ihre Verwurzelung im lutherischen Pietismus, wodurch sie ein wichtiges Bindeglied zu einem spezifisch lutherischen Verständnis der religiösen Gefühle und Tugenden darstellt. Schleiermachers ausgeführte Tugendlehre in der Kritik und anderswo verdient ebenfalls Beachtung. Er gliedert die Sittenlehre nach den drei Ideen des höchsten Gutes, der Pflicht und der Tugend, von denen jede auf die anderen verweist und zugleich einen eigenen Ethiktyp impliziert. Der Begriff der Tugend wird von Schleiermacher mit dem Begriff des sittlichen Urteils verknüpft; sie ist die Fähigkeit eines Individuums, die konkreten Inhalte des Sittengesetzes zu erfassen und in Praxis umzusetzen. In dieser Hinsicht gleicht sein Tugendbegriff in auffallender Weise der aristotelischen Idee der praktischen Klugheit, die sonst im moralischen Diskurs der Moderne weithin nicht vorkommt. Der klassische Hintergrund von Schleiermachers Tugendlehre zeigt sich noch deutlicher in seiner Ableitung der einzelnen Tugendformen. Die Systematisierung folgt den Grundstrukturen des menschlichen Handelns und Daseins. Handeln ist stets entweder innerlich oder äußerlich, entweder auf symbolisches Erkennen oder auf Hervorbringung einer Wirkung in der äußeren Welt gerichtet. Menschliches Dasein ist ganz allgemein durch Vernunft und Sinnlichkeit bestimmt, die teils harmonisch zusammenwirken, teils im Widerstreit stehen. Aufgrund der Wechselwirkung muß das Handeln einmal die Form der mit der Sinnlichkeit streitenden Vernunft, ein andermal die Form der von der Sinnlichkeit durchdrungenen Vernunft annehmen, die in diesem Fall zu einem Vermögen der Inspiration wird. Der Differenz der Handlungskräfte entspricht eine vierfache Unterteilung der Tugenden. Die symbolisierende Tätigkeit führt zur Weisheit, wenn sie inspiriert ist, und zur Besonnenheit, wenn sie die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit widerspiegelt. Ebenso führt die nach außen gerichtete Tätigkeit, wenn sie inspiriert ist, zur

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Liebe, w e n n sie dagegen vernünftige Beherrschung der Sinnlichkeit in äußeren H a n d lungen ausdrückt, zur Beharrlichkeit. Diese vier Tugenden erinnern deutlich an die klassischen Kardinaltugenden. In besondere N ä h e zu antiken und mittelalterlichen Ansätzen führt Schleiermachers Thematisierung der Tugenden in Form einer philosophischen Psychologie der menschlichen Tätigkeitskräfte. Der eindeutig christliche Hintergrund seiner Tugendlehre zeigt sich jedoch darin, daß bei ihm die Liebe die Stelle der Gerechtigkeit in d e m traditionellen Schema einnimmt. 6.5. In der Generation nach Schleiermacher nimmt A. -»Ritsehl Motive Schleiermachers auf, weicht aber zugleich in wichtigen Hinsichten von ihm ab. Mit Schleiermacher weist er der Erfahrung eine zentrale Stellung in Glauben und Theologie zu, hält aber im Gegensatz zu ihm nicht die inneren Gemütszustände der Gläubigen, sondern den historischen Jesus in der Vermittlung durch Bibel und Kirche für den Prüfstein des christlichen Glaubens. Die in historischer Rückfrage gewonnene faktische Erkenntnis Jesu ist ein wirksames und unverzichtbares Kriterium für Glauben und Theologie. Zugleich aber reicht solche Erkenntnis für sich nicht aus, um den Glauben zu erzeugen; sie bedarf der Ergänzung durch das gläubige Ergreifen der Bedeutung Jesu für uns in Gestalt eines Werturteils, das an Objektivität empirischer Einsicht nicht nachsteht. Hier zeigt sich eine deutliche Nähe zu den erwähnten Theoretikern des moral sense, obgleich sich Ritsehl dafür unmittelbar auf Kant und Rudolf Hermann Lotze (1817-1881) bezieht. Stärker noch als Schleiermacher unterstreicht Ritsehl die praktische Dimension religiöser Erfahrung. Gott wird erfahren als der, der durch Befreiung des Gläubigen vom Naturzwang sittliche Freiheit ermöglicht. Diese Freiheit drückt sich wiederum aus im liebenden Dienst am Nächsten, letztlich in der Arbeit am Reich Gottes (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) als der durch Liebe hervorgebrachten Gemeinschaft. Wie der Glaube an das Erlösungswerk Christi zwangsläufig Wirken für das Reich Gottes bedeutet, so ist die Aneignung dieses Werks durch den einzelnen nicht von der Erfahrung der Gnade und der durch sie mitgeteilten neuen Handlungsantriebe zu trennen. Diese Erfahrung kann wiederum nicht von der christlichen Gemeinschaft als ihrem Kontext und ihrem unmittelbaren Bezugspunkt getrennt werden. Die Heilung des Individuums und die Formung der Gemeinschaft gehören zum Heiligungswerk des Heiligen Geistes und sind damit selbst Aspekte der Selbstoffenbarung Gottes in Christus. Auf individueller Ebene bringt die -»Heiligung sowohl die spezifisch christlichen Tugenden wie Glauben, Demut und Geduld als auch die sittlichen Tugenden im engeren Sinne hervor, die Ritsehl als Befähigungen zu pflichtmäßigem Handeln in den verschiedenen Lebenskreisen interpretiert. Im einzelnen ergeben sich die sittlichen Tugenden aus typischen Beziehungen, in denen der auf den guten Endzweck gerichtete Wille sich im Charakter und im Handeln manifestiert. Dieser Ansatz führt zu drei großen Gruppen von Tugenden. In der ersten, bestehend aus Selbstbeherrschung, Gewissenhaftigkeit und verwandten Eigenschaften, zeigt sich die auf Treue zum sittlichen Beruf und auf Überwindung der Widerstände gerichtete Willenstätigkeit. Die zweite umfaßt Weisheit, Besonnenheit, Entschlossenheit und Beharrlichkeit; sie ergibt sich aus den Willenstätigkeiten, die das Handeln im Einklang mit jener Berufung bestimmen. Die dritte Gruppe der Tugenden schließlich bezieht das Motiv der Liebe auf die einzelnen Personen, mit denen das Individuum in der Verwirklichung des sittlichen Berufes zu tun hat, und umfaßt Gerechtigkeit, Güte und Dankbarkeit. 7. Neuere

Entwicklungen

In der ersten H ä l f t e des 20. Jh. stieß die Tugendproblematik weder bei katholischen n o c h bei protestantischen T h e o l o g e n auf großes Interesse. Katholischerseits war dies eine Folge der einseitigen Gebotsorientierung der Moraltheologie seit Beginn der N e u zeit. Auf protestantischer Seite dagegen war die Tugendethik, wie wir sahen, ein w i c h tiges T h e m a der T h e o l o g i e des 19. Jh. M i t d e m A u f k o m m e n der N e o - O r t h o d o x i e ( - • D i a l e k t i s c h e Theologie) im frühen 20. Jh. verfiel die Tugendethik jedoch bei vielen protestantischen T h e o l o g e n ebenso der Ablehnung wie manche anderen zentralen T h e men der -»Liberalen T h e o l o g i e Schleiermachers, Ritschis und ihrer N a c h f o l g e r . Für die meisten protestantischen T h e o l o g e n dieser Zeit, o b n e o - o r t h o d o x oder nicht, war die Idee der Tugend aus verschiedenen Gründen fragwürdig. D i e B e t o n u n g der habituellen Disposition hielt m a n für unvereinbar mit d e m wesenhaft freien und bewußten Charakter jeder echten moralischen Handlung. Die Idee der Selbstvervollkomm-

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nung galt im Kern als egoistisch; kritisiert wurde ferner die vermeintliche Annahme einer menschlichen Verdienstmöglichkeit vor Gott. Ebenso erschien das Maß an Autonomie des Subjekts, das sie angeblich voraussetzte, aus reformatorischer Sicht unannehmbar. Ein letztes Argument besagte, daß der Tugendbegriff weder biblisch noch von den Reformatoren positiv aufgenommen worden sei. In jüngster Zeit erwachte jedoch unter katholischen und protestantischen Theologen ein neues Interesse an den Tugenden. Bei dieser „Wende zur Tugend" lassen sich mehrere Momente unterscheiden. 7.2. Das erste gehört in den Zusammenhang der Reformbewegung katholischer Theologen zur Befreiung der Moraltheologie vom Legalismus. Der bekannteste und einflußreichste unter diesen war Bernhard Häring (1911-1998), der mit Das Gesetz Christi (1954) ein neues, epochemachendes Konzept von Moraltheologie in der traditionellen Gestalt eines Moralhandbuchs vorlegte. Für Häring beschränkt sich das sittliche Leben des Christen nicht auf die Einhaltung von Geboten, da es durch seine eigene innere Dynamik auf Stärkung des Bewußtseins der Gegenwart Gottes angelegt ist. Die moralischen Verpflichtungen des gewöhnlichen christlichen Lebens sind darum nicht von einer bestimmten spirituellen Praxis zu trennen, die sonst als eine Angelegenheit der nach höherer Vollkommenheit Strebenden aufgefaßt worden war. Um diesen wechselseitigen Zusammenhang zur Sprache zu bringen, bezieht sich Häring auf die These des Thomas von Aquino, daß die Tugenden, zumal die theologischen, die Prinzipien sind, durch welche die Gnade wirksam wird. Häring war der einflußreichste, aber nicht der einzige katholische Denker, der sich zu dieser Zeit der Tugendethik zuwandte. In ähnlicher Weise suchte der jesuitische Moraltheologe G. Gilleman der thomanischen Lehre von der Liebe als Ursprung des sittlichen und geistlichen Lebens des Christen neue Geltung zu verschaffen. Vergleichbare Interessen zeigen sich bei einer Reihe christlicher Philosophen, Dogmatiker und spiritueller Schriftsteller dieser Periode. In den vierziger Jahren des 20. Jh. veröffentlichte der Thomist J. Pieper eine Serie von Traktaten über die Kardinaltugenden bei Thomas, die unter dem Titel Das Viergespann (1964) weite Verbreitung fanden. Yves Congar (1904-1995) entwarf im Anschluß an die Tugendlehre des Thomas seine Theologie des Laien. Schließlich vertiefte K. -> Rahner mit seinen Arbeiten zur Einheit von Nächstenund Gottesliebe die Einsicht in die Verbindung zwischen dem tugendhaften Leben und der es tragenden Wirklichkeit der Gnade; dieser für seinen theologischen Ansatz entscheidende Zusammenhang prägte weithin die römisch-katholische Theologie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (—•Vatikanum II). 7.2. Ein zweiter Faktor bei der gegenwärtigen Wende zur Tugendethik ist eher philosophischer Natur, verdient aber in diesem Zusammenhang Erwähnung wegen seines weitreichenden Einflusses auf die Theologie vor allem im englischen Sprachraum. Die philosophische Wende begann mit G.E.M. Anscombe (1919—2001), die in ihrem einflußreichen Essay Modern Moral Philosophy (1958) die These vertrat, daß der Gedanke eines Sittengesetzes nach der Preisgabe der Idee eines göttlichen Gesetzgebers sinnlos geworden sei. In dieser Situation plädierte sie für die Rückkehr zu einer aristotelischen Tugendlehre als moralphilosophischer Alternative. A. Maclntyre schloß sich in After Virtue (1981) mit der These an, daß die Moral der Gegenwart von fragmentierten Restbeständen älterer Traditionen lebe und deshalb einem rationalen Diskurs nicht standhalte. Für ihn setzt Kohärenz im ethischen Diskurs eine Tradition voraus, deren konkreten Inhalt die Tugenden ausmachen, die sie empfiehlt, und die Untugenden, die sie verwirft. Durch Maclntyres Werk kam es in der Philosophie zu einer Neubewertung der Tugenden und ihres Bezugs zu den Gemeinschaften, in denen sie entstehen. Unter den Themen im Umkreis der Tugendproblematik, die seit den Veröffentlichungen von Anscombe und Maclntyre besondere philosophische Aufmerksamkeit fanden, waren die Fragen des Charakters, der Natur des Urteils und der moralischen Bedeutung von

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Emotionen oder von besonderen Verpflichtungsverhältnissen, Beziehungen und Rollen. So kam es im Zuge der Bemühung um eine zeitgenössische Philosophie der Tugenden zur Inanspruchnahme und zur Neubelebung der Tugendethik des Aristoteles und anderer antiker Denker sowie von David Hume. 7.3. Zur gleichen Zeit wandte sich die theologische Ethik auf katholischer und protestantischer Seite mit neuem Interesse den Tugenden zu, wofür sich neben den genannten philosophischen Tendenzen noch weitere Einflüsse namhaft machen lassen. Zum Teil erfolgt dieser jüngste tugendethische Aufbruch im Zeichen einer Wiederaneignung der Ethik des Thomas von Aquino vor allem in der katholischen Theologie der englischsprachigen Welt und des Kontinents, die sich dabei eng an die philosophische Aristotelesforschung anschließt und auf die Arbeiten von Häring, Gilleman und auf ältere thomistische Tugendethiker zurückgreift. Dabei lassen sich im wesentlichen drei Ansätze erkennen: Der erste betont den Unterschied zwischen „Tugendethik" und „Regel- bzw. Dilemmaethik" (quandary ethics). Auf dieser Linie bewegt sich das Argument, daß das moralische Leben — zumindest im christlichen Kontext - eher eine Sache tugendhafter Dispositionen und kluger Urteilskraft als strikter Beobachtung von objektiven Regeln sei (Nelson). Ein anderer Ansatz betont stärker die Zusammenhänge zwischen philosophischer Psychologie und Ethik bei Thomas. Hier ist die Tugendethik wichtig als Bezugsrahmen, um den Ort der Erkenntnis, des Willens und der Neigungen im moralischen Leben zu bestimmen (Cates; Porter). Vertreterinnen und Vertreter dieser Richtung pflegen die Bedeutung von Responsivität und Urteilsvermögen im moralischen Leben zu betonen, ohne deshalb objektive Normen für überflüssig oder unwichtig zu erklären. So kommt es zu Überschneidungen mit einer Position, welche die thomanische Tugendethik als Basis für eine Theorie der Struktur der sittlichen Handlung oder für die Erörterung einzelner Tugenden und ethischer Fragen in Anspruch nimmt. 7.4. Ein drittes Moment der tugendethischen Wende ist das neue Interesse, das Vertreter eines klassischen protestantischen Ansatzes vor allem im englischen Sprachraum unter dem Eindruck der skizzierten philosophischen Diskussion der Tugendethik entgegenbringen. Auch in der protestantischen Theologie des Kontinents mit ihrem geringeren Interesse an Tugendethik zeigt sich eine Veränderung. 7.4.1. Unter den englischsprachigen protestantischen Theologen ragt Stanley Hauerwas heraus, für den die Begriffe von Tugend und Charakter und nicht der Gesetzesbegriff den angemessensten Reflexionsrahmen christlicher Ethik bilden. Die Kirche ist nach Hauerwas durch Ideale und eine Praxis ausgezeichnet, die von denen der übrigen Gesellschaft radikal abweichen und auf Gewaltfreiheit, Familien- und Gemeinschaftssolidarität verpflichten. Christliche Ethik reflektiert diese Unterschiede, indem sie nach den Tugenden fragt, die zu einer unterscheidend christlichen Lebensführung befähigen. Hauerwas' Denken, das sich anfangs an Aristoteles und Thomas orientierte, ist maßgeblich beeinflußt durch Maclntyre, durch den mennonitischen Theologen John Howard Yoder (1927-1997) und die jüngsten Versuche einer postmodernen Interpretation des christlichen Glaubens durch Vertreter der radikalen orthodoxen Bewegung. 7.4.2. Neben Hauerwas verdienen zwei weitere protestantische Theologen des englischen Sprachraums Erwähnung. Anknüpfend an Luthers Auffassung von den Kennzeichen des christlichen Lebens bemüht sich G. Meilaender um eine spezifisch lutherische Tugendethik. J. Gustafson ist nach eigener Angabe kein Tugendethiker, doch seine einflußreiche Lehre von der Ehrfurcht vor Gottes Gegenwart und von ihren Manifestationen in verantwortlichem Handeln als Antwort auf Gottes Handeln an uns ist faktisch eine Theologie der elementaren Grundhaltungen bzw. Tugenden des christlichen Lebens. Schleiermachers Einfluß ist nicht zu übersehen, obwohl Gustafson ihm nicht einfach folgt, so daß sein Werk die bedeutendste Weiterentwicklung von Schleiermachers ethischem Ansatz im englischen Sprachraum darstellt.

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7.5. Die bis in die jüngste Zeit zu beobachtende Zurückhaltung der deutschsprachigen Theologie gegenüber dem Tugendthema — eine Auswirkung vor allem der Barthschen Neo-Orthodoxie — hat einem neuen Interesse Platz gemacht, das sich einer Wiederaneignung von tugendethisch bedeutsamen Aspekten lutherischer und reformierter Theologie verdankt. Am bedeutendsten ist vielleicht der Beitrag von K. Stock, der von spezifisch protestantischen Einsichten und Anliegen her einen Zugang zu den Tugenden sucht. Eine den besten Einsichten protestantischer Theologie verpflichtete Tugendlehre hat nach Stock auszugehen vom Erleben der Glaubenden, d.h. der Individuen, welche die Wirkmacht der Gnade Gottes erfahren, und vor allem der gottesdienstlichen Gemeinde. Die katholische Tugendlehre wird trotz wertvoller Einsichten der Erfahrung der Gnade Gottes als affektiver Erfahrung seiner bleibenden Gegenwart nicht gerecht. Ähnlich besteht in der neueren Tugendphilosophie vor allem des deutschen Sprachraums eine Tendenz, Tugend als passive Fähigkeit aufzufassen und nicht als eine mit der Rechtfertigungserfahrung gegebene aktive Responsivität. Dagegen findet sich in reformatorischer Theologie, beginnend mit Luther selbst, eine kontinuierliche Reflexion auf die aktiven Dispositionen, durch die Gottes Gnade im Leben sowohl der Individuen als auch der Gemeinschaft zum Ausdruck gelangt, auch wenn sie nicht immer die Gestalt einer expliziten Tugendlehre angenommen hat. Stock sucht eine solche zu entwickeln mittels einer Tugendethik, die der christlichen Erfahrung in der kirchlichen Gemeinschaft Rechnung trägt. Danach sind Tugenden nicht Haltungen, sondern Manifestationen eines bleibenden Grundgefühls von Gottes Gegenwart. Beim Individuum wurzeln diese Tugenden in einem Grundgefühl der Liebe, das sie wiederum stärken und das selbst eine Erfahrung des ewigen Lebens ist. Auf der Gemeinschaftsebene führen sie zur Ausbildung von Charakterzügen, die als Kennzeichen der Kirche das Leben der christlichen Gemeinschaft in jedem Zeitalter und kulturellen Kontext prägen. Beide Male dient Tugendethik als Schlüssel zur affektiven Dimension der Christusbegegnung, deren grundlegender Bedeutung die neo-orthodoxe Theologie mit ihrer Betonung der unableitbaren Antwort auf Gottes Zusage nicht gerecht werden konnte. Auch Stock ist stark von Schleiermacher und Ritsehl beeinflußt, obwohl sein konstruktiver Vorschlag über letzteren hinausgeht. 8. Ausblick Entgegen einer weitverbreiteten ausschließlichen Identifikation der christlichen Tugendethik mit der aristotelisch-thomistischen Tradition gibt es eine reiche, vielgestaltige Geschichte christlichen Nachdenkens über die Tugenden. Aus zwei Traditionsströmen zumindest hat heutige Theologie neu zu schöpfen begonnen, aus der thomanischen Tugendethik und der reformatorischen Lehre von den charakteristischen Dispositionen des christlichen Lebens. Eine dritte, aus der englischen Theorie des moral sense hervorgegangene Strömung harrt noch der Aneignung als Quelle für die christliche Ethik, wenn einmal das Interesse an den Philosophen des moral sense zunimmt. Im Blick auf den weiteren Entwicklungsgang der christlichen Tugendethik dürfte viel von einem engeren Zusammenspiel der geschilderten Ansätze abhängen. Von dem deutschen Konzept von Tugend als persönlicher affektiver Antwort auf Christus und Unterscheidungsmerkmal der christlichen Gemeinschaft führt eine Brücke zum thomistischen und kommunitaristischen Tugendbegriff des englischen Sprachraums. Ebenso deutet das gemeinsame Schleiermachersche Erbe bei Gustafson und seinen Schülern einerseits, Stock und anderen deutschen Theologen anderseits auf eine Kontaktstelle zwischen Verantwortungsethik dort und Ethik der affektiven Antwort hier. Schließlich eröffnet die Betonung der affektiven Dimension in Stocks Tugendlehre die Möglichkeit einer fruchtbaren Begegnung mit Thomisten, denen es bei der Tugendethik vor allem um einen Ansatz für eine konstruktive moraltheologische Psychologie zu tun ist. Überhaupt kann durch die Beschäftigung mit der Frage der Tugenden etwas von der konkreten

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Jean Porter

Tugendkataloge

Affekt, —•Formgeschichte/Formenkritik, -»Tugend

Turfan- und Tun-huang-Texte 1. Einführung 2. Die Texte der Turfanoase Quellen und Literatur S. 201)

3. Die Texte von Tun-huang

(Anmerkung/

1. Einführung Unter den an der nördlichen Seidenstraße Zentralasiens erzielten archäologischen Ergebnissen sind die Funde in der etwa 1.700 Quadratkilometer großen Oase von Turfan (türk. Turpan, chin. Tulufan) in Xinjiang (auch Chinesisch-Turkistan) und in der chinesischen Grenzstadt Tun-huang (auch Touen-houang, Dunhuang, chin, auch Shazhou, griech. Opoáva) die bedeutendsten. Beide Orte standen in enger, auch schriftlich gepflegter Verbindung, so daß sich einige Texte des einen Ortes auf dem Boden des anderen gefunden haben. Weitere vergleichbare Texte der nördlichen Seidenstraße entstammen den Fundkomplexen Qarasahr, Kuca und Tumsuq-Maralbasi. Gemeinsam haben alle diese Texte, daß sie in den örtlichen Sprachen Zentralasiens und der angrenzenden Großreiche -»Chinas, -»Indiens und des Vorderen Orients geschrieben sind, überwiegend religiösen Inhalt besitzen und meist der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends n. Chr. und der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends entstammen. Schriftträger ist hier wie dort in der Regel das Papier. Was die Turfantexte von den Tun-huang-Texten unterscheidet, ist ihr Erhaltungszustand. Die Turfantexte sind fast ausschließlich Einzelblätter oder Blattfetzen von Codices, Pustaka-Büchern oder Fragmente von Schriftrollen. Die Tun-huang-Texte sind überwiegend ganz oder gut erhaltene Schriftrollen von großem Umfang. Eine weitere Besonderheit Tun-huangs ist die überwiegende Präsenz chinesischer und tibetischer Texte und buddhistischer Werke. Die Turfantexte sind von größerer sprachlicher und inhaltlicher Vielfalt. 2. Die Texte der

Turfanoase

Die meisten Turfanfunde wurden 1902 bis 1914 von vier preußisch-deutschen Expeditionen unter der Leitung von Albert Grünwedel und Albert von Le Coq erzielt (ca. 40.000 Fragmente). Weitere kleinere Funde wurden von japanischen (T. Watanabe, K. Hori, Z. Tachibana, E. Nomura, K. Yoshikawa, als Mitglieder der Expeditionen des Grafen K. Ötani), russischen (u.a. D.A. Klementz, M . M . Berezovskij, N.F. Petrovskij, N.N. Krotkov, V.l. Roborovskij, S.F. Ol'denburg), in geringer Zahl auch von P. Pelliot

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(Frankreich) und M . A. Stein (England) und bis zur Gegenwart von chinesischen (Huang Wenbi, Liu Hongliang) Forschern und Sammlern gemacht. Fragmente mit griechischem Text und in syrischer Sprache, in iranischen Sprachen (Mittelpersisch, Parthisch, Soghdisch, Khotanisch, Tumschuk-Sakisch, Baktrisch, Neupersisch), in Sanskrit und Mittelindisch, zwei Mundarten des Tocharischen, in Alttürkisch (Altuigurisch), Mongolisch, Tibetisch, Tangutisch (Xi-Xia, Hsi-hsia) und Chinesisch wurden gefunden. Nicht geringer ist die Vielfalt der Schriften, die vom griechischen Alphabet (für das Griechische und Baktrische) bis zu chinesischen Charakteren reicht. Dazu zählt eine besondere, für manichäische Texte entwickelte Schrift, eine archaische Form der Pahlavi-Schrift, die soghdische Schrift, aus der die ebenfalls verwendeten uigurischen und mongolischen Schriften entstanden, und die Verwendung türkischer Runen für auf Papier geschriebene Texte. Indische, tocharische, sakische und einige soghdische Texte sind in Varianten der Brähml-Schrift verfaßt, der BrähmT verwandt ist die tibetische Schrift. Der chinesischen Schrift ist die tangutische nachgebildet. Auch einige mongolische Texte in der im 13. Jh. geschaffenen 'Phags pa-Schrift haben sich gefunden. Hervorhebenswerte Ergebnisse der Arbeit an den Turfantexten sind: die Entdeckung von Selbstzeugnissen der untergegangenen manichäischen Religion (—•Manichäismus), der ersten ihrer Art; die Entdeckung bisher (fast) unbekannter, nicht mehr gesprochener Sprachen, vor allem des zur kentum-Y&mWie des Indogermanischen gehörigen Tocharischen (A oder Sprache von Qarasahr, B oder Sprache von Kuca), aber auch kaum bezeugter iranischer Sprachen wie des Parthischen und von Formen des Mittelpersischen, des Soghdischen (und Sakischen). Unter den Turfantexten traten die ältesten Handschriften indischer Dramen (des buddhistischen Dichters Asvaghosa) zutage. Wichtigstes Zeugnis christlicher Präsenz im Turfangebiet sind die in Shui-pang bei Bulayiq gefundenen Texte einer nestorianischen, wahrscheinlich klösterlichen Gemeinde. (Weitere Funde wurden im nahen Qurutqa sowie in und bei Qoco, Tuyoq und Astäna gemacht.) Texte in syrischer (fast 2.000), alttürkischer, mittel- und neupersischer Sprache haben sich dort gefunden. Einzigartig sind Fragmente in soghdischer Sprache und nestorianischer Schrift (etwa 500). Es lassen sich hervorheben: 1) Liturgische Texte: Fragmente syrischer Hüdrä-Bücher, soghdische Übersetzungen der Evangelien und Paulusbriefe aus der Peschitta. Sie entstammen Lektionarien zu den Sonn- und Feiertagen des Jahreskreises, meist in bilingualer, syrischer und soghdischer Folge. Übersetzung der Psalmen nach der Peschitta (auch in mittelpersischer Sprache), eine Übersetzung des —»-Nicäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses, des Gloria in excelsis Deo. 2) Geistliche Lehr- und Erbauungsschriften in soghdischer Sprache: hagiographische Texte (z.B. die Acta Petri [vgl. TRE 3,343,52-344,20]; die Georgslegende; Acta der persischen Märtyrer unter Schapur II.; ausführliche Viten des Serapion Sidonita und des Yöhannän Dailomäyä). Texte mit asketischer Tendenz und über die religiösen Dienstpflichten begleiteten das klösterliche Leben der Gemeinde von Bulayiq, darunter solche ägyptisch-orthodoxer Herkunft, die auch die -»Monophysiten schätzten. In hohem Ansehen stand offenbar Abbä Isa'yä. In jedem Fall liegen Übersetzungen aus dem Syrischen vor (z.B. die Apophthegmata patrum [vgl. TRE 23,153,10ff.]; der Antirheticus des —»Evagrius Ponticus; -»Makarius [Symeon von Mesopotamien] zugeschriebene Werke). 3) Unterhaltende und belehrende Werke vermischten Inhalts: eine Sammlung biblischer Rätsel in soghdischer Sprache, die bisher auf keine fremdsprachige Quelle zurückgeführt werden konnte; eine ätiologische, auch Marco Polo (1254—1324) bekannte Legende in alttürkischer Sprache von der Anbetung des Christuskindes durch die drei Magier, die die Entstehung des zoroastrischen Feuerkultes erklären sollte; soghdische und türkische Omina-Texte, die in einer alten literarischen Tradition stehen; ein medizinisches Rezept. Melkitisch in seinem Ursprung, wenngleich in nestorianischem Milieu (-»-Nestorius/ Nestorianischer Streit) bewahrt, ist eine soghdische Übersetzung des 33. Psalms, der

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die ersten Worte des Textes in griechischer Sprache vorangestellt sind und die zum Teil von der Septuaginta abhängig ist. Zweifellos die größte wissenschaftliche Bedeutung kommt den manichäischen Texten der Turfansammlung zu. Nicht nur ist die in iranischen Sprachen, in alttürkischer, tocharischer und chinesischer Sprache überlieferte manichäische Literatur in der Regel nicht auf eine gleich- oder anderssprachige Quelle zurückzuführen, die Vielfalt der identifizierbaren Werke und literarischen Genres ist auch größer als in anderen manichäischen Textfunden. Durch Textstücke vertreten oder wenigstens im Titel genannt sind fast alle kanonischen Werke Manis (216—274/77), das Lebendige Evangelium, Der Schatz des Lebens, Das Buch der Giganten, Das Buch der Geheimnisse, Briefe und Psalmen Manis und das zwar nicht als kanonisch anerkannte, aber im östlichen Verbreitungsgebiet des Manichäismus sehr viel verwendete, dem Sasanidenkönig Schapur I. (241—272) gewidmete, mittelpersisch geschriebene Säbuhragän. Die Überlieferung der Jünger Manis ist bezeugt durch eine große Zahl von didaktischen Prosawerken, in der Regel von Lehrreden oder Homilien, die nur selten identifizierbar sind. Die Sammlung der Kephalaia hat eine vollständigere Entsprechung in der koptisch-manichäischen Literatur. Auch hagiographische Homilienreihen, die das Leben und die Passion Manis zum Gegenstand haben, finden in der koptischen Überlieferung eine Entsprechung. Auf die ostmanichäische Literatur beschränkt oder in ihr voll ausgebildet sind solche Lehrschriften wie der Sermon vom Licht-Nous oder der Sermon von der Seele. Meisterwerke pointierter Erzählkunst sind die der erbauenden Belehrung wie auch der Unterhaltung dienenden Parabeln, die auch in Parabelsammlungen zusammengefaßt wurden. Eine wichtige Rolle im manichäischen Gemeindeleben spielten Beichttexte. Ihr bedeutendster, das alttürkisch und soghdisch überlieferte Xwästwäntft, ist ein Bekenntnistext für die Laienhörer, neben dem ein Bekenntnistext für die Electi existierte. Die metrische Versdichtung ist durch eine große Zahl von Hymnen und Hymnensammlungen vertreten. Eine Sonderstellung nehmen die sog. Hymnenzyklen ein, deren bedeutendste, die parthischen Werke Huyadagmän und Angad rösnän, zu den schönsten Beispielen religiöser Lyrik der Manichäer gehören. Die manichäische Literatur Zentralasiens ist in der Zeit vom 8. bis zum 11. Jh. bezeugt. Zu ihren späten Erzeugnissen gehören Prosawerke in neupersischer Sprache. (Ebenso sind gewiß die wichtigsten Werke der christlichen Literatur zu datieren.) Vom Leben der manichäischen Gemeinden in Zentralasien zeugen nur wenige Briefe, Dokumente, Kalender-, Wort- und Lernlisten. Die Sammlung buddhistischer Texte ist die größte unter den Turfanfragmenten. Ihr gehören Werke in altindischer, tocharischer, chinesischer, alttürkischer, mongolischer, tibetischer und soghdischer Sprache an. Daß die Gemeinde von Turfan, wenigstens in ihrer Mehrheit, dem Mahäyäna folgte, ist gewiß. Schulen wie die „Lehre vom Reinen Land" oder die Chan (Zen)-Lehre gehören unbedingt dazu. Aber daneben hat sich eine so große Zahl von Htnayäna-Texten gefunden, daß die Rolle dieser Richtung in Turfan zu einem klärungsbedürftigen Problem wird. In mongolischer Zeit gelangten tantrische Texte in die buddhistische Literatur von Turfan. Die neben den chinesischen Fragmenten in Turfan bedeutenden Gruppen der uigurischen und soghdischen Texte wurden überwiegend aus dem Chinesischen, zu einem geringen Teil aus anderen Sprachen wie dem Tocharischen oder Tibetischen übersetzt. Generell kann die Gesamtheit der buddhistischen Turfantexte gegliedert werden in: 1) nicht-mähäyanistische Texte (Agama-Texte, der Udänavarga der Sarvästivädins, die Mönchsregeln der Karmaväcanä und des Prätimoksa, Jätaka-Texte, Buddha-Legenden usw.); 2) Mahäyäna-Sütras (hervorzuheben sind das Mahäyänamahäparinirvänasütra, von den letzten Tagen und dem Ende des Buddha handelnd; das Saddharmapundartkasütra [Lotos-Sütra]; das Suvarnaprabhäsottamasütra [Goldglanz-Sütra]; das Vimalaktrtinirdesasütra [Sütra von Vimalaklrtinirdesa]; eine vielfältige Prajnäpäramitä-Liteiatur);

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Turfan- und Tun-huang-Texte

3) Kommentare (z.B. Abidharma-Texte); 4) apokryphe, d. h. nicht auf indische Ursprünge zurückgehende Texte (z. B. das uigurische Abitakisütra; der große Beichttext Ci bei dao chang chan fa [chin.], Ksanti q'ilyuluq nom bitig [uigurisch], „Das Beichtbuch-Sütra"). Die zentralasiatischen buddhistischen Texte lassen sich in die Zeit vom 5. bis zum 14. Jh. datieren. 3. Die Texte von

Tun-huang

Tun-huang spielte seine historische Rolle in der Zeit vom 2. Jh. n. Chr. bis zum 11. Jh. als Grenzstadt des eigentlichen China am westlichen Ende der Großen Mauer und des nach Zentralasien führenden Gansu-Korridors. In dieser Zeit war es überwiegend in chinesischer, doch auch in tibetischer und uigurischer Hand oder wurde von chinesischen Lokalherrschern regiert. Wie Turfan war Tun-huang ein Treffpunkt von Reisenden vieler Nationalitäten und Religionen und entwickelte sich zu einem Zentrum des buddhistischen Kultes. 366 n. Chr. errichtete der buddhistische Mönch Lezun die erste Eremitenhöhle in einer heute Mogao ku (chin.), „Grotten von überragender Höhe", und Qianfo dong (chin.), „Höhlen der tausend Buddhas", genannten Felswand von etwa 1.000 m Länge 19 km südöstlich der Stadt Tun-huang. Seine Gründung zog weitere Mönche an, und zwischen 581 und 960, aber auch noch bis zur Zeit der Qing-Dynastie (1644 bis 1911), entstanden zahlreiche weitere Eremitenhöhlen und Felsentempel von großer Vielfalt, von denen heute noch 492 existieren. Neben den vielen Höhlen, die durch ihre Wandmalereien für die Kunstgeschichte von unvergleichlicher Bedeutung sind, ist für die Handschriftenfunde von Tun-huang vor allem die Höhle 17 wichtig geworden. Sie erwies sich als ein wahrscheinlich um das Jahr 1035 zugemauertes Archiv von Schriftrollen. Die Zahl der in die Höhle eingelagerten und im Jahre 1900 von dem Dao-Priester Wang Yuanli nach fast tausendjähriger Unberührtheit wiederentdeckten Objekte wird auf bis zu 50.000, die der Manuskripte auf 30.000 bis 40.000 geschätzt. Darunter befinden sich Rollen aus mehr als 80 und 90 Blatt Papier und von bis zu 36 m Länge und kleine Fetzen von der Art der Turfantexte. Zahlreiche Werke waren als Rollenbündel eingelagert. Ein weiterer Höhlenkomplex (der sog. B-Höhlen), in dem ebenfalls Textfunde gemacht wurden, befindet sich nördlich von Tun-huang, und Texte (u. a. die sog. soghdischen Alten Briefe) wurden in Wachttürmen an der Großen Mauer bei Tun-huang gefunden. Nach der Entdeckung der Manuskripte in der Archivhöhle 17 von Tun-huang durch Wang Yuanli erhielten im ersten und zweiten Jahrzehnt des 20. Jh. europäische Wissenschaftler wie M. A. Stein (1907), P. Pelliot (1908) und S.F. Ol'denburg (1914-1915) und die japanischen Forschungsreisenden Z. Tachibana und K. Yoshikava (1912) Zugang zu den Handschriftenschätzen und konnten große Mengen davon erlangen (Stein 11.000, Pelliot 7.000, Ötani-Mission 100, Ol'denburg 10.000 Manuskripte), so daß heute der Gesamtbestand zwischen der British Library (London), der India Office Library (London), der Bibliothèque Nationale (Paris), der Sammlung des Institut Vostokovedenija der Rossijskoj Akademii Nauk (St. Petersburg), der Ötani-Sammlung der Ryükoku-Universität Kyoto, dem Nationalmuseum in Peking (etwa 10.000 Manuskripte) und anderen Orten aufgeteilt ist. Aber auch 1919 entdeckte eine chinesische Kommission Handschriften außerhalb der Höhle 17, und 1949 wurden Texte in einer Statue sichergestellt, die Wang dort offenbar versteckt hatte. Allerdings müssen insofern von der Gesamtzahl der heute bekannten Tun-huang-Texte Abstriche gemacht werden, als zahlreiche chinesische Fragmente sich als Fälschungen erwiesen haben. Zu den nach 1035 entstandenen Texten gehören die zahlreichen tangutischen Manuskripte. Die chinesischen Stücke bilden die Mehrheit des Gesamtbestandes der Tun-huangTexte. Von ihnen sind über 1.000 Manuskripte datiert. Das früheste wurde 406 kopiert, das jüngste 1002, d.h. kurze Zeit, bevor der Buchdruck sich in China durchsetzte (aber

Turfan- und Tun-huang-Texte

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auch der erste bekannte chinesische Druck, eine Übersetzung des Vajracchedikasütra vom 11. Mai 868, befindet sich unter den Tun-huang-Funden). Vielleicht ist dies der Grund, daß ältere Handschriften in großer Zahl aus dem Gebrauch genommen und pietätvoll im Archiv der Höhle 17 entsorgt wurden (so M.A. Stein und A. Fujieda, anders P. Pelliot: die Texte sollten vor den erobernden Tanguten verborgen werden). Die meisten chinesischen Texte sind Abschriften bekannter buddhistischer Sütras, die sich mit Werken des Taishö-Tripitaka identifizieren lassen, doch haben sich auch apokryphe Schriften, Zeugnisse der Volksreligion, Erzählungstexte (die sog. Transformationstexte), Wahrsagebücher usw. gefunden. Rarissima sind die bedeutendsten Werke des chinesischen Manichäismus, das Kompendium der Lehren und Lehrweisen der Verkündigung Manis, des Licht-Buddhas, der sog. Traité Pelliot, d. h. die chinesische Version des Sermons vom Licht-Nous, und die sog. chinesische Hymnenrolle („Der untere [zweite?] Teil der manichäischen Hymnen"). Ein weiterer großer Teil der Sammlung besteht aus tibetischen Texten, darunter eine etwa 800 n. Chr. geschriebene Chronik, die für die Geschichte Tibets in den Jahren von 640 bis 763 von Bedeutung ist. Neben buddhistischen Werken, die auf indische oder chinesische Quellen zurückgehen, stehen Zeugnisse der alten tibetischen Bonpo-Religion. Aber auch Alltagsschriften des 8. und 9. Jh., die die tibetischen Soldaten und Kolonisten hinterlassen haben, Briefe, Verträge, zweisprachige Wortlisten usw., sind zu nennen. Von den uigurischen Texten sind die meisten buddhistischen Inhalts. Hervorhebenswert sind Fragmente des Jätaka von den zwei Prinzen und des Aranemi-Jätaka sowie zahlreicher Sütras wie z. B. des Sukhävativyüha-sütra und des Säkiz yükmäk yaruq („Die acht GlanzAnhäufungen"). Auch manichäische Texte haben sich gefunden und Briefe, Rechnungen und Kalenderfragmente. Alle diese Texte werden in das 10. und 11. Jh. datiert. Die etwa 65 oder mehr buddhistisch-soghdischen Fragmente sind in der Regel gut erhaltene, sorgfältig geschriebene Sütra- oder Jätaka-Stücke größeren Umfangs, wie z. B. das Sütra der Ursachen und Wirkungen oder das Vessantara-Jätaka, mit dessen Bearbeitung durch Robert Gauthiot die Erschließung des Buddhistisch-Soghdischen begann. Stellen sie Zeugnisse der klassischen soghdischen Sprachphase dar (7.-9. Jh.), so bezeugen acht Dokumente und Briefe das Soghdische in einer Spätform (9.-11. Jh.), die unter starkem lexikalischem und sogar syntaktischem Einfluß des Alttürkischen stand. Die etwas mehr als 100 khotanischen Fragmente gehören der Spätzeit dieser Literatur (Ende des 9., 10. Jh.) an. Sie bestehen großenteils aus Übungen, Alphabeten und Versbriefen, auch einem chinesisch-khotanischen Gesprächsbuch, aber auch aus literarischen Texten (die Räwa-Erzählung, das buddhistische Sudhanävadäna). Die Textfragmente in Sanskrit, meist Dhärants und dem 9. oder 10. Jh. entstammend, sind von geringerer Bedeutung. Geringe Hinweise haben sich auf eine christliche Präsenz in Tun-huang gefunden. In den spätsoghdischen Briefen heißen Personen David (t'wyô), Georg (yw'r-k's) und Sergius (srkys), was darauf schließen läßt, daß sie Christen waren. Ein Fragment eines soghdischen Orakelbuches nennt den Apostel Simon (-»Petrus). In der Handschriftensammlung des Dunhuang Research Institute befindet sich ein syrisches Blattfragment einer Epistelperikope (Gal 3 , 7 - 1 0 ; I Kor 1,18—19), die dem 13./14. Jh. zugewiesen wird und dann nicht zum Bestand der Höhle 17 gehört haben kann. Bei Beng/Wang (382-390) wird ein syrisches Fragment eines Psalterlektionars veröffentlicht (Tafeln 19 und 20), das Ps 15,2-4; 1 7 , 1 - 4 ; 2 1 , 1 - 3 ; 2 3 , 1 - 4 ; 2 4 , 1 - 5 ; 2 5 , 1 - 5 und 2 8 , 1 - 5 enthält. In Turfan und in noch größerem Maße in Tun-huang wurden zahlreiche Höhlenwandinschriften gefunden, die oft auch Stifternamen enthalten.* Anmerkung * Für wertvolle Hinweise und Hilfe danke ich meinen Kollegen Simone Raschmann, Christiane Reck und Peter Zieme.

202 Quellen und

Turfan- und Tun-huang-Texte Literatur

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In der großen chinesischen Reihe von Faksimile-Reproduktionen des Shanghai Chinese Classics Publishing House (Shanghai Guji Chubanshe) sind gegenwärtig erschienen: 1. Dunhuang Manuscripts in Russian Collections, Shanghai 1 9 9 2 - 2001 [17 Bde., abgeschlossen]; 2. Dunhuang and Other Central Asian Manuscripts Collected in France, Shanghai 1995 - 2000 [13 Bde., nicht abgeschlossen]; 3. Dunhuang Manuscripts Collected in Peking Univ. Library, Shanghai 1995 [2 Bde., abgeschlossen]; 4. Dunhuang-Turfan Manuscripts Collected in Shanghai Museum, Shanghai 1993 [2 Bde., abgeschlossen]; 5. Dunhuang Manuscripts Collected in Tianjin Arts Museum, Shanghai 1996-1998 [7 Bde., abgeschlossen]; 6. Dunhuang-Turfan Manuscripts Collected in Shanghai Library, Shanghai 1999 [4 Bde., abgeschlossen]. - Hinzu kommen Editionen von Manuskripten aus Qara Khoto und von Kunstgegenständen des Ermitage-Museums St. Petersburg. Über aktuelle Neuerscheinungen, Tagungen u. Ausstellungen zu Tun-huang u. Turfan informiert laufend: IDP News (Newsletter of the International Dunhuang Project), 1 (1994) ff. - Vgl. auch die Internetadresse http://idp.bl.uk/idp/idpdatabase.html. - Die Berliner Turfantexte werden über Internet zugänglich gemacht unter der Adresse http://www.bbaw.de/vh/turfan/digital. 2. 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Tyconius

203

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Tyconius (spätes 4. Jb.) 1. Leben 1.

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 207)

Leben

Über das Leben des donatistischen Exegeten Tyconius (handschriftlich auch als Tichonius und in weiteren Formen überliefert) ist kaum mehr bekannt, als daß seine radikalen Anschauungen ihn in Gegensatz zu dem Oberhaupt der donatistischen Kirche, Bischof Parmenian von Karthago (362-393), brachten (vgl. T R E l,658f.), als dessen Zeitgenosse er daher gelten muß. Nach -»Gennadius (vir. 18) war er auch Zeitgenosse von -»Rufin von Aquileia und wirkte während der späteren Jahre der Regierungszeit Augustin erwähnt ihn erstmals 396 (ep. 41,2) und spricht —»Theodosius I. des Großen. nirgends von ihm als einem noch Lebenden. Durch eine briefliche Zurechtweisung Parmenians, deren Inhalt lediglich aus ihrer um 400 verfaßten Bestreitung durch Augustin (Contra Epistulam Parmeniani) bekannt ist, ließ sich Tyconius nicht beschwichtigen. Daher wurde er laut Augustin (Parm. 1,1,1) von einem donatistischen Konzil verurteilt. Parmenian erkannte, daß Tyconius in wesentlichen Punkten in Gegensatz zu überkommenen donatistischen Auffassungen geriet. Er rief ihn daher auf, sich nicht aus freien

204

Tyconius

Stücken auf die Seite der Katholiken zu stellen, in deren Reihen ihn die Verfolgung nicht hatte zwingen können (Parm. 1,1,1; 111,6,29). Augustin war aus polemischen Gründen darauf bedacht, Tyconius' Abgehen von der donatistischen Lehrnorm für seine Seite auszuwerten, und warf ihm mangelnde Konsequenz vor, da er Donatist blieb, obwohl seine Auffassungen offenbar in wesentlichem Umfang der katholischen Seite entgegenkämen (doct. ehr. 111,30,42). Es besteht jedoch kein Anlaß anzunehmen, Tyconius sei je etwas anderes als Donatist gewesen (zum Donatismus vgl. TRE 1,654-668). Eben unter diesem Vorbehalt steht auch die nachträgliche Anerkennung, die Augustin und Gennadius seiner Befähigung und Bildung, seiner exegetischen Gewandtheit und seinem Interesse an kirchlichen Fragen entgegenbringen (Augustin, Parm. 1,1,1; doct. ehr. 111,30,43; Gennadius, vir. 18). 2. Werk 2.1.

Bestand

Gennadius führt vier Schriften von Tyconius auf. Eine davon ist dank einer wohlwollenden, wenn auch nicht uneingeschränkten Empfehlung Augustins erhalten, allerdings nicht vollständig, der Liber Regularum, „Regeln" für die Schriftauslegung (doct. ehr. 111,30,43). Da es mitten in einer Anführung abbricht, könnte die unvollständige Überlieferung auf einen zufälligen Blattverlust zurückgehen (ed. Burkitt 85; Monceaux V, 181). Augustins kritische Zusammenfassung in De doctrina christiana (111,30,42111,37,56) hält sich nicht genau an die Vorlage. Sie vereinfacht stark und bringt biblische Textbeispiele, die im überlieferten Liber Regularum nicht begegnen, sondern wohl anderen Schriften des Tyconius entnommen sind (Dulaey, Règle). Tyconius' Kommentar zur Apokalypse ist nicht mehr erhalten. Versuche, ihn aus Apokalypsekommentaren katholischer Schriftsteller wiederzugewinnen, die ihn auswahlhaft unmittelbar benutzt haben, insbesondere aus den Kommentaren von -»Caesarius von Arles, Primasius von Hadrumetum (amtierte zwischen 550 und 560), -»Beda Venerabiiis und Beatus von Liebana (8. Jh.), haben nur zu sehr begrenzten Ergebnissen geführt (Steinhauser, Apocalypse 2). Diese katholischen Schriften haben Tyconius ausnahmslos nach dem Vorbild Augustins im katholischen Sinn umgedeutet, und man kann daher nur selten sicher sein, aus ihnen den ursprünglichen Wortlaut des Tyconius wiedergewinnen zu können. Primasius äußert sich offen über das Ausmaß seiner Umdeutung (in Apoc. Prologus: CChr.SL 92, Z. 7 - 1 0 ) . Es ist jedoch denkbar, daß Beda und Beatus infolge ihres zeitlichen und räumlichen Abstandes zum donatistischen Streit sich der donatistischen Vorlage gelegentlich enger angeschlossen haben. Beda führt sie, wenn auch nicht sehr häufig, unmittelbar an, und Beatus hat an einzelnen Stellen Bezüge zu ihrem nordafrikanischen Umfeld beibehalten, allerdings nicht notwendig auch in ihrer ursprünglichen Form. Deutlich aber ist, daß Tyconius' Kommentar für die Schriftauslegung der abendländischen Kirche großes Gewicht hatte und daher trotz seines Donatismus und trotz der Verfügbarkeit katholischer Fassungen noch lange nach dem Tod seines Verfassers immer wieder abgeschrieben wurde. Verschiedentlich ist auch eine Überlieferung echter Fragmente des Werkes erörtert worden. Allerdings gelten die sog. Turiner Fragmente, ein Stück aus einem Apokalypsekommentar in einer Handschrift aus Bobbio aus dem 10. Jh., nicht mehr als echt; doch die ins 9. Jh. datierten, lediglich Apk 6,6-13 abdeckenden Budapester Fragmente sind in neuerer Zeit als tyconisch eingeschätzt worden (ed. Lo Bue/Grimshaw; ed. Gryson).

Von den beiden übrigen Tyconius zugeschriebenen Werken führt Gennadius nur die Titel De bello intestino und Expositiones diversarum causarum an und vermerkt dazu, sie seien zur Verfechtung des Donatismus geschrieben (vir. 18). Darüber hat man Tyconius noch eine fälschlich unter den Namen des —>Optatus von Mileve gestellte Predigt zuweisen wollen, die unzutreffend In natali sanetorum innocentium überschrieben, ihren Eingangsworten nach aber eine Predigt über das Weihnachtsfest ist (PLS 1,289-94). Ein wahrscheinlicher tyconischer Einfluß bedeutet aber nicht notwendig auch eine tyconische Verfasserschaft (Romero-Pose, Ticonio).

Tyconius 2.2.

205

Inhalt

2.2.1. Exegese. Der Uber Regularum, das erste christliche exegetische Lehrbuch (—•Schriftauslegung), war zweifellos durch die gegebenen Verhältnisse veranlaßt. In der gespaltenen afrikanischen Kirche führte jede Seite die Schrift in ihrem eigenen Sinn an. Sollte eine Frage auf biblischer Grundlage geklärt werden, bedurfte es daher objektiver Deutungsmaßstäbe. Tyconius' Schrift sucht solche M a ß s t ä b e an die H a n d zu geben, bleibt zugleich aber auch d e m D o n a t i s m u s verpflichtet. Dabei zeigt sie einen beachtlichen Sachverstand und eine bemerkenswerte Originalität. W i e andere Exegeten behauptete er, der Sinn der heiligen Schrift bleibe vor unwürdiger N a c h f r a g e absichtsvoll verborgen, erschließe sich aber hinreichend Urteilsfähigen (ed. Burkitt 1,1—9). D a die Worte der Schrift sich an die Christen insgesamt als Gottes Volk v o n alters her richteten, behauptete Tyconius in A u f n a h m e eines zentralen paulinischen Gedankens, d a ß die gesamte Schrift im Blick auf die -»Kirche als den Leib Christi zu verstehen sei. Dementsprechend stellt er sieben Regeln auf, die zusammen ein geschlossenes Deutungssystem bilden: 1) De domino et corpore eius unterscheidet, wann die Schrift sich auf Christus, das Haupt, und wann sie sich auf seinen Leib, die Kirche, bezieht wie im Fall des Steines (Christus), der zu einem Berg (der Kirche) wird und die ganze Erde erfüllt (vgl. Dan 2,35 f.; ed. Burkitt 2-3). 2) De domini corpore bipertito unterscheidet zwischen den beiden Teilen des Leibes, die von den wahren und den falschen Brüdern, von denen zur Rechten und denen zur Linken, gebildet werden (vgl. Mt 25,33; ed. Burkitt 8,5-10). Zahlreiche scheinbare Widersprüche, etwa wenn es von demselben Volk heißt, es kenne Gott und es kenne ihn nicht, lösen sich daher auf, wenn man beachtet, daß derselbe Leib häufig entweder in Gestalt des einen oder des anderen seiner beiden Teile angesprochen wird (ed. Burkitt 11,15f.). 3) De promissis et lege nimmt zur Kenntnis, daß Gottes Verheißungen und Gebote sich nicht an den einen oder den anderen Teil richten, sondern an beide Teile mit unterschiedlichen, durch den Glauben bestimmten Wirkungen (ebd. 23,27f.). So hat Gott -•Abraham „alle Völker" verheißen, eine Verheißung, die sich in der Kirche erfüllt, aber nicht durch die rein äußerliche Ausbreitung der Kirche über die ganze Welt, vielmehr in Abrahams geistlicher Nachkommenschaft, nicht jedoch in seinen fleischlichen Nachkommen, der Nachkommenschaft des Gesetzes, deren mangelnde Lauterkeit sie trotz äußerlicher Angepaßtheit zu falschen Brüdern in der Kirche macht (ebd. 24f.). 4) De genere et specie erkennt bestimmten Menschen, Orten oder Ereignissen eine allgemeine Bedeutung zu, in der die Kirche in ihrem guten oder schlechten Teil oder in beiden Teilen in den Blick kommt (ebd. 39,27-29). 5) De temporibus behauptet aufgrund einer Untersuchung biblischer Zeit- und Zahlbegriffe, daß diese in bezug auf die Kirche eine zeichenhafte und keine wörtliche Bedeutung haben (signa sunt enim non manifestae definitiones, ebd. 65,29f.). Bezeichnungen von Unterteilungen der -»Zeit können in der Schrift im Sinn einer Synekdoche als Bezeichnung für das Ganze verstanden werden (ebd. 55,1-5). So bezeichnet in der biblischen Erzählung von den sieben mageren und sieben fetten Jahren (vgl. Gen 41,25-32) die für Vollkommenheit stehende Zahl sieben die gesamte Zeit der Kirche von der Passion Christi bis zum Ende der Zeit und zeigt dabei bildhaft jeweils ihren geistlichen Zustand in ihren beiden Teilen an (ed. Burkitt 64,10-16). 6) De recapitulatione zeigt, daß eine fortlaufende Erzählung häufig von einer Wiedervergegenwärtigung auf unterschiedlichen Zeitebenen durchsetzt ist, die an Zeitbegriffen oder Hinweisen auf situative Entsprechungen erkennbar wird (ebd. 66,13f.). So treffen Anweisungen für den mit dem „Tag" des Auszugs Lots aus Sodom gleichgestellten „Tag", an dem der Herr sich offenbaren wird (vgl. Lk 17,29-32), eher für die gegenwärtige Kirche als für das Ende der Zeiten zu, weil die gesamte Spanne der Zeit sozusagen im Begriff „Tag" zusammengefaßt ist (ed. Burkitt 66,15-67,6). 7) De diabolo et corpore eius setzt einen Kontrapunkt zur ersten Regel, insofern der -»Teufel und seine Anhänger ebenfalls als ein „Leib" bezeichnet werden können (ebd. 70,11-13). Diese letzte Regel macht deutlich, welche biblischen Texte auf den Teil des Leibes des Teufels zutreffen, der in der Kirche zugegen ist, insofern falsche Brüder in ihr eher dem Teufel als Christus anhängen. Es ist aufgewiesen worden, daß Tyconius in allen sieben Regeln, vor allem aber in den Regeln 4, 5 und 6, für seine Absicht auf eingeführte grammatische und rhetorische Grundsätze zur Unterscheidung zwischen Art und Gattung, zur Synekdoche und zur recapitulatio zurückgreift (vgl. Quintilian, inst. VIII,6,19; Pollmann, La genesi). Sein Bemühen um Objektivität zeigt sich daran, daß die Anwendung seiner Regeln nach seiner Uberzeugung von der Vernunft geleitet wird (sola ratio discernit, ed. Burkitt 1,20; vgl. 2,13; 3,13; 8,8 und an weiteren Stellen), auch wenn dabei die apostolische Autorität (ebd. 3,2f.), die göttliche Gnade (ebd. 4,11-15) und der -»Glaube (ebd. 26,23-28) eine gewichtige Rolle spielen. Allerdings macht er sich auch den Grundsatz zu eigen, daß der Glaube dem Verstehen vorauszugehen hat (dabit rationem fides, ebd. 26,25 f.).

20 6

Tyconius

2 . 2 . 2 . Theologie. Sichere Aussagen über Tyconius' Auffassungen lassen sich nur aus dem Liber Regularum unter vorsichtiger H i n z u n a h m e von Fragmenten aus seinem verlorenen A p o k a l y p s e k o m m e n t a r gewinnen. E r hat eine durchgreifende Revision der überk o m m e n e n abendländischen - » E s c h a t o l o g i e und Ekklesiologie ( - » K i r c h e ) unternommen. Die Wiederkunft Christi, deren Zeitpunkt allein Gott kennt, ist für Tyconius nicht nur das endgültige Kommen Christi als des Hauptes in Herrlichkeit, sondern auch das Kommen seines Leibes, der Kirche: In der Wiedergeburt und im Leiden seiner Glieder kann man Christus jetzt „wiederkommen" sehen (ed. Burkitt 4,15-31). Hier wie auch im Apokalypsekommentar weist er den überkommenen westlichen -»Chiliasmus ab. Er bezieht die „erste und zweite Auferstehung" (vgl. Apk 20,6) jeweils auf das Leben im Glauben und auf das jüngste Gericht (ed. Burkitt 36f.; vgl. Gennadius, vir. 18). Desgleichen begegnet der -»Antichrist in allen, die sich Christus widersetzen, samt dem Teufel als ihrem Haupt; völlig an den Tag gebracht und niedergeworfen werden sie erst am Ende, doch ihre derzeitige Gegenwart innerhalb der Kirche zeigt sich in aller Deutlichkeit an der im Namen Christi geführten Verfolgung (ed. Burkitt 5,1-10; 67,10f.; 68,16-29; vgl. Beda, Explanatio Apocalypsis, Epistula ad Eusebium [PL 93,132]). Die Kirche ist somit der Ort, an dem der Kampf zwischen Christus und dem Teufel fortgeführt wird und an dem er schließlich auch seinen endgültigen Abschluß findet (ed. Burkitt 46,22f.; 48,5-8). Dementsprechend ist auch die verheißene tausendjährige Herrschaft Christi und seiner Heiligen hier auf der Erde zu verstehen: Die Macht und List des Teufels werden durch die Heiligen überwunden, und man kann daher sagen, daß Christus sieghaft herrscht. Er kommt jetzt in unsichtbarer Herrlichkeit, doch sein Kommen am Ende der Tage wird sich in vollem Glanz zeigen (ebd. 4,21-23). Wenn aber Tyconius denen entgegentritt, die bestreiten, daß die Kirche in ihrer Ausdehnung universal ist, und behauptet, daß sie moralisch eine gemischte Körperschaft ist, macht er sich damit nicht unbedingt auch die von Augustin eingenommene katholische Einstellung zu diesen Fragen zu eigen (Parm. 1,1,1; vgl. ed. Burkitt 2 , 1 8 - 2 1 ; 29,29). Der für -»Cyprian, Parmenian, Optatus und Augustin so bedeutsame Begriff comtnunio fehlt in seinen Erörterungen ganz (Ratzinger). Was für ihn zählt, ist die moralische Unterscheidung, die zur Einteilung der Menschen in zwei Kategorien führt. Das Verständnis der Kirche, das er der Schrift abgewinnt, führt offenbar über die Grenzen der herkömmlichen Ekklesiologie und kategorialen Unterscheidung hinaus und umfaßt die Christenheit als Ganzes: Sie ist ein Leib im Vollzug einer geistlichen oder moralischen Aufteilung in zwei Teile (oder zwei Leiber), den Christi und den des Teufels, die jedoch vorläufig zu einem vermengt sind (ed. Burkitt 10,13f.; 26,13f.). Demgemäß unterscheidet er zwischen denen, die „dem Augenschein" oder „dem Namen nach" zu Christus gehören, und denen, die es von „Herzen" und aus „Willen" heraus tun (ebd. 8,18-23; 24,23-29). Diese werden auf wesentlich paulinische Weise bestimmt als diejenigen, die im Glauben gerechtfertigt sind und sich dementsprechend zu leben bemühen, aber letztendlich doch an Gottes Güte und Gnade gewiesen bleiben (sola gratia per fidem [vgl. Eph 2,8-10], ed. Burkitt 15,19; 21,3f.). Demgegenüber reicht der Kreis der falschen Brüder von den Verfolgern ihrer Mitchristen bis zu denen, die sich äußerlich, eher aus Furcht als aus Glauben, den Forderungen des Gesetzes (-»Gesetz) anpassen (ebd. 24,23-25,6; vgl. 6 8 , 1 6 - 2 9 ) .

3.

Wirkung

Mindestens bis ins 9. J h . hat Tyconius durch seinen Liber Regularum und seinen A p o k a l y p s e k o m m e n t a r unmittelbaren Einfluß auf die abendländische Exegese gehabt. J o h a n n e s - » C a s s i a n u s , - » C a e s a r i u s von Arles, Quodvultdeus von K a r t h a g o (gest. n a c h 4 5 3 ) , J o h a n n e s Diaconus (nach 5 5 4 ) , Primasius von H a d r u m e t u m , -»Isidor von Sevilla, Beda Venerabiiis, Ambrosius Autpertus (gest. 7 7 8 ) und Beatus von Liebana zeigen, wie weit er gelesen wurde. Seine bedeutendste W i r k u n g aber hat er mittelbar durch Augustin geübt. In einer für den pelagianischen Streit entscheidenden F r a g e ist Augustin mit der Aussage, der Glaube selbst sei Gottes G a b e , der Sicht des donatistischen E x e g e t e n gefolgt, ist dabei allerdings weiter gegangen als dieser (doct. ehr. 111,33,46; vgl. ed. Burkitt 1 9 , 2 7 2 9 : omne opus nostrum fides est [vgl. J o h 6 , 2 9 ] ; Fredriksen, D i c h o t o m y 9 9 - 1 0 3 ) . Seine Eschatologie hat er in wesentlichen Z ü g e n nach dem Vorbild von Tyconius umgebildet (civ. X X , 7 , 1 ; Folliet; Fredriksen, Apocalypse 157). Seine ausdrücklichen Rückverweise und Empfehlungen (doct. ehr. 111,30,43; ep. 4 1 , 2 ; 2 4 9 , 1 ; retract. 2 , 1 8 [44,4]) lassen allerdings k a u m erkennen, in welchem U m f a n g er tatsächlich Tyconius verpflichtet w a r ; denn häufig hat er das, was er von ihm ü b e r n a h m , mit feinen Strichen in kennzeichnender

Tyconius

207

Weise umgeformt. De civitate Dei hat sich unzweifelhaft von Tyconius anregen lassen. Doch behält Augustin, wenn auch mit Abwandlungen gegenüber den Auffassungen seiner Vorgänger Cyprian und Optatus, die Vorstellung einer katholischen Gemeinschaft mit scharfen Grenzziehungen gegenüber Schismatikern bei. Sie fügt sich nicht zu dem von Tyconius entworfenen Bild einer weltweiten Kirche, die alle Christen umfaßt, die dabei nur nach dem Maßstab des sie zukünftig treffenden Urteils unterschieden werden. Quellen Ambrosius Autpertus, Commentarius in Apocalypsin, ed. Robert Weber, 1975 (CChr.CM 2727A). - Aurelius Augustinus, Contra epistulam Parmeniani, ed. Michael Petschenig, 1908 (CSEL 51). - Ders., De doctrina christiana, ed. William MacAllen Green, 1963 (CSEL 80). - Ders., Epistulae, ed. Alois Goldbacher, 1895-1923 (CSEL 34.44.57.58). - Beatus [a Liebana], In Apocalypsin libri duodecim, ed. Henry Arthur Sanders, 1930 (PMAAR 7). - Ders., Commentarius in Apocalypsin, ed. Eugenio Romero-Pose, 2 Bde., Rom 1985 (Scriptores Graeci et Latini consilio Academiae Lynceorum editi). - Beda Venerabiiis, Explanatio Apocalypsis: PL 93,129-206. - Caesarius Arelatensis, Opera Omnia, ed. Germain Morin, Maredsous, II 1942, 209-277 [ps.-augustinische Predigten zur Apk]. - Gennadius von Marseille, De uiris illustribus, ed. Ernest Cushing Richardson, 1896 (TU 14/1). - Optatus, Sermo in natali sanctorum innocentium, ed. André Wilmart, Un sermon de Saint Optât pour la fête de Noël: RevSR 2 (1922) 270-302 = PLS 1,289-294. - Primasius von Hadrumetum, Commentarius in Apocalypsin, ed. Arthur W. Adams, 1985 (CChr.SL 92). - PseudoCyprianus, De montibus Sina et Sion, ed. Wilhelm Härtel, 1871 (CSEL 3,3,104-119). Tyconius: Tyconius Liber Regularum, ed. Francis Crawford Burkitt, Cambridge 1894 (Cambridge Texts and Studies 3/1) Nachdr. Nendeln 1967. - The Turin Fragments of Tyconius' Commentary on Revelation, ed. Francesco Lo Bue/Geoffrey Grimshaw Willis, Cambridge 1963 (Cambridge Texts and Studies NS 7) Nachdr. Nendeln 1978. - Budapester Fragmente: Fragments inédits du Commentaire de Tyconius sur l'Apocalypse, ed. Roger Gryson: RBen 107 (1997) 189-226. Literatur James S. Alexander, Tyconius' Influence on St. Augustine. A Note on their Use of the Distinction corporaliter/spiritualiter: Congresso internationale su S. Agostino nel XVI centenario della conversione, II 1987 (SEAug 24) 205-212. - Ders., Some Observations on Tyconius' Definition of the Church: StPatr 18/4 (1990) 115-119. - William S. Babcock, Tyconius. The Book of Rules, Atlanta, Ga. 1989 (SBL.TT 31). - Ders., Augustine and Tyconius. A Study in the Latin Appropriation of Paul: StPatr 17/3 (1982) 1209-1215. - Gustave Bardy, Art. Ticonius: DTC 15,2 (1950) 1932-1934. - Gerald Bonner, Toward a Text of Tyconius: StPatr 10 (1970) = TU 107,9-13. - Pamela Bright, The Book of Rules of Tyconius. 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208

Typologie

2 (1978) 355-365. - Ders., L'ecclesiologia della controversia donatista: RicRel 1 (1925) 1 3 4 - 1 4 8 . - Ders., Da Ticonio a Sant'Ambrogio: RicRel 1 (1925) 443—466. - Ders., Sulla formazione della dottrina agostiniana della grazia: RSLR 9/1 (1975) 1-23. - Ders., Nuovi frammenti di Ticonio: RSLR 3 (1969) 756-757. - Karla Pollmann, La genesi dell'ermeneutica nell'Africa del secolo IV: Cristianesimo e specificità regionali nel Mediterraneo latino (sec. I V - V I ) , Rom 1994, 137-145. Dies., Doctrina Christiana. Unters, zu den Anfängen der christl. Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung v. Augustinus, De doctrina Christiana, Freiburg i.Br. 1996. - H.L. Ramsay, Le commentale de l'Apocalypse par Beatus de Liebana: RH(L) 7 (1902) 419-447. - Joseph Ratzinger, Beobachtungen zum Kirchenbegriff des Tyconius im Liber Regularum: REAug 2 (1956) 173—186. - Eugenio Romero-Pose, Art. Tichonius: DPAC 2 (1983) 3447-3449 (Lit.). - Ders., Ticonio y el sermón „in natali sanctorum innocentium" (Exégesis de Mt. 2): Gr. 60 (1979) 129-149. - Ders., „Et caelum ecclesia et terra ecclesia" (Exégesis ticoniana del Ap. 4,1): Aug. 19 (1979) 469—486. Ders., La Iglesia y la mujer del Ap. 12 (Exégesis ticoniana del Ap. 12, 1-2): Comp. 24 (1979) 293-307. - Ders., El tratado „de montibus Sina et Sion" y el donatismo: Gr. 63 (1982) 273-299. - Ders., Ticonio y San Agostino: Salm. 24 (1987) 5-16. - Alexander Souter, Tyconius' Text of the Apocalypse: J T h S 14 (1913) 338-358. - Kenneth B. Steinhauser, The Apocalypse Comm. of Tyconius. A History of its Reception and Influence, Frankfurt a.M. 1987. - Ders., Recapitulatio in Tyconius and Augustine: AugSt 15 (1984) 1 - 5 . J a m e s S. Alexander Tyndale, William - » Bibelübersetzungen

Typologie 1. Begriff 2. Neues Testament 3. Alte Kirche 4. Mittelalter 5. Von der Reformation bis zum 19. Jahrhundert 6. Neuere Entwicklungen 7. Ausweitungen der Typologie 8. Ertrag (Quellen/Literatur S. 222) 1.

Begriff

Der Begriff Typologie (lateinisch typologia) begegnet in der -»• Schriftauslegung und —•BibelWissenschaft erstmals u m 1 8 4 0 (Louth 118). P. Fairbairn formulierte 1 8 4 5 den Buchtitel The Typology of Scripture, or The Doctrine ofTypes investigated in its Priticiples and applied to the Explanation of the Earlier Kevelation of God, considered as Preparatory Exhibitions of the Leading Truths ofthe Gospel. Das W o r t bezeichnet eine schon im N e u e n Testament einsetzende M e t h o d e christlicher Schriftdeutung, die in alttestamentlichen Personen, Ereignissen und Einrichtungen w n o i , „ T y p e n " , d.h. M u s t e r oder Vorwegabbildungen Jesu Christi, seines Evangeliums und seiner Kirche sieht. Die lateinische Entsprechung des so verstandenen Begriffs TÖTIOQ ist figura; daher wird gelegentlich statt „ T y p o l o g i e " auch der Ausdruck „figürliche" oder „figurative D e u t u n g " verwendet (so Frei). Zum allgemeinen lexikalischen Befund vgl. Strenge/Lessing und für den griechischen Bereich Ostmeyer (Typologie 1 1 2 - 1 2 2 ) und Goppelt ( T h W N T 8). Im profanen wie biblischen griechischen Sprachgebrauch begegnet Tunoq in mehrfacher Bedeutung: Stoß/Wundmal; Siegelabdruck oder Münzbild sowie auch der entsprechende Prägestempel; Kopie, Abbild, Form oder Vorlage einer Kopie; Modell/Muster. Die letzte Bedeutung im Sinne eines moralischen Vorbildes ist die im Neuen Testament geläufigste (z. B. Phil 3,17; I Petr 5,3). Ostmeyer hebt hervor, daß xonoc, eine Beziehung zwischen zwei Dingen anzeigt. Im klassischen Griechisch kann xvnoc, sowohl die Vorlage als auch die Kopie bezeichnen. In der Philosophie kann es das in der sinnlichen wie geistigen Wahrnehmung aufgenommene Abbild einer Person oder Sache sein, der von ihr in der Seele des Wahrnehmenden verursachte Eindruck. Ein zimoc; schließt nicht die Existenz eines dvnixunoq ein, ein Begriff, der weit eher die Bedeutung des Widerstehenden, Widrigen und Unnachgiebigen hat (Ostmeyer, Typologie 120f.; Liddell/Scott s.v.). Im neutestamentlichen Sprachgebrauch und später kann der gemeinte Sachverhalt auch mit anderen Ausdrücken umschrieben werden: aXXt]yopeu> Gal 4,24; siiccbv Hebr 10,1 (?); fiüaxripiov M k 4,11 par.; Eph 5,32; napaßoXfj Hebr 9,9; nvev/jauKcöra inhmuj iVr h*ftc eta cWl^ vi« Bu^citon jil \C ' I«ÜlI^»f|Ct! iVttlUlt ÄuiM¿Vrcn lit;cM wti wjhncn ¿er f^i^-rady nur \i\i

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Oorfh bte, Seultt «ih cm«« i^otlf iu, Sumpt' ¡piumpi'ct UK M* IS V#ätm >tt ich ^dsttttn. hw^rt >i( mir fiyqcltqt ilv kvatJtf Mvrrti'liICcK U'diJ* »n l M o d e r n i s m u s Ubiquität 1. Zur Klärung des Problemhorizontes 2. Uberblick 3. Die Entstehung des Begriffs der Ubiquität und seine Problematik 4. Die grundlegende Konzeption Luthers 5. Ablehnung und Aufnahme der lutherischen Christologie im 16. Jahrhundert 6. Die konsistente Rezeption 7. Der gegenwärtige Ertrag (Quellen und Literatur S. 240) 1. Zur Klärung

des

Problemhorizontes

„ U b i q u i t ä t " (lat. ubiquitas; engl, ubiquity; franz. ubiquité; dt. Allenthalbenheit, vgl. D W b I, 2 2 0 ) ist die - ursprünglich polemische - Bezeichnung für die Teilhabe der Menschheit Christi und seines Leibes an der Allgegenwart des inkarnierten Sohnes G o t t e s (Joh 1,14). Weil die Einheit der Person - » J e s u Christi nicht in der bloßen H i n z u n a h m e (assumptio) des menschlichen Wesens zur unveränderten Gottheit des Gottessohnes besteht, sondern in der Aneignung der Menschheit, der „die Fülle der G o t t h e i t " (Kol 2 , 9 )

224

Ubiquität

Schriftauslegung, 1999 (ThRom 23). - Ulrich Luz, Das Geschichtsverständnis des Paulus, 1968 (BEvTh 49). - Enrico Mazza, Celebrazione eucharistica, Mailand 1998; engl.: The Celebration of the Eucharist. The Origin of the Rite and the Development of its Interpretation, Collegeville, Minn. 1999. - R. Walter L. Moberly, The O T of the OT. Patriarchal Narratives and Mosaic Yahwism, Minneapolis, Minn. 1992. - Raoul Mortley, Connaissance religieuse et herméneutique chez Clément d'Alexandrie, Leiden 1973. - Paul R. Noble, The Canonical Approach. A Critical Reconstruction of the Hermeneutics of Brevard S. Childs, Leiden 1995 (Biblical Interpretation Ser. 16). - Friedrich Ohly, Sehr, zur ma. Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977 2 1983. - John O'Keefe, „A letter that killeth". Toward a Reassessment of Antiochene Exegesis, or Diodore, Theodore and Theodoret on the Psalms: JECS 8/1 (2000) 8 3 - 1 0 4 . - Karl-Heinrich Ostmeyer, Taufe u. Typos. Elemente u. Theol. der Tauftypologien in 1. Korinther 10 u. 1. Petrus 3, 2000 (WUNT 11/118). Ders., Typologie u. Typos. Analyse eines schwierigen Verhältnisses: N T S 46 (2000) 1 1 2 - 1 3 1 . PGL, s.v. dvTÎzvnoç, zônoç, zonôco, ßvotqpiov. - Horst D. Preuß, Theol. des AT, 2 Bde., Stuttgart 1 9 9 1 - 1 9 9 2 . - Probleme atl. Hermeneutik, hg. v. Claus Westermann, 1960 (TB 11). - Arnold Provoost, Le caractère et l'évolution des images bibliques dans l'art chrétien primitif: The Impact of Scripture in Early Christianity (s.o.) 7 9 - 1 0 1 (Lit.). - Gerhard v. Rad, Theol. des AT, 2 Bde., 1 9 5 7 - 1 9 6 0 (EETh 1 / 1 - 2 ) ; 1 , 0 1 9 9 2 II 10 1993 (KT 2.3). - James A. Sanders, Canon and Community, Philadelphia, Pa. 1984. - Werner Schröder, Zum Typologie-Begriff u. Typologie-Verständnis in der mediävistischen Literaturwiss.: The Epic in Medieval Society, hg. v. Harald Scholler, Tübingen 1977, 6 4 - 8 5 . - Gerd Schunack, Art. wnoç KXX.-. E W N T 2 3 (1992) 8 9 2 - 9 0 1 (Lit.). - Elisabeth Sears, Art. Typological Cycles: The Dictionary of Art, ed. by Jane Turner, London/New York, 31 (1996) 498 - 5 0 1 (Lit.). - Theophus Harold Smith, Conjuring Culture. Biblical Formations of Black America, New York/Oxford 1994. - Alistair Stewart-Sykes, The Lamb's High Feast. Melito Peri Pascha and the Quartodeciman Paschal Liturgy at Sardis, 1998 (SVigChr 42). - B. Strenge/H. U. Lessing, Art. Typos. Typologie: HWP 10 (1998) 1 5 8 7 - 1 6 0 7 (Lit.). - Peter Stuhlmacher, Schriftauslegung auf dem Wege zur bibl. Theol., Göttingen 1975. - Ders., Vom Verstehen des NT, 1979 ( G N T 6). - Akira Takamori, Typologische Auslegung des AT? Eine wortgesch. Unters., Diss.masch. Zürich 1966. - Verbum et Signum. Beitr. zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Stud, zu Semantik u. Sinntradition im M A , hg. v. Hans Fromm/Wolfgang Harms/Uwe Ruberg, München 1975. - James A. Weisheipl, Friar Thomas d'Aquino. His Life, Thought and Works, Oxford 1974. - A. Welzen, Reader Response: The Impact of Scripture in Early Christianity (s.o.) 223 - 2 4 4 . Claus Westermann, Das A T u. Jesus Christus, Stuttgart 1968. - Adrian Wilson/Joyce Lancaster Wilson, A Medieval Mirror. Speculum humanae salvationis, 1324-1500, Berkeley, Calif. 1984. Paul Scott Wilson, God Sense. Reading the Bible for Preaching, Nashville, Tenn. 2001. - Frances M . Young, Biblical Exegesis and the Formation of Christian Culture, Cambridge 1997. - Dies., Typology: Crossing the Boundaries (s.o.) 2 9 - 4 8 . - Steven N. Zwicker, Politics and Panegyric. The Figurai Mode from Marvell to Pope: Literary Uses (s.o.) 1 1 5 - 1 4 6 . Stuart G e o r g e Hall

Tyrannenmord

—»Widerstand/Widerstandsrecht

Tyrell, George - > M o d e r n i s m u s Ubiquität 1. Zur Klärung des Problemhorizontes 2. Uberblick 3. Die Entstehung des Begriffs der Ubiquität und seine Problematik 4. Die grundlegende Konzeption Luthers 5. Ablehnung und Aufnahme der lutherischen Christologie im 16. Jahrhundert 6. Die konsistente Rezeption 7. Der gegenwärtige Ertrag (Quellen und Literatur S. 240) 1. Zur Klärung

des

Problemhorizontes

„ U b i q u i t ä t " (lat. ubiquitas; engl, ubiquity; franz. ubiquité; dt. Allenthalbenheit, vgl. D W b I, 2 2 0 ) ist die - ursprünglich polemische - Bezeichnung für die Teilhabe der Menschheit Christi und seines Leibes an der Allgegenwart des inkarnierten Sohnes G o t t e s (Joh 1,14). Weil die Einheit der Person - » J e s u Christi nicht in der bloßen H i n z u n a h m e (assumptio) des menschlichen Wesens zur unveränderten Gottheit des Gottessohnes besteht, sondern in der Aneignung der Menschheit, der „die Fülle der G o t t h e i t " (Kol 2 , 9 )

Ubiquität

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mitgeteilt wird, empfängt Christi Menschheit mit der Inkarnation des Sohnes die göttliche Allgegenwart. Diese das Dasein Jesu als Prozeß der Anteilnahme und Anteilgabe von Gottheit und Menschheit erschließende Lehre, die —»Luther im Kontext des Abendmahlsstreites (-»Abendmahl III/3.1.) ausbildete, stellt die lutherische Christologie in den Abstand von der vorherrschenden scholastischen Tradition (vgl. -»Hugo von St. Viktor, MPL 176,413-416), aber auch unter den Widerspruch des reformierten Protestantismus. 2.

Überblick

Die Ubiquitätslehre steht im Zusammenhang der allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses von -»Gott und -»Welt: Als -»Schöpfer ist Gott vom endlichen Geschöpf kategorial verschieden, als Allgegenwärtiger ko-existiert er dem Geschöpf, nicht im Abstand, sondern bei und im Geschöpf, ohne daß es zur Identität von beiden kommt. Damit stellt sich der Theologie die Aufgabe zu klären, in welchem Verhältnis diese Aussage des Glaubens zu den philosophischen Reflexionen über die Beziehungen zwischen „dem Einen" und „den vielen" (tö ev; rd noXXa) steht (vgl. -»Plato, Prm. 137c ff.). 2.1. Im Kontrast zum -»Neuplatonismus, der eine dialektisch-panentheistische Verschränkung des Allgemeinen, Einen mit der Vielfalt des je Besonderen favorisiert („Darüber, daß das [seiende] Sein als Eines und Selbes Sein zugleich überall ist als Ganzes" [Ilepi t o ö rd ov ev Kai raurov ov äfia navzaxoo eivai öAov] Plotin, enn.VI 4), stellt -»Thomas von Aquino klar, daß Gott, der „durch sein Wesen das Sein selbst ist" (... ipsum esse per suarn essentiam; S.th. 1,8,1 Resp.), „in allen Dingen ist, und zwar innerlichst" (... quod Deus sit in omnibus rebus, et intime-, ebd.), jedoch „nicht wie ein Teil des Wesens oder als [hinzukommende] Eigenschaft, sondern wie das Wirkende in [bei] dem ist, auf das es wirkt" (Deus est in omnibus rebus, non quidem sicut pars essentiae, vel sicut accidens, sed sicut agens adest ei in quod agit; ebd.). Gott ist als „wirkende Ursache in allen von ihm geschaffenen Dingen" (per modum causae agentis ... est in rebus omnibus creatis ab ipso; ebd. 1,8,3 Resp.). Dem fügt sich die wissende Gegenwart ein (est in omnibus per praesentiam, inquantum omnia nuda et aperta sunt oculis ejus; ebd.), die zugleich Sein per potentiam ist, „insofern alle Dinge seiner Macht unterworfen sind" (... inquantum omnia ejus potestati subduntur; ebd.). Davon zu unterscheiden ist das sola gratia gewährte Sein Gottes in den „Dingen" „als erkannter und geliebter ,Gegenstand'" in ihnen (... facit Deum esse in aliquo sicut objectum cognitum et amatum, nisi gratia: et ideo sola gratia facit singularem modum essendi Deum in rebus; ebd. 1,8,3 ad 4.). Noch einmal zu unterscheiden ist „der andere singuläre Modus des Seins Gottes im Menschen durch Einung" (Est autem alius singularis modus essendi Deum in homine per unionem; ebd.): die Gegenwart Gottes in Christus. Ob diese „einzigartige" Gegenwart Gottes von Belang auch für seine universale Gegenwart sei, diese christologische Frage nach der Ubiquität stellt Thomas nicht (vgl. ebd. 1,8,4). 2.2. Dieses allgemeinchristliche, durch den Ausgleich von Partizipation und Differenz vermittelte Gott-Welt-Verhältnis ist in der -»Neuzeit in die Krise gekommen. Hier ist an prominenter Stelle -»Spinoza zu nennen. 2.2.1. Er löst die Frage nach der Ko-Existenz von zweien auf, denn weil „außer Gott keine Substanz gegeben sein noch begriffen werden kann" (Praeter Deum nulla dari, neque concipi potest substantia; Spinoza, Ethik I, Prop. XIV), ist ein Anderes im strengen Sinn nicht; vielmehr ist zu sagen: „Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein noch begriffen werden" (Quicquid est, in Deo est, & nihil sine Deo esse, neque concipi potest; ebd. I, Prop. XV). Damit wird nicht eine plane Identität Gottes mit dreidimensional Körperlichem behauptet (ebd. Scholium), wohl aber gefolgert, „daß die ausgedehnte Substanz eines der unendlichen Attribute Gottes ist" (substantiam ex-

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tensam unum ex infinitis Dei attributis esse-, ebd.). Wenn jedoch „die Ausdehnung ein Attribut Gottes ist, oder Gott ein ausgedehntes Ding" (Extensio attributum Dei est, sive Deus est res extensa; ebd. II, Prop. II), erübrigt sich eine schöpfungstheologische Fassung der Allgegenwart und erst recht deren christologische Übertragung. Beiden Vermittlungen ist die Gewißheit des amor Dei intellectualis immer schon voraus: „So hab' ich endlich von dir erharrt/In allen Elementen Gottes Gegenwart" (Goethe II, 99). 2.2.2. Die neuprotestantische Theologie verzichtet auf die Bestimmung Gottes als einer aparten Entität an sich, widerspricht aber bei -»Schleiermacher der Identifizierung von Gott und -»-Substanz. Aufgrund der Analyse „des unmittelbaren Selbstbewußtseins" (Schleiermacher § 3) wird statt dessen die auch „räumlich bedingt[e]" natürliche Ursächlichkeit (ebd. § 52,2) auf die „das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl" erklärende (ebd. § 50,3) „schlechthinnige Ursächlichkeit" Gottes (ebd. § 51) bezogen. „Unter der Allgegenwart Gottes" ist deshalb zu „verstehen . . . die mit allem Räumlichen auch den Raum selbst bedingende schlechthin raumlose Ursächlichkeit Gottes" (ebd. § 53). Schleiermacher vermittelt also Gott und Welt als von der göttlichen Ursächlichkeit bedingte Korrelation, wobei Gottes „Insichselbstsein" (ebd. § 53,2) als „wesentliches Sichselbstgleichsein" (ebd.) in seinem Wirken im Gesamten der „natürlichen Ursächlichkeit" (ebd. § 51,1) allgegenwärtig ist. Diese transzendentale Konstitution des Raum-Zeitlichen ist immer schon gegeben. Die mit Gott nicht analog verfaßte Endlichkeit steht in der Position der Abhängigkeit, auch als „endliche Ursächlichkeit" (ebd. § 53,2). Die „Nähe" Gottes ist insofern selbstverständlich; sie bleibt aber „Ferne", weil „die Beziehung auf den Raum ... nicht . . . von Gott gilt" (ebd.). Eine Übertragung der so gefaßten „Allgegenwart" auf Christi Menschheit kann nicht einmal als Frage erörtert werden (vgl. ebd. S 97,5). 2.2.3. Die Christliche Dogmatik A . E . -»Biedermanns (1869) setzt angesichts der Auflösung auch des „letzten Rest[es] der vorstellungsmäßigen Form der christlichen Gotteslehre" (§ 697), aber im Gegensatz zum zeitgenössischen -»Empirismus - „nichts ist nur so einfach . . . d a " (§ 705,1) —, auf den Erweis der Notwendigkeit, „das absolute Princip der Natur- und Geisteswelt als absoluten Geist zu denken" (§ 698). „Das Sein der Welt i s t . . . unendlicher Process endlichen, räumlich-zeitlichen Da-seins" (§ 701). Darauf bezogen „ist das Absolut-sein Gottes formal der contradictorische Gegensatz" (ebd.): Sind „Raum und Zeit die . . . von einander unabtrennbaren Momente der Dasein-form der Welt", so sind „Ewigkeit und Allgegenwart Gottes" die gleichfalls verknüpften „Momente des Begriffs .absolutes Sein'" (ebd.). Beide sind jedoch nicht nur Momente „des reinen Gegensatzes zum Raumund Zeitbegriff für das In-sich-Sein Gottes selbst", sondern zugleich „der reinen Position des Raumund Zeitdaseins der Welt ausser Gott" (ebd.). Die Analyse deckt das „räumliche Dasein" als ein solches auf, „das sein Sein . . . nicht selbst räumlich in sich hat", aber dennoch ist, andernfalls „wäre es selbst nicht da" (§ 701,5). In hier nicht nachzuzeichnenden Argumentationsgängen weist Biedermann auf, daß im zeitlichen Prozess das absolute Sein als allgegenwärtiges ist, nicht als „tragende Substanz", sondern als Vollzug, in dem das Sein als Grund im Da-sein ist (§ 701,6). Das unräumliche In-sich-Sein Gottes ist zugleich als eben dieses als Sein des Daseins der Welt zu denken. „Gott als Grund des Daseinsprocesses in allem Dasein" (§ 702,7) zu begreifen ist die gleichermaßen „empirische wie speculative" (§ 2) Aufhebung der Kirchenlehre. Biedermann beansprucht, damit auch die mythologische Vorstellung von der Christi Menschheit mitgeteilten Allgegenwart für die religiöse Sprache zu erschließen, daß nämlich „im wirklichen absoluten religiösen Selbstbewußtsein auch das endliche Moment des Naturdaseins am Menschen mit aufgenommen ist in die Lebensgemeinschaft des endlichen Geistes mit dem absoluten" (§ 827). 2.2.4. Im Zeichen des biblisch bezeugten einen Herrn, der mit den Geschöpfen souverän ko-existiert, bestreitet K. -»Barth sowohl die korrelative Zuordnung von endlicher Räumlichkeit und göttlicher Allgegenwart wie auch die ontologische Dialektik von Absolutem und Endlichem. Zu diesem Zweck instrumentalisiert er faktisch die idealistische Theorie vom setzenden Ich für eine Theologie der Subjektivität Gottes. „Die Allgegenwart Gottes" besagt primär: „Er ist sich selbst gegenwärtig in der Dreieinigkeit seines einen Wesens" (KD 11/1,527). Nur deshalb und so ist er „allem Anderen gegenwärtig als der Herr alles Anderen" (ebd.). Der Zusammenhang von Selbst- und Weltgegenwart Gottes ist jedoch nicht nur kausal, sondern transzendental, denn Gottes Raum als exklusiv „sein eigener"

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(ebd. 533) ist die Bedingung für die Räumlichkeit der Geschöpfe und seine eigene Gegenwart im geschaffenen Raum, die als distanzierte Selbstwiederholung im Anderen ausgelegt wird. Diese „Allgegenwart nach außen" (ebd. 535), die „Unterscheidung und Beziehung zugleich" ist, schließt eine „Nicht-Gegenwart" Gottes aus (ebd. 536). Unabhängig von religiösen Erfahrungen gibt es, ob als „zornige", „gnädige", „verborgene" oder „offenbare", nur seine Gegenwart, denn nichts kann ihm „in der ihm eigenen Räumlichkeit entzogen sein" (ebd.). Die Allgegenwart ist umgreifende Allmacht, die „als eine ganze Fülle von besonderer Gegenwart" (ebd. 537) in die Welt „einbricht". Nur in dieser „ontisch" primären „Besonderheit" (ebd. 538) „begegnet dem Menschen die allgemeine Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung" (ebd.). Deshalb gibt es auch „besondere Orte" (ebd. 538); „der Gott Israels ... wohnt an einem bestimmten ... Ort" (ebd. 539). In Christus wird die besondere zur „eigentlichen Gegenwart" (ebd. 544). Sie ist „Grund und konstituierende Mitte" der besonderen und zugleich „Ursprung und Ziel" aller „Vergegenwärtigungen Gottes" (ebd.). Als „eigentliche" ist die Christuspräsenz Gottes identisch mit seiner Selbstgegenwart, denn „der Schöpfer hat hier dem Geschöpf ... seinen eigensten Raum gegeben" (ebd. 546f.). „In der Krippe und am Kreuz", Ostern und Himmelfahrt offenbaren es, „nimmt dieser Mensch den eigensten Raum Gottes ein" (ebd. 547, umgestellt). Damit scheint die „Ubiquität" der Menschheit Christi erreicht zu sein. Doch soll andererseits „der Unterschied" des „göttlichen und geschöpflichen Raum[es]" (ebd. 546) auch in Christus weiter in Geltung stehen. Das Argument läuft auf die Selbstgegenwart zurück, in der Gott „sich selbst... als der Inhaber seines überhimmlischen Thrones gegenwärtig ist" (ebd. 547). In Christus wird zwar dieser Mensch von Gott aufgenommen „zum Inhaber" dieses „Thrones" (ebd.), aber dies wird nicht als Eröffnung von Gemeinschaft, sondern als Gottes „Handeln in ... dem Menschen Jesu Christus" (ebd.) gefaßt. Genau besehen wiederholt sich, ausweitend, im Menschen Christus die aseitarische Selbstgegenwart Gottes. Dennoch versucht Barth, dieses Verständnis von Allgegenwart als Ausgriff eines Identischen als Angebot zur Schlichtung des ,,Streit[es] über die Ubiquität der menschlichen Natur... Christi" (ebd. 548) zu explizieren (ebd. 548-551), was jedoch nur zu einer Vertiefung der reformierten Position durch die Theorie von der Subjektivität Gottes führt. In KD IV/2 (71-91) wird, ausgehend vom „Begriff des göttlichen Subjektes der Inkarnation" (ebd. 71), der Ausgleich dann auch faktisch revoziert. 2.3. Im Rahmen der voranstehenden exemplarischen Bestimmungen des Gott-WeltVerhältnisses kann es zur Aussage der Ubiquität nicht kommen. Um so schärfer hebt sich Luthers Bekenntnis der Allgegenwart von Christi Menschheit ab, dem, wie die semantische Genese von „Ubiquität" zeigt, gerade binnenprotestantisch widersprochen wurde. 3. Die Entstehung

des Begriffs der Ubiquität

und seine

Problematik

3.1. Das Wort verdankt sich dem Willen zur Verneinung des mit ihm Ausgesagten: -•Melanchthon, der es am 16. März 1546 wohl als erster gebraucht hat, nahm damit 27 Tage nach Luthers Tod eine semantische „Beerdigung" nicht nur der Abendmahlslehre Luthers vor: de Ubiquitate non est disputandum (WA 48,236,7f.). -»•Hardenberg nimmt das Schlagwort in seiner Schrift (5. November 1556) gegen die Bremer Prediger auf: Themata, sive Positiones adversus Ubiquitatem corporis Christi (Gerdes 96-100). Folgenreich wird der Bannstrahl -»Calvins gegen „die ungeheuerliche Ubiquität" (prodigiosa ubiquitas-, Inst. IV,17,30), konfusionsstiftend 1558 die (irrtümliche) Aufnahme der 1546er Notiz Melanchthons in die Jenaer Lutherausgabe (Mahlmann, Dogma 25.219-222); erst 1917 (vgl. WA 48,236f.) wurde Leonhart Hutters (1563-1616) Entlarvung des „Luther"-Wortes (Hutter, Concordia 1 29-33) verifiziert. 3.2. Der Sache nach wendet sich Melanchthon gegen die Verknüpfung von Abendmahlslehre und Christologie. Die Mahlpräsenz gründet auf Christi Stiftungswort (Verbum ita sonat; WA 48,236,6), durch das sein Wollen (vult) offenbart und sein Können (potest; ebd. Z. 7) bezeugt wird. Das Argument der Ubiquität ist deshalb unnötig, denn die Person Christi verfügt über ihren Leib, den sie im Mahl darreicht, „ w o immer sie will" (ubicunque vult; ebd. Z. 7); es ist unsinnig, weil ein allgegenwärtiger Leib kein wahrer Leib wäre, es ist religiös unbrauchbar, weil es zur funktionslosen Gegenwart dieses „Leibes" in Holz und Stein führt. Deshalb: „Vom Allenthalben oder an allen orten sein sol nicht disputiret werden" (ebd. 237,14f.). Melanchthon versteht, wie auch Calvin (Inst. IV,17,30), die Behauptung der Ubiquität als spekulative Beantwortung der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der von Christus verheißenen Gegenwart

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seiner selbst, die im Sakrament „auch leiblich" ( . . . et corporaliter, W A 48,236,4f.) ist. Damit erlag er einem Mißverständnis, denn die Ubiquitätslehre wurde nicht zur Begründung der Lehre von der Realpräsenz „erfunden"; „vielmehr ist die Abendmahlsdifferenz die Veranlassung" für die Entfaltung des christologisch Vorgegebenen im Bekenntnis der Allgegenwart der Menschheit Christi „gewesen" (Schneckenburger, Darstellung II, 103). 4. Die grundlegende

Konzeption

Luthers

4.1. Schon in der Babylonica (1520) deckt Luther den Zusammenhang von Christologie und Sakramentsverständnis auf - „Wie es sich in Christus verhält, so auch im Sakrament" (Sicut ergo in Christo res se habet, ita et in sacramento; W A 6,511,34) und gewichtet „die leibhaftige Einwohnung der Gottheit" neu ( . . . corporalem inhabitationem divinitatis; ebd. Z . 35), so daß „von jeder der beiden vollständigen Naturen wahrhaftig gesagt wird: ,Dieser Mensch ist Gott, dieser Gott ist M e n s c h ' " ( . . . integra utraque natura vere dicitur „Hic homo est deus, hic deus est homo"; ebd. Z . 37f.). Der Anti-Latomus verstärkt diese Einsicht. Das Binnenverhältnis von Gott und Mensch in Christus ist nicht nur der Maßstab jeder soteriologischen Aussage (WA 8,126,23 —25); dieses selbst ist so zu fassen, daß es nicht zu einer bloßen Zusammenfügung dessen kommt, was Gott oder dem Menschen simpliciter, d.h. je in deren „An-sich-Sein", zukommt und eignet ( . . . ne quod simpliciter deo aut simpliciter homini convenit, ei [der Person Christi] tribuat; ebd. Z . 26f.). Denn von Christus zu reden heißt, „vom fleischgewordenen [eingefleischten] Gott und gottgewordenen [zum Gott gemachten] Menschen zu sprechen" ( . . . de deo incarnato vel hotnine deificato loqui; ebd. Z . 28; Luther „zitiert" Gregor von Nazianz, PG 37,179 [36]: . . . ävOpämoo öe decoOevrogl). Damit fällt die nominalistische Theorie der sog. „suppositalen Union": Der unveränderliche, unendliche, leidensunfähige -> Logos und die endliche, leidensfähige, zur Erwerbung von Verdiensten vor Gott kräftige Menschheit, die jedoch ohne eigenen individuierenden Daseinsgrund (suppositum) ist, den sie als schlechthin abhängige in der Logos-Hypostase hat, sind in der Person Christi in einer deren essentielles Gottsein und Menschsein nicht tangierenden Weise zusammengefügt. Auch für Luther sind die in der Person Christi zusammenkommenden Größen „Gott" und „Mensch" simpliciter Deus (WA 18,707,28 f.) und verus homo (ebd. Z. 29) - hinsichtlich des terminus a quo. In der Person aber sind sie aufgrund der „Mitteilung der Eigentümlichkeiten" (communione idiomatum; WA 39/2,11,26) zugleich - qua terminus ad quem - deus corporeus (WA.TR 1,925) und homo deificatus, „so daß . . . von Gott ganz wie vom Menschen und vom Menschen ganz wie von Gott gesprochen wird" (Schwarz 338). 4.2. Spätestens 1525 (WA 1 8 , 6 1 - 2 1 4 ) wird das Zugleich von deus incarnatus und homo deificatus hinsichtlich der Gegenwart am Ort thematisiert, 1526 vom Erhöhten bekannt, „das Jhesus Christus nach der menscheit sey gesetzt über alle creaturen und alle ding erfülle" (WA 19,491,17f.). Dabei erreicht die Schriftauslegung schon alle Aussagen über die Gegenwart der Menschheit (ebd. 491,25 - 4 9 4 , 1 4 ) , die 1527 - „Daß diese Wort Christi . . . " (WA 2 3 , 6 4 - 2 8 3 ) - präzisiert werden: 1) Die Absage an ein Verständnis der „rechten hand Gottes" (WA 23,131,8) als eines „sonentderlichen Ortes" (ebd. 133,19f.) im Himmel, wo Christus sitze, wird schöpfungstheologisch faltet. Die dextra Dei ist „die almechtige gewalt Gotts, welche zugleich nirgent sein kann und doch an allen orten sein mus; . . . unbegreiflich und unmeslich, . . . mus sie" zugleich „an allen orten wesentlich und gegenwertig sein, auch ynn dem geringesten bawmblat" (ebd. 133,21-29). Diese „schaffende Gewalt" ist kein von Gott gebrauchtes Werkzeug (ebd. 139,18f.), vielmehr „mus er ynn einer iglichen creatur ynn yhrem allerynnwendigsten, auswendigsten umb und umb, durch und durch, unden und oben, forn und hinden selbs da sein, das nichts gegenwertigers noch ynnerlichers sein kann ynn allen creaturen denn Gott selbs mit seiner gewallt" (ebd. 135,3-6). So ist der schöpferische Gott „wesentlich gegenwertig an allen enden..., das also die wellt Gottes vol ist und er sie alle füllet, Aber doch nicht von yhr beschlossen oder umbfangen ist" (ebd. 135,35137,1). 2) Aus diesem „artickel unsers glaubens" (ebd. 137,3) folgt, daß die Menschwerdung kein Ereignis ist, in dem der Abwesende „kommt", vielmehr wird mit ihr die Gegenwart des Sohnes

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Gottes neu bestimmt, der „bereyt alda ynn der Jungfrawen leib wesentlich und personlich" ist, „wie an allen andern enden uberal" (ebd. 141,12-18). Singular ist nicht die Anwesenheit Gottes in Jesus, sondern die Vermittlung von Gott und Mensch zu dieser einen Person: „Denn ynn yhm ist Gott nicht allein gegenwertig und wesenlich wie ynn allen andern, Sondern wonet auch leibhafftig ynn yhm also, das eine person ist mensch und Gott" (ebd. Z. 2 4 - 2 6 ) . Nur „von Christo sagt der glaube . . . : Christus ist Gott selbs" (ebd. Z. 28f.). 3) Die Allgegenwart ist nicht auf den Erhöhten beschränkt. So gewiß „die gantze Gottheit personlich wesenlich ynn yhm auff erden . . . , ynn heusern, garten, felde, am creutz, grab . . . und doch auch gleichwol ym hymel ynn des vaters schos" ist (ebd. 139,31-141,3), so eindeutig gilt auch: „Auch als ein mensch" ist er „gegenwertig . . . durch die rechte hand Gotts, die allenthalben ist" (ebd. 145,5-13). Nicht erst das „warzeichen" (WA 19,491,29) der Himmelfahrt versetzt ihn zur Rechten Gottes. Der, localiter begrenzt, mit Nikodemus spricht, bezeugt, „das sein leib zu gleich ym hymel und auff erden, ja schon bereit an allen enden ist, Denn er ist durch seine verklerung nicht ein ander person worden, sondern wie vorhin so auch hernach allenthalben gegenwertig" (WA 23,147,29 - 3 2 ) . Christi Menschheit verschwimmt dadurch nicht ins Unbestimmte, denn sie, als in „Garten, Feld, am Kreuz" begrenzte, ist der „ort", an dem die „rechten Gotts", seine „Gewalt", die er selbst ist, „wonet"; „sie binde(t) sich" uns räumlich Begrenzten „zu gut und bescheide(t)" uns „an einen ort": die räumlich bestimmte „menscheit Christi" (ebd. 151,17-21), die durch die ihr einwohnende „rechte hand Gotts" zugleich „allenthalben ist" (ebd. 145,12f.). Vom Inkarnierten ist also in eins das Sein am Ort auszusagen, das der Menschheit eignet, und das „Allenthalben", das der Gottheit zukommt; diese doppelte Prädikation wiederholt nicht die „alte" Differenz: der Mensch am Ort, Gott allenthalben. Vielmehr ist, weil in ihm „Gott und mensch eine person wird" (ebd. 141,33f.), Christi „menscheit" zugleich „ynn allen und über allen dingen nach art Göttlicher rechten hand" (ebd. 151,25f.). 4) Damit wird die auf distinkten Wesensaussagen über Gott und den Menschen beharrende „metaphysische" „alte Sprache" (WA 39/2,94,19) zugleich beansprucht und aufgehoben. Metaphysisch gilt: Nulla est proportio ... finiti et infiniti (ebd. 112,16f.). Diese an sich unaufhebbare Differenz wird in der Konstitution der Person Christi überwunden. Deshalb kann von Christus nur in einer neuen Sprache geredet werden (Novae linguae usu; ebd. 94,21), die, „was des Menschen ist, zu Recht von Gott und wiederum, was Gottes ist, vom Menschen aussagt" (... ea, quae sunt hominis, recte de Deo et e contra, quae Dei sunt, de homine dicantur-, ebd. 93,6f.). Zudem kommt es zu einer neuen Rede von der „Ehre Gottes". Wenn nämlich, was Christus erleidet, „den Herrn der herlickeit selbs" (WA 23,141,32) trifft, ist dem Widerspruch der „alten Sprache", die nur die Glorie des unantastbar heiligen Gottes kennt, zu entgegnen: „Unsers Gotts ehre aber ist die, so er sich umb unser willen auffs aller tieffest erunter gibt, yns fleisch, yns brod, ynn unsern mund, hertz und schos, und dazu umb unsern willen leidet, das er unehrlich gehandelt wird beyde auff dem creutz und altar" (ebd. 157,29-33). Die „unehrliche Ehre" des ermordeten Gottes (vgl. ebd. 141,29-32) und die „ehre Christi, das sein leib ym abendmal ist", kommen hinsichtlich der Negation und der Position überein. Die Realpräsenz negiert die „andere ehre . . . das er zur rechten hand gottes sitze auff eim sammet polster . . . und sey unbeladen mit der mühe des abendmals" (ebd. 155,14-18). Das Kreuz als Gottes Tod verneint, daß sich im Sterben Jesu die Gottheit Christi wie der vom Elend unbehelligte Gott des -»Aristoteles (WA 18,785,7-9) verhalte. Vielmehr ist der an sich leidensunfähige Gott in Christus in Leiden und Tod, gibt im Mahl „sein leib und blut" (WA 23,155,19). Zugleich aber ist die an sich endliche Menschheit - communicatione idiomatum (WA 39/2,93,5) - allenthalben. Dies Zweite ist keine gegenläufige Bestimmung, durch die nun die nicht länger „unehrliche Ehre" zu ihrem Recht kommt; denn, der „mühe des abendmals" entsprechend, ist auch die Allgegenwart der Menschheit Christi kein direkter Vollzug weltüberlegener Herrschaft, sondern empfangene Teilhabe an der „Mühe" der sorgenden Weltpräsenz der Gottheit. Die Allgegenwart ist damit neu bestimmt: sie verwickelt - in Christus - Gott selbst mit der miseria des Weltlaufs (cursus mundi; WA 18,785,5). 4.3. Widerpart im 1528 ( W A 2 6 , 2 6 1 - 5 0 9 ) weitergeführten Streit ist ->Zwingli, dessen „figur Alleosis" (ebd. 317,12) besagt: wenn biblische Texte dem Wortlaut nach von einer Natur Christi etwas aussagen, was deren Wesen widerspricht, muß im Verstehen auf die andere Natur, zu deren Wesen das Ausgesagte paßt, „gewechselt" werden. Luther widerspricht: „Weil Jhesus Christus warhafftiger Gott und mensch ist/ ynn einer person", wird „an keinem ort der schrifft/ eine natur für die ander g e n o m e n " (ebd. 3 1 9 , 2 7 - 2 9 ) . 4.3.1. Die Argumentation formt denn auch die traditionelle Aussage, „das Christus Gott und mensch ist" ( W A 2 6 , 3 3 2 , 1 2 f . ) , um: „die zwei Naturen ist! eine Person" (ebd.

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332,13). Das heißt: Die Person Christi wird dadurch konstituiert, daß „die zwo naturn miteinander also vereinigt/ das sie neher zu samen gehören denn leib und seele" (ebd. 3 4 0 , 2 2 - 2 4 ) , „unzurtrennet und ungeteilet" (ebd. 326,31 f.). Christus ist „ein solch mensch . . . / der ubernatürlich", über das an sich von der menschlichen Natur Geltende hinaus, „mit Gott eine person ist" (ebd. 332,19). Jede Trennung, die nur einer Natur zueignet, was „der gantzen persone" (ebd. 322,27), also stets beiden Naturen, „ynn der schrifft zugeeigent w i r d " (ebd.), führt zu „zwo zertrennete[n] personen" (ebd. 332,29). Dagegen steht die christologische Grundregel: „Wo du mir Gott hinsetzest da mustu mir die menscheit mit hin setzen" (ebd. 333,6f.), die „an Gott klebet" (ebd. 341,1). Die Sprache verdeckt in ihrer scheinbaren Naivität den Bruch mit dem tradierten Personbegriff, der die zweite trinitarische -»Person (Hypostase), den „Logos", bezeichnet, der durch den Übergang vom Status des Aoyoq äoaptcoq zu dem des Aoyoq EvoapKoq essentiell nicht berührt wird. Doch eben dazu kommt es bei Luther: „Es ist eine person worden" (ebd. 333,8), Christi „menscheit" (,bumanitas) ist „mit Gott eine person worden" (ebd. 340,15); für Christus gilt: „das ein mensch (homo) mit Gott eine person ist" (ebd. 335,12f.). In Christus gehört seine Menschheit, dieser Mensch - Luther differenziert, anders als G. -»Biel (Collectorium III d 22 q. un. a 3 dub 2 H), hier nicht - zum Sein der Person. Die Menschheit wird jedoch nicht essentiell vergottet. Vom homo deificatus ist keine unio formalis (Hilgenfeld 335) auszusagen. Hinsichtlich des bleibenden terminus a quo „sagen wir nicht/ das Gottheit sey menscheit" (WA 26,324,20); von dieser gilt mit der Tradition: „wesentlich . . . kann sie nicht Gott sein/ aber weil sie . . . an den wesentlichen Gott reicht und klebt/ und ist/ da Gott ist/ so mus sie zum wenigsten!!] personlich Gott sein" (ebd. 341,9-11); so ist sie „unter Gott" (ebd. 341,2) und kein „zweites Unendliches" (ebd. 343,24f.). Ein Verhältnis der Abhängigkeit zeigt dieses „unter" nicht an. Christi Menschheit ist vielmehr „mit der Gottheit untrennbar in dieselbe Person auf unaussprechliche Weise vereinigt" (... cum divinitate inseparabiliter in eandem personam ineffabilibus modis coniunctam; WA 39/2,94,21 f.). Das Majestätsprädikat, „auch an allem ort [zu] sein da Gott ist" (WA 26,341,llf.), kommt ihr hinsichtlich des terminus a quo nicht zu, sie hat es „bekommen" (ebd. 340,33), und zwar als real mitgeteiltes (vgl. ebd. 326,23f.). 4.3.2. Eine entsprechende Präzisierung wird durch die Bestreitung des „höhesten nöttigsten artickel[s]/(das Gottes son für uns gestorben sey)" (WA 26,342,11 f.) notwendig. Luther weiß: „Ja die Gottheit kann nicht leiden noch sterben/ . . . Das ist war" (ebd. 321,20f.). Sein „Aber dennoch" bleibt schwach, denn es führt nur zu der Wendung: „die person/ welche Gott ist", leidet „an der menscheit" (ebd. 321,27f.), „die person ist gecreutzigt nach der menscheit" (ebd. 322,22); damit ist die Predigtsprache (1525) vom „mord[s]schrey" des sterbenden Sohnes Gottes (WA 17/1,70,29) unterboten und die spätere Klarstellung nicht erreicht: „Von ewig hat er nicht gelitten, aber weil er Mensch wurde, ist er leidensfähig" (Ab aeterno non est passus, sed cumfactus est homo, est passibilis-, WA 39/2,101,25 f.). 1540 wird deshalb das Leiden der Kreuzigung beiden Naturen zugewiesen (Crucifigi ... tribuitur utrique naturae-, ebd. 102,24f.) und nicht nur, wie 1528 an dieser Stelle, der Person, als wäre sie ein Tertium und nicht „die zwo naturn". Luther scheint sich mit dem Protest dagegen zu begnügen, daß das Leiden „aller dinge von der Gottheit (ge)wendet" werde (WA 26,324,27f.). Erst im Fortgang wird die Aussage eindeutig: „Was der mensch leidet/ das heist auch Gott gelitten" (ebd. 335,28). 4.3.3. Auch in der Folge wird präzisiert, was 1527 bekannt wurde. Bei der „empfengnis ynn mutterleibe" ist nicht an ein Kommen des Abwesenden zu denken, „ d e n n " als „Gottes son . . . müste [Imperfekt!] er naturlich und personlich ynn mutter leibe sein und mensch werden" ( W A 26,332,26—28). Ist aber der „Gottes s o n " deus incarnatus, dann ist der Mensch (nicht essentiell verwandelter) homo deificatus-, deshalb ist zu sagen: „ N u ist ia Christus menscheit von mutter leib an [!] höher und tieffer ynn Gott und für Gott gewest/ denn kein engel" (ebd. 3 4 4 , 2 8 - 3 0 ) , ist „also auch an allem ort . . . da Gott ist" (ebd. 3 4 1 , l l f . ) . Zugleich hat der Leib Christi als menschlich natürlicher die lokale Weise, gegenwärtig zu sein: „wie er auff erden leiblich gieng/ da er räum nam und g a b " (ebd. 335,30f.).

Ubiquität

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Hinsichtlich des Wirkens und der Widerfahrnisse Christi ist die Einheit der Person unfraglich: „alle werck/ wort/ leiden und was Christus thut/ das thut/ wirckt/ redet/ leidet der warhafftige Gottes s o n " (ebd. 3 2 0 , 3 1 - 3 3 ) . Dieses Wirken und Erleiden ist kein Tun und Erfahren eines die Menschheit als Instrument gebrauchenden Gottes. Vielmehr erweist sich die Einheit der Person, denn sie „ists/ die alles thut und leidet/ eins nach dieser natur/ das ander nach ihener natur" (ebd. 324,31f.), darin, daß gilt, „was Gott thut/ das heist auch der mensch gethan/ Was der mensch leidet/ das heist auch Gott gelitten" (ebd. 335,27f.). Die Schrift bezeugt diese gegenseitige Teilhabe: „Weil Gottheit und menscheit ynn Christo eine person ist/ so gibt die schrifft/ umb solcher personlicher einickeit willen/ auch der Gottheit/ alles was der menscheit widderferet/ und widderumb. Und ist auch also ynn der warheit" (ebd. 3 2 1 , 2 1 - 2 4 ) , die als communicatio operationum et passionum beschrieben wird. Das unterscheidende „nach dieser" bzw. „nach ihener natur", meint kein trennendes secundum, „entsprechend", denn „wo die werck zuteilet und gesondert werden/ da mus auch" - was nicht geschehen darf - „die person zurtrennet werden" (ebd. 324,28f.). Weil die Menschheit kein mit der Gottheit „parallel geschaltetes" ausführendes Organ ist, keine deren Heiligkeit umhüllende, deren Erbarmen kanalisierende Größe, ist sie nicht bloße „hülsen" noch „die Gottheit" wie ein „ k e r n " , so daß beide voneinander „abgeschält" werden könnten (ebd. 3 3 3 , 1 7 - 2 0 ) . Die Menschheit ist auch kein von der Gottheit verwendetes Mittel für Zwecke, kein „ r o c k " , den die Gottheit aus- und anzöge (ebd. 333,22). „Kann doch nichts Häretischeres gesagt werden, als daß die menschliche Natur Kleid der Gottheit sei" ( C u m nihil possit tnagis dici haereticum quam humanam natur am esse vestem divinitatis; WA 39/2,95,13 f. [1540]). Der Vorwurf, Luther sei „Marcionist" (WA 26,339,15), scheint also unsinnig zu sein. 4.3.4.

D e n n o c h w u r d e er e r h o b e n , weil sein Verständnis v o n Einheit der Person die

A u s s a g e der G e g e n w a r t des unzertrennten Christus impliziert, dessen „leib a l l e n t h a l b e n " ( W A 2 6 , 3 2 6 , 2 2 f . ) ist. Diese Z u s p i t z u n g auf die P r ä s e n z a m O r t setzt v o r a u s , d a ß das „Sein a m O r t " für die Christen, wie für alle G e s c h ö p f e , an sich unhintergehbar ist. W i r sind „ a u f f e r d e n " (ebd. 3 4 5 , 2 7 ) , „hie ynn deudschen l a n d e n " (ebd. 3 4 6 , 3 4 ) . A u c h G o t t ist, der spiritualistischen D e u t u n g v o n J o h 4 , 2 0 zuwider, „hie und d o r t " 4 2 7 , 2 ) . C h r i s t u s h a t „ a n o r t e n sich v e r b u n d e n " (ebd. 4 2 2 , 2 9 ) . D e r kreatürlichen bindung

(ebd. Ein-

an den Ort m u ß , sollen G o t t und C h r i s t u s nicht zu abständigen G r ö ß e n w e r d e n ,

eine z w a r im M o d u s a n d e r e , nicht den Bedingungen des O r t e s u n t e r w o r f e n e (more

loci-,

ebd. 4 2 4 , 2 ) , aber deswegen nicht „ o n t o l o g i s c h " s c h w ä c h e r e Gegenwart

Chri-

sti am

Ort (loco)

Gottes

und

z u g e o r d n e t sein. Ins Allgemeine g e w e n d e t : weil das „ L e b e n " k o n k r e t

ist, m u ß a u c h der „ G e i s t " , soll er sich vermitteln, i m m e r s c h o n k o n k r e t sein und w e r d e n (vgl. ebd. 4 2 1 , 2 8 - 3 0 ) . 4.3.4.1. Bei der E x p l i k a t i o n der Personeinheit in der Perspektive des Seins G o t t e s und Christi a m O r t geht es u m das R e c h t dieses A n s p r u c h s . D a ß Christus als G o t t und M e n s c h allenthalben ist, d a f ü r stehen diese „ g r ü n d e " ( W A 2 6 , 3 2 6 , 2 9 ) : 1) D a s C r e d o : „Jhesus Christus ist w e s e n t l i c h e r / n a t ü r l i c h e r / w a r h a f f t i g e r / völliger G o t t und m e n s c h ynn einer p e r s o n u n z u r t r e n n e t u n g e t e i l e t " . A u f diese selektive Z i t a t i o n von C h a l c e d o n folgt 2 ) , „ d a s G o t t e s r e c h t e h a n d allenthalben i s t " , und 3 ) , „ d a s G o t t s w o r t nicht falsch ist o d d e r l ü g e n " (ebd. 3 2 6 , 3 0 — 3 3 ) . E r s t d a n n wird gesagt: „ D a s G o t t m a n c h e r l e y weise h a t u n d weis/ e t w a [ i r g e n d w o ] an einem o r t zu s e i n " (ebd. 3 2 6 , 3 3 - 3 2 7 , 1 ) . Zur Erläuterung dieses letzten „Grundes" werden Termini -»Ockhams und Biels beansprucht: „die Sophisten reden hie von recht/ da sie sagen/ Es sind dreyerley weise/ an eim ort zu sein/ Localiter odder circumscriptive/ Diffinitive [definitive]/ Repletive" (ebd. 3 2 7 , 2 0 - 2 2 ) . Es geht um den Raum als Ort, den Aristoteles als „Umgrenzendes des Körpers" faßt (ph. A 1 ff. 212a 6: t ö nepOQ Tov TtEplExovzoQ adjfiaroQ). Der Rückgriff auf die „Sophisten", wohl Biels Collectorium, ist kein Rückfall in die Christologie der Nominalisten (vgl. Hutter, Concordia* 54.73), aber dennoch nicht beliebig; deshalb wird ,,verdeudsch[t]" (WA 26,327,22): „Erstlich ist ein ding an eym ort circumscriptive odder localiter/ begreifflich/ das ist/ wen die stet und der corper drynnen sich mit einander reymen/ treffen und messen" (ebd. 3 2 7 , 2 3 - 3 5 ) . Ort (locus) und Körper als „Geortetes" (locatum) sind kongruent. Diese schöpfungsgemäße Konkretheit wird in der Welt von -»Sünde und -»Gesetz zu der Erfahrung, daß kein anderer Körper zugleich am schon „besetzten" Ort sein kann. Zwischen den Dingen ist „Streit" um den Ort. „Zum andern ist ein ding an eim ort diffinitive/ unbegreifflich/ wenn" es „sich nicht abmisset nach dem räum des orts/ da es ist/ sondern kan etwa [irgendwo] viel raums/ etwa wenig raums einnemen . . . Der ort ist wol leiblich und begreifflich/ . . . / Aber das so drynnen ist/ hat nicht gleich

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lenge/ breite oder dicke mit der stete/ darynn es ist/ ia es hat gar keine lenge odder breite" (ebd. 327,33-328,26). Mit der Tradition wird, ohne Verweis auf die „ungebundene Macht" {potentia absoluta) Gottes, das „definitive" dem Leib des Auferstehenden und Auferstandenen zugeordnet (ebd. 328,31-329,1); definitive ist auch „Christus ym brod" (ebd. 329,2), das „unverwandelt und unverendert" (ebd. 329,7) bleibt. In dieser Weise können zwei oder „mehrere Körper in dem selben Ort sein" (... plura corpora possunt esse in eodem loco; Ockham, Sent. IV q 4 0 ad 1). Solche „Koexistenz" wird auf das schöpfungsgemäße In-Sein in anderem, wie es die Erfahrung bezeugt, ausgeweitet (WA 26,335,40-336,4 u. ö.). Der „kampff" (ebd. 439,26) um den Ort ist auch empirisch nicht exklusiv; dies zeigen die Phänomene des Sehens (ebd. 330,29-331,17), von „Klang" und „Ton", „Licht" und „Hitze" (ebd. 336,1-4). Neu ist die Zuordnung der Mahlpräsenz zum Modus des „koexistenten" esse definitive, von dem jedoch der dritte Modus in der Explikation nur gleitend komparativisch abgehoben wird. „Zum dritten/ ist ein ding an orten repletive/ übernatürlich . . . wenn etwas zugleich gantz und gar an allen orten ist und alle orte füllet/ und doch von keinem ort abgemessen und begriffen wird nach dem räum des orts da es ist" (ebd. 329,27-30; Biel, Collectorium I d37 q un. a l not 3C). So ist nur Gott „da", „wie er sagt ym Propheten Jeremia [23,23f.]/ ich bin ein Gott von nahe und nicht von ferne/ Denn hymel und erden fülle ich" (WA 26,329,30-32). Ein Begriff ist das esse repletive nicht, denn „diese weise ist über alle mas über unser vernunfft unbegreifflich/ und mus allein mit dem glauben ym wort behalten werden" (ebd. 329,32f.). Der Glaube nimmt den durch die hier „recht redenden Sophisten" erarbeiteten Erkenntnisgewinn auf, der „sehen" läßt, daß die Beschränkung der Weise von „Da-sein" auf die „begreiffliche leibliche" (ebd. 329,35) unhaltbar ist. Anders als bei den Stichwortgebern wird durch das Dreier-Schema der Rahmen für Gottes Vermögen zur Realisierung von Anwesenheit am Ort weder begrifflich fixiert (ebd. 331,18), noch zielt der Rekurs auf „Gotts gewalt" (ebd. 331,30) auf die potentia absoluta, denn seine Allmacht ist aktualer Vollzug, durch den er „mächtig alles in allem tut" (potenter omnia facit in omnibus; WA 18,718,30). Auch in der dritten Weise geht es um die Gegenwart am Ort, nun exklusiv um Gottes - und Christi Menschheit - Gegenwart. Bei der Beschreibung des repletive wird aber nicht mehr wie 1527 das Zugleich von „nirgent" und „an allen o r t e n " ( W A 23,133,21 f.) aufgeboten; für „nirgent" steht jetzt: „von keinem ort abgemessen und begriffen" ( W A 26,329,29). Auch in der Negation bleibt der Bezug zum Ort erhalten. 4.3.4.2. Luther tritt jeder dualistischen Vorstellung entgegen und bekennt den unerforschlichen Gott als seiner Welt gegenwärtigen Schöpfer. Die Aussage des „Unaussprechlichen" (WA 26,340,2) sagt ein „Zugleich" in doppelter Hinsicht an. Gott ist in jedem einzelnen (ebd. 339,35) und in allen einzelnen, und zwar so, daß er beides „gantz und gar" (ebd.) ist. Der so vorbehaltlos „inseiende" Gott ist zugleich „über allen und ausser allen Creaturen" (ebd. 339,35f.). Damit wird das In-Sein nicht dementiert. Die folgenden Aussagen zielen gerade auf das In-Sein „der Gottheit" in einem „leib" (ebd. 339,37). Deshalb wird das Argument der incapacitas des Endlichen („viel viel zu enge"; ebd. 339,38 f.) aufgenommen, aber zuvor umgedreht: „ein leib ist der Gottheit viel viel zu weit" (ebd. 339,37); keines von beidem erlaubt es, die Ansage „von Gotts wesen an allen orten" (ebd. 339,26f.) zurückzunehmen. Im Gegenteil, die hymnische Sprache - „Nichts ist so klein/ Gott ist noch kleiner . . . " (ebd. 339,39-42) - bindet in der Serie überbietender Komparative Gott mit dem körperhaft Gegenständlichen dadurch zusammen, daß er als „noch kürtzer, . . . lenger, . . . breiter, . . . schmeler" (ebd.) dem Körperhaften zugeordnet wird. Eine vergegenständlichende Begreifbarkeit Gottes ist daraus nicht zu folgern, wohl aber zu sehen, daß die unaussagbare Gottheit Gottes (ebd. 340,1) - aufgrund seiner schöpfungstheologisch gewissen Gegenwart in jedem, allen und allem nicht so zur Aussage kommt, daß antithetisch „der ganz Andere" proklamiert oder eine ontologische „Definition" Gottes eingeführt wird, sondern gerade im Vergleich mit Körperhaftem, das nicht wertontologisch abqualifiziert wird, als Geist zur Sprache gebracht wird. Gott ist - gleich exklusiv - Semper major und Semper minor, insofern ist Luthers Hymnus auch von der berühmten Formel -»Gregors des Großen (PL 75,565,47) unterschieden. 4.3.5. Bei der Verknüpfung der nominalistischen Terme mit Luthers eigener „ s a c h e n " ( W A 26,332,12) k o m m t es in zwei Schritten zur Bekräftigung der Allgegenwart von Christi Menschheit.

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4.3.5.1. Auf das „Vermögen" („kan") der unzertrennten Person wird in W A 26,332,12 - 3 3 3 , 2 5 bzw. 335,28 verwiesen. Dieses „Vermögen" ist nicht bloße Möglichkeit, sondern realisierte Fähigkeit. Der vom Evangelium bezeugte „Gebrauch" des „circumskriptiven" und des „definitiven" Modus (ebd. 332,14-18) bekundet einen realen Umgang Christi mit Orten („grab, thür"; ebd. Z. 18). Der Ausdruck „brauchen" (ebd. Z. 17) bezeichnet nicht ein abständiges Verfügen über den Leib, sondern den für Christi Menschheit fundamentalen Sachverhalt, daß sie auch als am Ort gegenwärtige nicht den Bedingungen von Lokalität ausgeliefert ist. Der Leib Christi ist nicht notwendigerweise an die eingrenzende örtlichkeit gebunden: „er erzeigt sich am Ort" (ebd.), und zwar nicht als „Erscheinung", sondern als den natürlichen Modus der Gegenwart von Körpern frei Gebrauchender. Der Mensch Jesus ist an jedem Ort, an dem er „leiblich" ist, wie dies Menschen sind, nicht, wie alle anderen, notwendigerweise, sondern in freier Annahme der Bedingungen, unter denen alle anderen sind. Denn er kann nicht nur sein, er ist, weil er „mit Gott eine person ist" (ebd. 332,19), zugleich „nach der dritten ubernatürlichen weise . . . allenthalben/ wo Gott ist . . . auch nach der menscheit" (ebd. 332,20-22). Deshalb ist „alles durch und durch vol Christus" (ebd. Z. 21 f.), nicht, weil der in leiblicher Weise Gegenwärtige „ausgespannt" wäre, sondern weil kein Ort sein kann, an dem Christus nicht als Gott und Mensch da ist (ebd. 332,30f.). 4.3.5.2. Im zweiten Durchgang (WA 2 6 , 3 3 5 , 2 9 - 3 3 6 , 1 9 ) wird das Fazit des ersten in die Aussage überführt, daß der mit sich identisch bleibende „Leib" „alle drey weise[n] etwo [irgendwo] zu sein" (ebd. 335,29f.) hat. Dies gilt „erstlich" für „die begreiffliche leibliche weise" (ebd. 335,30-38), in der er nicht „ynn Gott" (ebd. 335,35), nicht „allenthalben" ist, sondern lokal begrenzt, so „wie er auf erden leiblich gieng" (ebd. 335,30f.). Kein Phantasma wandelte über die Erde. Dieselbe gegenständliche Eindeutigkeit wird Christi Leib auch „am jüngsten tage [gebrauchen" (ebd. 335,32f.). Weder wird das „Historische" entkonkretisiert noch das Eschaton spiritualisiert. Den zweiten „definitiven" Modus des koexistierenden Mitseins (ebd. 335,38-336,7) „gebraucht" (ebd. 336,4) Christus, indem er, ohne für seinen Leib Raum zu beanspruchen, „durch alle creatur feret wo er will" (ebd. 335,39f.). Die Welt der abgegrenzten Dinge ist ihm nicht verschlossen. Sie waren dies nicht für den Auferstehenden und Auferstandenen - verschlossenes Grab und verschlossene Tür (ebd. 336,5) - , sie sind es nicht als „brod und wein ym abendmal" (ebd. 336,6). Weder die -»Auferstehung noch die Mahlpräsenz sind platt faktische Mirakel; in ihnen vollzog und vollzieht Christus mit seinem Leib den Durchgang durch Verschlossenes, die Gegenwart in Begrenztem. Bei der Explikation der „dritten ... Göttliche[n] hymelische[n] weise", in welcher dieser Mensch „mit Gott eine person ist" (ebd. 336,8-19), kommt es zur gegenläufigen Betrachtung; jetzt wird gesagt: als „mit" seiner Gottheit einer Person „müssen ym", dem Leib Christi, „alle Creaturn . . . gar viel durchleufftiger und gegenwertiger sein" (ebd. 336,9f.) als nach dem vom freien Wollen bestimmten zweiten Modus. Die Gegenwart „ynn allen Creaturn" (ebd. 336,13) ist zugleich deren „Durchlässigkeit" und Gegenwart für ihn, weil „er sie für sich hat gegenwertig/ misset und begreifft" (ebd. 336,14f.). Diese Wendung zum wissenden und verfügenden Subjekt, das die Geschöpfe als gegenwärtiges „nicht fulen" (ebd. 336,12), macht aus Christi Leib keine abständige Größe; die Kreaturen sind ihm gegenwärtig, er ist „ynn allen Creaturen" (ebd. 336,13). Keines schränkt das andere ein. Wohl aber wird deutlich: Der Leib Christi wird nicht als massa humanae naturae (Melanchthon, CR23,5), sondern als zugehörig zum „wesen Christi" (WA 26,336,15) gedacht, ohne deshalb die lokale Gegenwart des Irdischen zu verflüchtigen. Von Christi Menschsein ist, wie von Gott, zugleich die völlige „Welt-Transzendenz" („weit weit außer" . . . „so weit als Gott"; ebd. 336,16) und die totale „Welt-Immanenz" („tieff und nahe ynn"; ebd. 336,17) auszusagen - „oder unser glaube ist falsch" (ebd. 336,19). 4.3.5.3. Das Wissen über das „ W i e " dieses „uns Unbekannten und doch Wahren" ist „alleine G o t t " (WA 26,336,23) vorbehalten. Diese Differenz stößt menschliches „sagen odder dencken" (ebd. 336,19f.) nicht ins Schweigen; sie bewahrt vor dem Widerspruch, der Gottes „ w o r t " von der Einheit der Person Christi leugnet (ebd. 336,24) ein unmögliches Unterfangen, denn dieser negative „Beweis" müßte „Gottes gewalt" (ebd. 336,32f.) verneinen, die es vermag, dem Leib Christi „mehr denn die erste begreiffliche weise zu geben" (ebd. 336,30f.). 4.3.5.4. Doch weiterhin steht der Einwand im Raum: „wenn Christus leib solt allenthalben sein/ wo Gott ist/ so wurde ich ein Marcionist werden" (WA 26,339,14f.).

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Ubiquität

Die Antwort (ebd. 339,14-17.29-32; 340,3-7) macht klar, daß diese Behauptung zu Recht bestünde, wenn die Mitteilung der Allenthalbenheit notwendig zur Auflösung der begrenzten Körperhaftigkeit des Irdischen führen müßte; dazu muß es aber nur dann kommen, wenn Christi Leib den Bedingungen, die für einen menschlichen Leib als massa gelten, unterworfen ist. Dies aber kann nur behauptet werden, wenn das Auge der „Vernunft", auf das Bild eines vorgestellten Jesus fixiert, sich nicht „blenden", d.h. in die „unbegreiffliche weise" auf-„heben" läßt (ebd. 334,23 - 25). Der Vorwurf des Doketismus basiert auf einem nicht genügend geklärten Verständnis des vere homo, d.h. auf der Unfähigkeit des alten Denkens, sich das dem Leib Christi mitgeteilte Vermögen, allenthalben zu sein, anders denn als Auflösung ins Phantastische vorzustellen. Luther bestreitet das unbegrenzte Recht dieser begrenzenden Vorstellung von „Leib", nicht das gegenständliche Da-Sein Jesu, wohl aber, daß er „nicht mehr weise habe etwo [irgendwo] zu sein" (ebd. 340,4). Einleuchten kann diese Argumentation nur, wenn die Ansage der neuen Gemeinschaft von Gott und Mensch in Christus nicht als paradoxe Behauptung, sondern als Bekenntnis des Glaubens verstanden wird, der darauf fußt, daß Christi „menscheit mit Gott eine person worden/ und also gantz und gar ynn Gott gezogen" (ebd. 340,15f.). 4.3.5.5. Hinsichtlich des Seins a m Ort ist Christus nicht ein je anderer; seine Gottheit setzt seine Menschheit nicht instrumental ein, s o daß sie „hie sey o n menscheit/ und dort sey mit der menscheit" (WA 26,340,18f.). Soll nicht eine ex-carnatio (Thumm, Majestas 188) eintreten, „ m u s Christus auch da mensch sein/ w o er Gott ist" (WA 26,340,24). Weil er aber „an einem ort Gott und mensch" (ebd. 340,25) ist, deshalb ist er auch „ a n allen orten . . . zu gleich mensch und G o t t " (ebd. 3 4 0 , 2 7 - 2 9 ; vgl. insgesamt 340,22-34). 4.3.5.6. N a c h dem In-Sein wird als zweites M o m e n t des Zugleich das „ausser und über allen creaturen" (WA 26,340,36f.) auch v o n Christi Menschheit, die „eine person mit der Gottheit ist" (ebd. 341,1), eingeschärft, und zwar so stark, daß von einem Extra Lutheranum gesprochen werden könnte: „ H i e k o m m e n wir nu mit Christo ausser allen Creaturn/ beide nach der menscheit und Gottheit" (ebd. 341,3f.). Es scheint sogar, als würde dieses v o n Gottheit und Menschheit ausgesagte „Extra" nur auf die Menschheit bezogen: „ D a sind wir ynn e y m andern lande mit der menscheit/ denn da sie auff erden gieng/ nemlich . . . blos ynn der Gottheit" (ebd. 3 4 1 , 4 - 6 ) . Diese Kernstelle für die spätere Lehre von der praesentia intima (M. -»Chemnitz) behauptet jedoch keine Status-Differenz zwischen Gottheit und Menschheit, die in der Folge ausdrücklich abgewiesen wird (ebd. 344,28-30; 345,22f.), sondern betont zum einen die Realität des freien Gebrauchs des lokalen Modus und läßt zum anderen Christi Menschheit an der „Welttranszendenz" seiner Gottheit teilhaben. Dieses Extra Lutheranum stellt aber das „ausser den Creaturn" (ebd. 341,7f.) nicht als das für Gottheit und Menschheit Christi eigentlich Gültige heraus; das Argument kehrt ausdrücklich zum Kreatürlichen zurück: „und also auch an allem ort sein, da Gott ist" (ebd. 341,llf.). Weil jedoch dieses „ a n " weder eine nur tangentiale Berührung noch ein Verfallen an die verschlossenen Dinge und Orte meint, wird das „wörtlin" (ebd. 341,14) „in" dem ,,nerrisch"[en] Denken (ebd. 341,13) entnommen und auf das „Vernehmen des Glaubens" hin geöffnet. Er „vernympt, das ,ynn' gleich so viel ynn dieser Sachen gilt als über, ausser, unter durch und widder herdurch und allenthalben" (ebd. 341,17-19). Christi Weltgegenwart ist mit der Schrift so zu bestimmen, daß das unser Verstehen auf den lokalen Modus fixierende Wörtlein „in", der „Dialektik" des Da-Seins Gottes entsprechend, ausgeweitet wird zum Zugleich von „über und unter, ausser und durch", zum dynamischen „herdurch" und dem in eins je singulären und auf alle Dinge ausgreifenden „allenthalben". Weil diese Klarstellung beim Verständnis der Realpräsenz von Leib und Blut Christi zu einer von der Unio mit Brot und Wein ablösbaren pansakramentalen Gegenwart führen könnte (vgl. WA 23,149,15-153,4), wird 1528 für die Abendmahlsgegenwart des Leibes Christi auf den definitiven Modus verwiesen. 4.3.5.7. Im Uberschritt zur Soteriologie weitet Luther das christologische „Simul" v o n Leiden „auff erden" und Sein „ y m h y m e l " (WA 26,345,22—24) auf die Christen aus: „wir allesampt/ s o wir auff erden sterblich sind/ so fern wir an Christo gleuben", sind auch im H i m m e l (ebd. 345,27f.). Diese Übereinkunft mit Christus im H i m m e l ist offen, hin auf ein erhofftes „sein werden" (ebd. 349,20f.), dessen M o d u s offenbleibt - „nach der ersten [lokalen] odder

Ubiquität

235

andern [definitiven] weise" (ebd. 349,21) - , dessen eschatologische Gewißheit uns aber verbürgt, daß „wir" dort „sein werden/ da er ist" (ebd. 349,20f.). Christus ist „nicht allein . . . ym hymel" (ebd. 345,26). Keine räumliche Ferne, kein historischer Graben vermag von ihm zu scheiden (Rom 8,39). Nicht, weil wir allenthalben sind, sondern weil er „allenthalben" ist, und zwar bei allen Kreaturen, gilt mit Notwendigkeit: „er mus ia bey uns auch sein" (WA 26,349,24 £.). Die Zusage von Mt 28 ist keine isolierte Willensbekundung; sie wendet im Wort auf Glauben hin zu, was mit dem Zugleich von Deus incarnatus und homo deificatus geworden ist. 4.3.6. Die „Ubiquitätschristologie" Luthers läßt sich im Fazit so umreißen: 1) Der Himmel ist nicht der „oben" gelegene Ort jenseits der Fixsternsphäre. Mit der Schleifung des „Palastes Gottes" (-»Quenstedt, Systema I, c.X. s.II. Q.IX.) fällt die Übereinstimmung von kosmologischer Vorstellung und soteriologischer Aussage. 2) Diese Entgegenständlichung reduziert die Beziehung von Schöpfer und Geschöpf jedoch nicht auf das Verhältnis zwischen „Gott und der Seele" (-»Augustin). Vielmehr wird Gottes Weltgegenwart an allen Orten als Da-Sein des mit dem „gottgewordenen Menschen" geeinten „inkarnierten Gottes" (WA 8,126,27-29) ausgesagt. Der sich im Sohn zum Heil hingebende Gott ist in eins mit seiner Menschheit der ganzen Schöpfung gegenwärtig und soll deshalb „für allen creaturen" kontrafaktisch zur Erfahrung „außgeruffen werden" (WA 12,556,21). 3) Der in Christus mit der Menschheit geeinte Sohn hat das an sich gültige Axiom der impassibilitas der Gottheit im versöhnenden Leiden der Liebe außer Geltung gesetzt. Insofern ist, wie schon mit der die Person Christi konstituierenden Inkarnation, eine Neubestimmung Gottes eingetreten. 4) Die Person Jesu Christi ist nicht die bloße Ursache seiner vom Geist vermittelten Wirkungen, nicht der abständige Geber gnadenhaft geschenkter „Wohltaten" (beneficia; Melanchthon), auch nicht nur Mittel oder Instrument zum Zweck der Erlösung, sondern die neue Einung von Gott und Mensch, in die hinein menschliches Leben im Glauben neu gesetzt wird: „Auf denn, durch Ihn, in Ihn selbst" (Ecce per eum in ipsum; WA 8,112,5f.). 5) Damit ist eine Reihe christologischer Negationen gesetzt: a) aller Vorstellungen, die darauf basieren, daß auch in Christus die aufgrund des An-sich-Seins Gottes und des Menschen fundamentale Differenz zwischen dem unendlichen Schöpfer und dem endlichen Geschöpf unaufhebbar bleibt, weil Christi wahre Gottheit und Menschheit nur als essentiell differente und nicht als miteinander kommunikativ vermittelte bestimmt werden dürfen, soll die Gottheit des Inkarnierten nicht gemindert und die Integrität des Menschseins Jesu nicht aufgehoben werden; b) jeder religiösen Uberzeugung und theologischen Lehre, welche die Einheit der Person Christi als Kombination der beiden je unverändert mit sich identischen Größen von Gott und Mensch versteht, die nur in dem - auch als identisches gefaßten - Tertium der trinitarischen Person geeint sind. 6) Im Widerspruch zu diesen Nötigungen der auf ihrer Selbigkeit beharrenden Vernunft und Vorstellungskraft des sich der empfangenden und dankenden Gemeinschaft mit dem Schöpfer verweigernden, sich in sich selbst sichernden alten Denkens, das auch Christus nach seinen eigenen Prinzipien konstruiert, bringt das Evangelium Christus als das Geschehen der Vermittlung und Gemeinschaft von Gott und Mensch zur Sprache: 7) Christus ist die geschichtlich-kontingent bewährte, unendlich gültige Anteilgabe der schöpferischen Gottheit im Sohn an die Menschheit Jesu (Erhöhung) und ihre Anteilnahme an dem Geschick, den Taten und Leiden des an die Stelle der an sich verfallenen Menschheit tretenden erhöhten Menschen Jesus (Erniedrigung). In der sich so vollziehenden Einheit der Person Jesus Christus ist das alte Widereinander von Gott und Mensch in die neue Gemeinschaft mit dem Schöpfer gewendet.

236

Ubiquität

8) Indem dies am Ort des Jesus von Nazareth geschah, ist es zugleich das alle an allen Orten auf Glauben hin befreiende Ereignis. 5. Ablehnung

und Aufnahme

der lutherischen

Christologie

im 16.

Jahrhundert

5.1. Diese Neubestimmung von Gott und Mensch wurde vom reformierten Protestantismus als marcionitische Imagination eines phantasma (Calvin, Inst. IV,17,17) und Verletzung der Majestät Gottes (Danaeus 4 1 5 - 4 1 7 ) abgewiesen. Vom -»Heidelberger Katechismus (Fragen 4 6 - 4 8 , vgl. T R E 1 4 , 5 8 2 - 5 8 6 ) bis zur Spätorthodoxie (van Mastricht) beharrte dieser Widerspruch auf der auch in Christus souveränen Identität der Gottheit (Hospinian 154) und der nur soteriologisch-funktionalen Besonderheit der „schlechthin-abhängigen" Menschheit Christi. Im Ton gemäßigter, lehnte auch der elisabethanische Anglikanismus eine Zuweisung der ubiquitie unto man ab (—»Hooker II, 219). 5.2. Die sich von der Verweigerung zum Widerspruch versteifende Haltung des späten Melanchthon und seiner Wittenberger Schüler („—»Kryptocalvinisteri") richtete sich nicht nur gegen das vor allem -»Brenz zugeschriebene „neue D o g m a " von der Ubiquität (Mahlmann, Dogma 9). Melanchthon deutete die communicatio idiomatum als nur verbale Prädikation und restituierte die scholastische „suppositale U n i o n " (StA 6,265, 3 7 - 2 6 6 , 3 ) . Der Glaube hat an Christus ausschließlich den Urheber der von ihm empfangenen „Wohltaten" (beneficia [noch 1550!]; C R 23,344f.). Die philippistischen (Paul Eber [ 1 5 1 1 - 1 5 6 9 ] ) und die sich calvinisierenden (Christoph Pezel [ 1 5 3 9 - 1 6 0 4 ] ) Schüler repetieren bzw. radikalisieren diese Vorgaben. Alle Weisen des Widerspruchs bis hin zu der die -* Konkordienformel bestreitenden Admonitio Neostadiana (1581) basieren auf dem Axiom, daß auch in Christus von Gott und Mensch nur gilt, was ohnehin von beiden in ihrer wesenhaften Verschiedenheit auszusagen ist. Die Mitteilung der göttlichen Idiome, insbesondere der Allgegenwart, an Christi Menschheit und eine (noch so restringierte) Teilhabe der Gottheit an Leiden und Tod mußten deshalb als Vermischung bestritten werden, die Gottes Gottheit verneint und Christi Menschsein verflüchtigt, also Person und Werk des Mittlers auflöst. Zusätzlich motiviert durch ihre Lehre von der meritorischen Leistung der Menschheit Jesu (Baur, Luther 158), stimmte auch die altgläubige Kritik (Johannes Busaeus [15471611]; R. -»Bellarmini; Gaspar Lechner [1584-1634]) in dieses Urteil ein. 5.3. Die Schwierigkeiten eines Melanchthonschülers bei der Annäherung an Luthers Christusbekenntnis dokumentiert das Werk von Martin Chemnitz, vor allem seine Abhandlung Über die beiden Naturen in Christus ... (De duabus naturis in Christo ...). Obwohl Chemnitz die generalis ubiquitas (ebd. c . X X X , 193a) nur als Möglichkeit zuläßt (ebd. c. X X X , 184b), also Luther distanziert, hebelt er die beiden Eckdaten der spätmelanchthonischen Christologie aus: die hypostatische Einung setzt Christi Menschheit nicht nur als abhängige; sie besteht vielmehr darin, „daß die ganze Fülle der Gottheit des Logos mit der angenommenen Natur vereint ist (... quod ... tota plenitudo Deitatis rov Xöyov unita est assumptae naturae-, ebd. c.V, 23a). Die göttliche Natur hat die menschliche „zu ihrer eigenen gemacht" (propriatn sibi fecit\ ebd. c.IV, 19b). Damit ist das suppositale Modell verabschiedet. Folglich ist auch eine reale Mitteilung der göttlichen „Vorzüge" (praerogatwas; ebd. c.XII, 57a) zu lehren. Die Aussagen der communicatio idiomatum haben sich jedoch streng an das Wort der Schrift zu halten (ebd. c.XXI, 91a), dem das Zeugnis der „Alten Kirche" entspricht (ebd. c.XII, 57b). Klar bezeugt ist die Mitteilung der „Allherrschaft" (navxapxia.; ebd. c.XXI, 98b), der Gaben des „lebendigmachenden Lebens, der Vollmacht zu richten und von Sünden zu reinigen" (... vitam vivificantem, et potestatem Judicium faciendi... mundare... peccata; ebd. c.XXI, 99a). Die communicatio ist nicht Konstitution der Personeinheit, sondern ergänzende Ausstattung der Menschheit, damit sie als „eigenes Werkzeug" der Gottheit (organon proprium; ebd. c.V, 26a) dienen kann. Einer Mitteilung der generalis ubiquitas bedarf es dafür nicht. Der Glaubensgehorsam (ebd. c.XXI, 91a) begnügt sich an der „Gegenwart der ganzen Person Christi nach beiden Naturen in der Kirche" (... praesentia totius personae Christi, secundum utramque naturam in Ecclesia-, ebd. c . X X X , 172b). Vor allem aber steht für Chemnitz die Geltung des theistischen Gottesbegriffs fest, deshalb weist er jede Gleichstellung der „angeeigneten" Menschheit Christi mit der (ausdrücklich als prima substantia prädizierten) Gottheit ab (ebd. c.XXII, 106b) und verneint die Zuschreibung des Todes Jesu an die

Ubiquität

237

göttliche Natur (ebd. c.XII, 58b). Die intime Nähe der Menschheit zur Gottheit des Logos (intima praesentia; ebd. c . X X X , 183a) soll dennoch unverbrüchlich sein. Eine Weltgegenwart der Menschheit sei damit aber nicht eröffnet (ebd. c . X X X , 193a). Auch Luther habe niemand genötigt, die „Labyrinthe der Erörterungen" (labyrinthos disputationum; ebd.) über die Ubiquität zu betreten. Chemnitz bleibt auf Abstand. Die Person des Inkarnierten ist ihm die durch die aufgenommene Menschheit „angereicherte" trinitarische Hypostase, nicht die Einung von Gottheit und Menschheit. Das Binnenverhältnis zwischen Gott und Mensch in Christus schwankt zwischen der Teilgabe göttlicher Idiome an die Menschheit und deren operativer Verfügung durch den Gottessohn, an dessen Allgegenwart die Menschheit keinen Anteil erhält. Dennoch, durch die Absage an eine Christologie der Wiederholung der allgemeinen Zuordnung von Gott und Mensch im Modus der Abhängigkeit (suppositale Union) und die (zumindest partielle) Bejahung der realen communicatio schneidet Chemnitz die folgenschwersten Konsequenzen des Identitätsdenkens ab, in dessen Voraussetzungen er befangen blieb. Gerade aufgrund dieser Inkonsistenz war seine Konzeption wirksam als Angebot des Ausgleichs zwischen traditionellem -»Theismus - Gott ist der unwandelbare Schöpfer und Herr, der Mensch bleibend endliches Geschöpf - und dem Novum des Evangeliums - Gott ist in Christus sich mitteilende Liebe, die den Menschen in ihre Gemeinschaft aufnimmt. So verhinderte Chemnitz die Zustimmung der Mehrheit des norddeutschen Luthertums zum „kryptocalvinistisch"-reformierten Widerspruch. 5.4. Am entschiedensten hat sich Johannes Brenz der christologischen Herausforderung Luthers gestellt und sie in einem eigenständigen Entwurf bekräftigt. Dabei radikalisiert er die Kritik an patristischen Autoritäten (vgl. Hutter, Concordia 79f.) und verschärft den Spott über angeblich biblische Fakten, wie etwa die Himmelfahrt (Brenz, Bericht 1 5 9 , 1 3 - 2 9 ) , insbesondere aber kommt es zur verstärkten Gewichtung der Gegenwart Gottes in allen Kreaturen (ders., Sententia 126,9f.). „In jedem Menschen sind die göttliche und die menschliche Natur" (ders., Recognitio 982). Einzigartig ist Christus allein aufgrund der „Mitteilung der Eigentümlichkeiten" Communicatione Idiomatum (ebd. 1027). In „Jesus aus Galilaea" (ebd. 1014) hat der Logos „die ganze Majestät seiner Gottheit ausgegossen" (... effunderet omnem Deitatis suae maiestatem-, ders., De personali 24,3f.), ohne sie zu verlieren oder die Menschheit essentiell zu vergotten. Christus ist das Novum schlechthin (ders., Recognitio 985). In ihm konstituieren göttliche und menschliche Natur eine einzige Person (ebd. 983). Was die Person tut oder betrifft, gilt stets von Gott und Mensch; deshalb wird von Leiden und Tod Christi auch Gott der Sohn „affiziert", „das man mit warheit sagen kann: Gott selbs hat gelitten und gestorben" (ders., Bericht 133,35-37). Wie bei Luther bleibt allerdings ein letzter Vorbehalt (vgl. Hutter, Concordia 81). Vorbehaltlos wird hingegen dem aristotelischen axioma (Brenz, De maiestate 308,31) der „Unvermittelbarkeit von Endlichem und Unendlichem" (ebd. 238,18) mit Joh 1,14 „das Axiom der Schule Christi" (ebd. 310,2) entgegengestellt. An sich kann die menschliche Natur Gottes Majestät nicht aufnehmen, aber „sie kann von Gott her aufnahmefähig werden" (... eam posse divinitus capacem fieri; ebd. 250,16). In Christus hat er „menschliches Wesen" (hutnana substantia-, ebd. 312,12) „aufnahmefähig gemacht unendlicher Macht, Wissens, Weisheit und Gegenwart" (ebd. 312,13 f.). Deshalb ist gewiß: „Wo immer die Gottheit, dort ist auch die Menschheit Christi" (... ubicunque est deitas, ibi etiam sit humanitas Christi; ders., De personali 18,21 f.). Brenz behauptet keine diffuse All-Präsenz des Irdischen. Jesus lag in der Krippe (ders., De maiestate 336,24), war in Bethanien und zur selben Zeit nicht in Jerusalem (ebd. 338,8), und doch war er, dem Orte nach abwesend, beim sterbenden Lazarus (ebd. 338,2-7), denn Christi Menschheit ist durch ihre dimensionierte Körperlichkeit nicht an den Ort gebunden. Je dort oder hier ist sie nur „aus spontanem Willen" (spontanea voluntate-, ders., De personali 12,38) - ohne die mitgeteilte „unendliche Gegenwart" (ders., Recognitio 990) zu verlieren. Wären Gottheit und Menschheit auch nur irgendwo getrennt, würde das Evangelium unterbrochen, hätten wir an Christus nicht den Gott, der „wahrhaft Immanuel, Gott mit uns ist" (ebd. 985) und uns zu „Miterben Christi" (cohaeredes Christi; ebd. 985) macht. Neben dieser Übereinkunft mit Luther stehen jedoch gravierende Differenzen. Brenz begründet die Freiheit des Leibes Christi von den Notwendigkeiten der Körperlichkeit ontologisch. Jesus hat zwar „einen menschlichen Leib, der nach den Bedingungen dieser Welt örtlich am Ort ist" (ders., De personali 28,33ff.; gerafft); durch die „persönliche Einung mit dem Sohn G o t t e s " (ebd. 30,2f.) k o m m t ihm aber ein ortloses corpus spirituale zu (ders., Von der mayestet 4 3 1 , 2 4 - 3 0 ) , das er als Erniedrigter verbirgt (ders., De personali 3 0 , 2 4 - 2 7 ) .

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Ubiquität

Nur zum Zweck der Erlösung unterwirft er sich den Umständen „irdischer Armseligkeit" (terrestris parvitatis; ders., Recognitio 999). Eigentlich gehört er seit seiner inkarnatorischen Erhöhung „jener Welt" an (in altero saeculo-, ders., De personali 30,15), dem zeit- und raumfreien Sein der Gottheit (ebd. 30,34-38). In dieser himmlischen Welt gibt es keine Orte (ders., Recognitio 1000). Die Absicht, Christus in seiner Menschheit als nicht dem Zwang räumlicher Bedingungen unterworfen zu bekennen (ebd. 1006), schlägt um in die Einbindung der von Anfang an erhöhten Menschheit in die conditiones der spirituellen Welt. Deshalb verfehlt auch die Richtigstellung, daß „dieses Wort ubique keinerlei örtlichkeit bezeichnet" (ders., De personali 44,10f.), Luthers Einsicht, daß, wie Gott, so auch Christi Menschheit, zwar nicht „auf örtliche Weise" (localiter), aber in zugleich seinshafter und dynamischer Weise in und am Ort und an allen Orten ist. Mit all dem gefährdet Brenz die Eindeutigkeit der Vermittlung von Gott und Mensch im allein rettenden Novum der Person des als Gott und Mensch allgegenwärtigen Christus.

5.5. Unterstützt von obrigkeitlichen Interventionen wurde die Lutherrezeption von Chemnitz und Brenz, neben denen die norddeutschen Lutheraner Johannes Timann (vor 1500-1557) und vor allem Johann Bötker (1490-1564) zu nennen sind (vgl. Mahlmann, Dogma 4 4 - 4 8 . 8 2 - 9 2 . 1 2 5 - 1 3 7 ) , in einen doktrinalen Ausgleich überführt, dessen Gelingen insbesondere Jakob —• Andreae zuzuschreiben ist. Eine erste Station auf diesem Weg war das Maulbronner Kolloquium (10.-15. April 1564); von -»Olevian gedrängt, akzeptierte Andrea für den „Stand der Erniedrigung" die Restriktion der mitgeteilten Allgegenwart auf den bloßen „Besitz" (Ktijoiq) ohne permanenten „Gebrauch" (xpt}aiBeichte und Kommunion - ersetzt. Eine produktive Devotionalienindustrie - Bilder, Statuen, kirchliche Gebrauchsgegenstände — begleitete diese sich ausweitende Massenreligiosität. Der Besuch der Sonntagsmesse, der um 1840 bei 3 0 % lag, erreichte in wenigen Jahrzehnten 9 0 % . Ebenso rapide stieg die Zahl der Priester an (1900 ein Priester auf 900 Gläubige, eine Ordensfrau auf 400, Missionare und Priester, die irische Emigranten in die USA begleiteten, nicht eingerechnet). Die Vergewisserung irischer Identität und ultramontaner Religiosität war so stark, daß die von den Bischöfen wiederholt ausgesprochene Verurteilung der irischen Geheimbünde, die zu gewaltsamer Trennung von England aufriefen, den Kredit der Kirche für die nationale Sache nicht mindern konnte. 2.10. Ausblick auf Polen, USA und

Kanada

Ebensosehr trifft diese Feststellung auf —»Polen zu. Gregor XVI. und Pius IX. verurteilten die polnischen Aufstände gegen den Zaren und riefen die Bevölkerung zum Gehorsam gegenüber den legitimen Herrschern auf. Auch hier leitete der Ultramontanismus den Übergang von einer etwas verwilderten Volksreligion im russisch besetzten Landesteil zu modernen, kirchlich akzeptablen Formen ein. Typische Manifestation des polnischen Nationalkatholizismus wurde die Wallfahrt nach Tschenstochau (1865 40.000 Pilger, 200.000 im Jahre 1899) und ein mystizistischer Messianismus - der sich den christlichen Sühnegedanken zu eigen machte: Polen leidet für Europa. Entgegen einer weitverbreiteten Auffassung ist die weit ins 20. Jh. relativ säkularisationsresistente Volksreligiosität Irlands und Polens ein Produkt des neuzeitlichen Ultramontanismus. Beide Länder waren typische katholische Auswanderernationen. Ihr Ultramontanismus wurde zum Kennzeichen der katholischen Kirche in den -»• Vereinigten Staaten von Amerika. Im Gegensatz zur europäischen Tradition mußte sie sich hier den Vorgaben der strengen Trennung von Kirche und Staat anpassen und fand Rückhalt nur in der eigenen Gesellschaft und in der Anlehnung an Rom. Das gleiche gilt für Französisch-Kanada (-»Kanada), wo mangels anderer Kräfte unter dem Antrieb des Ultramontanismus die Kirche den Aufbau des gesellschaftlichen Lebens organisierte und später dominierend beherrschte. In Quebec und Montreal wurde sie zur Zitadelle katholisch-kanadischer Identität und kam dem Traum des Ultramontanismus, der Errichtung eines irdischen Gottesstaates, am nächsten. Erst nach der Mitte des 20. Jh. zeichnete sich der Zusammenbruch dieser Weifare Church ab, die das gesamte Schulwesen, die Universitäten, soziale Fürsorge, die Krankenhäuser in der Hand hatte. 3. Bilanz Der Ultramontanismus ermöglichte der katholischen Kirche, Volkskirche zu bleiben, und den katholischen Massen, den Übergang in einer gesellschaftlichen Umbruchzeit zu finden. Im 20. Jh. trug er dazu bei, ihre Widerstandskraft gegenüber den Totalitarismen kommunistischer und nationalsozialistischer Prägung zu stärken. Eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung des Ultramontanismus liegt im Angehen der sozialen Frage im Industriezeitalter. Der Ultramontanismus nahm die Probleme der Auswirkung der Industrialisierung früher und zupackender wahr als der liberale Katholizismus. Hingegen war er mit seinem Rückzug auf eine katholische Binnenkultur nicht fähig, den Dialog mit einer sich pluralisierenden Gesellschaft zu führen. Nach dem Ersten Weltkrieg bahnt sich in einer Reihe von Ländern zum Teil mit Hilfe eines wiederentdeckten „authentischen" Thomismus in Absetzung von der Neuscholastik (-• Scholastik/Neuscholastik)

Ultramontanismus

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eine Annäherung an die nationalen Kulturen an, denen der Ultramontanismus bislang mitunter in schroffer Ablehnung begegnet w a r . Quellen Ludwig Snell, Die Jesuiten u. der Ultramontanismus in der Schweiz v. 1798 bis 1845, Liestal 1846. - Albert v. Fellenberg-Ziegler, Ultramontanismus, Altkatholicismus u. Reformerthum. Eine Zeitbetrachtung, Bern 1888. - Paul Pflüger, Die Weltanschauungen u. Lebensauffassungen des Ultramontanismus, Pietismus, Liberalismus u. Sozialismus, Zürich 1900. - Rudolf Schöller, Katholizismus u. Ultramontanismus, Zürich 1900. - Carl Eberle, Der Ultramontanismus in seinem wahren Sinne, Feldkirch 1904. - Leopold Karl Goetz, Der Ultramontanismus als Weltanschauung auf Grund des Syllabus, Bonn 1905. - Gustav Anrieh, Der moderne Ultramontanismus, Tübingen 1909. - Paul v. Hoensbroech, Rom u. das Zentrum. Zugleich eine Darst. der politischen Machtansprüche der drei letzten Päpste (Pius IX., Leo XIII., Pius X.) u. die Anerkennung dieser Ansprüche durch das Zentrum, Leipzig 1910. - Der Kulturkampf, hg. u. eri. v. Rudolf Lill unter Mitarb. v. Wolfgang Altgeld/Alexia K. Haus, Paderborn 1997. Literatur Wolfgang Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Uber rei. begründete Gegensätze u. nationalrel. Ideen in der Gesch. des dt. Nationalismus, 1992 (VKZG.F 59). - Jeffrey v. Arx, Varieties of Ultramontanism, Washington, D.C. 1998. - Roger Aubert, Le pontificat de Pie IX (1846-1878), Paris 1952. - David Blackbourn, Volksfrömmigkeit u. Fortschrittsglaube im Kulturkampf, Stuttgart 1988. - Olaf Blaschke, Das 19. Jh. Ein zweites Konfessionelles Zeitalter?: GeGe 26 (2000) 38 - 7 5 . - Ders. (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Das zweite konfessionelle Zeitalter zwischen 1800 u. 1970, Göttingen 2002. - Jacques-Olivier Boudon, Paris. 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Ultramontanismus

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Umbanda

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Victor Conzemius

Umbanda (Literatur S. 265)

Umbanda ist Selbstbezeichnung einer bewußt synkretistischen, zum Teil sogar synthetischen Neureligion (-»Neue Religionen) in Brasilien (—»Lateinamerika). Außerdem ist es Sammelname für unterschiedliche religiöse Gruppierungen afro-brasilianischen Charakters, ebenso aber auch wissenschaftliche Bezeichnung für die afro-brasilianischen Religionen vor allem im Süden Brasiliens, in denen sich ursprünglich Bantu-Traditionen erhalten hatten. Der Name Umbanda kam vermutlich in den 20er Jahren des 20. Jh. in Rio de Janeiro auf, wobei manche Umbandistas sogar einen Gründer benennen, Zeliot de Moraes, der in Niteroi, einem Vorort Rios, das erste Umbanda-Zentrum gegründet haben soll, wobei hier allerdings auch schon Elemente des brasilianischen -»Spiritismus (Allan Kardec [1803-1869]) eine wesentliche Rolle gespielt haben. Für den Namen Umbanda gibt es verschiedene etymologische Erklärungen, die aber alle der Phantasie entspringen. Seit den 30er Jahren hat es immer wieder Versuche gegeben, für Umbanda verbindliche doktrinäre Leitsätze zu formulieren, was aber ebenso gescheitert ist wie die Gründung übergreifender Organisationen, die sich als „Dachverbände" verstanden. Seit den 60er Jahren faßten Umbandistas auch in den Medien Fuß, so daß es umbandistische Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendungen gibt; daneben finden sich auch umbandistische Stadtverordnete und Parlamentsmitglieder, die nicht zuletzt aufgrund ihres religiösen Hintergrundes gewählt wurden. Umbanda zählt heute zu den staatlich anerkannten Religionen Brasiliens und drängt mit dem Selbstanspruch, „die brasilianische Nationalreligion" zu sein, in die Öffentlichkeit. Hierbei wird vor allem auf ihren multi-ethnischen und religionenverbindenden Charakter abgehoben, wobei manche Theoretiker so weit gehen, Umbanda als die Urreligion der Menschheit zu bezeichnen. Mit diesen Vorstellungen verbindet sich eine Vielzahl von neuen Mythen, die in einer vielschichtigen umbandistischen Literatur dargestellt und diskutiert werden. Seit den 70er Jahren gibt es innerhalb der sich zu Umbanda zählenden Gruppierungen zwei widerstreitende Tendenzen, einmal die Entafrikanisierung, zum anderen die Reafrikanisierung von Kult und „Lehre". Von Rio de Janeiro ausgehend war Umbanda früher vor allem ein Phänomen in den Städten des südlichen Brasiliens, hat sich heute aber über ganz Brasilien ausgebreitet und hat seine Klientel vor allem in der unteren Mittelschicht und Mittelschicht. Durch diese Ausbreitung kam es zur Aufnahme von religiösen Elementen verschiedenster Herkunft, was sich in der „theoretischen Literatur" von Umbanda niederschlägt. Heute zählt man in Brasilien ca. 120.000 Kultstätten (terreiros) und etwa zwölf bis 13 Millionen Anhänger. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, daß die weitere Zugehörigkeit zur katholischen Kirche für die Umbandistas im Gegensatz zu anderen in Brasilien expandierenden Religionsgemeinschaften kein Problem darstellt. In Umbanda fließen indianische Religiosität (caboclos, „Totengeister") ebenso ein wie Elemente des Volkskatholizismus (Heiligenkult) und des weit verbreiteten Spiritismus (etitidad.es, „jenseitige spirituelle Wesen"). Die eigentliche Grundlage und den historischen Ausgangspunkt aber bilden immer noch die strukturell unterschiedlichen, aus Afrika stammenden Traditionen einmal des ursprünglich nordbrasilianischen Candomble, in Recife auch Xango genannt, die besonders die religiösen Traditionen der Yoruba fortsetzen und die man als den „Priestertyp" charakterisieren kann; zum anderen die aus Bantu-Traditionen hervorgegangene Macutnba, die einen „Heilertyp" darstellt.

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Umbanda

Sowohl die westafrikanischen als auch die Bantu-Traditionen wurden unter dem Mantel der katholischen Heiligenverehrung von den nach Brasilien verschleppten Sklaven tradiert und traten seit der 1892 verkündeten Religionsfreiheit an die Öffentlichkeit. Vorherrschend sind heute innerhalb der Umbanda die aus dem Candomble stammenden Vorstellungen, die sich durch die Nord-Süd-Wanderung der Afrobrasilianer, aber auch durch Übernahme in ganz Brasilien ausgebreitet haben. Im Mittelpunkt des Kultes steht der Umgang mit den Orischas und den unter ihnen stehenden Caböclos, Pretos Velhos und Criancas. Daneben stehen in den vor allem von Weißen beherrschten Terreiros auch die Entidades, „Geister berühmter Persönlichkeit e n " . Aller dieser geistigen Wesen, besser: dieser Funktionsgestalten des Heiligen, die jeweils bestimmte Zuständigkeitsbereiche haben, vergewissert man sich im Kult. Sie werden um R a t gefragt und um Heilung angegangen. Der Umgang mit den Orischas dient der Erhaltung oder Wiederherstellung des Heils ebenso wie der Aneignung oder Steigerung des Heils. Umbanda erweist sich als ein auf das Diesseits bezogenes Lebensbewältigungssystem, in dem sich das Heil für den einzelnen im Hier und Jetzt ereignet. Der Kult ist also vor allem Heilshandeln in Gegenwart der Orischas, die sich in Medien (filhasund filhos-de-santo) vergegenwärtigen bzw. offenbaren. Die Leitung des Kultes obliegt dem Alufa oder dem Babalorischa (Vater des Heiligen) bzw. der lyalorischa (Mutter des Heiligen), die auch priesterliche Funktionen ausfüllen. Sie haben verschiedene Initiationsstufen durchlaufen und leiten selbständig ein Terreiro. Ihre Hauptaufgaben sind das „öffnen der Terreiros", die Identifikation und Interpretation der sich manifestierenden Orischas und das Heilen. Sie geben die Diagnose des jeweiligen Unheils und erstellen die entsprechende Therapie. Ihnen obliegt die Ausbildung der Medien und der anderen Kultfunktionäre. Die Gemeinden, die man besser als Klientel bezeichnen sollte, zentrieren sich um das jeweilige Terreiro und dessen Kulthierarchie. An dessen Spitze steht häufig ein Presidente, der es nach außen vertritt, auf Babalorischa oder lyalorischa folgen Ogans, zu denen die in der Liturgie auftretenden Opferer, Dirigenten, Trommler u.a. gehören, darauf folgen die Filhas- und Filhos-de-santo - auch Cavalos, Burros, Mediuns genannt, die Irtdiciandos (Initianten), Novicos (Novizen) und schließlich die Sambas und Cambones (Helfer). Neben der festen Gemeinde gibt es eine „Bedarfsklientel", zumal die verschiedenen Terreiros auch unterschiedliche Schwerpunkte ihrer Heilsvermittlung haben. Diese Verschiedenartigkeit findet sich auch im Festkalender, der einmal dem katholischen Heiligenkalender folgt, andererseits besondere Tage und Feste für die Orischas kennt. Das größte, inzwischen durchaus folkloristisch geprägte Fest ist das der Yemanja in der Nacht zu Neujahr an der berühmten Copacabana, das aber auch an Flüssen und Quellen begangen wird. Zum Kult gehören des weiteren Tanz, Speise- und Trankopfer sowie Tieropfer, das Zeichnen von Diagrammen, die nicht selten die Funktion von Orakeln haben, aber auch Ansprachen, liturgische Gesänge, gemeinsame Gebete, Gebete der Kultfunktionäre am Altar, den Orisha-Figuren und andere heilige Gegenstände zieren. Von ihrem System her ist die Lehre verhältnismäßig einfach, sie fächert sich nur in ihren funktionalen Bereichen auf. Dabei haben sich heute die aus der Yoruba-Religion stammenden Benennungen der Orischas durchgesetzt, die zu Zeiten der „Sklavenrelig i o n " gleichsam hinter katholischen Heiligen versteckt wurden, mit denen sie heute identifiziert werden. Olörun (Gottvater) gilt als höchstes geistiges Wesen und Quelle allen Heils. Er ist Gebieter aller guten geistigen Mächte (Orischas usw.), mit deren Hilfe der Mensch zum Heil gelangt. Höchster aller Orischas ist Oschala (Jesus Christus), der mit Olorun durch das Orakel-Orischa Ifa (Heiliger Geist) wirkt. Ifa gilt darüber hinaus als die geistige Befähigung des Menschen, sich der Gegenwart der Orischas zu vergewissern und der Vervollkommnung seiner selbst anzunähern, was ebenfalls ein Heilsziel der Umbanda darstellt. Die Orischas sind in sieben Linhas gegliedert, die wiederum sieben Phalanges bilden. Die Linhas werden angeführt von Oschala (Jesus Christus), danach folgen Yemanja (Maria), Oschun (Johannes der Täufer), Oschossi (St. Sebastian), Schango (St. Hieronymus), Ogum (St. Georg) und Omolu (St. Cyprian). Hierbei kann es von Terreiro zu Terreiro Abweichungen geben, besonders in den nachfolgenden Legiones und Phalanges. Daneben stehen die Geister des Bösen, die Eschus, die es zu überwinden und abzuwehren gilt, wobei traditionell Eschu (Singular!) eher ein Trickster und Wegeöffner war, dem man Opfer brachte, damit er den Orischas den Weg ins Terreiro freimachte.

Una-Sancta-Bewegung

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Über den Spiritismus sind Reinkarnationsvorstellungen in Umbanda eingedrungen ebenso wie die Idee der (Selbst-)Vervollkommnung. In manchen „weißen Terreiros" wird ganz bewußt eine Synthese der Religionen - mit dem Ziel, die Urreligion bzw. vollkommene Religion (wieder-)herzustellen - angestrebt, wobei von ägyptischen über gnostische Elemente bis hin zu buddhistischen und hinduistischen Vorstellungen alle möglichen Versatzstücke aus der Welt der Religionen „zusammengebaut" werden. Umbanda bleibt dennoch eine Religion, die das physische und psychische Heil zu vergegenwärtigen sucht, zur Bewältigung aller erdenklichen persönlichen Krisen dient, von allen Bevölkerungsschichten Brasiliens frequentiert wird und in der brasilianischen Öffentlichkeit durchaus präsent ist. Literatur Diana DeGroat Brown, Umbanda. Religion and Politics in Urban Brazil, Ann Arbor, Mich. 1986 New York '1994. - Horst H. Figge, Geisterkult, Besessenheit u. Magie in der UmbandaReligion Brasiliens, Freiburg i.Br./München 1973. - Ulrich Fischer, Zur Liturgie des Umbandakultes, 1970 (BZRGG 13). - Rainer Flasche, Gesch. u. Typologie afrikanischer Religiosität in Brasilien, Marburg 1973 (MSAA.Af 1). - Dieter Fohr, Trance u. Magie. Die afrobrasilianischen Religionen, München 1997. - David J. Hess, Spirits and Scientists. Ideology, Spiritism, and Brazilian Culture, University Park, Pa. 1991. - Lindolfo Weingärtner, Umbanda. Synkretistische Kulte in Brasilien. Eine Herausforderung f. die christl. Kirche, Erlangen 1969.

Rainer Flasche

Umkehr -»Buße, —»Ethik, —• Jesaja, —»Propheten/Prophetie Umwelt -»Ökologie Una-Sancta-Bewegung (Literatur S. 267)

Die lateinische Formel Una Sancta (deutsch: die Eine Heilige) ist eine programmatische Herausstellung der ersten beiden der im ökumenischen Bekenntnis von Nicäa und Konstantinopel (-»Nicäno-Konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis) genannten Merkmale der dort als Glaubensartikel vorgestellten christlichen -»Kirche. Im ökumenischen Aufbruch der ersten Hälfte des 20. Jh. wurde sie zur „Losung" (Deißmann) für jene Kräfte, für die das Bemühen um die sichtbare Einheit aller Gläubigen in Christus nicht zu trennen ist von einer geistlichen Erneuerung und - konfessionsspezifisch unterschiedlich verstandenen — Vereinigung der Kirchen (-»Ökumene). Seinen besonderen Ausdruck fand dieses Bemühen in der Gründung eines ökumenischen Rates von Kirchen. Ekklesiologische Voraussetzung solcher Bestrebungen ist die Überzeugung, 1) daß die Kirche als der Leib Christi eine heilswirksame Bedeutung hat (-»Taufe), 2) daß die Heilswirksamkeit nicht nur exklusiv in der je eigenen kirchlichen Gemeinschaft gegeben ist, sondern daß auch die davon getrennten Kirchen daran partizipieren, 3) daß in keiner der geschichtlichen Kirchen die -»Katholizität der apostolischen Tradition voll entfaltet ist, so daß ihre Vereinigung zur gegenseitigen Bereicherung führt. Die zweite und dritte dieser Voraussetzungen stand bis zum Zweiten -»Vatikanum im Widerspruch zum lehramtlichen Selbstverständnis der -»Römisch-katholischen Kirche. Sie akzeptierte als Einheitsmodell nur eine „Rückkehr" aller Glieder der anderen Kirchen in ihren Schoß als den einzigen „unfehlbar sicheren Hort der ganzen Wahrheit und der Fülle der Gnade" (Papst -»Pius XII. am 5. September 1948 an den 72. Deutschen Katholikentag in Mainz: HerKorr 3 [1948/49] 16). Zaghaft entwickelten sich hier jedoch in Spannung zur offiziellen Lehre und oft zurückgedrängt auch die 1937 von Y.M.-J. Congar in der Reihe Unam Sanctam formulierten „Prinzipien eines katholischen Ökumenismus", die durch

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Una-Sancta-Bewegung

das Ökumenismusdekret des II. Vatikanischen Konzils (-»Ökumenismus) offiziell rezipiert wurden. Wegweisend waren u.a. die Begegnungen mit der Oxfordbewegung im —> Anglokatholizismus (vor allem die „Mechelner Gespräche" in den Jahren 1921-1926) und mit den nach Frankreich emigrierten russischen orthodoxen Theologen sowie die 1935 daraus erwachsene Neuformulierung der Intention für die jährliche Gebetswoche für die Einheit der Christen („für das Kommen der sichtbaren Einheit des Reiches Gottes, wann und wie Christus will") durch Paul-Irenee Couturier (1881-1953). Una-Sancta-Bewegung nannte sich im deutschen Sprachraum eine für diesen spezifische Form des ökumenischen Aufbruchs in der Zeit des Nationalsozialismus und nach dem Zweiten Weltkrieg. Hier war die religiöse Situation in der Öffentlichkeit durch das Nebeneinander der beiden nahezu gleich großen Konfessionen Protestantismus und Katholizismus geprägt. Die gemeinsam erlittene Bedrängnis seitens der atheistischen Diktatur und im Krieg schuf zwischen ihnen ein neues Gefühl der Verbundenheit. Erst recht in den Zeiten der Not und des Wiederaufbaues nach dem Zweiten Weltkrieg wie durch den Zuzug der Vertriebenen aus dem Osten kam es zu neuen Formen des Zusammenlebens und gegenseitiger Unterstützung, vor allem auch zu einer immer größeren Zahl konfessionsverschiedener Ehen (-»Mischehe). In wachsendem Maße fanden sich vielerorts, z. B. in Berlin, München und Stuttgart, evangelische und katholische Theologen, Pfarrer und Laien - Frauen wie Männer - in Una-Sancta-Kreisen zusammen, um in offener Aussprache und gemeinsamem Gebet konfessionelle Mißverständnisse und Vorurteile zu überwinden, das Gemeinsame des Glaubens bewußt zu machen und in einer Gesinnung der Buße auch zu einer neuen Demut und Ehrfurcht im Umgang miteinander zu kommen. Zum Zentrum der Una-Sancta-Bewegung wurde durch seine Kontaktfreudigkeit und seine unermüdliche Tätigkeit in Vorträgen und Kleinschriften zunächst M.J. Metzger (1944 als „Volksverräter" hingerichtet) mit dem von ihm 1928 in Meitingen gegründeten „Christkönigshaus". Hier fand 1939 eine erste Una-Sancta-Begegnung statt. Aus der internationalen Versöhnungs- und Friedensarbeit kommend, sah Metzger in der Einigung der Christen die Voraussetzung für ein glaubwürdiges christliches Friedenszeugnis. Im Advent 1939 schlug er in einem Brief an Papst -»Pius XII. vor, von Katholiken und Nichtkatholiken gemeinsam ein „Allgemeines Konzil" vorbereiten zu lassen, „das der neugeeinten Kirche das neue Gesicht zu geben berufen wäre" (Metzger 89). Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich aus den Una-Sancta-Rundbriefen in Verbindung mit der Una-Sancta-Begegnungsstätte der Benediktinerabtei Niederaltaich (Abt Emmanuel Maria Heufelder [1898-1982]; Thomas Sartory [1925-1982]) die Zeitschrift Una Sancta. Wegbereitend für eine so breite Akzeptanz ökumenischer Ideen im katholischen Deutschland schon in den 30er Jahren waren die biblische und die liturgische Erneuerungsbewegung, das neu erwachte Interesse an den Ostkirchen und vor allem die Revision der katholischen Sicht M. -»Luthers und der -»Reformation durch Kirchenhistoriker wie J. -»Lortz. Angesehene Theologen hatten, unterstützt durch Zeitschriften wie Hochland und Stimmen der Zeit und die Impulse, die u.a. von Burg Rothenfels ausgingen, das Bewußtsein dafür geschärft, daß die Katholizität der Kirche in der Römisch-katholischen Kirche nur „katholizistisch verengt" (Rademacher) verwirklicht ist. Auf evangelischer Seite entsprach dem eine Wiederbelebung altkirchlicher Katholizität, die keineswegs auf die -»Hochkirchliche Bewegung beschränkt war, von dieser aber programmatisch vorangetrieben wurde. Schon der Hochkirchlich-Ökumenische Bund (1924—1927; Zeitschrift Una Sancta) suchte das Gespräch mit den katholischen Mitchristen. Unter Leitung des stark von N. -»Söderblom beeinflußten Religionswissenschaftlers F. -»Heiler setzte sich dann die Hochkirchliche Vereinigung für eine „evangelische", d.h. wieder im ursprünglichen Sinn verstandene und damit zugleich ökumenische Katholizität ein. Ökumenisch bedeutsam wurde auch die Entstehung neuer Kommunitäten und Bruder- und Schwesternschaften in den evangelischen Kirchen (-»Bruderschaften/Schwesternschaften/Kommunitäten). Ihre Häuser wurden bald ebenso wie

Una-Sancta-Bewegung

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katholische - besonders benediktinische - Klöster zu Stätten von Una-Sancta-Begegnungen. Gerade in der Una-Sancta-Bewegung wurde deutlich, daß es neben den Kirchenleitungen, der Theologie und der „Ökumene am O r t " als unterschiedlich ansetzenden ökumenischen Erkenntnisinstanzen auch einen eigenständigen ökumenischen Beitrag der Geistlichen Gemeinschaften gibt, insofern sich in ihnen aus der Tiefe geistlicher Erfahrung Wege zueinander auftun. Es gab jedoch auch Kritik an der Una-Sancta-Bewegung. Evangelische Stimmen sprachen von einer Vorwärmstube für Konversionen, katholischerseits wurde die Bildung einer „dritten Konfession" befürchtet. Ein römisches Monitum vom 5. Juni 1948 (AAS 40 [1948] 257), das die noch gültigen Verbote einer Beteiligung von Katholiken an ökumenischen Zusammenkünften einschärfte, sollte vor allem (laut Radio Vatikan) einem „Wildwuchs" in der Una-Sancta-Bewegung wehren. Doch zeigten die Deutschen -»Katholikentage und Deutschen Evangelischen -»Kirchentage und besonders die Una-Sancta-Veranstaltung beim Eucharistischen Kongreß 1960 in München, wie weit der ökumenische Gedanke am Vorabend des Zweiten Vatikanum die Gläubigen überall in den Kirchen erfaßt hatte. Seit Mitte der 60er Jahre ging ihr Engagement in die neu gebildeten ökumenischen Gremien der Kirchen ein. Doch bleiben auch weiterhin aus persönlicher Betroffenheit erwachsene Impulse gelebter Ökumene notwendig. Darum wurde in Fortsetzung der Una-Sancta-Bewegung 1969 eine Arbeitsgemeinschaft Ökumenischer Kreise (AÖK) gegründet, die heute einen Beobachterstatus in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (-»Ökumene 3.4.6.) hat. Literatur Nicht eigens erwähnt werden: 1) Beiträge in den Zeitschriften US und EHK, in denen die Una-Sancta-Bewegung regelmäßig thematisiert wird, 2) Rundbriefe einzelner Una-Sancta-Kreise sowie bibliographisch kaum erfaßbare volksmissionarische Kleinschriften, obwohl ihnen in den 1930er und 1940er Jahren mit den damals sehr eingeschränkten Publikationsmöglichkeiten für die Verbreitung des Una-Sancta-Gedankens eine große Bedeutung zukam, 3) die Literatur zu den Stichworten und Namen, zu denen im Text auf eigene TRE-Artikel verwiesen wird. Karl Adam, Una Sancta in kath. Sicht, Düsseldorf 1948. - Hans Asmussen, Zur Vorgesch. der kath.-ev. Berührungen u. Annäherungen: Remigius Bäumer/Heimo Dolch (Hg.), Volk Gottes. FS Josef Höfer, Freiburg i.Br. 1 9 6 7 , 7 3 0 - 742. - Michael Buchberger, Aufbruch zur Einheit u. Einigkeit im Glauben, Freiburg i.Br. 1948. - Yves M.-J. Congar, Chrétiens Désunis. Principes d'un „Oecuménisme" Catholique, 1937 (UnSa 1). - Adolf Deißmann, Una Sancta. Zum Geleit in das ökum. Jahr 1937, Gütersloh 1936. - Paulus Engelhardt, M a x Josef Metzger. Bruder Paulus, Meitingen 1980. - Johannes Günther, Gemeinsam unter dem Kreuz. Der Weg der Una Sancta Berlin, Berlin 1982. - Friedrich Heiler, Ev. Katholizität. GAufs., München, I 1926. - Ders., Utopie oder Wirklichkeit der Una Sancta-Arbeit?: Ö E 1 (1948) 6 - 3 1 . - D e r s . , Die Krise der Una Sancta: ebd. 1 1 5 - 1 3 2 . - Adolf Küry, Una Sancta, eine Gemeinschaft f. die Verständigung unter den christl. Bekenntnissen: IKZ 37 (1947) 2 5 6 - 2 6 3 . - Matthias Laros, Schöpferischer Friede der Konfessionen. Die Una SanctaBewegung, ihr Ziel u. ihre Arbeit, Recklinghausen 1950. - Hermann Leitz, Una Sancta - Eine Heilige Kirche. Ein ev. Wort über das Wesen der Kirche, die Ökumene u. die Una Sancta-Bewegung, 1960 (ÖTS 8). - M a x Josef Metzger, Christuszeuge in einer zerrissenen Welt. Briefe u. Dokumente aus der Gefangenschaft 1 9 3 4 - 1 9 4 4 . NA, hg. u. eingel. v. Klaus Kienzier, Freiburg i.Br. 1991. Arnold Rademacher, Die Wiedervereinigung der christl. Kirchen, Bonn 1937. - Heinz-Albert Raem, Die Anfänge der ökum. Bewegung im kath. Raum: Erwin Gatz (Hg.), Gesch. des kirchl. Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jh., Freiburg i.Br. u.a., III 1 9 9 4 , 1 4 5 - 1 6 4 . - Norbert Stahl, „Eins in Ihm". Der Una Sancta-Kreis München 1 9 3 8 - 1 9 9 8 , München 1998. Leonard J. Swidler, The Ecumenical Vanguard. The History of the Una Sancta Movement, Pittsburgh, Pa. 1966. - Gerhard Voss, Art. Una Sancta-Bewegung: EKL 3 4 (1996) 1 0 1 3 - 1 0 1 7 .

Gerhard Voss

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Undereyck

Undereyck, Theodor 1. Leben

2. Werk

(1635-1693) 3. Wirkung

(Werke/Literatur S. 271)

1. Leben Geboren wurde Theodor Undereyck am 15. Juni 1635 in Duisburg als Sohn des reformierten Kaufmanns Gerhard Undereyck und seiner Ehefrau Sara, geb. Salenger. Beide stammten aus niederländischen Exulantenfamilien und starben schon im 2. Lebensjahr des Sohnes an der Pest. Mit 18 Jahren begann er das Theologiestudium in -»Utrecht, wo er G. —• Voetius hörte, der gegenüber dem Arminianismus (-»Arminius, Jacobus/ Arminianismus), einer Form des liberalen Humanismus, eine scholastisch-orthodoxe Haltung einnahm und trotz mystischer Elemente seines Denkens in seinem Bemühen um die praecisitas, die Übereinstimmung von menschlichem Handeln mit dem göttlichen Gesetz, kasuistische Formen entwickelte. In der Vorrede seines Halleluja bezeichnet Undereyck aber auch J. -»Coccejus als seinen Lehrer. Undereyck stellte mit dem Bundesbegriff (—•Föderaltheologie) das Bemühen Gottes dar, die Menschen für sich zu gewinnen und ihnen durch die Erkenntnis seines Heilswillens und das Befolgen der göttlichen Gebote zu einer christlichen Existenz zu verhelfen. Einfluß auf Undereyck hatte neben dem Prediger Justus van den Bogaart (1623-1663) auch Jodocus van Lodenstein (1620-1677), den man als hartnäckigen Junggesellen verspottete mit dem Vers „Der Liebe=lose Lodenstein der ist so kalt als Lot und Stein" (Reitz IV/2, 24). Darin nahm ihn sich Undereyck nicht zum Vorbild, sondern heiratete 1660 Margarete, die Tochter des französisch-reformierten Predigers Hüls in Wesel (Huckenbeck 37). Das Ehepaar wurde mit „drey gut=artigen Töchtern" beschenkt (Cornelius de Hase, Abdankungsrede in: Undereyck, Halleluja, 2 1722). Die übliche Bildungsreise führte Undereyck nach —•Genf, —»England und -»Frankreich. Seine erste Pfarrstelle bekam er 1660 in Mülheim an der Ruhr, das ein Vorbild für den —»Pietismus des gesamten Niederrheins wurde. Undereyck ging es um ein exemplarisch christliches Leben der Gemeindeglieder, wozu Zusammenkünfte neben dem Gottesdienst helfen sollten. Nach dem Weggang Undereycks gestaltete sich die Neubesetzung der Stelle schwierig durch das Eingreifen der lutherischen Grafen der Unterherrschaften von Limburg-Styrum und von Dhaun-Falkenstein und die passive Wahlbeteiligung des Labadisten Heinrich Schlüter (vgl. Goebel II, 312-315; Rosenkranz 143f.). Undereyck nahm 1668 eine Hofpredigerstelle in Kassel bei der Landgräfin Hedwig Sophie (1623-1683) an, einer Schwester des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640-1688), die 1650 nach dem Tod ihres Gatten Wilhelm VI. (1637-1663) die Herrschaft für Wilhelm VII. ausübte, und als dieser 1670 neunzehnjährig starb, die Regierung für ihren Sohn Karl weiterführte bis 1677. Undereyck, dem die Gemeindearbeit fehlte, schlug einen Ruf der dänischen Königin Charlotte Amalie (1650-1714; Tochter des Landgrafen Wilhelm VI. von Hessen; Gemahlin Christianus* V.) aus und wurde 1670 Pastor Primarius an St. Martini in -»Bremen. Hier geriet er in das gespannte Verhältnis zwischen Kaufleuten, Bauherrn und Rat einerseits und geistlichem Ministerium andererseits. Wohin seine (nicht verwirklichten) reformerischen Pläne zielten, zeigen seine Absichten zur Einrichtung eines Presbyteriums, Abendmahlsausteilung nur an die Gläubigen und Taufverweigerung bei mangelnder Kenntnis und mangelhaften christlichen Leben der Eltern. Mehr Erfolg war ihm in der Jugenderziehung (Schulgründung im Dorf Rablinghausen), Katechisation und der Abschaffung des Beichtpfennigs beschieden. Im geistlichen Ministerium erwies er sich als wenig kollegial, wohl hauptsächlich deshalb, weil seiner Meinung nach dessen Mitgliedern die Voraussetzungen zu wahren Seelenhirten fehlten. Das verrät seelsorgerlichen Eifer, aber auch einen unchristlichen Richtgeist. Undereyck starb am 1. Januar 1693. 2. Werk Das Werk Christi BRAUT / Unter den Töchtern zu Laodicaea ... (1670) bietet nach den im Titel angegebenen drei Teilen 27 „Schlußreden" bzw. Thesen, die aus der Bibel,

Undereyck

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Kirchenliedern, dogmatischer und erbaulicher Literatur erläutert werden. Willem Teelincks tiootvvendig Vertoog (Notwendiger Bericht, Middelburg 1622) erscheint dabei so verdächtig, d a ß Undereyck die „ A p p r o b a t i o n " von zwei Universitäten abdruckt. A u c h dafür, daß er Auszüge aus Werken der Lutheraner J . - » A r n d t und Heinrich Müller ( 1 6 3 2 - 1 6 7 5 ) bringt, rechtfertigt er sich. U m dem V o r w u r f der Schwärmerei zu entgehen, bringt Undereyck nur unter den Initialen ihres N a m e n s Zeugnisse aus Spiritual Experietices of sutidry Beleevers by Vavasor povel [Powell] (Schräder 79—81). Als seine Hauptgegner empfindet der A u t o r g e m ä ß seinem Vorbericht die irdisch gesinnten Scheinchristen. E r hat selbst den Eindruck, daß seine Argumentation „ e t w a s undeutlich" ist, weiß auch u m die stilistischen Schwächen seiner deutschen Ausdrucksweise. Fehler im Zitieren seien nicht durch Absicht, sondern durch Eile entstanden. Zum Titel des Buches äußert sich der Verfasser in der Dedikation an die Fürstin Hedwig Sophie: Christus, „der Welt Heyland", war während seines Erdenlebens zuerst unter den Dornen (Cant 2,2), nachher haben alle seine geliebten Freunde dieselben Stacheln in Verfolgung, Kreuz und Trübsal empfinden müssen. Wird jemand in Christi Reich „übergesetzt" und ein liebes Glied an seiner Braut (Gemeinde), da ist alsbald Hora Iuris Hora crucis (Die Stunde des Lichts ist die Stunde des Kreuzes). Er macht seinem auserwählten Volk schon im Anfang bekannt, daß es sich nicht in der Welt Eitelkeit und der vergänglichen Weltlust baden kann, sondern wie viel es um seines Namens willen leiden soll. Die Seinen müssen Verfolgung erdulden und ihrem Haupt und Bräutigam nach durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen (Act 14,22). Wie nach Auskunft der Naturkundigen die Nachtigall, wenn sie von einem Dorn gestochen, aus dem Schlaf erwacht, lieblich singt, also bewirkt das Stechen des Feindes Christi bei den Getroffenen, daß sie ihren Gott durch Kampf und Streit bis zum Verlust ihres Lebens desto mehr und erbaulicher verklären. Es gibt sichtbare Dornen, vor denen sich alle Freunde Christi leicht in Acht nehmen können, und unter Blättern und Blumen verborgene. Sie tun der unvorsichtigen Einfalt den größten Schaden. Der Türke, der Antichrist und der Teufel selbst sind der Kirche mit ihren groben Ketzereien, mit Tyrannei und Blutvergießen vormals nicht so gefährlich gewesen wie die lieb- und leblosen Töchter von Laodicäa in diesen letzten Tagen unter einem äußerlich zwar wohlriechenden, im Grunde aber kraftlosen Blumenschein der Gottseligkeit. Die Braut Christi, nämlich Gottes auserwählte Kinder, gerieten in die größte Gefahr durch ihren einfältigen Umgang mit einem „Engelscheinenden Satans=Knecht", wenn sie nicht durch Gottes verborgene Vorsehung und Regierung zur Seligkeit bewahrt würden. Der Autor beklagt, daß es „in diesen letzten Tagen", nämlich zu seiner eigenen Zeit, Männer gebe, die mit „auf Mosis Stuhl sitzen" (Mt 23,2), unterdessen aber in ihrem Predigtamt so ganz ohne Nachdruck, Kraft und Leben erfunden werden, daß sie das geistliche Leben, von anderen treuen Knechten Gottes verkündigt, für eine neue Schwärmerei, und die, die durch einen himmlischen Wandel der Verkündigung gemäß leben, für eine besondere Sekte ausgeben. Undereyck hatte seit zwei oder mehr Jahren die Absicht, den frommen Leuten nach seinem angeblich geringen Vermögen einige Waffen zu reichen, mit denen das Christi Ehre kränkende Geschwätz gestillt werden könnte. Die Widmung an seine Herrin erfolgt aus Dankbarkeit und in Erwartung des Schutzes für das entstandene Buch mit dem obrigkeitlichen Schwert. Der Fürstin wird ein freudenreicher Vorgeschmack der zukünftigen Güter gewünscht zur weiteren Verminderung des Glanzes gefährlicher Eitelkeiten der Welt. Im Vorbericht an den christlichen Leser erfährt man, daß der Autor zu seiner Arbeit motiviert wurde, weil bisher ein Traktat, in dem in Kurzfassung das zum wahren Christentum Notwendige enthalten wäre, fehle. Undereyck führt für seine Gedanken zahlreiche Belegstellen aus englischen (puritanischen) und niederländischen erbaulichen Quellen an. Es finde sich in dem Werk keine einzige „Schluß=Rede", die nicht von der „Christscheinenden Welt" verursacht worden sei. D a s Werk HALLELUJA/ Das ist/ Gott in dem Sünder verkläret (1678) hat einen stark lehrhaften C h a r a k t e r , handelt von —»Sünde und - » G n a d e , dem rechtfertigenden - » G l a u b e n und dessen Aufrichtigkeit in katechismusmäßiger F o r m mit Fragen und Antw o r t e n . O b w o h l der Verfasser sich selbst gegen den V o r w u r f der Schwärmerei wehren muß, unterscheidet sein Werk so sehr zwischen gläubigen und scheingläubigen Christen, d a ß Richten und Selbstgerechtigkeit leicht eine Folge der Lektüre sein kann. Die katechetische Intention und M e t h o d e Undereycks zeigt sich auch in seinen beiden Katechismen Wegweiser der Einfältigen (1676) und Der Einfältige Christ ( 1 6 8 1 ) . M a n

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könnte die beiden Katechismuswerke mit Luthers Kleinem und Großem Katechismus vergleichen, allerdings mit dem Unterschied, daß Undereycks zweite Arbeit nicht für die Pfarrherrn bestimmt ist, sondern für Anfänger des christlichen Glaubens und Lebens, die sich nicht nur unter der Jugend, sondern auch in den Schichten der Angesehenen und Gebildeten finden, wie die Widmung an einen Ratsherrn in Bremen zeigt. Entsprechend der reformierten Bundestheologie wird doziert, wie der Mensch als Sünder durch den Mittler Jesus mit dem höchsten Wesen, Gott, einen Bund schließt. Das christliche Leben als Akt der Dankbarkeit besteht in der Gottes- und Nächstenliebe, zu der aber im Gegensatz zu Frage 4 des -»Heidelberger Katechismus, wo die Summe des göttlichen Gesetzes in diese beiden Forderungen zusammengefaßt ist, noch die Selbstliebe kommt. Sie ist aber in ihrer Eigenständigkeit dadurch eingeschränkt, daß wir des Herrn sind. Es besteht in der Zwei- oder Dreiteilung der Pflichten nicht nur ein Unterschied zwischen vor- und nachreformatorischer Zeit, sondern auch zwischen lutherischer und reformierter Ethik (Mohr, Johann Henrich Reitz als Erzieher 2 0 8 - 2 1 2 Anm. 33). Die Spezialisierung der Gebetsanlässe Undereycks verrät eine gewisse Verwandtschaft mit der Aufklärung (vgl. ebd. 210). In der mit über 1.000 Seiten sehr umfangreichen apologetischen Schrift Der närrische Atheist (1689) unterscheidet Undereyck theoretischen, philosophisch untermauerten und praktischen Atheismus. Dazu zählen nach seiner Einschätzung nicht nur neue aufklärerische (deistische) und bibelkritische Ideen, sondern grundsätzlich das Denken und Verhalten aller nicht wiedergeborenen Menschen. Sie können durchaus kirchlich sein, aber vom pietistischen Standpunkt aus sind sie nur Scheinchristen oder Beinahchristen. Als ihnen zugehörig sieht Undereyck auch manche neuere Sektierer und Schwärmer. Scharf verurteilt er die separatistischen Labadisten (—»Labadie, Jean de). Das Gegenteil des Atheisten, der Gott leugnet (vgl. Ps 14,1; 53,2), ist der Syntheist, der mit Gott rechnet und lebt. Die Atheisten sind mit den Narren, ja selbst mit den Tieren gleichgestellt (Undereyck, Atheist 22f.). Daß für den Atheismusbegriff Undereycks die Abhandlung seines Lehrers G. Voetius Disputationes de Atheismo (1648) von ausschlaggebender Bedeutung war, steht außer Frage. Es bedürfte aber einer eigenen Untersuchung, ob und, falls ja, welche Beziehung besteht zwischen dem närrischen Atheisten und dem Narrenschiff Sebastian —>Brants (Basel 1494). J. -»-Geiler von Kaysersberg hielt im Straßburger Münster 1498/99 einen Zyklus von mehr als hundert Predigten darüber. Es liegt auf der Hand, daß Brant ein Moralist und Zeitkritiker war, was nicht der Absicht Undereycks entspricht, doch in der Entlarvung des Sünders, der sich in der Welt des Scheins behaupten will („denn jedem Narren das gebrist, daß er sein will, was er nicht ist" (Kap. 76), gibt es auffällige Berührungspunkte. 3. Wirkung Joachim Neander (1650-1680) besuchte aus Neugierde und in der Absicht zu kritisieren eine Predigt Undereycks in Bremen, ward aber von dessen Gebet stark angerührt „und hielte sich zu dem lieben MANN / als einem geistlichen Vater" (Reitz IV, 43). Reitz selbst beweist seine Seelenverwandtschaft mit Undereyck dadurch, daß er in dem ersten Buch seiner Historie Frömmigkeitszeugnisse aus derselben englischen Quelle mit Namensabbreviaturen wie Undereyck in Christi Braut bringt (Schräder, Literaturproduktion 7 9 - 8 1 ) . Wie auch andere Pietisten verstand es Undereyck, Einfluß auf die Pfarrstellenbesetzung zu nehmen. Beispiele sind sein Nachfolger in Bremen, Cornelius de Hase (1653-1710, Schüler Undereycks und zeitweiliger Kollege an St. Martini), und sein Schwiegersohn Werner Köne (1679-1681 Pfarrer in Oberneuland, 1681-1687 in Varel, dann Hofprediger in Kopenhagen bei der Tochter der Königin Charlotte Amalie von Dänemark). Die Predigtbände über die Ewigkeit von Konrad Mel (1666-1733, reformierter Pietist, Pfarrer in Mitau in Kurland, Memel, Königsberg, Hersfeld mit Tätigkeit am Gymnasium, auch Erfinder technischer Geräte zur Anfertigung von Land-

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und Seekarten) lassen einen Einfluß von Undereycks Atheismusbegriff erkennen. Der Aufbau von Bernhard Meyers ( 1 6 5 7 - 1 7 3 0 ) Erklärung des Heidelberger Katechismus entsprechend dem 1. Kapitel von Undereycks Halleluja ist auffällig und auch ein Beweis für das Weiterwirken des früheren Mülheimer Pfarrers auf den späteren. An Undereyck wird sowohl der Einfluß der nadere [erweiterte] reformatie in den -•Niederlanden als auch des englischen -»Puritanismus auf den deutschen Pietismus deutlich. Werke Christi BRAUT / Unter den Töchtern zu Laodicaea / Das ist / Ein hochnötiger Tractat / in diesen letzten Tagen. Darinnen Die lebendige Kraift deß seeligmachenden Glaubens von allen Schmach=Reden der in dieser Zeit Christ=scheinenden Spötter / nicht nur aus Hl. Schrifft; sondern auch aus gleichlautenden Zeugnüssen der darinn gottseelig erfahrenen u. v. GOtt gelehrten Männern gereiniget u. verthädiget wird. In Drey Theil: Deren Der I. die unfehlbare Kennzeichen II. die verschiedenen Hindernüssen III. die darzu nöthige Mittel in sich verfast. Von Theodor UnderEyck / Predigern zu Cassel. Perkins Tom. I über die 1. Epist. Joh. Es ist der allergrösseste Gewissens=Fall / der jemahls kann fürgestellet werden / woran der Mensch erkennen soll / daß er ein Kind Gottes sey, Hanau 1670. - HALLELUJA / Das ist / Gott in dem Sünder verkläret. Oder / Des Sünders Wanderstab zur Erkäntnus/Geniessung / und Verklärung GOTTes / Als des Höchsten Gutes. Erster Theil, Bremen 1678 Herborn 2 1722; niederl. Ubers. 1684. - Wegweiser der Einfältigen zu den ersten Buchstaben des wahren Christentums, meistenteils nach der Ordnung der fünf Hauptstück der Christi. Religion, Bremen 1676. - Der Einfältige Christ / Durch wahren Glauben mit Christo vereinigt / u. nach offt begangenem Mißbrauch / zu dem rechten Gebrauch des H. Abendmahls . . . eingerichtet durch T. U.E. Prediger, Bremen 1681 21700. - Der Närrische Atheist / Entdeckt u. seiner Torheit überzeuget / In Zweyen Teilen In dem Ersten als ein solcher / der da wissentlich willens u. vorsetzlich / ihme selbst u. anderen / die Gedancken / welche sie v. GOtt haben / nehmen will. In dem Zweyten / Als ein solcher / der da unwissend u. ungemerckt / auch unter dem Schein des wahren Christenthums / ohne GOtt in der Welt lebet, v. Theodor UnderEyck / Prediger zu Bremen in Martini Kirch, Bremen 1689 21722; niederl. Ubers., Amsterdam 1702. Vier Lieder Undereycks abgedr. in: Do-Hong Jou (s.u. Lit.) 205 - 211. Literatur Hans-Martin Barth, Atheismus u. Orthodoxie. Analysen u. Modelle christl. Apologetik im 17. Jh., Göttingen 1971. - Ders., Atheismus. Gesch. u. Begriff, München 1973. - Sebastian Brant, Das Narrenschiff (Basel 1494), übertr. v. H.A. Junghans, durchg. u. mit Anm. sowie einem Nachwort neu hg. v. Hans-Joachim Mahl, Stuttgart 1964 u.ö. - Karl Demandt, Gesch. des Landes Hessen, Kassel 1959 21972. - Heiner Faulenbach, Die Anfänge des Pietismus bei den Reformierten in Deutschland: PuN 4 (1979) 190-234. - Heinrich Forsthoff, Eine dramatische Predigerwahl in Mülheim an der Ruhr 1668-1671: MRKG 9 (1915) 65-128. - Ders., Der UnderEyck'sche Pietismus u. die Wendung zum Separatismus in Mülheim a.d.R.: ebd. 10 (1916) 289-319. - Ders., Theodor UnderEyck, der Begründer des Pietismus in der ref. Kirche Westdeutschlands: ebd. 11 (1917) 2 8 9 310. - Max Goebel, Gesch. des christl. Lebens in der rheinisch-westphälischen Kirche. II. Das 17. Jh., Coblenz 1852 Nachdr. Gießen 1992, bes. 300-312. - Johann Friedrich Gerhard Goeters, Der ref. Pietismus in Deutschland 1650-1690: Martin Brecht (Hg.), Gesch. des Pietismus, Göttingen, I 1993, 241-277. - Ders., Der ref. Pietismus in Bremen u. am Niederrhein im 18. Jh.: ebd., II 1995, 372-427. - Wilhelm Goeters, Art. Under=Eyck: RE 3 20 (1908) 228-233. - Cornelius de Hase, Kurtze Abbildung des gottseligen Lebens u. merckwürdigen Absterbens Des Weiland T.T. Herrn Theodori UnterEycks . . . In einer Abdanckungs=Rede, Die er bey dessen Begräbnuß den 6. Jan. 1693 gehalten / entworffen: Theodor Undereyck, Halleluja (s. o. Quellen), Herborn '1722. - Heinrich Heppe, Gesch. des Pietismus u. der Mystik in der ref. Kirche, namentlich der Niederlande, Leiden 1879, bes. 469-481. - Ernst Huckenbeck, Wilhelm Hüls (1589-1659), Köln 1990. - Johann Friedrich Iken, Joachim Neander. Sein Leben u. seine Lieder, Bremen 1880. - Do-Hong Jou, Theodor Undereyck u. die Anfänge des ref. Pietismus, Bochum 1994. - Gottfried Mai, Die niederdt. Reformbewegung. Ursprünge u. Verlauf des Pietismus in Bremen bis zur Mitte des 18. Jh., 1979 (HosEc 12), bes. 77-125. - Bernhard Meyer, Eine kurtze, doch nähere Erklärung und Befestigung des Christlich-Reformirten Catechismi, hg. v. Helmut Ackermann, Rödingen 2001. - Rudolf Mohr, Johann Henrich Reitz als Erzieher. Einige Angaben zur Biographie: Heiner Faulenbach (Hg.), Standfester Glaube, FS Johann Friedrich Gerhard Goeters, Köln 1991 (SVRKG 100) 191-246. Erwin Mülhaupt, Rheinische KG v. den Anfängen bis 1945, Düsseldorf 1970 (SVRKG 33) 224-227. - Joachim Neander, Einfältige Bundeslieder u. Dankpsalmen, hg. u. kommentiert v. Rudolf Mohr,

Ili

Ungarn

Leipzig 2002 (Kleine Texte des Pietismus 4). - Johann Henrich Reitz, Historie Der Wiedergebohrnen / Oder Exempel Gottseliger / so bekandt- u. benannt- als unbekandt u. unbenanter Christen / Männlich u. Weiblichen Geschlechts / in allerlei Ständen . . . , 4 B d e . , 1 7 0 1 - 1 7 1 6 ; o . O . [Offenbach], III 1701, bes. X . Historie, 1 3 7 - 1 4 9 ; Itzstein, IV 1716, bes. Dritte Historie von Joachim Neander, 4 2 - 5 5 = ders., Historie Der Wiedergebohrnen. Vollst. Ausg. der Erstdrucke aller sieben T. der pietistischen Sammelbiographie ( 1 6 9 8 - 1 7 4 5 ) mit einem werkgesch. Anh. der Varianten u. Erg. aus den späteren Aufl., hg. v. Hans-Jürgen Schräder, 4 Bde., Tübingen 1982. - Albrecht Ritsehl, Gesch. des Pietismus. I. Der Pietismus in der ref. Kirche, Bonn 1880. - Albert Rosenkranz, Generalsynodenbuch. Die Akten der Generalsynoden v. Jülich, Kleve, Berg u. Mark 1 6 1 0 - 1 7 9 3 , Düsseldorf 1966. - Werner Rupp, Art. Undereyck, Theodor: B B K L 17 (2000) 1 4 3 9 - 1 4 4 3 . - Hans-Jürgen Schräder, Literaturproduktion u. Büchermarkt des radikalen Pietismus, Göttingen 1989. - Johannes Wallmann, Labadismus u. Pietismus. Die Einflüsse des niederl. Pietismus auf die Entstehung des Pietismus in Deutschland: Johannes van den Berg/Jan Pieter van Dooren (Hg.), Pietismus u. Reveil, Leiden 1 9 7 8 , 1 4 1 - 1 8 6 . - Winfried Zeller, Conrad Mel als Theologe des ref. Pietismus: ders., Frömmigkeit in Hessen, Marburg 1970, 1 4 9 - 1 9 1 . Rudolf Mohr

U n f e h l b a r k e i t -»-Papsttum, —»Vatikanum I und II

Ungarn 1. Mittelalter - von der „Landnahme" bis zur Reformation 2. Reformation und Gegenreformation bis zum Ausgleich 1667 3. Ungarn als Teil des Habsburgerreiches bis 1918 4. Ungarn als Republik 5. Konfessionskundliche Statistik (Quellen und Literatur S. 300) 1. Mittelalter 1.1.

— von der „Landnahme"

Volkwerdung

und

bis zur

Reformation

„Landnahme"

E r s t seit d e m frühen 9. J h . w e r d e n U n g a r n als eigenständige G r u p p e f a ß b a r , nicht in d e m territorialen R a u m des heutigen U n g a r n , s o n d e r n in der südrussischen Steppe zwischen südlichem U r a l u n d den K a r p a t e n . V o n d o r t k a m e n die Volksgruppen der M a g y a r e n E n d e des 9. und zu Beginn des 10. J h . n . C h r . , u m sich im K a r p a t e n r a u m anzusiedeln. Die Herkunft läßt sich fast nur noch sprachwissenschaftlich nachvollziehen. Die Urheimat der Ungarn und ihrer finno-ugrischen Sprachverwandten wird heute in Westsibirien lokalisiert. Als Jäger, Sammler und Fischer lebten sie im Gebiet zwischen dem mittleren Ural und dem Mittellauf von O b und Irtysch. Im 4. Jahrtausend v. Chr. begann sich diese uralische Gemeinschaft aufzulösen; Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. gab es die drei finno-ugrischen Sprachfamilien des Finnowogulischen, Permischen und Ugrischen. Die sprachliche Einheit des letzteren, zu dem außer den Vorfahren der Ungarn (Magyaren) auch die der Ostjaken (Chanti) und Wogulen (Manis) gehörten, ging in der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends v.Chr. verloren. Durch Klimaänderungen verschoben sich die Vegetationszonen nach Norden, so daß die Ugrier sich spalteten in eine Gruppe, die nordwärts an den unteren O b (Obugrier) zog, und eine Gruppe, die in ihrem Siedlungsgebiet, das sich über Waldsteppe zu trockener Steppe wandelte, zu extensiv Viehzucht betreibenden Nomaden wurde. V o m Gebiet östlich des südlichen U r a l s gelangten die U n g a r n in das in mittelalterlichen Quellen Magna

Hungaria

g e n a n n t e Gebiet zwischen W o l g a und U r a l , w o 1 2 3 6

der D o m i n i k a n e r m ö n c h J u l i a n u s i m A u f t r a g seines Königs Béla IV. d o r t verbliebene Volksreste suchte und a u c h fand. U n g e k l ä r t ist, wie lange sie d o r t siedelten, ehe sie, v e r m u t l i c h in der ersten H ä l f t e des 8. J h . n. C h r . , in das zwischen Dnjepr und Wolga a m D o n gelegene, n a c h e i n e m ihrer Sakralfürsten b e n a n n t e Levedien

weiterzogen. Die

g e n a u e L a g e ist u n b e k a n n t , d o c h vollzogen sich hier d u r c h enge A n b i n d u n g an den K h a n a t der C h a s a r e n wichtige gesellschaftlich-wirtschaftliche und kulturelle Prägungen, die sich v o r allem s p r a c h l i c h n a c h w e i s e n lassen. Dies ist die Z e i t , in der a u c h eine wirklich ethnische A b g r e n z u n g m ö g l i c h w i r d . D e r byzantinische Kaiser Konstantin VII.

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Porphyrogennetos (geb. 905, reg. 913-959) zählt in seinem 950 verfaßten Werk De administrando imperio sieben (ungarische) Stämme auf (Nyék, Megyer, Kürtgyarmat, Tarjan, Jenó, Kér, Keszi), die einen eigenen Stammesverband bildeten. Als dieser ungarische Stammesverband sich in der ersten Hälfte des 9. Jh. (zwischen 820 und 830) an inneren Unruhen des Chasarenreiches und einem dann niedergeschlagenen Aufstand gegen die Zentralgewalt beteiligte, endete die Verbindung zu den Chasaren. Ein Teil der Aufständischen schloß sich als achter Stamm (Kabaren) den Ungarn an und zog, als das Chasarenreich wieder erstarkte, mit ihnen 840 weiter nach Westen in das Gebiet zwischen Dnjepr und Dnjestr - von den Ungarn Etelköz (Zweistromland) genannt - , wo sie allerdings nur etwa 50 Jahre blieben. Eine wichtige, von den Chasaren übernommene Einrichtung war die der doppelten Führungsspitze: der kende war ein mit vielen Tabuvorschriften versehenes (religiöses) Oberhaupt, der gyula übte als Heerführer die eigentliche Macht und Herrschaft aus und wurde in der Folge der politische Führer. Die unmittelbare Besetzung und Einnahme des Donaubeckens selbst war die Folge einer Niederlage. In das später von ihnen besiedelte Gebiet des Donauraumes waren die ungarischen Horden seit 862 mehrfach als Verbündete der Mähren oder des Ostfränkischen Reiches vorgedrungen. Als am Ende des 9. Jh. die Byzantiner, denen die Ungarn erfolgreich Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Bulgaren leisteten, mit letzteren Frieden schlössen, sahen sich die Ungarn plötzlich im Stich gelassen. Ihre Siedlungen im Etelköz östlich der Karpaten wurden größtenteils zerstört, das Heer von den Bulgaren und ihren Verbündeten (Petschenegen) geschlagen. Der Rest rettete sich über die Karpaten in das Karpatenbecken. 895 drangen sie unter der Führung des Großfürsten Árpád (894-907) von Nordosten her über den Vereckepaß und von Osten und Südosten durch die Siebenbürger Karpaten in ihre neue Heimat ein, die anfangs keine feste Grenzen aufwies. Zunächst besiedelten sie die Ebene, wo sie Wasser und Weideland fanden. Das war kein herrenloses Land, sondern befand sich unter verschiedenen Herrschaften (östlich der Donau und das heutige -»Siebenbürgen unter bulgarischer, im Westen und Südwesten unter ostfränkischer bzw. mährischer); doch hatte keine dieser Herrschaften eine Bevölkerungsmehrheit. Weder konnte der Raum vor den angrenzenden Reichen geschützt noch einheitlich beherrscht werden, da er am Rande des jeweilig eigentlichen Herrschaftsgebietes lag. Das „politische Vakuum" im Donaubecken erleichterte es den Ungarn, die Eroberung und Festsetzung, als „Landnahme" bezeichnet, zu vollziehen. Vom 10. Jh. bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde dann die geographische Einheit des mittleren Donauraumes in eins gesetzt mit dem Reich der Ungarn (vgl. Karte 1). Bei der „Landnahme", die vor allem mit dem Namen des Großfürsten Árpád verbunden blieb, traten die Ungarn in der Besiedlung des Karpatenraumes die Nachfolge der Hunnen (5. Jh.) und Awaren ( 6 . - 8 . Jh.) an, die nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches dort gefolgt waren. Das war eine zunächst nicht seßhafte Besiedlung, denn die Ungarn waren ein Reitervolk — Grundlage für ihre erfolgreiche Einnahme des Gebietes. Ihre Gemeinschaft gründete sich auf die von der Doppelspitze geleitete Stammesverbundenheit, die politisch, nicht ethnisch motiviert war. 1.2. Die Anfänge des Christentums

in der ungarischen

Tiefebene

Über die schamanische Religion der Ungarn ist fast nichts bekannt; sicher ist, daß sie keinen Monotheismus kannten. Bei dem Einzug in das Karpatenbecken fanden sie ein Gemisch aus verschiedenen Volksgruppen vor, dessen religiöse Prägung christlich war. Seit der römischen Zeit war die christliche Tradition in diesem Gebiet nie abgerissen, was archäologische wie sprachwissenschaftliche und literarische Befunde beweisen. Die slawischen Siedler wurden nicht vernichtet, sondern in die eigene Gesellschaft meist als „Unfreie" integriert. Nach wie vor waren sie das seßhafte bäuerliche Element in diesem Raum. War das Gebiet westlich der Donau, Pannonien, in römischer Zeit zunächst vom lateinischen Christentum geprägt, so bildeten die in den folgenden Jahrhunderten

Ungarn

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hier siedelnden Gruppen der Völkerwanderung ein Missionsziel der byzantinischen Kirche. Christliche Gemeinden lassen sich für das Gebiet erstmals in der zweiten Hälfte des3. Jh. annehmen. Bischof Irenaus von Sirmium (Szavaszentdemeter/Sremska [Di]Mitrovica) z. B. erlitt 304 das Martyrium. Erst nachdem Kaiser ->Konstantin I. der Große sich 312 dem Christentum zugewandt hatte, erlebte auch Pannonien einen christlichen Aufschwung. Die Merkmale römischer Religion wurden vernichtet oder vergraben. Für diese Zeit lassen sich bereits Bistümer nördlich der Donau nennen. Die Quellen belegen als Bischofssitze Sirmium, Cibalae (Visk/Vinkovci), Mursa (Eszek/Essek/Osijek), Siscia (Sziszek/Sisak), Jovia, Emona (Laibach), Carnuntum, Poetivio (Ptui/Pettau) und Scarabantia (Sopron/Ödenburg). Ausgrabungen weisen Basiliken in Savaria (Szombathely/ Steinamanger), Valcum (Fenekpuszta), Aquincum (Öbuda/Altofen), eine Doppelkirche in Kekküt und eine Kirche in Kisdiöspuszta nach und geben Hinweise auf zahlreiche weitere christliche Kirchen. Pannonien galt um die Mitte des 4. Jh. als durchweg christianisiert, strukturell und organisatorisch. Der Hunneneinfall im letzten Viertel des 4. Jh. verlagerte die lokalen Schwerpunkte, führte zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang in diesem Gebiet und damit auch zum Rückgang des Christentums. Der Untergang des weströmischen Reiches hatte zur Folge, daß dort, wo es Christentum und christliche Strukturen gab, das byzantinische Christentum prägend wurde. Dies blieb so, bis Ende des 8. Jh. -»Karl der Große die seit dem 6. Jh. im Karpatenbecken herrschenden Awaren besiegte und sie für das westliche Christentum und damit seinen Machtbereich gewinnen wollte. Fränkisch-westliche Mission trat in Konkurrenz zu den - wenn auch nicht sehr zahlreichen - bis dahin unter den Awaren lebenden slawischen Christen. In der Folgezeit geschah eine weitere kontinuierliche Verchristlichung des Gebietes und seiner Bewohner, die jedoch gekennzeichnet war von der Rivalität der verschiedenen Missionszentren, die eine starke Anbindung an ihre Herkunftsländer hatten (fränkische, mährische Mission). Allerdings erlauben es die wenigen Quellen nicht, ein geschlossenes Bild zu zeichnen. Mit ihrem Einzug in dieses Gebiet 896 beendeten die Ungarn nicht nur die erfolgreichen Christianisierungsversuche, sondern machten sie rückgängig. Die gesamte Gesellschaftsstruktur wurde erneut heidnisch. Obwohl die Bevölkerung mehrheitlich christlich (westlich oder östlich geprägt) gewesen war, läßt sich kein Widerstand gegen die Neuankömmlinge und kein Einsatz für den christlichen Glauben und seine Kultstätten (Kirchen, Grabstätten) bei der Bevölkerung nachweisen. Die Begegnung mit der — wenn auch nicht sehr zahlreichen - ansässigen, mehrheitlich christlichen Bevölkerung war für die Ungarn keineswegs die erste Berührung mit dem Christentum. Schon vorher hatten sie Kontakt vor allem zum byzantinischen Christentum. In die Zeit ihrer Verbindung mit dem Chasarenreich gehört die Legende, die sowohl Kyrill (um 825-869) als auch Method (kurz vor 820-885) ( - • Cyrillus und Methodius) direkten Kontakt zu den „ O u g r e n " zuschreibt, die zunächst feindlich, dann friedlich und schließlich freundschaftlich geschildert werden. Es ist jedoch davon auszugehen, daß diese Kontakte, wenn sie stattfanden, nur einzelne Personen oder Gruppen betrafen. Die Ungarn selbst waren in der Gesamtheit ihrer verschiedenen ethnischen Zusammensetzung Heiden. In dem neuen Land führten die angekommenen Gruppen zunächst ihr Reiter- und Nomadendasein ungebrochen fort. Ein Teil blieb, betreute mit Hilfe der vorhandenen Bewohner das Vieh und betrieb Ackerwirtschaft. Der andere Teil ging auf Kriegszüge, die, auch zur Sicherung der Heimat unternommen, tatsächlich ausgedehnte Beutezüge waren und für längere Zeit ganz Europa in Schrecken versetzten. Bis zur ersten Hälfte des 10. Jh. konnten sich die Ungarn so mit einem Gürtel tributpflichtiger Gebiete umgeben.

276 1.3. Christianisierung

Ungarn und

Staatsbildung

955 unterlagen die Ungarn dem Heer Kaiser —»-Ottos I. auf dem Lechfeld bei Augsburg; 970 schlug Kaiser Johannes I. Tzimiskes von Byzanz (geb. 924, reg. 969-976) bei Arkadiopolis die Ungarn und ihre Verbündeten und setzte damit auch im Osten einen Schlußpunkt unter die ungarischen Raub- und Beutezüge. Die europäischen Mächte hatten gelernt, der bisher so erfolgreichen ungarischen Kriegsführung entgegenzutreten. Die ungarische Führung erkannte, daß es keine Alternative zu einer Integration in einen der beiden christlich geprägten Machtbereiche gab. Der Großfürst des östlichen Stammesverbandes, Gyula, hatte sich bereits um 950 in -»Konstantinopel taufen lassen. Durch die Bitte an den Bayernherzog Heinrich (den Zänker) (955-995) um die Entsendung von Missionaren 971 und dieselbe Bitte 973 an Kaiser Otto I. entschieden sich der Großfürst Taksony (geb. um 930, reg. 955 - 972) und sein Sohn Geza (geb. um 950, reg. 972-997) aus dem Hause der Ärpaden gegen das östliche für das westliche Christentum: der wichtigste Schritt zur Integration der ungarischen Spätankömmlinge in das europäische Gefüge. Auf Geheiß Herzog Heinrichs kam zunächst der spätere Bischof von Regensburg, Wolfgang, 971 nach Ungarn und begann mit der planmäßigen Missionierung, die dann 973 durch den von Kaiser Otto II. (geb. 955, reg. 973-983) zur Missionierung entsandten Bischof Pilgrim (gest. 991) von Passau fortgesetzt wurde - nun mit dem Ziel der Eingliederung in das ottonische Reichskirchensystem, um den Einfluß -»-Bayerns zurückzudrängen. Damals wurden der Großfürst Geza und seine Söhne Michael und Vajk getauft — letzterer auf den N a m e n des Schutzheiligen der Passauer Diözese: Istvän (Stephan). Das Vorhaben, Ungarn in das Reichskirchensystem zu integrieren, scheiterte. Statt dessen erlangte Geza, der trotz seiner Taufe auch an heidnischen Glaubensformen festhielt, durch die Heirat seines im christlichen Glauben erzogenen Sohnes Istvan mit Gisela, der Tochter des bayerischen Herzogs Heinrich II. (geb. 951, reg. 995-1024), 996 eine engere Anbindung an Bayern und damit eine größere Selbständigkeit gegenüber dem Reich. N u n wurde die christliche Mission vom königlichen Hof aus geleitet und von Istvän im Sinne seines 997 verstorbenen Vaters weitergeführt. Im Ergebnis entstand ein ungarischer Staat, der flächendeckend christlich geprägt und im wesentlichen zentral geleitet war. Für je zehn Gemeinden ließ Istvän eine Kirche errichten, die mit je einem Geistlichen ausgestattet war. So entstanden in Ungarn etwa 2000 Kirchen. Verwandte wie Stammesfürsten wurden ohne Kompromisse in Schranken verwiesen. Gegenüber seinem Onkel Koppäny, der seine Mutter Sarolt zur Frau nehmen wollte und so Thronansprüche stellte, setzte Istvan die Primogenitur durch und brach mit der heidnischen Tradition des Seniorats. 1003 konnte der durch die Krönung zum ungarischen König außenpolitisch gestärkte Istvän mit der Eingliederung des Stammesverbandes des mächtigen westsiebenbürgischen Gyula in das Königreich und darauf folgend weiterer Großfürsten eine innerungarische Einigung vollziehen. Von da an orientierten sich auch die zuvor teilweise nach Osten ausgerichteten Gebiete am westlichen Christentum. Am 25. Dezember 1000 oder am 1. Januar 1001 war Istvän in Szekesfehervär (Stuhlweißenburg) mit einer „heiligen" Krone, die von Papst Silvester II. (999-1003) nach Ungarn gesandt worden sein soll, zum ungarischen König gekrönt und gesalbt worden. (Die heutige „Stephanskrone" stammt aus dem 11. [byzantinischer Teil] und 13. Jh. [lateinischer Teil] und ist Symbol für die Mittelstellung Ungarns zwischen Ost und West.) Istvän gilt ausdrücklich als apostolischer Herrscher, der neben seiner weltlichen Macht selbst Verkünder und Vertreter des christlichen Glaubens war. Die Krönung sicherte ihm neben der erwähnten Selbständigkeit dem Kaiserreich gegenüber — Kaiser - » O t t o III. hatte seine Zustimmung gegeben - auch die kirchliche Gewalt. Nicht nur die staatliche Ordnung, die Entwicklung und der Auf- und Ausbau des Verwaltungssystems, sondern auch die weitere Errichtung und Erhaltung der Kirchenstruktur lag in den Hän-

Ungarn

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den des ungarischen Königs, des Inhabers der Stephanskrone. Die errichteten Pfarreien waren neugeschaffenen Bistümern zugeordnet. Diese wiederum unterstanden den Erzbistümern Esztergom (Gran), gegründet 1000 - hierzu gehörten 1000 Eger (Erlau), 1009 Gyor (Raab), Veszprem, Vac (Waitzen) und Pees (Fünfkirchen) - , und Kalocsa, gegründet 1009 - hierzu gehörten 1030 Csanad (Tschanad/Cenad), 1034 Nyitra (Neutra, Nitra), 1050 Bihar-Varad ([Groß-]Wardein/Oradea); später auch Gyulafehervar (Weißenburg/ Alba Julia), die Residenz der Familie des Gyula. In den Bistümern wirkten zunächst Schüler des -»Adalbert von Prag, später deutsche, italienische, wallonische und lothringische Mönche, hauptsächlich -»Benediktiner, bis in Ungarn eigener Nachwuchs zur Verfügung stand. Im Kloster Martinsberg (Pannonhalma), nach dem in Savaria (Szombathely/Steinamanger) geborenen Bischof -»Martin von Tours benannt, entwickelte sich eine Art Zentrum der Benediktinerkultur. Hier wurden die meisten Missionare und Prediger ausgebildet. Bereits 1040 soll es einen ungarischen Episkopat gegeben haben. Zum kirchlichen Mittelpunkt des Landes wurde 1009 Szekesfehervär (Stuhl weißenburg). Die Stadt, in der die Liebfrauenkirche - während der Türkenherrschaft zerstört und im 18. Jh. bis auf die Grundmauern abgetragen - nach dem Vorbild des Aachener Doms als sakrales Zentrum errichtet wurde, lag an der Pilgerstraße, die durch Ungarn führte, und hatte so eine über das Land hinausgehende Bedeutung. Eine stärkere Integration in das Heilige Römische Reich konnte (anders als z. B. in Skandinavien, -»Polen und Böhmen [-»Böhmen und Mähren]) erfolgreich abgewehrt werden, wenn es sein mußte, auch durch Krieg. So setzte Istvan sich 1030 gegen Kaiser Konrad II. (geb. 990, reg. 1027-1039) durch, der durch die Zusicherungen in Grenzfragen den Frieden an der Ostgrenze des Reiches erhielt. Zwischen 1018 und 1031 entstand nach dem Vorbild westlicher -»Fürstenspiegel die Institutio morum des Königs für seinen Sohn. Als Hauptaufgabe des christlichen Herrschers galt danach der Schutz der Kirche und die Überwindung des Heidentums. Heide wurde mit Feind gleichgesetzt, der abendländisch christliche Glaube als wichtigste Grundlage der Macht betrachtet; weitere Stützen waren die Kirche und der Klerus vor der „vierten Zierde der Herrschaft", der Gefolgschaft der Großen, Gespane und Ritter. Der integrativen Tradition entsprechend, empfahl der Herrscher seinen Nachkommen, sich gegenüber Fremden offen und freundlich zu verhalten, da sie das Land bereichern (auch finanziell: ca. 40% der Steuern kamen von ihnen); denn „ein Land mit [nur] einer Sprache und einer Gewohnheit ist schwach und vergänglich" (von Farkas 12). Konzentrierte und ausgreifende Familienpolitik sicherte von Anfang an ein umspannendes Netz von Beziehungen, das die Einbindung in das vorhandene und künftige Europa sichern sollte, nach Osten wie auch nach Westen. Dies führte allerdings auch dazu, daß beim Fehlen eines direkten Thronerben sogleich aus den verschiedensten Häusern Europas Ansprüche gestellt wurden und der Tod eines ungarischen Königs oft erhebliche Wirren mit sich brachte. Auch der Tod Istvans führte 1038, da sein Sohn Imre (Emerich) schon 1031 ums Leben gekommen war, zu Unruhen. Statt seines Neffen Vaszoly (geb. um 960) - den er offiziell wegen heidnischer Gesinnung blenden ließ (und so nach heidnischem Verständnis für den Herrschaftsanspruch untauglich machte) und samt Söhnen verbannte - hatte Istvan Peter Orseolo (1011-1058, reg. 1038-1041 und 1044-1046) zu sich an den Hof nach Szekesfehervär (Stuhlweißenburg) geholt, den Sohn seiner jüngeren Schwester und Otto Orseolos (gest. 1032), des zeitweiligen venetianischen Dogen (1009-1026). Sowohl Peter Orseolo als auch dessen Onkel, Kontrahenten und Nachfolger Samuel Aba (geb. um 990, reg. 1041 — 1044) gelang es nicht, eine geordnete Herrschaft zu errichten. Eine heidnische Reaktion in dieser Zeit hatte zur Folge, daß Priester und Mönche, aber auch Bischöfe ihre Leben lassen mußten. Erst die Nachfolger Andräs (Andreas) I. (geb. um 1013, reg. 1046-1060) - der sich zum christlichen Erbe Istvans I. bekennende Sohn Väszolys, den die Fürsten aus Kiew zurückriefen - , Läszlö I. (Ladislaus) der Heilige (geb. um 1042, reg. 1077-1095) und Kaiman (Koloman) der Bücherfreund (geb. vor

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Ungarn

1074, reg. 1095-1116), der erstmals auch den Titel des Königs von Dalmatien und Kroatien - seither zum Reich der Stephanskrone gehörig - trug, konnten in den Spuren Istväns das ungarische Reich weiter ausbauen und festigen. Dabei ist vor allem Làszló zum Repräsentanten unabhängiger ungarischer Herrschaft geworden. Er betrieb die Heiligsprechung Istväns, Imres und dessen Erziehers, Bischof Gerhard von Csanäd (Tschanad) (um 980-1046), der 1046 in den Thronwirren umgekommen war. Alle drei wurden 1083 heiliggesprochen. Damit war die Verwurzelung Ungarns im Christentum gefestigt und Ungarn mit eigenen Attributen versehen - eine eigene Größe in der Geschichte des europäischen Christentums. Seine innenpolitische Macht stützte Làszló I. vor allem auf den Hochadel, die Magnaten, und den Klerus, den er dadurch gewann, daß er die Kirchengüter unter königlichen Schutz stellte, die Abgabe des Zehnten regelte und in bezug auf den —»Zölibat eine tolerante und abwartende Haltung einnahm. Kaiman knüpfte wieder engere Bindung nach Osten. Seine Cousine Piroska (Irene) (um 1088-1134) gab er 1105 dem späteren byzantinischen Kaiser Johannes II. Komnenos (geb. 1088, reg. 1118-1143) zur Frau. Sie wurde zur Initiatorin vieler byzantinischer Kirchen- und Klosterbauten des Mittelalters; wegen ihrer Selbstlosigkeit wird sie in der orthodoxen Kirche als Heilige verehrt. 1.4. Hohes Mittelalter

und

Renaissance

Das 12. Jh. war geprägt von einer sowohl innen- als auch außenpolitischen Festigung Ungarns. Die kirchlichen Strukturen erhielten ihre letzten Ausprägungen, und durch die Unterstützung des Hofes für die Gregorianische Reform und Klostergründungen wurde Ungarn zu einem nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch kulturellen Anziehungspunkt in Europa, offen für Orden und Handwerk. Von Beginn an gab es die Benediktiner (im 14. Jh. ca. 80 Klöster), die entscheidenden Anteil an der Christianisierung und monastischen Prägung des mittelalterlichen Ungarn hatten. Daneben etablierten sich im 12. Jh. die -»Prämonstratenser (33 Klöster) und -»Zisterzienser (18 Klöster), im 13. Jh. die -»Dominikaner (40 Klöster) und -»Franziskaner (54 Klöster), als die Benediktiner die erwartete aktive Seelsorge, Armenpflege, aber auch die gewünschte Bildung und Unterrichtung der aufstrebenden Schichten nicht mehr bieten konnten. 1211 hatte sich auch der Deutsche Ritterorden (-»Ritterorden, Geistliche) niedergelassen. In Siebenbürgen erhielt er das Burzenland, eigentlich als Schutz gegen die später nach Ungarn integrierten, damals noch heidnischen Kumanen. Im sog. Andreanum erhielten die Ritter 1224 zwar gemeinsam mit den Saxones genannten Siedlern bedeutende staatliche und kirchliche Privilegien, doch führte ihr Bestreben, eine eigene Herrschaft aufzubauen, bereits 1225 dazu, daß sie aus dem Königreich vertrieben wurden und nach Ostpreußen (-»Preußen) gingen. Die Johanniter (-»Ritterorden, Geistliche) übernahmen dann ab 1247 ihre Aufgabe im Blick auf die Kumanen. Von Esztergom aus bündelte der dortige Bischof das weit verbreitete Eremitenwesen und gründete 1246 den Paulinerorden mit 19 Klöstern, der 1367 von Papst Urban V. (1362-1370) bestätigt wurde. Wichtigstes Ergebnis der Regierung des schwachen Andräs II. (geb. um 1177, reg. 1195-1235; Vater der -» Elisabeth von Thüringen) ist die sog. „Goldene Bulle" Ungarns, in der er 1222 durch Verleihung der Königsunmittelbarkeit an die Dienstleute und militärdienstpflichtigen Gemeinfreien die Grundlage zur Herausbildung des mittleren und niederen Adels schuf und dem Hochadel ein Widerstandsrecht gegenüber dem König zugestand — ein Recht, das einen absolut regierenden König ausschloß und erst durch die Habsburger abgeschafft, bis dahin jedoch als hohes Gut betrachtet wurde. Die „Goldene Bulle" wurde 1351 von Nagy Lajos I. (Ludwig I. dem Großen) (geb. 1326, reg. 1342—1382) bestätigt und zur Grundlage der Herausbildung der weltlichen und geistlichen Stände, die auf den Reichstagen, wo schon seit der Mitte des 13. Jh. Steuern und Gesetze festgelegt wurden, ihren Einfluß geltend machten. Durch die guten Beziehungen nach Osten und die oben erwähnte Expedition des Julianus erfuhr Béla IV. (geb. 1206, reg. 1235-1270) 1237 zum wiederholten Male von

Ungarn

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der drohenden Gefahr eines Mongolensturmes. Weder beim ungarischen Adel, der unter sich zerstritten war, noch bei Papst oder Kaiser fand Béla IV. über Versprechungen hinausgehende Unterstützung. Nachdem die Führer der inzwischen christianisierten Rumänen durch den ungarischen Adel ermordet worden waren, war auch von dieser Seite keine Hilfe zu erwarten. 1241/42 fegten die Mongolen über Ungarn hinweg (Tatarensturm) und zerstörten so ein hochentwickeltes europäisches Land. Nur der Umstand, daß sich die Mongolen infolge eigener Nachfolgestreitigkeiten in ihre Heimat zurückzogen, rettete das vom christlichen Europa im Stich gelassene Ungarn vor der totalen Katastrophe. Die Blütezeit der Arpaden in Ungarn war, auch wenn sie erst mit Andrâs III. (geb. um 1265, reg. 1290-1301) in der männlichen Linie ausstarben, vorbei. König Béla IV. stand vor der schwierigen Aufgabe, das verwüstete und zum Teil entvölkerte Land wieder aufzubauen. In bewährter Weise verheiratete er zwei seiner Töchter nach Osten, seinen Sohn mit einer kumanischen Prinzessin. Er hoffte, so vor den nächsten Angriffen der „Tataren" rechtzeitig gewarnt zu werden. Béla IV., der auch der zweite Staatsgründer genannt wird, ließ Grenzburgen errichten und Städte befestigen, siedelte im Osten, wo ganze Landstriche entvölkert waren, Kumanen und Jazygen an, holte Bauern und Handwerker aus Europa und organisierte das Heerwesen neu. Die Residenz wurde von Székesfehérvâr (Stuhlweißenburg) nach Buda (Ofen) in das Castrum novi montis Pestiensis verlegt. Damals faßte auch die neue Frömmigkeitsrichtung der Bettelorden in Ungarn Fuß. Béla IV. selbst und seine Frau waren Tertiarier der Franziskaner ( -» Tertiarier/Tertiarierinnen). Mit dem Tod des letzten Arpaden 1301 kam zum wiederholten Male der ungarische Thron ins Blick- und Anspruchsfeld europäischer Mächte. Wenzel II. von Böhmen (1278— 1305) - dessen Großvater Wenzel I. (1230-1253) ein Enkel Bêlas III. (geb. um 1148, reg. 1173-1196) und mit der Tochter des letzten Arpaden verlobt war —, Otto III. von Wittelsbach (1261-1312) - ein Enkel Bêlas IV. (geb. 1206, reg. 1235-1270) - und Karl Robert (Kâroly Robert) von Anjou (geb. 1288, reg. 1208-1342) - dessen Großmutter Maria eine Tochter des ungarischen Königs Istvâns V. (geb. 1239, reg. 1270-1272) gewesen war — erhoben Ansprüche. Mit Unterstützung von Papst —»Clemens V. gelang es Kâroly Robert, sich gegen seine Rivalen durchzusetzen. Er wurde zwar 1308 König, nachdem er bereits 1301 gekrönt worden war, erhielt aber erst 1310 die zuvor ins Ausland gebrachte Stephanskrone. Er brach die Macht der zu Territorialfürsten gewordenen Magnaten und errichtete mit Hilfe des aufgestiegenen niedrigeren Adels erneut ein zentralistisch regiertes Reich. Unter Kâroly Robert wurde die Festung Visegrâd errichtet, wo er auch, neben Buda, Hof hielt. Das Haus Anjou führte Ungarn zu neuer Blüte. Dabei waren es auch die langen Regierungszeiten von Kâroly Robert und seinem Sohn Nagy Lajos I. (zusammen 74 Jahre), die für Kontinuität sorgten und damit zur Konsolidierung und zur Blüte von Handel, Wirtschaft und Kultur beitrugen. Das Münz- und das Steuerwesen wurden neu geordnet. Die intensive Nutzung der Erzvorkommen - Ungarn nahm bei der Edelmetallproduktion in Europa die erste Stelle ein - ermöglichten seit 1326, gemeinsam mit König Johann von Böhmen (1296-1346) nach florentinischem Vorbild eigene Goldgulden (Forint) zu prägen, die eine der stabilsten Währungen in Europa darstellten. Nagy Lajos, tiefreligiös, eroberte Bosnien und erreichte erneut eine Oberherrschaft bis zur Walachei; Schismatiker und —»Bogomilen ließ er bekehren und sorgte für den Anbau der ungarischen Kapelle am Kaiserdom in Aachen. 1367 kam es zur Gründung der Universität in Pees (Fünfkirchen), jedoch ohne theologische Fakultät. Während des Papstschismas regierte Zsigmond (Sigismund) (geb. 1368, reg. 1 3 8 7 1437, seit 1410 deutscher König, 1433 deutsch-römischer Kaiser), Sohn Kaiser Karls IV. (geb. 1316, reg. 1346-1378) aus dem Hause der Luxemburger. Er war es, der nach ihrer Verdammung auf dem Konzil von -»Konstanz 1415 sein Leben lang die Hussiten (-»Hus/Hussiten) bekämpfte. Zwar setzte er sich mit der Ernennung Martins V. ( 1 4 1 7 1431) nachdrücklich für die Überwindung des Papstschismas ein, wahrte aber gleichwohl

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Ungarn

die Unabhängigkeit Ungarns gegenüber Rom und ließ in Konstanz das königliche Patronatsrecht für Ungarn sanktionieren. Gerade die Besetzung der Bistümer und die Vergabe der Benefizien führten immer wieder zu Unstimmigkeiten zwischen den ungarischen Königen und den Päpsten. Noch König Mátyás I. Corvinus wies 1480 Papst -»Sixtus IV. darauf hin, daß sein Volk lieber den katholischen Glauben verlassen als zulassen würde, daß kirchliche Benefizien (hier konkret der Bischofsstuhl von Modrus in Westkroatien) ohne Beteiligung des Königs vergeben würden. Auch wenn der Rückhalt Zsigmonds in Ungarn selbst nicht groß war — wiederholt (u.a. 1396 nach der Niederlage gegen die Türken bei Nikopolis und 1401, als sie ihn gar gefangen setzten) versuchten die Oligarchen, ihn zu stürzen - ließ er sich doch bei seinem Tode nicht im kaiserlichen Dom, sondern in der Kathedrale von Nagyvárad (Großwardein/Oradea) beisetzen, wo auch László (Ladislaus) der Heilige seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Die Herrschaft Zsigmonds, seit 1419 auch böhmischer König, brachte Ungarn von neuem internationales Ansehen. Zsigmond starb jedoch ohne Nachkommen. Die Wahl von Mátyás (Matthias) I. Corvinus (geb. 1440, reg. 1458-1490; seit 1469 König von Böhmen) — Sohn des rumänischen Emporkömmlings aus dem niederen Adel, János Hunyadi (1407—1457), der sich vor allem in der Abwehr der Türken einen Namen gemacht hatte (1456 errang er den Sieg über die Türken bei Belgrad, der zum Anlaß für das Mittagsgeläut der christlichen Kirchen wurde) und von 1446 bis 1452 Reichsverweser für den minderjährigen László (Ladislaus) V. Postumus (1440-1457) gewesen war - stellte einen Kompromiß zwischen den Adelsfraktionen und der hauptsächlich aus dem niederen Adel gespeisten Partei eines „nationalen" Königtums dar. Die Vereinigung mehrerer europäischer Kronen durch Zsigmond hatte Ungarn zwar international aufgewertet, doch durch die Verschiebung der Prioritäten wenig wirkliche Stärke gebracht, die vor allem im Hinblick auf die ständige Bedrohung durch die Türken (-»Türkenkriege) nötig war. Der Kompromiß in Gestalt Mátyás' I. sollte Ungarn noch einmal eine Blüte bescheren. Dieser bekämpfte nicht nur die Oligarchie und gestaltete das Steuerwesen um. Er stellte eine Söldnerarmee, das berühmte „Schwarze Heer", auf, das er nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zur Sicherung seiner Macht einsetzte. Seine Residenz nahm er in Visegrád wie in Buda. Bedeutend wurde er für Ungarn, weil er es verstand, in seiner langen Regierungszeit innere Ordnung und Sicherheit zu gewährleisten, Voraussetzung für seine Entwicklung zu dem Renaissancefürsten schlechthin. Er schuf die größte Büchersammlung seiner Zeit, die Bibliotheca Corviniana (ca. 2.500 handschriftliche Meisterwerke), die Gelehrte aus aller Welt anzog, später aber bei der Eroberung und Plünderung Budas durch die Türken ein Opfer der Flammen wurde. Die Pester Marienkirche ließ er im gotischen Stil umbauen und förderte die Verbreitung des -»Humanismus und der Renaissancekultur nach allen Kräften. 1465 wurde die zweite ungarische Universität Academia istropolitana in Pozsony (Preßburg/ Bratislava) gegründet, die, im Gegensatz zu der in Pees, lange (bis nach 1692) bestehen blieb. In Buda betrieb der vom dortigen Bischof aus Rom geholte András Hess 1472/1473 eine Druckerei, in der nicht nur das erste in Ungarn gedruckte Buch - die Chronica Hungarorum -, sondern auch die ersten Teile des Alten Testaments und andere religiöse Schriften auf Ungarisch erschienen. Der Tod Mátyás' I. setzte auch der angestrebten Bildung einer zentralistischen Monarchie ein Ende. Die Magnaten wählten einen schwachen König: Wladislaw II. Jagiello (geb. 1456, reg. 1490-1516), den die Oligarchie fest in ihrer Hand hatte; das aber stärkte die sog. „nationale Partei" am Hofe, die sich vor allem auf den niederen Adel stützte. Federführend bei der ihr gegenüber stehenden „Hofpartei" war Thomas Bakócz (1442-1521; 1513 unterlag er nur knapp Giovanni de' Medici, dem späteren Papst -»Leo X., bei der Kandidatur zum Papst), der noch von Mátyás I. zum Bischof und Erzbischof von Esztergom bestimmt worden war. Die unter Mátyás I. erfolgte Stärkung der königlichen Autorität ging wieder verloren.

281

Ungarn 2. Reformation

und Gegenreformation

2.1. Voraussetzungen

und

bis zum Ausgleich

1667

Rahmenbedingungen

Das 15. Jh. war für Ungarn bis dahin die „europäisch" glänzendste Zeit. Der Hof von König Matyas I., eng verbunden mit Kunst und Wissenschaft, war bekannt für seine Aufgeschlossenheit gegenüber dem Humanismus und zog von überall her Künstler, Baumeister, Gelehrte und auch Handwerker an. Die großen Wirtschafts- und Handelswege nach Osten, noch nicht durch die Türken versperrt, führten durch Ungarn und unterstrichen dessen Bedeutung für Europa. Die enge Bindung an Europa spiegelte sich auch in der großen Zahl ungarischer Studenten an den ausländischen Universitäten wider, allerdings mit dem Ergebnis, daß sich die ungarischen Universitäten in Pees (Fünfkirchen) (gegr. 1367), Buda (Ofen) und Pozsony (Preßburg/Bratislava) (von Matyas 1.1465 als Academia lstropolitana gegründet und 1692 wieder erloschen) mäßig entwickelten. —•Paris, -»-Wien, -»-Prag und -»Krakau waren neben den italienischen Universitäten die bevorzugten Studienorte. Durch den Charakter als Siedlerland wies Ungarn das gesamte Mittelalter hindurch eine große geistige Lebendigkeit nicht nur bei Studenten und Klerikern, sondern auch in den Bevölkerungsgruppen unterhalb des Hochadels auf. Kirchliche Erneuerungsideen und -gedanken fanden in Ungarn schnell Verbreitung und auch Anhänger. Die Tatsache, daß Matyas I. Schwiegersohn des hussitischen Königs Georg Podiebrad (1420-1471) war, sicherte den Hussiten in seinem Reich ein Bleiberecht; die Krieger nahm er in seine Armee auf. Dies alles, im Zusammenspiel mit der traditionell nicht eben engen kirchlichen Bindung an Rom (vgl. auch den unmittelbaren lokalen, niemals ganz abbrechenden Kontakt zur östlichen Orthodoxie), bildete einen guten Aufnahmeboden für die im 16. Jh. in Ungarn festen Fuß fassenden reformatorischen Ideen. Voraussetzung dafür aber war letztlich eine starke Verweltlichung am Hofe und unter den Klerikern, die mit der Hochschätzung humanistischer Ideen einherging. Am 29. August 1526 unterlag bei Mohacs das ungarische dem türkischen Heer. Die Verluste waren unermeßlich. Nahezu die gesamte Führungsschicht blieb auf dem Schlachtfeld. Damit endete die Zeit, in der Ungarn eine Machtrolle im europäischen Maßstab gespielt hatte. Mehr als die Hälfte der ungarischen Bischöfe fiel in der Schlacht. Für das Land folgte ein Erstarrungszustand. Die Frage der Nachfolge des gefallenen Königs Lajos II. (Ludwig; geb. 1506, reg. 1516-1526) spaltete die tragenden Schichten. Sowohl -»•Ferdinand I. von Habsburg (geb. 1503, reg. 1526—1564; seit 1558 deutschrömischer Kaiser) als auch der aus einer unter Matyas I. vom niederen Adel aufgestiegenen Familie stammende siebenbürgische Woiwode Jänos Zäpolya (Johannes von Szapolyai; geb. 1487, reg. 1526-1540), der schon bei der Wahl Ludwigs II. 1516 - nachdem der Reichstag 1505 beschlossen hatte, keine Fremden mehr zum Inhaber der Stephanskrone zu wählen - Thronanwärter gewesen war, erhoben Anspruch auf den ungarischen Thron und lähmten so die notwendige Bündelung wirtschaftlicher und militärischer Kräfte. Das Ergebnis war ein weiteres Erstarken des Hochadels und des nach dem Aussterben eines Teils der Magnatenfamilien neu aufsteigenden Adels - eine Stärkung der Stände gegenüber der Zentralgewalt. Im Ergebnis des Sieges der Türken bei Mohacs und ihres damit verbundenen Vordringens nach Europa reduzierte sich die Rolle Ungarns für Europa auf die Pufferfunktion gegenüber der osmanischen Expansion. Die jahrhundertealte Vermittlerrolle nach Osten ging verloren; Ungarn wurde zunächst zwei-, dann dreigeteilt: im Norden und Westen das kleinere habsburgische Königreich unter König Ferdinand I., in der Mitte und im Osten das größere Königreich unter König Janos Zapolya bei gleichzeitiger Anerkennung der osmanischen Oberhoheit. Als nach dem Tod Zapolyas 1540 Ferdinand gemäß einer geheimen Verzichtserklärung Zapolyas von 1538 dessen Gebiet mit übernehmen wollte, stellte sich ihm dessen Witwe Izabella (Isabella; 1519—1559) im Namen des gerade erst geborenen Sohnes Janos Zsigmond (Johann Sigismund; geb. 1540, reg. 1541-1571),

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unterstützt von Süleyman II. (1494-1566), der zuvor in einem Handstreich Buda mit seinen Truppen besetzt hatte (von 1541 bis 1784 war nun Pozsony [Preßburg/Bratislava] ungarische Haupt- und Krönungsstadt), entgegen. Das Ergebnis der langen innerungarischen, auch militärisch geführten Auseinandersetzung war schließlich der Vertrag von Speyer 1570, in dem Janos Zsigmond Zäpolya auf den Königstitel verzichtete und sich mit der Würde des Fürsten von Siebenbürgen begnügte, zusätzlich von den Habsburgern mit dem Partium - Gebiete nördlich Siebenbürgens - belehnt. Die Türken nahmen 1540 das mittlere Gebiet der Donau-Theiß-Ebene mit den Wilajets Buda (Ofen) und Temesvär (Timijoara) effektiv in Besitz und errichteten hier ihre Verwaltung. Selbständigstes Gebiet innerhalb der Dreiteilung blieb Siebenbürgen (vgl. Karte 2). Die Integration des nördlichen Teiles des Reiches der Stephanskrone in das Habsburgerreich bedeutete, daß die Finanz- und Militärhoheit, vor allem im Hinblick auf die Landesverteidigung, nicht mehr in ungarischen Händen lag. (Innen)politisch jedoch blieben die etwa 3 0 - 4 0 Magnatenfamilien die bestimmenden Kräfte. Faktisch befand sich das ganze Land in ihrer Abhängigkeit. Selbst der Adel, rechtlich auf einer Stufe mit den Magnaten stehend, war durch die familiaritas-bezithung wirtschaftlich abhängig von diesen Großgrundbesitzern. Der eigene Machtzuwachs und die Sicherung der politischen Selbständigkeit waren die politischen Triebfedern dieser Familien, denen so — aus Furcht vor ihrem Übergang zum anderen ungarischen König, dem viel Freiraum durch die Türken gewährt war - innenpolitisch kaum Schranken gesetzt waren. Dies war eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß die Reformation, trotz ihres landesweit strengen königlichen Verbots, im Schutz der Magnatenfamilien Raum finden und sich ausbreiten konnte. Im osmanisch besetzten Gebiet mit seinem türkischen Verwaltungssystem kam es im Laufe der Zeit zu einer Art Kondominium der türkischen Besatzungsmacht und des zum großen Teil geflohenen ungarischen Adels, der den Verlust seiner Besitzrechte und Steuerprivilegien nicht akzeptierte. Da das osmanische Reich mit der Teileroberung Ungarns an die Grenzen seiner Herrschaftsmächtigkeit gelangt war, konnte es dem wenig entgegensetzen und mußte auf eine, zum Teil sogar vertraglich geregelte Steuerteilung eingehen. Ähnlich wie die Adligen verfuhr die Kirche als Grundherr.

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Karte 2: Ungarn zur Zeit der türkischen Besatzung

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Aufgrund dieser Situation war es der siebenbürgische Teil, der über die Zeit der türkischen Besetzung hinweg für Ungarn die staatsrechtliche Kontinuität des Ständestaates und damit auch die (vor allem kulturelle) Identität wahrte. Die auf dem Ständeprinzip beruhende Staatsführung, die durch die „Goldene Bulle" von 1222 mit dem Widerstandsrecht des Adels gegenüber dem König verbunden war, sollte erst 1687 verschwinden, als das durch ein deutsch-österreichisches Heer von den Türken befreite Ungarn einschließlich Siebenbürgens auf dem ungarischen Reichstag in Pozsony (Preßburg/Bratislava) vollständig in das Reich der Habsburger integriert und damit unter dessen Verfassung gestellt wurde. Hatte es über Jahrzehnte einen Kampf zwischen Papst und ungarischem Herrscher um das Recht der Besetzung von Bischofsstühlen gegeben, so war nun Papst -»Clemens VII. bemüht, keinerlei Entscheidung zu treffen, um nicht zwischen den beiden ungarischen Königen Partei ergreifen zu müssen - ein Verzicht, der um so schwerer wog, als in Mohacs eine sehr große Anzahl der kirchlichen Würdenträger (allein zwei Erzbischöfe und fünf Bischöfe) ihr Leben verloren hatte. Zwischen 1526 und 1539 gab es im Königreich lediglich drei Bischöfe. Die Vakanzen führten faktisch zur Säkularisation der Bistümer, von den beiden Königen willig und schnell vollzogen. Das Königtum als neuer Besitzer der verwaisten Kirchengüter gab diese seinen adligen Gefolgsleuten zur Nutzung. So konnten die durch die türkischen Eroberungen aus Kroatien und Slawonien vertriebenen Adligen wieder Grundbesitz erlangen. Andererseits wurde die schon unter Matyäs I. begonnene Säkularisation von Kirchengut - er hatte z. B. im großen Stil Kommendatoren, nichtgeistliche Verwalter, für Abteien eingesetzt — weiter betrieben. Der Paulinerorden, einer der größten und für Ungarn charakteristischsten Orden, ging auf diese Weise fast völlig unter; von ehemals 70 Paulinerklöstern gab es um 1600 noch fünf, davon nur zwei im königlichen Ungarn. Die Säkularisationen und die Neuvergabe von Land im großen Stil hatten zur Folge, daß die Zahl der adligen Grundbesitzer sich nahezu verdoppelte. Andererseits war dies aber auch Gelegenheit für die vorhandenen und neu entstandenen Magnatenfamilien, ihren Besitz durch Zukauf so zu erweitern, daß, als sie schließlich zur Reformation übergingen, damit die Gebiete ganzer ehemaliger Bistümer reformatorisch wurden. Die altgläubige Hierarchie konnte gegen die Einführung und Durchsetzung der Reformation in Ungarn keinen Widerstand leisten. Es gab sie faktisch nicht mehr; freilich erfolgte auch nie eine definitive Ablösung, was später eine erfolgreiche Gegenreformation (-*Katholische Reform und Gegenreformation) ermöglichen sollte. Zunächst jedoch hatten die altgläubigen Stände mit den wirtschaftlichen auch politische und gesellschaftliche Einbußen gegenüber den protestantischen Ständen hinzunehmen. Ebenso wie die meisten der Magnatenfamilien zur Reformation übertraten, nutzten auch die Städte die Möglichkeit zu einem weiteren Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit. Zu diesem wirtschaftlichen und politischen Niedergang der altgläubigen Kirche kam aber als letztlich entscheidender Punkt hinzu, daß sie in Ungarn wie in anderen Teilen Europas keine innere Festigkeit mehr besaß. Die reformatorischen Ideen fielen auch hier auf fruchtbaren und vorbereiteten Boden. In der politisch wie wirtschaftlich unsicheren Lage, die im Volke auf den moralischen Verfall des Hofes und der Kirche zurückgeführt wurde, fand man „eine neue und starke Hoffnung in der Reformation" (Bucsay I, 47), die gab, was fehlte: eine ->Heilsgewißheit, die die Kräfte des -»• Glaubens entfaltete, ein im Herzen des einzelnen verankertes Sittengesetz sowie eine lebendige Gemeinde. Angesichts des Verlustes an Glanz, Reichtum, Macht und Bedeutung des ungarischen Staates und der Gesellschaft wirkte der reformatorische Neuanfang als Alternative und zukunftsweisende Perspektive. Der Rückhalt der altgläubigen Kirche, die sich in dem von György Dözsa (um 1470—1514) geleiteten und brutal niedergeschlagenen Bauernaufstand von 1514 eindeutig gegen die Forderungen der Bauern und Bergleute gestellt hatte, schwand im Volk, was sich auch ganz materiell ausdrückte: wurden im Jubeljahr 1500 in Buda noch 120.000 Gulden Ablaß-

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gelder gesammelt, so waren es beim nächsten Jubeljahr 1525 nur noch 4.000. Aber nicht nur im Volk, sondern auch unter den Geistlichen hoffte man auf eine Reform der Kirche, teilweise führten die Geistlichen selbst Reformen ein. So mußte eine 1561 einberufene Synode des ehemals ca. 900 Pfarreien zählenden Esztergomer (Graner) Erzbistums konstatieren, daß von den 119 erschienenen Pfarrern über die Hälfte geheiratet hatte (also kirchenrechtlich im Konkubinat lebte) und über 90% das Abendmahl unter beiderlei Gestalt verabreichte. Nach 1541 residierte im türkisch besetzten Gebiet kein einziger altgläubiger Bischof mehr, und in Siebenbürgen gab es bis zur Vertreibung der Türken und der Eingliederung in das Habsburgerreich 1687 keinen einzigen romtreuen Bischof. Die in Ungarn sich mehrheitlich aus Klerikern rekrutierenden Humanisten gaben der humanistischen Bewegung einen an die -»Devotio moderna angelehnten Charakter, der so in die ganze ungarische Gesellschaft hineinwirken konnte und seit 1478 auch zu Reformversuchen in den geistlichen Orden führte. Seit 1430 bzw. 1450 standen Teile der Bibel nichtgeistlichen Schichten auf Ungarisch zur Verfügung (vgl. TRE 6,266,lff.). Religiöse Laienbewegungen wie -»Bruderschaften (vor allem die des Heiligen Leichnams) nahmen zu und förderten vor allem die Heiligen Verehrung (-» Heilige/Heiligenverehrung). Besonders in den Städten, wo die Bruderschaften nicht nur das religiöse Leben vertieften, sondern auch praktische Aufgaben der Kirche wie Alten- und Krankenpflege, Versorgung von Witwen und Waisen übernahmen, entstanden Forderungen nach eigenen Schulen, Spitälern, aber auch Kirchen und Pfarrstellen, die selbst zu besetzen waren. 2.2. Reformation

und Anfänge der

Gegenreformation

In Berührung gekommen war Ungarn mit der Reformation gleich von Beginn an, unter anderem vermittelt durch Georg von Brandenburg (1484-1543), der, verheiratet mit der Witwe des unehelichen Sohnes von Mátyás I., János Corvinus (1473-1504), am Budaer Hof als Erzieher und Vormund Lajos' II. dominierte. György (Georg) Szatmári (1457—1524), der ein Jahr später Erzbischof von Esztergom (Gran) wurde, ließ die gegen M. -»Luther erlassenen päpstlichen Bullen schon 1521 als Reichskanzler in allen größeren ungarischen Städten verkünden, und die Reichstage verhängten 1523 (Todesstrafe und Einziehung der Vermögen) und 1525 (Verbrennung und Einziehung der Vermögen) harte Sanktionen gegen Lutheraner. Diese wurden allerdings aufgrund der politisch schwachen Zentralgewalt nur vereinzelt durchgeführt und vom Reichstag 1526 für ungültig erklärt. Vor allem die deutschen Städte in Oberungarn sorgten für eine Verbreitung zunächst der Wittenberger Reformation, so daß es neben den Trostbriefen Luthers an die Königinwitwe Maria (1505-1558), die schon 1523 in Nürnberg das Abendmahl in beiderlei Gestalt genommen hatte, noch zahlreiche weitere Verbindungen gab. Die Universität -»Wittenberg war auch für Ungarn Quelle reformatorischen Gedankenguts. Zwischen 1522 und 1600 studierten hier, wo es von 1555 bis 1613 mit dem Coetus Hungaricus eine selbstverwaltete Lebens- und Studiengemeinschaft gab, 1.018 Studenten aus Ungarn. Entsprechend bildeten sich die ersten reformatorischen Gemeinden in den deutschen Städten. So bekannten sich schon 1546 die oberungarischen königlichen Freistädte Bártfa (Bartfeld/Bardejov), Eperjes (Preschau/Presov), Kassa (Kaschau/Kosice), Kisszeben (Kleinzeben/Sabinov), Lóese (Leutschau/Levoca) zur Wittenberger Reformation und bildeten ein eigenes für die Ordination zuständiges Dekanat. Der von ihnen beauftragte Schulleiter aus Bártfa, der ehemalige Wittenberger Student Leonhard Stockei (15101560), arbeitete 1549 die Confessio Pentapolitana aus, das erste ungarische Glaubensbekenntnis, angelehnt an die Confessio Augustana variata von 1540 (-»Augsburger Bekenntnis, Confutatio und Apologie). Dieses Bekenntnis der Freistädte diente den anderen, mehrheitlich von Deutschen bewohnten oberungarischen Städten als Vorbild. 1559 arbeitete der Pfarrer aus Selmecbánya, Ulrich Kammerknecht (erwähnt 1558-1565), die Confessio Heptapolitana für den Bund der sieben oberungarischen Bergbaustädte Bakabánya (Pu-

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kanz, Pukanec), Bélabánya (Dilln/Banská Belá), Bestercebánya (Neusohl/Banská Bystrica), Körmocbánya (Kremnitz/Kremnica), Libetbánya (Libethen/L'ubietova), Selmecbánya (Schemnitz/ Banská Stiavnica), Újbánya (Königsberg/Nova Baña) aus. 1569 erschien die von den beiden Melanchthonschülern Valentin Großmann, Pfarrer von Iglo (Neudorf/Spisská Nova Ves), und Martin Cyriakus Koch (gest. 1596), aus Löse (Leutschau/Levoca), ausgearbeitete Confessio Scepusiana für die deutschen Städte der Szepes (Zips/Spis; Gebiet in der heutigen östlichen Slowakei mit kulturellem Mittelpunkt Késmárk [Käsmark/Kezmarok], das im 12. Jh. durch die ungarischen Könige mit deutschen Bauern aus Schlesien und Mähren besiedelt wurde).

Sowohl Ferdinand I. als auch der Esztergomer (Graner) Erzbischof Miklós Oláh (1493-1568) bestätigten die Bekenntnisse, womit den Lutheranern der oberungarischen Städte im Sinne des -> Augsburger Religionsfriedens von 1555 eine freie Religionsausübung ermöglicht wurde. Der ungarische Adel konnte sich in der Interpretation des Augsburger Religionsfriedens und des dort gegebenen cuius regio eins religio durchsetzen: in praxi verzichtete der altgläubige König auf sein Oberpatronatsrecht. Er brauchte die ungarische Hilfe bei der Steuer- und Truppenbewilligung im Hinblick auf die permanente Türkengefahr. Festgeschrieben wurde dies allerdings ebensowenig wie die faktische Auflösung der altgläubigen Hierarchie. Die Magnaten waren der wichtigste Faktor für die Ausbreitung der Reformation in Ungarn, wenn sie diese auch in der Regel nicht mit Zwang durchsetzten. Der mächtigste unter ihnen war Péter Perény (1502-1548), Besitzer von 40 Burgen und 700 Gemeinden, der schon 1537 in seiner Burg Sárospatak einen lutherischen Gottesdienst feierte, während im Ort noch Gottesdienst mit altgläubiger Liturgie gehalten wurde. Es konnte gelegentlich Jahre dauern, bis die Untertanen dem Schritt ihres Großgrundbesitzers im Übergang zur Reformation folgten. Allerdings sorgten diese dafür, daß evangelische Prediger ihre Gebiete betreuten. Wichtigste Säule des protestantischen Glaubens war seine Verankerung innerhalb der Gemeinden. Nach dem Übergang zur protestantischen Lehre wurden üblicherweise zunächst die vorhandenen Schulen umgewandelt oder, wenn keine vorhanden waren, neue gegründet. Es ist das Verdienst dieser Protestantisierung, daß um 1600 nahezu jede größere Gemeinde eine Schule besaß, in der auch in der Muttersprache unterrichtet wurde. Dabei wurde besonders auf die Ausstattung der Schulen Wert gelegt. Die Verbindung zu Wittenberg sorgte dafür, daß —•Melanchthons Schulsystem in Ungarn eingeführt wurde. Über drei Viertel der ungarischen Lateinschulen im 16. Jh. waren protestantisch. Allein das Kolleg in Sárospatak zählte um die Mitte des 16. Jh. ca. 1200 Studenten. 9 0 % der über 500 im 16. Jh. in Ungarn erschienenen Bücher stammten aus protestantischer Feder, und neben über 20 im reformatorischen Sinne betriebenen Drukkereien gab es nur eine, die für die alte Kirche arbeitete. Durch die Polarisierung der protestantischen Stände und des Adels auf der einen Seite und der (außerungarischen) altgläubigen Zentralgewalt auf der anderen Seite war in Ungarn die Reformation intensiver mit der Herausbildung der Volkssprache und Literatur verbunden als andernorts. Ihr verdankt sich das erste ungarische Drama, die erste ungarische Grammatik (1539), das erste ungarische Wörterbuch, die erste ungarische Gesamtausgabe der Bibel. Erste protestantische Gesangbücher in ungarischer Sprache erschienen: 1536 Kegyes énekekrol és ker. hitröl rövid könyvecske (ältestes ungarisches Lieder- und Notenbuch, in Krakau gedruckt), herausgegeben durch István Gálszécsi (gest. vor 1543), der 1532 in Wittenberg studiert hatte, und 1538 Istenes énekek (Gotteslieder) durch den ehemaligen Franziskanermönch István Székely (nach 1500nach 1563). Bedeutendster Reformator der Anfangszeit wurde Mátyás Bíró Dévai (um 1500-vor 1545), der von einer Herrschaft in die nächste zog, um die neue Lehre zu verkünden. Ursprünglich Priester und Franziskanermönch, war er in der Folge des —> Marburger Religionsgesprächs 1529, mit dem er sich intensiv auseinandersetzte, in Wittenberg gewesen, hatte an Luthers Tisch dessen Gesprächen gelauscht und predigte seit 1531 erst

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in Buda (Ofen) und dann in Kassa (Kaschau/Kosice) lutherisch. Hier legte er seine 52 Thesen über den Weg des Menschen zur Seligkeit (Rudimenta salutis ...) vor, die 1535 eine schriftliche Erwiderung durch den Franziskanermönch Gergely Szegedi aus Nagyvarad (Großwardein/Oradea) erfuhren. Vor allem unterstützt durch die Familien Nadasdy (Särvär), Batthyany (Nemetüjvar [Güssing]), Perenyi (Sarospatak), Seredi (Szikszö), Dragffy (Miskolc) und schließlich Török von Enying (Debrecen [Debreczin]), an deren Höfen Devai Zuflucht fand, konnte er trotz vieler Anfeindungen und Gefängnisaufenthalte eine intensive Wirkung entfalten. Seine Schriften bildeten eine Grundlage für die Entwicklung der reformatorischen Lehre in Ungarn. Aus seiner Feder stammt der 1538 in Särvar - als erster in einer allgemeinverständlichen Sprache - abgefaßte ungarische Katechismus A tiz parantsolatnak ah hit agazatinac ... (Kurze Erläuterung der Zehn Gebote, des Vaterunsers und der Sakramente). Seine Betonung des -»Abendmahles als eines Gedächtnismahles gegenüber der lutherischen Auffassung bereitete die spätere Annäherung eines großen Teils der ungarischen an die schweizerische Reformation vor. Bis heute ist allerdings die ihm nachgesagte Hinwendung zum Calvinismus (—•Reformierte Kirchen) nicht bewiesen. Durch seinen frühen Tod ist eine Einordnung in die sich auch in Ungarn herausbildenden Konfessionen nicht möglich, doch wurde er noch 1571 mit dem Ehrennamen Lutherus Vngaricus bezeichnet. Erstmals gaben sich die ungarischsprachigen Teile des Reiches auf der Synode am 20. September 1545 in Erdod ein Bekenntnis, als die auf Geheiß des Magnaten Gäspär Dragffy (1516—1545) zusammengekommenen 29 Geistlichen die Confessio Augustana Variata annahmen. Durch die breite Unterstützung der Stände und des Hochadels konnten die ungarischen Protestanten bereits auf dem ungarischen Reichstag 1550 und auf den folgenden die Mehrheit stellen und die Wiederherstellung der Glaubenseinheit auf altgläubiger Grundlage sowie die Rückgabe der säkularisierten Kirchengüter verhindern. Der Esztergomer (Graner) Erzbischof Oläh hatte erkannt, wo die Hauptursachen des großen Erfolges der Reformation in Ungarn lagen. Infolge der Säkularisation war nicht nur der Klerus verarmt, sondern auch das Schulwesen und die Ausbildung des Priesternachwuchses zusammengebrochen. Rechtliche und gesetzliche Handhaben funktionierten nicht. Olähs Versuche, die Reformation zwischen 1548 und 1567 mit Reichsgesetzen aufzuhalten, fruchteten nicht, da sie aufgrund des Widerstandes von Adel und Ständen nicht durchführbar waren. Eine Gegenreformation konnte nur als innere Reformation mit Erfolg rechnen. Sein Versuch, den altgläubigen Klerus vom Übertritt abzuhalten, scheiterte an Rom, das keinen Dispens vom Zölibat für die verheirateten Priester geben wollte. So widmete Olah sich besonders in seinem Bistum der Bildung einer neuen Priestergeneration und richtete sein Augenmerk auf das Schulwesen. Das in Rom extra für die Ausbildung ungarischer Priester eingerichtete Collegium Hungaricutn mußte allerdings mangels Kandidaten 1580 (es gab nur vier Alumnen aus Ungarn) ein Jahr nach der Gründung mit dem von -»-Ignatius von Loyola aus demselben Grunde für Deutschland geschaffenen Collegium Germanicutn zusammengelegt werden. In Nagyszombat (Tyrnau/Trnava), wo der Erzbischof von Esztergom (Gran) seit der Eroberung seines Bischofssitzes durch die Türken 1543 — bis 1820 — residierte, ließ Olah 1554 die vorhandene städtische Pfarrschule mit der umgezogenen Domkapitelschule zusammenlegen und zu einem humanistischen Gymnasium und Priesterseminar umgestalten. Von 1561 bis 1567 leiteten -»Jesuiten die Schule, danach der 1579 zum Bischof von Pees (Fünfkirchen) ernannte Nikolaus Telegdi (1535-1586), der auch wegen der türkischen Besetzung seiner Bischofsstadt in Nagyszombat (Tyrnau/Trnava) lebte. Dieser erwarb die in Wien ausrangierte Druckerei der Jesuiten und ließ 1577 in Nagyszombat die erste römisch-katholische Druckerei Ungarns einrichten, die u.a. auch seine bedeutende Predigtsammlung Az evangeliumoknak... magyaräzatja (Erläuterung d e r . . . Evangelien) druckte, die im Streit mit dem wichtigsten protestantischen Schriftsteller des 16. Jh. in Ungarn, Peter Bornemisza (1535—1585), entstand. Bornemisza hatte als evan-

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gelischer Pfarrer im oberungarischen Sempte (Sintava) zwischen 1573 und 1579 den Predigern seines Kirchendistrikts seine fünfbändige Predigtsammlung Postilla zur Hilfe an die Hand gegeben. In einigen Schriften wandte er sich gegen die Willkür der Herrschenden und auch des hohen Klerus und prangerte die menschlichen Schwächen als Machenschaften des Teufels an, was ihn auch vor ein evangelisches Gericht brachte. Für das türkisch besetzte Gebiet entscheidend wirkten nach 1543 der ehemalige Franziskanermönch Mihâly Sztârai (um 1500—1575) und der 1543 in Wittenberg promovierte Istvân Szegedi Kis (1505-1572). Sztârai, der volkstümlich und polemisierend durch Ungarn und Kroatien zog, konnte mit seinem Gesang und Schauspielen innerhalb von sechs Jahren 120 Gemeinden gründen. Ihm verdankt die ungarische Dramenliteratur ihre ersten Stücke. Seine ins Ungarische übertragenen Psalmen wurden zur Grundlage des ungarischen reformatorischen Gemeindegesangs. Szegedi hingegen war vor allem um den Nachwuchs bemüht und mußte wie Sztârai auf seinen Wanderungen Verfolgungen ausweichen oder auch im türkischen Gefängnis ausharren. Der Gelehrte, der von 1553 bis 1556 die von Sztârai in Tolna errichtete Schule leitete, wurde 1563 nach Freikauf aus zweijähriger türkischer Gefangenschaft für 1200 Taler Pfarrer in Râckeve und Bischof des Donaugebietes; er gilt als der Vater der Ungarischen Reformierten Kirche, der ihr die vom schweizerischen reformierten Geist durchdrungenen theologischen Fundamente gab. Sein Schüler Péter Méliusz Juhâsz (1536—1572), der mit 22 Jahren als Nachfolger des der Schweizer Reformation folgenden Mârtin Sânta Kâlmâncsehi (ca. 1500-1575) Bischof von Debrecen (Debreczin) wurde, verdankte Szegedi seine Hinwendung zu Heinrich Bullinger. Letzterer erlangte in Ungarn zum einen durch seine ausgedehnte und reiche Korrespondenz und zum anderen durch seine aus Ungarn angeforderte Schrift Brevis ac pia institutio, die durch den nordwestungarischen Reformator und ehemaligen Domherrn Gâl Huszâr (gest. 1575) im Druck verbreitet wurde, prägende Bedeutung. Méliusz sah sich in Debrecen vor die gleiche Aufgabe gestellt wie Bullinger in -»Zürich: Reinigung der Kirche vom „römischen Sauerteig" und Beseitigung der innerreformatorischen Spaltungen. Am 24. Februar 1567 trat in Debrecen eine Synode zusammen, in deren Verlauf die ->Confessio Helvetica Posterior angenommen wurde. Die Synode erließ eine Kirchenordnung und verabschiedete mit den Articuli Maiores das für Jahrhunderte gültige Gesetzbuch der reformierten Kirche in Ungarn. Der von Méliusz einberufenen Versammlung gelang es allerdings aufgrund der Dreiteilung Ungarns noch nicht, eine einheitlich organisierte reformierte Kirche zu schaffen. Ihre Bedeutung lag aber darin, daß sich die anderen großen Gebiete, an der Donau unter der Leitung von Szegedi und rechts der Tisza (Theiß) unter Gâspâr Kârolyi (1530-1591; 1590 legte er die erste vollständige ungarische -»Bibelübersetzung vor), die Debrecener Entscheidungen zu eigen machten. Als sich die Reformierten jenseits der Donau und im oberen Donaugebiet am Ende des 16. Jh. organisatorisch von den Lutheranern trennten und eigene Kirchendistrikte bildeten, nahmen auch sie die Entscheidungen der Debrecener Synode an. Die Confessio Helvetica Posterior wurde zum gemeinsamen Bekenntnis der Reformierten von Ungarn und Siebenbürgen. Jahrhundertelang wurde die Reformierte Kirche von Ungarn Evangelische Kirche Helvetischer Konfession genannt. Rechtliche Gleichstellung und Anerkennung erfuhr die reformierte Kirche Ungarns erst 1606. Nach den Friedensverhandlungen zwischen dem die ungarische Widerstandsbewegung gegen die Habsburger führenden siebenbürgischen Fürsten Istvân Bocskai (geb. 1557, reg. 1605-1606; die 1605 im Reichstag erfolgte Wahl zum ungarischen König nahm er nicht an) und den Habsburgern wurde nach Vertreibung von deren Truppen im Wiener Frieden dem Adel, den Städten und Soldaten der Grenzburgen die freie Religionsausübung zugesichert. Diese Religionsfreiheit erhob 1608 der Reichstag vor der Wahl Mâtyâs' II. (geb. 1577, reg. 1608-1619; seit 1612 deutsch-römischer Kaiser) zum ungarischen König zum Gesetz und dehnte sie auf die Dörfer aus, nachdem die Klausel „ohne Benachteiligung der römisch-katholischen Religion" entsprechend der Forderung

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der protestantischen Mehrheit gestrichen worden war. Das Religionsgesetz brachte den Protestanten auch das Selbstverwaltungsrecht und die Aufhebung der Jurisdiktion der katholischen Bischöfe. Sowohl die lutherische als auch die reformierte Kirche erhielten in Ungarn 1608 ihre öffentlich-rechtliche Grundlage. Das —•Tridentinum und die Einführung der —>Professto fidei Tridentina für römischkatholische Kleriker bedeutete auch das Ende der Möglichkeit für Altgläubige, in Religionsfragen Kompromisse einzugehen. 1564 wurde —»Maximilian I. ungarischer König. Obwohl das Habsburger Haus die tridentinischen Beschlüsse anerkannt hatte, versicherte er 1566 den ungarischen protestantischen Ständen sein Wohlwollen und ließ vor allem den Lutheranern weiterhin Handlungsspielraum. Jedoch versuchte er, den Calvinismus zurückzudrängen, bis dahin, daß er das 1572 vom ungarischen Reichstag verabschiedete Gesetz gegen Anabaptisten (—• Täufer/Täuferische Gemeinschaften 1.2.7.) nicht nur auf die —»Hutterischen Brüder und die - * Unitarier (denen er sogar den Scheiterhaufen androhte), sondern ebenso auf die Calvinisten anwenden wollte. In Konfessionsfragen gestattete er aber keine Gewaltmaßnahmen; gegenüber dem Esztergomer (Graner) Erzbischof Oläh wurde er immer wieder zum Anwalt für die Protestanten, hinderte die Einführung einer Bücherzensur und ließ die päpstliche Bulle über die Einführung des Abendmahls in beiderlei Gestalt am 2. September 1564 verkünden, für deren Einhaltung er auch gegen den Widerstand Olahs sorgte. Zwar hatte Olah versucht, die Reformation aufzuhalten und Ansätze für eine Gegenreformation zu schaffen, doch war der Erfolg seiner Bemühungen sehr bescheiden gewesen. Als sein Nachfolger auf dem Erzbischofsstuhl von Esztergom (Gran), Antal (Anton) Verancsics (geb. 1504, amtierte 1569—1573), starb, gab es — von kurzzeitigen Besetzungen abgesehen — jahrzehntelang keinen weiteren Nachfolger. Auch die Priesterschule in Nagyszombat (Tyrnau/Trnava) hatte zunächst wenig Erfolg und begann erst 1590 richtig zu arbeiten. Bis 1600 gab es in Rom 46 ungarische Absolventen des Collegium Germanico-Hungaricum. Erst mit Peter Päzmäny (1570—1637; 1629 Kardinal), der 1616 Erzbischof von Esztergom wurde, gelang es der römisch-katholischen Kirche und dem habsburgischen Herrscherhaus, die bis dahin nur sporadischen (und auch gewaltsamen) Bemühungen um Gegenreformation organisatorisch und inhaltlich zu strukturieren. Pazmany, der aus einer reformierten Adelsfamilie in Nagyvarad (Großwardein/Oradea) stammte, die dortige Jesuitenschule besucht hatte und mit 13 Jahren zur römisch-katholischen Kirche konvertiert war — 1587 trat er dem Jesuitenorden bei - , gab die Schuld an der politischen Misere Ungarns und der „Türkenplage" dem Abfall der Ungarn von -»-Maria, der Patrona Hungariae. Zu ihr und damit der Einheit der Papstkirche galt es in seinen Augen das ungarische Volk zurückzuführen. Dies wurde zum Ziel all seiner Bemühungen; dafür führte er seinen erfolgreichen Kampf auf allen Gebieten. Sein Hauptanliegen war es, den Hochadel für die römisch-katholische Kirche zurückzugewinnen. Dreißig der wichtigsten Familien konnten in Zusammenarbeit mit dem Wiener Hof durch Auszeichnungen, Würden, Privilegien und Ämter, die dort ausschließlich an seine Kandidaten vergeben wurden, rekatholisiert werden. Magnatenfamilien - wie die der Nädasdy, Thurzo, Batthany, Zrinyi die im 16. Jh. noch zu den Beschützern und Unterstützern der Reformation gezählt hatten, wurden nun zu deren Feinden, die ihre Gebiete nach dem Prinzip cuius regio, eius religio der römisch-katholischen Kirche zuführten. Als Pazmany starb, gab es im westlichen Ungarn kaum noch hochadlige Protestanten. Die protestantische Mehrheit im Reichstag stützte sich fast ausschließlich auf den mittleren und niederen Adel. Einen weiteren Schwerpunkt seiner Bemühungen legte Pazmany auf die Ausbildung und das Schulwesen. In Wien errichtete er 1623 das sog. Pazmaneum und ließ in Pozsony (Preßburg/Bratislava) 1626 ein Jesuitenkolleg eröffnen. In Nagyszombat (Tyrnau/Trnava) reorganisierte er 1622 die Lateinschule, gründete 1631 ein Priesterseminar und 1635 die einzige bis heute bestehende ungarische Universität (1777 aufgrund der habsburgischen Zentralisierungsbestrebungen nach Buda verlegt, 1784 nach Pest, heute Budapest). Auch den Söhnen des mittleren Adels gab er die Möglichkeit der Teilnahme.

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Eine dritte, nicht weniger bedeutende Stoßrichtung seiner Tätigkeiten war die literarische Entfaltung seiner Gedanken. Er bediente sich dabei einer klaren und einfachen Sprache und ging präzis auf reformatorische Argumente ein. Seine nach Roberto -»Bellarmini, dem größten römischkatholischen Kontroverstheologen seiner Zeit, bearbeitete Glaubenslehre Führer zur göttlichen Wahrheit, die 1613 in ungarischer Sprache (Isteni igazságra vezérló kalauz) erschien, war weit verbreitet und wurde mehrfach, ab der dritten Auflage 1637 unter dem Titel HoJoegus verlegt.

Mit seiner aktiven Unterstützung der tridentinischen Reform und der konsequenten Anwendung aller ihm zu Dienste stehenden Mittel ist Pázmány der bedeutendste römisch-katholische Theologe und geistliche Würdenträger Ungarns. Er legte die nicht nur äußerlichen, sondern vor allem auch innerlich-geistlichen Grundlagen für die Gegenreformation in Ungarn. Daß die Gegenreformation jedoch trotz höchster politischer Unterstützung zunächst nicht in dem Maße erfolgreich sein konnte, wie dies später der Fall war, lag an der Schutzfunktion, die das Siebenbürgische Fürstentum erfolgreich für die ungarischen Protestanten wahrnahm. Auch die Nachfolger Bocskais, Gabor (Gabriel) Bethlen (geb. 1580, reg. 1613-1629) und György (Georg) Rákóczi I. (geb. 1693, reg. 1630-1648), konnten gegenüber den habsburgischen Königen Ferdinand II. (geb. 1578, reg. 1618-1637; seit 1619 deutsch-römischer Kaiser) und Ferdinand III. (geb. 1608, reg. 1625-1657, seit 1637 deutsch-römischer Kaiser), die politische Schwäche ihrer Gegner im -»Dreißigjährigen Krieg ausnutzend, die reformatorische Seite stärken. Der Linzer Friedensvertrag vom 16. Dezember 1645 brachte schließlich auch für die Bauern Religionsfreiheit und Unabhängigkeit in Religionsfragen von ihren Grundherren. Erst die fast fünfzigjährige Regierungszeit Leopolds I. (geb. 1640, reg. 1657-1705; seit 1658 deutsch-römischer Kaiser) sollte den endgültigen Durchbruch der römischkatholischen Gegenreformation bringen. Unter seiner Regierung konnte die -»Inquisition durchgreifen, und zu ihr gehört auch die sog. „Trauerdekade" des ungarischen Protestantismus von 1671 bis 1681, die von ganz Europa wahrgenommen wurde. Leopolds I. Regierungszeit fällt zusammen mit dem Zusammenbruch der Macht Siebenbürgens. Fürst György Rákóczi II. (geb. 1621, reg. 1648-1660) scheiterte 1657 bei dem Versuch, die polnische Königskrone zu erlangen und sich von der türkischen Oberhoheit zu befreien. Er schwächte damit Siebenbürgen so, daß es einem türkischen Angriff 1660 keine militärische Macht mehr entgegenstellen konnte und zum türkischen Vasallenstaat wurde. Damit war es aber auch nicht mehr in der Lage, die ungarischen Protestanten außerhalb Siebenbürgens direkt oder durch politische Einflußnahme zu unterstützen. Sofort setzte dort eine massive Rekatholisierung ein. 1671, unterstellend, daß die Religionsgesetze von 1608 keine Gültigkeit mehr besäßen, unternahm Leopold den militärischen Versuch, die oberungarischen Bergbaustädte für die römisch-katholische Kirche zu gewinnen. Viele Einwohner flohen, vor allem nach Siebenbürgen, wo sie den Hintergrund für den antihabsburgischen Kuruzenaufstand des nach Siebenbürgen geflohenen protestantischen Grafen Imre Thököly (1657-1705) bildeten, der 1678 erfolgreich im Bündnis mit Frankreich gegen Oberungarn Krieg führte. Ein Waffenstillstand wurde 1681 zur Zusammenkunft des seit Jahrzehnten nicht einberufenen Reichstages in Sopron (ödenburg) genutzt. Auf ihm waren inzwischen die Protestanten, anders als in der Bevölkerung, in der Minderheit. Ihrer Forderung nach Rückgabe der knapp 900 verlorenen Kirchen und unzähligen Schulen wurde zwar nicht stattgegeben, doch erreichte Thököly mit militärischem Druck 1681 die endgültige Regelung der Religionsfrage nach den Gesetzen von 1608. Der Artikel 25 erklärte die Religionsfreiheit (allerdings mit der Klausel salvo tarnen jure dominorum terrestrium [unbeschadet der Rechte der Grundherren], womit die Religionsfreiheit der Bauern nach dem Linzer Vertrag faktisch wertlos wurde), und Artikel 26 verfügte die Rückgabe der noch nicht römisch-katholisch geweihten, von Protestanten gebauten Kirchen und die Erlaubnis, in bestimmten Orten (Artikularorte) auf zugewiesenen Bauplätzen Kirchen zu errichten. Gleichzeitig wurden die Gerichtsurteile rückgängig gemacht, die 1673/1674 in regelrechten Schauprozessen

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in Pozsony (Preßburg/Bratislava) gegen Protestanten (40 waren zur Galeerenstrafe verurteilt worden) mit dem Vorwurf der Verschwörung (die schon 1662 niedergeschlagen worden war und deren Führergestalten römisch-katholische Adlige gewesen waren) gefällt worden waren. Der Leiter dieses Gerichts, das nur das eine Ziel der Vernichtung der Protestanten verfolgte, Graf Lipöt (Leopold) Kollonich (1631-1707), wurde 1695 Erzbischof von Esztergom (Gran). Noch immer bestand die Bevölkerung zu mindestens 80% aus Protestanten, wenn auch die politische Macht eindeutig in Wien bei den römisch-katholischen Habsburgern lag. Allerdings hatte die restriktive habsburgische Politik auch zur Folge, daß die Entscheidungen in Wien sich oftmals nicht nur gegen Protestanten, sondern, damit gleichgesetzt, eher gegen ungarische Interessen richteten, was dort wiederum auch römischkatholische Parteigänger zu Opponenten der Habsburger machte. Nachdem 1683 Wien von den Türken entsetzt worden war, konnte die Allianz an die Befreiung Ungarns gehen, die 1687 im wesentlichen abgeschlossen war. (Am 2. September 1686 wurde Buda [Ofen] befreit. 1718 kam auch das Banat an Ungarn zurück.) Das von den Türken zurückeroberte Land lag völlig am Boden, durch Kriegshandlungen zerstört und ohne Bewohner. Zusätzlich zu den Deportationen in die Sklaverei hatte das türkische Steuersystem zum Teil zu einer Abwanderung von 99% der Bevölkerung geführt. Die ungarische Bevölkerung, die 1526 ca. 4 Millionen betragen hatte, wurde 1690 mit 2,5 Millionen angegeben. Die königliche Hofkammer übernahm den größten Teil des Landes in ihren Besitz, da vor der Landrückgabe Besitzansprüche schriftlich nachgewiesen werden mußten, was nach 150 Jahren türkischer Besetzung meist nur schwer möglich war. Der Besitz wurde nun an königstreue in- und ausländische Parteigänger verteilt. Eine große Zahl nichtungarischer Offiziere und Beamte wurde so zu ungarischen Großgrundbesitzern. Die Rekatholisierung des Landes geschah in diesen Gebieten ohne große Gegenwehr. Bis zur wirtschaftlichen und organisatorischen Gesundung der Gebiete - staatlicher- wie kirchlicherseits - dauerte es dennoch ca. 100 Jahre. 3. Ungarn als Teil des Habsburgerreiches

bis 1918

3.1. Die Jahre 1687 bis 1848 Auf dem 1687 nach Pozsony (Preßburg) einberufenen Reichstag gab König Leopold I. den ungarischen Ständen zu verstehen, daß er Ungarn auch als erobertes Land betrachten könne. Er setzte den Verzicht auf das bestehende Recht der freien Königswahl zugunsten der Habsburger und auf das in Artikel 31 der Goldenen Bulle seit 1222 den Ständen zustehende Recht des bewaffneten Widerstandes gegen einen ungesetzlichen König durch. Die auf dem Reichstag in Sopron (ödenburg) 1681 festgestellten Rechte der Protestanten wurden zwar nicht zurückgenommen, aber nur noch von „Königs Gnaden" gewährt. Die nun durch die explanatio Leopoldina eingeführte Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religionsausübung führte dazu, daß die Protestanten nur noch an den Artikularorten ihre Religion öffentlich ausüben durften. Die Durchführung dieser Bestimmungen setzte schließlich Karl III. (geb. 1685, reg. 1711-1740; seit 1711 als deutsch-römischer Kaiser Karl VI.) auf dem 1714/1715 abgehaltenen Reichstag fort und brachte die Rekatholisierung Ungarns zu einem rechtlichen Abschluß. Der Reichstag war für Religionsfragen nicht mehr zuständig. Den Protestanten waren Geldund Naturalsammlungen sowie Steuererhebung ebenso verboten wie die Abhaltung von Versammlungen oder Synoden. Sie standen wieder unter der Aufsicht der römischkatholischen Kirche, auch in dogmatischen Fragen. Den größten kirchlichen Streitpunkt der nächsten Jahrzehnte sollten die Ehefragen darstellen, vor allem der Revers im Hinblick auf die Kinder bei -»•Mischehen. Im Zeitalter der -»Aufklärung war zwar die Vernichtung des Protestantismus nicht mehr beabsichtigt, ihm wurde aber per Gesetz (aber lediglich Lutheranern und Reformierten) eine nur minimale Existenz zugestanden. Der König kam 1734 der Bitte um die Erlaubnis einer Neuordnung der protestantischen

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Kirchen nach und erlaubte die Wahl von je vier Superintendenten der lutherischen und reformierten Kirche und damit die Bildung von Kirchendistrikten. Sowohl Karl III. als auch seine Tochter und Nachfolgerin Maria Theresia (geb. 1717, reg. 1740-1780) mußten die strenge Haltung gegenüber Protestanten im Interesse der Staatsraison lockern, als sie massiv bei deutschen Territorialfürsten um Siedler warben, die die durch die Türkenherrschaft entvölkerten Gebiete wieder füllen und so auch für das Reich fruchtbar machen sollten. Diesen Siedlern wurde Religionsfreiheit zugesagt, die allerdings nicht immer gehalten werden konnte, da die örtlichen Bischöfe sich darüber hinwegsetzten und größte Anstrengungen unternahmen, die römisch-katholische Kirche nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zu stärken. Mit Unterstützung des Königs, der die Bischöfe anwies, wirkliche Hirten ihrer alten und neuen Gemeinden zu werden, und der die Grundherren zur Pflege der katholischen Gemeinden und Schulen verpflichtete, konnte die römisch-katholische Kirche neu aufblühen und auch gemeindlich zu einer Alternative gegenüber den protestantischen Kirchen werden. Maria Theresia verfolgte die eingeschlagene Linie weiter und förderte ihre Kirche. Nach Istvan I. war sie es, die die meisten Bistümer in Ungarn gründete. Sie setzte nicht mehr auf gewaltsame Konfrontation, sondern versuchte, mit gezieltem Einfuhrverbot und strenger -*Zensur auf der einen und Neuansiedlung von Orden und Kongregationen sowie Unterstützung der Jesuiten auf der anderen Seite die gewünschte Gewichtung herzustellen. Uberall wurden neue römisch-katholische Pfarreien geschaffen, während die Zahl der protestantischen immer weiter zurückgedrängt wurde, was allerdings zu immer größerem Unmut führte. Joseph II. (geb. 1741, reg. 1780-1790; seit 1765 deutsch-römischer Kaiser) stand als Nachfolger Maria Theresias vor der Alternative, die Gegenreformation im Sinne der römischen Kirche zu vollenden und damit eine Massenemigration oder einen Aufstand zu riskieren, oder aber, im Interesse des innenpolitischen Friedens, -»• Toleranz zu gewähren und so die Gegenkräfte zu neutralisieren. Er entschied sich im Sinne des —•Josephinismus für das zweite. Nach seinem Amtsantritt hob er die mit dem Ziel der Konversion errichteten römisch-katholischen Kongregationen auf, legte die Zensur in weltliche Hände, um nur noch unsittliche und grob polemisierende Schriften abzuweisen. Orden, die nicht in Seelsorge, Unterricht oder Krankenpflege tätig waren, wurden aufgelöst, und die Verkündigung päpstlicher Sendschreiben mußte vom König genehmigt werden. Mit dem Toleranzedikt von 1781 wurde die Zeit der Gegenreformation formal beendet, die allerdings weithin ihr Ziel erreicht hatte. In nichtartikularen Orten, in denen wenigstens 100 nichtkatholische Familien lebten, durften Protestanten nun sowohl Kirche als auch Schule und Pfarrhaus bauen. Sofort stieg die Zahl der lutherischen und reformierten Schulen sprunghaft an. Jedes Amt und jede Würde war den Protestanten zugänglich, der Reverszwang bei Mischehen, der eine römisch-katholische Erziehung der Kinder gewährleisten sollte, wurde ebenso abgeschafft wie die Visitation protestantischer Geistlicher durch römisch-katholische Bischöfe. Kein Staatsbürger sollte mehr wegen seines Glaubens in irgendeiner Weise belangt werden. Der Versuch Josephs II., den gesamten Staat einschließlich der Kirchen zentralistisch zu gestalten, traf alle Konfessionen gleich. Einerseits brachte das Toleranzedikt Freiheiten der Kirchen untereinander, wofür die protestantischen Kirchen auch Dankgottesdienste abhielten. Andererseits aber führte der Versuch, den Staat aus kirchlicher Bevormundung herauszuführen, für die römisch-katholische Kirche zu einem ungeahnten wirtschaftlichen Aderlaß. Der Besitz der Klöster wurde eingezogen und zur Besoldung von Pfarrstellen genutzt. Knapp 700 neue römisch-katholische Pfarrstellen ließ Joseph II. einrichten, die aus dem Vermögen der Kirche selbst gezahlt werden mußten. Nicht unerheblichen Widerstand riefen allerdings seine Verordnungen, das Schulwesen betreffend, hervor. Alle Kirchen wandten sich gegen die Umwandlung ihrer Schulen in interkonfessionelle Schulen und deren Unterstellung unter eine staatliche Aufsicht. Am schwersten wog die Einführung der deutschen Unterrichtssprache, die nicht als zentralisierende

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Maßnahme, sondern als Versuch der Germanisierung und Verhöhnung Ungarns aufgefaßt wurde. Der Patriotismus, seit fast 100 Jahren ruhend, erwachte von neuem, so daß Joseph II. schließlich angesichts seines verlorenen Krieges gegen die Türken, der revolutionären Ereignisse in Paris (-»-Französische Revolution) und des immer größer werdenden Widerstandes am Ende seiner Regierungs- und Lebenszeit die meisten Verordnungen wieder zurücknahm und den Zustand „beim Tode der seligen Kaiserin [Maria]" wiederherstellen ließ. Er nahm davon jedoch die entscheidenden Punkte aus: „das Toleranzpatent, die Regelung der Pfarrämter und das, was sich auf die Fronbauern bezieht", denen er zum Ärger des Adels bedeutende Erleichterung verschafft hatte. Seinem Bruder Leopold II. (geb. 1747, reg. 1790-1792; seit 1790 deutsch-römischer Kaiser) blieb es vorbehalten, nach 200 Jahren endlich den ungarischen Protestanten den so lange entbehrten Rechtsschutz auf dem Reichstag 1790/1791 nicht nur gnadenhalber, sondern als verbrieften Verfassungsschutz zu gewähren, auch wenn der römische Katholizismus religio praedominans blieb. Ungarn (ausgenommen Kroatien) war, was die Religionsdinge anbetraf, in der Neuzeit angekommen. Auch wenn in der auf den Tod Leopolds II. folgenden Restaurationszeit das Erreichte noch einmal in Frage gestellt wurde und vor allem das Problem der Mischehen noch lange für heftigen Streit sorgte, gab es doch einen status quo, an den man sich halten konnte. Die Protestanten im Land hatten die Mehrheit verloren. 1804 wurden in der Volkszählung 5 2 % der Ungarn als Angehörige der römisch-katholischen Kirche festgestellt, 9 % der griechisch-katholischen, 8 % der lutherischen und 16 % der reformierten. 13 % stellten die Orthodoxen. Die restlichen 2 % teilten sich Juden und Unitarier. Aber nicht nur die politischen Ereignisse bestimmten die Kirchen. Innerkirchlich waren es für die Lutheraner der Hallesche —»Pietismus und für die Reformierten der —»Puritanismus, die zu Auseinandersetzungen und Klärungen führten. Im transdanubischen Distrikt führte der Pietismus vor allem bei den Lutheranern zu einer Erneuerungsbewegung. Die Protagonisten wie der Gyorer Pfarrer Andras Torkos (gest. vor 1736), der von 1692 bis 1698 in Wittenberg gewesen war, und György Barany (1682—1757), der in Halle studiert hatte, bemühten sich um zeitgemäße Übersetzungen des Neuen Testaments. Das Gemeindeleben erfuhr bleibenden Auftrieb, ehe auch in Ungarn die rationalistische Theologie sich ausbreiten konnte und in der zweiten Hälfte des 18. Jh. die Voraussetzungen für die Umwälzungen des 19. Jh. schuf. Präsenz im öffentlichen Bewußtsein brachte für die Protestanten die Dreihundertjahrfeier der Reformation 1817, die durch König Franz I. (geb. 1768, reg. 1792-1835; als deutsch-römischer Kaiser Franz II.) für das ganze Land genehmigt und auch im großen Stil gefeiert wurde. Im 18. Jh. organisierten sich die inzwischen durch die konfessionellen Streitigkeiten ausdifferenzierten protestantischen Kirchen neu. Die zentralistischen staatskirchlichen Ziele erforderten nun auch auf kirchlicher Seite eine Zentralisierung. Eine Behandlung kirchlicher Angelegenheiten auf dem Reichstag war allerdings nicht mehr möglich. Es gab keine eigene geistliche Vertretung mehr auf dem Reichstag. Kirchliche Vertreter konnten nur, insofern sie (in anderer Eigenschaft) im Reichstag saßen, die kirchlichen Interessen vertreten. Die kirchlich engagierten Laien mußten in die Kirchenleitung integriert werden, denn sie waren in ihrer Eigenschaft als Standesvertreter des Adels Mitglieder des Reichstages. Das presbyteriale Element in der protestantischen Kirche war politisch notwendig geworden und wurde sowohl in der reformierten als auch in der lutherischen ungarischen Kirche durchgesetzt. Während dies bei den Lutheranern 1707 mit der Schaffung eines Generalinspekteurs zu einer dauerhaften obersten Behörde führte, gelang Ähnliches bei den Reformierten nicht. Für beide protestantischen Kirchen wurden 1734 je vier Kirchendistrikte geschaffen, die bis ins 20. Jh. ihre Gültigkeit behielten. Mit dem Ziel einer gemeinsamen Verfassung hielten beide Kirchen 1791 gleichzeitig in Buda (Reformierte) und Pest (Lutheraner) eine Synode ab. Die gemeinsamen Ausschüsse konnten jedoch weder in liturgischen noch in dogmatischen Fragen eine Einigung erzielen, so daß man sich lediglich auf drei gemeinsame Punkte einigte: die

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—>Presbyterial-synodale Kirchenverfassung (den Aufbau der Kirche von unten), die paritätische Zusammensetzung der Kirchenleitung aus Geistlichen und Laien und die Bildung eines gemeinsamen „Oberkonsistoriums". Auch wenn sie keine Sanktion durch den König erfuhren, wurden die Beschlüsse der beiden Synoden doch nach und nach in beiden Kirchen durchgesetzt. Das Ziel, im Zuge der Aufklärung die Union der beiden protestantischen Kirchen zu vollziehen (-»Unionen, Kirchliche), wurde jedoch nicht erreicht. 3.2. Die Jahre 1848 bis 1918 Die völlige Gleichberechtigung der Kirchen unter der ungarischen Krone brachte erst der Reichstag 1847/1848. Dort wurde, nachdem die Segensverweigerung bei der Trauung des Führers der nationalen Opposition, des Lutheraners Lajos Kossuth (18021894), mit seiner römisch-katholischen Braut durch den römisch-katholischen Priester 1843 noch zu einem Sturm der Entrüstung geführt hatte, in Artikel 20 die völlige Gleichheit und Reziprozität der rezipierten Konfessionen ausgesprochen und die Übernahme aller kirchlichen Ausgaben durch den König festgelegt, der die Reformgesetze im April 1848 sanktionierte. Damit fiel theoretisch auch der Reverszwang bei Mischehen und die zwangsweise Unterweisung durch die römisch-katholische Kirche vor Übertritt in eine protestantische. Das Scheitern des Freiheitskampfes 1848/1849, der den Unionsbestrebungen zwischen Reformierten und Lutheranern neuen Auftrieb gegeben hatte, brachte mit der Forcierung des ungarischen Nationalgedankens, der dem ursprünglichen ungarischen Staat als politischer, aber nicht-ethnischer Einheit nicht entsprach, auch neue Schwierigkeiten. Die lutherische Kirche Ungarns hatte das Problem, ihre Einheit angesichts der beiden hauptsächlich in ihr vereinten Nationalitäten (slowakische und ungarische) zu bewahren. Vor allem die slowakischen Gemeinden sahen in den Unionsbestrebungen - es gab auch den Gedanken einer gemeinsamen Universität — nicht genuin kirchliche Ziele, sondern fürchteten, daß damit Slowaken zu Ungarn gemacht werden sollten. Protagonisten des Unionsgedanken waren die Herausgeber des von 1842 bis 1848 erscheinenden Protestäns Egyhäzi es Iskolai Lap (Protestantisches Kirchen- und Schulblatt): der Lutheraner Jozsef Szekacs (1809-1876) und die Reformierten Pal Török (1808-1883) und Karl Taubner (1808-nach 1880). 1855 wurde in Pest keine Universität, aber eine gemeinsame Theologische Hochschule gegründet. Die schon seit dem 18. Jh. in Diasporagemeinden geübte Interkommunion erfuhr in zwei Distrikten sogar eine Regelung durch gemeinsame Vereinbarungen, 1900 und dann noch einmal bis 1914 vereinbart. Franz Joseph I. (geb. 1830, reg. 1867-1916; seit 1848 deutsch-römischer Kaiser) hatte zunächst darauf verzichtet, sich auch zum König von Ungarn krönen zu lassen. Aus außen- und innenpolitischen Erwägungen heraus konnte er dies jedoch nicht durchhalten. Die österreichische Monarchie brauchte Ungarn, um ihre Stellung in Europa, nachdem die kleindeutsche Lösung zum Tragen kam, aufrechtzuerhalten. So kam es 1867 zum österreichisch-ungarischen Ausgleich — der Bildung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Franz Joseph I. wurde als König von Ungarn am 8. Juni 1867 in der Matthias-Kirche in Buda gekrönt, und Ungarn erhielt nicht nur eine eigene Verfassung und eigene Verwaltung, sondern auch eine eigene Gesetzgebung. Die in Ungarn besonders große Problematik der Mischehen führte 1894/1895 auch hier zu einem ausgeprägten -•Kulturkampf, der erst mit der obligatorischen Zivilehe beendet werden konnte — ein weiterer Schritt der Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens, aber auch der Intensivierung des wirklichen Kirchen- und Gemeindelebens. Wie in Deutschland war es nun geprägt vom —»Vereins wesen und der Teilnahme an politischer Parteiarbeit. In der römisch-katholischen Kirche nahm aber auch das Ordensleben einen neuen Aufschwung. Vor allem die Frauenorden verzeichneten Zulauf; die Zahl der Ordensschwestern stieg von 767 Schwestern 1870 auf 7060 Schwestern 1917.

294 4. Ungarn als

Ungarn Republik

4.1. Die Entwicklung

zwischen

1918 und 1945

Ungarn teilte mit Österreich auch die Niederlage des Ersten Weltkrieges, die für Ungarn einen ähnlich schweren Schlag wie die Eroberung durch die T ü r k e n im 16. Jh. bedeutete. Zwei Drittel des unter die Stephanskrone gehörenden Gebiets und ein Drittel der ungarischsprachigen Bevölkerung mußte es abgeben. Schwer wog, d a ß darunter auch die für die ungarische Geschichte so wichtigen Gebiete der Bergbaustädte, die Zips und Siebenbürgen zählten. Vor allem die lutherische Kirche hatte unter den Abtretungen zu leiden, da sie ihre größten Einzugsgebiete in den nun slowakischen Gebieten und in Siebenbürgen besaß. N u r eine ihrer vier theologischen Hochschulen blieb in Ungarn; zwei Drittel der lutherischen Mittelschulen lagen nicht mehr auf ungarischem Gebiet; nur zwei von sechs pädagogischen Ausbildungsstätten blieben erhalten. Als der Friedensschluß mit den Gebietsabtretungen an Rumänien, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Österreich u n d Italien am 4. Juni 1920 a m Rande der Friedensverhandlungen von Versailles in Trianon endlich unterschrieben wurde, blickte Ungarn auf das kurze, aber heftige Intermezzo einer Räterepublik zurück. Die ungarischen Kirchen hatten einen Vorgeschmack dessen b e k o m m e n , was sie im 20. Jh. noch erwarten sollte. Im Verlauf der Revolution 1918/1919 (am 16. November 1918 w u r d e Ungarn Republik) verloren sie ihre politische Position und Bedeutung. Auch wenn die protestantischen Kirchen eher bereit waren, sich mit den revolutionären Intentionen zu identifizieren, blieb doch auch ihnen k a u m Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen. Im M ä r z 1919 waren der Religionsunterricht abgeschafft und sämtliche kirchlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen verstaatlicht worden. D a m i t waren vor allem f ü r die drei großen Konfessionen wichtige Traditionsträger und Säulen der Weitergabe ihrer Glaubensinhalte weggebrochen. A m 16. April 1919 w u r d e die „freie Ausübung der Religion" per Gesetz festgelegt und am 30. Juni das Vermögen der Kirchen und ihrer Stiftungen eingezogen und der öffentlichen H a n d gegeben. Die Versorgung der Geistlichen und alle finanziellen Belange der Kirchen sollten durch freiwillige Spenden geregelt werden. Das Zwischenspiel der kommunistischen Regierung Béla Kuns (1886—1939) endete mit der Einsetzung Miklós H o r t h y s (1868-1957) als Reichsverweser am 16. November 1919. Ein J a h r später löste sich Ungarn endgültig aus der Doppelmonarchie; die H a b s burger wurden entthront. Die Kirchen n a h m e n ihre privilegierte Stellung wieder ein und erlebten als Stütze der konservativen Regierungsbestrebungen ihre bislang letzte politisch bedeutsame Zeit in Ungarn. Angesichts ihrer vorherigen Verluste war es nur folgerichtig, d a ß sie eine der Stützen der revisionistischen Bestrebungen im Land wurden und den N ä h r b o d e n f ü r nationalistische Stimmungen bereiteten. Gemeinsam mit der Bevölkerung e m p f a n d e n die Kirchen den Friedensvertrag von Trianon als schreiendes Unrecht und bezeichneten ihn auch so. Einen besonderen Bedeutungsverlust hatte die römisch-katholische Kirche hinnehmen müssen, deren Besitz fast halbiert worden war. Sie aber w a r es, die aus der konservativen Wandlung seit 1920 den größten N u t z e n ziehen konnte. Sie vertrat nun ca. 7 0 % der Bevölkerung und erreichte eine neue Blüte des kirchlichen Lebens. Neben der R e f o r m der schon vorhandenen O r d e n k a m es zur Niederlassung weiterer O r d e n . Die Anzahl der Frauenordenshäuser und ihrer Schwestern verdoppelten sich. Die Rolle der Vereine konnte ausgebaut werden; dem Laienelement w u r d e verstärkt Aufmerksamkeit zugewandt, das Instrument der -»Katholikentage zur Aktivierung und Motivation der Laien wieder eingesetzt und bis zum Abbruch 1943 intensiv genutzt. Aktuelle Fragen standen dabei im Vordergrund. Im Zuge der Patriotisierung und Nationalisierung w a r es vor allem die römisch-katholische Kirche, die 1930, dem Gedächtnisjahr f ü r Imre, den heiliggesprochenen Sohn Istvàns I., einigend im Sinne des Nationalismus und Revisionismus — auch unter großer Beteiligung des Auslandes - wirkte. Z w a r hatten alle Kirchen wieder Sitze im Parlament und so verfassungsmäßig

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gesicherten politischen Einfluß. Aber es war ein Zeichen der Bedeutung des römischen Katholizismus in dieser Zeit, daß die Budapester Universität 1921 in Tâzmâny Fêter tudomânyegeyetem (Péter-Pâzmâny-Universitât) umbenannt wurde und diesen Namen bis zu ihrer Umstrukturierung nach dem Zweiten Weltkrieg trug. Auch auf protestantischer Seite führte die innenpolitische Stärkung der Kirchen zu neuem Selbstbewußtsein. Frühere Annäherungsbestrebungen standen nicht mehr auf der Tagesordnung. So endete die 4. Landessynode der Reformierten ungarischen Kirche 1933 damit, daß - neben der Unterstreichung des presbyterialen Elements bei der Leitung der Kirche (unter Zurückdrängung der Gemeindeversammlungen) - besonders die Bedeutung der Confessio Helvetica Posterior und des ->Heidelberger Katechismus hervorgehoben wurde. Die ein Jahr später beginnende lutherische Synode sprach sich hingegen 1937 dezidiert für die Verbindlichkeit der —• Konkordienformel aus. Auch sie befürwortete eine Stärkung des Presbyteriums und damit eine Schwächung der Gemeindeversammlungen als Erbe des Liberalismus. Trotz dieses seit der Jahrhundertwende verstärkt gewachsenen konfessionellen Selbstbewußtseins wuchs aber der Gedanke und die Beschäftigung mit der Ökumene. Vor allem auf dem Land mehrten sich die Kräfte, die sich auch in der Kirche gegen die Mißstände, die durch das Ausbleiben längst fälliger Reformen (an erster Stelle einer Land- und Bodenreform) immer deutlicher zutage traten. Neben den „Landeskonferenzen der Vereine der reformierten Geistlichen und Presbyter" sind hier vor allem die Vereine der protestantischen Jugend zu nennen, die sich mit konkreten sozialen Problemen und deren Lösung auseinandersetzten. So richtete der reformierte Studentenverband Soli Deo Gloria, dessen Mitglieder sich nach 1945 zum Teil in der Nationalen Bauernpartei und auf deren Ministerposten wiederfanden, 1934 eine Denkschrift mit dem Titel Cselekedjen az Egyhâz! (Die Kirche soll handeln!) an die Kirchenleitungen, u.a. mit der Forderung einer radikalen Bodenreform. Hatte die Annäherung Ungarns an Italien und Deutschland (durch Verfassungsänderung schloß Horthy 1938 Ungarn an die Achse Berlin-Rom an) in den Wiener Schiedssprüchen von 1938 und 1940 die Teilrevision des Vertrages von Trianon gebracht, so führte sie auch zur Teilnahme Ungarns am Zweiten Weltkrieg auf der Seite Deutschlands (27. Juni 1941 Kriegserklärung an die Sowjetunion). Auch bei der Judenausrottung sollte Ungarn zum Erfüllungsgehilfen deutscher Pläne werden. Anders als in Ost- und Westeuropa, wo die Juden seit dem Spätmittelalter ansässig waren, entstand das ungarische Judentum erst im 18. und 19. Jh. Die vor der Türkenherrschaft hier siedelnden Juden hatten mit den Türken das Land verlassen. Lebten um 1720 ca. 12000 Juden im Königreich Ungarn, so waren es zu Beginn des 20. Jh. über 900000, bedingt durch eine hohe Zuwanderung bis zur ersten Hälfte des 19. Jh. - vor allem aus Niederösterreich, Böhmen/Mähren und besonders Galizien - sowie einem anschließenden starken Bevölkerungswachstum. Die Einwanderung geschah nicht geplant wie die Ansiedlung von Deutschen, sondern die Juden kamen als Einzelpersonen; dem entsprach auch ihre jeweilige Integration. Erst 1895 wurde die jüdische Religion nach heftigen Debatten und Regierungskrisen zu einer rezipierten Religion in Ungarn. Im 19. Jh. hatte sich innerhalb des Judentums in Ungarn eine starke Trennung zwischen einer orthodoxen, die Assimilation verweigernden Gruppe und einer vor allem auf Integration bedachten Gruppe vollzogen. Diese Spannung führte aber im Hinblick auf die Bedeutung, die im 19. Jh. auch in Ungarn die Herausbildung des Nationalismus gewann, zu großen Schwierigkeiten. Durch die Revolution 1918/1919 war die Stimmung im Land und auch in der Regierung eher antijüdisch eingestellt. Drei Viertel der Volkskommissare der kommunistischen Räterepublik waren jüdischer Abstammung gewesen, und antisemitische Propaganda wies nun in Zeiten der wirtschaftlichen Not verstärkt auf die Beteiligung von ungarischen Juden an der ungarischen Wirtschaft hin. Das Scheitern des Versuchs, mit Hilfe Frankreichs die internationale Bedeutung Ungarns zu erhalten, und die Tatsache, daß gerade Ungarn jüdischer Herkunft in die Gespräche verwickelt waren, führten nach Unterzeichnung des unveränderten Vertrages von Trianon zum „Weißen Terr o r " , einer breiten Reaktion gegen alles Nichtungarische. Verschärft wurde die Lage dadurch, daß aus den nun abgetrennten Gebieten eine Einwanderung einsetzte, bei der der Prozentsatz der jüdischen Ungarn sehr hoch war; ihnen wurde nun die Zugehörigkeit zur ungarischen Nation - auch von eigenen Glaubensgenossen - abgesprochen. Durch die Einführung des „Numerus-Clausus-

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Gesetzes" im September 1920, das „Nationaltreue" - gemeint war ungarische Abstammung zur Voraussetzung für die Aufnahme an einer Universität oder Fachschule machte, wurde die bürgerliche Gleichstellung der Juden in Ungarn, auch wenn sie nicht explizit genannt waren, teilweise aufgehoben (ihr Anteil an ungarischen Hochschulen durfte z. B. nicht höher als 5 % liegen).

Aufgrund der relativ besseren Lage der Juden in Ungarn gegenüber den Verfolgungen in den Nachbarländern Tschechoslowakei und Rumänien stieg ihre Zahl von ca. 445000 (1937) bis auf ca. 762000 (1944), auch wenn durch die faktische Übernahme der Nürnberger Rassegesetze schon 1938/1939 („Erstes und Zweites Judengesetz") in Ungarn für Juden sämtliche Lebensbereiche eingeschränkt worden waren. Seit 1941 („Drittes Judengesetz", das die rassische Definition so ausdehnte, daß die Zahl der Juden in Ungarn mit 825000 angegeben wurde) gab es in der Gesetzgebung gegenüber Juden keine Unterschiede zum Deutschen Reich. Alle drei christlichen Konfessionen hatten sich — wenngleich erfolglos — gegen die Gesetze gewandt. Nachdem der reformierte Verein Guter Hirte in Zusammenarbeit auch mit lutherischen Geistlichen Ungarn jüdischer Herkunft seit ca. 1940 unterstützte, wurde 1941 mit derselben Zielstellung der römisch-katholische Heilig-Kreuz-Verein gebildet. Beide mußten jedoch mit der Machtübernahme der faschistischen Pfeilkreuzler 1944 ihre Tätigkeiten einstellen. Nach der Besetzung Ungarns durch Hitlers Truppen am 19. März 1944 kam Adolf Eichmann (1906-1962), der Leiter der für die Deportation der Juden aus den besetzten Gebieten in die Konzentrationslager zuständigen Stelle, nach Budapest und organisierte nun die planmäßige Verfolgung und Vernichtung der ungarischen Juden. Innerhalb von drei Wochen wurde über eine halbe Million Juden aus dem ganzen Land deportiert und zu 9 0 % (die meisten in Auschwitz) ermordet. Eine weitere Viertel Million blieb in Budapest, von denen noch einmal die Hälfte das Leben verlor. Die Bemühungen der Kirchen, diesen Prozeß aufzuhalten, schlugen fehl. Sie mußten erkennen, daß sie, nachdem es ihnen nicht gelungen war, sich zu einem einheitlichen Vorgehen gegen die Regierungsmaßnahmen zusammenzuschließen, nicht mehr ernst genommen wurden. Selbst die Nichtdurchführung der Deportation der Budapester Juden war nur zu einem geringen Teil den kirchlichen Protestnoten zu verdanken. 4.2. Volksrepublik

Ungarn 1945 bis 1989

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges — am 4. April 1945 war Ungarn von der Roten Armee besetzt - änderten sich auch offiziell die Vorzeichen für die Stellung der Kirchen in der ungarischen Gesellschaft. Bis 1949 hatten sich in Ungarn wie in den übrigen späteren Ostblockstaaten die Kommunisten durchgesetzt und riefen die sozialistische Volksrepublik Ungarn aus. Sämtliche Revisionen des Vertrages von Trianon wurden wieder rückgängig gemacht und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche inhaltlich dem Zustand während der Räterepublik 1919 angeglichen. Darüber hinaus erfolgte nun, mit dem Ziel der völligen Liquidierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, der Versuch, diese unter staatliche Kontrolle zu nehmen, nachdem sie ohnehin kaum noch Möglichkeiten zur Teilnahme am öffentlichen Leben hatten. Neben dem gesamten Vermögen verloren die Kirchen das Recht auf Vereinsarbeit, eine eigene Presse und andere außerkirchlich wirksame Aktivitäten. Durch gezielte Unterwanderung der kirchlichen Ämter wurden die Kirchen in sich gespalten, führende Persönlichkeiten auf unterschiedliche Weise aus ihren Ämtern gedrängt bzw. kaltgestellt. So mußten 1949 der ungarische römisch-katholische Kardinalprimas (seit 1946) József Mindszenty (1892-1975), der schon 1919 unter der kommunistischen Räterepublik Béla Kuns und 1944 von den Pfeilkreuzlern eingekerkert gewesen war, und 1951 der Erzbischof von Kalocsa, József Grosz (1887—1961), Schauprozesse, bei Mindszenty mit dem Urteil lebenslanger Haft, über sich ergehen lassen. Es kam zu vielen Verfolgungen bis hin zu Ermordungen.

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1951 wurde ein staatliches Kirchenamt eingerichtet, das die Aufsicht über die Kirchen in allen Bereichen beanspruchte und von 1957 bis zu seiner Auflösung 1989 von Imre Miklós (geb. 1927) geleitet wurde. Das kirchliche Schulwesen (ca. 1200000 Schüler in allen Konfessionen) brach völlig zusammen und wurde verstaatlicht. Als sich der reformierte Budapester Bischof Laszló Ravasz (1882-1975), der schon im Widerstand gegen die Judenpolitik des Nationalsozialismus die deutlichsten Worte gefunden hatte, der Verstaatlichung der Schulen widersetzte, wurde er am 28. April 1948 gezwungen, von seinem Amt zurückzutreten. Der in Schulfragen deutlich gefügigere reformierte Debrecener Bischof Imre Révész jun. (1889-1967), der den größten Anteil am Zustandekommen der Vereinbarung zwischen reformierter Kirche und Staat hatte, trat 1949 von seinem Bischofsamt zurück und widmete sich der Geschichtswissenschaft. Eine ähnliche Auswechslung geschah im Herbst 1948 in der lutherischen Kirche, in der Lajos Ordass (1901-1978, seit 1945 Bischof des diesseits der Donau liegenden Distrikts), und Béla Kapi (1879-1957), seit 1916 Bischof des transdanubischen Distrikts, ausgetauscht wurden. „Fortschrittliche" Geistliche bildeten fortan das Rückgrat der Kirche gegenüber dem Staat, der so eine nahezu vollständige Kontrolle über die protestantischen Kirchen und ihre Organisation erhielt. Nachdem der Ungarische Aufstand 1956 niedergeschlagen worden war, kamen die Kirchen nur noch fester unter die staatliche Aufsicht. Sie waren zwar keine Protagonisten gewesen, hatten aber im Zuge der Ereignisse versucht, die Bevormundung des Staates abzuschütteln. Den wenigen Tagen Freiheit folgten für Mindszenty nun 15 Jahre Asyl in der amerikanischen Botschaft Budapests, ehe er 1971 nach Wien ausreisen durfte, wo er 1974 noch erleben mußte, daß der Vatikan ihn zwangsweise von seinem Amt als ungarischer Kardinalprimas enthob. Der Versuch der ungarischen Regierung, die internationale Isolation in den Jahren nach 1956 aufzubrechen, brachte auch einige Erleichterungen für die Kirchen. Der römisch-katholischen Kirche gelang es dabei — auch bedingt durch ihre „grenzenlose" Organisation - trotz des sozialistischen Engagements ihrer „fortschrittlichen Friedenspriester", mehr Distanz zu wahren als die Protestanten. Diese entwickelten eine eigene theologische Linie: die „Theologie der Diakonie", deren Urheber, Zoltän Käldy (1919-1987), seit 1958 Bischof des Süddistrikts und damit prägende Gestalt der lutherischen Kirche war. Sie wurde in beiden protestantischen Kirchen wirksam, 1967 sogar von der Synode der reformierten Kirche als die Richtschnur des Glaubens angenommen. Diese Theologie reduzierte das Anliegen der christlichen Kirche auf das Dienen, die Diakonie auch und gerade gegenüber der staatlichen Macht - eine Selbstbeschränkung mit weitreichenden Folgen: abgesehen von einigen Ausnahmen lähmte diese Haltung beide protestantischen Kirchen und erschwerte ihre aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Umgestaltungsprozeß, der sich seit den 80er Jahren des 20. Jh. in Ungarn vollzog. 4.3. Republik Ungarn nach 1989 Die reformkommunistische Wende in Ungarn 1989 (am 23. Oktober wurde die „Republik Ungarn" proklamiert) brachte den Kirchen die Aufhebung aller Bevormundung und allen Religionsgemeinschaften mit dem Artikel 4 der Verfassung vom 24. Januar 1990 die volle Freiheit. Sofort nahm die Regierung von Ministerpräsident József Antall (1932-1993), einem aktiven römisch-katholischen Christen, die Korrektur des Verhältnisses von Kirche und Staat in Angriff. Schon am 9. Februar 1990 wurden die diplomatischen Beziehungen zwischen Rom und Budapest wieder aufgenommen, und die Maßnahmen betrafen auch finanzrechtliche Fragen (ausgenommen Grundbesitz, dessen Rückgabe nicht zur Diskussion stand). Doch zogen sich die Bemühungen in die Länge. Vor allem die Rückgabe der Schulen stieß auf scharfen Widerstand der in der Mehrheit von Reformkommunisten beeinflußten Kommunen. Als nach den Parlamentswahlen 1994 mit der sozial-liberalen Regierung unter Gyula Horn (geb. 1932) eine im wesent-

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liehen aus den Reformkommunisten rekrutierte Führungselite an die Macht kam, wurde der Erneuerungsprozeß zwischen dem ungarischen Staat und den Kirchen noch einmal erschwert; die Kirchen fanden kein gesprächsbereites Gegenüber. Erst der Wechsel bei den Parlamentswahlen 1998 brachte Bewegung in die Verhandlungen. Die Koalition der bürgerlichen Parteien und der Partei der Kleinen Landwirte unter Ministerpräsident Viktor Orbän (geb. 1963), einem aktiven Mitglied der Reformierten Kirche, sorgte dafür, daß Kirchenverträge geschlossen wurden: am 1. Oktober 1998 mit der jüdischen Gemeinde, am 8. November 1998 mit der Reformierten Kirche, am 7. Dezember 1998 mit der lutherischen Kirche. Darin wurde auch das Schulwesen neu und für die Kirchen im großen und ganzen zufriedenstellend geregelt. 1989 erhielten die theologischen Ausbildungsstätten der „historischen Kirchen" (Reformierte Akademien in Debrecen und Budapest, Lutherische Akademie in Budapest und Katholische Akademie in Budapest) den Status von Universitäten zuerkannt. 1992 gründete sich in Budapest die römisch-katholische Feter Päzntäny Universität neu, 1993 wurde die Reformierte Akademie in Budapest erweitert um eine juristische und eine Reformierte philosophische Fakultät sowie ein Lehrerseminar und erhielt den Namen Gäspär Karoli Universität. Erst 1997 erfolgte schließlich sowohl für sie als auch für die Lutherische Theologische Universität die Akkredition und damit der volle Status einer Universität mit Promotions- und Habilitationsrecht. Dies alles kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bedeutung der Kirchen im gesamtgesellschaftlichen Kontext in Ungarn wie in den anderen ehemaligen Ostblockländern entsprechend dem Anteil von Christen an der Bevölkerung in den knapp 50 Jahren der Volksrepublik von 1 9 4 6 - 1 9 9 0 dramatisch zurückgegangen ist. Nur langsam werden sich die Kirchen in Ungarn bewußt, daß ein Anknüpfen an die Situation in der ersten Hälfte des 20. Jh. jeder Basis entbehrt. Der neuerliche Regierungswechsel bei den Parlamentswahlen im April 2002, die eine Koalition der Liberalen mit den Sozialisten brachten, wird dies für die Kirchen nicht einfacher gestalten. 5. Konfessionskundliche

Statistik

Auf dem Gebiet (93.036 km z ) der heutigen Republik Ungarn (Magyar Köztarsasäg) leben 10.195.513 Menschen (Volkszählung 2001; 1980: 10.394.500), von denen ca. 7 2 % Mitglied einer christlichen Kirche oder christlichen Religionsgemeinschaft sind. Nur noch 12.507 der Befragten bekennen sich zum Judentum (1980: 80.000; 1989: 93.600). Lediglich 887 bezeichnen sich selbst als Atheisten (1980: 771.100). Sitz der islamischen Gemeinde (3.000 Mitglieder) ist Budapest. Unter den Christen stellt die Katholische Kirche mit 5.300.585 (52 % ) (1980: 6.567.000 [63%]; 1989: 6.665.100 [64,1%]) Mitgliedern den größten Anteil, davon ca. 260.000 Katholiken des byzantinischen Ritus. Sie gliedert sich seit der Neuaufteilung am 19. Juni 1993 in vier (vorher drei) Erzbistümer (Esziergom-Budapest; Ka/ocsa-Kecskemet; Eger, Veszprem) mit neun Suffraganbistümern (vgl. Karte 3); der Bischofssitz der Katholiken des byzantinischen Ritus befindet sich in Nyiregyhäza. Die Reformierte Kirche mit 1.631.410 ( 1 6 % ) Mitgliedern teilt sich in vier Kirchenbezirke mit je einem Bischof und insgesamt 27 Senioraten: jenseits der Donau im Westen (Veszprem) - im wesentlichen Diasporagemeinden - , Distrikt an der Donau (Budapest), diesseits der Tisza (Miskolc) und jenseits der Tisza (Debrecen) - größter und geschlossenster Distrikt mit fast der Hälfte aller ungarischen Reformierten (vgl. Karte 4). Die Evangelische (lutherische) Kirche mit heute 301.925 ( 3 % ) Mitgliedern gliedert sich seit dem 1. Januar 2001 in drei (vorher zwei) Kirchenbezirke mit je einem Bischof und insgesamt 16 Senioraten: der Nordbezirk (Buda), dessen Bischof leitender Bischof ist, der Südbezirk mit der Exklave des Pester Seniorats (Pest) und der Westbezirk (Györ) (vgl. Karte 5). Gemeinsam haben die protestantischen Kirchen Ungarns heute ca. 1.950.000 Mitglieder (19%) (1980: 2.313.200 [21,6%]; 1989: 2.422.700 [23,3%]) und müssen ebenso wie die Römisch-katholische Kirche gegen Mitgliederschwund kämpfen.

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Erzbistümer mit ^ Erzbischofssitzen A Esztergom-Budapest B Eger C Veszpröm 0 Kalocsa-Kecskemit Erzbistumsgrenzen Bistumsgrenzen

Karte 3: Römisch-katholische Kirche seit 1993

Kirchenbezirke mit • Bischofssitzen A jenseits der Donau B diesseits/an der Donau 1 Budapest Süd 2 Budapest Nord C diesseits der Theiß D jenseits der Theiß — Kirchenbezirksgrenzen — Senioratsgrenzen

Karte 4: Reformierte Kirche seit 1 9 9 4

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Karte 5: Evangelische (lutherische) Kirche seit 2001

Alle Kirchen Ungarns, vor allem ihre Institutionen, stehen heute vor der Aufgabe, ihren gesellschaftlichen Platz in der pluralen Gesellschaft des Landes neu zu finden. Dies hat auch zur Folge, daß die christlichen Kirchen und Gemeinschaften sich heute einheitlicher präsentieren, u.a. mit einem gemeinsamen Fernsehprogramm und einem gemeinsamen Internetauftritt des Magyar Keresztény Portal (Ungarisches christliches Portal; http://www.kereszteny.hu), bei dem neben den drei großen Konfessionen auch die ungarischen Kirchen in Siebenbürgen und Kroatien sowie die Orthodoxe Kirche (zum Moskauer Patriarchat gehörend; -+ Orthodoxe Kirchen), die Unitarier und Freikirchen wie die Adventisten und -»Baptisten mit eingebunden sind. Die ökumenischen Traditionen, denen die ungarischen Kirchen von Anfang an offen und aktiv gegenüberstanden, werden auch heute verantwortlich weitergetragen in dem Wissen, nur so den Anforderungen der säkularisierten Gesellschaft gemeinsam begegnen zu können. Quellen und Literatur Bibliographien: Margit Balogh/Jenô Gergely, Egyhâzak az ûjkori Magyarorszâgon 1790-1992. Adattar (Die Kirchen im neuzeitlichen Ungarn 1790-1992. Daten), Budapest/Rom 1996. - Csaba Csapodi, Magyar lcatolikus egyhâztôrténeti bibliogrâfia (Bibliogr. der ung. kath. KG): Magyar Könyvszemle, Budapest, 63 (1939) 196-199. - Jôzsef Félegyhâzy, Querschnitt der ung. kath. Kirchengeschichtsschreibung 1936-1942: Litteraria Hungarica, Budapest, 1 (1943) 110-126. - Domokos Kosâry, Bevezetés a magyar tôrténelem forrâsaiba és irodalmâba (Einf. in die Quellen u. Lit. der ung. Gesch.), 3 Bde., Budapest 1951-1958; 1 2 1970. - Kâlmân Kovâcs (Hg.), Bethlen Gâbor âllama és kora - Bethlen-bibliogrâfia 1613-1980 (Staat u. Zeitalter Gâbor Bethlens - BethlenBibliogr. 1613-1980), Budapest 1980. - Lâszlô Polgâr, Bibliographia de historia societatis Jesu in regnis olim Corona Hungarica unitis (1560-1773), Rom 1957. - Asztrik Vârszegi/Istvân Zombori, Magyar egyhâztôrténeti bibliogrâfia 1980-1990 (Bibliogr. zur ung. KG 1980-1990), Budapest 1997. Gesamtdarstellungen/Allgemeines: Gabriel Adriânyi, Uberblick über die Gesch. der kath. Kirche in Ungarn: ders., Beitr. zur KG Ungarns, München 1986 (StHun 30) 3 - 25. - Lajos Balics, A romai katholikus egyhâz tôrténete Magyarorszâgon (Die Gesch. der röm.-kath. Kirche in Ungarn), 3 Bde., Budapest 1885-1890. - Tibor Bartha, Die Ref. Kirche v. Ungarn. Gesch. u. Gegenwart: Karl Halaski (Hg.), Die Ref. Kirchen, Stuttgart 1977 (KW 17) 217 - 239. - György Benyik, Ung. Bibelübers., Szeged 1997. - Mihâly Bucsay, Der Protestantismus in Ungarn 1521 -1978. Ungarns Reformkirchen in Gesch. u. Gegenwart, 2 Bde., Wien/Köln/Graz 1977-1979 (STKG 1. R., 3/1 u. 3/2). - Ders.,

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Markus Hein/Éva Zs. Hein (Abschn. 1) Markus Hein (Abschn. 2 . - 5 . )

Unio mystica 1. Unio mystica in der systematisch-theologischen Reflexion des 17. und 18. Jahrhunderts 2. Mystik-Rezeption in der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts 3. Perspektiven (Quellen/ Literatur S. 308)

1. Unio mystica in der systematisch-theologischen hunderts

Reflexion

des 17. und IS. Jahr-

In der nachreformatorischen Theologie entfaltet die Rede von der Unio mystica die durch -»Rechtfertigung und —»Wiedergeburt erlangte Erneuerung des Menschen, insofern diese über die gegenseitige -»Liebe von Gott und Mensch hinausgeht. Die Unio mystica besitzt in der Anlage der Dogmatik jedoch keinen stetigen Ort, sondern wird sowohl zu den Wirkungen des -»Geistes (Schmid 306ff.) gerechnet als auch mitunter in der -»Eschatologie plaziert. Während die Unio-mystica-Figur der Vereinigung von Gott und Mensch auf die vornehmlich nicht systematisierende Tradition der mittelalterlichen -»Mystik zurückgeht, intendiert ihre protestantische Rezeption indes eine Zurückweisung der Vorstellung einer vollendeten Einheit von Gott und Mensch. Auch wird die Differenz zur Zwei-Naturen-Lehre (-»Jesus Christus) gewahrt. Die lutherische Theologie des 17. Jh. eignet sich die Lehre von der Unio als Unio cum Christo an, um spiritualistische Theologie und Kirchenkritik abzuwehren (Mahlmann 78). „Die Unio [cum Christo] ist das Gestaltprinzip, die Formeigenschaft der Rechtfertigung und geht ihr somit voraus" (Mahlmann 175), während sie in der Darstellung der Dogmatik in der Sequenz des -» Ordo salutis der Rechtfertigung nachgestellt ist, da sie auf diese Weise zum Modell der Erneuerung wird (Mahlmann 177). Einzig Siegmund Jacob Baumgarten (1706-1757) erklärt die Vereinigung des Menschen mit Gott insgesamt zum Gestaltprinzip der Glaubenslehre. Da die Aneignung der Unio-mystica-Figur eine übereinstimmende Tendenz des 17. und 18. Jh. darstellt, ist eine Behandlung der Rezeption anhand der Unterscheidung von -»Orthodoxie und -»Pietismus nicht angezeigt. Philipp Nicolai (1556-1608) rechnet in seiner ausführlichen Darlegung die Vereinigung mit Gott unter die „sechs Eygenschafften deß ewigen Lebens" (FrewdenSpiegel des Ewigen Lebens [1599 = Soest 1963] 24ff.) und kennzeichnet sie als „Gottes liebliche Inhabitation / oder Eynwohnung in seinen Außerwehlten" (ebd.). Sie wird entfaltet als gegenseitige Liebe und Erkenntnis (ebd. 56) und übertrifft die irdischen Erfahrungen

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Unió mystica

von -»Freundschaft und Liebe. Die Metaphorik des Wohnens differenziert Nicolai auch unter Anspielung auf biblische Vorlagen als „Pallast / Tempel und Lusthaus" (ebd. 58), dementsprechend beschränkt er den Gedanken der Vereinigung von Gott und Mensch auf den Vergleich, sie seien „wie ein Geist" (ebd.), während die Gegenwart Christi im -»Glauben die eschatologische Einheit vorbereite (ebd. 59). Die Ruhe ist das Ziel der Einwohnung Gottes in den Heiligen, durch den „ewigen Sabbath" (ebd. 61) gelangen die Gläubigen zur Teilhabe an den „Goettlichen Tugenden" (ebd. 62). Sein Konzept ist aufgrund des Bibelbezugs und der aufzählenden Darstellung deutlich praxisorientiert. Wenn auch die an die neutestamentliche Überlieferung anschließende Formel Christus in uns nicht per se als Ausweis mystischer Tendenz gelten darf (-»Mystik II.1.2.1.), so stellt sie doch den Ausgangspunkt anthropologischer Reflexion dar, wie Gott im -»Gebet zugänglich ist. „... Und wen schon die vnwissenden Theologi sagten, Siehe da ist Christus Siehe dorth, So gehen wir nit herauß, den gott ist in vnß, das himmelreich ist in vnß, Christus ist in vnß, darumb lassen wir den Irrthumb fahren, vnd beten gott an im verporgen Hertzen" (Valentin —»Weigel, Vom Gebet [1610] 1,7 = ders., Sämtl. Schriften IV [ed. Pfefferl] 152,18-21). Die Vereinigung mit Gott im Gebet stellt Weigel als Erfahrung einer unbezeichenbaren Finsternis dar, die das Selbstsein des Menschen absorbiert. Im Gebet wird über das Vergessen und den Verzicht auf das Bitten um etwas im Nichts-Wollen Gott selbst gegeben. „ . . . den alda wird der geist Sampt aller Crefften gezogen in die weißloße bekenloße finsternuß, da wird der geist also vereinigt daß er sich selbst verCleret in gott vnd nicht mehr sein selbst. Zu solcher Vereinigung empfahet der mentsch von gott herrlichen schonen vnterscheid, mehr den alle weit gelerten möchten von allen artickeln des glaubens" (ebd. 111,7 = [ed. Pfefferl] 214,11-15). ,,[M]it disen inwendigen Vereinigungen oder Kehr, vberkommestu alle wort weiß und Vbung. Jn solcher inwendigen Vereinigung, ligt es mehr dan dem, daß wir aller ding vergessen, vnd nichts wollen noch begehrten, denn ie weniger wir begehren, ie mehr vnß gott gibt" (ebd. = [ed. Pfefferl] 215,8-11). Weigel formuliert seine Gedanken in Abhängigkeit von der mystischen Tradition eines -»Meister Eckhart, J. -»Tauler sowie der Negativen Theologie von (Pseudo-)-»Dionysius Areopagita. Seine Werke und auch sein Konzept von Einheit erfahren deutliche Kritik durch die lutherische Orthodoxie und werden mit der Lehre von der Unio cum Christo beantwortet. J. —»Arndt deutet die Erschaffung des Menschen als Ziel der Schöpfung und die Sabbatruhe in dem Sinn, daß Gott den Menschen als Ort seiner Ruhe bestimmt habe (Arndt [Kap. 1]). Insofern die Gottesebenbildlichkeit meint, der Mensch sei „Gleichniß des unsichtbaren Gottes" (ebd. 702 [Kap. 2]), schlußfolgert Arndt, daß die Gleichnishaftigkeit der Vereinigung mit Gott darin bestehe, daß sie die Einheit des Vaters mit dem Sohn darstelle (ebd. 703). Im Wort Gottes, der Menschwerdung des Sohnes und der Einwohnung des Geistes wird die Vereinigung mit Gott ermöglicht, während sie durch den Vorgang der Bekehrung realisiert wird (ebd. 704-712 [Kap. 3—6]). In der Tradition der Brautmystik wird die Vereinigung mit der Metaphorik der Hochzeit verknüpft sowie als Liebe und Gegenliebe erläutert (ebd. 713-718 [Kap. 7-8]). Die ekklesiologische Anwendung ergänzt Arndt, indem er die Vereinigung der Kirche mit Christus als ihrem Haupt entwickelt und anhand der Sakramente Taufe und Abendmahl und im Gebet verdeutlicht (ebd. [Kap. 9.11-13]), während eine ethische Ausrichtung im Streben nach dem höchsten Gut (ebd. [Kap. 10]) ersichtlich wird. Der Schwerpunkt von Arndts Rezeption der Unio-mystica-Figur liegt in der Gottesbeziehung der Gläubigen und nicht in deren dogmatischer Explikation. Arndt verzichtet, von den Stereotypen der mystischen Rede abgesehen, auf Anschaulichkeit ebenso wie auf eine konzeptionelle Verknüpfung von Unio mystica und Dogmatik, was die apologetischen Züge seiner Schrift verstärkt. Indem J. -»Gerhard die Unio im Verstehen der Predigt plaziert (Steiger 74), grenzt er sich deutlich von den genannten spiritualistischen Tendenzen ab. Die Gegenwart Gottes sieht er in der Schöpfung und in besonderer Weise als Unio bei den Wiederge-

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borenen (Vaahtoranta 226). In seiner Anleitung zur Frömmigkeit (Gerhard, Schola pietatis) übt er dagegen Zurückhaltung gegenüber der Semantik der Vereinigung. Eine Spur der lutherischen Auffassung der Unio cum Christo findet sich in P. -»Gerhardts Lied Ist Gott für mich, so trete / Gleich alles wider mich (Evangelisches Gesangbuch Nr. 351), das als Summe der Rechtfertigungslehre gelesen werden kann. Die Einwohnung Christi geschieht im Glaubensvollzug (Axmacher [2001] 154f.); der Vereinigung von Christus und Gläubigem entsprechen die Zuordnungen Himmel — Erde, Glaube - Heil, Hier — Dort. A. -»Calov entwickelt als einziger die Unio mystica von der Trinitätslehre (—»Trinität) her, ohne damit allerdings einen sachlichen Gewinn gegenüber der bei Johann Friedrich König (1619-1664) vollzogenen Plazierung zwischen iustificatio und renovatio zu erzielen (Reiner 144f.). Der Heilsweg führt bei Calov auf die Vereinigung mit dem dreieinigen Gott und ist damit wenigstens der Intention nach systematisch-theologisch komplexer gedacht. Als Geheimnis göttlicher Zuwendung übertrifft die Unio die Gegenwart Gottes und meint die Vorwegnahme der Seligkeit, die für die Gläubigen auch affektiv präsent ist (Reiner 147). H. Reiner sieht in Ph. J. —»Speners Aneignung der Orthodoxie auch den Weg, wie der bereits dort vorfindliche dogmatische Topos der Unio mystica von ihm aufgegriffen wird. David Hollaz (1648-1713) schließt sich der Plazierung der Unio mystica zwischen iustificatio und renovatio an (Hollaz III/l, 485ff. [Kap. 9]) und stellt die substantielle Gegenwart Gottes im Vorgang der Einwohnung heraus. Den Begriff der Einheit der Menschen mit Gott vermag er auf Gläubige und Ungläubige auszudehnen (ebd. 486), wobei er unter Bezugnahme auf Act 17,28 für alle Menschen herausstellt, sie lebten, bewegten sich und seien in Gott, während er für die Wiedergeborenen zwischen einer gnadenhaften und ruhmreichen Einheit mit Gott unterscheidet in Analogie der Unterscheidung von ecclesia militans und triumphans (-»Kirche VII.3.). Die Bezeichnung unio mystica geht mit der Verweigerung einer Erläuterung einher (supernaturali modo: Hollaz III/1, 487 [Kap. 9]); als causa efficiens (-»Aristoteles; -»Thomas von Aquino) stellt Hollaz die Dreieinigkeit (-»Trinität) heraus. Die Unio führt zu einer Harmonie zwischen Gott und Mensch, die sich als gleichmäßige Stimmung (contemperatio affectuum: Hollaz III/1, 494) realisiert, deren Kontinuität angestrebt wird. Doch auch die intersubjektive Harmonie und die Gemeinschaft der Kirche werden von dieser Einheit betroffen (ebd. 503). Für G. -»Arnold zielt die -»Wiedergeburt des Menschen auf die Vereinigung mit Gott (Büchsei 169ff.). Deren Charakter umreißt er als „übernatürlich und unaussprechliche weise" (Arnold 111,1,7, 607), aber im Rahmen der Gnadenordnung. Er verzichtet damit wie die Tradition auf eine anthropologische Präzisierung, geht aber von einer stufenartigen Entwicklung des Glaubens aus, wobei die Vereinigung mit Gott eschatologisch gewendet wird (Büchsei 172f.). In seinen Empfehlungen für das Theologiestudium bezeichnet A.H. —»Francke die Vereinigung mit Christus als Kennzeichen wahren Christentums („und sich deßwegen mit Ihm durch den Glauben immer fester vereinige / und verbinde ..."; Francke, Idea studiosi Theologiae [1712] §4: ders., Werke in Auswahl [ed. Peschke] 173). Die Predigt Von den falschen Propheten (1698) entfaltet die Vereinigung als „Versicherung der Gnaden Gottes" (ebd. 306) durch den Heiligen Geist, die den Gläubigen ein kontinuierliches Gottesverhältnis und eine unumkehrbare Gottesgemeinschaft ermöglicht. Francke streicht den Prozeßcharakter der wachsenden Gottesbeziehung heraus und integriert dabei gängige mystische Metaphern (Braut - Bräutigam, Haupt - Glieder) in sein christologisches Konzept, ohne sie im Sinn der Mystik zu deuten (Peschke, Studien 1,102ff.). Die Unio fungiert als Gestaltungsprinzip für Siegmund Jacob Baumgartens Evangelische Glaubenslehre (vgl. Baumgarten I, 5.8; Schloemann 84ff.). Darüber entfaltet er sie innerhalb deren zweitem Teil, der Anthropologie, auf tradierte Weise — hinter der Rechtfertigungs- und vor der Erneuerungslehre. Die besondere Bedeutung der Unio er-

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mißt sich indes daraus, daß Baumgarten sie zu den „unentberlichen Grundwarheiten der Heilsordnung" (Baumgarten II, 843) zählt und sowohl eine dogmatische als auch ethische Einordnung vornimmt. Der dogmatischen Zurückweisung einer Unio mystica im strengen Sinn der Vergöttlichung (—»Theosis) entspricht Baumgartens Theorie einer unio accidentalis, die eine „ähnliche Gemuetsfassung" gegenüber dem Willen Gottes meint (ebd. 845). Die Definition der Vereinigung als „Stand der fortdaurenden Wirkung oder Einflusses Gottes in den Menschen" nimmt freilich dem Vereinigungsgedanken seine Pointe. Die Kontinuität und Intensivierung der Gottesbeziehung wird hingegen in einer Reihe von Pflichten auch zur Aufgabe des Gläubigen gemacht (ebd. 873ff.). EChr. —»-Oetinger trifft innerhalb der Gnadenlehre (Theologia 174-176 [De gratia §§42-44]) unmißverständliche Unterscheidungen, um den Gedanken einer Auflösung der Geschöpflichkeit zu zerstreuen, indem er als Akteure der mystischen Einheit nur die Gläubigen bezeichnet, die der göttlichen Einwohnung teilhaftig werden könnten, während die Gegenwart Gottes allen Menschen zugänglich sei. Weiterhin hebt er die Differenzen gegenüber Perichorese (-»Trinität) und Zwei-Naturen-Lehre (-»Jesus Christus) heraus, allerdings mit der Negation unfaßlich (imperceptibili bzw. mystico modo-, ebd. 175 [§43]) und damit als Verweigerung einer Beschreibung. 2. Mystik-Rezeption

in der Theologie

des 19. und 20.

Jahrhunderts

F. D. E. -»Schleiermacher stellt das Gottesverhältnis des Glaubens als „Lebensgemeinschaft mit Christo" dar (Schleiermacher II, 182 [§ 110]). Als Grenze der fortschreitenden Entwicklung des Glaubens zur Ähnlichkeit mit Christus markiert er die ursprüngliche Sündlosigkeit. Trotzdem vermag er die Wiedergeburt der Glaubenden analog zur ZweiNaturen-Lehre darzustellen, mit dem Argument, das Neue des Glaubens werde sonst nicht angemessen beachtet. Das Motiv der Vereinigung verwendet Schleiermacher mit dem Akzent der göttlichen Wirksamkeit als „die von der göttlichen Kraft in Christo ausgehende den Einzelnen mit ihm vereinigende Tätigkeit in der Wiedergeburt" (ebd. II, 188) und schließt so die Unio als Glaubensbemühung aus. Ohnehin verblaßt die Metaphorik der Vereinigung vielfach zum „Zusammenhang mit Christo" (ebd. II, 187) oder wird durch den Begriff „Lebensgemeinschaft" ersetzt. Eine anthropologische Reflexion über die Art der Vereinigung unterbleibt folgerichtig. In seinem Frühwerk greift J.T. -»Beck die Lehre von der Vereinigung auf und ordnet sie der Liebe des Christen zu Gott zu, die bedeutendster Ausdruck eines christlichen Lebens ist. Sie wird strukturanalog zur immanenten Trinität gedacht. „Die christliche Gottesliebe hat zu ihrem tiefsten Wesen und ihrem höchsten Ziel eine, der lebendigen Einheit des Vaters und Jesu Christi entsprechende, innerliche Lebensvereinigung der Christen mit dem Vater und dem Sohn, daß ihre Seelen in ihnen leben, und sie dem Ebenbilde des Sohnes gleich, als Brüder Christi und Söhne Gottes erscheinen" (Beck, Geburt 60). Als Kennzeichen der Lebensvereinigung benennt Beck die Erkenntnis der göttlichen Sendung Jesu, die Freude Gottes sowie die Intention, Gott Wohlgefallen zu wollen. Ausgehend vom Motiv des „Christus in uns" entwirft er eine Imitationsethik (ebd. 43f.82f.), wobei seine postum veröffentlichten Vorlesungen über Christliche Ethik die anthropologische Reflexion der Vereinigung vertiefen. Da mit ihr „keine bloß partielle Berührung zwischen Gottes Geist und dem Menschen, keine bloße Verbindung dieser oder jener Seite oder Funktion des Seelenlebens, sondern eine organische Vereinigung der göttlichen Geistessubstanz mit den Menschen im Grunde seines der Seele anerschaffnen geistigen Wesens vollzogen ist, ist es zur Geburt eines neuen, innern Menschen gekommen" (Beck, Vorlesungen I, 254). Beck opponiert mit seiner methodisch konservativen Substanzontologie gegen die liberale Sicht einer „bloß moralische[n] Veränderung" (ebd. 255) des Menschen in der Aneignung des Glaubens. Sein Modell einer ,,neue[n] Begeistung der Seele" (ebd.) im Unterschied zu einer neuen „Beseelung" klärt aber entgegen seiner Absicht weder die Frage nach der Selbständigkeit der -»-Person,

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noch vermeidet er den Verdacht einer Vergöttlichung des Menschen, von dem das Lehrstück traditionell betroffen ist. A. —»Ritschl verwirft die mystische Auffassung der Gottesbeziehung (z. B. Ritsehl III, 95) zugunsten eines reflexiven Modells der Gotteskindschaft, das auf Uberzeugung und freier Selbstäußerung beruht (ebd. 557ff.). M . —>Kähler transformiert die Fragestellung in das Thema der „Gotteskindschaft" (Kähler 500ff.) und entfaltet sie als „Lebensinhalt des vollendeten Menschensohnes", der dem Gerechtfertigten zugeeignet wird. Da Christus die Differenz von sündiger Gesellschaft und Berufung zur Gotteskindschaft „in sein Leben aufgenommen und zum Austrage gebracht" hat (ebd. 431), bleibt sie auch für das Gotteskind in seiner „Lebenseinigung mit Christo" (ebd. 430) erhalten. Insofern die Möglichkeit der Anfechtung und die Faktizität der Gottesferne der Gesellschaft für das Leben des Gerechtfertigten fortbestehen, bestreitet Kähler eine Vergottung des Menschen, obgleich seine Behandlung der Chiffre „ - » W e l t " als Ort der -»-Sünde die Aufwertung der Existenz der Bekehrten nach sich zieht (ebd. 507). Kählers Kritik des „Mysticismus" (ebd. 509) zielt auf die ethische Relevanz der Gottesbeziehung und konzentriert den Vereinigungsgedanken auf das verdienstliche Tun Christi und dessen Aneignung mit Hilfe des Heiligen Geistes. Dieser nach Auffassung Kählers geschichtliche Zugang ist von einem „vergeblichen Jagen nach Einheitlichkeit" (ebd. 436) zu unterscheiden. Auf dieser Linie liegt auch die Argumentation A. Schlatters, der die Liebe zu Gott lebensweltlich ausgerichtet wissen will (Schlatter, Ethik 123ff.). Ungeachtet der breit ausgeführten Theorie der Gefühle, die die anthropologische Fundierung seiner Theologie ausmacht, unterläßt er sowohl in der Rechtfertigungslehre wie in der Pneumatologie eine Wiederaufnahme des Vereinigungsmotivs. Von seinem Interesse an einer pneumatologischen Darstellung des Gottesverhältnisses von Personen her entfaltet O. Dilschneider die neutestamentliche Rede vom „Sein in Christo", die er als Mysterium Gottes (Dilschneider II, 153), aber als nicht mystisch kennzeichnet (ebd. 172ff.). Während die Prädikation „Mysterium" die Frage nach der Art der Gottesgemeinschaft terminologisch abwehrt, macht auch Dilschneiders Rückgriff auf die Genieästhetik deutlich, daß unter den Bedingungen des 20. Jh. die Lehre von der Unio mystica nicht wiederholt werden kann. Soll das Außer-sich-Sein als Erfahrung der künstlerischen Tätigkeit mit der Gotteserfahrung vergleichbar sein (ebd. 181), wird die im Lehrstück der Unio mystica entwickelte Anthropologie durch das klassizistische Konzept einer Kunstreligion überformt. 3.

Perspektiven

Die Unio mystica als Thema der Dogmatik schwankt frühneuzeitlich zwischen der Beschreibungseuphorie, die sich aus der Glaubenserfahrung und ihrer Erneuerung speist, und dem methodisch bedingten Darstellungsverzicht, der den Geheimnissen Gottes nicht auf der Spur sein will. Eine Konkurrenz zur Rechtfertigungslehre besteht auch nach der Überarbeitung der reformatorischen Anthropologie durch das Subjektivitätsmodell Ende des 18. Jh. fort. Während bibeltheologische Konzepte und auch die -»Erbauungsliteratur am Vereinigungsmotiv entweder festhalten oder es zur „persönlichen Gottesbeziehung" (s.o. 2.; Beck) entwickeln, verzichtet die liberale Theologie auf eine Aneignung. Gegenwärtig kann Dilschneiders Forderung als unüberholt gelten, daß eine Theologie des Heiligen Geistes die Gegenwart Gottes für die Glaubenden beschreiben müßte. Diese setzte freilich eine Anthropologie voraus, die weder von der außer Gebrauch gekommenen mystischen Diskursart zehren noch über die Probleme der Subjektivitätslehre hinweggehen könnte. Erst durch die Gesprächsfähigkeit gegenüber humanwissenschaftlichen Deutungen des Menschen ließe sich das berechtigte systematisch-theologische Interesse der Unio mystica auf heutige Beschreibungen der Glaubenserfahrung beziehen.

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Quellen Johann Arndt, Von der hochwunderlichen gnadenreichen Vereinigung der Christgläubigen mit dem allmächtigen, unsterblichen u. unüberwindlichen Kirchenhaupt, Christo Jesu: ders., Sechs Bücher vom wahren Christentum, nebst dessen Paradies-Gärtlein, Altorff 1735 Reutlingen, V/2 1861, 700 -729. - Gottfried Arnold, Wahre Abbildung des inwendigen Christenthums, nach dessen Anfang und grund, fortgang oder wachsthum, und ausgang oder ziel, Frankfurt a.M. 1709. Siegmund Jacob Baumgarten, Ev. Glaubenslehre, 2 Bde., Halle 1760. - August Hermann Francke, Werke in Ausw., hg. v. Erhard Peschke, Berlin 1969. - Johann Gerhard, Christi, u. Heilsame Unterrichtung was f. Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen [Schola pietatis], Nürnberg 1653. - David Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, Stargard 1707 = Darmstadt 1971. - Philipp Nicolai, FrewdenSpiegel des Ewigen Lebens, Frankfurt a.M. 1599 = Soest 1963 (SWB 23). - Friedrich Christoph Oetinger, Theologia ex idea vitae deducta, Frankfurt a.M./Leipzig 1765; hg. v. Konrad Ohly, 2 Bde., 1979 (TGP 7. Abt. 2/1.2). - Philipp Jakob Spener, Werke. StA, Gießen, 1/1 1996 1/2 2000. - Valentin Weigel, Sämtl. Sehr., hg. v. WillErich Peuckert/Winfried Zeller, 7 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1962-1978; NA, hg. v. Horst Pfefferl, Stuttgart 1996ff. Literatur Vgl. auch die Lit. zu den Art. -»Heil und Erlösung; -»Mystik; -»Orthodoxie; -»Pietismus. Zu 1.: Elke Axmacher, Praxis Evangeliorum. Theol. u. Frömmigkeit bei Martin Moller (15471606), 1989 (FKDG 43). - Dies., Johann Arndt u. Paul Gerhardt. Stud. zur Theol., Frömmigkeit u. geistlichen Dichtung, Tübingen 2001 (Mainzer Hymnologische Stud. 3). - Jürgen Büchsei, Gottfried Arnold. Sein Verständnis v. Kirche u. Wiedergeburt, 1970 (AGP 8). - Wilhelm Koepp, Johann Arndt. Eine Unters, über die Mystik im Luthertum, 1912 (NSGTK 13) = Aalen 1973. - Ki-Seong Lee, Die menschliche Liebe zu Gott als Thema der Theol. Untersucht an M. Luther, Ph. J. Spener u. A. Ritsehl, Aachen 2002 (Beitr. zur Theol. u. Religionsphil. 5). - Ulrich Gottfried Leinsle, Reformversuche prot. Metaphysik im Zeitalter des Rationalismus, Augsburg 1988 (R. wiss. Texte 42). - Theodor Mahlmann, Die Stellung der unio cum Christo in der luth. Theol. des 17. Jh.: Unio (s.u.) 72-199. - Erhard Peschke, Stud. zur Theol. August Hermann Franckes, Berlin, I 1964. - Carl Heinz Ratschow, Luth. Dogmatik zw. Reformation u. Aufklärung, 2 Bde., Gütersloh 19641966. - Hermann Reiner, Die orth. Wurzeln der Theol. Philipp Jacob Speners, Diss. Erlangen 1969. - Matti Repo, Die christologische Begründung der Unio in der Theol. Johann Arndts: Unio (s.u.) 249—274. - Martin Schloemann, Siegmund Jacob Baumgarten. System u. Gesch. in der Theol. des Ubergangs zum Neuprotestantismus, 1974 (FKDG 26). - Heinrich Schmid, Die Dogmatik der ev.-luth. Kirche, Frankfurt a.M. 1843; darg. u. durchg. v. Horst Georg Pöhlmann, Gütersloh '1979. - Johann Anselm Steiger, Johann Gerhard (1582-1637). Stud. zu Theol. u. Frömmigkeit des Kirchenvaters der luth. Orthodoxie, Stuttgart 1997 (Doctrina etPietas 1/1).-Konrad Stock, Annihilatio mundi. Johann Gerhards Eschatologie der Welt, 1971 (FGLP 42). - Unio. Gott u. Mensch in der nachreformatorischen Theol., hg. v. Matti Repo/Rainer Vinke, Helsinki 1996. - Martti Vaahtoranta, Unio u. Rechtfertigung bei Johann Gerhard: Unio (s.o.) 200-248. - Rainer Vinke, Der Unio-Gedanke in der Theol. des Pietismus: ebd. 275 -295. Zu 2.: Johann Tobias Beck, Die Geburt des christl. Lebens, sein Wesen u. sein Gesetz, Basel 1839. - Ders., Vorl. über Christi. Ethik. I. Die genetische Anlage des christl. Lebens, hg. v. Julius Lindenmeyer, Gütersloh 1882. - Hermann Cremer, Dogm. Prinzipienlehre: HTW 3 1 (1889) 49-84. - Otto Dilschneider, Gegenwart Christi (Christus praesens). Grundriß einer Dogmatik der Offenbarung, Gütersloh 1948. - Martin Kähler, Die Wiss. der christl. Lehre, Erlangen 1883 Leipzig 3 1905 = Neukirchen 1966. - Albrecht Ritsehl, Die christl. Lehre v. der Rechtfertigung u. Versöhnung, Bonn, III *1895. - Adolf Schlatter, Das christl. Dogma, Calw 1911 Stuttgart 21923 = 1977. - Ders., Die christl. Ethik, Calw 1914 Stuttgart 31929 = 1961. - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christl. Glaube nach den Grundsätzen der Ev. Kirche im Zusammenhange darg. (21830/ 31), hg. v. Martin Redeker, 2 Bde., Berlin 71960 = 1999. Bernd Harbeck-Pingel

Union Theological Seminary Union Theological Seminary (New

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York)

(Literatur S. 311)

Gegründet 1836 in New York durch Calvinisten der „New School", um die strenge Bindung der —•Presbyterianer der „Old School" an die Westminster Confession (—>Westminster/Westminsterconfession) und die Irrtumslosigkeit der Bibel zu lockern, strebte das Union Theological Seminary danach, „frei von Parteienstreit zu leben und sich von allen Extremen dogmatischer Spekulation, radikaler Praxis und kirchlicher Herrschaft fernzuhalten". Als ältestes interdenominationelles Seminar in den USA spielt es seit langem eine bedeutende Rolle in der theologischen Ausbildung. Seine Geschichte inmitten der Stadt Amerikas mit der größten sozialen und kulturellen Vielfalt zeugt von herausragenden Leistungen auf dem Feld der Gelehrsamkeit und von bewegtem Engagement in den Fragen der Zeit bei der Ausbildung für Leitungsfunktionen in den christlichen Kirchen. In den ersten hundert Jahren orientierte sich das Union Seminary sehr stark sowohl an der protestantischen Theologie in Deutschland wie an den biblischen Traditionen des schottischen Presbyterianismus. Eine beachtliche Reihe einflußreicher Professoren (Edward Robinson [1794-1863]; Henry Boynton Smith [1815-1877]; William Greenough Thayer Shedd [1820-1894]; William Adams [1807-1880]; Francis Brown [18491916]; Arthur Cushman McGiffert [1861-1933]; William Adams Brown [1865-1943]) vermittelten den Studenten die historische Bibelkritik und die wissenschaftliche Theologie ihrer Studienjahre in -»Tübingen, -»Marburg, -»Göttingen und -»Berlin. Der aus der Schweiz stammende Ph. -»Schaff, ein produktiver Kirchenhistoriker und Vertreter der „Mercersberg-Theologie", repräsentierte nach 1870 die deutsche reformierte Theologie. Das Seminary erlangte zusätzliche Berühmtheit, als der Alttestamentier Charles A. Briggs (1841-1913), der die mosaische Verfasserschaft für den -»Pentateuch bestritt und die eigenständige Verfasserschaft des -»Deuterojesaja verteidigte, in der Presbyterianischen Kirche der Häresie angeklagt wurde (1891-1893). Durch ihr Eintreten für Briggs löste die Fakultät des Union Seminary die 1870 eingegangenen Bindungen an den Presbyterianismus und erneuerte die ursprüngliche Unabhängigkeit der Institution. Obwohl das Seminary nicht-denominationell blieb, teilt das presbyterianische Auburn Theological Seminary seit 1939 im Zuge einer außergewöhnlichen Kooperation seine Räumlichkeiten. Die starken pastoralen Traditionen der New Yorker Kirchen haben die praktisch-theologischen Ausbildungsprogramme des Seminars historisch bereichert. Harry Emerson Fosdick (1878-1969), Pfarrer an der Riverside Church seit ihrer Gründung, begann 1930 Homiletik zu lehren, eine Tradition, die sich bis in die neunziger Jahre unter Seniorpastor James Forbes fortsetzte. Ursprünglich an University Place in der Nähe des Washington Square und ab 1884 in der Park Avenue gelegen, wurde das Seminary 1910 integraler Bestandteil von Morningside Heights an der Upper Westside, wo sein zweistöckiger, neugotischer Gebäudekomplex sich in der Nachbarschaft der Columbia University, des Barnard College, des Teachers College, des Jewish Theological Seminary, der Riverside Church und des Bezirks von Harlem befindet. Seine Lage begünstigte die Entstehung intensiver Beziehungen zum jüdischen und afro-amerikanischen religiösen Leben. Von der Social-GospelBewegung des frühen 20. Jh. (-»Social Gospel) bis zu seinem heutigen Engagement für Völker und Kulturen der Dritten Welt verband das Union Theological Seminary konsequentes akademisches Studium mit Leidenschaft für den prophetischen christlichen Dienst. Aus einem Pfarramt in Detroit 1928 an das Seminary berufen, verknüpfte R. -»Niebuhr bis zu seiner Emeritierung 1960 eine neu-reformatorische Theologie der Sünde (Gifford Lectures: „The Nature and Destiny of Man", 1939) mit liberalen sozialen Anliegen („christlicher Realismus"). Nach seiner Beurlaubung an der Universität Frankfurt am Main durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 und seiner schließlichen Dienstentlassung im Jahr 1934 lehrte P. —»Tillich am Union Seminary bis 1955, worauf

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Union Theological Seminary

er nach -»Harvard und 1962 an die Universität von -»Chicago wechselte. D. —»Bonhoeffer studierte am Union Seminary als Stipendiat von 1930-1931 und kam zu einem kurzen Besuch 1939 unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Deutschland. In ihrer letzten Dekade am Seminary bekamen Tillich und Niebuhr 1953 den deutsch-amerikanischen Reformationsforscher Wilhelm Pauck (1901-1981) zum Kollegen, der seit 1926 an der Universität von Chicago gelehrt hatte. Als sozial engagierte theologische Gemeinschaft spiegelt das Union Seminary seit seinen Anfängen im 19. Jh. die großen Zeitfragen der US-amerikanischen Geschichte (-•Vereinigte Staaten von Amerika). In die unruhigen Abschnitte fallen seine Parteinahme für die Abschaffung der -»Sklaverei im Bürgerkrieg, die Auseinandersetzungen um die Beteiligung der USA am Ersten Weltkrieg und ihren Eintritt in den Zweiten Weltkrieg, Fragen politischer Macht während des Kalten Krieges, ferner der anhaltende Kampf für soziale und rassische Gerechtigkeit. Standhaft behauptete das Seminary seine Programme während der Großen Depression um 1929 und errang eine stärkere Position als je zuvor unter der Präsidentschaft von Henry Sloane Coffin (1926-1945) und Henry Pitney van Düsen (1945-1963), die beide zu seinem internationalen Ruf beitrugen. Unter van Düsen erreichte das Union Seminary die größte Zahl von Studenten und Fakultätsmitgliedern. Unter Präsident Coffin wurde 1928 eine Hochschule für Kirchenmusik gegründet, die es Kirchenmusikern und Organisten erlaubte, ihre Ausbildung mit dem Studium der Theologie und der Kirchengeschichte zu verbinden. Im Zuge von Einsparungen wurde die Hochschule 1973 vom Union Seminary getrennt und der School of Music und der Divinity School an der —»Yale University eingegliedert. Die unabhängige Zeitschrift Christianity and Crisis, die Reinhold Niebuhr 1941 gegründet hatte, um die amerikanische Christenheit zum Kampf gegen den Nationalsozialismus aufzurufen, setzte ihr Erscheinen bis 1972 fort. Im späten 20. Jh. empfing das Seminary bedeutende Einflüsse durch eine Reihe von Sozialethikern, darunter John Coleman Bennett (19021995), Roger Lincoln Shinn (geb. 1917) und Donald W. Shriver (geb. 1927), die ihm Shinn freilich nur kurz - auch als Präsidenten dienten. In Verbindung mit seinem historischen Interesse an der —»Ökumene und der Weltchristenheit legt das Union Seminary besonderes Gewicht auf kulturelle, spirituelle, rassische und ethnische Vielfalt in globaler Ausrichtung. 1950 studierten 65 Studenten aus 27 Ländern am Seminary. Von 1955-1965 vereinigte das Programm für Advanced Religious Studies 25 leitende Persönlichkeiten der weltweiten Kirche zum Studium am Union Seminary. Die internationale Orientierung ist weiterhin ein entscheidendes Merkmal des Seminary; zehn Prozent seiner Studierenden kommen aus anderen Ländern. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (-»Vatikanum I und II) begann das Seminary auch Graduierte römisch-katholischer Konfession als Studierende anzuziehen; 2001 waren rund zehn Prozent seiner Studierenden katholisch. Von 1970 bis 1974 führten besondere Beziehungen zu Woodstock College, einem Seminary der Jesuiten, zur Berufung eines katholischen Priesters, Raymond E. Brown (1928-1998), auf den Lehrstuhl für Biblische Studien. Wie der afro-amerikanische Theologe und Professor James Cone feststellt, hat das Seminary versucht, „im Zentrum des Ausbildungsprozesses neben den traditionellen europäischen Modellen Geschichte, Kultur und Theologie der Dritten Welt einzubeziehen" (vgl. Cone 73). Seiner liberalen und fortschrittlichen Zielsetzung entsprechend ließ das Seminary 1895 erstmals Frauen zum Studium zu. Am Ende des 20. Jh. machten Frauen 65 Prozent der eingeschriebenen Studierenden aus. Während der Bürgerrechtsbewegung, des Vietnamkrieges und der Anti-Apartheid-Proteste in Südafrika verlief das Leben am Union Seminary oft tumultuarisch. Studentische Forderungen nach radikaler Demokratie, nach einem rassen- und geschlechtsübergreifenden Curriculum und einer stärker gemischten Fakultät zeugten von erhöhtem Interesse an sozialer und rassischer Gerechtigkeit. In den späten siebziger Jahren ließ die Unruhe nach, als die akademischen Programme neue Horizonte aufnahmen und an ein Bewußtsein für Unions historische Sendung ap-

Unionen I

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pellierten. Eine Mehrheit seiner Studierenden ist in Master-Programmen für das Pfarramt eingeschrieben, während 29 % der Studierenden die Promotion oder andere höhere Abschlüsse anstreben. Seine Graduierten, die oft parallel ein Programm für den philosophischen Doktorgrad an Columbia University absolvieren, sind in zahlreichen Fakultäten von Hochschulen und Universitäten in den USA und in Übersee anzutreffen. Beim Übergang ins 21. Jahrhundert hatte Union Theological Seminary eine 24köpfige Fakultät und mehr als 300 eingeschriebene Studierende, eine Zahl, die erstmals in den zwanziger Jahren erreicht wurde. Seine Studierenden gehören 46 Denominationen an und kommen aus 40 Staaten innerhalb der USA. Vollkommen unabhängig und ohne direkte denominationelle, universitäre oder staatliche Bindungen, muß das Seminary immer wieder als seine größte Herausforderung die Aufrechterhaltung seiner finanziellen Versorgung erkennen. Unter der Leitung des Präsidenten Joseph C. Hough jr. (seit 2000) begann das Seminary eine Initiative, die kühnen Realismus in der Finanzplanung mit einer kreativen Vision zur langfristigen Sicherung des Überlebens der Einrichtung verbindet. Die Geschichte des Union Theological Seminary weist zahlreiche Perioden einer Neuorientierung auf, die regelmäßig zu kritischer Erneuerung und zu Phasen weiteren Wachstums und Einflusses geführt haben. Literatur Henry Sloane Coffin, A Half Century of Union Theological Seminary. An Informal History, 1 8 9 6 - 1 9 4 5 , New York 1954. - James H. Cone, My Soul Looks Back, Nashville, Tenn. 1982. Robert T. Handy, A History of Union Theological Seminary in New York, New York 1987 (Lit.). - Mark Stephen Massa/Charles Augustus Briggs, Union Theological Seminary and Twentieth Century American Protestantism, New York 1994. - George Lewis Prentiss, T h e Union Theological Seminary in the City of New York, New York 1889. - Ders., T h e Union Theological Seminary in the City of New York. Its Design and Another Decade of Its History, Asbury Park, 1899. Thomas P. Slavens, A Great Library Through Gifts, New York 1986. - Claude Welch, Graduate Education in Religion. A Critical Appraisal, Missoula, Mont. 1971. - Kim Younglae, Broken Knowledge. The Sway of the Scientific and Scholarly Ideal at Union Theological Seminary in New York, Lanham, M d . 1997.

Richard Crouter

Unionen,

Kirchliche

I. Sprachgebrauch und Begriffsbestimmung II. Unionen der orthodoxen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche III. Unionen der protestantischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche (vor allem im 17. und 18. Jahrhundert) IV. Interprotestantische Unionen und Unionen zwischen protestantischen und anglikanischen Kirchen

S. 313 S. 319 S. 323

I. Sprachgebrauch und Begriffsbestimmung (Literatur S. 313)

Die Weite des Begriffs und seines Sprachgebrauchs entspricht den deutschen Wörtern, die von untre bzw. spätlateinisch uttio her gebildet wurden: vereinigen, zu einer Einheit machen bzw. Einheit, Einigkeit, Einigung, Vereinigung, Verein (vgl. u.a. Kirchenlateinisches Wörterbuch 802). Im Sprachgebrauch der Neuzeit sind mit „Union" unterschiedliche Inhalte transportiert worden. Im 17. und 18. Jh. verband sich damit neben einer Vielzahl von insbesondere allgemein juristischen, kirchen- und staatsrechtlichen Inhalten vor allem das 1608 gegründete Schutzbündnis deutscher Reichsstände aus beiden protestantischen Konfessionen (-»Dreißigjähriger Krieg). Die Breite interkonfessioneller Einigungsbestrebungen wurde eher unter erweiterten Begriffen wie „Unionsbemühun-

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Unionen I

gen", „Unionswerk" (vgl. Art. Union/unio: GVUL 49 [1746] 1640-1647.1731 f.; Art. Unions-Werck: ebd. 1660-1730) abgehandelt. Unter „Unions-Kirche" firmierte z.B. der Spezialfall der 1705 zur Nutzung durch beide protestantische Konfessionen gestifteten Kirche in Berlin-Friedrichstadt (ebd. 1657-1659). Die Unionsbemühungen zwischen römisch-katholischer Kirche und protestantischen Kirchen wurden häufig als „Reunion" bezeichnet (s.u. III). Seit dem 19. Jh. verstand man unter „Union" vorrangig die Vereinigung der beiden protestantischen Konfessionen innerhalb deutscher Landeskirchen (s.u. IV.l.). Der theologische und allgemein lexikalische Sprachgebrauch erfaßt unter „Union" bzw. „unierte Kirchen" die mit der römisch-katholischen Kirche verbundenen orthodoxen und orientalischen Kirchen (s.u. II), wobei der Begriff „unierte Kirchen" gleichwohl noch als Bezeichnung für die deutschen protestantischen Unionskirchen (z.B. in der —»Leuenberger Konkordie) und außerdem für die zahlreichen, aus protestantischen bzw. anglikanischen Missionskirchen hervorgegangenen Unionen Verwendung findet (vgl. Neill 1146-1148). Die kirchen- bzw. dogmengeschichtliche Forschung bezeichnet die im Jahre 433 unter römischer Beteiligung gefundene christologische Einigungsformel zwischen -•Cyrillus von Alexandrien und den Bischöfen der antiochenischen Kirche (DH 2 7 1 - 2 7 3 [1991]) als „Union". Im älteren kirchenrechtlichen Begriffsgebrauch steht z. B. unio ecclesiarum für unterschiedliche Varianten des Zusammenlegens von Pfarrstellen („Vereinigung der Kirchen": GVUL 47 [1746] 498-503; Richter 518-522). Der allgemeine Sprachgebrauch in Deutschland identifiziert heute jedoch „die Union" mit einer politischen Partei, der Christlich-Demokratischen Union (CDU). Der Begriff „Unionen, Kirchliche" erfaßt in unserem Zusammenhang die historischen Phänomene der Einigungsbestrebungen zwischen allen Konfessionen (Unionsbestrebungen, Reunionsbestrebungen) sowie der faktisch vollzogenen Einigungen zwischen kirchlichen Gruppierungen, einzelnen Kirchen bzw. Konfessionen (—»Konfession/Konfessionalität). Der Begriff spiegelt die Zertrennung der einen Kirche Jesu Christi wider, die zu einem bestimmten Zeitpunkt durch institutionelle Festlegungen mit der Absicht der Herstellung von (graduell unterschiedlicher) kirchlicher Einheit überwunden wurde bzw. überwunden werden sollte. Die Begriffsbestimmung ist deshalb so weit gefaßt, weil die Vielfalt kirchlicher Unionen eine Vielzahl von historischen Ausgangspunkten einschließt, die nicht immer auf Spaltungen zurückgeführt werden können, außerdem eine Vielzahl von beteiligten kirchlichen und nichtkirchlichen Akteuren, und schließlich, weil Unionsbildungen immer abhängig gewesen sind von den sie umgebenden, unterschiedlich strukturierten politischen Räumen. So können kirchliche Unionen unterschieden werden in: 1.) Unionen zwischen Kirchen, die sich durch vorauslaufende Spaltungen (-»Häresie, -»Schisma) getrennt bzw. zu einem bestimmten Zeitpunkt ihr Getrenntsein dekretiert oder akzeptiert hatten. Darunter fallen: 1.1.) Unionen zwischen der römisch-katholischen Kirche und orthodoxen Kirchen mit graduellen theologischen bzw. juristischen Unterschieden bezüglich der hergestellten Kircheneinheit (s.u. II; vgl. Suttner 1 0 2 8 - 1 0 3 1 ) ; 1.2.) Unionen zwischen den beiden protestantischen Konfessionen in deutschen Ländern auf der Grundlage des gemeinsamen reformatorischen Ursprungs durch zumeist landesherrliche Initiative bei insgesamt gesehen weitgehender Akzeptanz durch die Gemeinden im Anschluß an die Gebietsveränderungen zu Beginn des 19. Jh. mit graduellen Unterschieden bezüglich der Lehrgrundlagen im einzelnen, der Gottesdienstordnungen oder auch der Möglichkeiten des Beitritts (Bekenntnisunion, Verwaltungsunion usw., s.u. IV.l.). Die theologische Grundlage der protestantischen Unionen im 19. Jh. läßt sich u.a. an einzelnen Vertretern von „Unionstheologie" zeigen (F.D.E. -•Schleiermacher, vgl. Hornig 1 5 3 - 1 5 6 ; I.A. -»Dorner). 2.) Unionen zwischen Kirchen in Missions- bzw. historischen Einwanderungsgebieten Asiens bzw. Nordamerikas (s.u. IV.2.): 2.1.) Unionen zwischen Kirchen mit protestantischen bzw. anglikanischen Wurzeln, die aus den Missionen der Neuzeit hervorgingen, bei denen die historischen Trennungen der missionierenden Kirchen bereits durch Zusammenarbeit in der Mission bzw. durch die Einsicht relativiert

Unionen II

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waren, daß Mission nicht einfach eine bestimmte Kirche in einen anderen Kulturkreis hinein verlängert, sondern jeweils eine andere Kirche entbindet (vgl. T R E 4,192,30-193,33). 2.2.) Unionen zwischen national organisierten Einwandererkirchen gleichen Bekenntnisses (z. B. in den USA).

Der so differenzierte phänomenologisch-historische Begriff „kirchlicher Unionen" birgt neben dem kirchenrechtlichen ein gravierendes theologisches Problem und weist damit zugleich auf die Grenzen seines theologischen Gebrauchs. Denn als Relationsbegriff zu „Einheit der Kirche" (unitas ecclesiae) verstanden, hat er Anteil am fundamentalen Unterschied zwischen protestantischer und römisch-katholischer Ekklesiologie. Nach protestantischem Verständnis ist „Einheit der Kirche" zusammen mit den drei anderen „Eigenschaften" bzw. „,klassischen' notae ecclesiae" (vgl. T R E 18,289,32— 293,34) Gegenstand des Glaubens, und ihre zureichende Bedingung (satis est, CA VII: BSLK 61,7) besteht allein in rechter Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung. Nach römisch-katholischem Verständnis ist „Einheit der Kirche" grundsätzlich verbunden mit „der Einheit sowohl der Gemeinschaft als auch desselben Glaubensbekenntnisses mit dem römischen Bischof" (DH 3060 [1991]; vgl. DH 4119.4147 [1991]). Für protestantische Kirchen bot und bietet sich nach dem Wegfall alter staatskirchenrechtlicher Bedingungen die Möglichkeit, theologisch relevante Elemente des alten Unionsgedankens auf der Grundlage der unitas ecclesiae zu neuen Formen verbindlicher Gemeinschaft zwischen den Kirchen zu entwickeln (z. B. Leuenberger Konkordie). Dagegen bleibt eine „Union" zwischen der römisch-katholischen Kirche und nichtrömischen Kirchen aus römisch-katholischer Sicht weiterhin gebunden an eine kirchenrechtliche Anerkennung der Leitung der einen Kirche Jesu Christi im römischen Bischofsamt. Literatur GVUL. - Gottfried Hornig, Lehre u. Bekenntnis im Protestantismus: H D T h G 3 (1984) 7 1 - 2 8 7 . - Kirchenlat. Wb., hg. v. Albert Sleumer unter umfassender Mitarb. v. Joseph Schmid, Limburg J 1926 = Hildesheim 1996 (erste Aufl. u.d.T.: Liturgisches Lexikon, Limburg 1916). - Stephen C. Neill, Art. Unionen im Protestantismus. III. In der Mission u. den jungen Kirchen: R G G 3 6 (1962) 1 1 4 6 - 1 1 4 8 . - Ernst Chr. Suttner, Art. Unierte Kirchen: EKL 3 4 (1996) 1 0 2 8 - 1 0 3 1 . - Aemilius L. Richter, Lb. des kath. u. ev. Kirchenrechts, Leipzig 1841; 7. Aufl. bearb. v. Richard W. Dove 1874. - Union - Konversion - Toleranz. Dimensionen der Annäherung zw. den christl. Konfessionen im 17. u. 18. Jh., hg. v. Heinz Duchhardt/Gerhard May, Mainz 2000 (VIEG Beih. 50).

Michael Beyer

II. Unionen der orthodoxen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche 1. Ekklesiologische und kirchenrechtliche Vorbemerkung 2. Unionen zwischen der römischkatholischen und den chalkedonisch-orthodoxen Kirchen 3. Unionen zwischen der römischkatholischen Kirche und den Altorientalen (Quellen/Literatur S. 318)

1. Ekklesiologische

und kirchenrechtliche

Vorbemerkung

Kirchliche Unionen stehen mit den Bestrebungen des heutigen Ökumenismus kaum im Einklang. Vor und nach dem sog. „Großen Schisma" (1054) versuchten Rom und Konstantinopel aus verschiedenen (politischen, ekklesiologischen, sozialen) Gründen wieder zur Einheit zu gelangen. Die Trennung in zwei Konfessionen wurde jedoch im 18. Jh. durch gegenseitige Aufkündigung der communicatio in sacris vollzogen. Im Lauf der Jahrhunderte haben sich beide Kirchen in ihren Strukturen und Ansichten gewandelt. Waren bis zum Unionskonzil von Florenz (1438-1445) (-»Basel-Ferrara-Florenz, Konzil von) Gesprächspartner Roms der byzantinische Kaiser und der Patriarch von Konstantinopel, so standen nach der Eroberung von Konstantinopel (1453) und dem Untergang des byzantinischen Kaisertums Rom orthodoxe Nationalkirchen gegenüber, die Teilunionen eingingen. Auch das Unionskonzept hatte sich gewandelt. War der byzantinische

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Unionen II

Kaiser zur Annahme der Union und des päpstlichen Primates auch gegen den Widerstand im orthodoxen Klerus bereit, verstanden die orthodoxen Nationalkirchen besonders seit der Union von Brest-Litowsk (1596) unter Union die Sakramentengemeinschaft mit Rom ohne Unterordnung unter die päpstliche Jurisdiktion. Jedoch verlangte Rom eine solche immer. Es gibt also mindestens drei Unionsmodelle: Das erste, vor allem von Rom vom Frühmittelalter bis zur Enzyklika Mystici Corporis (1943) vertretene, sieht die Rückkehr der Orthodoxen in die römisch-katholische Kirche und die Unterordnung unter den Jurisdiktionsprimat des Papstes vor, das zweite, besonders von Metropolit -•Petrus Mogila vertretene, propagierte die gleichzeitige Gemeinschaft mit Rom und mit Konstantinopel ohne Unterordnung unter Rom. Im 20. Jh. wandelte sich das Unionskonzept der römischen Kirche. Verstand Rom bis zu den Enzykliken Mystici corporis (1943) und Ad Petri cathedram (1959) Union als Rückkehr der Getrennten in die römische Kirche, so gilt seit dem Zweiten -»Vatikanum (Lumen gentium Nr. 13) und seit der Unionsenzyklika Ut unum sint (Nr. 54) von 1995 die versöhnte Verschiedenheit als Ziel der Einheit. Die orthodox-katholische Dialogrunde hat in Freising (1990) und in Balamand (1993) den Uniatismus, d.h. den Abschluß einer Teilunion mit orthodoxen Nationalkirchen, als Weg zur Einheit verworfen, da eine solche Teilunion das Herausreißen einer Orts- oder Nationalkirche aus dem Leib der orthodoxen Schwesterkirche bedeutet. Allerdings stellt sich dann die Frage, wie ein gleichzeitiger gemeinsamer Unionsabschluß möglich sein soll zwischen Rom und allen 16 chalkedonischorthodoxen Kirchen, denen Autokephalie und damit die Freiheit, eine Union anzunehmen oder abzulehnen, zukommt.

2. Unionen zwischen der römisch-katholischen und den chalkedonisch-orthodoxen Kirchen Unter den chalkedonisch-orthodoxen Kirchen versteht man die Kirchen, welche sich gemeinsam mit der römischen Kirche zu der auf den Konzilien von —»Ephesus (431) und —»Chalkedon (451) definierten Christologie bekennen (vgl. T R E 25,444,52ff.). Die übrigen östlichen Nationalkirchen, die das nicht getan und deshalb eigene Nationalkirchen gegründet haben, heißen Altorientalen. Dabei unterscheidet man zwischen Praeephesinern (vgl. T R E 25,433,lff.) und Praechalkedoniern (vgl. T R E 25,435,43ff.). 2.1. Erfolgreiche

Unionen

2.1.1. Die Union mit den Maroniten. Die Maroniten im Libanon bildeten von Anfang an eine katholische Ostkirche. Im Zusammenhang mit den guten Kontakten zu den Kreuzfahrern schloß sich der maronitische Patriarch 1181 der römischen Kirche an unter Beibehaltung des westsyrisch geprägten maronitischen Ritus. Da im Falle der Maroniten kein Übertritt von der orthodoxen zur katholischen Kirche erfolgte, handelt es sich im strengen Sinn nicht um eine Union. Weltweit gibt es etwa 3,3 Millionen Maroniten (Winkler/Augustin 97f.; Kleine Konfessionskunde 28f.). 2.1.2. Die Union von Brest-Litowsk (1595/96). Nach der politischen Einigung von Polen-Litauen (1569) gehörten orthodoxe Christen zum überwiegend römisch-katholischen Staatsgebiet. Dies und das Vordringen der Calvinisten nach Polen-Litauen legten den Abschluß einer Union mit Rom nahe (-»Ukraine). Man erhoffte sich dadurch auch eine bessere Durchführung der Kirchenreform und eine rechtliche Gleichstellung der Unierten mit den römischen Katholiken. Die Union wurde in der Unionsbulle Magnus Dominus am 23. Dezember 1595 in Rom geschlossen und auf der Synode von Brest im Herbst 1596 feierlich ratifiziert und promulgiert. Jedoch sagten sich die Bistümer Lemberg und Przemysl von der Union los, weil sie sich nicht Rom unterordnen, sondern Gemeinschaft mit Rom haben wollten; sie schlössen sich aber 1681 wieder der Union an. Die Union hat auch ihre Auflösung und die erzwungene Rückführung der Unierten in die russische Orthodoxie durch die Sowjetunion (1946) überlebt. Ihr gehören weltweit etwa 5,8 Millionen Gläubige an. Oberhaupt ist der Großerzbischof von Lemberg (HOK* 1 [1984] 269-286; Winkler/Augustin 102f.).

Unionen II

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2.1.3. Die Union in Kroatien (1611). Nach dem Sieg der Türken bei Kosovo Polje (Amselfeld) 1389 flohen Serben und ab dem 16. Jh. Uskoken, d. h. Christen byzantinischer Tradition (Suttner, Christenheit 164), in das damals habsburgische Kroatien (vgl. TRE 17,438,3ff.). Ihnen wurde als kirchliches Zentrum das Kloster Marca zugeteilt. Dort setzte die Unionsbewegung ein, deren Haupt der serbisch-orthodoxe Bischof Simun Vratanja (1611-1680) war. Er erhielt bedingungsweise die katholische Bischofsweihe, nachdem er sein katholisches Glaubensbekenntnis abgelegt hatte. Bis ins letzte Drittel des 17. Jh. standen die Unierten auch in Gemeinschaft mit dem Patriarchen von Pec (Peje [Kosovo]). Der römisch-katholische Bischof von Zagreb strebte danach, sich den unierten Bischof von Marca als Vikarbischof unterzuordnen. Auf Vorschlag des Metropoliten von Esztergom wurde Sriem als uniertes Vikariat eingerichtet. Da es wegen des Vikariates in der Folgezeit zu ständigen Jurisdiktionsstreitigkeiten mit den Orthodoxen kam, wurde 1777 die Diözese Kreutz (Krizevci) gegründet. Diese unierte Diözese umfaßt heute ca. 50.000 Mitglieder (Suttner, Christenheit 164; Gahbauer, Dialog [1997] 97f.; Winkler/ Augustin 106). 2.1.4. Die Union von Uzhorod (1646). Die Union von Uzhorod ist die Vereinigung der ungarischen Ruthenen von Podkarpatien, der Ungarn des byzantinischen Ritus (seit 1912 Diözese Hajdudorog), der Slowaken (seit 1818 Diözese Presov) und Walachen der Diözese Mukacevo (seit 1771 als katholische Diözese) mit der römischen Kirche. Die Union kam unter ähnlichen Bedingungen zustande wie die Unionen des 16. und 17. Jh. Volk und orthodoxer Klerus befanden sich in Leibeigenschaft ihrer ungarischen Herren. Dazu bedrohten die Calvinisten die orthodoxe Kirche. Nach dem Vorbild der Union von Brest-Litowsk versuchten die orthodoxen Bischöfe von Mukacevo seit 1614 durch Anschluß an die römische Kirche Abhilfe zu schaffen. Verschiedene Unionsversuche vor 1646 waren jedoch gescheitert. Die Union war zunächst von 63 Priestern der ruthenischkarpatischen Kirche auf einer Synode in Uzhorod ohne Bischof geschlossen worden. Die Unierten durften ihren byzantinischen Ritus und das Recht, Bischöfe durch Synoden zu wählen, beibehalten. Der unierte Klerus erhielt dieselben Privilegien und Immunitäten wie der lateinische Klerus. D a ß die Zusammenarbeit mit den Orthodoxen damals gut war, zeigt die Tatsache, daß der zum Bischof erwählte und vom ungarischen Primas zur Seelsorge für die Ruthenen beauftragte Petr Parfenij seine Weihe durch den orthodoxen Bischof Simion erhielt. Aus dieser Union sind die Metropolien von Pittsburg und Winnipeg in Amerika mit ihren Suffraganbistümern hervorgegangen. Etwa 520.000 Gläubige gehören ihr an (Winkler/Augustin 104f.; Suttner, Christenheit 142-144; H O K 2 1 [1984] 273-278). Aus der Union von Mukacevo resultiert auch die slowakisch-katholische Kirche. Nachdem diese 1950 von den Kommunisten zwangsweise der Orthodoxie zugeführt wurde, gelang unter Dubcek 1968 die Rückkehr zur Union. Heute gehören ca. 250.000 Gläubige in einer kanadischen Diözese und in der Diözese Presov zur slowakischkatholischen Kirche (Winkler/Augustin 111). 2.1.5. Die Union von Rumänien (1697-1701 und 1797/98). M a n unterscheidet drei Unionen mit den Rumänen (-»-Rumänien), von 1697-1700, von 1701 und schließlich die Union der sog. Koryphäen von 1797 und 1798. Kaiser Leopold I. von Österreich (reg. 1658-1705) verfügte 1691, daß sich die Orthodoxen in Rumänien den Calvinisten unterstellen sollten. Das war für sie unannehmbar. Daher machte der Kaiser 1692 ein erneutes Angebot, das den Orthodoxen im Falle einer Union mit Rom dieselben Privilegien gewähren sollte wie den Lateinern. Jedoch scheiterten die Unionen von 1697-1701 an der Opposition der Orthodoxen gegen die Wiener Kirchenpolitik. Erst 1854 errichtete Papst -•Pius IX. für die Unierten die Metropolie Fagaras-Alba Julia. 1948 wurde die Union von den Kommunisten aufgelöst, lebte aber 1989 wieder auf. Auch in Amerika leben Gläubige, die aus dieser Union stammen (Suttner, Christenheit 168-177; Gahbauer, Dialog [1997] 100f.; Winkler/Augustin 107f.; de Vries 132-180).

316

Unionen II

2.1.6. Die Union der Melkiten. Die Union der Melkiten ist aus einem Schisma zwischen den Melkiten von Damaskus und Aleppo hervorgegangen, die 1724 je einen Patriarchen gewählt hatten. Konstantinopel anerkannte Sylvester, den Kandidaten der Aleppiner, exkommunizierte aber Kyrill Tanas, den von den Damaszenern Gewählten. Papst Benedikt XIII. ( 1 7 2 4 - 1 7 3 0 ) hingegen anerkannte Kyrill 1729, -»Benedikt XIV. überreichte ihm 1744 das Pallium und anerkannte dadurch die Union. Dieser Teilunion gehören heute weltweit etwa 1,1 Millionen Gläubige an (Suttner, Christenheit 1 5 8 - 1 6 1 ; Winkler/Augustin, 100 f.). Neben den genannten Angehörigen der Unionen gibt es heute Katholiken des byzantinischen Ritus, die nicht auf eine Union zurückgehen. So bestehen in Süditalien zwei Diözesen der Italoalbanesen in Lungro (gegründet 1919) und in Piana degli Albanesi (gegründet 1937). Bereits im 16. Jh. hatten orthodoxe Albanesen infolge der türkischen Invasion in Italien eine neue Heimat gesucht (-»Albanien II). Die byzantinische Hierarchie wurde aber zwangsweise unter den Päpsten Pius III. (1503) und -»Pius IV. lateinischen Bischöfen unterstellt und die communicatio in sacris zwischen den Gläubigen verschiedener Riten verboten (Suttner, Christenheit 101-104; Winkler/Augustin 99f.). Die unierte Diözese in Athen (gegründet 1911 bzw. 1923) geht nicht auf eine formelle Union zurück, sondern auf die Konversion der aus der Türkei geflohenen ehemaligen orthodoxen Christen (Suttner, Christenheit 224f.) zur katholischen Kirche. Zu Beginn des 20. Jh. konvertierten russisch-orthodoxe Christen aus der Region von St. Petersburg zur katholischen Kirche, weil sie der Bevormundung der Kirche durch den Staat überdrüssig waren (-»Rußland). Für sie errichtete Metropolit Szepticky bald nach dem Tod von Papst -»Pius X. kraft der vom Papst verliehenen Vollmacht eine Eparchie (Suttner, Christenheit 234-239). In der Emigration leben ca. 1.000 russische Katholiken (Nyssen 45). Im Jahre 1926 wurde ein Exarchat Sofia für die Katholiken des byzantinischen Ritus errichtet. Ihm gehören etwa 20.000 Gläubige an (Winkler/ Augustin 109). 2.2.

Unionsversuche

Unionsversuche wurden zum Teil vom byzantinischen Kaiser, von katholischen Orden sowie Bischöfen, Theologen und Konzilien unternommen. Der Versuch einer Versöhnung mit dem byzantinischen Patriarchen -»Michael Kerullarios war im Jahre 1054 gescheitert, da er und der römische Gesandte -»Humbert von Silva Candida auf ihren Standpunkten beharrten. Im 12. Jh. führten abendländische Bischöfe in Konstantinopel Unionsgespräche mit orthodoxen Theologen. Erstmals wurde auf dem Konzil von -»Lyon (1274) die Union unterzeichnet. Dieses war das erste Unionskonzil. Als Protektor der byzantinischen Kirche und um das byzantinische Reich vor weiteren Eroberungszügen zu schützen, suchte Kaiser Michael VIII. (reg. 1 2 5 8 - 1 2 8 2 ) mehr oder minder im Alleingang die Union zu erreichen. Er reichte am 6. Juli 1274 sein Glaubensbekenntnis beim Konzil ein (DH 8 5 1 - 8 6 1 ) . Die Union brach jedoch bald nach dem Tod von Papst Gregor X . ( 1 2 7 1 - 1 2 7 6 ) auseinander. Eine Einigung in der Filioque-Frage konnte die übrigen grundlegenden Verschiedenheiten zwischen Ost und West nicht ausgleichen. Papst Martin IV. ( 1 2 8 1 - 1 2 8 5 ) und die griechische Kirche exkommunizierten den byzantinischen Kaiser (Suttner, Christenheit 73 - 7 7 ; Gahbauer, Dialog [1997] 7 4 - 8 4 ; vgl. T R E 2 1 , 6 3 8 - 6 4 1 ) . Weitere Versuche im 14. Jh., die vor allem auf den griechisch-orthodoxen Abt und späteren katholischen Bischof -»Barlaam von Calabrien zurückgingen, scheiterten am Widerstand der Päpste, so besonders Benedikts XII. (1335-1342), die ein Unionskonzil ablehnten und die Anerkennung des Primates forderten. Hinter der im Konzil von Ferrara/Florenz geschlossenen Union stand die Hoffnung des byzantinischen Kaisers Johannes VIII. Palaiologos (reg. 1425-1448) auf abendländische Hilfe gegen die Türken. Die Bulle Laetentur caeli vom 6. Juli 1439 dokumentiert die Punkte der Einigung: päpstlicher Primat, Filioque, Fegefeuer (DH 1300-1308). Doch löste sich die im Jahre 1452 in Konstantinopel gegen den Widerstand von Klerus und Volk verkündete Union mit der Eroberung von Konstantinopel durch die Türken (1453) auf (vgl. TRE 5,289-296). Im Jahre 1588 erbat Metropolit Gheorghe Movila von der Moldaukirche (-»Rumänien) die Communio mit Rom. Im Januar 1589 antwortete Rom mit einem Schreiben, in welchem Movila daran erinnert wurde, daß die Unterwerfung unter den Papst heilsnotwendig sei. Die Union kam über das „Projektstadium" (Suttner, Christenheit 120-123) nicht hinaus.

317

Unionen II 3. Unionen zwischen

der römisch-katholischen

Kirche und den

Altorientalen

Zwischen 1340 und 1445 u n t e r n o m m e n e Unionsversuche der römisch-katholischen Kirche mit dem ostsyrischen Bistum in - • Z y p e r n blieben erfolglos. Im Jahre 1552 wählte die Mossuler Versammlung aus Protest gegen das erbliche Patriarchentum Johannes Sulaqa zum Patriarchen und sandte ihn nach R o m . Dieser legte d o r t das Glaubensbekenntnis ab und empfing von Papst -»Julius III. die Weihe zum Patriarchen der Chaldäer. Doch hatte dieser Schritt die Abspaltung eines ostsyrischen Patriarchats zur Folge (-»Nestorianische Kirche). Dieses spaltete sich wiederum in das sog. Patriarchat „der Ebene" bei Mossul und das „der Berge". R o m bemühte sich im 17./18. Jh. auch um die Union mit dem Patriarchat der Ebene. Zeitweilig w u r d e die Union zwar aufgekündigt, aber wieder geheilt, so daß sie bis heute besteht. M i t Patriarch Elias (1838) „beginnt die ununterbrochene Reihe der katholisch-chaldäischen Patriarchen mit dem Titel von Babylon" (de Vries 100). Der Patriarch der weltweit 600.000 Gläubigen hat seinen Sitz in Bagdad (Winkler/Augustin 115f.; Suttner, Christenheit 94f.; de Vries 98f.). Infolge der auf der Pseudosynode von Diamper/Indien (1599) (-»Indien 1.1.) erzwungenen Latinisierung und E x k o m m u n i k a t i o n des katholisch chaldäischen Patriarchen Simon Denha hatten sich 1653 viele dem Malabarritus zugehörige Thomaschristen dem syrisch-orthodoxen Patriarchat Antiochien zugewandt. Ins Land gesandte Karmeliten konnten bis 1662 wieder einen Teil der M a l a b a r e n f ü r R o m zurückgewinnen. Erst a b 1896 wurden f ü r die M a l a b a r e n einheimische apostolische Vikare und a b 1923 eine selbständige einheimische Hierarchie eingesetzt. H e u t e u m f a ß t die Syromalabarkirche 12 Bistümer mit ca. 3,2 Millionen Christen. Sitz des Großerzbischofs ist ErnakulamAngamaly in Kerala (Assfalg/Krüger 3 4 5 - 3 4 8 ; Kleine Konfessionskunde 27; H O K 1 1 [1984] 2 6 2 - 2 6 8 ; LThK 3 5 [1996] 461f.; Winkler/Augustin 117). Unionsversuche einzelner Bischöfe der westsyrischen Kirche (—• Jakobitische Kirche) im 12./13. Jh. waren ebensowenig d a u e r h a f t wie die Union von Florenz (30. November 1444) und weitere Unionen. Erst seit Patriarch Michael G a r w e h (1781 gewählt) gibt es eine ununterbrochene Nachfolge der syrisch-katholischen Bischöfe. Dem Patriarchen (Sitz seit 1920 in Beirut) unterstehen etwa 1 Million Gläubige (Winkler/Augustin 119; Suttner, Christenheit 212f.; de Vries 96f.). Die Geschichte der syromalankarischen Kirche von Südindien verlief bis 1653 parallel zu der der M a l a b a r e n . Unions- und Versöhnungsversuche R o m s mit ihr im 18. Jh. scheiterten. Erst 1930 trat Bischof M a r Ivanios von Trivandrum zur katholischen Kirche über. Weitere Bischöfe folgten ihm (Winkler/Augustin 122; Assfalg/Krüger 348). Zentrum der etwa 300.000 M a l a n k a r e n ist Trivandrum/Kerala, dem zwei weitere Suffraganbistümer zugeordnet sind. Erste Kontakte zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kopten (—»Koptische Kirche) wurden im 13. Jh. durch Dominikaner im Heiligen Land hergestellt. Die Union von Florenz (1442) hatte keinen Bestand. Jedoch waren Kontakte zwischen den Päpsten und den koptischen Patriarchen sowie Missionsaktivitäten der Franziskaner und Jesuiten in Ägypten im 17. Jh. möglich. 1741 ernannte Papst Benedikt XIV. den Bischof Athanasios von Jerusalem nach dessen Konversion zum apostolischen Vikar für die katholischen Kopten in Ägypten. Ein weiterer Unionsversuch im Jahre 1814 blieb ohne Erfolg. Ein 1824 errichtetes katholisch-koptisches Patriarchat stand zunächst wegen Fehlinformationen nur auf dem Papier. Papst -»Leo XIII. errichtete es 1895 neu. N a c h d e m es von 1908 bis 1947 nur von apostolischen Vikaren besetzt war, leiten seit 1947 katholisch koptische Patriarchen die heute etwa 180.000 katholischen Kopten (Winkler/Augustin 118; Assfalg/Krüger 2 1 2 - 2 1 4 ; de Vries 100f.; Suttner, Christenheit 209-211). Die auf dem Konzil von Florenz am 4. Februar 1442 (1441) verfaßte Unionsbulle f ü r die Einheit mit den Kopten und Äthiopiern (DH 1330-1353) gelangte nie nach -»Äthiopien. Erneute Versuche einer Katholisierung des Landes im 16./17. Jh. mißlangen. N a c h

318

Unionen II

der Abdankung des Negus Susneos (1632), der die Latinisierung der Kirche gewaltsam durchgesetzt hatte, konnten sich erst ab 1 8 3 9 wieder die Lazaristen ins Land wagen. 1 8 4 6 / 4 7 wurden zwei apostolische Vikariate, 1 8 9 4 und 1913 apostolische Präfekturen errichtet. 1 9 3 0 erhielten die katholischen Äthiopier einen einheimischen Oberhirten. Die heutige hierarchische Struktur geht a u f vatikanische Entscheidungen aus den Jahren 1951 und 1961 zurück. O b e r h a u p t der c a . 1 2 0 . 0 0 0 äthiopischen Katholiken ist der Erzbischof von Addis A b e b a (Winkler/Augustin 1 2 3 ; Assfalg/Krüger 7 2 f . ) . Unionsabschlüsse des armenischen Katholikos Gregor VI. (1197), der Synode von Sis ( 1 3 0 7 ) , weiterer armenischer Synoden des 14. J h . sowie auf d e m Konzil von Florenz a m 2 2 . N o v e m b e r 1 4 3 9 ( D H 1 3 1 0 - 1 3 2 8 ) waren nur von kurzer D a u e r ( - » A r m e n i e n ) . Im 1 7 . / 1 8 . J h . erfolgten neue Unionsversuche. Im J a h r e 1 7 4 2 bestätigte Papst Benedikt XIV. den unierten Patriarchen von Kilikien. 1 7 5 9 wurde ein Vikariat in Konstantinopel errichtet, 1 8 3 0 z u m Erzbistum erhoben und 1 8 6 7 in das P a t r i a r c h a t von Kilikien eingegliedert. H e u t e hat der P a t r i a r c h der katholischen Armenier als Oberhaupt der ca. 1 4 0 . 0 0 0 hauptsächlich im Libanon und in Syrien wohnhaften Gläubigen seinen Sitz in Beirut (Winkler/Augustin 1 2 0 f.; Assfalg/Krüger 4 6 - 4 8 ; de Vries 9 3 f.; Suttner, Christenheit 6 6 - 6 9 . 1 0 8 - 1 1 0 . 2 0 6 - 2 0 9 ; vgl. T R E 4 , 5 1 . 5 3 f . 5 8 ) . Quellen Zum zweiten Konzil v. Lyon s. T R E 21,641 f.; DH Nr. 8 5 0 - 8 6 5 . Zu Florenz s. T R E 5,295; DH 1 3 0 0 - 1 3 0 8 . 1 3 1 0 - 1 3 2 8 . 1 3 3 0 - 1 3 5 3 . - Athanasius G. Welykyj, Documenta Unionis Berestensis Eiusque Auctorum, 1970 (AOSBM 2. Ser. Sect. 3 [A]). Literatur Albert Maria Ammann, Der Aufenthalt der ruthenischen Bischöfe Hypathius Pociej u. Cyrillus Terlecki in Rom im Dezember u. Januar 1 5 9 5 - 1 5 9 6 : OCP 11 (1945) 1 0 3 - 1 4 0 . - Julius Assfalg/Paul Krüger, Kleines Wb. des christl. Orients, Wiesbaden 1975. - Oktavian Bärlea, Die rumänische unierte Kirche u. der Ökumenismus der Koryphäen der kulturellen Renaissance, München 1983. - Ferdinand R . Gahbauer, Die ost-westliche Kirchenspaltung. Theologiegesch. Aspekte ihres Entstehens u. ihrer Uberwindung: StZ 197 (1979) 4 8 9 - 4 9 8 . - Ders., Der Assyrisch-Orth./Röm.-Kath. Dialog. Die gemeinsame Erklärung zur Christologie: KNA ö k u m . Information Nr. 52/53 vom 21. Dezember 1994, 5 - 1 0 . - Ders., Die Union v. Brest-Litowsk (1595/96) u. der orth.-kath. Dialog: KNA ö k u m . Information Nr. 45 vom 29. Oktober 1996, 5 - 1 1 . - Ders., Der orth.-kath. Dialog. Spannende Bewegung der Ökumene u. ökum. Spannungen zw. den Schwesterkirchen v. den Anfängen bis heute, 1997 (KKSMI 21). - Oskar Halecki, From Florence to Brest (1493-1596), Rom 1958. - H O K J , bes. 1 [1984] 4 4 - 46. - Waclav Hryniewicz, Ein Vorläufer der Unionsbestrebungen der Ruthenen. Die Denkschr. des Metropoliten Misail (1476): OS 44 (1995) 4 9 - 60. - Georg Hofmann, Ruthenia. I. Die Wiedervereinigung mit den Ruthenen: OCA 12 (1924/25) 1 2 5 - 1 7 2 . - Kleine Konfessionskunde, hg. vom Johann-Adam-Möhler-Institut, Paderborn 1996, bes. 25 - 2 9 . - Michael Lacko, Unio Uzhorodensis Ruthenorum Carpaticorum cum Ecclesia catholica, 1955 '1965 (OCA 143). - Ders., Die Uzhoroder Union: OS 8 (1959) 3 - 3 0 . - Ders., Unionsbewegungen im slavischen Raum u. in Rumänien: H O K 2 1 [1984] 2 6 9 - 2 8 6 (mit Bibliogr.). - Josef Metzler (Hg.), Sacrae Congregationis de Propaganda Fide memoria rerum. 350 Jahre im Dienste der Weltmission ( 1 6 2 2 1972), 3 Bde., Rom/Freiburg i.Br./Wien 1971 - 1 9 7 6 . - Theodor Nikolaou, Die Einheit der Kirchen angesichts des dritten Jahrtausends: OrthFor 12 (1998) 7 3 - 8 5 . - Burkhard Roberg, Das zweite Konzil v. Lyon, 1990 (KonGe.D). - Ernst Christoph Suttner, Gründe f. den Mißerfolg der Union der Brester Union: COst 45 (1990) 2 3 0 - 2 4 1 . - Ders., Brachte die Union v. Brest Einigung oder Trennung f. die Kirche?: OS 39 (1990) 3 - 2 1 . - Ders., Der offizielle theol. Dialog zw. der kath. u. der orth. Kirche: T h P Q 139 (1991) 1 5 6 - 1 6 7 . - Ders., Die Union v. Rumänen mit der Kirche v. Rom: US 47 (1992) 3 3 0 - 3 4 0 . - Ders., Gemeinsame christologische Erklärung der kath. Kirche u. der assyrischen Kirche des Ostens: US 50 (1995) 1 6 1 - 1 6 5 . - Ders., Das wechselvolle Verhältnis zw. den Kirchen des Ostens u. des Westens im Lauf der KG, Würzburg 1996. - Ders., Die Christenheit aus Ost u. West auf der Suche nach dem sichtbaren Ausdruck f. ihre Einheit, 1999 (ÖC NS 48). - Wilhelm de Vries, Rom u. die Patriarchate des Ostens, 1963 (OA 3. R. 4). - Dietmar W. Winkler/Klaus Augustin, Die Ostkirchen. Ein Leitfaden, Graz 1997. Ferdinand R . G a h b a u e r

Unionen III

319

III. Unionen der protestantischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche (vor allem im 17. und 18. Jahrhundert) 1. Deutsches Reich

2. Frankreich

3. England

4. Polen

(Literatur S. 323)

Der Auflösung der kirchlichen Einheit durch die Konfessionsbildung des 16. Jh. wirkten von Anfang an Bestrebungen zu ihrer Erhaltung oder Wiederherstellung entgegen, doch verhinderten die unterschiedlichen Unionskonzeptionen beider Seiten einen Erfolg. In römisch-katholischer Perspektive war das Bemühen um „Reunion" der Kirchen ein Sonderfall der — bis heute verbindlichen - Rückführung der Getrennten in die Mutterkirche, wie sie auch durch obrigkeitliche Zwangsmaßnahmen oder Einzelkonversionen zu erreichen war. Dabei konnten gewöhnlich liturgische und disziplinare (Laienkelch, Priesterehe), nicht aber dogmatische Zugeständnisse gemacht werden. Auf protestantischer Seite verbanden sich Unionspläne dagegen meist mit der Forderung nach weiterreichenden Zugeständnissen beider Seiten; es sollte nicht die Reformation rückgängig gemacht, sondern eine neue Synthese gefunden werden. Die Zahl protestantischer Unionsvorschläge blieb daher geringer als die katholischer. Mit dem Aufkommen des modernen Toleranzgedankens trat im Protestantismus das Ziel der organischen Union zurück; die neueren ökumenischen Bestrebungen zielen zunächst auf „versöhnte Verschiedenheit". 1. Deutsches

Reich

Infolge seiner Bikonfessionalität wurde das Reich ein Zentrum katholisch-protestantischer Unionsbestrebungen; —»Augsburger Religionsfriede und -»Westfälischer Friede verpflichteten die Reichsstände auf das Einheitsziel. 1.1. Uniortsbestrebungen

des 16.

Jahrhunderts

Die wichtigsten Impulse zu den Einigungsbestrebungen des 16. Jh. gingen vom christlichen —»Humanismus aus, der sich im Anschluß an -»Erasmus die Aufgabe der Vermittlung auf der Grundlage gegenseitiger synkatabasis stellte und sich als „dritte Partei" zwischen den Konfessionen verstehen konnte. Eine wirkungsmächtige Ausformung erfuhren diese Ansätze durch G. —»Witzel (Via regia, 1564) und Georg Cassander (15121566; De officio pii viri, 1561; De articulis Religionis inter Catholicos et Protestantes controversis consultatio, 1564) in der mißverständlich so genannten altkatholischen Irenik, die den Konsens der alten Kirche als Einigungsbasis wählte. Das Ausbleiben einer konziliaren Regelung ließ den Kaiser sich der kirchlichen Einheit annehmen, zunächst auf dem Weg von —•Religionsgesprächen. Konzeption und Teilnehmer waren fast durchweg den irenischen Idealen des Humanismus verpflichtet. Neben den Reichsreligionsgesprächen dienten auch landesfürstliche Kolloquien (z. B. Leipzig 1539) dem Einheitsziel. Auch nach dem Scheitern der Religionsgespräche dauerten die kaiserlichen Vermittlungsbemühungen an. Nachdem bereits -»Karl V. mit dem -»Interim die Einigung gegen das Zugeständnis von Laienkelch und Priesterehe erreichen wollte, gelang es -»Ferdinand I., 1564 von Papst -»Pius IV. die zeitweilige Freigabe des Laienkelches für die deutschen Diözesen zu erreichen. Zur Vorbereitung eines Kolloquiums in Wien forderte er von Witzel und Cassander Gutachten zum -»Augsburger Bekenntnis an, doch blieb der Plan durch den Tod des Kaisers unausgeführt. -»Maximilian II. suchte vergeblich die Freigabe der Priesterehe zu erreichen; 1568 gewährte er dem evangelischen Adel Österreichs freie Religionsausübung und ließ durch D. -»Chyträus eine Agende erarbeiten. 1.2. Katholische

Unionsbestrebungen

des 17. bis 19.

Jahrhunderts

Nach dem -»Tridentinum verlor die „altkatholische Irenik" ihr Heimatrecht im Katholizismus; ihr letzter katholischer Vertreter, Marcantonio de Dominis (1560-1624), starb im Gefängnis. Statt dessen forderten die Jesuiten Adam Contzen (1573-1635; De

320

Unionen III

pace Germaniae, Mainz 1616) und Jakob Masen (1606-1681; Meditata concordia, Köln 1661/62) die bedingungslose Rückkehr der Protestanten, zu erleichtern allenfalls durch Erläuterung der katholischen Lehre auf Religionsgesprächen oder einem Konzil. Die politischen Verhältnisse nach dem —»Dreißigjährigen Krieg führten erneut zu Einigungsbestrebungen, die von den Höfen in —»Mainz und Wien ausgingen. Um den Mainzer Erzbischof Johann Philipp von Schönborn (1647-1673) sammelte sich ein Kreis von — zum Teil ehemals protestantischen — Irenikern (Johann Christian von Boineburg [1622-1672/73]; Peter van Walenburch [gest. 1675] u.a.), die durch eine Korrespondenz mit Helmstedter Professoren, irenische Publikationen und Geheimverhandlungen eine Rückgewinnung der Protestanten anstrebten. In der Hoffnung auf einen kollektiven Übertritt der Frankfurter Lutheraner suchte man 1660/61 von Papst Alexander VII. (1655—1667) die Gewährung des Laienkelches zu erreichen. Ein Mainzer Ursprung eines 1660 in Frankfurt verbreiteten Unionsplans, wonach sich ein katholisch-lutherisches Kollegium anhand des neu zu kollationierenden biblischen Urtextes über Confessio Augustana und päpstliches Brevier vergleichen sollte, ist dagegen unwahrscheinlich. Laienkelch und Priesterehe forderte auch Augustin Gibbon de Burgo (1613—1676) im kurmainzischen Erfurt (De Luthero-Calvinismo, Erfurt 1663). Seit 1673 bereiste im Auftrag Kaiser Leopolds I. (reg. 1658-1705) der Bischof von Tina (seit 1685 von Wiener Neustadt), Cristobal de Rojas y Spinola (1626-1695), die deutschen Fürstenhöfe; neben Reichsreformplänen erörterte er Möglichkeiten einer religiösen Annäherung. Besonders an den weifischen Höfen fand Rojas freundliche Aufnahme. 1683 kam es in -»Hannover zu einer mehrmonatigen Konferenz mit dem Kirchendirektor Gerard Wolter Molanus (1633-1722), einem hochkirchlich gesinnten Calixt-Schüler, und weiteren Helmstedter Theologen. Danach wollte man zunächst durch Eingliederung der Protestanten in die katholische Hierarchie gegen das Zugeständnis von Laienkelch, Priesterehe und landesherrlichen Religionsrechten eine Präliminarunion schließen; ein ökumenisches Konzil sollte die Einheit vollenden. Dabei strebte Rojas Uniformität in Dogma und Liturgie an, während Molanus die Garantie zentraler protestantischer Glaubenssätze über die Union hinaus forderte. Seit 1688 stand auch -»Leibniz in Kontakt mit Rojas, wobei zunehmend die Frage der Anerkennung des Tridentinums in den Vordergrund trat. Auch die Ireniker Dionysius von Werl (ca. 16401709; Via pacis, Hildesheim 1686) und Nikolaus von Zitzewitz (1634-1704; Secretio eorum, quae sunt de fide catholica ab iis, quae non sunt de fide, 1699) standen mit Molanus und Leibniz in Austausch. Obwohl Rojas das Einverständnis Innocenz' XI. (1676—1689) eingeholt hatte, verhandelte er im eigenen Namen und dürfte seine Kompetenzen zum Teil überschritten haben; die Verhärtung der konfessionellen Fronten in Europa nach 1685 besiegelte den Mißerfolg. In der zweiten Hälfte des 18. Jh. brachte die katholische -»Aufklärung neue Einigungsbestrebungen hervor. Nikolaus von Hontheim (—»Febronius) entwickelte seinen reichskirchlichen Episkopalismus ursprünglich mit der Absicht, durch Einschränkung des päpstlichen Primats den Protestanten die Rückkehr zu ermöglichen. Zur Eindämmung des —»Deismus strebte der Kardinal delle Lanze 1772 eine Union an, für die er vergeblich den protestantischen Neologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (17091789) zu interessieren suchte. In Bayern unterschied der Ingolstädter Professor Benedikt Stattler (1720-1797) unverhandelbare Fundamentalsätze von bloßen „Schulmeinungen", in denen er den Protestanten entgegenkommen wollte (Plan zu der alleinmöglichen Vereinigung im Glauben, München 1791). Beda Mayr (1742—1797) in Donauwörth wollte Unfehlbarkeit in vollem Umfang nur für unmittelbar geoffenbarte „Glaubensdogmen", nicht dagegen für „Kirchendogmen" in Anspruch nehmen; die Unterscheidungslehren sollten von Unionsakademien beider Konfessionen bearbeitet werden (Der erste Schritt zur künftigen Vereinigung, München 1778). Maximilian Prechtl (1757-1832), Abt von Michelfeld/Oberpfalz, schlug eine paritätisch besetzte Unionskommission vor, die durch Austausch von Gutachten und Ausschreibung von Preisfragen einen Unions-

Unionen III

321

plan erarbeiten sollte (Friedensworte an die katholische und protestantische Kirche, Sulzbach 1810). Die -•Napoleonische Epoche brachte mit der Errichtung einer bikonfessionellen theologischen Fakultät in -»Würzburg (1803—1806) und den Nationalkirchenplänen I.H. von —»Wessenbergs nochmals Einigungsimpulse, bevor der -*Ultramontanismus solchen Bestrebungen ein Ende machte. Doch meldeten sich auch während des 19. Jh. Ireniker zu Wort, die den Protestanten durch Aufklärung über die katholische Lehre den Weg zur Rückkehr bahnen wollten (u.a. Ludolph von Beckedorff [1778—1858]; Bischof Konrad Martin von Paderborn [1812—1879]). Die 1860 von dem Braunsberger Professor Friedrich Michelis (1818—1886) veranstaltete Erfurter Konferenz von Katholiken und lutherischen Laien - u.a. Ernst Ludwig von Gerlach (1795-1877) und Heinrich Leo (1799-1878) - sollte zunächst nur dem Aufbau einer gemeinsamen christlich-konservativen Front gegen den -»Liberalismus dienen. Dagegen zielten der 1878 von der wenig später zum Katholizismus konvertierten pommerschen Adligen Julie von Massow (1825-1901) gegründete Gebetsverein Ut omnes unum und die seit 1879 erscheinende gleichnamige Zeitschrift wieder auf die Rückführung der Protestanten. 1.3. Protestantische Unionsbestrebungen

des 17. bis 19. Jahrhunderts

Anders als im Katholizismus blieben in den protestantischen Unionsvorschlägen zunächst die Ideale des -»Humanismus bestimmend. In Anknüpfung an Cassander forderte H. -»Grotius, der persönlich konfessionelle Neutralität praktizierte, eine Reform aller Kirchen nach Maßgabe des kirchlichen Altertums als Voraussetzung ihrer Wiedervereinigung unter einem reformierten Papsttum. In Deutschland pflegte die philippistische Helmstedter Schule (-»Helmstedt) die humanistische Ausgleichstradition. Mit G. ->Calixt und seinem bekannten Rekurs auf das Traditionsprinzip des consensus antiquitatis erreichte die „altkatholische Irenik" ihren Höhepunkt. Zu den Hannoveraner Verhandlungspartnern von Rojas gehörte der Helmstedter Professor Johann Fabricius (1644— 1729), der die Lehrunterschiede für nicht fundamental hielt (Consideratio variarum controversiarum, Helmstedt 1704) und die Vermählung von Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel mit dem späteren Kaiser Karl VI. (1707) befürwortete. Auch die Tuba pacis (Köln 1685) des — noch vor der Drucklegung konvertierten - lutherischen Pfarrers Matthäus Prätorius (gest. 1707) war in calixtischem Geist verfaßt: die Streitigkeiten seien in Religionsgesprächen auf der Grundlage von Apostolikum und consensus antiquitatis auszuräumen, dem Papst komme ein Rangprimat zu. Mit dem Sieg der Aufklärung wurde die Fiktion des consensus antiquitatis unhaltbar. Dafür erleichterte die rationalistische Relativierung der konfessionellen Differenzen Unionsbestrebungen, konnte sie aber auch - je länger, je mehr - überflüssig erscheinen lassen. Ganz der konfessionellen Aussöhnung verpflichtet war das Lebenswerk von Leibniz. In den einzelnen Partikularkirchen sah er gleichsam Monaden, die in unterschiedlicher Klarheit die eine Universalkirche widerspiegelten. Für die protestantisch-katholische Annäherung bedeutsam wurden seine Kontakte mit Rojas, sein Briefwechsel mit J.-B. -»Bossuet und sein Plan eines von Peter I. dem Großen (reg. 1682—1725) einzuberufenden Weltkonzils. 1785 forderte Gottfried Leberecht Masius (1754—nach 1804) in Leipzig namens einer „Gesellschaft der Gelehrten" Friedrich II. den Großen (reg. 1740-1786) auf, die Ansiedlung einer aus aufgeklärten Protestanten und Katholiken neu zu gründenden Kirche der „vereinigten apostolischen Christen" zu gestatten. Dagegen erhoffte sich Johann Rudolf Piderit (1720-1792) in Kassel von einer Union mit der katholischen Kirche die Eindämmung des theologischen -»Rationalismus. Gemeinsam mit dem Fuldaer Benediktiner Peter Böhm (1747-1822) plante er seit 1776 die Gründung einer Vereinigungsgesellschaft, für die er eine detaillierte Geschäftsordnung entwarf (Einleitung und Entwurf zum Versuche einer ... Religionsvereinigung, Frankfurt a.M. 1781). Geradezu eine Apologie des Katholizismus war der Dialog Theoduls Gast-

322

Unionen III

mahl (Frankfurt a.M. 1809) des Darmstädter Oberhofpredigers Johann August Starck (1741-1816), eines ehemaligen Freimaurers und Kryptokatholiken. Die Umbrüche der napoleonischen Zeit führten auch auf protestantischer Seite zu neuen Unionsplänen. Von 1803 bis 1807 bestand in -»Heidelberg eine gemeinsame theologische Fakultät aller drei Konfessionen, in Nassau erwog man 1817 die Einbeziehung der Katholiken in die protestantische Union. Bald trat aber der Unionsgedanke zugunsten des Ideals der -»Toleranz und rechtlichen Parität zurück. 2.

Frankreich

Auch in -•Frankreich trug zunächst der Humanismus die Unionsbestrebungen. Nach dem Versuch der Brüder du Beilay, 1535 —»Melanchthon und —»Bucer für ein Kolloquium zu gewinnen, kam es aber erst 1561 unter Leitung des humanistisch gesinnten Kanzlers Michel de l'Hôpital (ca. 1505-1573) zum Gespräch von Poissy (vgl. TRE 28,662,34663,21). Politisch motiviert waren die zeitweiligen Unionsbestrebungen der Kardinäle Richelieu (1585-1642) und Mazarin (1602-1661), die die Einigung Frankreichs vollenden sollten. Seit 1631 suchte man durch gezielte Werbung unter reformierten Predigern eine Vereinigungssynode zur Rückführung der Protestanten anzubahnen; Hauptagenten waren Père Joseph (1577-1638, die „graue Eminenz"), der reformierte Jurist Théophile Brächet de la Milletière (1596-1665) und seit 1670 der Marschall Turenne (1611-1675). Wirklich konnte man zahlreiche Reformierte gewinnen, die zum Teil eigene Unionsprojekte ausarbeiteten, vereinzelt kam es zu lokalen Religionsgesprächen; doch scheiterten die Rückführungspläne am Widerstand der reformierten Synoden (vor allem Charenton 1673). Der Kurswechsel der königlichen Religionspolitik gipfelte 1685 im Edikt von Fontainebleau. Im Zuge der Rekatholisierungsmaßnahmen in den „reunierten" Gebieten warb der Jesuit Jean Déz (1643 -1712) in Straßburg noch einmal für eine Rückkehr der Protestanten auf der Grundlage der Confessio Augustana (La réunion des protestans de Strasbourg à l'église Romaine, Straßburg 1687). Dagegen zielten die Gespräche Bossuets mit prominenten Protestanten auf eine bedingungslose Rückführung auf der Basis des Tridentinums. Auf dem Höhepunkt des jansenistischen Streits (-* Jansen/Jansenismus) nahmen 1716 mehrere Doktoren der Sorbonne um Louis Ellies du Pin (1657-1719) einen Briefwechsel mit dem Erzbischof von Canterbury, William Wake (1657-1737), auf, um durch Anbahnung einer gallikanisch-anglikanischen Union ihre Position gegenüber Rom zu stärken. Doch während die Franzosen nur an Zugeständnisse bei Laienkelch, Priesterehe und Heiligenverehrung dachten, forderte Wake die Lösung der gallikanischen Kirche von Rom; 1719 unterband die französische Regierung die Korrespondenz. Zu Anfang des 19. Jh. richteten sich noch einmal Unionshoffnungen von Katholiken wie Protestanten auf Napoleon I. (1769-1821). 3. England Im Anschluß an Cassander und Grotius suchte der Bischof von Edinburgh, William Forbes (1585-1634), die Möglichkeit einer Union auf der Basis der alten Kirche nachzuweisen (Considerationes modestae et pacificae controversiarum, 1620). Seit 1629 machte man sich in Rom fälschlich Hoffnung auf eine Konversion König Karls I. (1625— 1648), 1636 kam es sogar zum Austausch von Residenten. Ein als Unionsbasis gedachter Kommentar des Konvertiten Christopher Davenport (ca. 1598-1680) über die anglikanischen 39 Artikel (Paraphrastica expositio articulorum Confessionis Anglicae, 1634) erregte aber das Mißfallen der Kurie. Im 19. Jh. knüpften die Oxfordbewegung und J . H . - » N e w m a n mit ihren Unionsvorschlägen an Davenport an.

Unionen IV/1 4.

323

Polen

Einen humanistisch geprägten Reformkatholizismus vertrat der königliche Sekretär A.F. - » M o d r z e w s k i . Z u r A b s t e l l u n g k i r c h l i c h e r M i ß s t ä n d e f o r d e r t e er r e g e l m ä ß i g t a g e n d e ö k u m e n i s c h e K o n z i l i e n (Liber d e ecclesia, 1551); in R e c h t f e r t i g u n g s - u n d A b e n d m a h l s l e h r e s u c h t e er e i n e M i t t e l p o s i t i o n u n d e m p f a h l z u l e t z t d i e B e s c h r ä n k u n g a u f d a s A p o s t o l i k u m . Seit E n d e d e s 16. J h . g e w a n n d i e G e g e n r e f o r m a t i o n a n B o d e n . E p i s o d e blieb d a s v o n W l a d i s t a w IV. (1632—1648) e i n b e r u f e n e Colloquium charitativum in T h o r n 1645; d i e k ö n i g l i c h e I n s t r u k t i o n , d i e s a c h l i c h e V e r h a n d l u n g e n g e w ä h r l e i s t e n sollte, w u r d e selbst G e g e n s t a n d des Streits. Literatur 5.a. die Lit. im Art. Religionsgespräche IV. John C. H. Aveling/David Michael Loades/Henry R. McAdoo, Rome and the Anglicans, Berlin/ New York 1982. - Karl O t m a r v. Aretin, Die Verhandlungen des Bischofs v. Wiener Neustadt, Christoph de Rojas y Spinola, u. die Vereinigung der Luth. Konfession mit der kath. Kirche: Munera parva. FS Boris Ulianich, Neapel, III 1999, 397-418. - Bibliographia Irenica 1500-1970, hg. v. Axel Hilmar Swinne, 1977 (Stiren 10). - Christoph Böttigheimer, Z w . Polemik u. Irenik. Die Theol. der einen Kirche bei Georg Calixt, Münster 1996 (Stud. zur syst. Theol. u. Ethik 7). - M a n f r e d Paul Fleischer, Kath. u. luth. Ireniker, Göttingen/Frankfurt a . M . / Z ü r i c h 1968. - GÖB, I 1957. Gottschalk Eduard Guhrauer, Die Unionsversuche seit der Reformation bis auf unsere Zeit: Dt. Vierteljahrsschr. 9 (1846) 8 5 - 1 5 3 . 1 3 9 - 1 9 5 . - Barbara Henze, Aus Liebe zur Kirche - Reform. Die Bemühungen Georg Witzeis um die Kircheneinheit, 1995 (RGST 133). - Carl Wilhelm Hering, Gesch. der kirchl. Unionsversuche seit der Reformation bis auf unsere Zeit, Leipzig, I 1836 II 1838. - Philipp Hiltebrandt, Die kirchl. Reunionsverhandlungen in der zweiten Hälfte des 17. Jh., 1922 (BPHIR 14). - Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Das Ringen um die Einheit der Kirche im Jh. der Reformation, Stuttgart 1957. - Ders., Einheitsbestrebungen im Wandel der KG, Gütersloh 1979. - Franz Xaver Kiefl, Der Friedensplan des Leibniz zur Wiedervereinigung der getrennten christl. Kirchen, Paderborn 1903 ( = Hildesheim 1975) 2 1925. - Gisbert Menge, Versuche zur Wiedervereinigung Deutschlands im Glauben, Steyl 1920. - Samuel J.T. Miller/John P. Spielman, Cristobal Rojas y Spinola, Cameralist and Irenicist, 1962 (TAPhS NS 52/5). - Heribert Raab, „Ad reuniendos dissidentes". Zur Gesch. der kirchl. Reunionsbestrebungen im ausgehenden 18. u. im beginnenden 19. Jh.: JBMz 8 (1960) 128-147. - Ders., Kirchl. Reunionsversuche: HKG(J) 5 (1970) 5 5 4 - 5 7 0 . - Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jh., hg. v. Hans Otte/Richard Schenk, 1999 (SKGNS 37). - Ernst Schering, Leibniz u. die Versöhnung der Konfessionen, Stuttgart 1966. - Gaius Jackson Slosser, Christian Unity, L o n d o n / N e w York 1929. - Christoph A. Stumpf, Die Bedeutung der Reichsgrundgesetze f. die konfessionellen Einigungsversuche: ZKG 111 (2000) 3 4 1 355. - Union - Konversion - Toleranz. Dimensionen der Annäherung zw. den christl. Konfessionen im 17. u. 18. Jh., hg. v. Heinz Duchhardt/Gerhard May, 2000 (VIEG Beih. 50). - Z w . Polemik u. Irenik. Unters, zum Verhältnis der Konfessionen im späten 18. u. frühen 19. Jh., hg. v. Georg Schwaiger, 1977 (SThGG 31). Wolf-Friedrich Schäufele

IV. Interprotestantische U n i o n e n u n d U n i o n e n z w i s c h e n protestantischen u n d anglikanischen Kirchen IV/1. Deutschland IV/2. Außerdeutsch

S. 3 2 7

IV/1. Deutschland 1. Anhalt 2. Baden 3. Kurhessen 8. Waldeck-Pyrmont (Literatur S.327)

4. Nassau

5. Pfalz

6. Preußen

7. Rheinhessen

I m 17. u n d 18. J h . h a t es V e r s u c h e g e g e b e n , d u r c h - > R e l i g i o n s g e s p r ä c h e e i n e A n n ä h e r u n g zwischen den beiden protestantischen Konfessionskirchen zu bewirken. Auf E i n l a d u n g des L a n d g r a f e n v o n - » H e s s e n f a n d 1661 ein R e l i g i o n s g e s p r ä c h in Kassel zwischen zwei r e f o r m i e r t e n M a r b u r g e r T h e o l o g e n u n d zwei lutherischen T h e o l o g e n

324

Unionen IV/1

der Universität -»Rinteln statt. Auch Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst (reg. 1640—1688), veranlaßte 1662/63 in Berlin ein solches Gespräch. G.W. -»Leibniz und der preußische Hofprediger D.E. —»Jablonski versuchten, die innerreformatorische Einigung durch Geheimverhandlungen zwischen den Höfen in Hannover und Berlin voranzutreiben. 1703 fand daraufhin unter König Friedrich I. (reg. 1701 -1713) in Berlin ein geheimes Kolloquium statt. Doch alle Religionsgespräche scheiterten an lutherisch-orthodoxen Unionsgegnern. Der Tübinger Universitätskanzler Christoph Matthäus Pfaff (1686-1760) bemühte sich, den Gedanken einer Union den Delegierten des Corpus Evangelicorum beim Regensburger Reichstag nahezubringen, erreichte jedoch nur eine folgenlose politische Absichtserklärung. Dennoch wurde es um die Union nicht still. Daß die Unterscheidungslehren der Konfessionen an Gewicht verloren hätten, wie es der einflußreiche Hof- und Domprediger Friedrich Samuel Gottfried Sack (17381817) in einem Promemoria 1798 (Goeters 83) zum Ausdruck brachte, war keine vereinzelte Meinung. Anfang des 19. Jh. bestanden für eine Union günstige Voraussetzungen. Sie war rechtlich leichter möglich geworden, weil nach dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (1806) alle Hoheitsrechte auf die Landesherren übergegangen waren. Durch die Grenzziehungen des Wiener Kongresses (1815/16) mußten in den Territorien konfessionell unterschiedliche Gebiete integriert werden. Mehrfach war es bereits zu einer Verwaltungsunion der kirchlichen Zentralbehörden gekommen. Die -»Aufklärung betrachtete Dogmen als vernunftwidrig und unzeitgemäß. Die -»Erweckungsbewegungen wandten sich gegen jeden Konfessionalismus. F.D.E. —•Schleiermacher unterstützte schon 1804, zunächst freilich anonym, durch Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat (F.D.E. Schleiermacher, Sämmtliche Werke, Berlin, 1/5 1846, 41 ff.) den Unionsgedanken. Die patriotische Begeisterung über den siegreichen Ausgang der Befreiungskriege und zuvor das preußische Reformwerk förderten das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Der konkrete Anstoß zur Union war jedoch die bevorstehende dritte Jahrhundertfeier der Reformation am 31. Oktober 1817. Die Union erschien vielfach als eine notwendige zweite Reformation. Sie ging von -»Preußen aus (vgl. auch T R E 2,55-60) und führte nach Bekanntwerden der preußischen Pläne auch in anderen Territorien zu Unionsschlüssen. 1. Anhalt In den drei anhaltinischen Herzogtümern Bernburg, Dessau und Kothen (-»Anhalt) - das Zerbster Fürstenhaus war 1793 ausgestorben und das Land aufgeteilt worden - umfaßte das reformierte Bekenntnis zwei Drittel der Bevölkerung, das lutherische ein Drittel. Beide Bekenntnisse waren gleichberechtigt. Die Union wurde zuerst in AnhaltBernburg eingeführt. Das Unionsstatut wurde auf einer Geistlichkeitssynode in Bernburg angenommen und am 28. September 1820 in einem Gottesdienst feierlich bestätigt. Es enthielt keinen Lehrkonsens, „da eine völlige Ubereinstimmung in Lehre und Meinungen selbst bei den Mitgliedern ein und derselben Kirchenpartei bisher nicht stattfand", sondern behandelte vor allem liturgische Regelungen für die unierte Abendmahlsfeier (Boes 43). In Anhalt-Dessau übernahm die Landespastoralversammlung 1826 das Bernburger Unionsstatut mit unwesentlichen Änderungen. In Anhalt-Köthen kam es erst zur Union, als 1847 das Land durch Erbgang an Anhalt-Dessau gefallen war. Als 1880 für Kothen die Union eingeführt wurde, behielten die reformierten Gemeinden das Recht, den -»Heidelberger Katechismus, die lutherischen Gemeinden, die -»Schmalkaldischen Artikel und die beiden Katechismen Luthers als -»Bekenntnisschriften weiterzuführen. 2. Baden Die Erhebung zum Großherzogtum 1806 hatte für -»Baden zur Folge, daß unter anderem die rechtsrheinische reformierte -»Pfalz dem lutherischen Herrscherhaus zufiel. Für kurze Zeit bestanden ein lutherisches und ein reformiertes Kirchenwesen neben-

Unionen IV/1

325

einander, bis eine Verwaltungsunion gebildet wurde. Im Juli 1821 berief Großherzog Ludwig (reg. 1818—1830) eine Synode, die in wenigen Tagen eine Unionsurkunde erarbeitete, die die Konfessionen zu einer „vereinigten evangelisch-protestantischen Kirche" zusammenschloß und eine Spaltung in unierte und nichtunierte Gemeinden vermied. Die Unionsurkunde begründete eine Bekenntnisunion und nannte als Bekenntnisschriften das ->Augsburger Bekenntnis sowie den Kleinen Katechismus Luthers und den Heidelberger Katechismus, betonte jedoch „Prinzip und Recht der freien Forschung" und band die Gültigkeit der Bekenntnisschriften an die Heilige Schrift, „der einzigen sichern Quelle des christlichen Glaubens und Wissens" (Badische Unionsakte vom 26. Juli 1821; vgl. Kirchenunionen [ T K T G 6] 97). In der Abendmahlsfrage wurden Formulierungen gefunden, die sowohl im lutherischen wie im reformierten Sinn interpretiert werden konnten. 3.

Kurhessen

In Kurhessen kam es nur für den Bereich des ehemaligen Fürstentums Hanau, des kurhessischen Anteils am ehemaligen Fürstentum Isenburg und des früheren Großherzogtums Fulda zur Union. Die von einer Synode erarbeiteten Hanauer Unionsartikel (vgl. Kirchenunionen [ T K T G 6] 79) wurden am 4. Juli 1818 von Kurfürst Wilhelm (reg. Landgraf 1785-1803, Kurfürst 1803-1821) bestätigt. Die Kirche erhielt den Namen „evangelisch-christlich". Der Abendmahlsritus wurde vereinheitlicht. Die symbolischen Bücher blieben in Geltung, wurden aber zusammengebunden, ein Vorgehen, das zur Bezeichnung „Buchbinderunion" Anlaß gab. Im übrigen Kurhessen wurden nur die Konsistorien vereinigt. Die Universität -»Marburg wurde 1823 für uniert erklärt. 4.

Nassau

In dem 1806/16 aus 39 Territorien gebildeten Herzogtum -»Nassau hatten der lutherische und der reformierte Generalsuperintendent den Herzog gemeinsam gebeten, aus Anlaß der 300-Jahrfeier der Reformation durch eine Geistlichkeitssynode die Vereinigung der protestantischen Kirchen vorzubereiten. Auf der Generalsynode in Idstein wurde die Union einstimmig gebilligt und am 11. August 1817 durch Herzog Wilhelm (reg. 1816-1839) verfügt. Es war die erste Unionsgründung innerhalb des deutschen -•Protestantismus. Die Kirche führte die Bezeichnung „evangelisch-christlich". Einen Lehrkonsens hatte die Synode nicht formuliert, doch läßt das Generalreskript der Landesregierung vom 23. September 1817 erkennen, daß als Lehrgrundlage an das Augsburger Bekenntnis gedacht war. Die Unionsgründung wurde am Reformationstag 1817 in allen Gemeinden festlich begangen. 5. Pfalz Durch den Wiener Kongreß fiel die linksrheinische Pfalz an -»Bayern. Die Gemeinden waren zu etwa gleichen Teilen lutherisch oder reformiert. Sie wurden durch das paritätisch besetzte Generalkonsistorium in Speyer verwaltet. Lokalunionen, zum Beispiel in Zweibrücken und Bergzabern, gingen der Union auf Landesebene voraus. Eine vom Generalkonsistorium veranlaßte Abstimmung unter den Hausvätern erbrachte eine überwältigende Mehrheit für die Union. In der von der Generalsynode im August 1818 erarbeiteten Vereinigungsurkunde hieß es: „Die protestantisch-evangelisch-christliche Kirche erkennt außer dem Neuen Testament nichts anderes für eine Norm ihres Glaubens. Sie erklärt, daß alle bisher bei den protestantischen Konfessionen bestandenen oder von ihnen dafür gehaltenen symbolischen Bücher völlig abgeschafft sein sollen . . . " (vgl. T R E 26,329,26-47). Auf Druck des lutherischen Oberkonsistoriums in München wurde diese Formulierung auf einer zweiten Generalsynode 1821 dahingehend abgeschwächt, daß „Glaubensgrund und Lehrnorm" allein die heilige Schrift sei, die symbolischen Bücher jedoch „in gebührender Achtung" (vgl. Kirchenunionen [ T K T G 6] 52) gehalten würden. Die Union wurde am 1. Advent 1818 eingeführt.

326 6.

Unionen IV/1 Preußen

Der Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund (reg. 1 6 0 8 - 1 6 1 9 ) zum reformierten Bekenntnis und der Verzicht auf die Anwendung des ius reformandi (1613) hatte in -»Brandenburg zu einem konfessionellen Gegensatz zwischen Herrscherhaus und Bevölkerung geführt. Neuerwerbungen im Westen hatten dem Staatsgebiet sowohl lutherische als auch reformierte Gebiete hinzugefügt. Im Rahmen der Stein-Hardenbergschen Reformen waren bereits die beiden kirchlichen Oberbehörden im Innenministerium zusammengefaßt worden. Die preußische Union war jedoch in erster Linie die persönliche Entscheidung des Königs Friedrich Wilhelm III. (reg. 1 7 9 7 - 1 8 4 0 ) . Die von Hofprediger Rulemann Friedrich Eylert ( 1 7 7 0 - 1 8 5 2 ) entworfene Kabinettsorder vom 27. September 1817 enthielt keinen Lehrkonsens, appellierte an die „Einigkeit der H e r z e n " und wollte jeden Z w a n g vermeiden. Der König nahm am Reformationsfest an der Vereinigung der beiden Hof- und Garnisonsgemeinden in Potsdam und der gemeinsamen Abendmahlsfeier teil. Dieses Datum gilt als Beginn der Union in Preußen. In einer Kabinettsorder vom 28. Februar 1834 betonte der König angesichts von Protesten gegen die Union in Schlesien und der Trennung der Altlutheraner von der preußischen Kirche erneut, daß der Beitritt zur Union auf dem freien Beschluß der einzelnen Gemeinde beruhe. Die Entwicklung wurde dadurch erschwert, daß Friedrich Wilhelm III. im zeitlichen Zusammenhang mit der Einführung der Union eine gemeinsame -»-Agende (18.1) für alle Gemeinden erarbeiten ließ. Weihnachten 1821 erschien die Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, der 1829 die Agende für die evangelische Kirche in den Königlich Preußischen Landen mit Sonderausgaben für die einzelnen Provinzen folgte. Während am Anfang des 19. Jh. der Gottesdienst sowohl in den lutherischen als auch in den reformierten Gemeinden meist in schlichten liturgischen Formen gehalten wurde, enthielt die neue Agende ein von Pfarrern und Gemeinden als hochkirchlich empfundenes Ritual. Manche Kritiker der Agende wie Schleiermacher bezweifelten, ob das ius liturgicum des Königs wirklich so weit reichte, den Gemeinden gegen ihren Widerstand eine Agende einfach zu verordnen (vgl. Schleiermachers unter dem Pseudonym Pacificus Sincerus veröffentlichte Schrift Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken, Göttingen 1824 = ders., Kirchenpolitische Schriften, Berlin/New York 2000 [KGA 1/9] 211-269). Die damit aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen führten schließlich dazu, daß 1835 die Agende zwar eingeführt, aber für die Provinz Westfalen und die Rheinprovinz mit Zusätzen versehen wurde, die die bisherigen konfessionellen Gegebenheiten stärker aufnahmen (vgl. Kampmann). Die Lehrgrundlagen der Union wurden in der Regierungszeit Friedrich Wilhelm IV. (reg. 18401861) 1846 auf einer Generalsynode thematisiert. Trotz der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre gelang es, drei für die Union bedeutungsvolle Dokumente mit großer Mehrheit zu beschließen. Es handelt sich dabei um die Grundsätze der Lehrunion, eine Ordinationsverpflichtung und eine Lehrordnung. Die Grundsätze bringen zum Ausdruck, daß die Lehrunion im Kern in der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft besteht. Die Ordinationsverpflichtung löst das Problem, wie sich die fortgeltenden unterschiedlichen Bekenntnisse in den einzelnen Landesteilen und Gemeinden zur Union verhalten, indem sie bestimmt, daß diese Bekenntnisse auf der Gemeindeebene ihre Gültigkeit haben, während die evangelische Kirche als ganze „sich gründet auf dem einigen und übereinstimmenden Lehrinhalt der ganzen evangelisch-protestantischen Reformation und ihrer Bekenntnisschriften" (Verhandlungen der evangelischen General-Synode zu Berlin vom 2. Juni bis zum 29. August 1846, Berlin 1846, 82 Anh.). Aus diesen beiden Dokumenten ergibt sich sachlich die von der Synode ebenfalls verabschiedete Lehrordnung. Die Verhandlungen und Beschlüsse der Generalsynode zeigen das Bemühen, der Union auch ohne ein eigenes Symbol klare Lehrgrundlagen zu geben. Sie wurden jedoch vom König niemals bestätigt. 7.

Rheinhessen

Das Großherzogtum -»Hessen erhielt durch den Wiener Kongreß das konfessionell zersplitterte Rheinhessen. N a c h einem Synodalkonvent legte das Staatsministerium den Gemeinden in Rheinhessen die Frage einer künftigen Union zur Abstimmung vor. N a c h dem einhellig zustimmenden Ergebnis ordnete Großherzog Ludwig I. (reg. Landgraf 1 7 9 0 - 1 8 0 6 , Großherzog 1 8 0 6 - 1 8 3 0 ) für Rheinhessen die Vereinigung der Konfessionen zu einer „vereinten evangelisch-protestantischen K i r c h e " an. Die Vereinigungsurkunde

327

Unionen I V / 2

vom 2 8 . N o v e m b e r 1 8 2 2 geht davon aus, d a ß a u ß e r dem A b e n d m a h l „ s c h o n längst kein a n d e r e r wesentlicher P u n k t " (vgl. K i r c h e n u n i o n e n [ T K T G 6] 8 4 f . ) die K i r c h e n trenne, und enthält lediglich zu Lehre und R i t u s des A b e n d m a h l s einen formulierten Konsens. I m übrigen G r o ß h e r z o g t u m Hessen k a m es nur vereinzelt zum Z u s a m m e n schluß v o n G e m e i n d e n . 8.

Waldeck-Pyrmont

O b w o h l in den m i t e i n a n d e r verbundenen F ü r s t e n t ü m e r n W a l d e c k und P y r m o n t nur zwei r e f o r m i e r t e G e m e i n d e n bestanden, k a m es a u c h hier zur U n i o n , ein Z e i c h e n d a f ü r , wie p o p u l ä r der U n i o n s g e d a n k e w a r . N a c h d e m die G e m e i n d e n von der e i n g e r ä u m t e n M ö g l i c h k e i t des E i n s p r u c h s keinen G e b r a u c h g e m a c h t h a t t e n , trat die U n i o n a m 2 3 . J a n u a r 1 8 2 1 in K r a f t . In den G e m e i n d e n w u r d e die U n i o n m i t einer g e m e i n s a m e n A b e n d mahlsfeier a m Karfreitag 1 8 2 1 eröffnet. Literatur Alfred Adam, Die Nassauische Union v. 1817, 1949 (JHKGV 1). - Ders., Art. Unionen im Protestantismus I: R G G 3 6 (1962) 1 1 4 0 - 1 1 4 4 . - Gustav Adolf Benrath, Die konfessionellen Unionsbestrebungen des Kurfürsten Karl Ludwig v. der Pfalz (f 1680), 1968 (ZGO 116) bes. 1 8 7 - 2 5 2 . Ders., Art. Baden: RGG* 1 (1998) 1 0 5 5 - 1 0 5 8 . - Alfred Boes, Die Ev. Landeskirche Anhalts, ihre gesch. Entwicklung in Bekenntnis u. Verfassung: Amtsblatt der Ev. Landeskirche Anhalts 1956, 4 1 - 4 5 . - Das dt. Luthertum u. die Unionsproblematik im 19. Jh., hg. v. Wolf-Dieter Hauschild, 1991 (LKGG 13). - Die Ev. Kirche der Union, hg. v. Walter Elliger, Witten 1967. - Erich Foerster, Die Entstehung der Preußischen Landeskirche unter der Regierung König Friedrich Wilhelms des Dritten nach den Quellen erzählt, Tübingen, I 1905 II 1907. - Die Gesch. der Ev. Kirche der Union, hg. v. J.F. Gerhard Goeters/Joachim Rogge, 3 Bde., Leipzig 1 9 9 2 - 1 9 9 9 . - Hermann Graf, Anhaltinisches Pfarrerbuch, Dessau 1996. - „ . . . den großen Zwecken des Christenthums gemäß". Die Ev. Kirche der Union 1817 bis 1992, bearbeitet v. Wilhelm Hüffmeier, Bielefeld 1992. - J.F. Gerhard Goeters, Die kirchl. Reformdiskussion: Die Gesch. der Ev. Kirche der Union (s.o.) I, 8 3 - 8 7 . - Jürgen Kampmann, Die Einf. der Berliner Agende in Westfalen. Die Neuordnung des ev. Gottesdienstes 1 8 1 2 - 1 8 3 5 , Bielefeld 1991 (BWFKG 8). - Kirchenunionen im 19. Jh., hg. v. Gerhard Ruhbach, 1967 2 1968 ( T K T G 6). - Karl Kupisch, Die dt. Landeskirchen im 19. u. 20. Jh., Göttingen 1966 2 1975 (KIG R. 2). - Friedemann Merkel, Gesch. des Ev. Bekenntnisses in Baden v. der Reformation bis zur Union, 1960 (VVKGB 20). - Johannes Müller, Die Vorgesch. der Pfälzischen Union, 1967 (UKG 3). - Heinrich Nebelsiek, Die kirchl. Union in den ehemaligen Fürstentümern Waldeck u. Pyrmont: Z K G 62 (1943/44) 2 3 2 - 271. - Quellen zur Entstehung u. Entwicklung selbständiger ev.-luth. Kirchen in Deutschland, hg. v. Manfred Roensch/Werner Klan, 1987 (EHS.T 299). - Wolf-Friedrich Schäufele, Christoph Matthäus Pfaff u. die Kirchenunionsbestrebungen des Corpus Evangelicorum 1 7 1 7 - 1 7 2 6 , Mainz 1998 (VIEG 172). - Eduard Siedersieben, Gesch. der Union in der ev. Landeskirche Anhalt-Dessau, Dessau 1894. - Richard P. Vaggione, Art. Anhalt: R G G 4 1 (1998) 4 9 9 - 5 0 2 . - Vereinigte Ev. Landeskirche in Baden 1 8 2 1 - 1 9 7 1 , hg. v. Hermann Erbacher, Karlsruhe 1971. - Vielfalt in der Einheit. Theol. Studienbuch zum 175jährigen Jubiläum der Pfälzischen Kirchenunion, hg. v. Richard Ziegert, Speyer 1993. - Klaus Wappler, Der theol. Ort der preußischen Unionsurkunde vom 27.9.1817, 1978 (ThA 35). M a r t i n Stiewe

I V . 2 . Außerdeutsch 1. Kirchenunionen im Presbyterianismus konfessionelle Unionen (Literatur S.331)

2. Kirchenunionen im Methodismus

3. Trans-

K i r c h e n u n i o n e n o h n e Beteiligung r ö m i s c h e r K a t h o l i k e n oder von A n g l i k a n e r n verteilen sich a u f vier H a u p t g r u p p e n und h a b e n sich überwiegend in der englischsprachigen Welt vollzogen. D i e erste G r u p p e (1.) u m f a ß t die verschiedenen R e u n i o n e n i n n e r h a l b der p r e s b y t e r i a n i s c h e n T r a d i t i o n (—•Presbyterianer), die zweite (2.) diejenigen in der m e t h o d i s t i s c h e n T r a d i t i o n ( - > M e t h o d i s t i s c h e K i r c h e n ) . D i e dritte G r u p p e (3.1.; 3 . 2 . ) bilden t r a n s k o n f e s s i o n e l l e U n i o n e n vor allem im Britischen C o m m o n w e a l t h und in N o r d a m e r i k a ( - » V e r e i n i g t e S t a a t e n von A m e r i k a ; —»Kanada), w ä h r e n d die vierte G r u p -

328

Unionen IV/2

pe (3.3.; 3.4.; 3.5.) Kirchen umfaßt, die durch europäische und amerikanische Missionare in -»Asien, —»Afrika und der Karibik (—»Westindische Inseln) gegründet wurden. 1. Kirchenunionen

im

Presbyterianismus

Die Kirchenunionen innerhalb des Presbyterianismus und des Methodismus lassen sich voll nur verstehen im Licht der Trennungen, die sie zu heilen suchten. So waren die wichtigsten presbyterianischen Kirchen ein Produkt von Spaltungen innerhalb der Kirche von -»Schottland während des 18. Jh., vor allem über der Frage der Verbindlichkeit des National Covenant von 1638 und der Wiedereinführung des Patronatsrechts in der Kirche im Jahre 1712. Die Secession Church von 1733 spaltete sich erneut über der Frage, ob der Amtseid der Parlamentsabgeordneten der schottischen Städte eine Anerkennung der Kirche von Schottland einschloß, und über der Frage nach der Lehre der —»Westminster Confession über die religiöse Stellung des bürgerlichen Magistrats. Schließlich vereinigten sich 1820 die „New Light" Burghers und die Anti-Burghers (die dem Freiwilligkeitsprinzip gegenüber der staatskirchlichen Verfassung den Vorzug gaben) zur United Secession Church, die sich ihrerseits 1847 mit der Relief Church zur United Presbyterian Church in Schottland vereinigte. Mittlerweile hatten sich die „Old Light" Burghers 1839 wieder der Church of Scotland angeschlossen, die sich 1843 erneut spaltete, als diejenigen, die dem Staat Eingriffe in die Freiheit der Kirche in geistlichen Angelegenheiten vorwarfen, die Free Church of Scotland gründeten. Die Mehrheit der verbleibenden Kirchen der Original Secession schloß sich 1852 der Free Church an. Unionsgespräche zwischen der Free Church of Scotland und der United Presbyterian Church fanden in den 1860er Jahren statt, führten aber zu keinem Ergebnis, weil ein bedeutender Anteil der ersteren noch das Staatskirchenprinzip (-»Staatskirche/Staatsreligion) vertrat. In -»England hingegen kam es 1876 zwischen den Gemeinden der United Presbyterian Church und der Presbyterian Church in England (die 1843 größtenteils die Free Church of Scotland unterstützt hatte) zu einer Union, aus der die Presbyterian Church of England hervorging. Zwischen der Free Church und der Free Church of Scotland gelang schließlich 1900 die Union, obwohl eine Minorität der Free Church weiterhin fern blieb. Die United Free Church of Scotland, wie sie genannt wurde, war wiederum an Unions Verhandlungen mit der Church of Scotland im Jahr 1909 beteiligt; die Wiedervereinigung erfolgte 1929, obwohl erneut eine Minorität der United Free Church sich nicht anschloß. Die Union war möglich, weil die Church of Scotland durch die Church of Scotland Act von 1921 die gesetzliche Anerkennung ihrer alleinigen Jurisdiktionsgewalt in geistlichen Angelegenheiten und durch einen Parlamentsbeschluß von 1925 die vollständige Kontrolle über ihre -»Stiftungen erlangte. Die Spaltungen in -»Australien, Kanada und -»Neuseeland, die denen in Schottland entsprachen, wurden sämtlich vor 1929 beseitigt. Die anderen größeren Wiedervereinigungen innerhalb der presbyterianischen Konfessionsfamilie waren recht unterschiedlich. In den USA hatte sich die Presbyterianische Kirche — wie andere Kirchen auch — über der Sklavenfrage (-»Sklaverei) in getrennte Kirchen in den Nord- und Südstaaten gespalten. Die beiden presbyterianischen Kirchen vereinigten sich 1983 unter dem Namen United Presbyterian Church in the U.S.A. Beide Kirchen stimmten nun in der Ablehnung von Rassismus und in der Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung überein. Einen ganz anderen Charakter hatte die Spaltung der Reformierten Kirchen in den -»Niederlanden, die im wesentlichen auf theologische Differenzen im späten 19. Jh. zurückging. In einem langen Einigungsprozeß seit 1969 nahmen diese beiden Kirchen und die Evangelisch-Lutherische Kirche in den 1990er Jahren neue Beziehungen zueinander auf mit dem Ziel der Bildung einer Vereinigten Protestantischen Kirche in den Niederlanden. In -»Belgien entstand 1978 die Vereinigte Protestantische Kirche von Belgien aus der Protestantischen Kirche von Belgien (die 1969 aus der Protestantischen Evangelischen Kirche von Belgien und der Belgischen Konferenz der Vereinten Methodistischen

Unionen IV/2 Kirche entstanden war), der Reformierten Kerken in Belgien. 2. Kirchenunionen

im

Kirche von Belgien und der

329 Gereformeerde

Methodismus

Der Methodismus erlebte ebenfalls eine Reihe von Spaltungen nach dem Tod seines Begründers John Wesley im Jahre 1791. Die Methodist New Connexion wurde 1797 gegründet, um Laien eine Stimme in der Kirchenleitung zu geben. Die Erweckungsbewegung (—•Erweckung/Erweckungsbewegungen) führte 1806 zur Entstehung der Bible Christians und der Primitive Methodists im Jahre 1807. Aus der Opposition gegen die Vorherrschaft der wesleyanischen Pastoren entstand 1836 die Wesley an Methodist Association und die noch weit schädlichere Abspaltung der späten 1840er Jahre, die der Ausbreitung des Methodismus für eine Generation ein Ende bereitete. Die Wesleyan Methodist Association und die Mehrheit der Wesleyan Reformers vereinigten sich 1857 zu den United Methodist Free Churches. Im frühen 20. Jh. schlössen sie sich mit den Bible Christians und der New Connexion zur United Methodist Church zusammen (1907). Nach dem Ersten Weltkrieg begannen Gespräche zwischen der United Methodist Church, der Primitive Methodist Church und der Wesleyan Methodist Church, aus denen 1932 die Methodist Church of Great Britain hervorging. Im übrigen Commonwealth ging die methodistische Wiedervereinigung derjenigen in Großbritannien voraus: in ->-Irland erfolgte sie 1878, in Kanada 1883, in Australien und Neuseeland 1900. In den USA vereinigten sich die weißen methodistischen Hauptkirchen 1939. In Australien kam es 1921 zu einer Union von zwei lutherischen Kirchen, die sich Vereinigte Evangelisch-lutherische Kirche in Australien nannte. 1966 schlössen sich diese Kirche und die Evangelisch-lutherische Synode von Südaustralien zur Lutheran Church of Australia zusammen. Im Jahre 1987 entstand die Evangelical Lutheran Church of America aus der American Lutheran Church, der Association of Evangelical Lutheran Churches und der Lutheran Church in America, in denen sich die unterschiedliche Herkunft der europäischen Einwanderer nach den USA im 19. Jh. spiegelte.

3. Transkonfessionelle 3.1.

Unionen

Nordamerika

Bei den die Konfessionsgrenzen überschreitenden Unionen gilt es zuerst den Blick auf Nordamerika zu richten. 1925 entstand durch eine Union von Methodisten, Presbyterianern und Kongregationalisten die United Church of Canada (wobei allerdings eine bedeutende presbyterianische Minorität fernblieb, um weiterhin die Presbyterian Church of Canada zu bilden). Aus der gleichen denominationeilen Zusammensetzung ging fünfzig Jahre später die Uniting Church in Australia hervor (1977); ein ähnlicher Versuch, der auch die Anglikaner und die Churches of Christ einschloß, scheiterte jedoch in Neuseeland, obwohl es zur Bildung mehrerer „kooperierender Gemeinden" kam. In den USA bildete sich 1957 durch Vereinigung der Congregational Christian Churches und der Evangelical and Reformed Churches die United Church of Christ. In England und -»Wales 1972 ging die United Reformed Church aus der Union der Presbyterian Church of England und der Mehrheit der Congregational Union of England and Wales hervor; 1981 ging die Mehrheit der Churches of Christ in Großbritannien in dieser Kirche auf, der sich im Jahr 2000 auch die Congregational Union of Scotland anschloß. Teilweise mit Ausnahme der United Church of Christ in den USA, wo Regionalkonferenzen noch beträchtliche Befugnisse behielten, wurden diese Vereinigungen dadurch ermöglicht, daß eine rein kongregationalistische Kirchenform aufgegeben und wie in der presbyterianischen und methodistischen Ekklesiologie den überregionalen Kirchenvertretungen bestimmte Kompetenzen zugestanden wurden.

Unionen IV/2

330 3.2.

Indien

Die letzte Gruppe der Unionskirchen entstand als Ergebnis der -»Mission außerhalb Europas und Nordamerikas. In vielen Fällen verband sich mit ihnen eine antikoloniale Einstellung und der Wunsch nach einer voll indigenen Kirche. Die Anfänge der Entwicklung liegen in -»Indien, wo die meisten kongregationalistischen und presbyterianischen Missionen sich 1908 zur South India United Church zusammenschlössen. Nachdem 1919 in Tranquebar bei einem historischen Treffen von 33 Personen, die bis auf zwei alle Inder waren, die Kirchenspaltungen beklagt wurden, für die man nicht verantwortlich war, bestimmte die South India United Church ein Komitee für Verhandlungen mit Vertretern der anglikanischen und der Mar Thoma Kirche. Die Bischöfe der anglikanischen Provinz von Indien erklärten sich 1920 zu Unionsgesprächen bereit, an denen sich ab 1925 auch die Methodist Church of South India beteiligte. Ein Unionsplan wurde entworfen und 1947 verwirklicht. Zunächst wurden alle Geistlichen der sich vereinigenden Kirchen als Amtsträger der vereinigten Kirche anerkannt; neue Bischöfe wurden aus den nicht-episkopalen Kirchen ernannt und in der historischen Sukzession ordiniert. Die Church of South India wurde somit die erste Unionskirche mit anglikanischer Beteiligung. Die volle Anerkennung des Amtes der Church of South India durch die Anglikanische Gemeinschaft wurde um dreißig Jahre aufgeschoben, in der Erwartung, daß bis dahin alle Amtsträger in der Kirche bischöflich ordiniert sein würden. Aufgrund der durch diesen Plan in der Anglikanischen Gemeinschaft (-»Anglikanische [Kirchen-]Gemeinschaft) ausgelösten großen Kontroversen wurde für den übrigen indischen Subkontinent ein anderes Vorgehen gewählt. Bei der Gründung der Church of North India im Jahre 1970 (die auch -»Baptisten, Churches of Christ und Disciples of Christ einschloß) bot der Vereinigungsgottesdienst die Gewähr, daß mit dem Beginn der Union alle Geistlichen eine bischöflichen Bevollmächtigung empfingen (was nicht einer Neuordination entsprach). Nach dem gleichen Modus wurden im selben Jahr die Church of Pakistan und die Church of Bangladesh gegründet. In Sri Lanka hingegen wurde ein ähnlicher Plan in den 1980er Jahren nach gesetzlichen Einsprüchen gegen die Vereinigungsbeschlüsse der Kirchen aufgegeben. 3.3.

Ostasien

In -»China lagen die Dinge wieder anders. Nach der Missionskonferenz von Edinburgh 1910 wurde 1913 eine nationale Konferenz der verschiedenen Missionen einberufen, die den Vorschlag machte, daß bereits in Interkommunion stehende Kirchen sich vereinigen und alle Kirchen sich lokal und auf Provinzebene zu Föderationen zusammenschließen sollten. Im Jahre 1922 wurde das National Christian Council of China aus etwa der Hälfte der protestantischen Kirchen gebildet, 1927 vereinigte die Church of Christ in China Presbyterianer, Kongregationalisten, Methodisten und Baptisten zu einer einzigen Kirche, der größten in China. Chinesische Leitungskräfte ersetzten die westlichen Missionare. Nach der kommunistischen Revolution des Jahres 1949 zwang die Regierung alle protestantischen Christen, der „Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung" (Selbst-Finanzierung, Selbst-Verwaltung, Selbst-Propagierung) beizutreten. Auch in -»Japan begann die Einigungsbewegung nach der Missionskonferenz von Edinburgh. 1911 wurde eine Föderation von Kirchen gebildet, die 1922 zu einem National Christian Council unter überwiegend japanischer Leitung führte. Ein Gesetz des Jahres 1940 gewährte dem Christentum erstmals offizielle Anerkennung, ließ aber für kleinere Kirchen die Aussicht auf Registrierung unwahrscheinlich erscheinen. Nach dem Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg 1941 wurde zum Teil auf Druck von Regierungsseite aus 42 denominationellen Gruppierungen die Church of Christ in Japan (Nippon Kirisuto Kyodan) gebildet. Sie umfaßte Presbyterianer, Kongregationalisten, Methodisten, Baptisten, Lutheraner, Disciples und andere. Nach Kriegsende zogen sich Anglikaner, Lutheraner, Southern Presbyterians, Baptisten, —»Quäker, Nazarener, die -»Heilsarmee

Unionen IV/2

331

und andere kleinere Gruppen zurück, die autoritäre Struktur der Kirche wurde geändert, alle Reste von Regierungskontrolle wurden getilgt. Ähnliche Unionskirchen entstanden in Thailand und auf den Philippinen infolge des Zusammenschlusses der zumeist amerikanischen Missionen. Die United Evangelical Church of the Philippines (1929) integrierte Presbyterianer, Kongregationalisten und Evangelical United Brethren; die Church of Christ in Thailand vereinte 1934 Presbyterianer und Baptisten und schließlich in den frühen 1960er Jahren auch die Disciples. 3.4.

Afrika

Auch in Afrika entstanden nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien einige vereinigte Kirchen. Die United Church of Zambia wurde 1965 aus Kongregationalisten, Methodisten und der Pariser Mission gebildet. Im gleichen Jahr entstand im Zuge der Wiederherstellung der Ordnung nach dem fünf Jahre zuvor im Anschluß an die Unabhängigkeit von Belgien ausgebrochenen Bürgerkrieg durch Dekret des Präsidenten Mobutu die Eglise du Christ de Zaire. Sie umfaßte alle größeren protestantischen Kirchen, ihre Struktur war im Kern föderativ und behielt die früheren Denominationen als organisatorische Einheiten bei. Es ist die einzige Unionskirche der Welt mit dieser Struktur. Es gab ferner Unionen mit Beteiligung der Kongregationalisten und anderer Denominationen in Madagaskar (die Church of Jesus Christ in Madagascar) und Südafrika (die United Congregational Church of Southern Africa). 3.5. Ozeanien

und

Karibik

Im Jahre 1968 vereinigte die United Church of Papua New Guinea and the Solomon Islands Methodisten und die Papua Ekalesia, die ihren Ursprung auf die (kongregationalistische) Londoner Missionsgesellschaft zurückführte. Schließlich vereinigte in der Karibik die Evangelical Church of Puerto Rico 1931 Kongregationalisten, Christian Church und United Brethren. Die United Church of Jamaica and Grand Cayman entstand 1965 aus Kongregationalisten und Presbyterianern; mit dem Beitritt der Disciples of Christ in Jamaica 1992 wurde aus ihr die United Church in Jamaica and the Cayman Islands. Literatur Peter Bolink, Towards Church Union in Zambia, Franeker 1967. - Nigel M . de S. Cameron, Dictionary of Scottish Church History and Theology, Edinburgh 1993. - Christianity in Independent Africa, hg. v. Edward Fashole-Luke/Robert Gray/Adrian Hastings/George Tasie, London 1978. - Rupert Davies/A. Raymond George/Gordon Rupp (Hg.), A History of the Methodist Church in Great Britain, London, III 1983. - H. Paul Douglass, A Decade of Objective Progress in Church Unity. 1 9 2 7 - 1 9 3 6 , London 1937. - Andrew L. Drummond/James Bulloch, The Church in Late Victorian Scotland, Edinburgh 1978. - Nils Ehrenstrom/Walter G. Muelder (Hg.), Institutionalism and Church Unity, London 1963. - John Webster Grant, Die Unierten Kirchen, 1973 (KW 10). Reinhard Groscurth (Hg.), Kirchenunionen u. Kirchengemeinschaften, Frankfurt a.M. 1971. Adrian Hastings, The Church in Africa. 1 4 5 0 - 1 9 5 0 , Oxford 1994. - Stephen [Charles] Neill, Towards Church Union, London 1952. - Ruth Rouse/Stephen Charles Neill, A History of the Ecumenical Movement, 1 5 1 7 - 1 9 4 8 , London 1954. - Rolf Sjölinder, Presbyterian Reunion in Scotland. 1 9 0 7 - 1 9 2 1 , 1962 (SHEU 4). - Bengt Gustaf Malcolm Sundkler, Church of South India. The Movement towards Union. 1 9 0 0 - 1 9 4 7 , London 1954. - „Surveys of Church Union Negotiations": ER 6 (1954) ff. - William John Townsend/Herbert Brooke Workman/George Eayrs, A New History of Methodism, London, II 1909.

David M . Thompson

332

Unitarier

Unitarier 1. Begriff und Wurzeln des Unitariertums tur S. 337)

1. Begriff und Wurzeln des

2. Geschichtliche Entwicklung

(Quellen/Litera-

Unitariertums

Die Unitarier verkörpern heute eine freisinnige religiöse Bewegung, deren Wurzeln in der jüdisch-christlichen Tradition liegen, die aber zugleich offen ist für Anstöße aus anderen Weltreligionen, der -»Vernunft und den Naturwissenschaften. Ihre Bandbreite reicht von einem freisinnigen Christentum bis zum religiösen Humanismus. Ihre religiöse Haltung ergibt sich einmal aus der Infragestellung der christlichen Lehren, daß Gott dreieinig sei (-»Trinität), daß er lediglich die Erwählten (-» Erwählung) erlöse und daß der Mensch von Natur aus verderbt sei (-»Sünde), und zum anderen aus einer Vorordnung biblischer Einsichten und persönlichen Urteils vor menschliche Glaubenssätze und vorgegebene Bekenntnisse. Der Ursprung der Bewegung liegt in der -»Renaissance und -»Reformation. Die Einsicht in den textgeschichtlich sekundären Charakter des Comma Johanneum in I Joh 5,7 („Drei sind es, die Zeugnis ablegen im Himmel, der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind eins"; vgl. T R E 6,75,47-49), die sich in der Fortlassung dieser Passage in den ersten Auflagen des griechischen Neuen Testamentes des -» Erasmus niedergeschlagen hatte, veranlaßte eine Gruppe italienischer Radikaler, die biblische Berechtigung der Trinitätslehre in Frage zu stellen. Seit 1541 suchten einige von ihnen nordwärts in protestantischen Ländern Zuflucht vor der -»Inquisition. Zu ihnen gehörten B. -»Ochino und S. —»Castellio, der mit der Schrift De haereticis an sint persequendi gegen die Verbrennung des -»Antitrinitariers M. —»Servet in Genf protestierte. 2. Geschichtliche

Entwicklung

2.1. Die Anfänge im östlichen

Europa

Die italienischen Radikalen gewannen innerhalb des reformierten Protestantismus zunächst vor allem in Graubünden ( -»Schweiz), von wo allerdings 1570 -»Täufer und Antitrinitarier vertrieben wurden, in -»Polen und Litauen (-»Baltikum) sowie in -»Siebenbürgen Einfluß. In diesen Ländern entstanden entsprechend die ersten organisierten unitarischen Kirchen. 1546 traten in Polen erstmals Antitrinitarier in Erscheinung. Sie erhielten ihren Anstoß durch den Italiener G. -»Biandrata. 1565 zerfiel die polnische reformierte Kirche in die (trinitarische) Ecclesia Maior und die (antitrinitarische) Ecclesia Minor. Biandrata selbst hatte sich 1563 nach Siebenbürgen begeben und dort Einfluß auf den reformierten Superintendenten Franz Davidis (Ferenc David, 1510/20-1579) gewonnen, der sich seit 1566 offen als Antitrinitarier bekannte. Der gleichfalls antitrinitarische Fürst Johann Sigmund (1540-1571) erkannte mit der Erklärung von Thorenburg (Turda) 1568 neben Lutheranern und Katholiken sowohl das antitrinitarische wie das trinitarische reformierte Bekenntnis an. Sigmunds Nachfolger war katholisch. Um Davidis von der nun auch vertretenen Verwerfung der -»Taufe und der Anbetung Christi abzubringen, rief Biandrata 1578 F. -»Sozzini nach Siebenbürgen. Davidis blieb jedoch bei seiner Haltung und starb im Gefängnis. Sozzini begab sich derweil nach Polen, wo er von der Ecclesia Minor aufgenommen wurde. Das wichtigste polnische Zentrum der Ecclesia Minor war Raków. Dort fanden sich antitrinitarische, täuferische, pazifistische und kommunitaristisch ausgerichtete Strömungen zusammen. 1605 veröffentlichte die Ecclesia Minor ihren einflußreichen Rakówer Katechismus. Seit 1590 hatten die —»Jesuiten begonnen, die Antitrinitarier zu bedrängen, und bis 1660 waren viele wieder zum katholischen Bekenntnis zurückgekehrt. Andere gingen ins Exil und hielten die Ausstrahlung ihrer Kirche durch Veröffentlichungen lebendig. Man nannte sie wegen ihrer theologischen und philosophischen Ausrich-

Unitarier

333

tung an Fausto Sozzini häufig Sozinianer. Sie selbst dagegen begannen, sich Unitarier zu nennen. Diese Bezeichnung übernahmen sie von ihren siebenbürgischen Glaubensverwandten, die erstmals 1569 von ihren Gegnern so genannt wurden, weil sie den Vater dem Sohn und dem Heiligen Geist überordneten. Noch heute sind Unitarier in den Ursprungsländern anzutreffen: 1999 bestanden ca. 200 ungarische unitarische Gemeinden im Nordwesten -»Rumäniens mit einer Leitung in Klausenburg (Cluj/Kolozsvär) und 24 in -»Ungarn. Um 1920 bildete sich eine neue polnische Gemeinschaft, die Wspolnota Unitarian Universalistöw w Rreczypospolitej Polskiej (Gemeinschaft unitarischer Universalisten in der Polnischen Republik). 2.2. Britische

Inseln

Ein Großteil später unitarisch gewordener Gemeinden geht auf die Auseinandersetzung um den -»Puritanismus in -»England und -»Wales zurück, der seine größte Wirksamkeit zur Zeit der Republik (1640-1660) erreichte. Seine Einbeziehung in die -»Kirche von England im Zuge der Restauration mißlang (R. -»Baxter). Die Uniformitätsakte von 1662 entfernte 2.000 puritanische Geistliche aus der Kirche. Sie schlössen sich als Dissenter widerstrebend ihren separatistischen Amtsbrüdern an (-»Freikirche 2.2.). Diesen gewährte die Toleranzakte von 1689 Gottesdienst-, aber keine Lehrfreiheit; Antitrinitarier wurden ausdrücklich davon ausgenommen. Die Hauptquellen für antitrinitarische Vorstellungen waren hier die englische Bibel und sozinianisches Schrifttum. Antitrinitarier traten zuerst unter den -»Separatisten auf. 1612 wurden in London Bartholomew Legate und Edward Wightman hingerichtet, und 1614 wurde der Rakower Katechismus verbrannt. Die erste englische antitrinitarisch-sozinianische Gemeinde wurde 1651/52 von John Biddle (1615-1662) aufgebaut. Dessen Freund Henry Hedworth (1626—1705) war auf einer Reise einem siebenbürgischen Unitarier begegnet und führte das Wort unitarian in die englische Schriftsprache ein (1672). Auch innerhalb der Kirche von England regten sich unitarische Auffassungen. Der anglikanische Kaufmann Thomas Firmin (1632-1693) unterstützte sozinianische Flüchtlinge und förderte die Veröffentlichung unitarischer Traktate. Der anglikanische Geistliche S. -»Clarke trat in seiner Abhandlung The Scripture Doctrine ofthe Trinity (1712) dafür ein, die höchste Ehre allein dem Vater zu erweisen. Clarkes Buch wurde von Dissentern gelesen. Als 1719 Dissenter aus Exeter seine umstrittenen Lehren Londoner Geistlichen vorlegten, kam es zu einer folgeträchtigen Spaltung. Die 1662 zusammengenötigten Nichtseparatisten und Separatisten zerfielen an einer neuen Scheidelinie in Subscribers und Non-Subscribers, Unterzeichner und NichtUnterzeichner von Glaubenssätzen und vorgegebenen Bekenntnissen. Joseph Priestley (1733—1804), zugleich ein bedeutender Chemiker, war Lehrer an der seinerzeitigen Dissenter-Akademie in Warrington und gehörte zu denen, die den Weg vom aufgeklärten Dissentertum zum Unitariertum wiesen. Hierzu gehörte auch Theophilus Lindsey (1723-1808), der 1774 die Essex Street Chapel in London eröffnete und dort eine unitarische Bearbeitung des -»Boofc of Common Prayer verwendete. Der politisch radikale Priestley wanderte 1794 in die -»Vereinigten Staaten von Amerika aus und trug mit anderen britischen Unitariern zur Zunahme des Unitariertums dort und in -»Kanada bei. Weitere neue Unitarier waren Thomas Belsham (1750-1829) und die universalistischen Baptisten William Vidier (1758-1816) und Richard Wright (1765-1836). Alle drei waren begeisterte Propagandisten der unitarischen Theologie und traten für ihre rechtliche Anerkennung ein. Sie wurde 1813 gewährt. Als Vidier sich 1802 mit seiner Londoner Gemeinde der Vereinigung der General Baptists anschloß, kam es zu deren Spaltung. Die orthodoxe Mehrheit verband sich mit den Particular Baptists, während die Minderheit zusammen mit der kleinen britischen universalistischen Bewegung in den Unitariern aufging. In -»Wales war der Barde Iolo Morganwg (1747—1826) ein

334

Unitarier

herausragender Vertreter unitarischer Gedanken. Er gründete 1802 die South Wales Unitarian Association. Die British and Foreign Unitarian Association bildete sich 1825. Als das New College in Manchester, die Nachfolgeeinrichtung der Akademie von Warrington, 1853 nach London verlegt wurde, gründeten die nordenglischen Unitarier in Manchester das Unitarian College (1854) zur Ausbildung von Geistlichen für neue städtische Gemeinden. Zu diesen zählten auch Gemeinden, die sich infolge unitarischer Auffassungen ihrer Gemeindeleiter aus der Methodistenkirche gelöst hatten, sowie solche, die aus einer ähnlichen Bewegung bei den Christian Brethren hervorgegangen waren. Heute sind das Harris Manchester College in Oxford (1889 hervorgegangen aus dem Manchester New College in London) und das Unitarian College in Manchester die wesentlichen unitarischen Bildungsstätten in England. Etwa 250 unitarische Gemeinden sind gegenwärtig der 1928 gegründeten General Assembly of Unitarian and Free Christian Churches mit Sitz in London angeschlossen. Die im übrigen unterschiedlichen unitarischen Kirchen in -»Schottland verdanken ihr universalistisches Gepräge der Reaktion auf die scharfe calvinistische Erneuerung in Schottland, die nach den Worten von Robert Burns (1759-1796) „einen Schotten in den Himmel und zehn in die Hölle schickte" (Holy Willie's Prayer, Glasgow 1799). In -•Irland kam es unter den Ulster-Schotten zu zwei Auseinandersetzungen über die Bekenntnisbindung. John Abernethy (1680-1740) wurde durch die Lektüre von Clarkes The Scripture Doctrine of the Trinity zum „Vater der Nichtunterzeichnung", die er in Irland propagierte. Schließlich faßte die Generalsynode von Ulster 1725 ihre Non-Subscriber zu einem gesonderten Presbyterium zusammen. Zu einer zweiten Auseinandersetzung kam es 1820-1830 infolge des Fußfassens der unitarischen Vorstellungen des Amerikaners W.E. —»Channing, Als die Generalsynode darauf die Bekenntnisverpflichtung verschärfte, veranlaßte Henry Montgomery (1768-1865) erneut eine Ablösung von Non-Subscribern, die sich 1830 in der Remonstrantischen Synode von Ulster zusammenschlössen. 1910 bildeten diese und das Presbyterium von Antrim die unabhängige Non-Subscribing Presbyterian Church of Ireland. Sie unterhält anhaltende Beziehungen zu den unitarischen Kirchen in Großbritannien. 2.3.

Nordamerika

Der grundsätzliche Independentismus der Puritaner, mit deren Ankunft 1620-1630 die europäische Besiedlung der Nordostküste Amerikas begann, unterband eine allgemeine Bekenntnisverpflichtung. Wie bei den britischen Dissentern zeichneten sich auch bei den neuenglischen Puritanern zwei Linien ab, eine evangelikale und eine vernunftbetonte, die in Amerika häufig als liberal bezeichnet wird. Ein führender Liberaler, Charles Chauncy (1708-1787), erklärte 1743: „Es gibt eine Religion des Verstehens, des Urteils und des Willens und eine des Gefühls; wenn der ersten wenig Wert beigemessen wird, während auf die letzte großes Gewicht gelegt wird, kann das nur dazu führen, daß die Menschen in Verwirrung geraten" (vgl. Seasonable Thoughts on the State of Religion in New-England, Boston 1743). Seine Auffassungen fanden im Bostoner Raum starken Rückhalt. Als 1805 mit Henry Ware (1764-1845) ein Liberaler Professor für Theologie an der Universität in -»Harvard wurde, zogen die Evangelikaien aus und gründeten ein eigenes Seminar in Andover. Obwohl die episkopalistische Gemeinde von King's Chapel in Boston, die wie die Londoner Essex Street Chapel eine abgewandelte Liturgie benutzte, 1782 offen unitarisch war, scheuten die meisten Bostoner Liberalen die Bezeichnung unitarisch, mit der sich für sie der polemische Zuschnitt und die humanistische Christologie der britischen Unitarier verband. 1815 ließ der orthodoxe Jedidiah Morse (1761-1826) eine Flugschrift des britischen Unitariers T h o m a s Belsham nachdrucken, in der die Liberalen als heimliche Unitarier dargestellt wurden. Zur Verteidigung der liberalen Haltung aufgerufen, hielt W.E. Channing 1819 seine berühmte Ordinationspredigt Unitarian Christianity, in der er entschieden die Bezeichnung Unitarier billigte und die Liberalen als Verfechter unitarischer

Uni tarier

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Auffassungen beschrieb. Damit leitete er die Entwicklung ein, die zur Bildung der American Unitarian Association (1825) führte. Zwei weitere Reden kennzeichnen die Entwicklungsrichtung des amerikanischen Unitariertums. Eine war die Harvard Divinity School Address von R.W. -»Emerson (1838), die die geoffenbarte Religion abwertete und zur unmittelbaren Beziehung zur Gottheit ermutigte. Die zweite war der Vortrag The Transient and Permanent in Christianity von Th. —»Parker (1841), der den vergänglichen Lehren der Kirchen und Sekten die beständige Religion und Sittlichkeit Jesu gegenüberstellte. Einen wesentlichen Beitrag zur institutionellen Formierung des amerikanischen Unitariertums hat Henry Whitney Bellows (1814-1882) geleistet, der nach dem Bürgerkrieg die National Conference of Unitarian Christians ins Leben rief (1865). Es gab allerdings auch Stimmen, die diese Vereinigung für theologisch konservativ hielten und daher die Free Religious Association gründeten (1867), um die universelle geistige Grundhaltung zur Geltung zu bringen, die hinter allen geschichtlichen Glaubensformen stehe. Im mittleren Westen, dessen Unitarier in ihren Auffassungen häufig weiter gingen als die in Neuengland, bildete sich 1852 die Western Unitarian Conference. Die Radikalität der Unitarier des mittleren Westens zeigte sich 1933 erneut in der Erklärung A Humanist Manifesto, die behauptete, der Mensch besitze hinreichende Kräfte, um auf übernatürlichen Beistand zu verzichten. Der anschließende „theistisch-humanistische Streit" zwischen Naturalisten und Supranaturalisten zog sich eine Generation lang hin und ließ die Naturalisten theistischer wie humanistischer Ausrichtung als Sieger hervorgehen. Schon 1785 hatten sich die amerikanischen Universalisten in einer General Convention zusammengeschlossen. Seit der Betonung des Vernunftgebrauchs in der Religion durch Hosea Ballou (1771 — 1852) öffneten sie sich unitarischen Einflüssen. Um die Mitte des 20. Jh. war deutlich, daß beide Gruppen auf eine Verschmelzung zugingen. Als Ziel der 1961 gegründeten Unitarian Universalist Association wurde bestimmt, „die allgemeinen Wahrheiten zu wahren und zu verbreiten, die von den großen Propheten und Lehrern der Menschheit zu jeder Zeit und in jeder Tradition gelehrt und im jüdischchristlichen Erbe auf den Nenner der Liebe zu Gott und zum Menschen gebracht worden sind". In jüngster Zeit haben neue Grundsatz- und Zielbestimmungen (1984; 1995) die Vielfalt der Quellen hervorgehoben, aus denen sich die unitarisch-universalistische Haltung speist - humanistisches Gedankengut, auf die irdische Wirklichkeit gerichtete Traditionen, Weisheit aus den Weltreligionen, die Worte und Taten prophetischer Frauen und Männer, unmittelbare Erfahrung, das Verstehen übersteigende Geheimnisse und Wunder wie auch die jüdische und christliche Forderung, als Antwort auf Gottes Liebe unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Der Unitarian Universalist Association mit Sitz in Boston gehörten 1999 über 1.000 Gemeinden an. 2.4. Unitarier und Freireligiöse

in

Deutschland

Im 17. Jh. ließen sich sozinianische Flüchtlinge aus Polen in Andreaswalde (Konsinowo) im südlichen Ostpreußen nieder (1666-1811). Im allgemeinen war jedoch das geistige Klima in Deutschland unitarischen Bestrebungen abträglich. Abgesehen von dem sozianischen Kreis um Ernst Soner (1573-1612) im nürnbergischen Altdorf befaßten sich die Universitäten im 17. und 18. Jh. mit einer systematischen Widerlegung sozinianischer Schriften. Im 19. Jh. indessen gewannen die theologischen Neuansätze von F.D.E. -»Schleiermacher u.a. Bedeutung für die Abkehr der britischen und amerikanischen Unitarier von einer allein an der Bibel ausgerichteten Autorität. 1859 entstand der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands (-»Freireligiöse Bewegungen]). In ihm fanden sich Kräfte der -»Deutschkatholiken und der protestantischen -»Lichtfreunde zusammen, die beide wiederum aus dem -»Vormärz hervorgegangen sind. Der Bund zeigte sich bald für freidenkerische Vorstellungen (-»Freidenker) empfänglich. 1910 hielt der International Congress ofFree Christians and Other Religious Liberais (heute International Association for Religious Freedom) in Berlin seine fünfte Tagung.

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Unitarier

An ihr nahmen zahlreiche Vertreter der -»Liberalen Theologie teil, darunter A. von —»Harnack und E. -»Troeltsch. An diese internationalen Verbindungen konnte P. —•Tillich nach seiner Vertreibung durch die Nationalsozialisten anknüpfen, als er in Amerika die Unterstützung und Freundschaft des angesehenen unitarischen Theologen James Luther Adams (1901-1994) fand. Zu den Referenten der Berliner Tagung von 1910 hatte auch der Pfarrer der 1876 gegründeten Religionsgemeinschaft freier Protestanten in Alzey in Rheinhessen, Rudolf Walbaum (1869-1948), gehört. Unter dem Eindruck seiner dortigen Begegnung mit Unitariern erweiterte er 1911 den Namen seiner Gemeinschaft durch den Zusatz Unitarische Gemeinde. 1915 veröffentlichte er seinen Aufsatz Was ist Unitarismus. Zusammen mit ihm gründete 1927 der Freireligiöse Clemens Taesler (1887—1969) in Frankfurt a.M. den Deutschen Unitarierbund. Um einem Verbot durch die Nationalsozialisten auszuweichen, vereinigte sich dieser 1934 mit anderen freireligiösen Gemeinschaften zur Freien Religionsgemeinschaft Deutschlands. Kontakte mit Wilhelm Hauers (1881-1962) Deutscher Glaubensbewegung (-»Deutschgläubige Bewegungen) im Jahre 1933 blieben ohne organisatorische Konsequenzen. In der Nachkriegszeit suchte Walbaum, zum Teil mit Unterstützung britischer und amerikanischer Unitarier, der Alzeyer Gemeinschaft eine breitere Grundlage zu geben. Er änderte ihren Namen zu Freie Protestanten — Deutsche Unitarier und warb in einem weiteren Bereich Mitglieder, darunter auch in dem von der amerikanischen Besatzungsmacht für nationalsozialistische Funktionäre eingerichteten Internierungslager Hohenasperg. Der Begriff der „Unitarier" hatte bei den Besatzungsmächten aufgrund ihres Bildes von den englischen und amerikanischen Unitariern einen guten Klang. Bis 1948 entstanden z. B. im nördlichen Deutschland zwölf Gemeinden. Neben Pantheisten und liberalen Humanisten fanden sie Mitglieder aus Kreisen der ehemaligen Deutschen Glaubensbewegung und völkisch gesinnter Gruppen. Auf dieser Grundlage entstand 1950 die Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft. Die traditionellere freiprotestantische Alzeyer Gemeinschaft (seit 1996 Freie Religionsgemeinschaft Alzey [Humanistische Gemeinde Freier Protestanten]) trennte sich mehrheitlich 1954 wieder von ihr. Infolge von Auseinandersetzungen innerhalb der Deutschen Unitarier Religionsgemeinschaft und einer Annäherung an das liberale internationale Unitariertum spaltete sich 1989 deren rechter Flügel als Bund Deutscher Unitarier e.V. Religionsgemeinschaft europäischen Geistes ab. Die Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft zählt heute ca. 2.000 Mitglieder und ist seit 1969 der International Association for Religious Freedom angeschlossen. Dieser gehören ebenfalls der Deutsche Unitarierbund (ca. 2.000 Mitglieder) sowie die an das historische Antitrinitariertum anknüpfende, 1948 von Hansgeorg Remus (1908-1983) gegründete Unitarische Kirche in Berlin (unter 100 Mitglieder) an. Der bundesweiten Interessenvertretung freigeistiger Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, dem Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften e.V., gehören von den erwähnten Organisationen der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands und die Deutsche Unitarier Religionsgemeinschaft an. 2.5. Internationale

Verbreitung und

Organisation

Als Folge europäischer Zuwanderung fanden sich in -»Australien 1810 und in Kanada 1811 erstmals unitarische Gemeinden zusammen. Die North Eastern India Unitarian Union in dem nordostindischen Bundesstaat Meghalaya ist aus einer einheimischen unitarischen Bewegung hervorgegangen, die von Hajom Kissor Singh (1865-1923) ins Leben gerufen wurde und sich von dem Hintergrund einer walisischen calvinistischen Mission absetzt. Eine kleinere Bewegung gibt es auch in Madras in Südindien. Der im Konzentrationslager Dachau ums Leben gekommene Norbert Capec (1870-1942) gründete 1921 die Tschechische Unitarische Bruderschaft. Der Unitarismus verband sich auch mit aus anderen Wurzeln entstandenen Traditionen freien Christentums in Europa wie etwa den niederländischen und englischen

Unitarier

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Arminianern (vgl. T R E 4 , 6 7 , 1 4 - 4 4 ) . Auch die reformierten Kirchen in Frankreich und in der Schweiz kennen ausgeprägte freisinnige Traditionen, die in Unitarismus münden konnten. Viele dieser freisinnigen religiösen Bewegungen sind in der International Association for Religious Freedom (IARF) mit Sitz in Oxford vertreten, entweder als Kirchen oder religiöse Gemeinschaften oder als Gruppen einzelner Freisinniger innerhalb anderer religiöser Bewegungen. Das 1900 gegründete Council of Unitarians and other Liberal Religious Thinkers and Workers ist heute ein internationales und interreligiöses Forum, das liberale Bewegungen mit unterschiedlichem religiösem Hintergrund umfaßt. Das 1995 gebildete International Council of Unitarians and Universalists (ICUU) vereinigt im engeren Sinn unitarische, universalistische und unitarisch-universalistische Organisationen. 2002 eröffnete die ICUU in Prag ein Koordinierungsbüro. 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Universalienstreit

United Church of Christ

Unionen, Kirchliche

United Nations Organisation (UNO) -»Vereinte Nationen/Völkerbund Universalienstreit 1. Begriffsklärung im Ausgang von der antiken Problemlage 2. Die frühe Phase des Universalienstreites 3. Die Problemformulierung durch Petrus Abaelard 4. Die Deutung der Universalienbegriffe bei Albertus Magnus, Thomas von Aquino, Duns Scotus und Wilhelm von Ockham 5. Schulbildung 6. Ausblick (Quellen/Literatur S. 351)

1. Begriffsklärung

im Ausgang von der antiken

Problemlage

Mit „Universalienstreit" wird die vor allem im Mittelalter extensiv geführte Debatte um den ontologischen Status der Allgemeinbegriffe (griech. ra KaOöXov, lat. universalia) bezeichnet. Die mittelalterliche Diskussion schließt sich jedoch einerseits eng an die Problemlage an, wie sie sich am Ende der Antike darstellt, und findet andererseits eine Fortsetzung in der Neuzeit und eine moderne Wiederaufnahme besonders im Rahmen der sprachanalytischen Philosophie (-»Philosophie, analytische). Die Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielheit, näherhin die Frage, wie sich das Allgemeine auf Individuelles beziehen kann, zählt zu den „großen Themen" der abendländischen Philosophie (Heimsoeth). -»•Plato hat in seinem Spätwerk, vor allem in den Dialogen Parmenides und Sophistes, bereits die Schwierigkeiten thematisiert, die sich aus einer bestimmten Version der Ideenlehre ergeben, nämlich daraus, daß den allgemeinen Inhalten der Ideen eine unabhängige und höhere Seinsweise gegenüber den individuellen Gegenständen der Wahrnehmung zugesprochen wird. In Fortsetzung dieser Problematisierung entwirft -»Aristoteles seine Metaphysik als Substanzontologie (Ousiologie) und läßt in den Objekten dieser Ontologie, den ovaiai, reales und ideales Sein zusammenfallen: Durch Abstraktion hebt der Intellekt die eidetisch-allgemeinen Gehalte aus den Einzeldingen heraus, die sich der Sache nach (real) „in" den aus EISOQ und UXR] konstituierten Substanzen befinden. Hier zeichnet sich ab, daß der aristotelische elöoqBegriff offenbar die Verbindung zwischen Individualität und Allgemeinheit herstellt bzw. zwischen diesen Polen oszilliert. Die Universalien werden demnach als Bestimmungen gefaßt, die „der Natur nach mehreren [Einzeldingen] zukommen" bzw. „von mehreren ausgesagt werden" (int. 7 , 1 7 a 3 8 - 4 1 ; metaph. V I I , 1 3 , 1 0 3 8 b l l - 1 2 , pa. I,4,644a27-28). Sowohl die „idealistische" Deutung der elörj im mittleren Werk Piatos wie ihre „realistische" Interpretation in der aristotelischen Metaphysik werden von einigen stoischen Philosophen als unzulässige Hypostasierung abgelehnt. Für sie sind allgemeine Gehalte geistige Konstrukte („Fiktionen der Seele": SVF 1.65; Long/Sedley 30A), die sich auf Eigenschaften der jeweiligen Einzeldinge zurückführen lassen und nur aus Gründen der einfacheren Handhabbarkeit als „Bezeichnungskonventionen" (SVF 2.364; Long/Sedley 30H) Berechtigung haben. Mit diesen drei divergierenden Auffassungen sind grundlegende Positionen des mittelalterlichen Universalienstreites bereits vorgezeichnet: Universalien können ideentheoretisch als dem Einzelding vorausliegend (ante rem) begriffen werden, substanzontologisch als dem Einzelding inhärierend (in re) oder begriffslogisch als dem Einzelding durch intellektuelle Abstraktion und Konstruktion folgend (post rem). Doch sucht bereits die Spätantike nach Denkwegen, diese drei Möglichkeiten nicht exklusiv zu verstehen, sondern komplementär: Ammonios Hermeiou (5. Jh.) spricht von einer dreifachen Herangehensweise (dsokoyiKCÖQ, (¡>ooiKiXoyiKcöq), durch die sich die dreifache Seins weise der Gattungen und Arten vor, in und nach den Dingen zeigt, und prägt damit den Grundtypus einer harmonisierenden Interpretation. —»Porphyrius' Einleitung in die aristotelische Kategorienschrift (Eisagoge) stellt einen wichtigen Katalysator in der Diskussion um den Status des Allgemeinen dar. In ihr erläutert der Schüler

Universalienstreit

341

-•Plotins, offenbar in Opposition zu seinem neuplatonischen Lehrer (Saffrey; de Libera), die Begriffe „Gattung", „Art", „Differenz", „Proprium" und „Akzidens" als Klassen von Universalien, weshalb das Mittelalter abbreviatorisch von diesen als „den fünf Universalien" spricht. Obwohl Porphyrius eingangs ausdrücklich betont, nicht über das eigentliche Universalienproblem sprechen zu wollen (Porphyrius, intr. 1: „Was die Gattungen und Arten angeht, ob sie wirklich subsistieren oder ausschließlich in bloßen Begriffen bestehen,... darüber weigere ich mich zu sprechen"), hält die kurze Abhandlung gerade durch diese explizite Ausklammerung die Frage nach der ontologischen Deutung der Allgemeinbegriffe wach. In zwei Kommentaren zur Eisagoge des Porphyrius und in den Kommentaren zur Kategorienschrift und zu Peri hermeneias entwickelt —»Boethius seine Position zum Universalienproblem, die zum Referenzpunkt für die nachfolgenden Jahrhunderte wird. Unter ausdrücklicher Berufung auf den Aristotelesexegeten Alexander von Aphrodisias (Ende 2. Jh.) spricht er einerseits den Gattungen und Arten ein substanzhaftes Sein „jenseits" der Einzeldinge ab: sie subsistieren nur in Beziehung auf sinnlich wahrnehmbare Einzeldinge (subsistunt circa sensibilia). Damit neigt Boethius stillschweigend einer „realistischen" Auffassung zu, wie sie von Aristoteles in metaph. VII entwickelt wird. Andererseits bringt er die platonische Unterscheidung von sinnlicher und intelligibler Welt in Anschlag - eine Unterscheidung, die gerade Plotin (enn. VI,1 - 3 ) an die Stelle des aristotelischen Kategorienschemas setzen wollte - , um damit zu erklären, wie ein und derselbe Gegenstand der Erkenntnis (subiectum) einerseits als Einzelding, andererseits als Universale fungieren kann: „Der Singularität und der Universalität liegt ein einziges subiectum zugrunde, aber auf die eine Weise ist es ein Universale (wenn es gedacht wird), auf die andere Weise ein Singulare (wenn es sinnlich wahrgenommen wird in den Dingen, in denen es sein Sein hat)" (In Porph. ed. sec. 1,11). Freilich ist für Boethius, auch hierin neuplatonisch geprägt, jener intelligible Gehalt, der sich im Gedachtsein zeigt (intellectus), keineswegs „konstruiert", sondern genauso wie die res naturhaft-objektiv vorgegeben (naturaliter); erst die sprachliche Bezugnahme auf diese intelligiblen Gehalte ist menschliche Setzung (positio hominum; herm. pr. 1,1). Dieser objektive intelligible Gehalt zeigt sich in den verschiedenen Einzeldingen als ihre „wesenhafte Ähnlichkeit" (substantialis similitudo), die in der Denkbewegung versammelt wird (cogitatio collecta) und so als universale Bestimmtheit der Einzeldinge erscheint. Diese „Lösung" freilich stellt ihrerseits selbst den Ausgangspunkt für weitere Fragen dar, so etwa nach der gemeinsamen Natur (natura communis) der unter einem Universale begriffenen Einzeldinge, nach der Fundierung des Ubergangs von der sinnlichen in die intelligible Sphäre oder nach dem Verhältnis von Vorgegebenheit und aktiver Denkleistung im menschlichen Verstand. An diesen Fragen entzündet sich der Universalienstreit des Mittelalters.

2. Die frühe Phase des

Universalienstreites

Gemäß der Auffassung, die -»Logik sei vor allem eine Sprachwissenschaft, wurde in der frühen Phase des Streites intensiv und vielfältig akzentuiert diskutiert, ob die Logik dann, wenn sie sich mit Gattungen und Spezies beschäftigt, Wörter (voces) oder Dinge (res) zum Gegenstand hat. Zwei in ihren Auffassungen besonders konträre Protagonisten dieser Diskussion sind der als radikaler Nominalist bezeichnete Roscelin von Compiégne (ca. 1 0 5 0 - 1 1 2 5 ) und der als Realist bezeichnete -»Anselm von Canterbury. Letzterer bezeugt das von ihm für falsch erachtete, prägnante Diktum von den Universalien als flatus vocis (stimmliches Geräusch), das gemeinhin als Auffassung Roscelins gedeutet wird, obwohl es sich in dessen einzigem erhaltenen Werk, der Epistula ad Abaelardum, nicht findet. Aus diesem Brief geht klar hervor, daß nach Roscelin nur Individuen real existieren. Die Universalien hingegen haben seiner Auffassung nach kein extramentales, wirkliches Sein, weshalb sie für ihn nur voces (Worte, nicht Begriffe) sind, eine Position, die derart extrem in der weiteren Geschichte des Streits nicht mehr vertreten wird. Daß Roscelin diese Auffassung auf das Trinitätsdogma (-»Trinitat) anwendet und behauptet, Vater, Sohn und Heiliger -»Geist seien, als je eigene trinitarische Personen aufgefaßt, drei separate Dinge in Gott und könnten daher nicht unter dem Begriff „ - » G o t t " subsumiert werden, bringt ihn in den Ruf eines tritheistischen Häretikers. Aus theologischen Gründen besteht Anselm von Canterbury darauf, daß nicht nur die Individuen, sondern auch Genera und Spezies außerhalb des Sprachgebrauchs tatsächlich (also in re) existieren. Er unterscheidet dabei drei Benennungsweisen von Dingen: mittels körperlicher Wahrnehmung, mittels mentaler Zeichen für die Dinge und mittels theoretischer Betrachtung, welche erst das allgemeine Wesen der Dinge of-

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Universalienstreit

fenbart. In seiner vor allem gegen Roscelin gerichteten Schrift De incarnatione Verbi begründet er ausführlich, daß „Vater", „Sohn" und „Heiliger Geist" als Benennungen der drei trinitarischen Personen relationale Ausdrücke von substanziell Einem sind. Deshalb könne von einem Gott gesprochen werden, welchem der Status einer absoluten Singularität zukommt, die an der Spitze einer Sein und Denken umfassenden Hierarchie steht. Die Diskussion der Universalienlehre am Beispiel und damit unter den doktrinell außergewöhnlichen Vorgaben der Trinitätslehre führt also zu zwei sehr gegensätzlichen Positionen, von denen sich die mit der gängigen theologischen Lehre kompatible Auffassung Anselms durchsetzt. Das Überwiegen der realistischen Sichtweise zeigt sich an einer Ausdifferenzierung des realistischen Lösungsansatzes, welcher in der Frühphase des Universalienstreites zur Bildung weiterer, dem Realismus zuzurechnenden sectae führt, wie den „Porretani" oder „Gilbertini" (Schule des -»Gilbert Porreta), „Robertini" oder „Melidunenses" (Schule des -»Robert von Melun), „Albricani" oder „Montani" (Schule des Alberich von Paris [12. Jh.]) und den „Adamitae" oder „Parvipontani" (Schule des Adam von Balsham [12. Jh.]). 3. Die Problemformulierung

durch Petrus

Abaelard

Petrus —»Abaelard, der prominenteste und umstrittenste Schüler Roscelins von Compiegne, verhandelt die Universalienlehre in seinen logischen Schriften und führt sie damit, thematisch und systematisch gesehen, auf ihr ureigenes Feld zurück. Insgesamt vertritt Abaelard eine Auffassung, die treffend nicht als ,,—»Nominalimus", sondern als „nonrealisme" gekennzeichnet wurde (Largeault 87). Stärker als sein Lehrer, der besonders auf die Relevanz des sprachlichen Zeichens abhob, anerkennt Abaelard prinzipiell, daß Sprache nur deswegen etwas bedeutet, weil und insofern sie Ausdruck eines Denkinhaltes ist. Sein Ausgangspunkt ist die aristotelische Definition, der gemäß das Universale das ist, was von vielem prädiziert werden kann. Gerade deshalb besitzt es für Abaelard keine reale Existenz, weil es in der Realität kein einzelnes universales Ding gibt. Wenn also ein Universale existiert, dann überhaupt nur als bloßer, reiner Gedanke. Der sprachliche Ausdruck (vox) verbindet dann Denkinhalt (intellectus) und Sache (res). Zugleich versucht Abaelard eine Antwort auf die Frage nach der Referenz des sprachlichen Zeichens zu geben: Ausgehend von der aristotelischen Definition, das Universale werde „der Natur bzw. Herkunft nach (natum) von mehrerem ausgesagt", spricht Abaelard ihm eine „Herkünftigkeit" (nativitas) zu, die er durch Vergleich mit der Herkünftigkeit der Einzeldinge (res) und Wörter (voces) zu klären sucht. Deren Herkünftigkeit ist nichts anderes als Schöpfung der Natur (creatio naturae), d.h. sie stammt letztlich von Gott. Die Herkünftigkeit des Universale hingegen beruht einzig auf menschlicher Setzung (bominum institutio). Die unterschiedliche Herkünftigkeit als göttlich-naturhafte Schöpfung und menschliche Setzung begründet somit eine grundsätzliche Verschiedenheit des status zwischen res und vox einerseits und universalem Bedeutungsgehalt (hier mit sermo bezeichnet) andererseits (Logica „Nostrorum", ed. Geyer 522). Zwar kommt den Universalien, anders als den Dingen, kein Sein schlechthin (simpliciter essentia) zu, doch begründet die einmal vollzogene Einsetzung eine Seinsweise unabhängig vom tatsächlichen Sprechen (nullo loquente), so daß in diesem Sinn Gattung und Arten Entitäten „sind", denen durch das gesprochene Wort nichts hinzugefügt wird (ebd. 524). In der benannten Trias von intellectus, vox und res, welche ihn vor extremem Nominalismus bewahrt, und in der gleichzeitigen, eben skizzierten ontologischen Fundierung, welche ihn aber noch nicht zu einem Realisten im strengen Sinne macht, findet Abaelard einen akzeptablen Mittelweg zwischen den beiden zu seinen Lebzeiten diskutierten extremen Positionen: einerseits der Verschiebung des Universalienproblems auf die reine Zeichenebene unter Leugnung der realen Existenz von Allgemeinbegriffen (wie bei Roscelin) und andererseits der nicht weniger riskanten Betonung einer bis ins Ontologische reichenden Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem, welche es den reales erschwert,

Universalienstreit

343

den ontologischen Status der Universalien und generell das Verhältnis von Einheit und Vielheit, Individualität und Universalität spannungsfrei zu bestimmen. Zugleich ist damit die Vorlage gegeben für manche in der Folgezeit anzutreffenden Vereinfachungen. 4. Die Deutung der Universalienbegriffe Duns Scotus und Wilhelm von Ockham

bei Albertus Magnus, Thomas von

Aquino,

Die weitere Behandlung der Universalienfrage im lateinischen Westen des 13./14. Jh. wird durch die Rezeption vor allem der aristotelischen Metaphysik und der an sie und die neuplatonische Tradition anknüpfenden systematischen Behandlung durch Avicenna (vgl. T R E 3,762,42ff.) bestimmt. Von den Sortalprädikaten natürlicher Arten wie Pferd oder Mensch stellt Avicenna fest, daß sie sich auf eine N a t u r oder Wesenheit beziehen müssen, die ein Erkanntsein im Verstand ('aqli, intellectuale) besitzt, in sich (in se) aber nicht nur indifferent sein muß gegenüber der natürlichen Existenzweise in den Dingen (tabi'i, naturale), sondern auch gegenüber der logischen Aussagbarkeit im universalen Begriff (mantiqi, logicum), weil sie in beiden Weisen vorkommen kann (vgl. Lógica: Avicenna, Opera, fol. 12): „Das Pferdsein selbst ist nichts als nur das Pferdsein" (ipsa equinitas non est aliquid nisi equinitas tantum; Liber de philosophia prima V,1,228). Z w a r ist eine solche gemeinsame N a t u r (natura communis) nur als Resultat einer formatio intelligibilis im Erkanntsein durch den Verstand, doch ist der Verstand nur Ursache des Erkanntseins, nicht des Sachgehalts, dem es in sich nicht widerstreitet, von vielen Dingen ausgesagt zu werden. Logische Aussagbarkeit von Vielem und natürliche Existenz in den Dingen gehören nicht in die Definition der gemeinsamen Natur, sondern treten in der Weise eines respectus hinzu. In ihrem Wesensgehalt geht die gemeinsame Natur der natürlichen wie der logischen Existenzweise vorauf (praecedit in esse). Denn die „Festigkeit" (certitudo), durch die etwas das ist, was es ist (res), kommt ihm durch die Washeit zu. Das esse proprium des Dreiecks oder der Weiße aber besteht in nichts anderem als der Dreieckigkeit oder der Weißheit selbst (vgl. Liber de philosophia prima V,1,233-238). Damit wird zwischen dem logischen Universalbegriff, der als allgemein aussagbares Prädikat allein im Verstand existiert, und dem Sachgehalt, der sich zwar nur im Erkanntsein zeigt, diesem Erkanntsein aber in seiner Sachhaltigkeit voraufgeht, in einer Weise unterschieden, die neue Fragen auslösen muß. 4.1. Albert der Große -»Albert der Große ist vor allem an der metaphysischen Dimension der Universalienfrage interessiert, d . h . inwieweit die Universalien als allgemeine Naturen real existieren. In De quinqué universalibus (bes. Ed. Paris I, 17—40) vertritt er eine sog. gemäßigte realistische Position, welche er im Vergleich zur nominalistischen für die zutreffendere hält (tr. 2 c. 3: p. 26a), obgleich sie schwieriger zu verteidigen sei. Die von ihm diskutierten Argumente dienen ihm als Negativfolie für seine eigene ausdrücklich antiplatonische Deutung, die er durch eine an der Lógica Avicennas und am Kommentar des —»Eustratios von Nikaia zur Nikomachischen Ethik orientierte Aristoteleslektüre gewinnt. Kennzeichnend für seine Position ist die Parallelisierung der antiken Unterscheidung der Universalien ante rem, in re und post rem mit der dreifachen Betrachtung des Wesens nach Avicenna: „in sich selbst" erweist sich das Universale als natura simplex et invariabilis, die in ihrer reinen Washeit losgelöst von jeder Hinordnung auf die Individualität der Einzeldinge und die Allgemeinheit der Erkenntnisinhalte besteht (ebd.; Metaph. V,6,7: Alberti M a g n i . . . opera omnia. XVI/1. Metaphysica, Münster 1960, 287). Diese „absolute" Betrachtungsweise quiditativer Gehalte freilich verbindet Albert mit der Existenzweise ante rem und trägt damit das Moment der Bezogenheit in sie hinein, wodurch die eigentliche avicenneische Pointe verlorengeht (Wieland 45; Honnefelder 496). Faßt man die Bezogenheit des Wesens auf das Einzelding ins Auge,

344

Universalienstreit

so existiert das Universale im Individuum als dessen Natur und Form und begründet dieses. Ontisch kann das Universale nicht vom Singulären abgetrennt werden, sondern es ist aufgrund der Zusammengesetztheit der -»Wirklichkeit aus Materie und Form immer partikularisiert und determiniert (in re). Als universale post rem schließlich ist es das im menschlichen Intellekt durch Abstraktion gewonnene Erkannte, das mit Allgemeinbegriffen ausgedrückt werden kann. Als solcher Denkinhalt steht das Universale immer in Relation zur Ersten Intelligenz, an der der menschliche Geist mittels des lumen intelligentiae teilhat. Albert verbindet also die an die Universalienlehre herangetragene ontologische Fragestellung mit erkenntnistheoretischen Themen (Illuminationslehre) und der steten Notwendigkeit einer metaphysischen Fundierung, welche aber seiner Auffassung nach letztlich nicht mehr Aufgabe des Logikers ist. 4.2. Thomas von Aquino Schon in seinem Frühwerk De ente et essentia (besonders c. 3) ordnet -»Thomas von Aquino den die traditionelle Lehre von den Universalien bestimmenden Zusammenhang von Kategorien und Prädikabilien, d.h. zwischen logischem Charakter und gegenstandserfassender Leistung der generellen Termini, in den Kontext der Metaphysik ein. Sie hat es als Erste Philosophie nicht nur mit kategorialen, sondern auch mit transzendentalen Begriffen zu tun; denn die kategorial differenzierende Erkenntnis, die die Dinge in ihrer Verschiedenheit erfaßt, setzt nach Thomas die Erkenntnis der Gemeinsamkeit voraus, wie sie in den Begriffen „Seiend" (ens) und „Wesen" (essentia) zum Ausdruck kommen. Diese Begriffe sind schlechthin allgemeine Termini, insofern sie alle Dinge allein unter dem Gesichtspunkt erfassen, daß sie — wenn auch in je verschiedener Weise - durch die Prinzipien von „Sein" (esse) und „Wesen" konstituiert sind, weshalb alle Dinge, noch bevor sie kategorial erfaßt sind, als „Seiendes", „Ding" oder „Etwas" erfaßt werden können. Während die nur vom Nichtseienden abgrenzenden transzendentalen Begriffe ens, res, aliquid etc. nicht anders als im Modus der -»Analogie ausgesagt werden können, ist es für die Allgemeinbegriffe des kategorialen Typs bezeichnend, strikt univok ausgesagt zu werden. Sie sind Resultat einer abstraktiven Erkenntnis, die Thomas als einen Zusammenhang von zwei nach dem Potenz-Akt-Schema verlaufenden Teilprozessen versteht, nämlich der Hervorbringung des sinnlichen Vorstellungsbildes (phantasma) anläßlich der Wahrnehmung des Gegenstandes durch die äußeren und inneren Sinne und der Hervorbringung des geistigen Erkenntnisbildes (species intelligibilis) anläßlich der Erleuchtung des sinnlichen Vörstellungsbildes durch den tätigen Verstand. Mit der Aufnahme der species intelligibilis in den leidenden Verstand ist das Erkenntnisvermögen im Besitz des im Satz prädikativ verwendbaren allgemeinen Begriffs (vgl. besonders S.th. 1,78-86). Da die beiden Prozesse (im Anschluß an die Einwirkung des Gegenstandes auf die äußeren Sinne) in einem Zusammenhang stehen, der die Differenz der jeweiligen Wirkzusammenhänge nicht aufhebt, stellt das geistige Erkenntnisbild nicht das wirkursächlich erzeugte „Abbild" des sinnlich erfahrbaren Gegenstandes dar, sondern dessen intentionale Repräsentation hinsichtlich einer Bestimmtheit, die er mit anderen Gegenständen gemeinsam hat und die im Vorgang der Abstraktion in ihrem reinen Sachgehalt erfaßt wird. In Aufnahme der Lehre Avicennas von der natura communis geht Thomas - wie zuvor schon Albertus Magnus (vgl. Metaph. V,6,7: Alberti M a g n i . . . opera omnia. XVI/ 1. Metaphysica, Münster 1960, 287-288) - davon aus, daß der Artbegriff nichts anderes als die Artnatur selbst zum Gegenstand hat. Nur als solche betrachtet (natura absolute considerata: De ente et essentia c. 3) enthält die Artnatur weder die je individuelle Bestimmtheit, in der sie im Einzelding vorliegt, noch die logische Aussagbarkeit, kraft deren sie von den vielen Einzeldingen ausgesagt wird. In ihrem reinen Sachgehalt erfaßt, ist sie „früher" als jede Weise des Seins, weshalb sie für Thomas als solche - außerhalb des Gedachtseins - keinerlei Sein besitzt (nullo modo habet esse: De ente et essentia c. 4). „Sie sieht von jeglichem Sein ab, ohne doch eine der Weisen des Seins auszuschließen"

Universalienstreit

345

(De ente et essentia c. 3; vgl. auch Quodl. VIII,1,1; In H De an. 1,12; Pot. V,9,16; S.c.G. 1,1,26; Met. VII,1,13). Deshalb kommt sie den einzelnen Dingen „nicht zu gemäß einem gemeinsamen Sein, sondern gemäß einem allen gemeinsamen Sinngehalt (ratio)" (In I Sent. VIII,4,2). Daß dieser Sinngehalt als solcher - auch ohne Existenz in einem Einzelding und ohne von einem Verstand gedacht zu sein - das ist, was er ist (vgl. Quodh VIII,1,1), ist er nach T h o m a s kraft der Priorität des reinen Sachgehalts, nicht der eines realen Prinzips. Da dieser Priorität des Sachgehalts nach Thomas freilich das Erkanntsein durch den göttlichen Verstand voraufgeht, kann er die Maßgeblichkeit des Artbegriffs festhalten, ohne seinem Gehalt - wie Avicenna - einen eigenen metaphysischen Status zuordnen zu müssen. 4.3. Johannes

Duns

Scotus

Da das Gedachtsein der Artnaturen durch Gott eine Relation darstellt, die wie jede Relation ein Fundament voraussetzt, sieht sich Johannes -»Duns Scotus veranlaßt, mit Avicenna der gemeinsamen (Art-)Natur (natura communis) ein Sein eigener Art zuzuordnen, das freilich kein eigenes „Sein der Wesenheit" (esse essentiae) darstellt, wie Heinrich von Gent (um 1217-1293) meint, noch mit dem Gedachtsein zusammenfällt, wie dies Thomas annimmt. Z w a r erscheint die gemeinsame (Art-)Natur als solche nur im Gedachtsein, doch ist sie „von sich her" (de se) weder - wie in den Einzeldingen — singulär noch - wie die Begriffe zweiter Intention - logisch universal, sondern nur das, was sie ist. Als solche ist sie „negativ indifferent" („es widerstreitet ihr nicht, nicht diese zu sein"); „positiv indifferent" („es widerstreitet ihr nicht, in beliebigen individuellen Trägern verwirklicht zu sein") ist sie erst, wenn sie im abstraktiven Begriff erkannt ist, der dann in zweiter Intention als complete universale, nämlich als logisch allgemein aussagbares Prädikat verwendet werden kann (Metaph. VII q.18 n.41: Opera philosophica IV, 347; vgl. Ordinatio II d.3/1 q . l n . 3 3 - 3 4 . 3 7 - 3 8 : ed. Vaticana VII, 403 -405.406-408). Da der abstraktiv erkannte Begriff von Scotus als Resultat eines Prozesses verstanden wird, bei dem zwei Teilursachen, nämlich der sinnlich erfahrbare Gegenstand bzw. seine Repräsentation im Phantasma und der Verstand „zusammenlaufen" und den Begriff als geistige Repräsentation des Gegenstandes hervorbringen, muß im Fall der Erkenntnis der gemeinsamen (Art-)Natur der der Erkenntnis voraufgehende Gegenstand, nämlich die Natur, nicht „von sich her diese" sein; denn sonst würde der Gegenstand unter dem Gegenteil dessen erkannt, was seine wirkliche Natur ist (vgl. Ordinatio II d.3/1 q.l n . 2 9 - 3 0 : ed. Vaticana VII, 402; Lectura II d.3/1 q . l n . 2 8 - 2 9 : ed. Vaticana XVIII, 236-237). Selbst von den als möglich erkannten Dingen (Ideen) muß nach Scotus gelten, daß ihr Erkanntsein „durch Gottes erkennenden Verstand hervorgebracht w i r d " (principiative per intellectum), daß sie ihrem Gehalt nach aber „formal aus sich" ( f o r m a l i t e r ex se) das sind, was sie sind, weil das innere Möglichsein der Gehalte „absolut kraft eigener Bestimmtheit zu bestehen vermag" (absolute - ratione sui - posset stare-, Ordinatio I d.36 q.un. n.50.60-61: ed. Vaticana VI, 291.296). Eine solche Aussage ist möglich, weil Scotus - im Unterschied zu Thomas von Aquino, der als seiend nur das betrachtet, dem der aktuelle Akt des Seins zukommt - als seiend im metaphysisch weitesten, transzendentalen Sinn „dasjenige [betrachtet], dem das Sein nicht widerstreitet" (cui non repugnat esse: Ordinatio IV d . l q.2 n.8: ed. Vives XVI, 109; Quodlibet q.3 n . 2 - 3 : ed. Vives XXV, 113-115). In diesem Sinn kann Scotus auch von den im abstraktiven Begriff erfaßten Sachgehalten, die formal nicht identisch sind mit anderen Sachgehalten, sagen, daß sie nur sind im Gedachtsein, daß sie aber vorgängig zum Gedachtsein das sind, was sie sind (vgl. Ordinatio I d.8/1 q.3 n.140: ed. Vaticana IV, 223), und - wie im Fall der gemeinsamen (Art-)Natur — eine reale Einheit besitzen, die nicht die numerische Einheit eines real existierenden Dinges ist (vgl. Ordinatio II d.3/1 q . l n.34: ed. Vaticana VII, 404-405).

346 4.4. Wilhelm

Universalienstreit von

Ockham

D a ß in einer Welt durchgängiger Singularität der Dinge für Universalien als Teil der Wirklichkeitsstruktur kein Platz ist, ist die Grundüberzeugung Wilhelms von —•Ockham, der gleichwohl am Aristotelischen Konzept festhält, daß Gegenstand von Wissenschaft das Allgemeine ist. Damit erhebt sich für ihn die Frage, wie die Möglichkeit und der Wirklichkeitsbezug von Wissenschaft zu sichern sind angesichts der Nichtzugehörigkeit ihres Gegenstandes zur Welt der realen Einzeldinge. Ockham setzt sich mit drei Ansätzen auseinander: mit negativem Ergebnis mit demjenigen des Universalienrealismus, mit kritischem Ergebnis mit der These des Duns Scotus vom formalen Seinsstatus der Universalien und zustimmend mit der Position eines modifizierten Nominalismus. Maßgeblich ist für Ockham die Frage, wie in einer Welt radikaler Singularität und -»Kontingenz Wissenschaft im Sinne der Zweiten Analytiken des Aristoteles als Beweiswissen und damit als Wissen von Notwendigem und Allgemeinem möglich ist. Im Bereich des Extramentalen ist kein Platz für das Allgemeine (nulla res extra attimam est realiter communis-, O T II, 177). Wissenschaft kann daher nicht von den Dingen selbst handeln, sie muß statt dessen von den Begriffen ausgehen, welche für die Dinge stehen (scientia realis non est de rebus, sed de conceptibus supponentibus pro rebus-, OP IV, 12). Die für die Wissenschaft erforderlichen Allgemeinbegriffe sind universell verwendbar, ohne auf etwas außerhalb des Denkens existierendes Universales zu referieren. Die Allgemeinbegriffe sind „Denkintentionen" (intentiones animae) mit Zeichenfunktion. Bezieht sich ein mentales Zeichen auf ein konkretes Einzelding, spricht man traditionellerweise von einer „Erstintention" (intentio prima), bezieht es sich auf ein anderes Zeichen, liegt eine „Zweitintention" (intentio secunda) vor. Der Primat der Erst- vor den Zweitintentionen ist nicht ontologischer, sondern semantischer Natur. Damit stellt sich die Frage, wie die Allgemeinheit der Bezeichnung zur Einheit der Bedeutung wird. Die von Ockham vertretene ontologische Nachordnung des Allgemeinen hinter das konkret existierende Einzelne ist mit der aus wissenschaftstheoretischen Gründen erforderlichen Privilegierung des Allgemeinen als eines intramentalen Zeichens durchaus vereinbar. Nach Ockham besteht der Irrtum des Universalienrealismus darin, die significata, die realen Einzeldinge, und die significantia, die universalen Prädikate, in eins zu setzen. Es hat jedoch „mit Realwissenschaft überhaupt nichts zu tun, ob die Terme einer Aussage denkunabhängig oder denkabhängig sind, solange sie für selbständige, real existierende Einzeldinge supponieren" ( O T II, 137). Gewußt werden nicht Dinge, sondern Sätze. Die Realität des Gewußten ist mithin nicht dinglicher, sondern propositionaler Natur. Die Universalität der Referenz hat nicht die Existenz des Universalen zur Voraussetzung; denn Universalität der Referenz ist eine Eigenschaft von Prädikaten, nicht von Dingen. Auch für den Realismus in seiner gemäßigten Form, wonach das Allgemeine zwar keine selbständige Realität besitzt, wohl aber formal in den Dingen verwirklicht ist, ist nach Ockham kein Platz. Daß eine Vielheit von Einzeldingen mit Hilfe eines Allgemeinbegriffs erfaßt werden kann, zwingt nicht zu der Annahme, der Allgemeinbegriff bezeichne eine der Vielheit dieser Einzeldinge gemeinsame und in ihnen verwirklichte, formal unterschiedene Realität, wie Scotus meint; es genügt vielmehr festzustellen, daß die Gemeinsamkeit eine solche der Prädikation ist. D a ß von einer Vielheit ein Prädikat gemeinsam ausgesagt werden kann, bedeutet nicht notwendig, daß damit etwas Gemeinsames ausgesagt wird. Auch mißversteht der Realismus nach Ockham das Verhältnis von Gattung und Art: Die Arten sind nicht „ i n " den Gattungen enthalten wie Teile in einem Ganzen; es liegt vielmehr lediglich eine logisch-semantische Beziehung vor. Führt der Universalien-Platonismus zum Problem der Weltverdoppelung, so der gemäßigte Universalienrealismus zur Zerstörung der Einheit des Einzelseienden. Will man diese beiden Konsequenzen vermeiden, muß man, so Ockham, darauf bestehen, daß „das von sich her Singuläre auf keine Weise und unter keiner begrifflichen Hinsicht

Universalienstreit

347

etwas Universales ist" (res de se singularis nullo modo nec sub aliquo conceptu est universalis; O T II, 244). Mit seiner Entscheidung, den Universalien den Status von Zeichen zu geben, welche „die Substanz der Dinge deklarieren" (OT II, 254), sucht Ockham die Gefahr einer Dissoziierung von Denken und Wirklichkeit zu vermeiden. Die Zuordnung eines Zeichens zu einem Einzelding ist zwar ursprünglich eine Frage der Übereinkunft; doch einmal festgelegt, ist sie verbindlich. Dabei kann durchaus offenbleiben, ob der Status der Universalien der des reinen Gedachtseins (esse obiectivum) oder der einer eigenen intramentalen Realität (esse subiectivum) ist. Den erstgenannten Ansatz, auch FictumTheorie genannt, hat Ockham später durch die sog. Qualitas-Mentis-Theorie ersetzt, wonach die Universalien Denkqualitäten sind, „welche als Zeichen für die Dinge fungieren" (OT II, 289). Damit sind die Universalien keineswegs reine Namen (nomina nuda), wie es der Nominalismus in seiner extremen Form behauptet; zwar bezeichnen sie nichts Allgemeines, wohl aber lassen sie sich allgemein als Zeichen verwenden. Das Einzelding und seine Struktur sind nicht Wahrheitsbedingungen für das Allgemeine, wohl aber Referenzgrundlage. Hintergrund ist Ockhams Unterscheidung zwischen der semantischen und der ontologischen Ebene der Rede vom Allgemeinen, d.h. die Unterscheidung zwischen dem, was ausgesagt wird (quodpraedicatur), und demjenigen, wofür die Aussage gilt (pro quo fit praedicatio). Die Universalien sind mögliche Prädikate, die die Funktion von Zeichen haben. Damit ist das Universale logisch gesehen ein für eine Mehrheit von Dingen verwendbares Prädikat, semantisch betrachtet ein natürliches Zeichen und ontologisch eine im Denken befindliche Qualität. Zwecks Unterscheidung vom extremen Nominalismus des reinen Namenseins kann man diese Position die eines „zeichentheoretischen Nominalismus" (Beckmann [1995] 120ff.) nennen. 5.

Schulbildung

Die nachfolgende Entwicklung bewegt sich innerhalb der so bestimmten Positionen, deren erreichte Komplexität sie teilweise erheblich reduziert. Entgegen der in der Literatur vielfach vertretenen Behauptung, der Nominalismus habe sich für das gesamte Mittelalter im Universalienstreit durchgesetzt, bleiben realistische und nominalistische Positionen in der Universalienfrage bis zum Spätmittelalter gleichermaßen wirksam (Hübener). Über die Anknüpfung an Wilhelm von Ockham hinaus begegnen daher selbständige Traditionen, die sich auf Albert den Großen, Thomas von Aquino und Johannes Duns Scotus beziehen. 5.1.

Albertismus

Johannes de Nova Domo (gest. 1418) war nach den Worten seines Schülers Heymericus de Campo (gest. 1460) der erste in Paris, der in der Auseinandersetzung um das Universalienproblem auf die Aristoteles-Interpretation Alberts des Großen zurückgegriffen habe. Ein zutreffender Begriff der Universalien lasse sich nur aus einem zurückgewonnenen Verständnis des Aristoteles erheben. Auf Grund einer neuplatonisch inspirierten Relecture des Aristoteles unterscheidet Johannes de Nova Domo in seiner Schrift De universali reali (entstanden zwischen 1406 und 1418) vier Seinsmodi des Universale: als seinsermöglichende Idee in der ersten Ursache vor aller stofflichen Wirklichkeit (ydeale et in intellectu prime cause), als Prinzip der Unterscheidbarkeit vor dem Einzelnen (intellectuale et formale), als im Einzelnen Verwirklichtes (formale et formatum in singularibus) und als das durch Abstraktion vom Einzelnen Erkannte (in intellectu abstrahente). Heymericus de Campo übernimmt die Auffassung seines Lehrers wortgetreu, wenn er an den Anfang seines sog. Tractatus problematicus (entstanden 1424/25) die Universalienfrage stellt. Deutlicher als sein Lehrer versteht er diese jedoch auf dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Albertisten und Thomisten als einen Streit um das zutreffende Aristotelesverständnis, das in der Kommentierung Alberts des Großen vorliege.

348 5.2. Thotnismus

Universalienstreit und

Scotismus

In der Grundhaltung sind sich Thomisten und Scotisten einig, daß die Universalien nicht bloße Gedankendinge sind, sondern ein Sein in der Wirklichkeit besitzen. Diese doktrinelle Konvergenz, daß die gemeinsam vertretene realistische Interpretation der Universalien eine deutliche Gegenposition zur Haltung der Nominalisten bedeutet, entspricht jeweils dem Selbstverständnis der beiden Schultraditionen. Während die nominales die Universalien für bezeichnende Wörter (voces in significando) oder repräsentierende Begriffe (conceptus in repraesentando) halten (Suarez, Disp. met. VI,2; Mastrius, Disp. IV,1), sind nach dem Verständnis von Thomisten und Scotisten die Allgemeinbegriffe Bezeichnungen von real aufzufassenden Naturen, die nicht durch den Verstand fingiert, sondern entdeckt werden. Dieses Selbstverständnis der Schulen hat sich maßgeblich durch die gemeinsame Abwehrhaltung gegenüber Autoren wie Wilhelm von Ockham und -•Petrus Aureoli herausgebildet. Einzelne Autoren, sowohl thomistischer als auch scotistischer Provenienz, präzisieren ihre eigene Haltung als eine an Aristoteles angelehnte Position, die eine Mittelstellung zwischen den Nominalisten auf der einen und den Piatonikern, die Universalien als von den Einzeldingen losgelöste Entitäten ansehen, auf der anderen Seite darstellt. Insbesondere die gemeinsame Ablehnung platonisierender Vorstellungen macht zunächst eine Abgrenzung der nominalistischen und der realistisch ausgelegten thomistischen Haltung schwierig. So finden sich etwa in der in ihrer Authentizität zwar zweifelhaften, aber von führenden Thomisten, z. B. Johannes Capreolus (gest. 1444), in diesem Zusammenhang häufig zitierten thomanischen Schrift De natura generis Fomulierungen, die durchaus auch von nominalistischer Seite vertreten werden. Das ist etwa der Fall, wenn es dort heißt, daß „es in Wirklichkeit nichts vielen Dingen Gemeinsames gibt, weil alles das, was in Wirklichkeit ist, durch den Verstand gemacht wird (agitur). Der Verstand nämlich macht das Universale in den Dingen" (c. 4). Die Affinität der Thomisten gegenüber der kritischen Haltung der Nominalisten, den Universalien einen eigenen ontologischen Status zuzubilligen, ist maßgeblich durch die von den Thomisten abgelehnte scotische Lehre von den Formalitäten hervorgerufen. Der frühe Führer der französischen Thomisten, Hervaeus Natalis (um 1260-1323), formuliert seine eigene Position nahezu mit demselben Wortlaut, der sich später bei Ockham findet. Er stellt einem universale per repraesentationem, das ein subjektives Sein besitzt, ein universale per praedicationem gegenüber, dem kein eigener ontischer Ort entspricht (vgl. Kelley 266ff.). Spätere T h o misten, wie etwa —»Cajetan, nehmen diese Unterscheidung auf und bestimmen mit ihrer Hilfe den ontologischen Status eines objektiven bzw. subjektiven Seins der Universalien im Intellekt. Auch auf Seiten der Scotisten spielt die Zurückweisung des nominalistischen Reduktionismus eine wichtige Rolle. Der unmittelbare Scotusschüler Franciscus de Mayronis (1288-ca. 1328) kritisiert den „verwunderlichen Geiz" (avaritia mira, Quodl. VI,1) der Ockhamschen Ontologie, um den ontologischen Status der entia rationis und damit der Universalien unter Rückgriff auf die scotische Formalitätenlehre im Sinne eines objektiven Realismus neu zu interpretieren. Er wendet sich damit gegen einen subjektiven Realismus, der den Realitätsstatus der Universalien an die Inhärenz des Gedachten im denkenden Subjekt, nämlich der -»Seele, knüpft. Für Mayronis sind Universalien real, weil sie einen realen Inhalt haben, nicht weil sie von einem real Seienden gedacht werden. Insbesondere die immer deutlicher hervortretende Ablehnung der scotisch/scotistischen Lehre der Formaldistinktion durch die Thomisten rückt die an Thomas orientierte Haltung näher an die eigentlich zu kritisierende Haltung der Nominalisten. Der wesentliche Unterschied in der Interpretation der Scotisten gegenüber den Thomisten besteht darin, daß jene den Universalien durch ihre Ausrichtung auf die natura communis einen eigenen ontologischen Status zusprechen. Die von den Universalien zum Ausdruck gebrachte gemeinsame Natur ist zwar weder ein Ding, wie andere Einzelgegenstände,

Universalienstreit

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noch ein bloßes Gedankending, sondern ein drittes, nämlich ein formaler Gehalt mit einem eigenen ontologischen Status. Divergenzen innerhalb der Scotisten bestehen darüber, wie der ontologische Ort der natura communis zu bestimmen ist. Diese Frage betrifft vor allem das Individuationsproblem. Die sich in besonderem M a ß e auf das Schulhaupt berufenden Scotisten gehen in dieser Frage davon aus, daß die natura communis eine gegenüber einer weiteren Individuierung ursprünglich indifferente und eine dem Individuum je eigene ist (per indifferentiam). Andere Scotisten betonen, daß es sich bei der gemeinsamen Natur, z. B. des Menschen, um ein und dieselbe N a t u r handelt (per inexistentiam), die durch die individuellen Eigenschaften nur äußerlich differenziert ist. 5.3.

Ockhamismus

Zwischen dem Ockhamismus (der Terminus entstammt dem 19. Jh., im Mittelalter wurden die Anhänger Ockhams als Occanici, nominales, terministae, moderni u.ä. bezeichnet) als Bezeichnung für die Position derjenigen, die sich in ihrer Lehre auf Ockham berufen, und demjenigen, was Ockham selbst gelehrt hat, bestehen zum Teil nicht unerhebliche Unterschiede. Authentisch ist am Ockhamismus die These, Realwissenschaft befasse sich nicht mit den Dingen, sondern mit Begriffen, welche für Dinge stehen, des weiteren die Ansicht, die Theologie könne zwar „in sich" (theologia in se) als Wissenschaft gelten, aber vom Menschen nicht im strengen Sinne als Wissenschaft betrieben werden, was nicht etwa einem Mangel der Theologie, sondern der Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit zuzuweisen ist. Nicht auf Ockham berufen kann sich die Verwendung des sog. Ökonomieprinzips in der Form, die „Dinge" (entia) dürften nicht ohne N o t vervielfältigt werden — eine in Ockhams Schriften nicht belegte Behauptung. Das Ökonomieprinzip stellt vielmehr vorrangig eine bereits in der Tradition vorfindliche methodologische Maxime (frustra fit per plura quod fieri potest per pauciora-, OP I, 43 u.ö., bzw. pluralitas non est ponenda sine necessitate; OP I, 185 u.ö.), kein in erster Linie ontologisches Prinzip dar. Im Hinblick auf das Universalienproblem bedeutet dies: Nicht erst die „Verdinglichung" des Allgemeinen ist das eigentliche Problem, sondern bereits der Versuch, mit überflüssigen Annahmen zu arbeiten. Uberflüssig ist die Annahme, die für Wissenschaft wichtigen allgemeinen Zeichen seien oder entsprächen Strukturen der Wirklichkeit. Dieser Ansatz wird in unterschiedlicher Weise ausgearbeitet; so vom Ockham-Schüler Adam Wodeham (ca. 1298-1358), der, wohl als erster, den Gegenstand von Wissen in den von der Konklusion bezeichneten Totalinhalt (complexe significabile) eines Sachverhalts verlegt. Eine andere Richtung schlägt Johannes von Mirecourt (gest. nach 1360) ein, der Analytizität zur Voraussetzung des Wissenschaftscharakters von Sätzen erklärt. Ähnliches findet sich bei Nikolaus von Autrecourt (gest. nach 1359), der, Ockham radikalisierend, Kausalerklärungen durch Wahrscheinlichkeitsannahmen ersetzt. Moderat wiederum ist der Ockhamismus der sog. Merton School im Oxford des 14. Jh. ( - » T h o m a s Bradwardine, William Heytesbury [13131373] und Richard Swineshead [um 1350]), welche sich neben der Logik vor allem mit der -•Naturphilosophie beschäftigt. Ockhams Unterscheidung zwischen der Quantität der Dinge und den Substanzen spielt für die neuzeitliche Umwandlung des Materie- in den Massebegriff eine nicht unwichtige Rolle, desgleichen seine Lehre von der Bewegung als eines kontinuierlichen und berechenbaren Prozesses. Der Ockhamismus zeigt sich auch in der sog. Impetus-Theorie des Johannes Buridanus (ca. 1300-nach 1358). Wichtig ist der Ockhamismus für die sog. via moderna, welche im Gegensatz zur via antiqua eine Entsprechung zwischen wissenschaftlich-begrifflicher Welt und der Realität der Dinge bestreitet und dem Allgemeinen folgerichtig keinen Wirklichkeitsbezug zuerkennt. Zu nennen sind hier Robert Holcot (gest. 1349), -»Gregor von Rimini, Albert von Sachsen (1353 Rektor der Universität Paris, gest. 1390), -»Petrus von Ailly und J. —»Gerson. Während sich die Vertreter der via antiqua an die traditionelle, AristotelischBoethianische Logik und Kategorienlehre halten und von einer natürlichen Affinität

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zwischen Begriffs- und Dingwelt ausgehen, betonen die Anhänger der via moderna mit Nachdruck den Unterschied zwischen Begriffs- und Dingwelt und beschäftigen sich intensiv mit der Grammatik der in den Wissenschaften verwendeten Termini (daher die Bezeichnung terministae). Die nachhaltige Vertreibung des Allgemeinen aus der Wirklichkeit führt zur Ersetzung von Sachwissenschaft durch Satzwissenschaft; die Propositionalisierung von Wissenschaft entwickelt sich zu einem Kennzeichen des Ockhamismus. Zugleich findet sich im Ockhamismus eine zunehmende antimetaphysische Einstellung, wie sie in dieser Form von Ockham selbst nicht vertreten worden ist, verbunden mit einer zunehmenden Skepsis gegenüber den wissenschaftlichen Möglichkeiten der Theologie. Mit G. —»Biel, der Ockhams Werk in Form einer Art Lehrbuch für den Universitätsunterricht zusammenfaßt (Epithoma, Tübingen 1501), findet der spätmittelalterliche Ockhamismus seinen vorläufigen Abschluß. Was folgt, ist ein Verständnis von Ockhamismus, das sich aus Quellen dritter Hand speist und die ursprünglichen Absichten Ockhams weitgehend verfehlt. 6. Ausblick Die weitere Entwicklung des Universalienstreits im Spätmittelalter ist unübersichtlich. Im Kampf zwischen via antiqua und via moderna drohen die Konturen nicht selten zu verschwimmen: „Der sachliche Gegenstand des Streites versinkt im Laufe der Zeit in immer nebelhafterer Ferne" (Ritter 145; vgl. Gilson 528). Bei dieser Diskussionslage wirkt es wie ein Befreiungsschlag, wenn in der holistischen Geistphilosophie des -»Nikolaus von Kues Nominalismus und Realismus sowie ihre Spielarten und Mixturen in einer kühnen Synthese aufgehoben werden sollen. Gleichwohl hat der cusanische Ansatz auch in diesem Bereich keine geschichtsmächtige Schulbildung zur Folge gehabt, und die Proklamation der Beendigung des Universalienstreits durch den Laien im Idiota de mente erwies sich als voreilig (Opera Omnia. V. Idiota de sapientia. Idiota de mente. Idiota de staticis experimentis, hg. v. Renate Steiger, Hamburg/Leipzig 1983, c. 2; vgl. Flasch 310-312). Das wird in der Folge besonders deutlich durch die äußerst differenzierte Behandlung des Themas bei Francisco —»Suarez, dem führenden Philosophen der Spätscholastik. Er rekapituliert die Hauptstationen der Problemgeschichte, um dann zu einer eklektischen, zwischen Ockhamismus und Thomismus oszillierenden, durch Scotus inspirierten Position zu finden, indem er die entscheidenden Impulse Ockhams aufnimmt und zeigt, daß diese durchaus mit einer (scotistisch) modifizierten Position des Thomas vereinbar sind. Sprachliche Ausdrücke für Universalien beziehen sich demnach nicht auf eigenständige Entitäten; aber die ihnen korrespondierenden geistigen Akte haben dennoch ein Fundament in der Struktur der Welt (Trentmann 824). Dementsprechend wird die thomistische Formel cum fundamento in re folgendermaßen modifiziert: Uníversalitas est per intellectum cum fundamento in re (Disp. metaph. VI,5,1). Auch in den großen Systemen der —»Neuzeit lassen sich, trotz der Veränderung der philosophischen Großwetterlage, die klassischen Frontstellungen zumindest in den Grundlinien weiter verfolgen. So finden wir im kontinentalen -»Rationalismus durchgängig eher realistische Hintergrundannahmen, während im englischen -»Empirismus seit Th. -»Hobbes (vgl. Schneider, vor allem 109-111) die nominalistische Einstellung dominiert. Beide Orientierungen werden schließlich - vergleichbar mit dem ersten Versuch ihrer Aufhebung im Koinzidenzgedanken des Cusanus — durch die kopernikanische Wende in -»Kants transzendentalen Neuansatz der Philosophie neutralisiert und somit in diesem Kontext systematisch entbehrlich. Daß die Thematik des Universalienstreits auch danach noch, und zwar über die engeren Grenzen der Fachphilosophie hinaus, weiter zum Inventar der alteuropäischen Bildung gehört, bezeugt in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh. Alessandro Manzoni (1785-1873), wenn er in den Promessi sposi den Privatgelehrten Don Ferrante sagen läßt, daß ebenso wie die Weltseele oder die Natur der Dinge „die Allgemeinbegriffe" (gli universali) keineswegs „so klare Gegenstände wären, wie man annehmen möchte" (vgl. Kap. XXVII, 634), sowie im 20. Jh.

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Egon Friedell in der Kulturgeschichte der Neuzeit (München 1927; Erstes Buch, 2. Kap.: „Die Seele des Mittelalters"). Systematisch greift E. —»Husserl in seinen Logischen Untersuchungen (1900-1901) die Frage erneut auf (vgl. Tugendhat 134f.). Er kritisiert die psychologische Deutung, die Universalien seien allgemeine Vorstellungen (so z.B. John Locke [1632-1704]), als widersprüchlich und unhaltbar. Zugleich hält Husserl d a r a n fest, d a ß es allgemeine Gegenstände gibt, die sich aber, im Unterschied zu Plato, in einem besonderen Akte des Denkens („ideierende Abstraktion") konstituieren und in einer höherstufigen, nicht sinnlichen Form des Vorstellens erfaßt werden sollen. Da Husserl sich hierfür auf Evidenz beruft, bleibt das Problem der Oberprüfbarkeit dieses Ansatzes. Im Z u g e des ebenfalls mit Beginn des 20. Jh. entstandenen und bis heute offenen Grundlagenstreites der M a t h e m a t i k stellt sich das Universalienproblem erneut im Z u s a m m e n h a n g der seit Plato klassischen Fragestellung nach dem ontologischen Status der mathematischen Gegenstände. In dieser modernen Diskussion verläuft die H a u p t frontlinie zwischen Piatonismus und verschiedenen Formen des Konstruktivismus (Luitzen E . J . Brouwer). Letzterer „betrachtet die mathematischen Gegenstände als durch die Aktivität des Mathematikers geschaffen" (Heyting 543). Für den Piatonismus hingegen „beziehen sich die Sätze der M a t h e m a t i k auf eine externe Realität - genauso stark, wie es bei Aussagen über die physikalische Welt der Fall ist, nur auf eine verschiedene Art von Realität, da sie aus abstrakten Gegenständen und abstrakten Strukturen besteht" (vgl. D u m m e t t xxv). Über diese mathematiktheoretische Fragestellung hinausgehend hat Willard V.O. Q u i n e (1908—2000) f ü r die wissenschaftliche Begriffsbildung überhaupt ein Kriterium zur Abgrenzung zwischen Piatonismus und Nominalismus vorgeschlagen (Gethmann 413), das jedoch in der weiteren Diskussion nicht unumstritten geblieben ist (vgl. u . a . Künne 102ff.): Läßt eine in der kanonischen N o t a t i o n der Prädikatlogik formulierte Sprache nicht nur Bezeichnungen f ü r Individuen, sondern auch f ü r Eigenschaften, Relationen, Zahlen oder Proportionen zu, m u ß sie als platonisch gekennzeichnet werden. Wird hingegen n u r die Benennung von Individuen konzediert, handelt es sich u m nominalistische Positionen, wie sie auch Q u i n e selbst vertritt. Ihre durch die ausschließliche Zulassung physikalischer Objekte bedingte Tendenz zu einem ontologischen Reduktionismus wird von Peter Strawson im Blick auf Q u i n e u.a. mit folgendem Argument kritisiert: „ M a n k ö n n t e sich darüber einigen, d a ß Eigenschaften oder Attribute gegenüber den O b j e k t e n , denen m a n sie zuschreibt, ontologisch insofern sekundär sind, als die Referenz auf Eigenschaften diejenige auf Objekte voraussetzt - aber nicht umgekehrt. Jedoch w ü r d e die Ubereinstimmung in diesem Punkt weder von uns fordern, die Existenz von Eigenschaften zu bestreiten noch gar zu konzedieren, d a ß wir auf die diesbezügliche Referenz bzw. Quantifikation verzichten k ö n n t e n " (vgl. Strawson, Analysis 46). Kennzeichnend f ü r die aktuelle Diskussionslage ist, d a ß sich neben dem nominalistischen M a i n s t r e a m ebenso wohlfundierte Formen eines extremen Universalien-Realismus bzw. Piatonismus (z. B. Chisholm) wie auch solche eines wissenschaftstheoretisch begründeten gemäßigten Realismus behaupten können. Letzterer wird vor allem von D. A. Armstrong vertreten, der Naturgesetze k r a f t der Allgemeinheit ihrer Geltung als „universale Relationen höherer O r d n u n g " auffaßt, „weil ihre Relata Eigenschaften, Universalien erster O r d n u n g s i n d " (Runggaldier/Kanzian 62). Quellen Zu 1.: Ammonius, In Porphyrii Isagogen, ed. Adolf Busse, 1891 (CAG 4/3). - Boethius, In Isagogen Porphyrii commenta, ed. Samuel Brandt, 1906 (CSEL 48). - Ders., Commentarii in librum Aristotelis Ilepi¿pß^veiat;, ed. Carolus Meiser, pars prior et posterior, 2 Bde., Leipzig 1877-1880. - Anthony A. Long/David N. Sedley, The Hellenistic Philosophers, 2 Bde., Cambridge 1987; dt.: Die hell. Philosophen. Texte u. Komm., Stuttgart/Weimar 2000. - Porphyrius, Isagoge, ed. Adolf Busse, 1887 (CAG 4/1). - SVF.

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zu 4.1. bei Sophie Wtodek) 217-236. - Ders., Der Kölner Albertismus: Jan A. Aertsen (Hg.), Albert der Große in Köln, Köln 1999 (Kölner Universitätsreden 80) 4 3 - 5 5 . - Antonius G. Weiler, Un traité de Jean de Nova D o m o sur les Universaux: Vivarium 6 (1968) 108-154. Zu 5.2.: Bartholomaeus Mastrius de Meldula et Bonaventura Belluti, Philosophiae ad mentem Scoti cursus integer, Venedig 1708. - Francis E. Kelley, Some Observations on the „fictum"-Theory in Ockham and its Relation to Hervaeus Natalis: FS 38 (1978) 260-282. - Franciscus de Mayronis, Quaestiones quodlibetales: ders., In libros sententiarum scriptum, Venedig 1520 Nachdr. Frankfurt a . M . 1966, fol. 227ra-262rb. - Franciscus Suärez, Disputationes metaphysicae: ders., Opera omnia, ed. Michel André, Paris, X X V - X X V I 1 8 7 7 . - T h o m a s v. Aquino, De natura generis: ders., Opuscula Philosophica, ed. Raymundi M . Spiazzi, Turin 1954, 175 - 2 0 4 . Zu 5.3.: Jan P. Beckmann, Ockham, Ockhamismus u. Nominalismus: FS 56 (1998) 7 7 - 9 5 . Egbert P. Bos/Henri Adrien Krop (Hg.), O c k h a m and Ockhamists, Nijmwegen 1987. - William J. Courtenay, The Reception of Ockham's Thought at the Univ. of Paris: Zénon Kaluza/Paul Vignaux (Hg.), Preuve et Raisons à l'Univ. de Paris. Logique, ontologie et théologie au XIVC siècle, 1981 (EPhM) 4 3 - 6 4 . - Ders., Adam Wodeham, 1978 (SMRT 21). - Franz Ehrle, Der Sentenzenkomm. Peters v. Candia, 1925 (FS.B 9). - Ruprecht Paqué, Das Pariser Nominalistenstatut, 1970 (QSGP 14). - Jan Pinborg, Die Entwicklung der Sprachtheorie im MA, 1967 '1985 (BGPhMA 42/2). - Gerhard Ritter, Stud, zur Spätscholastik, Heidelberg, II 1922; Nachdr. u.d.T.: Via antiqua u. via moderna auf den dt. Univ. des XV. Jh., Heidelberg 1963. Zu 6.: David M . Armstrong, Universals and Scientific Realism. II. A Theory of Universals, Cambridge 1983. - Roderick Chisholm, T h e First Person, London 1976; dt.: Die erste Person. Eine Theorie der Referenz u. der Intentionalität, Frankfurt a . M . 1992. - Michael Dummett, Truth and Other Enigmas, London 1978. - Kurt Flasch, Nikolaus v. Kues. Gesch. einer Entwicklung. Vorl. zur Einf. in seine Phil., Frankfurt a . M . 1998. - Carl. F. Gethmann, Art. Universalienstreit: EPhW 4 (1996) 413. - Etienne Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, London 1955. - Arend Heyting, Art. Intuitionismus: H W P 4 (1976) 5 4 0 - 5 4 4 . - Wolfgang Künne, Abstrakte Gegenstände. Semantik u. Ontologie, Frankfurt a . M . 1983. - Alessandro Manzoni, I promessi sposi, 1827; dt.: Die Verlobten, übers, v. Ernst Wiegand Junker, München 4 1988. - Gerhard Ritter (s.o. zu 5.3.). - Jakob H . J . Schneider, T h o m a s Hobbes u. die Spätscholastik, Diss. Bonn 1986. Edmund Runggaldier/Christian Kanzian, Grundprobleme der analytischen Ontologie, Paderborn/ München 1998 (UTB.W 2059). - Peter Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1959; dt.: Einzelding u. logisches Subjekt, Stuttgart 1972. — Ders., Analysis and Metaphysics, Oxford 1992. - John Trentmann, Scholasticism in the Seventeenth Century: T h e Cambridge History of Later Medieval Philosophy, hg. v. N o r m a n Kretzmann u.a., Cambridge 1982. - Ernst Tugendhat, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983. M a r c - A e i l k o Aris (Abschn. 5., 5.1.) Jan Peter B e c k m a n n (Abschn. 4.4., 5.3.) Ludger H o n n e f e l d e r (Abschn. 4., 4.2., 4.3.) Gabriel Jüssen (Abschn. 6.) R u t h M e y e r (Abschn. 2., 3., 4.1.) H a n n e s M ö h l e (Abschn. 5.2.) J o a c h i m R. Söder (Abschn. 1., 3., 4.1.) D a v i d Wirmer (Abschn. 4.)

Universalismus —>Heil u n d Erlösung, -••Wiederbringung aller D i n g e Universität 1. Mittelalter 2. Konfessionelles Zeitalter (1500-1650) 3. Rationalismus 4. Neuhumanismus und Großuniversität (19. und 20. Jh.) (Literatur S. 375) 1.

(1650-1800)

Mittelalter

D i e Universität bildete sich i m 12. Jh. in W e s t e u r o p a heraus. Sie entstand nicht durch einen f o r m a l e n G r ü n d u n g s a k t , s o n d e r n innerhalb einer längeren E n t w i c k l u n g . D i e europäische Universität ist mithin v o n ihrem Ursprung her eine g e w a c h s e n e , nicht eine gestiftete Institution. Rechtlich gesichert w u r d e n die Universitätsangehörigen erstmals

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1155/1158 durch die Authentica „Habita" Kaiser -»Friedrichs I. zugunsten der Bologneser Rechtsstudenten: Omnibus, qui studiorum causa peregrinantur, scolaribus et maxime divinarum atque sacrarum legurn professoribus (Allen, die um der Lehre willen wandern, Studenten und vor allem den Professoren der göttlichen und kirchlichen Gesetze), den amore scientiae facti exules (fahrende Leute aus Liebe zur Wissenschaft) wurde Freizügigkeit garantiert, eigener Gerichtsstand - damit war das Privilegium fori des Klerus auf Studenten und Lehrer ausgedehnt - , Befreiung von der Gesamthaftung der Korporation für ihre Mitglieder und kaiserlicher Schutz (MGH.DR, Die Urkunden Friedrichs I, Nr. 243). Universitas (studium generale, universitas magistrorum et scholarium) bezeichnete den Zusammenschluß der an einem Ort wirkenden Lehrer und Schüler zu einer privilegierten Korporation. Als älteste Universitäten haben Bologna, zusammengewachsen aus privaten Juristenschulen (älteste überlieferte Statuten 1252), und -»Paris, hervorgegangen aus geistlichen Schulen, insbesondere der Kathedralschule von Notre Dame (älteste Statuten 1215), zu gelten, daneben -»-Oxford und -»Cambridge. Paris und Bologna repräsentierten unterschiedliche Typen universitärer Verfassung und universitären Selbstverständnisses. Paris (wie Oxford) konstituierte sich als Magisterkorporation mit der Führung der Institution durch die Lehrkräfte, während Bologna als Studentenuniversität organisiert war (universitas scholarium, bis ins späte Mittelalter sogar zwei universitates der eis- und ultramontanen Studenten mit je einem Rektor; außerdem seit 1368 eine theologische Fakultät). Die Lehrer gehörten in Bologna nicht zur universitas, sondern wurden von ihr angestellt und schlössen sich in einem eigenen collegium doctorum zusammen. Organisatorisch durchstrukturiert war die neue Bildungsinstitution um die Mitte des 13. Jh. Universität war seither „eine Gemeinschaft, der man sich freiwillig anschloß, falls man in sie aufgenommen wurde. Sie war eine juristische Person, berechtigt, rechtskräftige Akte zu vollziehen und zu besiegeln, vor Gericht in eigenem Namen aufzutreten, sich Satzungen zu geben und sie ihren Mitgliedern gegenüber durchzusetzen" (J. Verger: Rüegg, Geschichte I, 51). Als Zeichen der Autonomie führte die Universität ein eigenes Siegel, als Ausweis der eigenen Gerichtsbarkeit dienten Szepter. Statuten und Satzungen, zunächst zur Abstellung von Mißständen erlassen, regelten seit dem 14. Jh. die internen Verhältnisse. Päpstliche Privilegien, seit Beginn des 13. Jh. den bereits bestehenden sowie neu zu gründenden Universitäten erteilt, verstetigten den von den Universitäten beanspruchten Universalismus, indem erworbene akademische Grade in der ganzen Christenheit galten, unbeschadet eines informellen Qualitätsgefälles des Ansehens der Grade, je nachdem von welcher Universität sie verliehen wurden. Die mit dem akademischen Grad des Magisters verbundene licentia ubique docendi gab den Graduierten das Recht, überall selbständig Vorlesungen zu halten, enthielt aber auch die Pflicht, an der verleihenden Fakultät zwei Jahre lang zu lehren (biennium). Mit der Erteilung der Grade wahrte die Korporation ihr Privileg auf Kooptation und Selbstergänzung des Lehrpersonals. Die akademischen Würden eröffneten nicht unbedingt eine Karriere außerhalb der Universität, vermehrten aber das Prestige der Absolventen. Mit der Zunahme der Bedeutung universitären Wissens wurde der Grad im 15. Jh. zum Qualifikationsnachweis und wichtig für den Erwerb von Ämtern in Kirche und Staat. Neben das Studium generale ex consuetudine, hervorgegangen aus bedeutenden Theologen-, Rechts- oder Medizinschulen, trat dasjenige ex privilegio, die durch formellen Gründungsakt von Landesfürst oder Stadt gestiftete Universität. Eine Frühform der staatlichen Universität stellte Neapel dar; 1224 von Kaiser -»Friedrich II. (reg. 1220— 1250) gegründet, sollte sie das Bologneser Monopol auf Juristenausbildung durchbrechen und die für das Königreich Sizilien benötigten Beamten und Richter heranziehen. Auch die Universitäten auf der Iberischen Halbinsel waren staatliche Gründungen: -»Salamanca 12. Jh. (Privilegien von 1243), Sevilla (1254), -»Coimbra (1290), Valladolid (1346) und —»Barcelona (1430). Im 14. Jh. griff die Universitätsidee auf den Bereich des Heiligen Römischen Reiches sowie Ost- und Nordeuropa aus. Befördert wurde die Gründungs-

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welle, die zu einer gleichmäßigeren Verteilung der höheren Bildungsstätten in Europa führte, durch das Schisma seit 1378, das die alten Universitäten, insbesondere Paris, spaltete und durch Segregation von Magistern und Studenten zu Neugründungen führte. Die erste Universität des Reiches wurde 1348 in —»Prag gegründet; es folgten —»Wien (1365/83), -»-Heidelberg (1386), -»Köln (1388), -•Erfurt (1392), -»Leipzig (1409), -»Rostock (1419) und -»-Löwen (1425). Eine zweite Gründungswelle setzte nach der Jahrhundertmitte ein: -»Greifswald (1456), -»Freiburg (1457), -»Basel (1459), -»Ingolstadt (1472), -»Trier (1473), -»Mainz (1477), -»Tübingen (1477), -»Wittenberg (1502), -»Frankfurt a.d.O. (1506). Universitäten wurden in diesem Zeitraum auch in Polen (-»Krakau 1364/97), in Ungarn (Pecz/Fünfkirchen 1367; Buda 1475), in Skandinavien (-»Uppsala 1477; -»Kopenhagen 1479) und Schottland (-»Saint Andrews 1412; Glasgow 1451; Aberdeen 1495), ferner in Frankreich, Spanien und Portugal gegründet, dagegen kaum in Italien und gar nicht in England. Insgesamt entstanden zwischen 1378 und 1400 in Europa sieben Universitäten, zwischen 1400 und 1450 waren es 19, zwischen 1451 und 1500 sogar 22, so daß um 1500 in Europa etwa 60 Universitäten bestanden (genaue Liste vgl. Rüegg, Geschichte I, 70ff.). Zu den geglückten Gründungen kam eine nicht geringe Zahl von Projekten, die trotz päpstlicher Genehmigung steckenblieben. Die neuen Universitäten orientierten sich meist am Pariser Modell der Magisteruniversität. Sie erhoben zwar noch universalistische Ansprüche, waren aber faktisch nur von regionaler Bedeutung. Träger der Neugründungen waren Fürsten oder Städte bzw. Städte als Mitgründer neben Fürsten. Als Gründungsmotive lassen sich nennen der Wunsch nach Teilhabe an der seit dem 12. Jh. erfolgenden Renaissance der Bildung, Prestigegründe (seit 1506 verfügte jedes Kurfürstentum über eine eigene Universität) sowie der im Zeichen einer sich professionalisierenden Bürokratie wachsende Bedarf an qualifizierten geistlichen und weltlichen Akademikern in der Kirche, an Höfen und in der städtischen Verwaltung. Professoren fungierten als „gelehrte Räte". Damit war die Universität eingespannt zwischen dem Interesse derer, die sie um Wissen und Erkenntnis willen besuchten (amore scierttiae), und dem Interesse derer, die praktisch nutzbare Ausbildung suchten, um ihren Sozialstatus zu steigern und bessere materielle Positionen zu erreichen. Diese Gegenläufigkeit bildeten schon die ersten Universitäten ab, insofern für Paris „die philosophisch-theologische Kontemplation und Theorie" bestimmend war, für Bologna dagegen „die juristische Aktion und Anwendung" (Borst, Geschichte 32).

Die Universität des Mittelalters war entweder eine spezialisierte Teil- oder eine universale Volluniversität. Bei den ex consuetudine entstandenen Universitäten war das Fehlen bzw. die Kümmerexistenz einzelner Fakultäten die Regel — Paris fehlte das Römische Recht, Bologna und die nach seinem Muster eingerichteten Hochschulen lehrten zunächst nur die beiden Rechte und einige artes-Fächer, Montpellier Jurisprudenz und Medizin, Padua Jurisprudenz und Artes, Salerno ausschließlich Medizin. Theologie war nur in Paris, Oxford, Cambridge, Toulouse und an den spanischen Universitäten vertreten; bis zur Gründung Prags waren nur Paris, die beiden englischen sowie die spanischen Universitäten berechtigt, theologische Grade zu verleihen. Päpstliche Privilegien verweigerten neuen Gründungen zunächst häufig die theologische Fakultät. Die Volluniversität umfaßte vier Fakultäten: Artes, Medizin (zumeist sehr dürftig ausgestattet), Recht (häufig geteilt in kanonisches und römisches Recht), Theologie. Jede Fakultät gab sich Statuten, verfügte über eigene Gremien und einen Dekan. An der Spitze der Universität stand der Rektor, der die Universität nach außen vertrat und nach innen die ursprünglich dem Diözesanbischof zustehende Richtergewalt wahrnahm. Zunächst von unterschiedlichen Gremien gewählt, setzte sich in den Universitäten Mittel- und Nordeuropas die Wahl durch das Kollegium der Dozenten durch. Das oberste Verwaltungs- und Entscheidungsgremium der Universität war die congregatio generalis (concilium generale, congregatio plena), bestehend entweder nur aus den Magistern oder aus Magistern und Studenten oder aus Studenten allein. Die kirchliche Aufsicht übte im allgemeinen der zuständige Bischof als Kanzler aus; seine Befugnisse waren aber durch das Autonomiestreben der Universität zu dem nicht mit Prüfungskompetenz ausgestatteten Recht, auf Vorschlag der jeweiligen Fakultät die akademischen Grade zu

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verleihen, v e r k ü m m e r t . Z u r Sicherung der Freiheiten und R e c h t e wurden durch die päpstlichen Privilegien apostolische Konservatoren eingesetzt, zumeist benachbarte Prälaten. Die Universität beschäftigte in ihrer Verwaltung syndici, quaestores aerarii, receptores-, als „ U n i v e r s i t ä t s v e r w a n d t e " gehörten alle mit Büchern, später auch mit Instrumenten kommerziell beschäftigten Personen zur H o c h s c h u l e und hatten an deren Privilegien Anteil. Die Universität besaß im allgemeinen, wenn auch durch fürstlich-städtische Zustimmungsrechte beschränkt, die Personalhoheit. Sie verfügte über einen Kernbestand fest angestellter Universitätslehrer, der zumeist nicht umfangreich war. Diese professores ordinarii hielten die prüfungsrelevanten Lehrveranstaltungen ab. Prinzipiell wurden alle Mitglieder des Lehrkörpers als clerici angesehen, auch wenn in Medizin und Jurisprudenz schon früh Laien Professuren innehatten. In der Artistenfakultät lehrten neben wenigen hauptberuflichen Professoren vor allem junge Magister, die zugleich an einer der oberen Fakultäten weiterstudierten. Wissensstoff und Lehrinhalte waren kanonisiert und hierarchisiert. Die an der Universität vertretenen Fächer repräsentierten eine Buchwissenschaft, während Erfahrungs- und Experimentalwissenschaften ausgeschlossen waren; der Praxisbezug blieb den Juristen vorbehalten. Die Basis des akademischen Unterrichts bildeten in der unteren Fakultät die -*artes liberales im Trivium der sprachlichen Fächer: Grammatik, -»Rhetorik, Dialektik (in Paris und Oxford schon früh durch die Logik sowie die aristotelische Naturphilosophie und Metaphysik verdrängt), und im Quadrivium der mathematischen Fächer: Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Als Autoritäten dienten vor allem Priscianus (um 500) und Aelius Donatus (ca. 3 1 0 - 3 8 0 ) , -»Aristoteles, Cicero ( 1 0 6 - 4 3 v.Chr.), -»Boethius, Euklid (um 300 v.Chr.) und Johannes de Sacrobosco (gest. 1256). In der Medizin wurden Galen (ca. 1 3 0 - 1 9 9 ) und Avicenna (Ibn Sina [980-1037]) zugrunde gelegt, in der Jurisprudenz das Corpus Iuris Canonici (-»Kirchenrechtsquellen) und das Corpus Iuris Civilis mit den Glossae ordinariae (glossae magnae) und den Kommentaren. Der mos ltalicus bemühte sich im 15. Jh. um die Aktualisierung der Rechtsquellen, während der mos Gallicus sich im Gefolge des Humanismus auf historische und philologische Interpretation und Kritik konzentrierte. In der Theologie wurden die Bibel und die Sentenzen des -»Petrus Lombardus ausgelegt. L e h r f o r m e n waren die lectura (lectio) des Textes mit Erklärungen des Dozenten sowie die regelmäßig abgehaltene ->Disputatio über quaestiones, die sich aus den T e x t e n ergaben, o d e r freie Disputationen (disputationes quodlibeticae). Über die M e t h o d e n des akademischen Unterrichts in der artistischen und der theologischen Fakultät k a m es im 15. J h . zum sog. Wegestreit zwischen Realisten (via antiqua mit den Autoritäten - » A l b e r t der G r o ß e , - » T h o m a s von Aquino und - » D u n s Scotus) und Nominalisten (via moderna mit den Autoritäten Wilhelm von - » O c k h a m , J o h a n n e s Buridanus [vor 1300— n a c h 1358] und Marsilius von Inghen [gest. 1396]), der häufig zum Auszug der unterliegenden Partei aus der Universität führte, bis seit der M i t t e des 15. J h . zumeist beide Wege nebeneinander als eigene Studiengänge zugelassen wurden, wobei der R e a lismus thomistischer P r ä g u n g dominierte. Die gemeinsame Wissenschafts- und Lehrsprache Latein garantierte die Offenheit der europäischen Universitäten für Studenten jedweder geographischer Herkunft (peregrinatio académica). Zulassungsbedingung zur mittelalterlichen Universität war lediglich das christliche Bekenntnis, während Lebensalter und Vorbildung unwichtig waren. Die Immatrikulation war, wenn der Student nicht als pauper anerkannt wurde, mit Gebühren verbunden, der Immatrikulationseid verpflichtete zum Gehorsam gegenüber dem Rektor, zur Beachtung der Statuten, Förderung des Wohls der Universität, Wahrung des Friedens und Vertraulichkeit bei den Interna der Hochschule. Nominell galten die Studenten als clerici, faktisch traf dies um 1500 nur noch auf eine Minderheit zu. Nach dem Vorbild der ersten Universitäten organisierten sich die Studenten an vielfrequentierten Hochschulen nach geographischer Herkunft in nationes, von denen es in Bologna schließlich 20, sonst üblicherweise vier (in Perugia dagegen zehn, in Oxford zwei) gab. Die Studenten lebten in Kollegien und Bursen bzw. Halls, zunächst Stiftungen zur Unterbringung einer begrenzten Gruppe von Studenten, in denen der Lehrstoff unter Anleitung repetiert wurde. Später vollzog sich der Unterricht in artes und Theologie teilweise fast ganz in den Kollegien unter Zulassung auch von Nichtkollegiaten, während die Fakultäten nur noch Prüfungen und Graduierungen besorgten. In Paris, Oxford und Cambridge bildeten die Kollegien faktisch die Universität. In den Universitäten Mitteleuropas entstand als neuer Typ das Universitätsstift und das collegium maius (collegium artistarum) als Wohnung und Wirkungsstätte der Magister. Wegen der privilegierten Rechtsstellung

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kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Bürgerschaft („town and gown"), was zu temporären Schließungen der Universität durch den Rektor oder zu Auszügen der Universitätsangehörigen mit entsprechenden ökonomischen Negativfolgen für die Stadtbevölkerung führte. Über 90 Prozent der Studenten verließen die Universität nach einer Verweildauer von bis zu zwei Jahren als simplex ohne Abschluß („Studienabbrecher"). Als formale Examensabfolge bildeten sich heraus: Baccalaureus artium (nach 2 - 2 Vi Jahren Studium); Magister artium ( 2 - 3 Jahre später); Baccalaureus und Magister in einer der oberen Fakultäten und schließlich der Licentiatus in Medizin, Theologie, geistlichem bzw. weltlichem Recht oder in beiden Rechten. Zum Doktor ließ sich promovieren, wer nach dem Lizentiat die beträchtlichen Gebühren aufbringen konnte oder wollte.

Durch ihren Ursprung als Personenverband bedingt, verfügte die Universität zunächst über kein Grundeigentum; die Lehrveranstaltungen fanden in von den Magistern gemieteten oder gekauften Privathäusern und in kirchlichen Gebäuden statt. Die Gründungsuniversitäten wurden häufig bei Stiftung oder kurz danach mit Häusern ausgestattet. ökonomisch waren die Universitäten autark. Nachdem in den Anfängen das Lehrpersonal von den Studenten bezahlt worden war, erhielten die festangestellten Professoren auf fürstlichen oder eigenen Antrag von der römischen Kurie Pfründen zugewiesen unter Dispens von der Residenzpflicht oder wurden vom Fürsten bzw. Stadtmagistrat mit Gehältern versehen. Das Vermögen der Universität setzte sich zusammen aus Stiftungen von Privatpersonen, fürstlichen Schenkungen und Zuwendungen. Immatrikulations- und Examensgebühren stellten weitere Finanzquellen dar. In Konkurrenz zu den Universitäten bauten die Bettelorden ihr traditionelles Schulsystem aus und errichteten ordensinterne Studio generalia, deren Personalhoheit bei den Ordensoberen lag. Nicht selten wurden die Ordensstudien zu Keimzellen von Universitäten (Wien, Köln, Erfurt) oder verkümmerten zu Kollegien für Ordensstudenten im Rahmen der Universität.

2. Konfessionelles

Zeitalter

(1500-1650)

Der -»Humanismus veränderte die Bildungsinhalte der Universität vor allem in der artistischen und in der theologischen Fakultät, nachdem die neue geistige Bewegung zunächst nur zögernd an den Universitäten Fuß gefaßt hatte. In Italien gewann sie um die Mitte des 15. Jh. endgültig Einfluß auf die artistischen Studien, wobei insbesondere das Trivium reformiert wurde. Das Studium der antiken und frühchristlichen Autoren ersetzte die Beschäftigung mit Autoritäten und Traditionen, die alten Lehrbücher wurden teilweise gegen neue ausgetauscht; humanista wurde in Analogiebildung zu iurista, canonista, artista u.ä. zur Berufsbezeichnung für die Lehrer der klassischen Literatur. Der Fächerkanon der Artistenfakultät wurde um Poesie, Moralphilosophie und Geschichte erweitert. Im außeritalienischen Europa setzte sich der Humanismus an den Universitäten um 1500 durch, nachdem er zunächst als Hof- und Reichsstadthumanismus zu einer ersten Blüte gekommen war. Das neue Medium des Buchdrucks war der Verbreitung humanistischen Gedankenguts außerordentlich förderlich, ebenso die peregrinatio academica der Studenten und Magister. Ziel des Universitätshumanismus war die Vermittlung und der Erwerb von eloquentia und sapientia, ratio und oratio. Der Rektor der Straßburger Schule (-»•Straßbürg) J. -»Sturm formulierte als Absicht des Universitätshumanismus 1538: Fropositum a nobis est sapientem atque eloquentem pietatem finem esse studiorum (Wir haben uns vorgenommen, daß eine kluge und beredte Frömmigkeit das Ziel des Studiums sein soll; zit. nach Schindling, Hochschule 31). Dieser humanistischen Maxime folgend, wurde zum wichtigsten Fach in der artistischen Fakultät die Rhetorik als Lehre vom richtigen Denken, von der richtigen Rede und vom Stil. Die ersten Universitätshumanisten in Deutschland waren italienische und deutsche Wandergelehrte, die den widerstrebenden Universitäten häufig von den Landesfürsten aufgenötigt wurden. Unterstützt wurde die Durchdringung der Universität mit humanistischem Geist durch sodalitates litterariae und Humanistenzirkel in den Universitätsstädten oder in ihrer Nähe. Ständige Lektüren für Poesie und Eloquenz wurden zuerst 1493 in Wien und 1497 in Tübingen errichtet. Universitätsreformen im Geist des Hu-

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manismus modernisierten - häufig in Form von Statutenänderungen — im ersten Drittel des 16. Jh. Erfurt und Leipzig (1519), Rostock (1520), Greifswald (1521), Heidelberg (1522), Tübingen und Freiburg (1525). Die Artistenfakultät in Wittenberg war schon bei Gründung der Universität mit drei Lehrern der litterae kumanae ausgestattet worden. Das Programm des christlichen Humanismus, das in der Folgezeit vor allem von den evangelischen Universitäten in die Tat umgesetzt wurde, formulierte —»Melanchthon in seiner Wittenberger Antrittsrede 1518: De corrigendis adolescentiae studiis. Er forderte Priorität für das Studium der klassischen Sprachen, insbesondere des Griechischen, und Textlektüre. Diese Studien waren aber nicht Selbstzweck: Cum animos ad fontes contulerimus, Christum sapere incipiemus (Wenn wir unseren Sinn auf die Quellen gerichtet haben, werden wir anfangen, Christus zu erkennen; CR XI, 23). Das Studium in der unteren Fakultät sollte anhand der Lektüre klassischer Autoren ein reduziertes Trivium sowie modernisierte Naturwissenschaften, Ethik und Geschichte umfassen. -•Luther räumte 1520 in seiner Schrift An den christlichen Adel der Universität einen eigenen Abschnitt ein (WA 6,457-462). Während er die Reform des Medizinstudiums den Ärzten überließ, forderte er, die Lehre des Kanonischen Rechts in der juristischen Fakultät zugunsten des Landrechts und der Landesgewohnheiten abzuschaffen, und empfahl, das Römische Recht nur subsidiär heranzuziehen. War „der blind heydnische meyster Aristoteles" für Logik, Rhetorik und Poetik beizubehalten, wenn auch ohne Kommentare, hatten sich die Theologen ganz auf die Heilige Schrift zu konzentrieren, die Sentenzen des Lombarden sollten entfallen, die Kirchenväter nur als Wegweiser für das Schriftstudium genutzt werden. Der Rigorismus Luthers gegenüber der aristotelischen Tradition wurde durch Melanchthon korrigiert. Er verfaßte selbst Kommentare zu Schriften des Aristoteles und veranstaltete Editionen klassischer Texte. Vor allem aber war Melanchthon als evangelischer Wissenschaftsorganisator tätig, Ratgeber bei der Reform bestehender und beim Aufbau neuer Universitäten (sowie Gymnasien).

Mit den Anfängen der -»Reformation und dem damit verbundenen Rückgang kirchlicher Stellen war eine Krise der traditionellen Bildung verbunden, die sich als Frequenzkrise der Universität manifestierte. Die neuen Normen und Werte ließen Studium und gelehrtes Wissen eher als glaubensverhindernd denn als giaubensfördernd erscheinen. Gegen die gelegentlich auftretende Bildungsverachtung evangelischer Prediger schrieb Eobanus Hessus (1488-1540) 1523 in Erfurt seinen Traktat De nort contemnendis studiis humanioribus futuro theologo maxime necessariis, und noch 1528 klagte -»Erasmus: Ubicunque regnat Luteranismus, ibi litterarum est interitus (Wo immer Luthers Lehre herrscht, kommt es zum Untergang der Wissenschaft; Opera Epistolarum Desiderii Erasmi Roterodami, hg. v. Percy Stafford Allen u.a., Oxford, VII 1928, 366). Die Universität Erfurt war schon 1521 durch den Pfaffensturm ruiniert worden, die sog. Wittenberger Bewegung 1522 brachte auch Wittenberg in Gefahr - die Zahl der Studierenden ging um die Hälfte zurück. Im Durchschnitt sanken die Immatrikulationen im Reich zwischen 1520 und 1530 auf etwa ein Drittel, um danach bis 1550 allmählich wieder auf die alte Höhe zu steigen. Neben Erfurt waren besonders Köln und Greifswald, das zwischen 1527 und 1539 faktisch nicht mehr bestand, von der Frequenzkrise betroffen. Nachhaltige Aufbauarbeit überwand jedoch die Krise. Bis zur Jahrhundertmitte wurden mit Marburg (1527) und -»Königsberg (1544) zwei evangelische Universitäten gegründet, Marburg mit nachträglichem (1541) kaiserlichem Privileg, Königsberg nur mit königlich polnischem Privileg. Mit Einführung der Reformation in reichsständischen Territorien wurden die Landesuniversitäten nach Wittenberger Muster reformiert, so Tübingen, Leipzig, Frankfurt a.d.O., Greifswald, Basel, Heidelberg und Rostock. Nach dem Übertritt ihrer Landesherren zum Calvinismus wurden Heidelberg, Frankfurt a.d.O. und zeitweise Marburg (1605-1625) auf das reformierte Bekenntnis verpflichtet; als reformierte Universitäten entstanden 1584 -»Herborn, das allerdings niemals über ein kaiserliches Privileg verfügte und daher kein Promotionsrecht besaß, und -»Duisburg 1654, wo der „Große Kurfürst" Friedrich Wilhelm (reg. 1640-1688) Privilegien nutzen konnte, die 1566 Herzog Wilhelm von Jülich-KleveBerg (reg. 1539-1592) erhalten hatte. Nur kurzfristig (1578-1585) bestand Neustadt a.d. Weinstraße als Gegengründung zum vorübergehend lutherisch gewordenen Heidelberg.

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Neben die Universitäten traten in der zweiten Hälfte des 16. Jh. auf evangelischer Seite die Gymnasia illustria, Semiuniversitäten, die in Reichsstädten und kleineren, häufig reformierten Territorien als Vorbereitungsanstalten für auswärtigen Hochschulbesuch, aber auch als Ausbildungsanstalt für den eigenen Kirchen- und Schuldienst errichtet wurden. Vorbild des Gymnasium illustre waren die Schweizer Hohen Schulen, berühmtestes und maßstabsetzendes Gymnasium war die Straßburger Schule (1539 gegründet), geprägt von der Methodus docendi discendive Johannes Sturms. In zehn Klassen wurde der Stoff der höheren Schulen vermittelt, daran schlössen sich lectiones publicae in artistischen Fächern sowie in der Theologie an. Wichtig war für Sturm vor allem lateinische Sprachkompetenz zur Schulung von Stil und Denken. Die Gymnasia illustria erhielten, wenn überhaupt, ein kaiserliches „Halbprivileg" (Straßburg 1566) mit Promotionsrecht in den artistischen Fächern. Nach dem Muster von Straßburg wurden u.a. Hornbach (1558), Neuburg (1562/63), Zerbst (1582), Bremen (1584) und Steinfurt (1591) gegründet. Aus Gymnasien entwickelten sich die Universitäten in -»Rinteln, -»Straßburg und -»Altdorf. In den österreichischen Erblanden errichtete der evangelische Adel eigene Landschaftsschulen - die wichtigste Gründung war Graz (1574, mit einer von D. —»Chytraeus verfaßten Schulordnung), ferner Linz, Klagenfurt, Laibach, Loosdorf. Durch die gegenreformatorische Politik der Habsburger wurden diese Landschaftsschulen seit Ende des 16. Jh. behindert und schließlich unterdrückt. In verschiedenen Punkten an Sturms Straßburger Gymnasium orientiert, wurde 1559 die Akademie in -»Genf ins Leben gerufen, an der in Vorschule (Schola privata) und Hauptschule (Schola publica) die artesFächer und Theologie gelehrt wurden. Die Genfer Akademie erreichte rasch große Ausstrahlung—1564 studierten 1.200 Personen an der Schola privata und 300 an der Schola publica, überwiegend aus Frankreich stammend, daneben aus den Niederlanden, England, Schottland und Deutschland. In Frankreich entstanden nach Genfer Muster in der zweiten Hälfte des 16. Jh. die Hugenottenakademien in Nîmes (1561), Saumur (1593, begründet von Duplessis-Mornay), Montauban (1598), Montpellier (1598), Sedan (1599/ 1602), Dié (1601/04). Die „Normalausstattung" einer evangelischen Universität im Reich sah im 16. Jh. folgendermaßen aus: Theologische Fakultät — drei Lehrstühle (Neues Testament; Altes Testament, verbunden häufig mit Hebräisch; Dogmatik); juristische Fakultät - vier Lehrstühle (Pandekten; Dekretalen; Codex Iustiniani; Institutionen); medizinische Fakultät - drei Lehrstühle (Therapie; Pathologie; Physiologie); artistische Fakultät - zwischen fünf und zehn Lehrstühle (Heidelberg 1580: Griechisch; Ethik; Physik; Mathematik; Poetik; Rhetorik; das Trivium, d.h. die dialektischen und logischen Elementarkurse, sowie der Lateinunterricht blieben den Bursen überlassen). Die Professoren der oberen Fakultäten waren zugleich in fürstlichen Diensten tätig, die Mediziner als Leibärzte, die Theologen als Gutachter in geistlichen und Ehesachen (später als Mitglieder im Konsistorium, womit sie unmittelbaren Einfluß auf die Landeskirchenpolitik nehmen konnten), die Juristen als Beisitzer am Hofgericht und als Gutachter in Rechtsfragen. Vorlesungen und Disputationen blieben als Lehrveranstaltungstypen erhalten; hinzu traten declamationes als rhetorische Übung. Das traditionelle Organisationsgefüge wurde nicht angetastet. Die evangelischen Hochschulen verloren ihren klerikalen Charakter, damit aber zugleich den Rückhalt an der Kirche, so daß sie dem Zugriff des Staates ungeschützt ausgesetzt waren. Mit der zunehmenden Wandlung zur Staatsanstalt (seminarium ecclesiae et reipublicae) ging der frühere Universalismus weithin verloren - Wittenberg und Leipzig waren allerdings im 16. Jh. stets mehr als nur Landesuniversitäten. Kennzeichen der evangelischen Universität der frühen Neuzeit wurde das gewandelte Selbstverständnis der Artistenfakultät, die seit der Institutionalisierung fester Stellen mit genauer Lehrstuhldenomination an Selbstbewußtsein gewann. In der zweiten Hälfte des 16. Jh. setzte sich die neue Bezeichnung „Philosophische Fakultät" allmählich durch.

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Um dem Studentenmangel abzuhelfen, wurden in Wiederaufnahme der alten studentischen Lebensformen Stipendienanstalten für bedürftige Theologiestudenten errichtet, so bei der Gründung von -»Marburg, nach der Reform in Tübingen (das Tübinger Stift) und Heidelberg (Collegium Sapietitiae), in -»Leiden (Universität) das Ständekolleg und das Wallonische Kolleg. Zumeist waren diese Anstalten auf säkularisiertes Kirchengut fundiert und in ehemaligen Klostergebäuden untergebracht - Träger bzw. Aufsichtsinstanz waren entweder die Stände und der Fürst, der Fürst allein oder die Kirche. Wer ein Stipendium annahm, verpflichtete sich zum Kirchen- oder Schuldienst im Lande.

Die Zeit seit 1550 war in ganz Europa durch eine neue Welle von Universitätsgründungen gekennzeichnet, der erst um 1650 eine gewisse Stagnation folgte. Verfügten die Katholiken 1550 über 22 und die Evangelischen über fünf Universitäten, so wurden bis 1600 31 katholische und 16 evangelische Universitäten gegründet, zwischen 1601 und 1650 weitere 14 katholische und zehn evangelische (vgl. Rüegg, Geschichte II, 74). Die Gründungen im Reich spiegelten die weiter zunehmende Territorialisierung wider: -»Dillingen (1553), -»Jena (1557/58), -»Würzburg (1576), -»Helmstedt (1576), Herborn (1584), -»Graz (1586), -^Gießen (1607), Paderborn (1615), Molsheim (1617), Rinteln (1621), Straßburg (1621), Altdorf (1622), -»Salzburg (1622) und Bamberg (1648). Häufig gingen die Universitäten aus schon bestehenden Gymnasien oder Akademien hervor. Kassel und Osnabrück waren Fehlgründungen, Münster kam trotz päpstlicher und kaiserlicher Privilegierung (1631) gar nicht erst zustande. Kennzeichen aller Universitäten waren ihre eindeutige konfessionelle Ausrichtung, die straffe landesfürstliche bzw. reichsstädtische Lenkung und das späthumanistische Bildungsprogramm. Seit der Protestantisierung Heidelbergs (1556) gab es im Reich nur noch sieben alte katholische Universitäten, von denen Erfurt, Mainz und Trier in völligem Verfall waren, Freiburg, Köln und Wien deutliche Krisenzeichen vor allem in ihren theologischen Fakultäten aufwiesen, während allein das bayerische Ingolstadt dank der aktiven herzoglichen Hochschulpolitik seine frühere Stellung nicht nur behaupten, sondern auch ausbauen konnte. Das Seminardekret des Trienter Konzils vom 15. Juli 1563 (Sess. XXIII can. XVIII) legte zwar den Grundstein für eine Sanierung des katholischen Bildungswesens, kam aber den Universitäten nur indirekt zugute, da es den Bischöfen zur Pflicht machte, in ihrer Residenzstadt ein Kolleg zur Priesterausbildung zu errichten, womit den theologischen Fakultäten ein großer Teil ihrer potentiellen Klientel entzogen wurde. Die dennoch entstehenden neuen katholischen Universitäten gingen fast alle aus bischöflicher Initiative hervor und waren außer Würzburg Zwei-Fakultäten-Universitäten (philosophische und theologische Fakultät), die aber durch päpstliche und kaiserliche Privilegien über die herkömmlichen Rechte und Freiheiten von Volluniversitäten verfügten. Die theologische Uniformität wurde durch die —>Professto fidei Tridentina (1564) hergestellt, von deren vorheriger Ablegung der Erwerb eines akademischen Grades abhängig gemacht wurde; häufig war sie auch Voraussetzung der Immatrikulation. 1648 waren an den damals bestehenden 17 katholischen Universitäten im Reich -»Jesuiten als Professoren tätig - außer an der Universität Salzburg, die den Benediktinern übertragen worden war (vgl. das Schaubild K bei Hengst 298); nicht selten gingen die neuen Universitäten aus Jesuitengymnasien oder -kollegien hervor. Entweder übernahmen die Jesuiten einzelne Lehrstühle oder ganze Fakultäten, oder ihnen wurde die Universität als Institution übertragen (sub cura, regimine et administratione Societatis Iesu praepositi generalis; Hengst 164) - in diesem Fall lagen Verwaltung und Personalrekrutierung in der Hand des Ordens. Jesuitenuniversitäten dieser Definition waren Dillingen, Paderborn, Molsheim, Osnabrück und Bamberg. Der Orden hatte als einzige Institution der katholischen Kirche genaue und einheitliche Vorstellungen über Aufbau und Gestaltung eines geisteswissenschaftlich-theologischen Studiums entwickelt, die nach der Kolleg- und Studienordnung von Jakob Lainez (1559) ihre abschließende Form 1599 in der Ratio atque institutio studiorum societatis Iesu fanden. Ursprünglich nur für den internen Schul- und Studienbetrieb bestimmt, wurde die Ratio studiorum auch auf die katholischen Universitäten übertragen. Formal bestand sie lediglich aus einzelnen Regeln für die Aufgaben der Lehrpersonen und die Durchführung der Examina. Der Ausbildungsgang war geteilt in studia inferiora (Gymnasialstufe und Teile der artistischen Disziplinen) und studia superiora (Physik, Mathematik, Metaphysik mit Ethik - alles

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nach Aristoteles - sowie Heilige Schrift, Hebräisch, Dogmatik, Kontroverstheologie, Kasuistik, Kirchenrecht, Kirchengeschichte - die Regeln für die beiden letztgenannten Fächer wurden später hinzugefügt). Jedem Lehrer wurde aufgegeben: tum in lectionibus ... tum extra eas (in den Lehrveranstaltungen und außerhalb derselben) seine Hörer ad obsequium et amorem Dei ac virtutum (zum Gehorsam und zur Liebe zu Gott und den Tugenden) zu führen; die erste Regel des Professor Sacrae Scripturae lautete: lntelligat suas praecipue partes esse divinas litteras iuxta germanum litteralemque sensum, qui rectam in Deum fidem bonorumque morum instituta confirmet, pie, docte, graviter explicare (Er soll wissen, daß es hauptsächlich seine Aufgabe ist, die heilige Schrift nach ihrem eigentlichen und wörtlichen Sinn, der den richtigen Glauben an Gott und die guten Sitten befestigt, gewissenhaft, richtig und ernsthaft zu erklären). Der Einfluß des Jesuitenordens auf die katholischen Universitäten der frühen Neuzeit ist kaum zu überschätzen.

An den französischen Universitäten wurden die Lehrstühle der philosophischen und theologischen Fakultäten vielfach von Jesuiten besetzt, der Klerus zumeist in kircheneigenen Priesterseminaren ausgebildet. Im konfessionellen Bürgerkrieg übernahm die Sorbonne die geistige Führerschaft der katholisch-ligistischen Intransigenten; die durch die kriegerischen Ereignisse zerrütteten Universitäten wurden seit Anfang des 17. Jh. einer stärkeren Staatsaufsicht unterworfen. Die italienischen Universitäten blieben international attraktiv in den konfessionsfernen Disziplinen Jurisprudenz und Medizin; die Bulle In Sacrosancta von 1564, die eine akademische Graduierung vom katholischen Bekenntnis abhängig machte, wurde vielfach umgangen. Selbst in Bologna stieg die Zahl der evangelischen Studenten in der zweiten Hälfte des 16. Jh. Die Universitäten auf der Iberischen Halbinsel, insbesondere Alcalá (gegründet 1508, 1836 nach Madrid verlegt), Salamanca und Vallodolid, blieben Hochburgen des Kanonischen Rechts. Jesuiten und Dominikaner besetzten die wichtigsten Lehrstühle. Seit —»Philipp II. hatten die Universitäten die gegenreformatorische Politik zu unterstützen. 1559 wurde der Besuch nichtspanischer Universitäten außer Rom, Neapel, Coimbra und des Spanischen Kollegs in Bologna verboten. In seinem Kolonialreich gründete Spanien in der zweiten Hälfte des 16. Jh. Universitäten, in Santo Domingo schon 1538, in Mexiko und Lima 1551, Guatemala 1562 und Manila 1611. In Nordost- und Ostmitteleuropa entstanden neue Universitäten in Olmütz (1576), Wilna (1579) und Pest (1635). Die schwedische Schöpfung —»Dorpat (1632) hatte nur wenige Jahrzehnte Bestand (1802 neu gegründet), im Gegensatz zu Ábo/Turku (1640 gegründet, 1827 nach Helsinki verlegt). Löwen steigerte durch das der Universität angegliederte Collegium Tricoronatum und durch die humanistische Prägung der Lehrinhalte in der ersten Hälfte des 16. Jh. trotz aktiver Beteiligung an der geistigen Bekämpfung der Reformation seine Attraktivität, wurde aber dann mit der Stiftung landesfürstlicher Lehrstühle stärker als vorher der staatlichen Kontrolle unterworfen. In der Reform von 1607 konnten zwar jesuitische Ansprüche abgewehrt werden, Studenten und Lehrpersonal mußten sich jedoch auf das tridentinische Glaubensbekenntnis verpflichten. Die Wirksamkeit von C. -»Jansen (1618-1635) prägte die Löwener Theologie trotz römischer Verurteilungen nachhaltig. Die Niederlande begründeten noch während des Unabhängigkeitskampfes 1575 auf Initiative Wilhelms von Oranien (1533-1584) die Universität Leiden, die rasch durch bedeutende Gelehrte (Justus Lipsius [1547—1606], Hugo Donellus [1527-1591], Joseph Justus Scaliger [1540—1609]) einen besonderen Ruf in klassischer Philologie und Philosophie, später auch Medizin und Naturwissenschaften gewann. Im Dreißigjährigen Krieg war Leiden hinter Leipzig die meistfrequentierte evangelische Universität mit einem Ausländeranteil von 5 2 % . Leiden wie auch —»Franeker (1585; 1811 reduziert auf ein Athenaeum Illustre, 1843 aufgehoben), -»Groningen (1614), -»Amsterdam (1632 als Athenaeum Illustre gegründet) und -»Utrecht (1636) verfügten über keine kaiserlichen Privilegien (Leiden behalf sich mit einer gefälschten Gründungsurkunde Philipps II.), verliehen aber kraft eigenen Rechtes akademische Grade, die überall anerkannt wurden. In England entstand im konfessionellen Zeitalter keine neue Universität. Oxford und Cambridge wurden unter Elisabeth I. (1533-1603) verstärkt der Staatsaufsicht unterstellt, erhielten aber 1604 je zwei Sitze im Parlament. Katholiken und Dissenters waren

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von akademischen Würden ausgeschlossen, da seit 1617 als Voraussetzung für die Graduierung die Unterschrift unter den Act of Supremacy, die Benutzung des ->Book of Common Prayer und der Eid auf die 39 Religionsartikel von 1563 verlangt wurde. Mit Genehmigung Jakobs VI. von Schottland (1566—1625) gründete der Stadtrat von -»Edinburgh 1582 eine presbyterianisch geprägte Universität. Irland erhielt 1591 in -»Dublin eine anglikanische Universität. Die frühneuzeitliche Professionalisierung akademischer Berufe (Theologe, Mediziner und Jurist) begünstigte die Universitäten, auch wenn die katholische Kirche ihren Nachwuchs weithin in eigenen Lehranstalten ausbildete. Die in der zweiten Hälfte des 16. Jh. zunehmende Konfessionalisierung löste die bisherige respublica litteraria auf, die peregrinatio académica erstreckte sich seither nur noch auf konfessionsverwandte Hochschulen und ging lediglich in den religionsfernen Disziplinen Medizin und Jurisprudenz darüber hinaus. Latein blieb verbindliche Lehrsprache. Neben die bisher dominierenden Fakultäts- und Kollegienbibliotheken traten Universitätsbibliotheken, wobei in evangelischen Territorien vielfach der Bücherbesitz aufgelöster Klöster inkorporiert wurde. Die ersten botanischen Gärten zur Unterstützung der Heilmittelkenntnis wurden um die Jahrhundertmitte in Padua und Pisa angelegt, seit Ende des 16. Jh. auch an deutschen Universitäten. Den ersten Lehrstuhl für Botanik errichtete Heinrich IV. (1553-1610) 1593 in Montpellier. Das erste Theatrum anatomicum entstand in Padua, ein weiteres in Leiden.

3. Rationalismus

(1650-1800)

Das 17. und 18. Jh. gilt häufig als Zeit der Stagnation, da die -»Aufklärung die Universität gar nicht oder nur spät erfaßt habe. Diese Meinung ist jedoch nur partiell zutreffend, insofern in Mitteleuropa, vor allem im Reich und in den Niederlanden, Universitäten die modernen Wissenschaftskonzeptionen durchaus übernahmen. Seit dem Ende des 17. Jh. wurden von interessierten Landesherren Reformen, die oft tief in das traditionelle Wissenschaftsverständnis einschnitten, durchgeführt bzw. neue Universitäten gegründet, die den Aufklärungsprinzipien verpflichtet waren. Zwischen 1650 und 1790 entstanden 40 neue Universitäten in Europa, davon 28 katholische und zwölf evangelische — dem standen 31 Schließungen und Verlegungen gegenüber (diese wie die folgenden Zahlen nach W. Frijhoff: Rüegg, Geschichte II, 74.79). Am Vorabend der -•Französischen Revolution gab es in Europa 143 Universitäten, wobei die größte Universitätsdichte (bezogen auf die Bevölkerungszahl) in Schottland (auf 1 Million Einwohner 3,3 Universitäten), Holland (Faktor 2,4), Spanien (2,0), Italien und Deutschland (jeweils 1,4) bestand. Ausgeglichen (Faktor 1,0) war das Verhältnis in Frankreich, Skandinavien und in der Schweiz, unterversorgt waren Österreich-Ungarn (0,5), Portugal (0,4), England (0,2) und das europäische Rußland (0,1). Im Reich wurden nach 1650 Duisburg (1654), -»Kiel (1665), -»Halle (1694), Fulda (1734 als Benediktineruniversität), -•Göttingen (1737), -»Erlangen (1743), -»Münster (1780) und -»Bonn (1786) gegründet. Kurzlebig blieb die aus einer Spaltung in Rostock hervorgegangene Universität Bützow (1760— 1789), während -»Breslau (1702) nur eine jesuitische Zwei-Fakultäten-Universität war und die vom Großherzog und Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg (1744-1814) 1804 als Ersatz für Mainz in Aschaffenburg gestiftete Universität (unter Angliederung der Lyzeen in Frankfurt und Fulda) schon 1814 von Bayern wieder aufgelöst wurde. Alle Neugründungen entstanden aus fürstlicher Entscheidung; der Staat begriff die Universität, auch wenn sie mit den tradierten Privilegien und Freiheitsrechten ausgestattet wurde, als staatliche Anstalt, für die er ausschließende Regelungskompetenz besaß. Auch in katholischen Territorien wurde die Kirche in ihrer Verantwortung für die Universität zurückgedrängt. Um den Nachwuchs für geistliche und administrative Ämter im eigenen Land ausbilden zu können und der Universität eine Mindestfrequenz zu sichern, wurde vielfach der Universitätszwang (Universitätsbann) ausgesprochen, d.h. Landeskinder, die eine Anstellung erwarteten, mußten an der Landesuniversität studiert haben, was zu weiterer Provinzialisierung vieler Hochschulen führte. In der zweiten Hälfte des 17. Jh. gewann neben der Theologie zunehmend die juristische Fakultät für die deutschen und niederländischen Universitäten an Bedeutung. Der usus modernus wurde

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entwickelt, der das Römische Recht mit der weiterentwickelten Rechtspraxis verglich und ihr anpaßte. Lehrstühle für neue Rechtsdisziplinen wurden errichtet, so für Gewohnheitsrecht, Statutarund Lehnsrecht, Staats-, Natur- und Völkerrecht. Eine besondere Stellung gewann die sog. Policeywissenschaft (Verwaltungslehre, Lehre von der inneren Politik), deren Blüte dem Bedürfnis des Staates nach professionellen Beamten für die anwachsenden Staatsbefugnisse zu verdanken war. H. -»Conring entwarf das Konzept der prudentia civilis (Staatsklugheitslehre), zu deren Bestandteilen Statistik und Staatenbeschreibung gehörten. 1661 erhielt S. -»Pufendorf in Heidelberg den ersten Lehrstuhl für Natur- und Völkerrecht an einer deutschen Universität. Die Wissenschaftsauffassung wurde zunehmend von -»Säkularisierung und Historisierung, damit zugleich Relativierung bisher unbefragt geltender Autoritäten, bestimmt. Die Revolution in den Naturwissenschaften wurden von den Universitäten durchaus nachvollzogen, für modernisierte Disziplinen gab es in den Niederlanden und in England in der zweiten Hälfte des 17. Jh. neue Lehrstühle (Astronomie, Anatomie, Botanik, Chemie, Geometrie). Empirie und Experiment lösten die Interpretation und Reproduktion klassischer Autoritäten ab.

Die Weichenstellung zur Modernisierung vollzog sich mit der Gründung der Universität Halle (1694), aufgenommen und weitergeführt in Göttingen (1737) sowie, wenn auch in bescheidenerem Maße, in Erlangen (1743). In Halle, hervorgegangen aus einer Ritterakademie, wurde der neue Wissenschaftskanon durch Ch. -»Thomasius, A.H. —»Francke und Ch. —>Wolff, wenn auch keineswegs spannungsfrei zwischen Jurisprudenz, Theologie und Philosophie, definiert: Naturrecht und Vernunft statt aristotelischer Schulphilosophie, konfessioneller Orthodoxie und humanistischer Eloquenz. Halle wurde „die erste eigentlich moderne Universität" (Paulsen, Geschichte I, 535). Das VierFakultäten-Modell wurde beibehalten, ebenso die traditionelle Rangfolge, aber die Lehrinhalte änderten sich grundlegend. Statt der Verpflichtung auf Autoritäten und der beständigen Vergewisserung an ihnen galt jetzt das Postulat der libertas philosophandi, das Selbstdenken und die eigenständige Beschäftigung mit Wissenschaft, was nicht hieß, forschenden Umgang mit dem Wissensstoff zu betreiben — im Gegenteil wurde vom Staat immer wieder gefordert, den Lehrveranstaltungen verläßliche Kompendien zugrunde zu legen. Der libertas philosophandi entsprach die Studierfreiheit der Lernenden, die nicht mehr einem fixierten, schulmäßig geregelten Kanon zu folgen brauchten. Gefordert war die Hinwendung zur Empirie, zur Praxis. Universitäres Unterrichten hatte sich auf ganz neue Weise dem Prinzip des —>Utilitarismus zu verpflichten. Gefragt waren positive, berufsbefähigende Kenntnisse, verbunden gleichwohl mit der Vermittlung einer elementaren enzyklopädischen Bildung. Dementsprechend wurden die Studiengänge vom traditionellen Wissen, das als nutzloser Ballast empfunden wurde, befreit, auf das Wesentliche konzentriert und verkürzt. Die bisherige Vorrangstellung der Theologie wurde nicht mehr akzeptiert; Theologie blieb zwar weiterhin integraler Bestandteil der Universität, wurde aber den anderen Fächern und Fakultäten gleichgestellt statt wie bisher übergeordnet. Dies schlug sich auch in einer geringeren Besoldung der Professoren nieder. Die pietistisch geprägte Theologie Halles legte den Schwerpunkt auf die Pastoraltheologie. In der Medizin wurde durch die Anbindung an örtliche Krankenanstalten ein stärkerer Praxisbezug hergestellt, die klinische Medizin entwickelt und der Lehrstoff systematisiert. Leitwissenschaft war jedoch die erneuerte Jurisprudenz, die sich auf ein historisch fundiertes Reichsstaatsrecht konzentrierte. 1727 errichtete Friedrich Wilhelm I. (reg. 1713-1740) an den Universitäten Halle und Frankfurt je einen Lehrstuhl für „Ökonomie, Policey- und Kammer-Sachen" und institutionalisierte damit die Kameralwissenschaften (Finanzwissenschaft und ökonomisch wichtige Teile der Verwaltungslehre). Andere Universitätsträger folgten diesem Beispiel (vgl. die Übersicht bei Schödling, Bildung 72). Die Lehrformen änderten sich. An die Stelle der öffentlichen Vorlesungen traten weithin lectiones privatae, für die die Hörer bezahlen mußten, was vielfach zur Ausschließung sozial schwacher Studenten führte. Die Disputationen gingen an den modernen Universitäten drastisch zurück, während sie an den unreformierten weithin erhalten blieben. Auch die Deklamationen verschwanden allmählich. Die Lehrleistungen der Professoren waren umfangreich ( 2 0 - 2 4 Wochenstunden), nicht zuletzt, weil sie ver-

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suchen mußten, über bezahlte Privatlektionen das Gehalt aufzubessern. Um die Mitte des 18. Jh. setzte sich die seither übliche Semestereinteilung durch, schon seit dem Ende des 17. Jh. dominierte allmählich das Deutsche als Unterrichtssprache, außer für öffentliche und feierliche Akte und Verlautbarungen. W ä h r e n d die Attraktivität von Halle durch die Konflikte zwischen -»Pietismus und - » R a t i o nalismus sowie durch das Desinteresse Friedrich Wilhelms I. an Wissenschaft im Verlauf der ersten Hälfte des 18. J h . nachließ, übernahm Göttingen seit seiner Gründung (1734 Beginn des Lehrbetriebs, 1737 Privilegierung) die Leitfunktion einer modernen Universität. Wichtiges Kennzeichen dieser Modernität w a r die strikte staatliche Lenkung trotz formaler Gewährung der traditionellen Privilegien. Die Theologie trat jetzt - auch in der Besoldungshöhe der Professoren - hinter den juristischen, historischen und kameralistischen Disziplinen zurück. Unterstützt wurde die wissenschaftliche Blüte durch eine gutdotierte Bibliothek, die anderen Universitäten zum Vorbild diente. Vorschläge zu systematischem Büchererwerb und Aufbau einer umfassenden wissenschaftlichen Bibliothek hatte bereits G . W . —»Leibniz entwickelt.

Katholische Universitäten übernahmen die Reformkonzeptionen Halles und Göttingens. In Wien wurde ab der Jahrhundertmitte zunächst die Medizin (Gerhard van Swieten [1700-1772]), danach die philosophische Fakultät modernisiert, Polizei- und Kameralwissenschaften erhielten Lehrstühle zugewiesen. Der - * Josephinismus steigerte die Unterwerfung der obersten Bildungsanstalten unter den Staat (Beseitigung der akademischen Gerichtsbarkeit und der Fakultätsautonomie durch Einsetzung staatlicher Direktoren als Aufsichtsbehörde) und verstärkte deren Ausrichtung auf das Praktische und Nützliche. Schon vor der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 hatten sich Reformer bemüht, die Lehrmethoden, die immer noch weithin an der Ratio studiorum orientiert waren, zu reformieren (Johann Adam Ickstatt [1702—1776], seit 1731 in Würzburg, 1746 nach Ingolstadt). Die Jesuiten wurden an nichtreformierten Universitäten durch Weltgeistliche oder andere Orden (Kapuziner, Dominikaner, Lazaristen) ersetzt, andernorts eine Anstellung von Ex-Jesuiten ausdrücklich untersagt. Unter dem Kurator Anselm Franz Freiherr von Bentzel-Sternau (1738-1785/86) profilierte sich Mainz seit 1782 als „katholisches Göttingen", um zur Musteruniversität der katholischen Bildungsanstalten im Reich aufzusteigen. Mainz berief sogar Protestanten als Professoren, Münster und Bonn waren bereits als Aufklärungsuniversitäten errichtet worden. Gepflegt wurden insbesondere Pastoraltheologie und Kirchengeschichte sowie Staatengeschichte und Reichspublizistik. Um den Modernisierungsrückstand zu den evangelischen Territorien aufzuheben, wurde großer Wert auf die Kameralwissenschaften gelegt. Auch Bamberg und Salzburg reformierten sich, während Joseph II. (reg. 1765-1790) die alte Verfassung Freiburgs 1767 unter Einsatz staatlicher Gewalt beseitigte. Zahlreiche deutsche Universitäten verschlossen sich der Aufklärung oder duldeten sie nur widerwillig, wenn sie vom Landesfürsten gefördert wurde. Die evangelischen Hochschulen hielten zumeist an der lutherischen bzw. der reformierten Orthodoxie und der aristotelisch geprägten Schulphilosophie fest. Vielfach breitete sich seit der zweiten Hälfte des 16. Jh. über das Selbstergänzungsrecht des Lehrkörpers Nepotismus aus (Familienuniversität), Patronage- und Versorgungsdenken ersetzten Leistung und Auswahl der Befähigten. Der traditionelle Konfessionalismus wurde kaum aufgeweicht. Offiziell bikonfessionell waren Erfurt und seit 1685 Heidelberg, wo im 18. Jh. zwei theologische Fakultäten nebeneinander bestanden, die übrigen Professuren jedoch durch eine aktive gegenreformatorische Politik der katholischen Landesherren im Laufe der Zeit fast ausschließlich katholisch und vielfach mit Jesuiten besetzt wurden; erst 1799 wurde ein konfessionsunabhängiges Leistungsprinzip proklamiert. Straßburg verfügte seit 1701, als die bischöfliche Anstalt von Molsheim hierher verlegt wurde, über zwei Universitäten. Die reichsstädtische Universität erhielt sich ein hohes Ansehen in Rechtswissenschaften, Geschichte, Staatswissenschaften und Medizin. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jh. galt sie als „Diplomatenschule" - Ludwig Cobenzl (1753-1809), Klemens Wenzel Fürst v. Metternich (1773-1859) und Maximilian Montgelas (1759-1838) studierten hier.

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Die Berechnungen der Besucherzahlen lassen für das 17./18. Jh. keine exakten Feststellungen zu. Nach 1650 gab es - jedenfalls in Mitteleuropa - offensichtlich einen schnellen Anstieg der Frequenz, dem eine Stagnation auf verhältnismäßig hohem Niveau folgte. Seit den vierziger Jahren des 18. Jh. ging die Frequenz kontinuierlich zurück, was sich vor allem an den kleinen und den unreformiert bleibenden Universitäten auswirkte; Wittenberg, Leipzig und Köln zählten allerdings weiterhin zu den vielbesuchten Universitäten. An den Universitäten mit modernem Fächerangebot studierten vermehrt Adlige, um die sich wegen des erhofften ökonomischen Nutzens alle Universitäten bemühten, indem sie „adlige Exercitia" (Reiten, Fechten, Tanzen) einführten. Die weiter zunehmende Professionalisierung akademischer Berufe und das Mißtrauen in akademische Prüfungen zeigte sich darin, daß die Universitätsgraduierungen in vielen Territorien durch Staats- und Kirchenexamina ergänzt oder ersetzt wurden.

Während die niederländischen Universitäten durch kontinuierliche Bereitschaft, sich modernen Wissenschaftsentwicklungen anzupassen, europaweit attraktiv blieben, stagnierten die Universitäten in Westeuropa durchweg. Die französischen Universitäten waren im 17./18.Jh. „fast nie der Ort geistiger Selbstvergewisserung der Nation" (N. Hammerstein: Rüegg, Geschichte II, 117), die Aufklärung entfaltete sich eher gegen die Universitäten, als daß diese sie rezipiert hätten. Unter Ludwig XIV. (reg. 1661-1715) wurden das juristische und das medizinische Studium reorganisiert, dadurch aber für das ganze 18. Jh. fixiert. Die Universitätspolitik konzentrierte sich auf Paris, die anderen Universitäten, von denen freilich fast keine eine Volluniversität mit allen vier Fakultäten war, versanken in Provinzialität-1789 bestanden in Frankreich 22 Universitäten mit 21 juristischen, 18 theologischen und 12 medizinischen Fakultäten. In Spanien dominierten die kastilischen Universitäten Alcalá, Salamanca und Valladolid, die auch von katholischen Engländern und Iren besucht wurden. Infolge des drastischen Rückgangs der Studentenzahlen (ca. 6.000 um 1750 gegenüber 18.000 um 1550) waren die kleinen spanischen Universitäten nahezu nicht mehr lebensfähig, an den großen wuchs die Zahl der Religiösen, die um 1750 etwa die Hälfte der Studierenden in Salamanca ausmachten und die für eine traditionalistisch-orthodoxe Prägung der Lehrinhalte sorgten. Nach der Vertreibung der Jesuiten aus Spanien und den Kolonien 1767 wurde eine Universitätsreform im Geiste der Aufklärung eingeleitet, in deren Vollzug Karl IV. (reg. 17881819) 1807 zahlreiche Universitäten aufhob; bestehen blieben Alcalá, Granada, Oviedo, Salamanca, Santiago, Sevilla und Valladolid. Das portugiesische Coimbra reformierte der Marquis von Pombai (1699—1782) nach Exilierung der Jesuiten (1759) durch Einführung naturwissenschaftlich-experimenteller Disziplinen. Die italienischen Universitäten wurden durch den vielerorts in Europa eingeführten Universitätszwang, der den Zustrom nichtitalienischer Studenten behinderte, provinzialisiert. Die Entwicklung der englischen Universitäten spiegelte die turbulenten Verläufe in Politik und Gesellschaft des 17. Jh. wider. Die Verpflichtung auf das Book of Common Prayer (Act ofüniformity 1662) schloß alle Nichtanglikaner vom Universitätsbesuch aus; die nonkonformistischen Akademiegründungen blieben jedoch ohne große Bedeutung. Da es an den schottischen Universitäten ausreichte, sich zur -»Westminster Confession von 1647 zu bekennen, wichen vielfach englische Dissenters hierher aus. Die schottischen Universitäten zeigten sich modernen geistigen Strömungen aufgeschlossen, so daß Edinburgh im 18. Jh. eine Blütezeit erlebte. Die Anfänge des Universitätswesens in Nordamerika waren vom englischen und vom schottischen Vorbild bestimmt, die staatsfreien Colleges wurden von verschiedenen Denominationen zur Ausbildung ihrer Geistlichen getragen: Kongregationalisten gründeten -»Harvard College (1636) und ->Yale College (1701), Anglikaner William and Mary College in Williamsburg (1693), Presbyterianer —•Princeton (1746) und King's College (Columbia University, 1754), alle noch mit lateinischer Unterrichtssprache. Das 1740 von Benjamin Franklin (1706-1790) errichtete College in Philadelphia war die erste Universität mit modernen weltlichen Lehrinhalten aus dem Geist der Aufklärung; am Philadelphia College entstand auch die erste Medical School.

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Die bis dahin monopolistische Institution Universität erhielt seit der Mitte des 17. Jh. von mehreren Seiten Konkurrenz, ohne dadurch aus dem Zentrum höherer Bildung verdrängt zu werden. Die -»Akademie der Wissenschaften, definiert als „une Société ou Compagnie de Gens de Lettres, établie pour la culture et l'avancement des Arts ou des Sciences" (Encyclopédie, ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers [Paris/Neuchâtel/Amsterdam 1751-1772], Lausanne/ Bern, I 1778, 226), orientierte sich an der Accademia délia Crusca in Florenz (1582) und der Accademia dei Lincei in Rom (1603). Kennzeichen der Akademie waren begrenzte Mitgliederzahl, Überkonfessionalität, Internationalität, Funktion als oberste wissenschaftliche Staatsbehörde. Die von den Akademien betriebenen Forschungen erstreckten sich auf experimentalwissenschaftliche oder sprachlich-literarische Fragen. Während die Akademien in Frankreich und England mit spezifischer Ausrichtung gegründet wurden (Académie Française 1635 für philologische Probleme, Royal Society 1662 und Académie des Sciences 1666 für Naturwissenschaften und Mathematik, ebenso die lokal vagierende deutsche Academia Naturae Curiosorum 1652, die spätere Leopoldina), war die nach Plänen von Leibniz 1700 errichtete Sozietät der Wissenschaften zu Berlin dem Postulat der Einheit der Wissenschaften verpflichtet. Die Ritterakademien wurden von Landesfürsten gegründet, um Adligen eine Ausbildung in höfischen Künsten (Reiten, Fechten, Musik, Tanzen, Malen, Ballspiel), standesgemäßen Wissenschaften (Realien, Geschichte, Militärwesen, Fortifikation) und modernen Sprachen zu vermitteln. Erste Ritterakademien entstanden in Frankreich schon seit Ende des 16. Jh. (Angers; Paris; Saumur) und waren ansatzweise auch in Deutschland ausgebildet (Collegium Illustre in Tübingen 1594; Collegium Mauritianum in Kassel 1598); zur Blüte kam die Ritterakademie aber erst in der zweiten Hälfte des 17. Jh. (vgl. die Liste bei Conrads, Ritterakademien 346 - 4 0 0 ) . 1775 wurde in Stuttgart die Hohe Karlsschule als Konkurrenz zu Tübingen begründet (hervorgegangen aus einer 1770 gegründeten Militärakademie für nützliche und schöne Künste), die über ein breites Angebot moderner und traditioneller Fächer (ohne Theologie) verfügte; das 1781 erteilte Universitätsprivileg konnte die Karlsschule wegen des ständischen Widerstands nicht nutzen (1794 aufgelöst). Spezialhochschulen für moderne Fächer, die keinen Universitätsrang hatten oder nicht hinreichend berücksichtigt wurden, entstanden in ganz Europa, u.a. für Landwirtschaft, Bergbau, Chirurgie, Kameralistik, Ingenieurswesen, Militärwesen, Handel (vgl. die Liste bei W. Frijhoff: Rüegg, Geschichte II, 64). Insbesondere in Frankreich waren derartige Spezialschulen verbreitet, gipfelnd in der École Polytechnique 1795. U m die Wende vom 18. zum 19. Jh. begann das große Universitätssterben. Der Konvent hob am 15. September 1793 durch das décret Lakanal alle Universitäten auf zugunsten eines neuen Ausbildungskonzepts, das einer allgemeinen Vorbildung die Spezialausbildung in Écoles centrales folgen ließ. In Deutschland waren vor allem Universitäten in den von französischen Truppen besetzten Gebieten und in den Hochstiften betroffen. Aufgehoben wurden Straßburg (bischöfliche und reichsstädtische Universität 1792), Mainz, Bonn, Köln, Trier (alle 1798), Bamberg (1803), Dillingen (1804), Fulda (1805), Paderborn (1808), Altdorf (1809), Rinteln (1809), Helmstedt (1810), Salzburg (1810), Innsbruck (1810, Neugründung 1826), Frankfurt a.d.O. (1811, mit Breslau vereinigt), Aschaffenburg (1814). Ingolstadt wurde 1802 nach Landshut verlegt. N a c h der Neuordnung Deutschlands auf dem Wiener Kongreß wurden in den alt- und neupreußischen Gebieten Erfurt (1816), Wittenberg (1817 mit Halle vereinigt), Duisburg (1818) und Münster (1818) aufgehoben, außerdem Herborn (1817). Einige der aufgehobenen Universitäten führten als „Minder-Universitäten" (Duchhardt 143) eine reduzierte Existenz fort. In Österreich waren schon 1782 Graz, Innsbruck und Olmütz zu Lyzeen herabgestuft worden, zu Beginn des 19. Jh. außerdem Krakau und Lemberg, so daß nur Prag, Wien und Freiburg i.Br. ihren Universitätsstatus behielten. Die degradierten Anstalten wurden erst 1 8 2 6 / 2 7 (Innsbruck; Graz; Olmütz) bzw. 1848 wieder zu Universitätsrang erhoben. 4. Neuhumanismus

und Großuniversität

(19. und 20. Jh.)

Die Universitäten, die die Auflösung um die Jahrhundertwende überlebt hatten, behielten ihre traditionellen Strukturen und Organisationsformen, verloren jedoch fast überall ihre bisherige Finanzierungsgrundlage (über größere Eigenfinanzierung verfügten im 19. Jh. nur noch Freiburg i.Br., Greifswald und Leipzig) und wurden zu staatlich alimentierten und regulierten Anstalten. Geistig orientierten sie sich an dem modernen

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Wissenschaftsverständnis und der Bildungskonzeption des Neuhumanismus und Idealismus ( - » F i c h t e ; -»-Humboldt; - » S c h l e i e r m a c h e r ; Friedrich August Wolf [1749—1824]). In Absage an das Utilitäts- und Praxiskonzept der Aufklärung k a m es Wilhelm von H u m b o l d t ( 1 7 6 7 - 1 8 3 5 ) d a r a u f an, bei der Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten „ d a s Princip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suc h e n " (Gesammelte Schriften, Berlin, X 1903, 2 5 3 ) . Wissenschaft w a r zweckentbunden, wenngleich H u m b o l d t aus der Beschäftigung mit ihr einen unmittelbaren Nutzen nicht nur für h a r m o n i s c h e Menschenbildung und verantwortliche Selbsttätigkeit des Individuums, sondern auch für Staat und Gesellschaft erwartete. H u m b o l d t und die preußischen Universitätsreformer verstanden die Universität als universitas litterarum, getragen v o m neuen Konzept der Einheit von F o r s c h u n g und Lehre, der forschenden Tätigkeit in Einsamkeit und Freiheit. Aufgabe der Universität w a r es, „die Idee der W i s s e n s c h a f t " , die jeder M e n s c h n a c h Schleiermacher in sich trug, zu wecken. N a c h den Ideen von N e u h u m a n i s m u s und Idealismus konzipiert und v o m Vorbild Göttingen geleitet, wurde 1 8 1 0 die Universität - » B e r l i n gegründet, die zur Musteruniversität für das 19. J h . wurde. M i t Berlin n a h m der Staat erstmals bewußt seine Aufgabe als Kulturstaat w a h r . Die staatliche Regelungskompetenz sorgte für eine definitive Säkularisierung, das n e u h u m a nistische Ideal der an der griechischen Kultur orientierten a u t o n o m e n Menschenbildung drängte die T h e o l o g i e als Leitwissenschaft endgültig in den Hintergrund. Der C h a r a k t e r der Universität als Selbstverwaltungskörperschaft blieb erhalten, insofern eine begrenzte A u t o n o m i e fortbestand. Die Position der Universität an der Spitze der Bildungsinstitutionen wurde durch Formalisierung der Bedingungen für den Z u g a n g (Abiturzeugnis, in Preußen schon seit 1 7 8 8 ; für M a t h e m a t i k , Naturwissenschaften und moderne Sprachen seit 1 8 7 0 Abgangszeugnis eines Realgymnasiums, seit 1 9 0 0 volle Gleichberechtigung des Abiturs von G y m n a s i u m und Oberrealschule beim Z u g a n g zur Universität) und für die akademische Karriere (Habilitation) hervorgehoben. Z u r Ansehenssteigerung trug die Professionalisierung der freien und beamteten akademischen Berufe bei, Akademiker wurden zur eigenen Sozialgruppe. Neben Berlin wurden bis 1871 in Deutschland nur noch die Universitäten Breslau (1811 als Nachfolgerin von Frankfurt a.d.O.) und -»Bonn (1818) gegründet; Landshut wurde 1826 nach -»München verlegt. Breslau und Bonn waren mit zwei theologischen Fakultäten ausgestattet, ebenso Tübingen (1817) und zeitweise Marburg und Gießen. Dagegen wurde die Heidelberger katholisch-theologische Fakultät 1807 mit der Freiburger zusammengelegt. Durch die preußische Annexion von 1866 verloren die Universitäten Göttingen, Kiel und Marburg ihre bisherigen Träger. Bis zur Revolution 1848/49 und darüber hinaus bis zur Reichsgründung verstand sich die deutsche Universität als „gemeinsame Anstalt deutschen Volkes" (Verfassungsurkunde der Jenaer Urburschenschaft 1815: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der deutschen Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Heidelberg, I 1910, 118) mit der Aufgabe der Nationalerziehung. Dementsprechend gehörten Professoren und Studenten zu den Vorkämpfern für die Politik der nationalen Einigung (Wartburgfest 1817), häufig in nationalistischer Verengung durch betonte Abkehr von Kosmopolitismus und Internationalität sowie durch Bekenntnis zur Frankophobie. Das zu den Karlsbader Beschlüssen gehörende Universitätsgesetz von 1819, das bis 1848 in Kraft blieb, unterwarf die Universitäten strikter staatlicher Überwachung durch Einsetzung eines landesherrlichen Beauftragten (Kurator) an jeder Universität, der die Disziplinargewalt handhabte und den Vorlesungen „eine heilsame, auf die künftige Bestimmung der studierenden Jugend berechnete Richtung zu geben" hatte. Politisch mißliebig gewordene Professoren konnten mit Verhängung eines im ganzen Deutschen Bund geltenden Berufsverbots entlassen werden, studentische Verbindungen wurden unterdrückt. An den politischen Manifestationen im Gefolge der französischen Julirevolution nahmen Universitätsangehörige aktiv teil (Hambacher Fest 1832; Frankfurter Wachensturm 1833); der Fall der Göttinger Sieben trug zur politischen Bewußtseinsbildung unter den Intellektuellen bei. An der Revolution 1848/49 beteiligten sich im Spektrum zwischen Paulskirche und zweiter Revolution zahlreiche Professoren und Studenten. Versuche (vor allem der Nichtordinarien) zur Selbstreform der Universität hatten keinen Erfolg. Bleibende Errungenschaft der Revolution war die Kodifizierung der Wissenschaftsfreiheit im Sinne einer Freiheit von staatlicher und kirchlicher Einflußnahme auf die Forschungsinhalte (Art. 152 der Verfassung der Paulskirche;

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Art. 17 der preußischen Verfassung). Neue Universitäten wurden im Kaiserreich nur aus politischen Gründen errichtet, Straßburg (1872) und Münster (1902 als Entgegenkommen gegenüber dem Zentrum) - beide mit zwei theologischen Fakultäten. Als erste deutsche Stiftungsuniversität kam 1914 Frankfurt a. M. hinzu - ohne theologische Fakultät. Überlegungen, in Posen eine Hochschule zu errichten, wurden wegen der Befürchtung, dadurch das polnische Nationalbewußtsein zu stärken, fallengelassen. Zur Ausbildung katholischer Geistlicher war schon 1821 in Braunsberg das Lyceum Hosianum gegründet worden (1843 den Universitäten gleichgestellt). Ab Mitte der sechziger Jahre des 19. Jh. setzte an den deutschen Universitäten eine Entwicklung ein, die 1890 Theodor M o m m s e n ( 1 8 1 7 - 1 9 0 3 ) dazu veranlaßte, die Großwissenschaft neben den Großstaat und die Großindustrie zu stellen (SPAW 1890, 792); Adolf von —»Harnack nahm diese Formel auf, wenn er 1905 vom „Großbetrieb der Wissenschaft" sprach, aber zugleich die Paradoxie aufwies: „Wissenschaft ist immer Sache des Einzelnen, und die wissenschaftlichen Aufgaben können doch niemals von Einzelnen erledigt werden" (Harnack 10f.). Medizin und Naturwissenschaften expandierten, aber auch in den Geisteswissenschaften verstärkte sich die Diversifizierung und Spezialisierung. Dementsprechend wuchs die Zahl der durch Ordinariate und außerordentliche Professuren repräsentierten Fächer. Die Konsequenz einer institutionellen Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften wurde bis 1914 nur vereinzelt gezogen; eigene mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultäten errichteten Tübingen (1863), Straßburg (1872), Heidelberg (1890), Freiburg i.Br. (1910) und Frankfurt a . M . (1914). Die Lehrformen veränderten sich neben die Vorlesungen traten Seminare und experimentelle Übungen. Betont wurde der Primat der Forschung; um 1870 galt die deutsche Wissenschaft und die Universität als deren Trägerin als weltweit führend. Die Zahl der Studenten stieg nach 1815 bis etwa 1830 (1830 kamen auf 100.000 Einwohner 52,2 Studenten; vgl. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, München, III 1987, 229), ging dann um etwa 3 0 % zurück und stagnierte bis zu einem neuen, kontinuierlichen Anstieg nach 1860. Die Studienoptionen verschoben sich. Die philosophische Fakultät (einschließlich der Naturwissenschaften) stieg im öffentlichen und im inneruniversitären Ansehen durch verstärkte Bildungsnachfrage, Reform des höheren Schulwesens, Professionalisierung der akademischen Berufe und vermehrte soziale Aufstiegschancen. Hatten 1830 noch 2 7 % der Studenten evangelische und 11,5% katholische Theologie belegt, sank die Zahl bis 1880 auf 13,3% bzw. 3,3% und bis 1914 auf 5,7 % bzw. 3,3 % . Die philosophische Fakultät wurde - auch bedingt durch die Erweiterung ihres Fächerspektrums - 1830 von 1 8 % , 1880 von 3 9 % und 1914 von fast 5 0 % der Studierenden frequentiert; die Zahlen für Jurisprudenz bzw. Medizin lauteten: 183028% bzw. 1 6 % , 188021,6% bzw. 2 3 % , 1914 18,4% bzw. 20,4% (Zahlen nach ebd. III, 230; ebd. IV 1991, 318). Das Frauenstudium war seit 1890 in Preußen, reichsweit seit 1908 möglich (1914 waren 6,7% der Studierenden weiblichen Geschlechts), in der Schweiz früher (erste Promotion einer Studentin 1867 in Zürich). Die Studenten konzentrierten sich auf wenige Universitäten. 1830 studierten ca. 3 0 % in Berlin, Göttingen und München, 1900 4 0 % allein in Berlin. Konfessionell blieb die Verteilung unausgewogen. Am Ende des 19. Jh. waren Protestanten mit 1,09 und Juden mit 7,4 über-, Katholiken mit 0,6 unterrepräsentiert (Normverteilung 1,0). Die Selbstorganisation der Studenten blieb traditionell (konservativ-feudale Korps sowie ursprünglich liberale, aber zumeist konservativ gewordene Burschenschaften), umfaßte aber je länger, je mehr nur noch eine Minderheit. Befördert durch die Gründung der Vereine Deutscher Studenten in den achtziger Jahren, breitete sich im Gefolge der Agitation A. -»Stoeckers und Heinrich von Treitschkes (1834—1896) und mitverursacht durch die Sorge um die Verringerung adäquater Berufschancen (Akademikerschwemme) unter den Studenten ein massiver akademischer -»Antisemitismus aus. Im letzten Drittel des 19. Jh. wurden Spezialhochschulen zunehmend zur Konkurrenz der Universitäten, insbesondere galt dies für die Technischen Hochschulen, die sich zumeist aus bedeutend älteren Polytechnischen Anstalten entwickelten: Aachen (1870), Berlin (Charlottenburg 1879), Braunschweig (1877), Breslau (1910), Danzig (1904), Darmstadt (1877), Dresden (1890), Hannover (1880), Karlsruhe (1885), München (1868), Stuttgart (1890). Zweck der Technischen Hochschulen war, „für den technischen Beruf im Staats- und Gemeindedienst wie im industriellen Leben die höhere Ausbildung zu gewähren sowie die Wissenschaften und Künste zu pflegen, welche zu dem technischen Unterrichtsgebiet gehören" (Statut von Berlin 1882: Reinhard Rürup [Hg.], Wissenschaft und Gesellschaft, Berlin, II 1979, 8). 1899 erhielten die Technischen Hochschulen das Promotionsrecht. Seit den achtziger Jahren entstanden weitere Spezialhochschulen: Zu den älteren

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Bergakademien (Berlin; Clausthal-Zellerfeld; Freiberg i.Sa.) kamen Landwirtschafts- (Berlin; Bonn; Hohenheim; Weihenstephan), Forst- (Eberswalde; Hannoversch-Münden; Tharandt) und Tierärztliche Hochschulen (Berlin; Hannover) hinzu, als Ausbildungsstätten für Tätigkeiten in den Kolonien das Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin (1887, auch zur Ausbildung von Diplomaten) und die Kolonialakademie in Hamburg (1908), ferner die Düsseldorfer Akademie für praktische Medizin (1907). Getragen von örtlichen Handelskammern und Städten wurden zahlreiche Handelshochschulengegründet: Aachen ( 1 8 9 8 - 1 9 0 8 ) , Berlin (1906),Frankfurt a . M . (1902), Köln (1901), Königsberg (1915), Leipzig (1898), Mannheim (1908), München (1910) und Nürnberg (1919). Zur Finanzierung der Grundlagenforschung in Großforschungseinrichtungen wurde 1911 die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (KWG) gegründet, um als Akt nationaler Selbstbehauptung Wissenschaft neben Wehrkraft als zweiten „starken Pfeiler der Größe Deutschlands" zu fördern (Adolf v. Harnack 1910; zit. nach Burchardt 33). Bei der KWG herrschte ein arbeitsteiliges Prinzip - die Industrie stellte Gelder für Bau und Ausstattung von Instituten zur Verfügung, der preußische Staat Planstellen für die Institutsdirektoren, die keine Lehrverpflichtungen hatten. Erster Präsident wurde Adolf von Harnack. Bis 1914 entstanden sechs naturwissenschaftliche Institute.

Am deutschen Muster der neuhumanistischen Universität orientierten sich Reformgesetze und Hochschulgründungen verschiedener europäischer Staaten. In der Schweiz wurden Basel und Genf reformiert sowie mehrere Universitäten, zum Teil aus vorhandenen Spezialanstalten hervorgehend, gegründet: -»Zürich (1833), -»Bern (1834), -»Lausanne (1890), -»Neuchâtel (1909) sowie die katholische Universität -»Freiburg im Uechtland (Fribourg) (1889). Die erste bundesstaatliche Hochschuleinrichtung war die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (1855), in St. Gallen entstand 1911 eine Handelshochschule. In den Niederlanden wurde 1877 das Amsterdamer Athenaeum Illustre in eine städtische Universität umgewandelt (mit theologischer Fakultät), die strenge Richtung der calvinistischen Kirche errichtete die Freie Universität -»Amsterdam (1880), die Katholische Kirche die Universität Nijmegen (1923). In Frankreich war durch die Revolution das Erziehungsmonopol auf den Staat übergegangen. Als Dach für die über das ganze Land verteilten höheren Lehranstalten schuf Napoleon I. (1769-1821) die Université Impérial (1850 aufgelöst). Die extreme Zentralisierung des höheren Ausbildungssystems blieb unter den wechselnden Staatsformen bestehen, durch das Gesetz vom 10. Juli 1896 wurden aber die Fakultäten wieder zu Universitäten zusammengeführt: Paris, Aix, Algier, Besançon, Bordeaux, Caen, Clermont-Ferrand, Dijon, Grenoble, Lille, Lyon, Montpellier, Nancy, Poitiers, Rennes, Toulouse. Über theologische Fakultäten (evangelisch und katholisch) verfügte auf Dauer nur Straßburg, während die katholischtheologische Fakultät der Universität Paris 1885 aufgehoben wurde. Für evangelische Theologie entstanden in Paris und Montauban (1920 nach Montpellier verlegt) „freie Fakultäten", für katholische Theologie die Instituts Catholiques in Paris, Anger, Lille, Lyon, Toulouse. Das durch die Revolution geschaffene System der École nationale supérieure für spezialisierte Wissensgebiete und Ausbildungsgänge blieb als Besonderheit erhalten und wurde ausgebaut. Die Universitäten Cambridge und Oxford bestanden zu Beginn des 19. Jh. praktisch nur noch aus ihren Colleges, die Universität war lediglich Instanz zur Abnahme der Prüfungen, die Professorenschaft fast ohne Studenten. Die Gründung von —»London (1836, mit freiem Zugang für Dissenters) und Durham (1837) hob das Bildungsmonopol von Oxford und Cambridge auf. Zwischen 1900 und 1909 entstanden die „Redbrick Universities" in großen Industriestädten (Birmingham, Liverpool, Leeds, Sheffield, Bristol; 1926 kam Reading hinzu). Royal Commissions sorgten seit 1850 mehrfach für Revisionen von College-Statuten und Prüfungsordnungen und rückten die Universitäten gegenüber den Colleges wieder stärker in den Mittelpunkt; die organisatorische Grundstruktur blieb jedoch erhalten. 1871 hoben Oxford und Cambridge (außer für Theologie und für die Vorsteher der Colleges und Halls) die konfessionellen Zulassungsbedingungen auf. Die USA bauten im 19. Jh. ihr Bildungssystem mit den Elementen College (für die artes liberales mit undergraduates) und University (für die höheren Studien mit

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graduates) als Zusammenfassung selbständiger Fakultäten (Theological, Law, Medical School usw.) aus. Private Stiftungsuniversitäten und staatliche bzw. städtische Universitäten standen nebeneinander; beide Arten sind gleichermaßen vor allem als Lehranstalten konzipiert. Als erste, zum Teil nach preußischem Muster organisierte Staatsuniversität wurde 1855 Michigan State University gegründet. Verfügten die USA 1840 über 40 Hochschulen, waren es 1890 etwa 170. Rußland fand im 19. Jh. Anschluß an die europäische Universitätsentwicklung. Moskau war als erste russische Universität nach westlichem Muster 1755 gegründet worden, 1804/05 wurden in Wilna, Charkow und Kasan Universitäten ins Leben gerufen, 1819 in St. Petersburg, später in Kiew (1834), Odessa (1865), Tomsk (1888), Saratow (1909) und Rostow (1915). Dorpat wurde 1802 wiedereröffnet (mit theologischer Fakultät). Vier geistliche Akademien entstanden (Petersburg, Sergeev Ploshad, Kiew und Kasan), dazu eine große Zahl von Fachhochschulen. Die Gründung von Universitäten wurde in vielen Staaten auch als politisches Mittel eingesetzt zur Befriedigung von Nationalbelangen oder um sich westlichen Ausbildungsstandards anzupassen. Aus solchen Motiven entstanden Christiania/Oslo (1811) (—»Oslo), die Tschechische Universität Prag (1882) und die Kaiserliche Universität Tokio (1877). Da in Frankreich, Belgien, Spanien und Portugal im Zeichen des Laizismus eine völlige Trennung von Staat und Kirche eingeleitet bzw. vollzogen wurde, die zur vorübergehenden oder dauernden Aufhebung der theologischen Fakultäten führte, entstanden staatsfreie katholische Hochschulen, als erste Löwen (1833), danach ab 1875 die Instituts Catholiques in Frankreich (s.o.), Freiburg i.Ue./Fribourg (1889), Nijmegen (1923) und Mailand (1920). Die in Spanien nach der Aufhebung der staatlichen theologischen Fakultäten (1868) gegründeten bischöflichen Fakultäten gingen im Bürgerkrieg unter, so daß 1968 die Päpstliche Universität Salamanca ins Leben gerufen wurde und weitere katholische Universitäten und Fakultäten in den sechziger Jahren folgten; 1967 entstand die Portugiesische Katholische Universität in Lissabon.

Der Erste Weltkrieg zerstörte in einer Orgie von Nationalismus und Chauvinismus die internationale scientific Community. Mit pathetischen Aufrufen und engstirnigen Abgrenzungen führten die Intellektuellen einen war of cultures und vergifteten das internationale wissenschaftliche Klima nachhaltig. Die Besiegten wurden von den 1919 in Brüssel errichteten internationalen Zusammenschlüssen (Conseil International de Recherche; Union Académique Internationale) ausgeschlossen oder verweigerten von sich aus die Zusammenarbeit. In Deutschland blieben die im Krieg entstandenen Lager von nationalistischen Annexionisten und liberalen Gemäßigten (Vernunftrepublikaner) unter der Professorenschaft in der Weimarer Republik bestehen. Die breite Masse der Hochschullehrer verhielt sich indifferent, tendierte aber, dauerhaft in hypertrophen nationalen Emotionen befangen, politisch nach rechts. Die Weimarer Verfassung garantierte die Wissenschafts- und Lehrfreiheit und sprach als Konsequenz der „,hinkenden' Trennung von Staat und Kirche" (Ulrich Stutz, Die päpstliche Diplomatie unter Leo XIII, 1926 [APAW.PH 1925] 54 Anm. 2; Staatskirchenrecht) eine Bestandsgarantie für die theologischen Fakultäten aus (Art. 149). An Neugründungen wurden die schon vor dem Krieg in städtischer Trägerschaft geplanten Universitäten Köln (1919) und -»Hamburg (1920) - allerdings ohne theologische Fakultäten verwirklicht. In Deutschland bestanden damit 23 Volluniversitäten, davon zwölf in Preußen, drei in Bayern, zwei in Baden, je eine in Hamburg, Hessen, Mecklenburg, Sachsen, Thüringen und Württemberg. Strukturell überstand die Universität die Revolution von 1918 ohne Einbuße. Der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker ( 1 8 7 6 - 1 9 3 3 ) erließ 1 9 2 8 - 1 9 3 1 Reformstatuten bescheidenen Ausmaßes für die einzelnen preußischen Universitäten, Bayern war 1 9 2 0 - 1 9 2 2 vorangegangen, ähnlich Thüringen (1920) und Mecklenburg-Schwerin (1927). Zur Hebung der Volksschullehrerausbildung gründete Becker seit 1926 Pädagogische Akademien (Altona; Beuthen; Bonn; Breslau; Cottbus; Dortmund; Elbing; Erfurt; Frankfurt a.M.; Frankfurt a.d.O.; Halle; Hannover; Kassel; Kiel; Stettin). Dem preußischen Beispiel folgten Baden, Mecklenburg und Oldenburg, während in Thüringen, Sachsen, Hessen und Hamburg die Volksschullehrerbildung den Universitäten angegliedert oder in sie integriert wurde.

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Die studentische Frequenz stieg in Deutschland seit 1918 kontinuierlich bis zum Höhepunkt 1931 mit 138.000 Studierenden. Erstmals erhielten die Studierenden in der Weimarer Republik eine staatlich anerkannte Vertretung, die aus Wahlen hervorging. Ein universitäres Mitbestimmungsrecht besaßen die Allgemeinen Studentenausschüsse jedoch nicht. Nachdem in den Auseinandersetzungen um die Zugehörigkeit zur Deutschen Studentenschaft (Österreich und sudetendeutsche Studenten eingeschlossen) zwischen national-kulturellem und völkischem (Ausschluß von Juden) Prinzip das Postulat der politischen Neutralität verletzt worden war, entzogen Preußen, Baden und Hamburg 1927 der Deutschen Studentenschaft die staatliche Anerkennung. 1926 wurde der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund gegründet, der eine Gliederung der Partei bildete.

Die NSDAP stand der Universität mißtrauisch und ablehnend gegenüber. 1933 vollzogen die deutschen Professoren in ihrer großen Mehrheit die geistige Selbstgleichschaltung, eingefangen von der nationalen Parole und im Bestreben, sich als nützliche Glieder der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu erweisen. Um Karriere zu machen, war für jüngere Wissenschaftler der Eintritt in die NSDAP oder eine ihrer Gliederungen schwer zu umgehen. Der Lehrkörper wurde tiefgreifend verändert durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. April 1933), das jüdische (Art. 3) und politisch mißliebige (Art. 4) Professoren aus dem Dienst entfernte, ferner durch das Reichsbürgergesetz (15. September 1935), das die 1933 gemachten Ausnahmen für jüdische Beamte (alte Beamteneigenschaft und Frontkämpferklausel) aufhob, und das Beamtengesetz (26. Januar 1937), mit dem die sog. nichtarisch versippten Professoren entlassen wurden. Die Wissenschaftsverwaltung wurde zentralisiert und durch das zum 1. Mai 1934 errichtete Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ausgeübt. Das Führerprinzip hob Autonomie und Selbstverwaltung auf. 1935 erhielt das Reichswissenschaftsministerium die Vollmacht, Professoren auch gegen ihren Willen zu versetzen und Lehrstühle umzuwidmen. Systematisch behindert wurden die theologischen Fakultäten seit 1938, die katholisch-theologischen Fakultäten von Innsbruck, München, Salzburg und Würzburg verfielen der Auflösung (zu Kirchlichen Hochschulen vgl. T R E 15,423 - 4 3 5 ) . Eine Reichshabilitationsordnung (13.Dezember 1934) trennte die Habilitation als akademischen Akt von der Verleihung der Lehrbefugnis als staatlichem Akt. In allen Personalfragen hatten verschiedene Parteiinstanzen (Stellvertreter des Führers, NS-Dozentenbund, NS-Studentenbund, Gauleitung u.a.) ein Mitspracheund Vetorecht. Für neugeschaffene oder präferierte Disziplinen wie Rassenkunde, Wehrwissenschaften, Vor- und Frühgeschichte, Volkskunde wurden Lehrstühle errichtet oder Lehraufträge vergeben. Als besonders „braune" Universitäten galten Greifswald, Halle, Heidelberg, Kiel und Königsberg. Da die Nazifizierung der Universität nicht schnell genug voranging, plante Alfred Rosenberg (1893-1946) als „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der N S D A P " ab 1935 den Aufbau einer Alternativuniversität als „die zentrale Stätte der nationalsozialistischen Forschung, Lehre und Erziehung" (Anordnung Hitlers, 29. Januar 1940), für die seit 1940 bei den Universitäten Halle, Frankfurt a. M., Hamburg und München Außenstellen eingerichtet wurden. Als konkurrierende Einrichtung zur Wissenschaftspflege aus dem Geist des Nationalsozialismus trat die SS-eigene „Studiengesellschaft für Geistesgeschichte Deutsches Ahnenerbe" (gegründet 1935, Präsident Heinrich Himmler [1900-1945]) auf. Die Zulassung zum Studium wurde durch das Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen (25. April 1933) reglementiert, mit dem der Anteil jüdischer Abiturienten diskriminatorisch auf 1 , 5 % der Studentenschaft festgesetzt wurde. Das Abitur stellte nicht mehr die alleinige Studienvoraussetzung dar, da zusätzlich eine Zugangsberechtigung erworben werden mußte (für 1934 Höchstzahl: 15.000 Studierende); nur 1 0 % der Zugelassenen durften Frauen sein. Diese Kontingentierungen wurden zwar schon 1935 aufgehoben, dafür waren aber seither die Absolvierung von Arbeits- und Wehrdienst Zulassungsvoraussetzung. Die politischen und die jüdischen Studentenorganisationen waren schon 1933 aufgelöst worden; ihnen folgten 1935 die Korporationen, die sich vergeblich, vor allem durch Preisgabe ihrer jüdischen Mitglieder, bemüht hatten, das Wohlwollen der Staatspartei zu erringen. Das Studium wurde durch fachfremde Aufgaben (weltanschauliche Zwangsveranstaltungen, obligatorischer Sport und Wehrübungen) belastet. Durch

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Zulassungslenkung, wissenschaftsfeindliche Propaganda und Öffnung alternativer Karrieren in Partei, Arbeitsdienst und Wehrmacht ging die Zahl der Studierenden ab 1933 laufend zurück und betrug 1939 nur noch 69.000. Deswegen wurde in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gezielt für den Hochschulbesuch, insbesondere für die rüstungs- und kriegswichtigen Fächer, geworben. Um das bürgerliche Bildungsmonopol zu brechen, betrieb die Reichsstudentenführung ab 1935 Vorstudienanstalten in Heidelberg und Königsberg, in denen politisch zuverlässige Volksgenossen „aus allen Schichten, Ständen und Berufen unseres Volkes" mit einem „Langemarckstipendium" in 18 Monaten die Hochschulreife erwerben konnten. Vorschlagsberechtigt waren lediglich die NSDAP mit ihren Gliederungen sowie die Wehrmacht.

Während ab 1939 der Druck von Partei und Staat auf die deutschen Universitäten nachließ, wurde in den besetzten Gebieten Osteuropas die akademische Bildung völlig unterdrückt. Die polnischen Universitäten wurden nach der Okkupation nicht wieder eröffnet, die tschechischen im November 1939 geschlossen. Ebenso mußten die Universitäten Leiden (1941) und Oslo (1943) den Lehrbetrieb einstellen. Sog. Reichsuniversitäten, die als nationalsozialistische Elitehochschulen angelegt waren, entstanden in Straßburg und Posen (1941 eröffnet). In Prag bestand nur noch die Deutsche Universität. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann der Wiederaufbau des Hochschulwesens in den westlichen Besatzungszonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland auf der traditionellen Grundlage des Kulturföderalismus. Die alten Strukturen und Organisationsformen wurden wiederhergestellt — Versuche der amerikanischen und britischen Besatzungsmacht, Reformen anzuregen (Schwalbacher Richtlinien 1947; Blaues Gutachten 1948), scheiterten. Der Rekonstruktionsphase folgte ab 1950 die Expansion: weitere Diversifizierung der Fächer und Institute, Errichtung von Parallellehrstühlen, kontinuierliches Anwachsen der Studentenzahlen (1960: 190.000, 1985: über 1 Million). Als Beratungs- und Koordinationsgremium für die Förderung von Wissenschaft und Hochschulen riefen Bund und Länder 1957 den Deutschen Wissenschaftsrat ins Leben. Durch die Einfügung von Artikel 75.1,1 a in das Grundgesetz, das wie die Weimarer Verfassung die Wissenschaftsfreiheit garantierte, aber erstmals unter den Vorbehalt der Verfassungstreue stellte (Art. 5.3), erhielt der Bund Rahmenkompetenzen für „die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens". 1976 erging ein Hochschulrahmengesetz (drittes Änderungsgesetz 1985), jeweils gefolgt von Hochschulgesetzen der Länder mit häufig einschneidenden Änderungen der Strukturen, die die bis dahin einheitlichen Organisationsformen der Universität zerstörten: Gruppenuniversität mit (seit 1985) vier Gruppen (Professoren, akademische Mitarbeiter, Studierende, nichtwissenschaftliches Personal), Auflösung der traditionellen Fakultäten in kleinere Fakultäten oder in Fachbereiche, Präsidial Verfassung, mehrjährige Amtszeiten der Funktionsträger, Ausschreibung freier Professorenstellen. Zwei Entwicklungstendenzen prägten die Universitätspolitik ab den sechziger Jahren: Demokratisierung und Vergrößerung. Die sog. 68er-Bewegung setzte Staat und Gesellschaft und damit auch die Universitäten verstärkt unter Reformdruck und löste einen Veränderungsschub aus. Gegen die studentischen Unruhen riefen die Universitäten nach dem Staat, der die Gelegenheit nutzte, umfassender als je zuvor seine Regelungsansprüche gegenüber den Universitäten auszubauen. Seit den sechziger Jahren wurde die deutsche Universitätslandschaft durch ein Gründungsfieber vollständig verändert, auch wenn die Neugründungen, die häufig auf der Basis vorhandener Bildungseinrichtungen (Pädagogische Hochschule, Theologisch-Philosophische Hochschule) beruhten, nur selten als Volluniversitäten mit allen klassischen Fächern angelegt waren. Zwischen 1945 und 2000 wurden in Deutschland an Universitäten neu gegründet: Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Berlin (Freie Universität), Bielefeld, Bochum, Bremen, Dortmund, Düsseldorf, Eichstätt (Katholische Universität), Erfurt, Frankfurt a . d . O . , Hildesheim, Hohenheim, Kaiserslautern, Koblenz-Landau, Konstanz, Lüneburg, Mainz, Oldenburg, Osnabrück, Passau, Potsdam, Regensburg, Saarbrükken, Trier, Ulm, Vechta. Sieben weitere Hochschulen führen die Bezeichnung „Universität-Gesamthochschule": Duisburg, Essen, Hagen (Fernuniversität), Kassel, Paderborn, Siegen, Wuppertal (zum Bestand an Theologischen Fakultäten vgl. T R E 10,788 - 7 9 5 ) . Universitäten der Bundeswehr werden in Hamburg und München unterhalten. In Speyer besteht eine Hochschule für Verwaltungswissenschaften, in Lübeck eine Medizinische Universität. Aus Technischen Hochschulen entstanden

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die Universitäten Hannover, Karlsruhe, Magdeburg, Mannheim (früher Handelshochschule) und Stuttgart. Die Bezeichnung Technische Universität (zumeist mit geisteswissenschaftlichem Sektor) führen gegenwärtig Aachen, Berlin, Braunschweig, Chemnitz, Clausthal, Cottbus, Darmstadt, Dresden, Freiberg, Hamburg-Harburg, Ilmenau, Merseburg und München. Die 1920 als Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gegründete Förderungseinrichtung wurde 1949 als Deutsche Forschungsgemeinschaft wiederbelebt, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1948 als Max-Planck-Gesellschaft rekonstituiert. Zusätzlich entstand die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung (1949); die sog. Blaue Liste (1977) (seit 1995 Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz) faßt weitere verschiedene (1999: 79) selbständige Forschungseinrichtungen zusammen. Die Finanzierung teilen sich Bund und Länder (1949 Königsteiner Abkommen; 1976 Rahmenvereinbarung Forschungsförderung).

Die Universitätspolitik in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. Deutschen Demokratischen Republik orientierte sich wie in allen Staaten, die dem sowjetischen Machtbereich zugehörten, am sowjetischen Modell, das die Forschung weitgehend an die Akademie der Wissenschaften mit umfangreich ausgebauten Instituten verlagerte, während die Universitäten vor allem als Lehranstalten dienten. Die Zahl der Universitäten (Berlin, Greifswald, Halle, Jena, Leipzig und Rostock, alle mit theologischen Fakultäten) wurde nur um die heraufgestufte Technische Universität Dresden vermehrt, daneben wurden zahlreiche Spezialhochschulen geschaffen - auf dem Höhepunkt Ende der sechziger Jahre bestanden 54 Hochschulen (ohne Partei-, Armee-, Polizei-, Staatssicherheits- usw. Hochschulen). Berufungen mußten - vor allem in den Geisteswissenschaften - zunehmend mit Mitgliedschaft in der Staatspartei erkauft werden, die gesamte Hochschulpolitik wurde bis ins Einzelne von der SED dirigiert. Die 1. Hochschulreform (1945ff.) nahm zwar noch Rücksicht auf die sog. bürgerliche Intelligenz, bereitete aber schon die durchgängige marxistische Ideologisierung der Lehrinhalte und die geistige Gleichschaltung der Universitäten vor. Vorstudienanstalten (1949-1962 Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten) sollten die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft ändern. Die 2. Hochschulreform (1951/52) beseitigte die Autonomie der Universität, führte das Studienjahr sowie ein System der Verschulung und der Kontrolle der Lehrinhalte ein und schaffte das individuelle Studium ab, indem die Studenten von Studienbeginn an in personell konstanten Seminargruppen zusammengefaßt wurden. Mit der 3. Hochschulreform (1967/ 68) wurden die Fakultäten in Sektionen aufgelöst sowie die bisherigen Entscheidungsgremien durch Wissenschaftliche und Gesellschaftliche Räte ersetzt. Fächerkonzentrationen dünnten das geistige Spektrum der Universitäten dramatisch aus. Das Studium wurde beladen mit fachfremden Inhalten (marxistisch-leninistisches Grundlagenstudium, russische Sprachkurse, obligatorischer Sport, Zivilverteidigung und militärische Qualifizierung). Aufforderungen an Professoren und Studierende zu größerer Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ergingen seit Anfang der achtziger Jahre, standen aber bis zum Zusammenbruch des Systems unter dem eindeutigen Vorbehalt des Festhaltens an der Dominanz ideologischer Elemente. Die Entwicklung in Westdeutschland spiegelte die Entwicklung der Universitäten in allen westlichen Industriestaaten wider, auch wenn andernorts die Hochschulgründungen sehr viel weniger zahlreich waren. So wurden in Österreich Salzburg (1962 wiederhergestellt), Linz (1962) und Klagenfurt (1970) gegründet, in Großbritannien weitere „Redbrick Universities": Nottingham (1948), Southampton (1952), Hull (1954), Exeter (1955) und Leicester (1957); 1992 erhielten die britischen Fachhochschulen Universitätsrang, so daß in Großbritannien seither 113 Universitätseinrichtungen bestehen. Andere europäische Staaten hielten sich mit Neugründungen weitaus stärker zurück: in den Niederlanden wurde nach der Universität Tilburg (1927) lediglich die Erasmus-Universität Rotterdam (1973) gegründet; ähnlich verhielten sich Italien (Mailand 1923; Lecce 1956) und Spanien (Murcia 1915; Pamplona 1952; Málaga 1972). In Frankreich verlief die Entwicklung anders: das Reformgesetz vom November 1968 teilte die alten Universitäten jeweils in drei Universitäten (in Paris I—XIII); 1970/71 entstanden außerdem nahezu 20 neue Universitäten. Daneben war schon seit Kriegsende das System der École

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nationale supérieure weiter ausgebaut worden, 1 9 4 5 entstand die Eliteschule École Nationale d'Administration. Als zentrale staatliche Einrichtung zur F ö r d e r u n g und K o o r dination wissenschaftlicher Forschung bestand bereits seit 1 9 3 6 das Centre National de la Recherche Scientifique ( C N R S ) , das im ganzen L a n d Forschungszentren unterhält. I m Nahen Osten w a r die 1925 gegründete H e b r e w University of Jerusalem ein geistigkultureller Vorposten der späteren Staatsgründung; seit 1 9 4 9 entstanden in Israel die o r t h o d o x e Bar-llan-Universität in R a m a t G a n (1953), die Universitäten in Tel Aviv (1953), Beer Sheva (1965), Haifa (1963, aus dem Techneion von 1924) sowie 1 9 4 9 das Weizmann-Institute of Sciences in R e h o v o t . In der Sowjetunion wurden nach 1 9 4 5 gezielt Republiken und a u t o n o m e Gebiete mit Universitäten versehen. N a c h d e m die UdSSR 1 9 3 0 über 18 Universitäten verfügt hatte, waren es zum Zeitpunkt ihrer Auflösung 6 9 ; dazu k a m e n 9 0 0 Spezialfachhochschulen und -institute. Außerhalb des europäisch-atlantischen Bildungs- und Kulturkreises orientierte sich der Aufbau von Universitäten am amerikanischen, britischen oder (vor allem im 19. J h . ) a m deutschen Modell. Die Kolonialmächte übertrugen ihr System auf die von ihnen beherrschten Territorien. Heute bestehen in der sog. Dritten Welt ca. 9 0 0 Universitäten, deren Studentenzahl zwischen 1 . 0 0 0 an afrikanischen Hochschulen und fast 2 0 0 . 0 0 0 in Kalkutta bzw. über 3 0 0 . 0 0 0 an der Universidad Nacional Autónoma de México schwankt (Zahlen nach D. Goldschmidt: R ö h r s 195; zum genauen Stand vgl. International H a n d b o o k ; A m e r i c a n Universities; C o m m o n w e a l t h Universities). Literatur Allgemeines: American Universities and Colleges. 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Eike Wolgast

381

Unsterblichkeit I Unsterblichkeit I. Religionsgeschichtlich II. Dogmatisch III. Philosophisch . . . .

S. 386 S. 392

I. Religionsgeschichtlich 1. Begriff des Unsterblichkeitsglaubens dien (Literatur S . 3 8 5 )

1. Begriff des

2. Antike

3. J u d e n t u m und Christentum

4. In-

Unsterblichkeitsglaubens

„Unsterblichkeitsglaube" in weiterem Sinne bezeichnet die Vorstellung, daß das Leben des Menschen nicht mit dem —•Tode endet - daß es zumindest eine reduzierte Fortexistenz gibt oder sogar einen Übergang in höhere Existenzformen. Die Vorstellung einer reduzierten Fortexistenz des Menschen findet sich im alten Griechenland, in den homerischen Epen (II. XXIII,65—107; Od. X I ; vgl. Dihle), ebenso wie im alten Orient, im Gilgamesch-Epos (Tafel VII.XII; vgl. Schützinger). Vor diesem Hintergrund sind auch einige Aussagen über die Unterwelt und der Bericht über eine Totenbeschwörung im Alten Testament zu sehen (Jes 14; I Sam 28; vgl. Kaiser; Plöger). Im alten Ägypten, wo die Jenseitsliteratur überhaupt eine große Rolle gespielt hat, finden sich die ältesten Textzeugnisse für die Auffassung des Todes als eines Übergangs in höhere Existenzformen, verbunden mit der Idee eines Jenseitsgerichtes (vgl. Assmann 1 2 2 - 1 5 9 ) . Zum Unsterblichkeitsglauben im weitesten Sinn gehören auch die Vorstellungen, daß der einzelne Mensch in seinem Nachruhm weiterlebt oder in seinen Nachkommen bzw. in seinem Volk, was als „kollektive Unsterblichkeit" bezeichnet werden könnte. Genannt werden kann in diesem Zusammenhang auch die Vorstellung einer individuellen Unsterblichkeit als Ausnahmeschicksal: die Entrückung einzelner Menschen, wie z. B. Utnapischtim (Gilgamesch-Epos, Tafel XI) oder Henoch (Gen 5,24; vgl. Schmitt). Als neue Variante des Unsterblichkeitsglaubens ist vielleicht auch die Hoffnung zu nennen, daß das Leben des Menschen durch moderne (Gen- oder Informations-)Technologien ins Unendliche verlängert bzw. als unverlierbar sichergestellt werden kann. Unsterblichkeitsglaube in engerem Sinne, verstanden als Glaube an die Unsterblichkeit der -»Seele, muß zunächst vom Glauben an die -»Auferstehung der Toten unterschieden werden. Erstere Vorstellung ist vor allem aus Religion und Philosophie der Antike bekannt, letztere vor allem aus der biblischen Tradition, also aus -»Judentum und Christentum, sowie aus der iranischen Religionsgeschichte und aus dem —»Islam (vgl. auch -»Auferstehung 1/1.). Der Unsterblichkeitsglaube in engerem Sinne kann aber auch vom Seelenwanderungs- und/oder Reinkarnationsglauben (-»SeelenWanderung) unterschieden werden. Der letztere Vorstellungskomplex ist vor allem aus den Religionen -»Indiens bekannt, also aus -»Hinduismus und -»Buddhismus, weniger aus der abendländischen Religionsgeschichte, wo er ebenfalls vorkommt (vgl. Zander), ebenso wie in anderen Kulturen, wie z.B. in Westafrika (vgl. Ikenga Metuh 137—155). In der Geschichte der Religionen haben sich allerdings auch Verbindungen zwischen den verschiedenen Vorstellungskomplexen ergeben. So ist es eine verbreitete Annahme, daß im Christentum von Anfang an sowohl die Unsterblichkeit der Seele als auch die Auferstehung der Toten gelehrt worden ist. Im 20. Jh. haben einige Theologen Kritik an dieser Verbindung geübt und die Eigenart des christlichen Auferstehungsglaubens scharf herausgestellt (Cullmann; Jüngel). Die Unterschiede zwischen Unsterblichkeits- und Auferstehungsglauben sind auch von Seiten der Religionsphänomenologie betont worden (van der Leeuw). Der Unsterblichkeitsglaube ist oft zum Wesen der Religion gerechnet worden, und die Leugnung der Unsterblichkeit ist dementsprechend oft als ein Ansatz zur Zerstörung der Religion betrachtet worden.

382

Unsterblichkeit I

Im christlichen Mittelalter ist diese Auffassung z.B. von Dominicus Gundissalinus (12.Jh.) vertreten worden, mit besonderer Klarheit formuliert am Anfang seines Traktates De immortalitate animae (BGPhMA II/3, 1897, lf.). In der Anfangszeit der Religionswissenschaft hat James George Frazer (1854—1941) eine Fülle ethnographischen Materials zusammengetragen, um die weite Verbreitung des Unsterblichkeitsglaubens zu zeigen - allerdings nicht mit der Absicht, die Religion zu verteidigen. Eine apologetische Intention war demgegenüber in der klassischen Religionsphänomenologie gegeben - die „ganze Menschheit" ist, F. -»Heiler zufolge, „durchdrungen von dem Glauben, daß der leibliche Tod nicht das Ende des Lebens bildet" (Heiler 5). In der Religionsphilosophie ist immer wieder die Begründbarkeit des Unsterblichkeitsglaubens erörtert worden • Piatos Unsterblichkeitsbeweise im Phaidon sind auch im 20. Jh. ein Gegenstand des philosophischen Interesses gewesen (vgl. Frede). Wie der Unsterblichkeitsglaube in seiner Universalität und Begründbarkeit auch beurteilt wird, Gegenstand des religionswissenschaftlichen Interesses sind jedenfalls die verschiedenen Ausprägungen des Unsterblichkeitsglaubens in ihrem historischen Kontext, ihrer Entstehung und Entwicklung. Z u diesen Ausprägungen gehören auch philosophische Deutungen, die scharf unterscheiden zwischen Unsterblichkeit und Fortleben nach dem Tode (Phillips). 2.

Antike

N a c h einigen Andeutungen in der vorsokratischen Philosophie ( —»Vorsokratik), wie z.B. bei Heraklit (Frgm. B 27), finden sich erste klare Aussagen über die Unsterblichkeit der Seele bei Plato. In der Apologie des Sokrates wird allerdings nur eine vorsichtige Alternative formuliert: der Tod sei entweder der Übergang in das Nichtsein oder der Weggang der Seele an einen anderen Ort (40c). Im Gorgias wird die Behauptung einer Fortexistenz der Seele breit ausgeführt, im Zusammenhang einer mythischen Schilderung des Jenseitsgerichtes (523a-527a). Der Tod wird definiert als „Trennung zweier Dinge, der Seele und des Körpers" (524b). In der Politeia wird versucht, die Behauptung, daß die Seele unsterblich ist, rational zu begründen (608d-611a). Zusätzlich wird über die Erlebnisse eines Menschen berichtet, dessen Seele nach einem Einblick in die Jenseitswelt wieder in den Körper zurückgekehrt war (614b—618b). Der Unsterblichkeitsglaube wird dabei verknüpft mit der Seelenwanderungslehre, wie sie sonst aus der pythagoreischen Tradition bekannt ist (siehe z.B. Ovid, met. XV,165-172): es ist die Rede von einem „neuen todbringenden Umlauf" und von der Wahl der Lebensläufe, vor die jede einzelne Seele gestellt wird (resp. 617d/e). Der Phaidon bringt gleich mehrere Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, eingebettet in den Bericht über den Tod des -»Sokrates. Gegenüber dem „Unglauben" (70a), der also schon in der Antike verbreitet war, werden verschiedene Argumente vorgebracht, u.a. die Anamnesis-Lehre (72e-77a), die es sinnvoll und begründet erscheinen lassen, das Leben im Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zu führen. Die Auffassung, daß die Philosophie dem Menschen Trost und Hilfe im Angesicht des Todes geben müsse, tritt besonders deutlich im (pseudo)platonischen Axiochus hervor: Sokrates, der zu einem Sterbenden gerufen wird, versucht, diesem die Überzeugung zu vermitteln, daß der Mensch nicht Körper ist, sondern Seele: „ein unsterbliches Lebewesen, eingeschlossen in einer sterblichen Festung" (365e). Zusätzlich wird wieder eine mythische Beschreibung der jenseitigen Welt gegeben, in der es getrennte Bereiche für die Frommen und Unfrommen gibt (370e-372a). Eine vergleichbare Jenseitsdarstellung findet sich in Plutarchs Schrift De vivendo (mor. 1 1 3 0 C - E ; vgl. Heininger).

latenter

In einer anderen Schrift Plutarchs, dem Dialog De sera numinis vindicta, wird, ähnlich wie in Piatos Politeia, von den Erlebnissen eines Menschen berichtet, dessen Seele sich eine begrenzte Zeit vom Körper gelöst hatte und wieder in diesen zurückgekehrt war (mor. 563B-567F). Plutarchs Ausführungen richten sich insbesondere gegen die Philosophie Epikurs, der als ein Leugner der Unsterblichkeit bekannt war (Diogenes Laertios X , 6 3 - 6 7 ) . Epikur selbst hatte zwar die individuelle Fortexistenz der Seele bestritten, seinen Anhängern aber ein gottgleiches Leben in Aussicht gestellt - „inmitten unsterblicher Güter" (ebd. X,135). Die Hoffnung auf Unsterblichkeit wird von Plutarch aber nicht nur in Anknüpfung an die platonische Philosophie begründet - und in mehreren Ansätzen als Seelenwan-

Unsterblichkeit I

383

derungs-Vorstellung entfaltet —, s o n d e r n a u c h durch die B e z u g n a h m e auf religiöse Erfahrungen: die E i n w e i h u n g in M y s t e r i e n k u l t e ( - • M y s t e r i e n / M y s t e r i e n r e l i g i o n e n ) . Im Trostbrief an seine Frau, anläßlich des Todes einer Tochter, erinnert Plutarch an die Einweihung in die geheimen Riten des Dionysoskultes. Er vergleicht in diesem Zusammenhang die unsterbliche Seele, die an den Körper gebunden ist, mit einem Vogel im Käfig (mor. 611D/E). Ein Bezug zum Unsterblichkeitsglauben - im weiteren Sinne - war schon im Mysterienkult von Eleusis gegeben, wie eine Passage im (pseudo)homerischen Demeter-Hymnus erkennen läßt: hier ist von einem besseren Schicksal der Eingeweihten im Jenseits die Rede (V. 480-482). Noch deutlicher ist der Bezug zum Unsterblichkeitsglauben im R o m a n des Apuleius zu erkennen, dem wichtigsten Textzeugnis für die Isis-Mysterien: der Eingeweihte erhält die Gewißheit, daß die Göttin sein irdisches Leben verlängern kann und daß sie ihn auch im Jenseits nicht verlassen wird (met. XI, 6,6f.). In den Mithras-Mysterien gab es die Vorstellung eines Aufstiegs der Seele durch die Planetensphären, wie aus dem Bericht des Celsus hervorgeht (Origenes, Cels. VI,22). 3. Judentum

und

Christentum

Im Alten T e s t a m e n t gibt es w o h l A n k n ü p f u n g s p u n k t e für den G l a u b e n an eine A u f erstehung der T o t e n , w i e er zuerst in D a n 12,2 belegt ist, nicht aber für einen Unsterblichkeitsglauben i m engeren Sinne. D a s schließt nicht aus, d a ß in der späteren jüdischen T h e o l o g i e a u c h einzelne A u s s a g e n des A l t e n T e s t a m e n t s als Z e u g n i s s e für den Unsterblichkeitsglauben g e d e u t e t w e r d e n k o n n t e n . Von der Unsterblichkeit des M e n s c h e n ist erst in jüdischen Schriften der späteren hellenistischen Z e i t die R e d e . Die als Jesus Sirach bekannte Weisheitsschrift (-»Sirach/Sirachbuch) läßt zwar schon eine Anpassung an die hellenistische Umwelt erkennen, hält aber noch daran fest, daß der Mensch nicht unsterblich ist (Sir 17,30). Stärker ist der hellenistische Einfluß in der Weisheit Salomos (—»Salomo/ Salomoschriften). Die Aussage, daß der sterbliche Leib die Seele beschwert (Weish 9,15), und die Rede von der „Visitation der Seelen" (3,13) erinnern stark an das platonisch-pythagoreische Menschenbild. Die Aussagen, daß die Seelen der Gerechten in Gottes H a n d sind (3,1; vgl. ferner 2,23; 3,4; 6,18f.; 8,13.17) und daß die Erkenntnis der göttlichen M a c h t die Wurzel der Unsterblichkeit ist (15,3), lassen aber das Weiterwirken des alttestamentlichen Gottesglaubens erkennen. Die Ausrichtung am Gottesglauben, wie er im Alten Testament vorgegeben ist, zeigt sich auch in der Rede vom unvergänglichen Licht des Gesetzes (18,4; vgl. Dautzenberg 195 f.) und in der Aussage, die Gerechtigkeit sei unsterblich (Weish 1,15). Der Unsterblichkeitsglaube spielt im vierten Makkabäerbuch ( - » M a k k a b ä e r / M a k k a b ä e r b ü cher) eine große Rolle, und zwar in Anknüpfung an und Abwandlung von II M a k k 7: das Martyrium, das gesetzestreue Juden auf sich nehmen, wird nicht mehr, wie in II M a k k , im Lichte des Auferstehungsglaubens gesehen; es wird vielmehr als eine Umgestaltung zur Unvergänglichkeit gedeutet (II Makk 9,22). Der hellenistische Einfluß zeigt sich auch darin, daß die propagierte religiöse Haltung, das Festhalten am Gesetz, in IV M a k k als „Philosophie" bezeichnet wird (IV M a k k 5,22). Die Metaphorik vom Wettkampf um den Siegespreis der Unvergänglichkeit ist ebenfalls griechisch (17,11-15). Die Deutung des Martyriums als Sühnetod für das Volk Israel nimmt aber wieder auf das alttestamentliche Erbe Bezug (17,22), und die Aussage, daß die Märtyrer heilige und unsterbliche Seelen von Gott empfangen (18,23), läßt ebenfalls die Nachwirkung des alttestamentlichen Gottesglaubens erkennen. In der jüdischen Theologie des Mittelalters ist das Verhältnis zwischen Unsterblichkeits- und Auferstehungsglauben reflektiert und in verschiedenen Konstruktionen bestimmt worden, wie z.B. von —»Saadja Gaon und -»Mose ben M a i m o n (vgl. Niewöhner). Die religionsphilosophischen Theorien des letzteren waren im späteren Judentum allerdings umstritten. Im frühen Christentum ist z u n ä c h s t nur der A u f e r s t e h u n g s g l a u b e belegt, nicht der Unsterblichkeitsglaube im engeren Sinne. D e n n im N e u e n T e s t a m e n t wird a u c h in dieser Hinsicht an das alttestamentliche Erbe a n g e k n ü p f t - w o b e i der A u f e r s t e h u n g s g l a u b e zur Zeit Jesu im J u d e n t u m umstritten w a r , w i e das Beispiel der - > S a d d u z ä e r zeigt, v o n denen gesagt wird, d a ß sie die A u f e r s t e h u n g leugnen ( M k 12,18). D e r Bericht des —>Josephus Flavius, d a ß die Sadduzäer die Fortexistenz der Seele leugneten, dürfte eine A n passung an den Verständnishorizont seiner Leser sein (Bell 11,165). Paulus spricht z w a r von Unsterblichkeit (aßavaaia), v e r w e n d e t diesen Begriff aber in e i n e m K o n t e x t , in d e m es u m die V e r w a n d l u n g des M e n s c h e n durch das H a n d e l n G o t t e s geht (I Kor 1 5 , 5 3 f . ; vgl. H a a g 7 9 - 8 3 ) . D e r gleiche Z u s a m m e n h a n g ist für II Kor 5,1—4; Phil 1,23 s o w i e für M t 10,28 par.; Lk 23,43; J o h 1 1 , 2 5 f . ; 14,2 v o r a u s z u s e t z e n .

384

Unsterblichkeit I

Im 2. Jh. hat der Apologet Athenagoras einen Versuch unternommen, Auferstehungs- und Unsterblichkeitsglauben in einer umfassenden Theorie zu verbinden (De resurrectione mortuorum XV). Im 3. Jh. hat -»Origenes eine komplizierte Seelenlehre entwickelt und mit der Schwierigkeit gerungen, diese mit dem durch die kirchliche Überlieferung vorgegebenen Auferstehungsglauben zu verbinden (princ. 11,8.10; 111,6). Eine Synthese hat im 4. Jh. —»Gregor von Nyssa geschaffen, wenn er in seinem Dialog Über die Seele und die Auferstehung zunächst den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und dann den Glauben an die Auferstehung des Leibes begründet (vgl. Apostolopoulos). Die Nachwirkung der platonischen Philosophie ist noch stärker in den frühen Werken -»Augustins zu erkennen, der im zweiten Buch seiner Selbstgespräche über das Wesen der Seele reflektiert und ihre Unsterblichkeit zu beweisen versucht, ohne auf die kirchliche Lehre von der Auferstehung überhaupt Bezug zu nehmen. Der Unsterblichkeitsglaube hat auch in der mittelalterlichen Theologie eine große Rolle gespielt. Im 9. Jh. haben sich -»Alkuin und —»Hrabanus Maurus mit diesem Thema beschäftigt. Beide Theologen verfolgen das Interesse nachzuweisen, daß die Seele unsterblich ist, das Leben des Menschen also nicht mit dem Tode endet. Beide betonen aber auch, daß die Seele von Gott geschaffen ist, und eröffnen damit die Möglichkeit, eine Beziehung zum biblischen Auferstehungsglauben herzustellen (Alkuin, De animae ratione: PL 101,645; Hrabanus Maurus, De anima: PL 110,1111). Diese Beziehung wird explizit von Alkuin hergestellt, wenn er kurz auf das Jüngste Gericht und die Wiedervereinigung der (unsterblichen) Seele mit dem Körper hinweist (PL 101,644). Im 12. Jh. argumentiert -»Alanus ab Insulis gegen Häretiker, die die Unsterblichkeit der Seele und die Auferstehung des Fleisches leugnen (contra haereticos 1,27). Er verwendet dabei auch ein Argument, das an die Pascalsche Wette erinnert: dem Menschen erwachse ja kein Nachteil daraus, wenn er die (sterbliche) Seele für unsterblich halte - es sei also besser, an die Unsterblichkeit als an die Sterblichkeit der Seele zu glauben (1,31: PL 210,334).

4. Indien Die älteste Phase der indischen Religionsgeschichte, die durch Texte bezeugt ist, kennt zwar den Glauben an eine Unsterblichkeit im weiteren Sinne, ist aber vorrangig bestimmt durch den Wunsch nach einem langen Leben auf der Erde (Rgveda VIII,48). In den frühen Upanisaden begegnet der Unsterblichkeitsglaube in Gestalt der Seelenwanderungslehre. Im Gespräch zwischen dem König Videha und dem Weisen Yäjnavalkya wird das Schicksal des Menschen nach dem Tode erörtert, und in der Antwort wird die Seele (Ätman) des Menschen als unzerstörbar bezeichnet (Brhadäranyaka-Upanisad IV,2,4; 4,22). Dieser unzerstörbare Ätman wandert von einem Körper zum andern, wobei der Wandel im Leben die Wiedergeburt bestimmt (IV,4,5). In der ChändogyaUpanisad wird die Frage nach der Unsterblichkeit im Gespräch zwischen Uddälaka Äruni und seinem Sohn Svetaketu erörtert: anhand eines Gleichnisses aus der Natur wird klargemacht, daß das Leben, das den Leib verläßt, selbst nicht stirbt (VI,11,3). In der Katha-Upanisad ist zu erkennen, daß die Antwort auf die Frage nach der Unsterblichkeit im alten Indien durchaus umstritten war (1,20). In dem Gespräch zwischen Naciketas und dem Todesgott Yama wird die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die Seele (Ätman) des Menschen unzerstörbar und unsterblich ist (11,18f.). Diese Aussagen werden in der Bhagavadgttä wieder aufgegriffen und weiter ausgeführt: die Seele wechselt den Körper wie der Mensch die Kleider - es ist also falsch, über den Tod zu verzweifeln, da in Wirklichkeit niemand tötet oder getötet wird (11,18-25). Zum Unsterblichkeitsglauben gehört in diesem Zusammenhang auch - das gilt nicht für alle Richtungen des Hinduismus - die Vorstellung eines ewigen Lebens bei Gott, ermöglicht durch den Glauben des Menschen einerseits und die göttliche Gnade andererseits (XVIII,54-56). Im Buddhismus wird ebenfalls vorausgesetzt, daß das Leben des Menschen nicht mit dem Tode endet - gegenüber einem Unglauben, der offensichtlich auch schon im alten Indien verbreitet war (DTgha-Nikäya 1,55 [Sutta Nr. 2]; 11,319 [Sutta Nr. 23]; Majjhima-Nikäya 1,515 [Sutta Nr. 76]; Samyutta-Nikäya 111,206-208). Der Wandel im Leben bestimmt auch nach buddhistischer Auffassung die Wiedergeburt (Majjhima-Nikäya 111,203-206 [Sutta Nr. 135]; Ariguttara-Nikäya 11,230-232), nur daß die Wiedergeburt

Unsterblichkeit I

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nicht als Wiederverkörperung einer unzerstörbaren, unsterblichen Seele (Ätman) aufgefaßt wird (vgl. Glasenapp). In den buddhistischen Lehrformeln, die den Kreislauf der Wiedergeburten beschreiben und erklären, wie z. B. die PratTtyasamutpäda-Formel, hat der Ätman-Begriff, der aus den Upanisaden und dem Hinduismus bekannt ist, keine konstitutive Funktion (DTgha-Nikäya 11,55 f. [Sutta Nr. 15]; Samyutta-Nikäya 11,1 f. [Sutta Nr. 12,1]). Die Frage, ob es überhaupt eine Seele - als Träger der Wiedergeburt - gibt, ist, dem Pali-Kanon zufolge, vom Buddha selbst nicht beantwortet worden (SamyuttaNikäya IV,400f. [Sutta N r . 4 4 , 1 0 ] ) . In der buddhistischen Philosophie sind später eindeutige Antworten gegeben worden: in den „Fragen des Milinda" wird eine Lehre der Wiedergeburt ohne Seelenwanderung entfaltet (Milindapanha 71; siehe auch Visuddhimagga 513), doch gilt dies nicht für alle Richtungen buddhistischer Philosophie nicht einmal im Hinayana-Buddhismus, wie Vasubandhus Auseinandersetzung mit der Schule der Vätslputriya-Särnmatlya zeigt (-»Buddhismus 5.). Der Endzustand der Erlösung, das Nirvana, kann jedenfalls nicht einfach in den eschatologischen Begriffen theistischer Religionen als ewiges Leben beschrieben werden. Dem Pali-Kanon zufolge hat der Buddha die Frage nach der Existenz des Erlösten im Nirvana ebenfalls unbeantwortet gelassen (Majjhima-Nikäya 1 , 4 2 6 - 4 2 8 [Sutta Nr. 63]; Samyutta-Nikäya I V , 3 9 1 - 3 9 5 [Sutta Nr. 44,7]). Es ist aber nicht ausgeschlossen, die buddhistischen Vorstellungen vom Nirvana als besondere Ausprägungen des Unsterblichkeitsglaubens aufzufassen (Majjhima-Nikäya 1 , 1 6 9 - 1 7 2 [Sutta N r . 2 6 ] ; vgl. Perez-Remön 101f.).

Literatur Charalambos Apostolopoulos, Phaedo Christianus. Stud. zur Verbindung u. Abwägung des Verhältnisses zw. dem platonischen „Phaidon" u. dem Dialog Gregors v. Nyssa „Über die Seele u. die Auferstehung", Frankfurt a.M. u.a. 1986. - Jan Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit u. Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990. - Ders., Tod u. Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 2001. - Ulrich Berner, Selbstinterpretation u. Unsterblichkeitsglaube in Religion u. Religionswiss., Diss. theol. Göttingen 1974. - Oscar Cullmann, Unsterblichkeit der Seele oder Auferstehung der Toten? Antwort des NT, Stuttgart 1963 51969. - Gerhard Dautzenberg, Seele (naefaespsyche) im bibl. Denken sowie das Verhältnis v. Unsterblichkeit u. Auferstehung: Seele. Ihre Wirklichkeit, ihr Verhältnis zum Leib u. zur menschlichen Person, hg. v. Klaus Kremer, 1984 (SPAMP 10) 186-203. - Albrecht Dihle, Totenglaube u. Seelenvorstellung im 7. Jh. v. Chr.: JAC.E 9 (1982) 9 - 2 0 . - James George Frazer, The Belief in Immortality and the Worship of the Dead, London 1913. - Dorothea Frede, Piatons „Phaidon", Darmstadt 1999. - Helmut v. Glasenapp, Hat Buddha die Unsterblichkeit der Seele gelehrt?: FuF 13 (1937) 85-86. - Ernst Haag, Seele u. Unsterblichkeit in bibl. Sicht: Seele. Problembegriff christl. Eschatologie, hg. v. Wilhelm Breuning, Freiburg u. a. 1986, 3 1 - 9 3 . - Bernhard Heininger, Der „Ort der Frommen". Zur Rezeption eschatologischer Tradition bei Plutarch u. im 1. Clemensbrief: Plutarch. Ist „Lebe im Verborgenen" eine gute Lebensregel?, eingel., übers, u. mit interpretierenden Essays versehen v. Ulrich Berner/Reinhard Feldmeier/Bernhard Heininger u. a., Darmstadt 2000 (Sapere 1) 140-161. - Friedrich Heiler, Unsterblichkeitsglaube u. Jenseitshoffnung in der Gesch. der Religionen, München/Basel 1950. - Erik Hornung/Tilo Schabert (Hg.), Auferstehung u. Unsterblichkeit, München 1993 (Eranos NF 1). - Emefie Ikenga Metuh, God and Man in African Religion, London 1981. - Eberhard Jüngel, Tod, Stuttgart 1971. - Otto Kaiser, Tod, Auferstehung u. Unsterblichkeit im AT u. im frühen Judentum - in religionsgesch. Zusammenhang bedacht: ders./Eduard Lohse, Tod u. Leben, Stuttgart u. a. 1977, 8 - 8 0 . - Hans-Joachim Klimkeit (Hg.), Tod u. Jenseits im Glauben der Völker, Wiesbaden 1978. - Adel Theodor Khoury/Peter Hünermann (Hg.), Weiterleben nach dem Tode? Die Antwort der Weltreligionen, Freiburg 1985. - Gerardus van der Leeuw, Unsterblichkeit oder Auferstehung, München 1956. - Friedrich Niewöhner, Jenseits u. Zukunft - über eine Differenz im 12. Jh.: ders./ Richard Schaeffler, Unsterblichkeit, Wiesbaden 1999, 6 1 - 7 2 . - Joaquin Perez-Remön, Early Buddhism. Life after Death?: StMiss 32 (1983) 95-122. - Dewi Z. Phillips, Death and Immortality, London u.a. 1970. - Otto Plöger, Tod u. Jenseits im AT: Hans-Joachim Klimkeit (s.o.) 7 7 - 85. - Olaf Pluta, Kritiker der Unsterblichkeitsdoktrin in MA u. Renaissance, Amsterdam 1986. - Armin Schmitt, Zum Thema „Entrückung" im AT: BZ 26 (1982) 3 4 - 4 9 . - Heinrich Schützinger, Tod u. ewiges Leben im Glauben des alten Zweistromlandes: Hans-Joachim Klimkeit (s.o.) 4 8 - 6 1 . Heino Sonnemans, Seele. Unsterblichkeit - Auferstehung. Zur griech. u. christl. Anthropologie u. Eschatologie, 1984 (FThSt 128). - Gunther Stephenson (Hg.), Leben u. Tod in den Religionen.

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Unsterblichkeit II

Symbol u. Wirklichkeit, Darmstadt 1980. - Hans Waldenfels (Hg.), Ein Leben nach dem Leben? Die Antwort der Religionen, Düsseldorf 1988. - Helmut Zander, Gesch. der Seelenwanderung in Europa. Alternative rel. Traditionen v. der Antike bis heute, Darmstadt 1999.

Ulrich Berner

II. Dogmatisch 1. Definition 2. Biblische und philosophische Wurzeln der Frage nach Unsterblichkeit 3. Die Position bei Thomas von Aquino und ihre Bestreitung im Renaissance-Aristotelismus 4. Die reformatorische Position 5. Unsterblichkeit unter den Bedingungen des modernen Wahrheitsbewußtseins (Quellen und Literatur S. 391)

Die Konzeption der Unsterblichkeit gehört nicht zum Kernbestand dogmatischer Lehraussagen, sondern stellt sich vielmehr als mögliche und oft nur randständig behandelte Implikation der —»Eschatologie dar, deren Stellenwert sich aus den jeweiligen, vielfach ausdrücklich gar nicht diskutierten, philosophischen und anthropologischen Vorannahmen des Systems ergibt. Die Frage nach Wesen und Recht einer dogmatischen Lehre von der Unsterblichkeit ist deswegen im Kontext weiter ausholender theoriegeschichtlicher Überlegungen zu stellen. 1.

Definition

Der Begriff Unsterblichkeit bedeutet eine Fortdauer der menschlichen Existenz über den -»Tod hinaus entweder aufgrund von substantiellen Aspekten ihrer Beschaffenheit, denen diese Eigenschaft zukommen soll („-•Seele"), oder aufgrund der theonomen Konstitution von Existenz. Als weitere Differenzierung ergibt sich, daß die Unsterblichkeit entweder zeitlich als unbegrenzte Dauer oder zeitlos vorgestellt werden kann. Eine den Anforderungen des modernen Wahrheitsbewußtseins gerecht werdende Sachbestimmung wird Unsterblichkeit im Sinne der jeweils zweiten Option fassen, also als Zeitüberhobenheit der theonomen Grundstruktur menschlicher Existenz. In diesem Sinne ist der Gedanke einer persönlichen Unsterblichkeit festzuhalten (Stock). 2. Biblische und philosophische

Wurzeln der Frage nach

Unsterblichkeit

2.1. Biblisch-theologisch. Das Alte Testament kennt in seinen älteren Schichten keine Vorstellung persönlicher Unsterblichkeit (s.o. I). Die Frage des Ergehens des einzelnen coram deo entscheidet sich anhand seiner Bewährung angesichts der göttlichen Gebote in diesem Leben, der Gedanke eines Schicksals nach dem Tode fehlt. Erst die Krise der deuterojesajanischen Geschichtseschatologie angesichts der hinter den Erwartungen zurückbleibenden Realitäten ab 538 v. Chr. führt in Verbindung mit den hellenistischen Einflüssen späterer Zeit zu individualeschatologischen Annahmen, die sich in den Apokryphen des Alten Testaments niederschlagen: in Sir 11,22-28 wird das Lebensende unter dem Aspekt des Gerichts nach den Werken verstanden. Entsprechend wird das Martyrium, etwa in II Makk 7,9, als Grund für ewiges —»Leben gesehen, das allerdings als - * Auferstehung, nicht als substantielle Unsterblichkeit verstanden wird. Im Kontext der —> Apokalyptik werden derartige Vorstellungen im Danielbuch zum Gedanken eines umfassenden Gerichts nach den Werken ausgebaut (z.B. Dan 12,2). Unter anderem beeinflußt durch konträre Strömungen der hellenistischen Popularphilosophie bietet das Buch Kohelet (3,19—21; 12,7) eine grundsätzliche Kritik jeder Individualeschatologie, insbesondere aber des Unsterblichkeitsgedankens. Als Ergebnis der inneralttestamentlichen Entwicklung setzt sich der Gedanke einer entweder auf Auferweckung oder auf substantieller Unsterblichkeit beruhenden Dauer des Menschen über sein vorfindliches Leben hinaus durch. Beide Aspekte sind nicht klar getrennt. Das Neue Testament übernimmt diesen Stand und führt die heterogenen Elemente in vielfach unausgeglichene Synthesen: In der synoptischen Tradition begegnet

Unsterblichkeit II

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der Gedanke vom Weltgericht (Mk 13 par.), wobei der futurisch-eschatologische Aspekt noch durch die Naherwartung (Mk 13,30) kompensiert wird, aber in M k 13,33 schon anklingt. Während die Weltgerichtsvorstellung ohne die Annahme einer substantiellen Unsterblichkeit auskommt, scheint diese in Lk 1 2 , 1 6 - 2 1 (Gleichnis vom reichen Kornbauern) und Lk 1 6 , 1 9 - 3 1 (Der reiche Mann und der arme Lazarus) in Ansätzen vorausgesetzt. Die hier wie sonst zu beobachtende grundsätzliche Einzeichnung der individualeschatologischen Frage in den Rahmen der Theonomie (vgl. vor allem M k 1 2 , 1 8 27 par., Sadduzäerfrage nach der Auferstehung) tritt an die Stelle einer genauen Ausarbeitung der Eschatologie. Entsprechendes gilt für die Spannung zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie im vierten Evangelium, die ein streng theonomes (präsentisches) Verständnis von persönlicher Unsterblichkeit (Joh 12,25f., Auferweckung des Lazarus) dem Gedanken einer künftigen Totenauferweckung zum Gericht (Joh 5,28f., vgl. aber 5,25) gegenüberstellt. Entsprechend kennt auch -•Paulus, wie der vierte Evangelist wohl partiell hellenistisch beeinflußt, die Vorstellung eines direkten Übergangs von der Zeit in die Ewigkeit (II Kor 5,1; Phil 1,23, zur christologischen Begründung vgl. 1,21), was in irgendeiner Weise den Gedanken einer Kontinuität zwischen gegenwärtiger und eschatologisch-zukünftiger Existenz einschließen muß. Jedoch wird dieser Aspekt durch die breit ausgeführte Lehre von der Auferstehung der Toten (I Kor 15; I Thess 4 , 1 3 - 1 8 ) , insbesondere von deren ihnen neu zukommendem Auferstehungsleib (I Kor 15,35—49), so weit kompensiert, daß von einer ausgeführten Anschauung von der Unsterblichkeit bei Paulus keine Rede sein kann. Insgesamt ist zu berücksichtigen, daß die neutestamentlichen Autoren nicht theoretisch-systematisch argumentieren, sondern, gerade in ihren eschatologischen Ausführungen, paränetisch-situative Anliegen verfolgen (vgl. Erlemann). Somit ergibt sich, daß die biblische Eschatologie zwar keine ausgeführte Lehre von der Unsterblichkeit kennt (trotz der Verwendung von äßavaaia in I Kor 15,53f.; vgl. Bultmann, Art. OävaTog KTX. 23—25, bes. 25), sich überwiegend sogar anderer individualeschatologischer Konzepte (Auferweckung) bedient, gleichwohl den Gedanken einer teils substantiellen (womöglich Lk 12,16—21), jedenfalls aber theonomen Unsterblichkeit nicht ausschließt, sondern stellenweise impliziert. 2.2. Philosophisch. Vorauszusetzen sind hier weithin begegnende Vorstellungen über ein Leben nach dem Tode, die im indogermanischen Bereich teils weniger (Baetke), teils deutlicher (Zimmer) ausgeprägt sind und auch in benachbarten außerbiblisch-semitischen Kontexten nicht fehlen (Hodel-Hoenes; vgl. auch oben I). Das frühere Griechentum formt aus diesen und anderen lebensweltlich vorgegebenen anthropologischen Annahmen das Konzept des -»Menschen als eines um emotionale und intellektive Fähigkeiten herum zentralisierten und seinesgleichen sowie den Göttern gegenüber verantwortlichen, qua Reflexion aber auch verantwortungsfähigen Individuums (Snell). Die systematisch ausgearbeitete Lehre von der Seele bei -»Plato und —• Aristoteles setzt diese Entwicklung als abgeschlossen voraus. Plato geht davon aus, daß die Seele eine gegenüber dem Körper selbständige Entität ist (Phd. 6 4 a - 6 5 a ) . Wirkliche Erkenntnis kommt allein der Seele zu (ebd. 6 5 d - e ) , deren leibliche Einbindung somit erkenntnishemmend wirkt. Der Philosoph fürchtet daher den Tod nicht (ebd. 67b-68b). Für diese Auffassung wird u.a. geltend gemacht, daß für alle Erkenntnisleitungen Ideenkenntnisse in der Erinnerung präsent sein müssen, die somit nicht empirisch erworben worden sein können (ebd. 7 5 c - 7 6 d ) . Die Seele muß also vorgeburtlich existiert haben. Ferner ist die Seele das belebende Prinzip des Leibes. Daraus folgt, daß sie ihrem Wesen nach Leben und damit mit dem Tode unvermischt, d.h. unsterblich ist (ebd. 105b-106d). Daß in diesem Rahmen gute und schlechte Menschen ein unterschiedliches Schicksal zu erwarten haben, hält Plato ausdrücklich fest (ebd. 107c-108c). Aristoteles transformiert die Platonische Auffassung in einer Weise, die ihrer Bestreitung nahekommt. Die Seele ist die formende Teleologie des Leibes (de an. 414a). Sie ist ferner Inbegriff der lebenserhaltenden Fähigkeit des Organismus (ebd. 416b). Aristoteles unterscheidet die jedem

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Unsterblichkeit II

Lebewesen zukommende Wahrnehmung von dem dem Menschen gegebenen intellektiven Einsichtsvermögen (ebd. 427b), wobei er die Frage der Abtrennbarkeit dieses intellektiven Seelenteils, anders als Plato, zunächst offenläßt (ebd. 429a), sie dann aber implizit negativ beantwortet, indem er das intellektive Vermögen an seine Gegenstände bindet, ohne die es keinen Bestand hat (ebd. 429b). Unsterblich ist lediglich das überindividuelle Prinzip der rationalen Bezogenheit des Menschen auf Einsehbares, die „Wissenschaft in Möglichkeit" (430a).

Die dogmatische Reflexion des Unsterblichkeitsgedankens seit der ältesten Zeit der Kirche führt eine spannungsvolle Synthese des in sich nicht einheitlichen biblischen (s.o. I) und des griechischen Denkens herbei (zu dieser Synthese grundsätzlich sowie zu den sie tragenden Einzelautoren: Harnack I und II), die sehr verschiedene Lehrbildungen ermöglicht. Freilich werden die Spannungen zumeist nicht gesehen, sondern es wird vielmehr davon ausgegangen, daß biblisches und griechisches Denken einen einheitlichen christlichen Sinnentwurf bilden, der sich der historischen Rückschau als ein christlicher Piatonismus mit aristotelischen und stoischen Anteilen darstellt. Ausgeschieden werden lediglich nicht assimilierbare Positionen wie der Epikureismus und verschiedene materialistische Ansätze. Auf diese ist daher hier auch nicht weiter einzugehen. 3. Die Position stotelismus

bei Thomas

von Aquino

und ihre Bestreitung

im

Renaissance-Ari-

Die die ältere Diskussion abschließende Systematisierung leistet in dieser wie in anderen Fragen -»Thomas von Aquino: Die Seele ist, natürlicher Erkenntnis zufolge, das den Körper tragende Prinzip (S.th. I, q. 75, a 1), das seinerseits unkörperlich ist, ferner ist ihr Wesen intellektiv-verstehend, und zwar ohne daß der Körper hierzu erforderlich wäre (ebd. a 2). Als rein formbestimmendes (keineswegs aus Stoff und Form zusammengesetztes: ebd. a 6) und damit daseinskonstitutives Prinzip ist die Seele unvergänglich, wie Thomas, der zunächst in seiner Bestimmung der Seele als Entelechie des Leibes Aristoteles gefolgt war, nun platonisch argumentiert (ebd.). Diese Auffassung trifft angesichts eines in der -»Renaissance mehr und mehr um sich greifenden genuinen Aristotelismus auf Widerspruch: In seiner Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele (1516) greift Pietro Pomponazzi (1462-1525) vor allem den reinen Formcharakter der Seele an, der innerhalb des thomistischen Systems den Unsterblichkeitsgedanken grundlegt. Pomponazzi spielt verschiedene Optionen durch, wie sich die von ihm im Anschluß an Aristoteles wieder klarer gesehenen vitalen Aspekte des Psychischen zu den intellektiven Aspekten verhalten. Immer gilt dabei, daß die Seele beide Aspekte hat, somit in gewisser Weise unsterblich, in anderer Hinsicht aber sterblich ist (Pomponazzi 54f. u.ö.), wobei Pomponazzi die Autorität des Aristoteles für die Betonung der Sterblichkeit in Anspruch nimmt (ebd. 219f.). Angesichts dessen, daß der Mensch qua seelischer Qualität letztlich nur als dasjenige Lebewesen aufzufassen ist, das im Bereich des Materiellen den höchsten Rang einnimmt (ebd. 234f.), plädiert Pomponazzi implizit zunächst für die Sterblichkeit der Seele, ohne sich freilich definitiv festzulegen. Dies ist aber nur der Stand von der natürlichen Vernunft her, so wie Pomponazzi sie, darin von Thomas abweichend, bestimmt. Denn die Unsterblichkeit der Seele muß, wie Pomponazzi abschließend feststellt, als geoffenbarte Glaubenswahrheit gleichwohl angenommen werden (ebd. 228—239). Pomponazzis Schrift markiert damit einen wichtigen Umbruch: Die platonisch-aristotelische Synthese ist zerbrochen, der aristotelische Standpunkt wird als vernunftgemäß unterstellt, die Frage der Unsterblichkeit wird der innerweltlich-rationalen Rekonstruktion entzogen und als Aspekt der theonomen Konstitution menschlicher Existenz reformuliert. Zwar vermag Pomponazzi diese Einsicht nur im Rückgriff auf das thomistische Natur-Gnade-Schema und unter Hinzunahme eines an lehramtlicher Autorität normierten Offenbarungsverständnisses auszudrücken. Dennoch bleibt die Herausarbeitung der Theonomie als des explikativen Hintergrundes für die Klärung der Frage nach der Unsterblichkeit des Menschen eine beachtliche Leistung.

Zwar wird Pomponazzis Schrift lehramtlich verurteilt, gegen seine und entsprechende Positionen wird auf der fünften —• Lateransynode (1512—1517) die Unsterblichkeit der

Unsterblichkeit II

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Seele als auch natürlich einsehbare Voraussetzung der theologischen Lehrbildung festgeschrieben (vgl. DH 1440). Dennoch ist die von Pomponazzi und anderen Aristotelikern grundgelegte Einsicht mehr und mehr auch katholischerseits rezipiert worden, bis dahin, daß die moderne katholische Lehrbildung unter formeller Beibehaltung des thomistischen Standpunkts die materiale Klärung der Unsterblichkeitsfrage in den Bereich der „Gnade", d. h. der Gottesbeziehung, verweist (vgl. etwa Scheeben; noch deutlicher Ratzinger). 4. Die reformatorische

Position

M. -»-Luther hat an der Frage der Unsterblichkeit der Seele kein eigenständiges Interesse, sieht man einmal von der reformatorischen Bestreitung des —• Fegfeuers als eines Zwischenstadiums zwischen Tod und endgültigem Gericht ab. Zwar kritisiert er Aristoteles wegen dessen Bestreitung der immortalitas animae (vgl. Beißer 65); klar ist aber, daß die entscheidende Frage die nach dem persönlichen Glauben des einzelnen ist, die sich angesichts des Todes existentiell zuspitzt (vgl. Sermon von der Bereitung zum Sterben: WA 2,685-697). Der entscheidende Gesichtspunkt ist letztlich, daß Luther den seligmachenden - * Glauben zustande kommen sieht durch die externe Gerechtigkeit Christi, die im Glauben dem gläubigen Subjekt übereignet wird, diesem selbst dann zwar zugehörig ist, aber dennoch die Gerechtigkeit Christi bleibt (vgl. vor allem die Schrift VOM der Freiheit eines Christenmenschen, bes. WA 7,25,26 - 2 6 , 1 2 über den Austausch der Eigenschaften zwischen Christus und dem Gläubigen). Die Vorstellung einer substantiellen Unsterblichkeit hat unter solchen Prämissen keine Funktion. Statt dessen bahnt sich bei Luther ein - von ihm freilich nicht systematisierter und häufig mit Versatzstücken der platonisierenden Eschatologie der damaligen Schultheologie überlagerter - relationaler Begriff von Unsterblichkeit an, der diese als Implikation des rechtfertigenden Glaubens versteht. Der damit gegenüber Autoren wie Pomponazzi gewonnene Fortschritt besteht darin, daß Luther in dieser wie in anderen Fragen aus der Sache - der theonomen Struktur des Glaubens und der von ihm ermöglichten christlichen Existenz - heraus argumentiert und die Konfrontation eines lehramtlich sanktionierten „Offenbarungssatzes" mit der „Vernunfteinsicht" somit in einer tendenziell stimmigen, am Phänomen des Glaubens selbst gewonnenen Gesamtauffassung aufgehoben wird.

Schließlich hat -* Calvin dem Thema der Unsterblichkeit eine eigene (frühe) Abhandlung gewidmet, die Psychopannychia von 1534/1536. Grundsätzlich gilt, daß die Seele allein von Gott abhängig, ansonsten aber unabhängig ist. Calvin versucht eine Näherbestimmung dieser Grundannahme von platonischen Prämissen her: Die Seelen der Erwählten haben unmittelbare Gemeinschaft mit Gott, die auch durch den Tod nicht unterbrochen, vielmehr vervollkommnet wird. Die Vorstellung von einem schlafenden Zwischenzustand der Seelen wird abgelehnt. Der Körper ist für Calvin der Inbegriff der Sünde, der Tod somit Befreiung. Aus R o m 14,8 f. („Leben wir, so leben wir dem H e r r n " ) wird geschlossen, daß Christi Reich als Gemeinschaft immaterieller Seelen zu verstehen ist. In diesem Sinne wird der Tod auch als Ausgang aus der Zeit verstanden. Diejenigen biblischen Belege, die mit der Annahme einer (freilich theonom qualifizierten) substantiellen Unsterblichkeit unvereinbar sind, werden von Calvin auf das Verwerfungsurteil im Endgericht gedeutet. Calvin ist zweifellos der am stärksten platonisch beeinflußte unter den Reformatoren, und in der referierten Frühschrift stellt er von den Reformatoren die am weitesten in Richtung auf eine substantielle Unsterblichkeit gehenden Überlegungen an. Gleichwohl hat auch Calvin letztlich nur unter dem Leitaspekt der Theonomie des menschlichen Daseins Interesse an der Unsterblichkeitsfrage.

5. Unsterblichkeit

unter den Bedingungen

des modernen

Wahrheitsbewußtseins

Schon Pomponazzi hatte die natürliche Unaufweisbarkeit der Unsterblichkeit als wahrscheinlichere Option behauptet. Die sich hier ankündigende Kritik wird in der -»Aufklärung systematisiert, wobei die sachlich abschließende Form dieser Kritik von D. -»Hume vorgebracht worden sein dürfte: Der Mensch kann nur erkennen, was seiner ausschließlich auf Empirie beruhenden Erkenntnisweise konform ist (Hume, Untersuchung 168-187 u. ö.). So bleiben für den Gesamtbestand angeblich übernatürlicher Of-

390

Unsterblichkeit II

fenbarungswahrheiten lediglich moralisch-pragmatische Argumente, die aber näherer Nachprüfung kaum standhalten (Hume, Dialoge 135 f.; vgl. zum Gesamten Wengenroth). Humes Kritik schließt unterschiedslos die beiden Konzepte der substantiellen bzw. der theonomen Unsterblichkeit ein. Der aufklärerischen Kritik gegenüber stellt die nachkantische -»Transzendentalphilosophie einen Neueinsatz dar. Sie unternimmt es, aus der Analyse der Struktur von Existenz deren Theonomie und damit mittelbar deren Unsterblichkeit aufzuweisen. Indem dabei alle Objektivierungen und insbesondere auch der substantielle Typus der Unsterblichkeitskonzeption abgewiesen werden und statt dessen mit relationalen Kategorien operiert wird, wird gleichzeitig der —» Religionskritik der Aufklärung voll Rechnung getragen. I. —»Kant geht in Aufnahme früherer aufklärerischer Gedanken über Freiheit und Unsterblichkeit ( M . -»Mendelssohn) davon aus, daß M o r a l i t ä t grundsätzlich die Annahme von Freiheit verlangt, ferner aber auch die A n n a h m e Gottes als einer bestimmungsgemäßen Freiheitsgebrauch honorierenden Instanz, schließlich auch Unsterblichkeit als Voraussetzung für die Konvergenz von m o r a lischer Würdigkeit und auf diese bezogener Glückseligkeit (Kritik der praktischen Vernunft, A 2 2 3 2 4 1 ) . Z w a r sind weder die -»Freiheit noch Gott und Unsterblichkeit objektivierbare Sachverhalte, ihre Annahme wird aber im Falle der Freiheit durch die Struktur von M o r a l i t ä t , im Falle von Gott und Unsterblichkeit durch die faktische Struktur von unter dem moralischen Postulat stehender Subjektivität erzwungen. J . G . - » F i c h t e geht von Kants Religionsphilosophie aus, bemüht sich aber, die bei Kant - infolge der nachgängigen religiösen Abstützung einer an sich autonomen M o r a l - gegebenen heteronomen und eudämonistischen Tendenzen auszuräumen. Die Theonomie von Subjektivität realisiert sich im vernunftgemäßen Handeln, dies aber nun so, daß sittlicher Akt und religiöse Qualifizierung nicht, wie bei Kant, auseinanderfallen, sondern vielmehr koinzidieren. Im Handeln aus Freiheit gewinnt das Subjekt damit Unsterblichkeit (Fichte 2 4 8 - 3 1 9 , hier 3 1 5 u.ö.). Hieran knüpft F.D.E. -»Schleiermacher kritisch an (zu grundsätzlichen Aspekten vgl. auch Seysen): mit Fichte wird Kants Heteronomie-Implikation kritisiert, was aber nun, anders als bei Fichte, die Pointe gewinnt, daß die Religion aus eigener W ü r d e die Rolle einer Hilfsquelle für anderwärts nicht ausreichende moralische Gesinnung zurückweist (Schleiermacher, Religion 2 0 8 f. u.ö.). Religion ist „Anschauen des Universums" (ebd. 2 1 3 , 3 4 ; vgl. Seysen 1 8 1 - 1 8 6 ) , sie markiert den Indifferenzpunkt, der den transzendentalen Grund von Realität andeutet, auf den alle partikulare Objektivität rückführbar ist, nämlich das Zugleichsein von Selbst- und Gegenstandsbewußtsein ( „ G e f ü h l " und „ A n s c h a u u n g " ) in jenem Urakt, der aller partikularen Gewißheit zugrunde und vorausliegt (Schleiermacher, Religion 2 2 1 ; vgl. 2 2 0 - 2 2 3 ) , damit natürlich auch jedem Handeln.

Schleiermacher hält damit die Höhe von Fichtes Einsichten, indem er das Bezogensein religiöser und sittlicher Gewißheit aufeinander so bestimmt, daß jede Heteronomie ausgeschlossen wird. Gleichzeitig bestimmt er das transzendental leistende Urphänomen so, daß alle reflexionsapriorischen Implikationen ausgeschlossen bleiben. Gerade letzterer Aspekt macht deutlich, daß Schleiermacher nicht etwa einen „Rettungsversuch" zugunsten der Religion unternimmt, sondern daß er vielmehr seine Religionsphilosophie da ansetzen läßt, wo, jedenfalls beim früheren Fichte, die Aporien des in sich regressiven Reflexionsmodells von Subjektivität drohen. Auf dieser Grundlage kritisiert Schleiermacher nun die „Sucht nach einer Unsterblichkeit, die keine ist" (ebd. 146,31 f.), d.h. die Vorstellung von einer sich in der Zeit endlos erstreckenden, strukturell gleichwohl endlichen Existenz. Statt dessen wird Unsterblichkeit im qualifizierten Sinne in eben jener Theonomie gesehen, die in Gestalt des am Indifferenzpunkt von Anschauung und Gefühl aufgewiesenen transzendental-leistenden Grundsachverhalts Konstitutionsprinzip von Subjektivität jeder Art ist. In späteren Schriften umschreibt Schleiermacher die Konsequenzen jener Theonomie am Ort des ihrer gewissen Subjekts als „ewige Jugend" (Monologen) und „Stetigkeit des Gottesbewußtseins" (Glaube § 163,2 [436]). Mit den skizzierten Überlegungen Fichtes und Schleiermachers ist die grundlegende Entscheidungssituation geklärt, die sich angesichts der Unsterblichkeitsfrage unter den Bedingungen des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins stellt: Entweder kann man ein

Unsterblichkeit II

391

Konzept von Unsterblichkeit als Implikation von Theonomie aus einer Analyse der Existenz gewinnen (so etwa ansatzweise P. ->Althaus, entschiedener E. -»Hirsch), oder man muß sich mit dem Gedanken behelfen, daß eine im Prinzip jeder Religionskritik Recht gebende Realität vom Offenbarungsfaktum so getroffen wird, daß nun ganz anderes gilt, etwa eine repristinierte paulinische Eschatologie (so z . B . K. —»Barth), die jedenfalls in der Auslegung ihrer neuprotestantischen Interpreten - ohne den Unsterblichkeitsgedanken auskommt. Barths Weg wäre strukturell letztlich der, den schon Pomponazzi gegangen ist: Einer gegenüber eschatologischen Anmutungen widerständigen Lebenswelt ( „ N a t u r " ) wird ein in sich oder institutionell sanktioniertes Offenbarungsfaktum („Gnade") entgegengesetzt. Die Alternative, für die hiermit plädiert werden soll, wäre die Auslegung von Existenz auf T h e o n o m i e hin. Wenn die Entscheidung der Alternative von Theonomie oder Offenbarungspositivismus letztlich offenbleiben muß, da beide Wege methodisch in gewisser Weise zulässig erscheinen, ist ein dritter Weg konsequent abzuweisen (gegen Kübler-Ross): Die Fortexistenz eines vulgären Piatonismus im Aberglauben verfällt der erkenntnistheoretischen Kritik, die gegen den substantiellen Seelenbegriff dieser Richtung geltend gemacht worden ist. Z w a r scheint manches für die subjektive Evidenz und suggestive Kraft einzelner angeblicher Erscheinungen Verstorbener zu sprechen. Jedoch sind derartige Erlebnisse nach der Seite der sich in ihnen aussprechenden Überzeugungen der volkskundlichen Erforschung des Aberglaubens, nach ihrer subjektiven Seite der Psychologie zu überlassen. Theologisch besagen sie nichts. Bedenken scheinen auch gegen Versuche angebracht zu sein, aus vermeintlichen oder tatsächlichen Lücken im Kausalgefüge der Natur für die Eschatologie Gewinn ziehen zu wollen. Quellen und Literatur 1. Quellenschriften u. Monographien mit Quellencharakter: Aristoteles, Ilepl ipoyfjt;; dt.: Über die Seele: ders., Phil. Sehr, in sechs Bänden. VI. Physik. Uber die Seele, übers, v. Hans Günter Zekl, Darmstadt 1995. - Paul Althaus, Die letzten Dinge. Entwurf einer christl. Eschatologie, Gütersloh 1922. - Karl Barth, Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorl. über I. Kor. 15, München 1924 Zollikon/Zürich 41953. - Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 1941 u.ö. (KEK 21"). - Johannes Calvin, Psychopannychia, hg. v. Walther Zimmerli, 1932 (QGP 13). - Johann Gottlieb Fichte, Die Bestimmung des Menschen: ders., SW, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Abt. 1/2. Zur theoretischen Phil., Berlin 1845 Nachdr. 1971, 164-319. - Emanuel Hirsch, Hauptfragen christl. Religionsphil., Berlin 1964. - David Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), La Salle, III. 1988; dt.: Eine Unters, über den menschlichen Verstand, Stuttgart 1967. - Ders., Dialogues Concerning Natural Religion (1779), Indianapolis, Ind. 1980; dt.: Dialoge über natürliche Religion, Stuttgart 1981. - Immanuel Kant, Kritik der prakt. Vernunft: ders., Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt, VI 1983, 103-302. - Leo X. (V. Laterankonzil), De anima humana doctrina contra Neo-Aristotélicos: DH 1440. - Martin Luther, Ein Sermon v. der Bereitung zum Sterben (1519): WA 2,685-697. - Ders., Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520): WA 7,20-38. - Ders., Predigt über Lukas 16,19ff. vom 22. Juni 1522: WA 10/3,191ff. - Moses Mendelssohn, Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drei Gesprächen: ders., Sehr, über Religion u. Aufklärung, hg. v. Martina Thom, Berlin 1989, 71-308. - Plato, Phaidon: ders., SW, übers, v. Friedrich Schleiermacher, Hamburg, III 1958, 11-66. - Pietro Pomponazzi, Tractatus de immortalitate animae, Bononia 1516; dt.-lat.: Abh. über die Unsterblichkeit der Seele, übers, u. mit einer Einl. hg. v. Burkhard Mojsisch, Hamburg 1990 (PhB 434). - Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern: ders., Sehr, aus der Berliner Zeit 1796-1799. Krit. GA 1/2, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185-326 = ders., Uber die Religion, Berlin/New York 2001 (de Gruyter Texte).-Ders., Monologen. Eine Neujahrsgabe: ders., Sehr, aus der Berliner Zeit 1800. Krit. GA 1/3, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1988, 1 - 6 1 . - Ders., Der christl. Glaube nach den Grundsätzen der ev. Kirche im Zusammenhange darg. (1830/31), hg. v. Martin Redeker, 2 Bde., Berlin 'i960 = 1999. - Thomas v. Aquin, Summe der Theol., eingel. u. erl. v. Joseph Bernhart, 3 Bde., 31985 (KTA 105-106.109). 2. Sekundär- u. sonstige Literatur: Ansgar Ahlbrecht, Tod u. Unsterblichkeit in der ev. Theol. der Gegenwart, 1964 (KKTS 10). - Walter Baetke, Art u. Glaube der Germanen, Hamburg 1934. - Jörg Baur, Piatons Wort zu Seele u. Unsterblichkeit: ders., Einsicht u. Glaube. Aufs., Göttingen 1978,18-24.-Ders., Unsterblichkeit der Seeleu. Auferstehung v. den Toten: ebd. 24-49.-Friedrich

392

Unsterblichkeit III

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III. P h i l o s o p h i s c h 1. Die Verhülltheit des Daseins durch den Tod Tod hinaus (Literatur S. 397) 1. Die Verhülltheit

des Daseins

durch

den

2. Grundgestalten der Hoffnung über den Tod

Z u a l l e n Z e i t e n h a b e n die M e n s c h e n v e r s u c h t , „ H o f f n u n g s b i l d e r " (E. —»Bloch) aufz u r i c h t e n , u m d e m —»Tod seinen S t a c h e l zu z i e h e n . E s sind m y t h i s c h e E r z ä h l u n g e n , der G l a u b e a n e i n e n u n s t e r b l i c h e n G o t t , d e r den M e n s c h e n a n seiner U n s t e r b l i c h k e i t teilh a b e n l ä ß t , a b e r a u c h A r g u m e n t e des p h i l o s o p h i s c h e n D e n k e n s . M a n v e r s u c h t d a n n , die - » H o f f n u n g zu n ä h r e n , der T o d sei n i c h t d a s E n d e , s o n d e r n die V o l l e n d u n g des m e n s c h l i c h e n D a s e i n s , d a s E i n m ü n d e n in —»Sinn u n d G e b o r g e n h e i t , F r e i h e i t u n d F r i e d e n in einer e n d g ü l t i g e n , u n v e r g ä n g l i c h e n L e b e n s g e s t a l t . I m m e r w i e d e r b e g e g n e n w i r a b e r a u c h d e r U b e r z e u g u n g , d e r T o d b r i n g e u n s e r e E x i s t e n z a n ein u n w i d e r r u f l i c h e s E n d e . A u f g r u n d dieser S i t u a t i o n h a t d e r k a t h o l i s c h e T h e o l o g e u n d P h i l o s o p h K .

Rahner

v o n e i n e r V e r h ü l l t h e i t g e s p r o c h e n , die ü b e r d e m T o d des M e n s c h e n liegt. E r erscheint uns als E n d e s c h l e c h t h i n o d e r als E i n t r i t t in d a s w a h r e L e b e n , als „ l e e r e S c h a t t e n h a f t i g k e i t " o d e r „ e r r e i c h t e F ü l l e des L e b e n s " (Karl R a h n e r , Z u r T h e o l o g i e des T o d e s , 1958 [ Q D 2] 38f.). Diese Doppelbödigkeit gründet darin, d a ß keiner von den n o c h Lebenden erfahren h a t , w a s i m T o d e m i t d e m M e n s c h e n g e s c h i e h t . D a s w i s s e n w i r n u r , w e n n w i r ihn

Unsterblichkeit III

393

selber bereits hinter uns gebracht haben und wenn es ein Leben jenseits des Todes gibt. Sollte dies nicht der Fall sein, werden wir es niemals wissen, weil es dann kein Subjekt des Wissens mehr gibt. So werden wir niemals eine endgültige, von niemandem mehr bezweifelte Antwort auf die Frage nach dem Schicksal des Menschen im Tode erhalten. Dabei ist zu bedenken, daß der Tod nicht nur am Ende unseres Lebens steht, sondern von ihm her auf das ganze Leben einwirkt. Denn unsere Selbsteinschätzung, die grundlegenden Einstellungen und von daher Verhalten und Handeln werden von dem her mitgeprägt, was wir im Tode erwarten. So breitet sich vom Tod her die Verhülltheit auf das ganze Leben aus. 1.1. Verhülltheit

bei Th.W.

Adorno

Was hier Verhülltheit genannt wird, hat in eindrucksvoller Weise auch Th. W. Adorno zur Geltung gebracht. Für ihn sind keine positiven Aussagen über ein Leben des Menschen jenseits der Todesgrenze möglich. Dennoch gilt ihm der Gedanke, „der Tod sei das schlechthin Letzte", als „unausdenkbar". Für Adorno müssen wir ständig im Namen der Erlösung denken, ohne positiv sagen zu können, worin sie besteht. Ähnliches gilt auch dem Tod gegenüber. „Wäre der Tod jenes Absolute, das die Philosophie vergebens beschwor, so ist alles überhaupt nichts, und jeder Gedanke ins Leere gedacht, keiner läßt mit Wahrheit irgend sich denken. Denn es ist ein M o m e n t der Wahrheit, daß sie samt ihrem Zeitkern dauere; ohne alle Dauer wäre keine, noch deren letzte Spur verschlänge der absolute Tod." Dennoch ist keine fixierte „Unsterblichkeitsthese" möglich. Es gilt vielmehr: Die Idee des absoluten Todes „spotte des Denken kaum weniger als die von Unsterblichkeit". Dennoch bleibt es dabei: Nichts kann „als wahrhaft Lebendiges erfahren werden", wenn es nicht eine Verheißung des „dem Leben Transzendenten" in sich trüge (Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a . M . 1966 7 1992 [stw 113] 368.366). 1.2. Die Verhülltheit

bei M .

Heidegger

Für M. -»Heidegger gilt: Das Vorlaufen in den Tod führt den Menschen über alles Seiende hinaus. Denn im Gedanken an den uns gewissen Tod vermag uns die Maßlosigkeit des auf uns zukommenden Nichts zu ängstigen. Bei Heidegger ist das Nichts aber nicht schlechthin nichts. Es heißt nur Nichts im Vergleich zum Seienden. In sich „west" es als „das Geheimnis des Seins selbst" (Heidegger, VuA, Pfullingen 1954, 177). Ihm begegnen die Menschen im Tode. In seinem Leben geht er auf den Tod als dasjenige Ereignis zu, in welchem sich Nichts und Sein in ihrem Unterschied von allem Seienden miteinander verschränken. Eben dies ist das Geheimnis oder das Verhüllte, über das nicht wie über irgendein Seiendes geredet werden kann. Daher versteht Heidegger das rätselhafte Fragment 27 des Heraklit („Der Menschen wartet, wenn sie gestorben, was sie nicht hoffen noch wähnen") im Sinne der Verhülltheit des Todes. Er bezieht sich in einem Gespräch mit Eugen Fink über dieses Fragment auf Wolfgang Amadeus Mozart: „Mozart sagte ein viertel Jahr vor seinem Tode: ,Der Unbekannte spricht zu mir'." In diesem Zusammenhang unterscheidet Heidegger zwischen Erwarten und Hoffen. Für ihn liegt im Hoffen „immer ein Rechnen auf etwas, im Erwarten dagegen . . . die Haltung des Sichfügens". Es bedeutet „die Zurückhaltung". Das Hoffen dagegen „bedeutet ,sich mit etwas fest b e f a s s e n ' " und enthält „gleichsam ein aggressives Moment, die Erwartung dagegen das M o m e n t der Verhaltenheit". In ihr verhält sich der Mensch zur Verhülltheit, zum Unbekannten des Todes. Er verzichtet auf ein „Rechnen auf etwas", welches nach Heidegger im Hoffen immer noch liegt angesichts des Verhüllten (M. Heidegger/E. Fink, Heraklit, Frankfurt a . M . 1970, 242ff.). 2. Grundgestalten

der Hoffnung

über den Tod

hinaus

Alle Versuche, über das Schicksal des Menschen im Tode Aussagen zu machen, müssen vor den Hintergrund der Verhülltheit gestellt werden. Das gilt, auch wenn man die Gleichstellung der Hoffnung durch Heidegger mit einem festen Sichbefassen, welches

394

Unsterblichkeit III

ein Rechnen auf etwas in sich enthält, mit der Logik der Hoffnung als einer interpersonalen Beziehung für unvereinbar hält. Soweit wir die Geschichte unseres Problems zu überblicken vermögen, scheint die Menschheit ihre Hoffnung über den Tod hinaus in fünf Grundgestalten oder Hoffnungsbildern im Sinne E. Blochs gefaßt zu haben. Es sind: 1. das Aufgehobensein in einem todlosen Ganzen; 2. das Fortleben in den Nachkommen; 3. die Unsterblichkeit der -•Seele; 4. die Reinkarnation (-»Seelen Wanderung) und 5. die Auferweckung oder —» Auferstehung von den Toten. 2.1. Aufgehoben

im todlosen

Ganzen

Als todloses Ganzes zeigt sich dem Menschen zunächst die Natur. In ihrem Rhythmus der Wiederkehr von Absterben und Wiederkehr des Lebens erweist sie sich als ein Gesamtzusammenhang, in welchem Tod und Leben sich gegenseitig umgreifen. Die vorsokratischen Denker beziehen sich auf ein solches todloses Ganzes, wenn sie von dem Ursprung ( ä p x f f ) reden, durch den alles ist und zu dem alles zurückkehrt, so daß er das Eine in allem ist. Anaximander, Heraklit, aber auch Parmenides beziehen sich auf eine solche All-Einheit (-»Vorsokratik). Wenn sie das ist, woraus alles entspringt und auch zu ihm zurückkehrt, so gehört alles diesem Todlosen an, obwohl die Individuen im Tode aufgelöst werden. In ähnlicher Weise scheinen auch die Menschen bei -»Hegel im dialektischen Prozeß der Selbstvermittlung des Absoluten in Natur und Geschichte aufgehoben zu sein. Von einer persönlichen Unsterblichkeit oder Auferstehung spricht Hegel aber nicht. Wahrscheinlich ist der Gedanke vom todlosen Ganzen auch einer der Hintergründe der weit verbreiteten Lehre von der Reinkarnation. Sie ist aber, vor allem in ihrer europäischen Version, z. B. bei Pythagoras und —>Plato, mit dem Theorem von der Unsterblichkeit der Seele verbunden. Auf diese Weise kann der Zusammenhang zwischen dem todlosen Ganzen und dem sterblich-unsterblichen Menschen klarer gefaßt werden. Dagegen kann bei der Vorstellung eines Weiterlebens in den Nachkommen der eigenen Familie oder Sippe nur von einem die Generationen übergreifenden Gedenken eines Verstorbenen gesprochen werden, nicht aber von einer persönlichen Unsterblichkeit. 2.2. Unsterblichkeit

der Seele und

Auferweckung

Das Verständnis der Seele als einer vom Leibe verschiedenen, aber doch eng mit ihm verwobenen Wirklichkeit hat eine lange vorphilosophische Geschichte und reicht bis zu den Schamanen (-*Schamanismus) zurück. Eine weitreichende philosophische Bedeutung erlangte sie durch die Pythagoreer und vor allem durch Plato und dessen Einfluß auf —»Stoa, —»Neuplatonismus und auch manche Kirchenväter. Piatos Theorie beruht auf einer dualistischen Fassung des Leib-Seele-Problems (—»Leib und Seele). Alles Leiblich-Materielle ist dem Werden und Vergehen unterworfen. Die Seele aber ist unentstanden und hat vor unserer Geburt präexistiert. Sie sucht nach bleibendem Glück. Dieses kann sie nur in der Zuwendung zu dem wahrhaft Seienden, den unvergänglichen Ideen und dem sie ermöglichenden göttlichen Geheimnis erreichen, dem Guten „jenseits des Seienden". So ist sie dem Reich des Unveränderlichen zugeordnet. Außerdem ist die Seele einfach, d.h. nicht zusammengesetzt. Auch darum kann sie nicht vergehen. Nur der aus Teilen zusammengesetzte Körper gehört dem Bereich des Werdens und Vergehens an. Die Seele ist ihm entrückt. Darum kann man sagen, für Plato sei das Urteil „Der Tod ist die Trennung von Seele und Leib" in sich bereits eine Behauptung der Unsterblichkeit der Seele. Die Rezeption des platonischen Theorems von der Unsterblichkeit der Seele durch Theologie und kirchliche Lehräußerungen sicherte ihm auch in der Geschichte des bisherigen Christentums einen überragenden Einfluß. Dieser ist auch heute noch so bedeutend, daß er für viele Menschen die biblische Hoffnung auf die Auferweckung des ganzen Menschen überlagert und sie die platonische Lehre mit dem Kern der christlichen

Unsterblichkeit III

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Botschaft vom zukünftigen Leben verwechseln. Die Reformatoren erkannten allerdings, daß diese Lehre von der Unsterblichkeit philosophischen und nicht biblischen Ursprungs ist. Seit dem späten Mittelalter wurde eine Entwicklung eingeleitet, die über verschiedene Zwischenstationen zu einer radikalen Kritik der platonischen Auffassung von der Unsterblichkeit führt. Vor allem -»Kants Kritik der „rationalen Psychologie" ist hier von bestimmender Bedeutung geworden. Dabei wird zumeist vergessen, daß Kant zwar der Überzeugung war, es seien keine theoretischen Beweise für die Unsterblichkeit möglich, daß die Vernunft aber ihr eigenes Wesen aus der Sicht verlieren müßte, wenn sie die Unsterblichkeit nicht als ein Postulat der praktischen, d.h. moralischen Vernunft begreifen würde. Ohne Annahme einer Unsterblichkeit ist nämlich nicht zu verstehen, wie dem Menschen das -»Höchste Gut zuteil werden soll, der unendliche Fortschritt in der Annäherung an die pflichtgemäße Gesinnung und eine gerechte Vereinigung von Pflichterfüllung und Glück. Die auf die biblischen Zeugnisse zurückgehende Hoffnung auf Auferweckung unterscheidet sich in zwei Punkten von Piatos philosophischer Unsterblichkeitslehre. Der erste bezieht sich auf die geistig-leibliche Einheit des Menschen. Die Unsterblichkeit bezieht sich auf die Seele und überläßt den Leib dem Grab. Die Auferweckung dagegen bezieht sich auf den einen und ganzen Menschen, der als verleiblichter Geist und geisterfüllte Leiblichkeit in der Welt da ist. Der zweite Aspekt hängt mit dem ersten aufs engste zusammen. Wer an Auferweckung glaubt, ist nicht davon überzeugt, daß im Menschen dessen Geist, Selbst, Seele oder wie immer man es bezeichnen mag, seinsmäßig von solcher Art ist, daß es dem Tod unerreichbar gegenüber bleibt. Ist der Mensch diese geist-leibliche Einheit, so trennt sich im Tode nicht der unsterbliche Anteil vom sterblichen materiellen. Vielmehr zerbricht dann die Einheit der -»-Person, welche dieser bestimmte Mensch ist. In dieser äußersten Bedrohung gerät dann der Mensch an den Rand des Nichts. In ihm droht er endgültig zu versinken. Es bleibt nur noch folgende Möglichkeit einer Hoffnung übrig, welche über die Grenze des Todes hinausgreift: Es muß sich uns jene Macht im Tode persönlich zuwenden, die allein in der Lage ist, das Nichtsein zu überwinden. Das ist die schöpferische Kraft des absoluten Seins und Lebens (-»Fichte). Nur der „Herr des Seins" (—»Schelling) kann uns dann vor dem Sturz in das definitive Ende retten. Freilich muß diese Macht nicht nur das Sein selbst sein, sondern zugleich absolute -»Freiheit. In ihr muß sie sich mit ihrer schöpferischen Seinsmächtigkeit dem im Tode Versinkenden zuwenden. Freiheit als Zuwendung nennen wir: -»Liebe. Wenn wir dem Tode verfallenen Menschen eine Hoffnung haben dürfen, muß sie sich auf das unendliche und grenzenlose Sein richten, das als solches Freiheit und diese Freiheit als Liebe ist. Diese Urwirklichkeit ist der lebendige Gott, der die Toten auferweckt. Die Hoffnung über die Todesgrenze hinaus kann nicht auf ein unvergängliches „Stück" im Menschen selber setzen, sondern muß sich der rettenden Tat jener Freiheit aussetzen, die Sein und Liebe zugleich ist. Ist das soeben Vorgetragene ein philosophisches oder ein christlich-theologisches Argument? Theologisch und von der philosophierenden Vernunft uneinholbar ist der Glaube, daß sich jene rettende Tat Gottes, die wir Auferweckung nennen, an einer bestimmten Person bereits ereignet hat, die uns aus der Geschichte bekannt ist, an Jesus von Nazareth (-»Jesus Christus). Von solchen faktisch-geschichtlichen Ereignissen kann die Philosophie als solche grundsätzlich nichts wissen. Aber sie kann sich sehr wohl ein Urteil darüber zutrauen, ob der Glaube an Auferweckung, die von Jesus Christus her allen Menschen eine Hoffnung eröffnet, irrational oder der Vernunft entsprechend ist. Anthropologische Einsichten in die Einheit des Menschen in der bleibenden Verschiedenheit von Geistigkeit und Materialität, die kritische Distanz zu allen dualistischen Konzepten und die Rezeption naturwissenschaftlicher Einsichten lassen den Glauben an Auferweckung oder Auferstehung nicht als vernunftwidrig, sondern als sinnvolle Hoffnung erscheinen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß im Zuge der Erforschung des mensch-

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liehen Gehirns immer deutlicher geworden ist, daß dieses Zentralorgan des Menschen eine Bedingung der Möglichkeit seiner geistigen Vollzüge ist. Sein Geist ist offenbar so endlich, daß er dieses materiellen Substrates bedarf. Das wird auch zugeben müssen, wer die Identitätsthese von Geist und Gehirn mit Recht entschieden ablehnt. Allerdings ist hier ein mögliches Mißverständnis auszuräumen. Von Auferweckung kann nur sinnvoll gesprochen werden, wenn eine Identität zwischen dem Verstorbenen und dem Auferweckten zustande kommen kann. Es muß derselbe Mensch mit seiner individuellen Natur, seinen persönlichen Entscheidungen und Beziehungen und seiner einmaligen geschichtlichen Situation sein, welcher stirbt und aufersteht und so in die Vollendung seines Lebens eingeht. Ist und bleibt es nicht derselbe Mensch, wird das Wort von der Auferstehung sinnlos. Derselbe Mensch kann es aber nur dann sein, wenn das Zentrum seiner Identität und damit seiner Lebensgeschichte, seine geistige Seele, im Tode nicht der Auflösung anheimfällt. Wenn aber die menschliche Geistseele, gerade auch im Hinblick auf die heutigen Ergebnisse der Hirnforschung, nicht als ein aus sich unsterbliches, sondern als ein endliches und vergängliches Wesen betrachtet werden muß, dann folgt: Sie überlebt den möglichen Sturz ins Nichts im Tode nicht aus eigener Kraft, sondern gerade sie muß von jener absoluten Freiheit und seinshaften Liebe gerettet werden. In diesem Sinne wird dann die Unvergänglichkeit der Seele zu einem M o m e n t an Auferweckung. Von Unsterblichkeit im strengen Sinne kann dann freilich nicht mehr gesprochen werden. Denn die Seele gilt nicht länger mehr als aus sich selbst unsterblich. Auch sie muß gerettet werden. Die Identität eines Menschen besagt ein Doppeltes. Einmal, daß dieser Mensch unverwechselbar er selbst ist und unvertretbar in souveräner Einzigkeit zu sich „ich" sagen kann. Es besagt zum anderen, daß dieses grundlegende, aber doch auch noch abstrakte Ich eine Lebensgeschichte hinter sich gebracht hat. In ihr hat er sich mit anderen und anderem identifiziert, sich gegen manches gewandt, seine Entscheidungen gefällt und seine Grundhaltungen eingenommen. In dieser Lebensgeschichte hat er einiges erreicht, anderes verfehlt und ist in mancherlei Hinsicht sogar gescheitert. Wird das Ich vor dem Untergang in das Nichts bewahrt, so lebt das alles wieder auf und tritt in das Licht der absoluten Wahrheit ein. Damit scheint die Wurzel der bei so vielen Völkern verbreiteten Uberzeugung vom jenseitigen Gericht über die Toten berührt zu werden. Es ist Plato, der —>Sokrates sagen läßt, er habe immer wieder über den Mythos vom Totengericht nachgedacht, und er möchte nicht auf ihn verzichten (Phd. 114D). Weiter ist folgendes zu beachten: Wenn es wahr ist, daß die Errettung aus dem Sturz in das Nichts dem Menschen im Tode widerfährt, dann folgt: Eben dieser Tod ist das Ereignis der Auferweckung, der Augenblick, in welchem der Mensch die rettende Zuwendung dessen erfährt, der das absolute Sein und Leben ist. In diesem Augenblick macht der unsterbliche Gott den ganz und gar sterblichen Menschen seiner eigenen Unsterblichkeit teilhaftig. (Auch das Neue Testament kennt durchaus den Gedanken an die Auferstehung im Tode: Lk 23,43.) Es versteht sich, daß die Auferweckung von den Toten keine Wiederbelebung eines Leichnams bedeutet. Der Leib des Menschen muß, um das zu verstehen, allerdings klar von seinem Körper unterschieden werden. Z u m Körper gehören die aus Elementarteilchen zusammengefügten Atome, die Moleküle, Zellen, Organe und Organverbände. Leib sind wir, weil sich in dieser materiellen Basis Mitteilung von Sinn, Erscheinung von Freiheit, schöpferische Gestaltung, interpersonale Verhältnisse darstellen und raumzeitliche Erscheinung werden können. Leib bedeutet zuerst und zuletzt, daß unsere personhafte Identität in einem materiellen Medium zur Erscheinung kommt. Leib ist die Anwesenheit des personhaften Geistes im Körper und dadurch in der materiellen Welt. Für eine solche Vergegenwärtigung des persönlichen Selbstes ist keineswegs der nach dem Tode verwesende Körper notwendig. Diese je persönliche Leiblichkeit ereignet sich immer dann, wenn unser Geist als er selbst sich im Medium irgendeines Materials darstellt. Dieses braucht keine Masse zu sein, sondern läßt sich auch als z. B. strahlende

Unterhaltung

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Energie denken. Die Einsichten der Physik des 20. Jh. scheinen jedenfalls durchaus tauglich zu sein, uns die Möglichkeit eines pneumatischen, geistigen Leibes (I Kor 15) näherzubringen. Die im Anschluß an M. —»Scheler von H.-E. Hengstenberg wieder aufgegriffene Unterscheidung von Körper und Leib und ihre Bedeutung für die -»Eschatologie besitzen eine bedeutende Vorgeschichte in der Spätantike bei -»Origenes und finden sich auch bei -»Averroes. Für ihn kann die Unsterblichkeit einer vom Leibe getrennten Seele nicht gedacht werden. Denn die Individualität des Menschen hängt für ihn an der Leiblichkeit des Menschen, da er der Auffassung des —• Aristoteles folgt, die Materie sei das Individuationsprinzip. Nur im Zusammenhang mit der Auferstehung des Leibes kann es ein Leben des Menschen jenseits der Todesgrenze geben. Allerdings gilt auch für Averroes, daß der irdische Körper des Menschen im Tode zugrunde geht. Die Seele muß einen neuen, geistigen Gesetzen folgenden Leib bilden, den Averroes Astralleib nennt. Literatur Margot Fleischer, Hermeneutische Anthropologie, Berlin/New York 1976. - Hans-Eduard Hengstenberg, Tod u. Vollendung, Regensburg 1938; ab 2. Aufl. u.d. T.: Der Leib u. die letzten Dinge, Regensburg 2 1955 Dettelbach 3 1996. - Gabriel Marcel, Position et approches concrètes du mystère ontologique, Paris 1933 = Louvain 1949; dt.: Das ontologische Geheimnis, Stuttgart 1964. - Ders., Présence et immortalité, Paris 1959; dt.: Gegenwart u. Unsterblichkeit, Frankfurt a . M . 1961. - Josef Pieper, Tod u. Unsterblichkeit, München 1968 = 1979. - Georg Scherer, Sinnerfahrung u. Unsterblichkeit, Darmstadt 1985.

Georg Scherer

Unterhaltung 1. Sprachliche Wurzeln 2. Biblische Beobachtungen 3. Rhetorische Aspekte 4. Theologiegeschichtliche Spuren 5. Kulturanthropologische Entdeckungen 6. Systematisch-theologische Einsichten 7. Praktisch-theologische Verortungen (Literatur S. 401)

1. Sprachliche

Wurzeln

Unterhaltung hat es in der deutschen Sprache mit drei Dimensionen zu tun. Von seiner physischen Bedeutung - jemandem etwas unterhalten, jemanden unterstützen herkommend, entwickelt sich zunächst das nutritive Verständnis von Unterhaltung jemanden erhalten, ernähren, unterstützen. Das Nutritive stellt bis ins 18. Jh. die Hauptverwendung dar und bezeichnet alles, „was der mensch zu seiner nahrung, kleidung und auferziehung von nöthen hat" (DWb 24 [1936] 1595). Mit dem Aufkommen einer bürgerlichen Gesprächskultur im 18. Jh. gewinnt das kommunikative Verständnis von Unterhaltung - ein Gespräch führen - immer größere Bedeutung. Aus dieser Gemengelage entwickelt sich der heute übliche Gebrauch von Unterhaltung als Amüsement. Im 19. Jh. entfernen sich diese drei Dimensionen von Unterhaltung immer weiter voneinander bis zur Unkenntlichkeit ihres Zusammenhangs. Durch die neue Medienwirklichkeit wird Unterhaltung in der Zusammengehörigkeit ihrer drei Dimensionen theologisch wieder interessant. 2. Biblische

Beobachtungen

Explizite biblische Bezüge zur Unterhaltung sind selten. Immerhin wird der Name des Erzvaters Isaak vom Lachen her gedeutet (Gen 18,9—15; 21,1-7). Die beiden miteinander zusammenhängenden hebräischen Wurzeln yshäq und shq bringen den Zusammenhang von Unterhaltung, Sprache, Lachen und Sexualität zur Geltung. Im Griechischen wird der kommunikative Aspekt der Unterhaltung mit den beiden Worten öiaXiyofiai und öfiikeco ausgedrückt. Beide Begriffe sind für die Beschreibung

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christlicher Verkündigung wichtig geworden, da sie beide sowohl mit „sich unterhalten", „miteinander reden" als auch mit „predigen" übersetzt werden können. Aus dem ersten Begriff leitet sich die Dialektik (—»Artes liberales) ab, aus dem zweiten die -»Homiletik. Beide Begriffe begegnen im Neuen Testament vorwiegend im lukanischen Doppelwerk, welches insgesamt als Unterhaltungsliteratur charakterisiert wurde (Pervo; Downing). Begibt man sich einmal auf die Spur, daß die Bibel auch der Unterhaltung dient, so lassen sich viele unterhaltsame Geschichten, Szenen und Sentenzen finden, angefangen von -»-Davids ekstatischem Tanz vor der Bundeslade (II Sam 6) über die prophetischen Performances (z. B. I Reg 18; Jes 20; Jer 27; Ez 4) bis hin zu Jesu Gleichnissen, der Emmausgeschichte (Lk 24,13-35), den Abenteuern und Burlesken in der Apostelgeschichte (z.B. Act 20,7-12) oder der christlichen Existenzbeschreibung des Paulus (I Kor 4,10): „Wir sind Narren um Christi willen". 3. Rhetorische

Aspekte

In der antiken -»Rhetorik hat die Unterhaltung (delectare) ein kaum zu unterschätzendes Gewicht. Sie ist eine der drei officia oratoris, der drei Aufgaben des Redners bei einer jeden Rede: docere, delectare, movere. Während docere auf die intellektuelle Einsicht zielt, sprechen delectare und movere den Affekt an. Dabei werden dem delectare als Ethos die sanften Affektstufen und dem movere als Pathos die Erregung und Erschütterung zugeordnet. Das delectare als Mittel gegen die durch das docere und movere ausgelöste Ermüdung der Hörer bezieht sich auf den Raum zwischen docere und movere und kommt vor allem durch den Redner im Akt der Rede zur Geltung, hat also vorwiegend Performance-Charakter. Am angemessenen delectare liegt es, ob das Gesagte überhaupt eine Wirkung hat oder nicht. Die zum Teil vernichtende Kritik innerhalb des Christentums an der Rhetorik insgesamt kann auch als eine Kritik am delectare gelesen werden und war nur möglich, indem man im Rahmen eines „instrumenteilen Verständnisses von Rhetorik" (Grözinger, Sprache 71—80) das delectare zur vernachlässigbaren, uneigentlichen, rein äußerlichen Verpackung erklärte, hinter der dann ein sog. Eigentliches zum Vorschein komme. 4. Theologiegeschichtliche

Spuren

4.1. Mit dem 4. Buch von De doctrina christiana (426/427) installiert -* Augustin die antike Rhetorik für das christliche Abendland und verändert sie zugleich, indem er sie funktionalisiert. Rhetorik dient nun nicht mehr der „Ermittlung der Wahrheit, sondern deren Vermittlung" (Göttert 129). Gegenüber Cicero und Quintilian legt Augustin aber „eine Rhetorik des Lesens" (Mainberger 350) vor. Dadurch gerät das vor allem den Akt des Redens reflektierende delectare gegenüber dem docere und movere in den Hintergrund. So gerät die Unterhaltung bei Augustin als Vehikel des Transportes christlicher doctrina zum notwendigen Übel. Die Funktion der Unterhaltung richtet sich besonders gegen Irrlehrer (Morgenthaler 98). 4.2. Im Mittelalter wird die Rhetorik gelegentlich zu einem erstarrten Schulwissen, was sich auch auf die Predigten und Predigtlehren (-»Predigt VI) jener Zeit niederschlägt. Die -»Verkündigung des Wortes Gottes gilt als nicht schmuckbedürftig. Dies ändert sich erst wieder mit den mittelalterlichen Predigtorden und den artes praedicandi. Eine Ausnahme bildet —»Thomas von Aquino: cum enim nullus possit vivere sine aliqua sensibili et corporali delectatione (denn niemand kann leben ohne sinnenhafte und körperliche Lust, S.th. I—II 34,1). Wird die Unterhaltung in der Theorie zwar wenig reflektiert, so ist sie doch in der -»Volksfrömmigkeit mit ihren karnevalesken Zügen präsent und wirksam (Burke). 4.3. Die Unterhaltung gewinnt bei -»Luther im Rahmen seiner Rhetorik wieder größere Bedeutung (Dockhorn; Stolt), auch wenn er für sie keinen Ort in der Predigtlehre findet, weil er in augustinischer Tradition besonders das docere und das movere über-

Unterhaltung

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nimmt: Dialéctica docet, rhetorica movet (die Dialektik lehrt, die Rhetorik bewegt, WA.TR 2,359 [Nr. 2199a]). In dieser Tischrede führt Luther jedoch noch einen dritten modus praedicandi ein: Accedit autem et tertium, illustrans praedicationem, quod et ipsum est rhetorum (ebd.; Übersetzung Nembach 124: „Es kommt aber noch ein Drittes hinzu, das der Predigt Glanz verleiht, was nämlich Sache der Redner selbst ist"). Dieser dritte modus entspricht der rhetorischen Tradition des delectare. Dabei ist „die dritte der drei Predigtaufgaben offenbar die wichtigste und die schwierigste" (Rössler 213), weil in ihr die -»Erfahrung so zur Geltung kommen muß, daß sie dem angefochtenen Menschen helfen kann. 4.4. Daß Gott die Welt unterhält, war eine wesentliche Aussage protestantischer —•Erbauungsliteratur und Lieddichtung in der Lutherischen —»Orthodoxie, die eine im Zusammenhang der Schöpfungslehre stehende eigenständige Vorsehungslehre entwikkelt. Innerhalb dieser Providentia-Dei-Lehie wird die conservatio, die Unterhaltung der Welt durch Gott, eines der drei Lehrstücke, neben dem concursus bzw. der cooperatio (Gott kooperiert mit der Welt) und der gubernatio (Gott lenkt alles Geschehen, alle Geschichte). Während bei Luther dieser Themenkomplex noch in der Schöpfungslehre so integriert ist, daß es sich hierbei um das Bekenntnis des pro-me-Charakters der Schöpfungstheologie handelt (Ratschow) und auch noch bei Paul -»Gerhardt die conservatio durch ihren Bezug auf das Christusgeschehen ihre tröstliche Wirksamkeit im Angesicht katastrophaler persönlicher und politischer Erfahrungen entfaltet (Bayer), so wird durch die —»Aufklärung aus diesem Lehrstück ein immer abstrakterer Gegenstand, der sich auf die Welt als solche bezieht (Krolzik). Im Zusammenhang dieser Entwicklungen wird Unterhaltung zu einem schalen Begriff, der angesichts aufziehender Katastrophen mit aller Macht den Schein einer schönen Welt aufrechtzuerhalten versucht, was parallel läuft zu dem Bedeutungswandel der Unterhaltung weg von der nutritiven Hauptbedeutung hin zur Bezeichnung ihres Amüsement-Charakters. 4.5. Für den —»Protestantismus bricht sich die Gesprächsdimension der Unterhaltung als einem wesentlichen Kennzeichen kirchlicher, insbesondere seelsorgerlicher und pädagogischer Praxis mit dem -»Pietismus Bahn. Schon in dem Gründungsszenario des Frankfurter Collegium pietatis durch Ph.J. -»Spener kommen die wesentlichen Kennzeichen damaliger Gesprächskultur zur Geltung (Hauschildt, Alltagsseelsorge 21-25). Jedoch verkirchlicht Spener diese freie Gesprächskultur sehr rasch, so daß deren partnerschaftliche Dimension zunehmend hierarchisiert wird (Schmölders 41). 4.6. Den Dialog als partnerschaftliche Form der Unterhaltung etabliert F.D.E. -»Schleiermacher theologisch in seiner Frühzeit, in der die Unterhaltung als Konversation in den Berliner Salons das wichtigste Lebenselement bildet, in dem er verkehrt und aus dem heraus z. B. seine Reden über die Religion (1799) entstehen. In den späteren 20er Jahren herrscht in seiner Seelsorgetheorie jedoch wieder ein „Austeilungs- oder Gefälle-Paradigma" (Nicol 42f.) vor, in dem der Mensch, an dem Seelsorge geübt wird, nur im Defizitmodell wahrgenommen wird. Auch in seiner Homiletik wehrt sich Schleiermacher gegen das delectare. Wo Schleiermacher die Mischform der Predigt „zwischen Dürftigkeit und Ueppigkeit" (Schleiermacher, Praktische Theologie 808) reflektiert, tritt er dem Mißbrauch der Rhetorik, wie er sich in der aufkommenden „Prunk-Rhetorik" (Ueding/Steinbrink 154-156) andeutet, entgegen. Redet er aber von der Predigt als darstellendem Handeln, so schwebt ihm jene antike ars sermonis vor, in der die delectatio keinen Zweck verfolgt, sondern der recreatio, der Darstellung dient. Das Programm einer „Theologie als Gespräch" (Tracy) setzt sich aber erst mit der -»Postmoderne durch. 5. Kulturanthropologische

Entdeckungen

5.1. Kulturanthropologisch ist das Phänomen der Unterhaltung im -»Spiel und im Ritual (-»Ritus) zu verankern. Gegenüber den Deutungen des Rituals als einer zwang-

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Unterhaltung

haften Handlung entdeckt der schottische Ethnologe Victor Turner (1920-1983) bei seinen Feldforschungen die befreienden Dimensionen des Rituals als einem sozialen Drama. In der sog. liminalen Phase werden Dinge in Unordnung gebracht, so daß in den Lücken der Strukturen Gemeinschaft, communitas, entsteht. Rituale, die diese umordnende Liminalität nicht mehr darstellen, haben auch keine gesellschaftsverändernde Kraft mehr. In industriellen Gesellschaften, in denen Rituale nicht mehr die ganze Gesellschaft abdecken können, begegnen aber nun nicht mehr liminale, sondern liminoide Phänomene, die als Spiel und Unterhaltung grundlegend durch Freiwilligkeit gekennzeichnet sind. Das Liminoide bezeichnet den Grund der -»Praktischen Theologie, die deshalb notwendig wird, weil sich die Kirche in einer grundlegend liminoiden Situation befindet, in der es kein Zurück mehr gibt zum Liminalen. Spätestens nach der Aufhebung des Kirchgangzwanges wird daher das Phänomen der Unterhaltung für die Praxis der abendländischen Kirchen immer dringender und bedrängender. Entertainment, von entretenir bzw. intertenere herkommend, welches als „festhalten durch dazwischengreifen" (DWb 24 [1936] 1603) oder als „dazwischenhalten" (Turner 182) übersetzt werden kann und damit genau jenen Zwischenraum der Liminalität beschreibt, ist die wesentliche Gestaltungsform liminoiden rituellen Handelns. 5.2. Unterhaltung als anthropologische und religiöse Kategorie wandert immer stärker aus der Kirche aus und gestaltet sich als religiöse Konkurrenz. Das „Sinnsystem Unterhaltung", welches als „jüngster Diskurs zu den großen Welterklärungen und Sinnsystemen" -•Religion, -» Wissenschaft, Kunst (-»Kunst und Religion) und -»-Pädagogik dazugekommen ist (Seeßlen 49), wird von Erleichterungsmechanismen gespeist, die sich dem alltäglichen Erleben eher aufschließen als die schwere Gewichtigkeit von Befreiung und Erlösung, die in traditionellen religiösen Inszenierungen zur Geltung kommt (Gerber 208). 6. Systematisch-theologische

Einsichten

In der theologischen Diskussion seit den 1960er Jahren werden diese Fragestellungen zunehmend erkannt. So macht W. Haury 1964 als erster „Unterhaltung als Gegenstand theologischer Überlegungen" theoriefähig, wobei er deren Zweckfreiheit als anthropologisches Phänomen theologisch würdigt. A. Grözinger zeigt 1987, daß „der dogmatischen Figur der Trinitätslehre homiletisch die These von der Predigt als Unterhaltung" entspricht (Grözinger, Predigt 437). Er begründet diese These mit dem dramatischen Gehalt des Dogmas, insbesondere der Trinitätslehre (—»Trinität), deren Gegenstand das Wesen Gottes als seine Geschichte mit den Menschen ist, die, recht verstanden, nicht anders als voller Spannung nacherzählt und so mit menschlichen Lebensgeschichten versprochen werden kann. T. Hausmanninger interpretiert Unterhaltung als Rezeptionsbegriff und damit nicht als „,Berieseln', sondern" als „spezifische, subjektive Aktivität" des Menschen (Hausmanninger, Grundlinien 82). Für seine Ethik der Unterhaltung benennt er eine dreifache Konsequenz: 1) Auf der Produktionsebene von Unterhaltung ist eine angemessene Vielfalt und Differenziertheit zu fordern, die auch für eine Stufung der Komplexitätsniveaus Sorge trägt. 2) Auf der Distributionsebene von Unterhaltung ist die Forderung nach prinzipieller Zugänglichkeit zu stellen. 3) Auf der Rezeptionsebene hat jeder Rezipient seinen Mediengebrauch selbstverantwortet einzurichten. 7. Praktisch-theologische

Verortungen

7.1. Unterhaltung ist ein kulturtheologisches Thema, besonders in bezug auf eine theologisch angemessene „Darstellung und Wahrnehmung" von Popkultur (den neuesten Stand der theologischen Diskussion um die Popkultur bieten zwei Websites: http:// www.theomag.de und http://www.akpop.de). Deshalb sind neue Formen einer theologia popularis (Drehsen) zu entwickeln. Dabei sind die Suchbewegungen zu einer „Prakti-

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sehen Theologie der Massenmedien" (Uden) und einer „medienerfahrungsorientierten Religionspädagogik" (Pirner) zu verstärken, die Anspruch und Wirklichkeit der Medien als remedia (Heilmittel) kritisch reflektiert (Beuscher). Daneben hat die Rezeption der kultursoziologischen Beschreibung unserer Gesellschaft als Erlebnisgesellschaft durch G. Schulze das Unterhaltungsmilieu als dasjenige herausgestellt, mit dem sich die Kirche am schwersten tut (Hauschildt, Milieus). Das betrifft alle ihre Handlungsfelder, wobei bisher besonders der Gottesdienst (Becks) sowie die Kasualien und die entsprechenden kirchenmusikalischen Probleme erörtert wurden (Hauschildt, Unterhaltungsmusik; Schroeter-Wittke, Kasualgottesdienste). 7.2. In der Homiletik wird die Unterhaltung im 20. Jh. zunächst unter ihrem Gegenbegriff der Langeweile thematisiert (Baumgarten; Bohren). Ab den 80er Jahren kommt Unterhaltung als Element der Rundfunkhomiletik immer stärker in den Blick (Josuttis; Schieder). Unterhaltung spielt in den rezeptionsästhetischen Ansätzen der „Predigt als offenes Kunstwerk" (Gehring; Reuter) und in der homiletischen Didaktik (WolfWithöft) ein wichtige Rolle. Anhand der Unterhaltung als homiletische Kategorie konnte gezeigt werden, daß die Kirche ihr Publikum in den letzten 250 Jahren auch deshalb verloren hat, weil sie sich in ihren Predigten liminal gebärdet, obwohl sie sich in einer liminoiden Situation befindet (Schroeter-Wittke, Unterhaltung). 7.3. In bezug auf den Gottesdienst führten K. Schwarzwäller und E. Hauschildt Anfang der 90er Jahre eine erhellende Kontroverse. Es konnte gezeigt werden, daß sich die theologischen Abgrenzungen zur Unterhaltungskultur einem spezifischen Milieu verdanken, welches sich in der Kirche, im Gegensatz zur Gesellschaft, in der großen Mehrheit befindet (Heimbrock). 7.4. Neben dem „Humor in der Seelsorge" (Bukowski) gilt es dort, das partnerschaftliche Gespräch ebenso wie den Small-Talk als „Alltagsseelsorge" bewußter wahrzunehmen. „Das Gespräch als Ort der Wahrheit" (Hauschildt, Alltagsseelsorge 35) fordert zu einer (nicht nur) poimenischen Unterhaltungskultur heraus, deren Grundlage das -»•Vertrauen darstellt, „daß die Wahrheit im anderen erscheint", und damit einerseits „die Pluralisierung der Wahrheit im Gespräch" (ebd. 41) grundsätzlich bejaht und andererseits die kulturellen Entwicklungen außerhalb der Kirche nicht verkirchlichen muß. 7.5. Für die -*Religionspädagogik werden die Erkenntnisse einer zeitgenössischen Theologie der Unterhaltung in den ästhetischen Ansätzen einer profanen Religionspädagogik didaktisch in Szene gesetzt (Beuscher/Zilleßen; Bähr). 7.6. Schließlich lassen sich die praktisch-theologischen Aufgaben einer Theologie der Unterhaltung in der Frage zusammenfassen, ob und inwiefern es gelingt, eine Kultur des unterhaltenden Bibelgebrauchs zu etablieren (Culture, Entertainment, and the Bible), bei dem die Kirche als Bedeutungskartell die Bibel nicht ver(w)altet, sondern sie als „missionarische Performance" (Schroeter-Wittke, Unterhaltung) mit allen Menschen als einen Raum von Leben und Tod neu entdecken lernt. Literatur Arbeitskreis Populäre Kultur u. Religion: http://www.akpop.de. - Ruth Ayaß, Religion als Unterhaltung. Der Pfarrer als Fernsehheld: KZSS.S 33 (1993) 350 - 367. - Dorothea Bähr, Zwischenräume. Ästhetische Praxis in der Religionspädagogik, Münster u.a. 2001 (Profane Religionspädagogik 4). - Otto Baumgarten, Langweilige u. interessante Predigten: ders., Predigt-Probleme. Hauptfragen der heutigen Evangeliumsverkündigung, Tübingen 1905, 3 6 - 60. - Oswald Bayer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1986 2 1990. - Hartmut Becks, Der Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft. Zur Bedeutung der kultursoziologischen Unters. Gerhard Schulzes f. Theorie u. Praxis des Gottesdienstes, Waltrop 1999 (Wechsel-Wirkungen ErgBd. 13). - Peter L. Berger, Redeeming Laughter, Berlin/New York 1997; dt.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998. - Bernd Beuscher, Remedia. Religion - Ethik - Medien, Norderstedt 1999. - Ders./Dietrich Zilleßen, Religion u. Profanität. Entwurf einer profanen Religionspädagogik, 1998 (FPDR 16). - Rudolf Bohren, Predigtlehre, 1971

402

Unterhaltung

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Uppsala

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Harald Schroeter-Wittke Uppsala, Universität 1. Die Anfänge und 20. Jahrhundert

1. Die

2. Von der Wiedererrichtung bis zum Ende des Absolutismus (Literatur S. 4 0 8 )

3. Das 19.

Anfänge

Bei ihrer Gründung 1477 war die Universität Uppsala die nördlichste -»Universität der Welt. -»Schweden und -»Dänemark durchlebten damals eine Zeit wachsender nationaler Selbstvergewisserung und traten in einen Wettstreit um die erste nordische Universität. Den Sieg trug Schweden davon. Dänemark erhielt zwei Jahre später seine Universität in -»Kopenhagen. In Schweden war die treibende Kraft der Erzbischof von Uppsala, Jakob Ulvsson (amtierte 1470-1515, gest. 1521). Aufgrund seiner Bemühungen bestätigte Papst -»Sixtus IV. am 27. Februar 1477 in einer Bulle die Errichtung eines Studium generale in Uppsala. Als Vorbild sollte Bologna dienen. Es sollten vier Fakultäten eingerichtet werden, und die Neugründung hatte das Recht zur Verleihung der akademischen Grade. Der Erzbischof von Uppsala sollte das Amt des Kanzlers versehen. Jakob Ulvsson trug umgehend Sorge, daß auch die weltliche Macht das Gründungsrecht gewährleistete. Das geschah mit einem Diplom des Reichsrats vom 2. Juli 1477. Am 7. Oktober, dem Tag der heiligen —»Birgitta, konnte daher der Lehrbetrieb aufgenommen werden. Wie an anderen Universitäten wurde auch in Uppsala die aristotelische Philosophie (—»Aristoteles/Aristotelismus) gelehrt. Das belegen einige erhaltene Vorlesungsverzeichnisse vom Ende der 1470er Jahre. Der Hauptzweck der Universität war natürlich die theologische Unterweisung. Es gab jedoch auch eine Fakultät der -+Artes liberales und eine rechtswissenschaftliche Fakultät, aber keine medizinische. Es gibt Anzeichen dafür, daß 1488 eine theologische Doktorpromotion stattgefunden hat. Die Universität zählte in diesen Jahren nur einige wenige Professoren und höchstens 50 Studenten. Während des zweiten Jahrzehnts des 16. Jh. geriet die Universität in eine Krise. Der Erzbischof trat aus Altersgründen zurück, und das Reich wurde von inneren und äußeren Streitigkeiten erschüttert. Sie führten dazu, daß in den 1520er Jahren unter Gustav Wasa (1496-1560; Regent 1521, König 1523—1560) ein selbständiges schwedisches Königtum errichtet wurde. Die Einführung der -»Reformation ließ zudem die wirtschaftlichen und geistigen Grundlagen der Universität hinfällig werden. Seit dem Ende der 1520er Jahre bestand sie für ein halbes Jahrhundert nur mehr dem Namen nach. Gustav Wasa hegte Mißtrauen gegenüber allem, was die Macht der Bischöfe stärken konnte, und hatte nach der gelungenen Einführung der Reformation kein Interesse an einer Wiedererrichtung der Universität. 1560 trat sein Sohn Erik XIV. (1533-1577; reg.

404

Uppsala

1560-1568) seine Nachfolge an, dem wiederum sein Bruder Johann III. (1537-1592; reg. 1568—1592) folgte. Dieser ergriff Maßnahmen, um das Studium in Uppsala wieder in Gang zu bringen. Ende der 1570er Jahre gab es für kürzere Zeit erneut einige Professoren und eine geringe Zahl von Studenten. 2. Von der Wiedererrichtung

bis zum Ende des

Absolutismus

Die Ausbildung der Geistlichen war in Schweden während des späteren 16. Jh. sehr mangelhaft. Innere Machtkämpfe zwischen verschiedenen Gruppierungen und religiöse Gegensätze belasteten die Lage zusätzlich. Auf Johann III. folgte 1592 dessen Sohn Sigismund (1566-1632; reg. 1592-1600), der katholisch und zugleich König von -»Polen war. Die Regentschaft übte allerdings der Bruder seines Vaters, Herzog Karl (1550—1611), aus. Die Lutheraner sahen darin eine katholische Bedrohung. Daher trat 1593 die lutherische Geistlichkeit zu einer Versammlung in Uppsala zusammen. Sie bekundete ein geschlossenes Eintreten für den lutherischen Glauben und faßte einen Grundsatzbeschluß zur Wiedererrichtung der Universität. Am 15. März 1595 fertigte Herzog Karl im Reichsrat deren neue Privilegien aus. Darin wurde ihr u.a. eine eigene Gerichtsbarkeit eingeräumt, die bis in die Mitte des 19. Jh. bestehen sollte. Die Universität sollte von einem Kanzler geleitet werden. Den Professoren und Studenten wurde Steuerfreiheit gewährt. Es war eine eigentümliche Situation: Schweden hatte einen katholischen König, eine lutherische Geistlichkeit und eine lutherische Universität. Nach inneren Streitigkeiten wurde jedoch Sigismund vertrieben, und der Herzog wurde als Karl IX. schwedischer König (reg. 1604-1611). Der erste Professor an der wiedererrichteten Universität war Laurentius Paulinus Gothus (1565-1646), der in Deutschland studiert hatte und nach Uppsala zurückkehrte, um eine Professur für Astronomie wahrzunehmen. 1600 führte er die ersten eindeutig belegten Promotionen in Schweden durch. Mit diesem Festakt, in dem fünfzehn Studenten zu Baccalaurei und sieben zu Magistern promoviert wurden, erhielt die neue Universität eine Identität. Laurentius wurde später Erzbischof. In einem mehrbändigen Werk, Ethica Christianae (Strengnäs/Stockholm 1617-1633), hat er auf der Grundlage von -»Luthers Großem Katechismus die Grundzüge des christlichen Glaubens und Lebens zusammenzufassen versucht. Karl IX. drohte unter anderem, die Universitätsprivilegien einzuziehen, und war der Auffassung, der Erzbischof könne gemeinsam mit dem Stadtpfarrer ebensogut die theologische Ausbildung sicherstellen. 1611 trat sein Sohn, Gustav II. Adolf (1594-1632; reg. 1611-1632), seine Nachfolge an. Sein Anliegen war es, Schweden als militärische Macht aufzubauen, und er erkannte, daß nicht nur ausgebildete Geistliche, sondern auch Beamte und Diplomaten gebraucht wurden. Er förderte die Universität auf unterschiedliche Weise, durch die Einrichtung von Professuren und umfangreiche Besitzübertragungen, die ihren Bestand wirtschaftlich gewährleisten sollten. Sie entwickelte sich jetzt von einer kleinen Bildungseinrichtung in einem abgelegenen Land zu einer Hochschule von gutem europäischem Zuschnitt. Ein neues Universitätsgebäude, das Gustavianum, entstand, und eine Universitätsbibliothek wurde geschaffen. In Verbindung mit der Krönung des Königs in Uppsala 1617 fand die erste theologische Doktorpromotion statt. Promotor war der Reichskanzler Axel Oxenstierna (1583-1654 [amtierte 1612-1654]), und die Promovenden waren zwei Bischöfe und zwei Hofprediger. Damit wurde die in Schweden für 300 Jahre herrschende Sitte begründet, daß Doktoren der Theologie nicht aufgrund einer Prüfung promoviert wurden, sondern zur Auszeichnung für Wohlverhalten im Dienst der Kirche, die vom König als deren Oberhaupt verliehen wurde. Nach den Reformen des zweiten und dritten Jahrzehnts des 17. Jh. war die Zahl der theologischen Professuren von drei im Jahre 1595 auf fünf angewachsen; insgesamt gab es 17 Professuren. Der Unterricht im Hebräischen war wichtig und oblag zunächst

Uppsala

405

dem Professor für alttestamentliche Exegese. Während der Reformzeit wurde später indessen eine eigene Hebräischprofessur in der philosophischen Fakultät eingerichtet. 1665 wurde ihr Tätigkeitsbereich im Zuge der Annahme einer neuen Universitätssatzung auf die orientalischen Sprachen ausgeweitet. An erster Stelle standen wirtschaftlich wie in der Rangordnung die theologischen Professuren. Ihre Inhaber wurden aus dem Zehntaufkommen sog. Präbendenpfarrstellen besoldet. Die Pfarrstelle von Uppsala wurde dem Inhaber der ersten theologischen Professur übertragen. Seine Amtsbrüder erhielten Pfarrstellen in den umliegenden Landgemeinden. Dieses System bestand bis in die dreißiger Jahre des 20. J h . Der Ausbau der Universität ließ die Studentenzahl kräftig anwachsen. Sie betrug in den dreißiger Jahren des 17. Jh. etwa 1.000. Die meisten Studenten entstammten Pfarrhäusern und wurden für das geistliche Amt ausgebildet. Es gab in Uppsala allerdings auch ungewöhnlich viele adlige Studenten, die eine Laufbahn in der Zivilverwaltung anstrebten. Uppsala war lange die einzige Universität des Reiches; doch unmittelbar vor seinem Tod 1632 veranlaßte Gustav Adolf die Errichtung einer baltischen Universität in ->Dorpat (Tartu in Estland). Unter seinen Nachfolgern kam 1640 für Finnland die königliche Akademie in Abo (Turku) und 1668 für die Dänemark abgewonnenen Gebiete die Universität ->Lund hinzu. Im Verlauf des 17. J h . gewann die Kirche in Schweden zunehmend an Stärke. Schon der persönlich von christlicher Einstellung bestimmte Gustav II. Adolf hatte ihre Stellung und die Macht der Bischöfe gefestigt. „Keine Wissenschaft war während der Großmachtszeit wichtiger oder genoß größeres Ansehen als die Theologie" (vgl. Lindroth, Stormaktstiden 79). Zugleich errang jedoch auch die staatliche Macht zunehmend stärkere Kontrolle über die Kirche und das religiöse Leben. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt während der karolinischen Zeit (1654-1718) unter den Königen Karl X . Gustav ( 1 6 2 2 - 1 6 6 0 ; reg. 1 6 5 4 - 1 6 6 0 ) , Karl XI. ( 1 6 5 5 - 1 6 9 7 ; reg. 1 6 6 0 - 1 6 9 7 ) und Karl XII. ( 1 6 8 2 - 1 7 1 8 ; reg. 1 6 9 7 - 1 7 1 8 ) . Die Kirchenzucht war streng, und die Vertreter des Synkretismus (-»Synkretismus V.4.I.), die sich auch an der Universität Uppsala fanden, gewannen keinen Boden. Während der zweiten Hälfte des 17. Jh. war die beherrschende Persönlichkeit an der Universität und auch in der Stadt Uppsala Olof Rudbeck (1630-1702). Bereits als junger Mann machte er wichtige Entdeckungen zu den Lymphgefäßen; sie sind als der erste bedeutendere schwedische Beitrag zur Naturwissenschaft bezeichnet worden. Er war ein universaler Geist, allerdings nicht ohne Neigung zur Phantastik. Gemeinsam mit Petrus Hoffvenius ( 1 6 3 0 - 1 6 8 2 ) unternahm er bedeutende Anstrengungen, den Unterricht in der medizinischen Fakultät zu beleben und ihm einen größeren Praxisbezug zu geben. Zur Durchführung anatomischer Sektionen unter guten natürlichen Lichtverhältnissen ließ er im Universitätsgebäude Gustavianum ein sog. anatomisches Theater einrichten. Persönlich streitbar, geriet Rudbeck immer wieder in heftige Konflikte. In den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, die seinerzeit das akademische Leben bestimmten, bezog er deutlich für den Cartesianismus (R. ->Descartes) Stellung. Die Anhänger des cartesianischen Weltbildes stellten nachdrücklich den Vorrang der theologischen Fakultät innerhalb der Universität in Frage und verlangten die Möglichkeit zu freier wissenschaftlicher Entfaltung. Ende des 17. Jh. trugen die Cartesianer in Uppsala den Sieg davon; doch zugleich bewahrte die theologische Fakultät viel von ihrem Einfluß und ihrer Stellung. Der absolutistische Karl X I . förderte die Universität auf mancherlei Weise; doch nach seinem Tod 1697 wurde die Lage schwieriger. 1700 geriet Schweden unter Karl XII. in einen langwierigen Krieg, der das Land wirtschaftlich erheblich belastete. 1702 wurde ganz Uppsala von einem Brand heimgesucht, der große Teile des Doms zerstörte. Die Arbeit an der Universität ging weiter; doch es zeigte sich bald, daß neu aufgekommene -»Akademien und gelehrte Gesellschaften bereit waren, Teile der Forschungsaufgaben zu übernehmen, die zuvor der Universität zugekommen waren.

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Uppsala

Der karolinische Absolutismus hörte nach dem Tod Karls XII. 1718 auf. Die schwedischen Könige hatten keine reale Bedeutung mehr, und die Macht wurde von der führenden Reichstagspartei ausgeübt. Der Reichstag besetzte Professorenstellen jetzt in der Regel aufgrund politischer Rücksichten. Die Mitte des 18. Jh. war von der „Staatsraison" bestimmt, und 1739 entstand an der Universität eine Professur für Volkswirtschaftslehre. Auch nach europäischen Maßstäben war das ein zukunftsweisender Schritt. Überragende Geltung gewann indessen im Uppsala des 18. Jh. der Botaniker Carl von Linné (17071778). 1741 wurde er Professor in der medizinischen Fakultät und verhalf der Universität zu außerordentlichem Ansehen. Eine ganze Reihe ausländischer Studenten kam zu seiner Zeit zum Studium nach Uppsala und ließ sich von ihm promovieren. Auch andere Naturwissenschaftler wie Nils Rosén von Rosenstein (1706-1773), den man den Vater der Kinderheilkunde genannt hat, und der Chemiker Torbern Bergman (1735-1784) hatten damals einen Namen. Mit der Theologie war es im 18. Jh. wesentlich schlechter bestellt. Immerhin wurde 1754 zusätzlich eine noch bestehende Stiftungsprofessur eingerichtet. Sie ist heute der Religionswissenschaft gewidmet. Ursprünglich hatte sie die rein apologetische Aufgabe, die, wie es hieß, Irrtümer der -^Freidenker zu widerlegen. Gustav III. (1746-1792; reg. 1771-1792), der 1772 durch einen Staatsstreich seine Macht gegenüber dem Reichstag erheblich stärkte, widmete der Universität Uppsala große Aufmerksamkeit. Er war häufig bei Vorlesungen und Disputationen zugegen, ließ einen botanischen Garten anlegen und anderes mehr. Doch wurde zu seiner Zeit eine der theologischen Professuren eingezogen, desgleichen eine der beiden Professuren für Latein. Die Ausbildung der Geistlichen war im Laufe der Jahrhunderte zumeist Aufgabe der Gymnasien in den Bischofsstädten. Im 18. Jh. wurde es jedoch zunehmend üblich, daß die Anwärter für das geistliche Amt auch die Universität besuchten. Großen Einfluß auf die 1806 reformierte Ausbildung der Geistlichen in Uppsala gewann Samuel ödmann (1750-1829). Er wurde der erste Professor für -»Pastoraltheologie an der Universität und Leiter des Seminars, an dem die Anwärter auf das geistliche Amt u. a. in Theologie, Homiletik und Kirchenrecht unterwiesen wurden. 3. Das 19. und 20.

Jahrhundert

Die Zeit zwischen 1809, dem Jahr der Abschaffung des Absolutismus, und der Mitte des 19. Jh. wird gemeinhin als Zeit der Uppsalaromantik bezeichnet. In ihr waren an der Universität die humanistischen Fächer bestimmend. Bedeutende Schriftsteller wie Erik Gustaf Geijer (1783-1847) und Per Daniel Amadeus Atterbom (1790-1855) waren zugleich Professoren an der Universität. Die Studenten wurden aktiver, und es kam zu großen Veränderungen in der Leitung der Universität und im Prüfungswesen; so verlor die Universität 1852 die Gerichtsbarkeit, die sie seit ihrer Entstehung besessen hatte. Es gab auch Stimmen, die sich für eine Aufhebung der Universitäten von Uppsala und Lund zugunsten der Errichtung von Hochschulen in Stockholm und Göteborg aussprachen, doch die Universitäten konnten sich dieser Diskussion entziehen. Der Ausgang des 19. Jh. und das 20. Jh waren von einer fortschreitenden Trennung von Kirche und Universität bestimmt, die zu völliger konfessioneller Ungebundenheit der Universität führte. Die Professoren der theologischen Fakultät - zu Beginn des 19. Jh. sieben - bildeten gemeinsam mit dem Erzbischof zugleich das Domkapitel des Erzbistums Uppsala. Zwischen 1930 und 1970 wurde diese Ordnung Zug um Zug abgeschafft. Heute gibt es keine institutionelle Verbindung zwischen der Leitung des Erzbistums und der Universität mehr. Seit Anfang des 17. Jh. waren die Erzbischöfe Prokanzler der Universität und als solche nicht ohne Einfluß. Nun aber wurde das Amt abgeschafft. Sein letzter Inhaber war Erzbischof Erling Eidem (1880-1972, amtiert 1931-1950). Die Doktoren der Theologie waren in Uppsala vom König ernannt worden (doctores bullati).

Uppsala

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Im 20. Jh. wurde nachdrücklich der Wunsch laut, der theologische Doktorgrad solle nach einer Prüfung bei der Fakultät erworben werden. Die erste Promotion nach dieser Ordnung (doctores rite creati) fand in Uppsala 1911 statt. Doch es gab zunächst immer auch noch Promotionen nach alter Ordnung, letztmals 1927 beim 450jährigen Universitätsjubiläum, wobei Erzbischof N. -»Söderblom als königlicher Promotor auftrat. Während des größeren Teils des 19. Jh. zeigte sich die Theologie in Uppsala wenig beweglich. Die Bindung an die Staatskirche, die ungeachtet der im Land um sich greifenden Erweckungsbewegungen (-»Erweckung/Erweckungsbewegungen) weiterhin unverwandt lutherisch blieb, wurde kaum in Frage gestellt. Die Zeit um die Wende zum 20. Jh. brachte dagegen für die theologische Fakultät einen Paradigmenwechsel. Der historisch-kritische Zugang zur Bibel und die religionsgeschichtliche Arbeit traten in den Vordergrund. Die Beziehungen zur deutschen wissenschaftlichen Theologie wurden lebhafter. Vor allem machte sich der Einfluß von J. -»Wellhausen in der theologischen Arbeit bemerkbar. Vorab war es Erik Stave (1857-1932, Professor in Uppsala 1900-1922), der mit seiner Untersuchung Über den Einfluß des Parsismus auf das Judentum (Haarlem 1898) das kritische Bibelverständnis Wellhausens und seiner Nachfolger einführte. Im wesentlichen das gleiche Verständnis der kritischen Bibelwissenschaft teilte Söderblom, der 1901 seinen Doktorgrad an der Sorbonne (-»Paris) erworben hatte und dadurch in Berührung mit der französischen theologischen Diskussion gekommen war. 1901 wurde er Professor für theologische Propädeutik und Enzyklopädie in Uppsala. Sein Wirken legte den Grund für die schwedische religionsgeschichtliche Arbeit. Die bedeutsame Rolle, die er für die ökumenische Bewegung gespielt hat, fällt dagegen vornehmlich in seine Amtszeit als Erzbischof (1914-1931). Die Spannung zwischen der durch die kritische Bibelerklärung und die religionsgeschichtliche Arbeit wachgerufenen geistigen Bewegung auf der einen und persönlicher Erfahrung der göttlichen -»Offenbarung auf der anderen Seite führte zur „Neuen Uppsala-Theologie". Sie fand ihre praktische Ausformung in der einige Jahrzehnte lang für das Kirchenverständnis, das gottesdienstliche Leben und die Pflege und Entwicklung der kirchlichen Kunst bedeutsamen Jungkirchenbewegung. Zu den in diesem Zusammenhang zu nennenden Theologen zählen E. -»Billing, G. -»Aulen und M. —»Björkquist, die schließlich alle ins Bischofsamt gingen. Die neutestamentliche Exegese erhielt später einen herausragenden Vertreter in dem Norweger Anton Fridrichsen (1888-1953, Professor in Uppsala seit 1928). Er wurde zum Wortführer einer „realistischen Bibelwissenschaft" und vertrat die Auffassung, daß der Kirchenbegriff des Neuen Testaments eine eingehende wissenschaftliche Untersuchung verdiene. Seine Arbeit wie auch die seines Nachfolgers Harald Riesenfeld (geb. 1913, Professor in Uppsala 1953—1979) gewann außerordentliche Bedeutung für das Wirken der Schwedischen Kirche. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam es zu einem Ausbau der Universität und vor allem in den 60er und 70er Jahren zu einem kräftigen Anwachsen der Studentenzahlen. Für 1999 wird die Zahl der Studenten auf rund 36.000 veranschlagt, von denen etwa 2.500 einem Studium als wissenschaftliche Nachwuchskräfte nachgehen. Zugleich ist an der Wende zum 21. Jh. die Zahl der schwedischen Universitäten von zuvor zwei (Uppsala und Lund) auf 15 angewachsen. Uppsala ist nicht mehr wie früher die größte schwedische Universität. Sie hat jedoch für Studenten eine offenkundige Anziehungskraft und trägt spürbare Züge einer „Reichsuniversität". Die Ausbildung an der theologischen Fakultät hat während des letzten halben Jahrhunderts große Veränderungen erfahren, die auf eine Integration der Einzeldisziplinen ausgerichtet sind. Neue Forschungsbereiche und Professuren sind hinzugekommen. Als Beispiel läßt sich die -»Missionswissenschaft anführen mit Bischof Bengt Sundkler (1909-1995) als erstem Fachvertreter. Des weiteren ist die -• Religionspsychologie mit Hjalmar Sunden (1908-1993) als herausragendem Vertreter zu nennen. Die praktische

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Uppsala

Ausbildung der Geistlichen, die seit Beginn des 19. J h . bei der Universität lag, ist 1 9 8 0 an das Pastoralinstitut der Schwedischen Kirche übergegangen. In der letzten Zeit hat die theologische Arbeit in Uppsala verstärkt auch den geistigen Austausch mit angrenzenden geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsgebieten gesucht. Die umfangreiche Einwanderung nach Schweden, nicht zuletzt aus islamischen Ländern, hat eine Beschäftigung mit den Konfrontationen und Beziehungen zwischen den großen Weltreligionen zunehmend wichtiger werden lassen. Literatur Tor Andrae, Nathan Söderblom, Uppsala 1931. - Claes Annerstedt, Uppsala universitets historia, Uppsala, I—III u. Anh. I - V , 1 8 7 7 - 1 9 1 4 ; Reg. hg. v. Elof Colliander, 1931. - Arsbibliografi. Uppsala universitet, Teologiska fakulteten, Uppsala 1981 ff. - Gustaf Aulen, Hundra ars svensk kyrkodebatt. Drama i tre akter, Stockholm 1953. - Göran Bexell, Teologisk etik i Sverige sedan 1920-talet, Stockholm 1981. - Oloph Bexell, Prästutbildning, prästtjänster och prästerlig befordran i äldre tid, Uppsala 1995. - Göran Blomqvist, Elfenbenstorn eller statsskepp? Stat, universitet och akademisk frihet i vardag och vision frän Agardh tili Schück, 1992 (BHLu 71). - Sven Göransson, Uppsala. II. Univ.: R G G 3 6 (1962) 1 1 8 2 - 1 1 8 4 . - Gustav II Adolf och Uppsala universitet, hg. v. Sven Lundström, Uppsala 1982. - Gyllene äpplen. Svensk idehistorisk läsebok, hg. v. Gunnar Broberg, 2 Bde., Stockholm 1991. - Olof Hägerstrand, „Juntan" som realitet och hörsägen. Stämningar och opinioner kring Uppsala universitet under 1790-talet, Stockholm 1995. - Sten Hidal, Bibeltro och bibelkritik. Studier kring den historisk-kritiska bibelsynens genombrott i Sverige 18771910 med särskild hänsyn tili Gamla testamentet, Stockholm 1979. - Rebecca G. S. Idestrom, From Biblical Theology to Biblical Criticism. O T Scholarship at Uppsala Univ. 1866-1922, Stockholm 2000 (CB.OT 47). - Karin Johannisson, Levande lärdom. Uppsala universitet under fem sekler, Uppsala 1989; dt.: Lebendige Bildung. Fünf Jahrhunderte Univ. Uppsala, Uppsala 1989. - Leif Jonsson, Ljusets riddarvakt. 1800-talets studentsäng utövad som offentlig samhällskonst, Uppsala 1990. - Gösta Kellerman, Jakob Ulvsson och den svenska kyrkan under äldre Sturetiden 1470-1497, Stockholm 1935. - Kyrka och universitet. FS Carl-Gustaf Andren, hg. v. Lars Eckerdahl u.a., Stockholm 1987. - Kyrkorna i Uppsala. With a Survey in English, hg. v. Anna Nilsen, Uppsala 1992. - Göran Lindahl, Universitetsmiljö. Byggnader och konstverk vid Uppsala universitet, Uppsala 1957. - Sten Lindroth, Uppsala universitet 1477-1977, Uppsala 1976; engl.: A History of Uppsala Univ. 1 4 7 7 - 1 9 7 7 , Uppsala/Stockholm 1976. — Ders., Svensk lärdomshistoria, Medeltiden. Reformationstiden, Stockholm 1975. - Ders., Stormaktstiden, Stockholm 1975. - Ders., Frihetstiden, Stockholm 1978. - Ders., Gustavianska tiden, hg. v. Gunnar Eriksson, Stockholm 1981. Torgny Neveus, Vägen till UHÄ. Ett nytt ämbetsverks föregängare, Stockholm 1976. - Ders., En akademisk festsed och dess utveckling, 1986 (AUU C 50). - Predikohistoriska perspektiv. Studier tillägnade Ake Andren, hg. v. Alf Härdelin, Uppsala 1982. - Torgny Segerstedt, Den akademiska friheten under frihetstiden, 1971 (AUU C 22). - Ders., Den akademiska friheten under gustaviansk tid, 1974 (AUU C 29). - Ders., Den akademiska friheten 1 8 0 9 - 1 8 3 2 , 1976 (AUU C 35). - Ders., Uppsala stads historia. VI/2. Universitetet i Uppsala 1 8 5 2 - 1 9 7 7 , Uppsala 1983. - öyvind Sjöholm/ Sven Lundkvist, Uppsala stads historia. VI/8. Kyrkor och samfund i Uppsala. Utvecklingen frän sent 1800-tal tili omkring 1970, Uppsala 1989. - Bengt Sundkler, Nathan Söderblom - his Life and Work, Stockholm 1968. - Alf Tergel, Ungkyrkomännen, arbetarfrägan och nationalismen 19011911, Stockholm 1969. - Bengt Thelin, Läroverkens sekularisering och striden om kristendomsundervisningen, Stockholm 1981. - Universitet i utveckling. Uppsala universitet under Torgny T. Segerstedts rektorat 1 9 5 5 - 1 9 7 8 , hg. v. Stig Strömholm, 1978 (AUU C 37). - Universitet och samhälle. FS Martin H:son Holmdahl, hg. v. Torgny Neveus, Uppsala 1989. - Universitetets bildvärld. Strövtig genom historien, konsten och samlingarna, hg. v. Torgny Neveus, Uppsala 1995. - Universitetshuset i Uppsala 1 8 8 7 - 1 9 8 7 , hg. v. Thomas Heinemann, Uppsala 1987. - Uppsala domkyrka. Katedral genom sekler, hg. v. öyvind Sjöholm, Uppsala 1982. - Uppsalastudenten genom tiderna. En skildring utgiven i anledning av Uppsala studentkärs hundraärsminne, hg. v. Jonas Larsson Samzelius u.a., Uppsala 1950. - Uppsala universitet inför 2000-talet. FS Stig Strömholm, hg. v. Christer ö h m a n , 1997 (AUU C 61). - Uppsala Univ. 500 Years. I. Faculty of Theology at Uppsala Univ., hg. v. Helmer Ringgren, 1976 (AUU 1); XII. I universitetets tjänst. Studier rörande Uppsala universitetsbiblioteks historia, hg. v. Gert Hornwall, 1977 (AUU 12). Torgny Neveus

Urban II. Urban II., Papst

409

(1088-1099)

(Quellen/Literatur S. 411)

Der frühere O d o von Chatillon entstammte einer Adelsfamilie der Champagne und wurde um 1035 in Chätillon-sur-Marne (Erzbistum Reims) geboren. Während seines Studiums in Reims führte ihn sein Lehrer -»Brun(o) I. von Köln, der Gründer des Kartäuserordens (-»Kartäuser), in die monastische Spiritualität ein; auch lernte er die traditionsreiche Reimser Kanonistik kennen. O d o war Kanoniker und Archidiakon in Reims, Mönch und Prior in -»Cluny; von -»-Gregor VII. um 1080 zum Kardinalbischof von Ostia ernannt, wirkte er 1084/85 als Legat Gregors in Deutschland. Am 12. März 1088 wurde er in der Peterskirche zu Terracina zum Papst gewählt und als Urban II. inthronisiert. Bis 1095/96 konnte er fast allgemein Anerkennung als rechtmäßiger Papst gewinnen und das reformerische Papsttum aus der schweren Krise seit dem Ende Gregors VII. herausführen, ohne freilich das seit 1080/84 bestehende kaiserliche Papstschisma und den Gegenpapst Clemens III. (Erzbischof Wibert von Ravenna) vollends zu überwinden. Die Markgräfin Mathilde von Tuszien-Canossa verteidigte ihn mit Waffengewalt gegen -»Heinrich IV., die Normannen Süditaliens, vor allem Graf Roger I. von Sizilien, boten ihm ein sicheres Wirkungsfeld. Zugleich mit dem individuellen Selbstbehauptungskampf verbreitete und festigte er die Vorstellungen der Reformer von einer durch das Papsttum geleiteten Kirche und Christenheit, von der allgemeinen pastoralen und jurisdiktionellen Amtsaufgabe und Amtsgewalt des Papstes als Vikar des Apostels -»Petrus, vom päpstlichen Universalepiskopat und Primat in der Kirche. Er vermochte die Annahme charakteristischer allgemeiner Reformideen voranzubringen, wie Liberias ecclesiae, und die moralischpastorale Überordnung der priesterlichen Autorität über alle weltliche, laikale Macht, schließlich auch die immer deutlicher sich präzisierende Differenzierung zwischen Geistlichen und Laien, sacerdotalem und laikalem Bereich. Hinzu kam die verstärkte Durchsetzung einzelner Reformgesetze wie Verurteilung der -»Simonie, Verbot der Priesterehe (-»Zölibat) und der Laieninvestitur. Wesentlich trugen dazu bei die persönliche Wirksamkeit des Papstes auf zahlreichen, oft lange dauernden Reisen (in Süditalien, Oberitalien und Frankreich) und die (insgesamt zehn) päpstlichen Konzilien, von denen die in Piacenza und Clermont (1095), in Bari (1098) und Rom (1099) die bedeutendsten waren. Zu den Themen dieser Papstkonzilien gehörten neben den Reformgesetzen vornehmlich die damals drängende Frage der Gültigkeit der von Schismatikern und Häretikern gespendeten Weihen und Sakramente und das Problem der Rekonziliation verurteilter und exkommunizierter Priester und Bischöfe, ferner Angelegenheiten der Kirchenordnung und Kirchendisziplin, des kirchlichen Vermögens- und Zehntrechts, des Bußwesens, der Seelsorge und Liturgie, des Eherechts, des Gottesfriedens und der -»Kreuzzüge, gelegentlich auch eine dogmatische Frage wie die Trinitätslehre in der Diskussion mit den Griechen auf dem Konzil in Bari (um das filioque), wobei -»Anselm von Canterbury für Urban die Debatte führte. Seine vielfältig ausgeübte, auch immer öfter angerufene Gerichtsbarkeit ließ den Papst als obersten Richter und das päpstliche Gericht als allgemein zugängliche und zuständige letzte Instanz erscheinen. Urban berief sich auf kanonisches und römisches Recht und bestand auf präziser Verfahrensordnung. Uberhaupt tritt bei ihm neben ausgeprägt pastoraler Amtsführung ein deutlicher Zug zu juristischem Denken zutage. Das Investiturproblem (-»Investiturstreit) konnte Urban nicht lösen, ließ es aber in den Hintergrund treten, weil ihm die Obedienz eines Bischofs wichtiger war als eine vom König erhaltene Investitur. Andererseits ergänzte er das Investiturverbot konsequent durch das in Clermont (1095) und Rom (1099) erlassene Verbot des Lehnseides (fidelitas ligia, hominium) von Geistlichen gegenüber Laien. Das normannische Kirchenregime akzeptierte er in England ebenso wie in Sizilien und Kalabrien, wo es allerdings von

410

Urban II.

Roger I. noch im Einvernehmen mit dem Papst ausgeübt wurde. Um zu den Kirchen dieser Länder Zugang zu gewinnen oder zu wahren, machte Urban Zugeständnisse in Fragen des päpstlichen Legationswesens an König Wilhelm II. von England (1095) und besonders an den Grafen Roger von Sizilien, dem er (1098) das sog. Privileg der Apostolischen Legation für Sizilien ausstellte, welches später zur Gründungsurkunde der Monarchia Sicula gemacht worden ist. In Deutschland gewannen päpstliche Politik und Reformaktion allmählich an Wirkung, aber die Fortdauer des Schismas verhinderte die Verständigung mit Heinrich IV. und einem Großteil des deutschen Episkopats. In Frankreich, wo Papst wie König dem kirchenpolitischen Grundsatzstreit auswichen, führte der Ehehandel Philipps I. (1060-1108) zu einem auf moralisch-kirchenrechtlicher Ebene ausgetragenen Konflikt, in dem Urban jedoch den völligen Bruch vermied und das künftige historische Bündnis zwischen Papsttum und französischem Königtum vorbereitete. Einen Investiturstreit gab es zur Zeit Urbans eigentlich nirgends, schon gar nicht in den südeuropäischen Ländern. Hier konnte Urban seine Vorstellungen vom Zusammenwirken „geistlicher und weltlicher Gewalt" am meisten zu Ausdruck und Geltung bringen, nicht so sehr in päpstlicher Lehnspolitik, die für ihn stets nur sekundär blieb, als vielmehr etwa in den Beziehungen zu König Peter I. von Aragon (1094-1104), dem er (1095) ein für Urbans politisches Denken bezeichnendes päpstliches Schutz- und Freiheitsprivileg verlieh. In Spanien und Sizilien förderte er energisch die christliche Reconquista und die Wiederherstellung der Kirchen in den zurückeroberten Gebieten. Diese historische Bewegung stellte er in den Zusammenhang mit der allgemeinen Erneuerung der Kirche und gab ihr eine geschichtstheologische Deutung (nach Dan 2,21) im Sinne einer von Gott den bußfertigen Christen gewährten Zeitenwende der Rückübertragung der Herrschaft von den Heiden an die Christen. Schon 1089 begann er Verhandlungen mit Kaiser Alexiosl. Komnenos (1081 — 1118) und dem Patriarchen Nikolaus III. von Konstantinopel (1084-1111) über die Wiederbelebung der lateinisch-griechischen Kircheneinheit, die er noch als grundsätzlich bestehend ansah. Auf Grund der Unvereinbarkeit der ekklesiologischen Konzeptionen kam es jedoch nicht zur Verständigung zwischen den Kirchen. Als Alexios I. vor dem Konzil in Piacenza Militärhilfe gegen die Türken erbat, verband Urban den Gedanken solcher Byzanzhilfe mit seiner Idee von Reconquista und Restauration und rief auf dem Konzil in Clermont (1095) zur Waffenhilfe für die Christen und Kirchen im Orient und zur Befreiung —»Jerusalems auf — zu einem allein im Bußgeist zu führenden Kampf um die Wiederherstellung der alten Christenheit. Der damit entstandene Kreuzzug wurde zwar mit der Eroberung Jerusalems im Sommer 1099 zu einem erstaunlichen militärischen Erfolg, brachte aber nicht die Einheit der westlichen und orientalischen Christen, sondern vertiefte vielmehr die Gegensätze. Das Ansehen des Papstes der Reform als Haupt der Christenheit erfuhr indessen eine kaum ermeßliche Steigerung. Urban starb am 29. Juli 1099 in Rom, ohne von seinem Triumph erfahren zu haben. Urbans Verfassungsideal war die auf das Papsttum hin konvergierende Episkopalstruktur der Kirche. Traditionelle Rechte der Diözesanbischöfe stärkte er durch Konzilsdekrete und wahrte sie auch bei großzügiger Privilegierung des Mönchtums, selbst der Cluniazenser. Er förderte die Kartäuser, war aufgeschlossen gegenüber neuen religiösen Bewegungen wie der —»Roberts von Arbrissel (des Gründers von Fontevraud) oder der Wanderprediger, den Anfängen der —»Zisterzienser mit Robert von Molesme (um 1027-1111). Sah er im Mönchtum die höhere religiöse Lebensform, so war er doch besonderer Gönner und Gesetzgeber der Regularkanoniker. Zu seiner Zeit erschien erstmals der Begriff Curia Romana (-»Kurie, Römische) als Zentralorgan päpstlicher Kirchenregierung, wurden die Finanzverwaltung durch den Kämmerer Petrus (aus Cluny) und die Kanzlei durch den Kanzler Johann von Gaeta (den späteren Gelasius II., 11181119) neu organisiert; es bildete sich das Kardinalskollegium (-»Kardinal/Kardinalskollegium) heraus, dessen Mitglieder der Papst zu Beratung (Anfänge des Konsistoriums) und Mitwirkung an seiner Amtsführung heranzog.

Urchristentum

411

Urbans II. Bedeutung und Wirkung liegt nicht so sehr in der Eröffnung der Epoche der Kreuzzüge, als vielmehr darin, daß er der Reform Gregors VII. den historischen Durchbruch verschaffte und die wesentlichen Ideen und Prinzipien der hochmittelalterlichen Kirchenreform in einer von ihm selbst geprägten Form (mit manchen Unterschieden zu Gregor VII.) ins 12. Jh. hinübervermittelte; und dies wurde von der späteren Kanonistik, auch von —»Gratian, in besonderem Maße rezipiert. Quellen Gallia Pontificia. I. Diocèse de Besançon, hg. v. Bernard de Vregille, Göttingen, I 1998 (RPR Gallia pontificia). - LP II, 293ff.; III, 63ff. - RPR.GP. - RPR(J) I, 657-701; II, 713.752 f. - RPR.IP. - Robert Somerville, The Councils of Urban II. I. Décréta Claromontensia, 1972 (AHC.S 1). Ders., Pope Urban II, the Collectio Britannica and the Council of Melfi (1089), Oxford 1996. Literatur Alfons Becker, Papst Urban II., 2 Bde., 1 9 6 4 - 1 9 8 8 (SMGH 1 9 / 1 - 2 ) , Bd. III in Vorb. - Ders., Rechtsprinzipien u. Verfahrensregeln im päpstlichen Gerichtswesen z.Z. Urbans II.: Landesgesch. u. Reichsgesch. FS Alois Gerlich, hg. v. Winfried Dotzauer, Stuttgart 1995 (Gesch. Landeskunde 42) 5 1 - 6 6 . - Ders., Politique féodale de la papauté à l'égard des rois et des princes ( X l e - X I I e siècles): Chiesa e mondo feudale nei secoli X - X I I , 1995 (MCSM 14) 4 1 1 - 4 4 5 . - Ders., Urbain II et l'Orient: Il concilio di Bari del 1098, hg. v. Salvatore Palese/Giancarlo Locatelli, 1999 (PSCB 17) 1 2 3 - 1 4 4 . - Horst Fuhrmann, Papst Urban II. u. der Stand der Regularkanoniker, 1984 (SBAW.PH 2). - Francis J . Gossman, Pope Urban II and Canon Law, 1960 (CLSt 403). - Friedrich Kempf, Die ma. Kirche, 1966 (HKG[J] 3/1). - Peter Landau, Officium u. Libertas christiana, 1991 (SBAW.PH 3). - Colin Morris, The Papal Monarchy, Oxford 1989. - Jan Stuart Robinson, The Papacy 1 0 7 3 - 1 1 9 8 , Cambridge 1990. - Robert Somerville, Papal Excerpts in Arsenal Ms. 713 B. Alexander II and Urban II: Proceedings of the 9th Int. Congress of Medieval Canon Law, hg. v. Peter Landau, 1997 (MIC.S 10) 1 6 9 - 1 8 4 . - Ders./Hartmut Zapp, An Eighth Book of the Collection in Seven Books: Grundlagen des Rechts. FS Peter Landau, hg. v. Richard H. Helmholz, 2000 (RSWV NF 91) 1 6 3 - 1 7 7 . - Gerd Tellenbach, Die westliche Kirche, 1988 (KIG F / l ) .

Alfons Becker

Urchristentum 1. Definition 2. Chronologie 3. Die Epochen des Urchristentums 4. Judenchristentum und Heidenchristentum 5. „Apostelkonzil" und „Aposteldekret" 6. Die Predigt der Apostel und die geistige Bedeutung des Urchristentums 7. Christentum und Judentum 8. Der „Frühkatholizismus" (Literatur S. 434)

1.

Definition

1.1. Der

Begriff

Der Begriff des „Urchristentums" hat sich seit dem Ende des 18. Jh. als terminus technicus durchgesetzt, um den gesamten Zusammenhang der ersten christlichen Gemeinden und ihrer Entwicklungslinien zu bezeichnen. Er unterscheidet sich dadurch vom Begriff der „ U r g e m e i n d e " , der sich in der Regel auf die ersten Gemeinden in Jerusalem und Judäa beschränkt. Phänomenologisch und deskriptiv meint der Begriff „Urchristentum" das apostolische Zeitalter als Anfang der Geschichte des -»Christentums. Umstritten ist dabei, ob das apostolische Zeitalter mit der Lehre und der Tätigkeit Jesu oder mit dem Osterereignis beginnt, und offen ist, wann die christlichen Bewegungen aufhören, „Urchristentum" zu sein. Gewisse wahrnehmbare Veränderungen erfolgten aus dem Tod der Apostel (-»Jakobus, —>Petrus und —»Paulus sind wahrscheinlich etwa zeitgleich Anfang der 60er Jahre umgekommen), aus dem Jüdischen Krieg und aus der Zerstörung Jerusalems ( 6 6 - 7 0 n.Chr.). Eine weitere Schwelle für das Selbstbewußtsein und für die Selbstdefinition des Christentums bildet der Übergang zwischen der Zeit der apostolischen Schriften, die im wesentlichen den neutestamentlichen -»Kanon bilden, und der

412

Urchristentum

Zeit der sog. „Apostolischen Väter", die nicht mehr im Namen der Apostel schreiben, sondern die Apostel als gründende Autoritäten zitieren. Mit dem Präfix „Ur-" wird aber dieser Anfang mit einer geschichtsphilosophischen und theologischen Wertung verbunden, die Beginn und Wesen des Christentums gleichsetzt (s.u. 1.2.). Der Begriff „Urchristentum" hat dadurch eine zumindest implizite institutionskritische Bedeutung, die den reinen und maßgeblichen Anfang des Christentums seiner späteren Entwicklung gegenüberstellt: Das „Urchristentum" liefert den Maßstab für die Wahrheit des Christentums. In diesem Sinne bildet der Begriff „Urkirche" den Gegensatz zum Begriff „Urchristentum", indem er die Kontinuität zwischen den Anfängen und der späteren Kirche betont. 1.2. Zur

Begriffsgeschichte

Der Begriff des „Urchristentums" scheint zum ersten Mal in einer 1779 vorabgedruckten und 1780 veröffentlichten Schrift von Bernhard Basedow (1723-1790), Vorschlag an die Selbstdenker des 19ten Jahrhunderts zum Frieden zwischen dem wohlverstandenen Urchristenthume und der wohlgesinnten Vernunft, aufzutreten (Alkier 161). Ab 1795 taucht er öfter auf und ist u . a . von Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) und J.Ph. -»Gabler, die zu seiner weiteren Verbreitung beigetragen haben, wiederaufgenommen worden (Alkier 165-169). Gabler bildete dann den Ausdruck der „Urgeschichte des Christentums" - angelehnt an den Begriff der „-»Urgeschichte", den J . G . -»Eichhorn 1779 für die Auslegung von Gen 1 - 3 eingeführt hatte - , um die vorliterarische Geschichte des frühen Christentums zu bezeichnen. Der von Basedow geprägte Begriff des „Urchristentums" enthält von Anfang an ein geschichtsphilosophisches und kritisches Programm: „Urchristentum" meint nicht deskriptiv das frühe Christentum, sondern es nimmt den Ursprungsgedanken auf, der u. a. von J.-J. -»Rousseau, J . G . -»Herder und J.W. von -»Goethe in verschiedenen Ausrichtungen entwickelt worden war (Alkier 113—172), um das wahre Christentum in der ursprünglichen und reinen Lehre Jesu und der Apostel zu suchen (Lührmann) und es mit Hilfe der philologisch-historischen Exegese zu rekonstruieren. Mit der Idee, das Wesen des Christentums im Sinne des Ursprungsdenkens zu rekonstruieren, hat Karl Heinrich Georg Venturini (1768-1849) die erste „Geschichte des Urchristentums" unter dem Titel Geschichte des Urchristenthums im Zusammenhange mit der natürlichen Geschichte des großen Propheten von Nazareth (2 Bde.) verfaßt und 1807—1809 veröffentlicht. Nach seiner Absichtserklärung ist „die Geschichte des Urchristenthums . . . keine Geschichte der christlichen Kirche; denn Christenthum, — oder richtiger Christianismus, war schon lange vorhanden, ehe noch an eine christliche Kirche gedacht wurde. In eben dem Maasse, als der ächte Christianism, - (oder die, von Jesus nur zu sittlichen Zwecken in Anregung gebrachte Messias-Idee) - seinen ursprünglichen Charakter veränderte, bildete sich erst eine Kirche" (Venturini I, iii). Danach wurde „die einfache Christus-Lehre in eine kirchliche Form gezwängt, mit den Philosophemen des Zeitalters in Einverständnis gebracht, nach den Bedürfnissen jedes Landes und Volks gemodelt und zuletzt als ein machthabendes, durch Anathemen geschütztes Dogmen-System sanctionirt" (ebd. v-vi). E Ch. -»Baur hat nicht nur die Aufgabe gestellt, die Vielfalt der verschiedenen frühchristlichen Gruppierungen und ihre Lehren von ihrem Zusammenhang und ihren Wechselwirkungen her zu rekonstruieren, um sie zu verstehen und um die Einheit des frühen Christentums als Geschichte einer historischen Entwicklung zu begreifen, sondern auch das erste Paradigma dafür entwickelt. Damit hat er nicht nur die Grundlage für die neuere Geschichtsschreibung der Geschichte des frühen Christentums gelegt, sondern auch die „Geschichte des Urchristentums" als Disziplin gegründet.

Urchristentum 2.

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Chronologie

2.1. Die Daten Für eine Chronologie der Geschichte des frühen Christentums von den Anfängen bis zum Ende der apostolischen Zeit stehen folgende Daten zur Verfügung: a) Die Chronologie der paulinischen Mission (zwischen 32/34 und dem Anfang der 60er Jahre), die zum großen Teil aufgrund der Informationen der Paulusbriefe (-»Paulus I) und der -»Apostelgeschichte rekonstruiert werden kann, b) Der Bericht über den Tod des Jakobus in Act 12,2. Der Sohn des Zebedäus und der Bruder des Johannes ist von Agrippa I. („Herodes"), der 4 1 - 4 4 über ganz -»Palästina (einschließlich Judäa und -»Jerusalem) regierte, wahrscheinlich gegen Ende seiner Regierungszeit hingerichtet worden. Der Tod des Jakobus ist in M k 10,39 vorausgesetzt. Sein Bruder Johannes überlebte ihn, denn Paulus erwähnt seine Anwesenheit beim Treffen mit den „Säulen" in Jerusalem (Gal 2,9). c) Das Claudiusedikt gegen die Juden in Rom (Act 18,2; Cassius Dio LX,6,6f.; Orosius VII,6,15f.). Sueton schreibt: „Die Juden vertrieb er aus Rom, weil sie, von Chrestus aufgehetzt, fortwährend Unruhen stifteten" (Sueton, Claud. 25,4). Die Voraussetzungen des Ediktes sind, daß sich das Christentum in den Synagogen der Stadt -»Rom verbreitet hatte, daß Konflikte daraus entstanden waren und daß die Auseinandersetzungen Dimensionen angenommen hatten, die politische Maßnahmen erforderlich machten. Nach Orosius wurde das Edikt 49, nach Cassius Dio im Jahre 41 erlassen, d) Der Tod des -»Jakobus, Bruder des Herrn (62 n. Chr.), wird von Flavius -»Josephus (Ant XX,200), -»Clemens von Alexandrien (zitiert bei -»Eusebius von Caesarea, h.e. II,1,5; 23,3) und Hegesipp (zitiert bei Eusebius, h.e. 11,23,4—18) berichtet, e) Die -»Christenverfolgung unter Nero 64 n. Chr. Nach Tacitus (ann. XV,44) versuchte Nero, das Gerücht zu widerlegen, Rom habe auf seinen Befehl gebrannt, indem er die Schuld auf andere schob und „die ausgesuchtesten Strafen über die wegen ihrer Verbrechen Verhaßten, die das Volk ,Chrestianer' nannte, verhängte. Der N a m e leitet sich von Christus ab. Dieser war unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden. . . . Man verhaftete also zuerst Leute, die bekannten, dann auf ihre Anzeige hin eine riesige Menge. Sie wurden nicht gerade der Brandstiftung, wohl aber des allgemeinen Menschenhasses [odiutn humani generis] überführt. Die Todgeweihten benutzte man zum Schauspiel." Die Voraussetzungen dieser Schilderung sind, daß es in der Mitte der 60er Jahre eine wahrnehmbare Zahl von Christen gab, die der Bevölkerung als solche bekannt und klar von den Juden unterschieden waren, f) Der Briefwechsel zwischen Plinius d.J. und Trajan (Plinius, ep. X,96f.). 2.2. Die paulinische

Chronologie

Eine Rekonstruktion der paulinischen Chronologie wird durch folgende Faktoren erschwert: Erstens stimmen die historischen Angaben der Apostelgeschichte mit den Reiseplänen und Reiseberichten der Paulusbriefe nicht immer überein. Da es wenig plausibel ist, daß Paulus in seinen Briefen falsche Informationen gegeben hat, die die Adressaten ja unmittelbar entdecken konnten, müssen die Daten, die in der Apostelgeschichte enthalten sind, kritisch überprüft werden. Einerseits stellt sich die Frage der Quellen und der Traditionen, die Lukas verwenden konnte. Andererseits hatte er als Historiker theologische Vorstellungen, die den zeitlichen Rahmen seiner Darstellung bestimmten. Zweitens bieten weder die Apostelgeschichte noch die Paulusbriefe eine vollständige Chronologie der paulinischen Mission. Beide Quellen enthalten nur einzelne Informationen, die als Elemente für die Rekonstruktion einer fortlaufenden Paulus-Chronologie verwendet werden können. Drittens enthalten die Informationen der beiden Quellen nur die Elemente für die Rekonstruktion einer relativen Chronologie. Eine relative Chronologie rekonstruiert die Abfolge von verschiedenen Ereignissen, ohne sie auf einen äußeren, festen Rahmen

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Urchristentum

zu beziehen, so daß sie nicht datiert werden können. Die Herstellung einer absoluten Chronologie der paulinischen Mission ist deshalb erst aufgrund der Überschneidung der Informationen der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte mit nichtbiblischen Dokumenten möglich. 2.2.1. Die relative Chronologie nach den Paulusbriefen. Die Aussagen der Paulusbriefe sind für die Herstellung einer Chronologie der paulinischen Mission und der paulinischen Briefe maßgebend. Für die großen Missionsreisen in Kleinasien und in -•Griechenland sind sie sehr spärlich und reichen nicht aus, um die verschiedenen Reisen des Apostels zu rekonstruieren. Dagegen bieten sie einen fortlaufenden Bericht der Anfänge des paulinischen Apostelamtes: Der autobiographische Bericht in Gal 1,13-2,21 bietet eine lückenlose Darstellung der ersten Jahre des paulinischen Apostelamtes. Eine präzise Aufzählung seiner Missionsaufenthalte mit der Angabe ihrer jeweiligen Dauer beginnt mit der Berufung des Paulus als Heidenapostel (Gal 1,13-17) und endet mit der paulinischen Darstellung des „Apostelkonzils" (Gal 2,1-10). Der Zeitabstand zwischen dem „Apostelkonzil" und dem Zwischenfall in -»Antiochien, der wahrscheinlich unmittelbar folgte, ist allerdings nicht mehr genannt. Der 1. Thessalonicherbrief verweist auf die verschiedenen Etappen, über die Paulus und seine Mitarbeiter zum ersten Mal nach Korinth kamen: Philippi, Thessalonich und Athen (I Thess 2,2; 3,1—6). In I Kor 16,8 erklärt Paulus seine Absicht, in Ephesus bis Pfingsten zu bleiben. I Kor 16,5—7 informiert über die Reisepläne des Apostels von Ephesus nach Korinth. Paulus hat jetzt vor, durch Makedonien zu reisen. Aus Gründen, die er in II Kor 1,17-2,11 angibt, hat er wahrscheinlich die früheren Pläne aufgegeben, auf die er in II Kor 1,15f. hinweist. II Kor 2,12f. und 7 , 5 - 7 enthalten mehrere Reiseberichte: Paulus befindet sich auf dem Weg nach Korinth, und zwar zunächst in Troas und dann in Makedonien (Philippi?). II Kor 9,4; 10,2; 12,14; 13,1.10 kündigen den Besuch des Apostels in Korinth an. In Rom 15,14-32 erklärt Paulus seine Absicht, nach Jerusalem zu fahren, um dorthin die Ergebnisse der Kollekte zu bringen, und dann nach Rom zu reisen, um das Evangelium mit der Unterstützung der römischen Gemeinde nach Spanien zu bringen. Die Darstellung in Gal 1,13—2,21 enthält aber zwei Momente der Unsicherheit: Die erste hängt mit der Zählungsweise der Antike zusammen. Zeitabläufe werden so gemessen, daß sowohl das erste als auch das letzte angebrochene Jahr mitgerechnet werden. „Nach drei Jahren" (Gal 1,18 f.) bedeutet, daß ein volles Jahr vergangen ist zwischen dem Jahr, in dem Paulus berufen wurde, und dem Jahr, in dem er Petrus in Jerusalem besucht hat. Das gleiche gilt für die 14 Jahre, die in Gal 2,1 genannt werden. „Nach 14 Jahren" meint einen Zeitabstand von 12 bis 14 Jahren. Die zweite Unsicherheit bezieht sich auf das Verhältnis der Zeitangaben zueinander. Wegen des formalen Parallelismus zwischen Gal 1,18, 1,21 und 2,1 wird in der Regel angenommen, daß die ein bis drei Jahre in Arabien und in Damaskus (Gal 1,18), die etwa 15 Tage in Jerusalem (Gal 1,18) und die zwölf bis 14 Jahre in Syrien und Kilikien addiert werden sollen. Deshalb interpretiert man, daß Paulus 14 Jahre, nachdem er ein erstes Mal in Jerusalem gewesen war, nochmals mit Titus dorthin gereist sei, so daß das „Apostelkonzil" zwischen 14 und 17 Jahre nach der Berufung des Paulus stattgefunden hat. Grammatikalisch könnte man aber Paulus auch so lesen, daß sich „nach 14 J a h r e n " auf den gleichen Bezugspunkt wie „nach drei Jahren" (Gal 1,18) verweist, so daß man verstehen müßte: Drei Jahre nach seiner Berufung ist Paulus ein erstes Mal nach Jerusalem gezogen (Gal 1,18) und 14 Jahre nach seiner Berufung das zweite Mal (Gal 2,1). Wenn die Paulusbriefe uns eine klare Vorstellung der Anfänge der Geschichte des paulinischen Apostelamtes vermitteln, so liefern sie uns doch keinen Zeitrahmen, um den Ablauf der Mission in Kleinasien, in Makedonien und in Griechenland zu rekonstruieren. Die paulinischen Informationen außerhalb von Gal 1 f. bleiben fragmentarisch,

Urchristentum

415

und erst die Reiseberichte der Apostelgeschichte bieten einen kohärenten Gesamtablauf, in den sie eingeordnet werden können. Sie sind aber um so bedeutender, als sie sich in der Regel auf die aktuelle Situation des Apostels beziehen, und sie geben Anhaltspunkte, um die Briefe, die sie enthalten, zu datieren. Es ist kein Zufall, wenn der Briefwechsel des Paulus mit Thessalonich, Korinth und Rom relativ problemlos datierbar ist, während die Abfassungszeit des Galater-, des Philipper- und des Philemonbriefes unsicher bleibt. Über die letzten Reisen nach Jerusalem, Rom und Spanien enthalten die Paulusbriefe nur noch Pläne (Rom 15,14-32). 2.2.2. Die relative Chronologie der Apostelgeschichte. Auffällig ist, daß die Apostelgeschichte den zeitlichen Ablauf der paulinischen Mission gerade dort recht genau schildert, wo die Angaben der Paulusbriefe lückenhaft werden. Enthält der Galaterbrief einen fortlaufenden Bericht der Geschichte des paulinischen Apostelamtes von der Berufung des Paulus bis zum „Apostelkonzil", so findet man bei Lukas eine besonders gründliche Darstellung des Zeitablaufs seiner letzten zehn Jahre. Act 9,1—31: Berufung des Verfolgers, Predigt in Damaskus und unmittelbare Reise nach Jerusalem, wo Paulus zu den Aposteln geführt wird. Act 11,25-30: Paulus und Barnabas werden nach Jerusalem gesandt, um eine Spende zu überbringen. Act 13,1-14,28: die erste Missionsreise. Barnabas und Paulus begeben sich nach -»-Zypern, Pamphylien, Pisidien und Lykaonien. Act 15,1-33: das „Apostelkonzil" in Jerusalem. Act 15,35-18,22: zweite Missionsreise des Paulus nach Syrien, Kilikien, Phrygien, Galatien, Troas, Makedonien (Philippi, Thessalonich, Beröa), Athen und Korinth. Paulus hält sich ein Jahr und sechs Monate in Korinth auf (Act 18,11). Dann reist er nach Ephesus, zum vierten Mal nach Jerusalem und nach Antiochien. Act 18,23-21,26: dritte Missionsreise nach Galatien und Phrygien. Danach bleibt Paulus zwei ]ahre und drei Monate in Ephesus (Act 19,8.10), um anschließend nach Makedonien und Griechenland (Korinth) weiterzureisen. Von dort aus fährt er dann zurück nach Jerusalem über Makedonien, Troas und Milet. Dadurch wird ein Reiseplan verwirklicht, der in Act 2 0 , 1 - 6 angekündigt wird. Der Plan von Act 2 0 , 1 - 6 kombiniert die paulinischen Angaben von I Kor 1 6 , 5 - 7 und Rom 15,25-27. Er ersetzt einen ursprünglichen Plan (Act 19,21 f. par. II Kor 1,15f.), der aus den in Act 2 0 , 1 - 6 par. II Kor 1,15—2,13 angegebenen Gründen aufgegeben wurde. Act 21,27—23,10: Gefangennahme in Jerusalem. Act 23,11-26,32: Paulus bleibt zwei Jahre lang in Caesarea in Haft. Act 27,1—28,31: Fahrt nach Rom, mit Aufenthalt in „Malta" (drei Monate), in Syrakus (drei Tage), bei Brüdern in Puteoli (sieben Tage) und freie Predigt in Rom (zwei Jahre, Act 28,30f.). Als Quellen scheinen sich also die Paulusbriefe und die Apostelgeschichte gut zu ergänzen. Der Vergleich der lukanischen Darstellung mit den paulinischen Berichten zeigt aber, daß sie nicht immer kompatibel sind. Widersprüchliche Aussagen betreffen u.a. das Verhältnis des Apostels zu der Gemeinde in Jerusalem. Paulus erwähnt nur drei Besuche in Judäa (Gal 1,18—20; 2 , 1 - 1 0 ; Rom 15,14-32), während die Apostelgeschichte fünf Reisen des Paulus nach Jerusalem erzählt. Die erste Reise (Act 9,26—31), die den Behauptungen von Gal 1,17-18 direkt widerspricht, und eine vierte Reise (Act 18,20-22), die jeden konkreten Zug vermissen läßt, sind sehr wahrscheinlich literarische Konstruktionen des Lukas. Paulus betont die Unabhängigkeit des Gottesevangeliums von menschlichen Traditionen und Vermittlungen (Gal 1,10-12), während die Apostelgeschichte die Kontinuität zwischen der Urgemeinde und der Heidenmission aufzeigen will. Das Itinerar und die Reden des Apostels gehören in der Apostelgeschichte zu den Stilmitteln, mit Hilfe derer der „Historiker" Lukas seine Geschichtstheologie erläutern und belegen kann, und deshalb sind seine historischen Angaben zur Geschichte und zur Chronologie der paulinischen Mission mit Vorsicht zu betrachten. 2.2.3. Die Gallio-Inschrift in Delphi und die absolute Chronologie. Die Festsetzung einer absoluten Chronologie der paulinischen Mission ist erst durch die Berührungen

416

Urchristentum

zwischen einer Information der Apostelgeschichte und einer Inschrift, die 1905 in Delphi entdeckt wurde, möglich geworden. Diese Inschrift enthält einen Erlaß des Kaisers Claudius, der in der ersten Hälfte seines 12. Regierungsjahres, d.h. zwischen dem 25. Januar und dem 1. August 52, herausgegeben wurde. Der Text nennt als Statthalter von Achaia Gallio, dessen Amtsjahr folglich sehr wahrscheinlich vom Frühjahr 51 bis zum Frühjahr 52 dauerte. Nach dem Bericht von Act 18,12-17 wurde Paulus in Korinth dem Statthalter Gallio, der übrigens ein Bruder des Philosophen Seneca war, vorgeführt. Da sich die Amtszeit von Gallio nach der Inschrift aus Delphi einigermaßen sicher datieren läßt, bildet der erste Aufenthalt des Paulus in Korinth (Act 18,11) einen gewissen Fixpunkt, aus welchem sich eine absolute Chronologie aus der relativen Chronologie der Paulusbriefe und der Apostelgeschichte ableiten läßt. Wenn nämlich die Angabe von Act 18,11 stimmt, nach welcher Paulus ein Jahr und sechs Monate in Korinth geblieben ist, dann muß er spätestens Ende 51 in Korinth angekommen sein und kann frühestens im Sommer 51 Korinth verlassen haben. Daher ergibt sich: Paulus war in Korinth frühestens von Ende 49 bis zum Sommer 51 und spätestens zwischen Herbst 51 und Frühjahr 53. 2.2.4. Die Rekonstruktion der paulinischen Chronologie. Die paulinischen Briefe liefern einen zuverlässigen Rahmen für die relative Chronologie der ersten 15 Jahre der paulinischen Apostelzeit, während die Apostelgeschichte die einzige Quelle für die spätere Zeit bleibt. Die erste Aufgabe des Historikers besteht darin, die Informationen kritisch zu überprüfen und zu kombinieren, um den Versuch zu unternehmen, eine vollständige Chronologie zu rekonstruieren. Die zweite Aufgabe wird sein, diese relative Chronologie mit Hilfe der Überschneidung zwischen der Gallio-Inschrift und der Apostelgeschichte in eine absolute Chronologie umzuwandeln. 2.2.5. Die klassische (Act 15,5-21).

Hypothese:

Gal 2,1 — 10 bezieht sich auf das

„Apostelkonzil"

In der Regel nimmt man an, daß der Bericht des „Apostelkonzils" (Act 1 5 , 5 - 2 1 ) als die lukanische Darstellung des Treffens zu verstehen ist, welches Paulus in Gal 2 , 1 - 1 0 darstellt. Der Handlungsablauf der beiden Berichte ist insgesamt parallel. Die Frage, die sowohl in Gal 2 , 1 - 1 0 als auch in Act 1 5 , 5 - 2 1 gestellt und beantwortet wird, betrifft die Bedingungen für die Aufnahme der Heidenchristen in die christlichen Gemeinden. Der Gesichtspunkt des Paulus, der in Act 1 5 , 5 - 2 1 erstaunlicherweise von Petrus dargestellt und verteidigt wird (in Gal 2 , 1 1 - 2 1 wird gerade die Rolle des Petrus als unfreiwilliger Vertreter der anti-paulinischen Position hervorgehoben), setzt sich gegen die Vorbehalte von falschen Brüdern (Gal 2,4) pharisäischer Herkunft (Act 15,5) durch, die gegenüber der Annahme der Heiden ohne ->• Beschneidung zurückhaltend sind. Aber sowohl der Zusammenhang des Treffens in Jerusalem mit dem Zwischenfall in Antiochien als auch die genaue Identität der Gesprächspartner, der Ablauf der Diskussionen und die Ergebnisse der Verhandlungen differieren. Das Treffen schließt nach Paulus mit der bedingungslosen Anerkennung des paulinischen Evangeliums und der heidenchristlichen Mission ab (Gal 2 , 6 - 9 ) , während Act 1 5 , 2 0 f . 2 2 - 3 5 von einem „Aposteldekret" berichtet, das von den Aposteln und den Ältesten beschlossen wird (s.u. 5.2.; 5.3.).

Diese Unterschiede können von den Eigentümlichkeiten der lukanischen Heilsgeschichte her erklärt werden. Nach der klassischen Hypothese sollen die relative Chronologie der paulinischen Berichte und die relative Chronologie der lukanischen Geschichtsschreibung so miteinander verbunden werden, daß die Äquivalenz von Act 15,5—21 mit Gal 2,1 — 10 vorausgesetzt wird. Folgt man diesem Ansatz und macht man die relative Chronologie am Fixpunkt der Datierung von Act 18,11.12—17 durch die Gallio-Inschrift fest, dann erhält man folgende absolute Chronologie: Berufung des Paulus: 33/34; (Missions-)Reise nach Arabien: 3 3 35/34-37; Missionsreise nach Syrien und Kilikien: 3 5 - 4 8 / 3 7 - 5 0 ; „Apostelkonzil" in Jerusalem: 48/50; Missionsreise nach Europa: 48; Paulus in Korinth: 4 9 - 5 1 / 5 1 - 5 3 ; Redaktion des l.Thessalonicherbriefes: 50/52; Paulus in Ephesus: 5 1 - 5 4 / 5 3 - 5 6 ; Redak-

Urchristentum tion des 1. Korintherbriefes: 52/55; Redaktion des 2. Korintherbriefes: Korinth: 5 5 - 5 6 / 5 6 - 5 7 ; Redaktion des Römerbriefes: 56/57.

417 54/56; Paulus in

2.2.6. Alternative Hypothesen: Gal 2,1-10 entspricht Act 11,27-30 oder Act 18,2022. Wegen der Unterschiede in den Einzelheiten der beiden Berichte von Gal 2 , 1 - 1 0 und Act 1 5 , 5 - 2 1 kann man versuchen, Alternativen zu entwickeln. Sie bestehen darin, Gal 2,1 — 10 mit einer anderen Reise des lukanischen Paulus nach Jerusalem zu identifizieren. Eine erste Identifikationsmöglichkeit bietet die Erzählung von Act 11,27-30 (Witherington). Sowohl nach Act 11,27-30 als auch nach Gal 2 , 1 - 1 0 reistPaulus zusammen mit Barnabas, und in den beiden Darstellungen spielt die finanzielle Unterstützung der Gemeinde in Jerusalem eine wichtige Rolle. Nach Act 11,27-30 sind Paulus und Barnabas von der Gemeinde in Antiochien gesandt worden, um ihre finanzielle Hilfe für die Christen in Judäa, die unter einer Hungersnot litten, zu bringen. Die zweite Identifikationsmöglichkeit bietet die kurze lukanische Notiz in Act 18,2022 (Lüdemann). Die Konsequenz dieser Lösung besteht in einer drastischen Verkürzung der paulinischen Chronologie. Sie impliziert, daß bereits „nach 14 Jahren" (Gal 2,1) die erste Missionsreise des Paulus in Makedonien (Philippi, Thessalonich) und in Griechenland (Korinth) stattgefunden hat und daß kaum mehr als 20 Jahre zwischen der Berufung des Paulus und seinem letzten Aufenthalt in Jerusalem (Rom 15,14-32) vergangen sind. Es ergibt sich folgender Ablauf: Berufung des Paulus: 30; Missionsreise nach Arabien und nach Damaskus (Gal 1,17): 3 0 - 3 3 ; Missionsreise nach Syrien und Kilikien (Gal 1,21): 3 4 - 3 6 ; erste Missionsreise nach Europa: 36—47; Redaktion des 1. Thessalonicherbriefes: 41; Treffen in Jerusalem (Gal 2 , 1 - 1 0 = Act 18,20-22): 47; Paulus in Ephesus: 4 8 - 5 0 ; Redaktion des 1. Korintherbriefes: 49-, Redaktion des 2. Korintherbriefes: 50; Paulus in Korinth: 5 1 - 5 2 ; Redaktion des Römerbriefes: 51/52.

418

Urchristentum

2.2.7. Ergebnisse: Die paulinische

Chronologie

Ubersicht 1: Die paulinische Chronologie Relative Chronologie Paulusbriefen

nach den

Gal 1,13-16: Berufung des Paulus Gal 1,17: (Missions-)Reise nach Arabien und nach Damaskus

Relative Chronologie Apostelgeschichte

nach der

Act 9 , l - 1 9 a par. Act 22 par. Act 26: Berufung des Paulus Act 9,19b-25: Predigt in Damaskus Act 9,26—31: 1. Reise nach Jerusalem Act 11,30: 2. Reise nach Jerusalem

Absolute

Chronologie

= etwa 33/34 = etwa 35/37

Gal 1,18-19 („nach drei Jahren"): 1. Reise nach Jerusalem. Paulus bleibt 15 Tage Gal 1,21: Missionsreise nach Syrien und nach Kilikien

Act 13,1-14,28:

Gal 2 , 1 - 1 0 („nach 14 Jahren"): 2. Reise nach Jerusalem

Act 15,1-21: 3. Reise nach Jerusalem, „Apostelkonzil"

Gal 2,11—21: Zwischenfall in Antiochien

Act 15,35—18,22: Zweite

I Thess 2,2: Philippi und Thessalonich I Thess 3,1: Athen I Thess 3 , 1 - 6 : Korinth Abfassung des I Thess (und Gal?)

Erste

Missionsreise

Missionsreise

Act 18,12: Gallio ist Proconsul in Achaia Act 18,11: ein Jahr und sechs Monate in Korinth Act 18,20-22: 4. Reise nach Jerusalem Act 18,23-21,26:

I Kor 16,8: in Ephesus bis Pfingsten Abfassung des IKor (und Gal? und Phil?)

Dritte

= etwa 48/50

Missionsreise

Die Gallio-lnschrift in Delphi: zwischen dem 25.1. und dem 1.8.52; Gallio in Korinth vom 1.7.51 bis 30.6.52; Paulus in Korinth zwischen Ende 49-Sommer 51 oder Ende 51-Frühjahr 53

Act 19,8.10: zwei Jahre und drei Monate in Ephesus

= von 5 1 - 5 4 bis 53-56

Act 20,3: drei Monate in Griechenland ( = Korinth)

= 5 5 - 5 6 oder 5 6 - 5 7

II Kor 2,12f.: Paulus in Troas II Kor 7,5-7: Paulus in Makedonien Abfassung des II Kor II Kor 9,4; 10,2; 12,14; 13,1.10: Reise nach Korinth I Kor 16,6: Paulus verbringt den Winter in Korinth Abfassung des Rom (und Gal?) Rom 15,25-27: Reisepläne nach Jerusalem

Act 20,1-21,26: 5. Reise nach Jerusalem Act 21,27-23,22: Verhaftung in Jerusalem

Abfassung des Phil in Caesarea?

Act 23,23 - 26,32: zwei Jahre in Caesarea

Rom 15,24.28: Reisepläne nach Rom und nach Spanien

Act 27,1-28,31:

Abfassung des Gal und Phil in Rom?

Reise nach

Rom

Malta (drei Monate), Syrakus (drei Monate), Puteoli (sieben Tage) und Rom (zwei Jahre)

Urchristentum 2.3. Zusammenfassung:

Die Chronologie

419

des apostolischen

Zeitalters

Ü b e r s i c h t 2 : D i e C h r o n o l o g i e des a p o s t o l i s c h e n Z e i t a l t e r s Rom

Korintb und Griechenland

Epbesus und Asia

Antiochien Syrien

und

Jerusalem Judäa

und

Gründung der Gemeinde in Antiochien 33/34: Berufung des Paulus 33-35/34-37: Mission in Arabien und Damaskus

Gründung der Gemeinde in Ephesus

vor 41 oder vor 49: Gründung der stadtrömischen Gemeinde

49-51/51-53: Paulus in Korinth Apollos in Korinth Die „Uberapostel" in Korinth

Paulus in Ephesus

35/37: Paulus in Jerusalem (1) 35-48/37-50: Mission in Syrien und Kilikien

43/44: Tod des Jakobus 48/50: Paulus in Jerusalem (2): Das „Apostelkonzil"

Petrus und Paulus in Antiochien

51-54/53-56: Paulus in Ephesus

55-56/56-57: Paulus in Korinth Paulus in Jerusalem (3) 64: Neroverfolgung Tod des Petrus? Tod des Paulus? (I Clem 5 , 1 - 7 )

62: Tod des Jakobus, Bruder des Herrn 6 7 - 7 0 : Der jüdische Krieg

420

Urchristentum

3. Die Epochen

des

Urchristentums

Die Darstellung der Geschichte des Urchristentums ist stark vom lukanischen Geschichtsbild geprägt worden. Nach diesem Paradigma läßt sie sich in klaren Epochen gliedern: Geschichte der Urgemeinde in Jerusalem; -»-Mission der Hellenisten in Samarien (-»Samaritaner) und Antiochien; erste Heidenmission und Apostelkonzil; die Ausbreitung des (Heiden-)Christentums in Kleinasien, Griechenland und -»Italien. Die Erzählabsicht der Apostelgeschichte besteht aber nicht darin, eine vollständige Geschichte des Urchristentums zu schreiben, sondern sie konzentriert sich vielmehr auf die immer wieder gefährdete Kontinuität der Entwicklungsgeschichte der apostolischen Mission, die in Jerusalem anfängt und bis nach Rom führt. Daraus folgt, daß sich Lukas weder mit der Weiterentwicklung der christlichen Gemeinde in Jerusalem nach der ersten Mission der „Hellenisten" und nach dem Apostelkonzil noch mit der Entstehungsgeschichte des Christentums in -»Ägypten, -»Syrien, Kleinasien, Griechenland und Italien außerhalb der petrinischen und der paulinischen Mission befaßt. Die eigenständige Missionstätigkeit des Apollos (I Kor 16,12) setzt jedoch die Existenz eines ägyptischen Christentums vor dem Ende der 40er Jahre voraus. Die Geschichte des johanneischen Kreises belegt die Existenz urchristlicher Entwicklungslinien in Syrien oder in Kleinasien, die im lukanischen Geschichtsbild keinen Platz finden. Die Ausbreitung des Christentums in den hellenistischen Synagogen hat Rom vor 41 oder vor 49, d.h. auf jeden Fall vor dem „Apostelkonzil", erreicht. Daraus folgt auch, daß die historische Bedeutung bestimmter Ereignisse, wie z. B. des „Apostelkonzils", das wahrscheinlich nur Jerusalem und die paulinische Mission betrifft, überschätzt wird. Mehr als das Apostelkonzil scheint der Tod der Apostel einen entscheidenden Einschnitt in der Geschichte des Urchristentums bedeutet zu haben. Drei der vier „Säulen" von Gal 2,9 sind wahrscheinlich in einem Zeitabstand von zwei Jahren gestorben: Jakobus, der Bruder des Herrn, ist als Märtyrer 62 hingerichtet worden, und Petrus und Paulus sind vermutlich vor oder in der Neroverfolgung in Rom umgekommen. Mit dem Tod dieser Apostel endet das „apostolische Zeitalter", aber gleichzeitig beginnt die Epoche der intensiven literarischen Tätigkeit, die unter ihrem Namen oder unter ihrer Autorität stattfindet. Dem „apostolischen Zeitalter" folgt die Epoche der apostolischen Literatur (deutero-, tritopaulinische und katholische Apostelbriefe, Evangelien, Apostelgeschichte), die durch die Erscheinung des 1. Clemensbriefes zu Ende kommt und durch den 2. Petrusbrief in der Mitte des 2. Jh. abgeschlossen ist. 4. Judenchristentum 4.1.

und

Heidenchristentum

Definitionen

Die Begriffe „Judenchrist", „judenchristlich", „-»Judenchristentum" und „Heidenchrist", „heidenchristlich", „Heidenchristentum" sind zunächst Bezeichnungen rein sozialer Qualität. Ein „Judenchrist" ist ein Christ jüdischer Herkunft, während „Heidenchrist" jeder Heide ist, der sich zum Christentum bekehrt hat. „Judenchristliche" Gemeinden sind Gemeinden, die aus der Synagoge entstanden sind, während „heidenchristliche" Gemeinden aus Heiden bestehen, die sich bekehrt haben und getauft worden sind. Die rein soziale Bezeichnung erhält aber insofern eine theologische Relevanz, als die religiöse Herkunft der Gemeinden ihre jeweilige Deutung des Jesusereignisses und ihr Verständnis des Evangeliums prägen. „Judenchrist", „judenchristlich" und „Judenchristentum" bezeichnen dann bestimmte Entwicklungslinien des Christentums, die den christlichen Glauben mit Hilfe von jüdischen oder hellenistisch-jüdischen Kategorien und Denkweisen interpretieren oder die schließlich der jüdischen Selbstdefinition durch die -»Erwählung, den -»Bund Gottes mit -»Israel und die Gabe des -»Gesetzes treu bleiben, während „Heidenchrist", „heidenchristlich" und „Heidenchristentum" Entwicklungslinien definieren, die das Evangelium in der religiösen und philosophischen Sprache des Hellenismus verstehen und formulieren.

Urchristentum 4.2. Die Anfänge des

421

Heidenchristentums

4.2.1. Das lukanische Geschichtsbild. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte gehört von Anfang an die Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden und die Gründung eines Heidenchristentums zum Programm der apostolischen Mission (Lk 24,47; vgl. Act 1,8). Die Entstehung des Heidenchristentums setzt aber voraus, daß das Evangelium in Judäa, in Samarien und in den Synagogen verkündigt worden ist (Lk 24,47b; Act 1,8), daß sich das Judentum nach dem Tod des „Gerechten" nicht bekehrt hat und daß die Juden die Missionspredigt der Apostel abgelehnt haben (Act 13,46b-47; 28,25b-28). Als Konsequenz dieses heilsgeschichtlichen Geschichtsbildes des Lukas ergibt sich eine bestimmte Vorstellung der Entstehungsgeschichte des Heidenchristentums. Nach der Apostelgeschichte entwickelt sich zunächst das Urchristentum innerhalb des Judentums: die Adressaten der Apostel sind die jüdischen Männer (Act 2,14-41; 3,12-26) und ihre Autoritäten in Jerusalem (Act 4 , 8 - 1 2 ; 5,29-32). Die „Hellenisten", die griechischsprechende Juden sind (Act 6,1) und zu griechischsprachigen Synagogen in Jerusalem gehören (vgl. Act 6,9), erweitern insofern den Kreis der Zuhörer des Evangeliums, als sie das Evangelium nach Samarien (Act 8 , 4 - 8 ) und zu Juden der -»Diaspora bringen (Act 8,26-40). Nach der lukanischen Darstellung ist der erste Heidenchrist der gottesfürchtige Cornelius, den Petrus in Caesarea trifft und den er unter der Führung des Heiligen -»Geistes mit anderen Heiden tauft (Act 10,1-11,15). Damit erfährt die Geschichte des Urchristentums eine Wende, die die paulinische Heidenmission vorbereitet (Act 13,13-52) und die durch das Apostelkonzil und das dort beschlossene Aposteldekret offiziell anerkannt wird (Act 15,1-29). Dieses lukanische Geschichtsbild hat als weitere Konsequenz eine bestimmte Vorstellung der Strategie der apostolischen Mission, die in den hellenistischen Städten daraufhin erfolgt. Da das —»Wort Gottes und der Ruf zur -»Buße zunächst den Juden verkündigt werden soll, findet die erste Predigt der Apostel in der -»Synagoge statt. Der Widerstand der Juden führt dann dazu, daß sich der Kern der ersten Bekehrten, die sowohl aus namhaften Juden als auch aus Gottesfürchtigen bestehen, in einem privaten Haus versammeln muß. Diese stereotype Darstellung, die sich in Thessalonich (Act 17,1-9), Beröa (17,10-15) und Korinth (18,1-11) programmatisch wiederholt, hat die doppelte Funktion, die heilsgeschichtliche Priorität des Judentums weiterhin zu respektieren und die Entstehung eines Heidenchristentums zu erklären. 4.2.2. Heidenchristen im Urchristentum: die Tischgemeinschaften Jesu, Antiochien und die paulinische Heidenmission. Sowohl die Paulusbriefe als auch die Traditionen der Evangelien zeigen, daß das Heidenchristentum fast von Anfang an zur Geschichte des Christentums gehört. 4.2.2.1. Das Heidenchristentum der paulinischen Heidenmission. Nach seinem eigenen Bericht ist Paulus als „Heidenapostel" berufen worden (Gal 1,13-17), und die Darstellung in Gal 2 , 1 - 1 0 setzt voraus, daß die Gemeinden der paulinischen Mission von Anfang an heidenchristliche Gemeinden gewesen sind (Gal 2,2: „das Evangelium, das ich unter den Heiden verkündige"). Der Sinn der Arbeitsteilung in Gal 2,9c ist zwar insofern unklar, als unentscheidbar ist, ob sdvrj („Völker") hier die Nichtjuden oder den Bereich außerhalb von Palästina meint. Offensichtlich ist aber, daß die Kirchen, die Paulus in Thessalonich und in Korinth gegründet hat, aus bekehrten Heiden zusammengesetzt sind. Die Adressaten des 1. Thessalonicherbriefes sind Heidenchristen: sie haben die Götzen zugunsten des lebendigen Gottes aufgegeben (I Thess l,9f.), und ihre Volksgenossen sind Heiden (I Thess 2,13—16), die keine Hoffnung haben (I Thess 4,13). Das gleiche gilt für die Adressaten des 1. Korintherbriefes. Die ganze Diskussion über die Haltung, die die Christen gegenüber dem Götzenopferfleisch anzunehmen haben, läßt jede sachbezogene Berücksichtigung der jüdischen Reinheitsgebote vermissen

422

Urchristentum

(I Kor 8,1-11,1), und der Apostel beruft sich explizit in I Kor 12,2 auf die heidnische Vergangenheit der Korinther. Aus diesen Beobachtungen muß man schließen, daß heidenchristliche Gemeinden sehr früh, d.h. bereits zu Beginn der 30er Jahre, im Bereich der paulinischen Mission existiert haben. Die Existenz dieses heidenchristlichen Christentums neben dem judenchristlichen Frühchristentum in Judäa und die theologische Notwendigkeit ihrer gegenseitigen Anerkennung, die in Gal 3,28 von Paulus begründet wird, ist der Anlaß des „Apostelkonzils" gewesen. 4.2.2.2. Die Heidenchristen des hellenistischen Judenchristentums: Antiochien und Rom. Die paulinische Mission ist aber nicht der einzige Bereich, in dem Heiden sehr früh in christliche Gemeinden aufgenommen worden sind. Die paulinische Darstellung des Zwischenfalls in Antiochien (Gal 2,11—21) setzt voraus, daß die syrische Gemeinde eine gemischte Gemeinde war, die aus Juden- und Heidenchristen bestand. Der paulinische Bericht unterscheidet mehrere Stadien in der Entwicklung der Verhältnisse zwischen Heiden- und Judenchristen in Antiochien: Die Ausgangssituation, die existierte, bevor Petrus kam, war durch eine bedingungslose und gegenseitige Anerkennung der Juden- und Heidenchristen in der Gemeinde gekennzeichnet (Gal 2,12). Symbol dieser Anerkennung war die Tischgemeinschaft. Sie impliziert, daß sich die Judenchristen gegen Christen heidnischer Herkunft nicht mehr abgegrenzt haben, weil ihre judenchristliche Selbstdefinition mit einem internationalen und universalen Verständnis der Erwählung Gottes kompatibel war, so daß Heiden als gleichberechtigte Brüder und Schwestern aufgenommen werden konnten. Auffällig ist, daß sich Petrus, als er ankam, dieser problemlosen, gegenseitigen Anerkennung der Juden- und Heidenchristen ohne weiteres anschließen konnte (Gal 2,12b). Diese Feststellung impliziert, daß sowohl für Petrus als auch für die Mehrheit der Christen in Antiochien die Unterscheidung zwischen Juden und Heiden keine theologische Relevanz mehr hatte. Als aber die „Leute von Jakobus" ankamen, hat sich Petrus von den Heidenchristen getrennt (Gal 2,12c), und die anderen Christen jüdischer Herkunft sind ihm gefolgt (Gal 2,13). Die Durchsetzung eines national-konservativen Verständnisses des Judenchristentums hatte zur Folge, daß Petrus sich überreden ließ und daß sich der tagtägliche Umgang in der Gemeinde veränderte. Die „Kirche" spaltete sich zwar dadurch in zwei Teile; dennoch ist es wichtig zu registrieren, daß diese Trennung keine judenchristliche Verwerfung des Heidenchristentums bedeutete. Der paulinische Bericht enthält nämlich keine Spuren einer Diskussion über die Legitimität der Zugehörigkeit der Heiden zum Christentum. Die verlangte Trennung der Tische implizierte „nur" die Forderung, daß die jüdischen Abgrenzungsgebote von den Judenchristen beachtet werden sollten und daß in der christlichen Kirche eine erwählungstheologische Differenz zwischen Juden und Heiden anerkannt bleiben sollte. Der paulinische Bericht des Zwischenfalls in Antiochien (Gal 2,11-21) ist zunächst ein Beleg für die Selbstverständlichkeit, mit der hellenistisch-judenchristliche Gemeinden Heiden als gleichberechtigte Mitglieder aufgenommen haben. Das bedeutet, daß ein Heidenchristentum neben der paulinischen Mission und vielleicht bereits vor der paulinischen Mission im hellenistischen Judenchristentum der Diaspora existiert hat. Der paulinische Bericht zeigt aber auch, daß diese Offenheit des Urchristentums für die Heiden nicht nur im hellenistischen Judenchristentum festzustellen ist, sondern auch bei der Hauptgestalt der galiläischen Nachfolger Jesu. Die Flexibilität, die das Verhalten des Petrus in Antiochien kennzeichnet, läßt sich am besten dadurch erklären, daß für ihn die Fragen des nationalen Charakters der jüdischen Erwählung und der Abgrenzungsgebote des jüdischen Gesetzes nicht mehr relevant waren. Der paulinische Bericht verschweigt aber auch nicht die Probleme und Spannungen, die das Zusammenleben von Heiden- und Judenchristen in gemischten Gemeinden verursachen konnte, sobald Judenchristen gegenüber ihrer jüdischen Identität loyal bleiben wollten.

Urchristentum

423

Mit ähnlichen Spannungen in einer anderen gemischten Gemeinde befaßt sich die paulinische Argumentation in Rom 14,1-15,13. Die Gemeinde in Rom ist sehr wahrscheinlich ebenfalls von hellenistischen Judenchristen innerhalb der Synagoge gegründet worden. Heftige Konflikte zwischen Juden und Judenchristen, die daraus entstanden sind, haben das Claudiusedikt veranlaßt (s.o. 2.1.). Nach ihrer Rückkehr nach Rom scheinen die römischen Christen eigene Hausgemeinden gebildet zu haben (Rom 16,5), zu denen sowohl Judenchristen (die „Schwachen" Rom 14,2, die weder Fleisch essen noch Wein trinken und versucht sind, ihre Brüder zu „richten") als auch Heidenchristen (die „Starken" Rom 15,1, die sich als freie Menschen verstehen und versucht sind, ihre Brüder zu verachten) gehörten. Aus den Beobachtungen, die anhand von Gal 2 , 1 1 - 2 1 und Rom 14,1-15,13 gemacht werden können und die durch die Erscheinung von hellenistischen judenchristlichen Aposteln in Korinth (II Kor 10,1-13,10) bestätigt werden, kann man schließen, daß sowohl die Mission als auch die Gemeinden des hellenistischen Judenchristentums sehr früh und mit Selbstverständlichkeit die Heiden als gleichberechtigte Brüder und Schwestern aufgenommen haben, so daß die von ihnen gegründeten Gemeinden die Form von gemischten Gemeinden angenommen haben. Jesu und die Heiden. Unumstritten ist, daß der 4.2.2.3. Die Tischgemeinschaften Kreis der Jünger Jesu überwiegend aus kleinen Unternehmern (Fischer) und Handwerkern der jüdischen Kleinstädte in Galiläa bestand. Die Bestreitung der jüdischen Herkunft Jesu und seiner Genossen (Walter Grundmann, Jesus der Galiläer und das Judentum, Leipzig 1940 21941) ist literarisch und historisch völlig unplausibel und eindeutig durch ideologisch-politische Interessen geleitet. Damit wird aber nicht ausgeschlossen, daß sich auch Heiden aus den hellenistischen Städten Galiläas in der Umgebung Jesu befanden und an den Tischgemeinschaften beteiligt gewesen sind. Die anti-jesuanische Uberlieferung, nach welcher Jesus ein Säufer und ein Fresser war, der mit Zöllnern und Sündern aß und trank (Lk 7 , 3 1 - 3 4 Q), setzt voraus, daß sich Jesus gerade dadurch ausgezeichnet hat, daß er die Menschen unabhängig von ihren Eigenschaften als Personen anerkannt und aufgenommen hat. Entweder gab es bereits unter den „Zöllnern und Sündern" auch Heiden und Frauen, oder die Tischgemeinschaften Jesu liefern die ideologische Begründung für den pluralistischen Universalismus der paulinischen Gemeinden (Gal 3,28). 4.3. Das

Judenchristentum

Selbst wenn das Judenchristentum wegen der Erfolge der Heidenmission des Paulus und der anderen hellenistischen judenchristlichen Apostel die quantitative Mehrheit im Urchristentum schnell verloren hat, sind judenchristliche Theologen für den Hauptteil der literarischen Produktion der kanonischen Schriften verantwortlich. Dazu gehören u.a. die Apostelbriefe des Paulus, das Matthäus- und das Johannesevangelium. Paradox ist dabei, daß sie sich als Juden und in der Kontinuität des Judentums verstehen, daß sie jeweils ein universalistisches Verständnis des Christentums vertreten und daß sie sich deswegen mit nationalistisch-konservativen Tendenzen des Judenchristentums bzw. des Judentums innerjüdisch auseinandersetzen müssen. 4.3.1. Das Judenchristentum in Judäa, in Galiläa und in der Diaspora. Die Paulusbriefe und die Apostelgeschichte liefern gewisse Informationen über zwei verschiedene Gruppen und Tendenzen des Judenchristentums: zunächst ein Judenchristentum, das in Jerusalem oder in Judäa beheimatet ist. Die Apostelgeschichte verbindet es mit Jerusalem und mit der Figur der Zwölf oder der Apostel. Paulus spricht sowohl über „Jerusalem" (vgl. R o m 15,19.25.31; I Kor 16,3 und Gal 2,1) als auch über die Kirchen in Judäa (vgl. Rom 15,19; Gal 1,23; I Thess 2,14). Sowohl für Paulus als auch für die Apostelgeschichte scheint Jerusalem das Zentrum nationalistisch-konservativer Tendenzen des Judenchristentums zu sein.

424

Urchristentum

Sowohl die Apostelgeschichte (Act 6,1-7,60; 8,4; 11,19-30) als auch Paulus (II Kor 10-13) kennen aber auch ein internationales, griechisch sprechendes Judenchristentum, das zum größten Teil für die Verbreitung des Christentums in den Synagogen der Diaspora verantwortlich gewesen sein soll und das ganze Missionsunternehmen unterstützt hat, welches die Apostelgeschichte mit dem Begriff der „Hellenisten" bezeichnet (Act 6,1) und dem sie u.a. die beiden Figuren des Stephanus (Act 6,7-7,60) und des Philippus (Act 8,5-40) zuordnet. Darüber hinaus kann man die Existenz christlicher Kirchen in Galiläa und Samaria vermuten, die u.a. die Trägergruppe der ersten Spruchsammlungen Jesu gewesen sein könnten (Logienquelle; Thomasevangelium); sowohl die Apostelgeschichte (Act 8 , 5 - 8 ; vgl. 1,8) als auch das Johannesevangelium (Joh 4 , 5 - 4 2 ; 8,48; vgl. Cullmann 49 - 5 2 ) setzen dort die Existenz von christlichen Gemeinden voraus. 4.3.2. „Judenchristentum" als soziale Bezeichnung und „Judenchristentum" als Bezeichnung eines national-konservativen Judentums. Das Geschichtsbild, in dem F.Ch. Baur die erste Epoche des Frühchristentums durch die antithetische Opposition des paulinischen Lehrbegriffs und des petrinischen Judenchristentums gekennzeichnet hatte, ist für das Verständnis der Geschichte des frühen Christentums insofern weiterführend gewesen, als es auf die ursprüngliche Vielfalt der frühchristlichen, judenchristlichen Theologie verwiesen hat. Diese Vorstellung der Vielfalt, die von Anfang an zum Wesen des Christentums gehört, ist von E. Käsemann wieder aufgenommen worden. Die älteste christliche Theologie bestand aus grundsätzlichen Auseinandersetzungen, in denen verschiedene Entwicklungslinien des Judenchristentums untereinander und gegeneinander versucht haben, ihr christliches Überzeugungssystem zu gestalten. Dabei lassen die frühchristlichen Schriften und Traditionen verschiedene Varianten des bekennenden „Judenchristentums" unterscheiden, die sich gegen die liberale Theologie der hellenisierten Gemeinden (Antiochien) und gegen die weisheitlichen Überlieferungen (die ersten Spruchsammlungen der Logienquelle und des Thomasevangeliums in Galiläa und in Syrien) abgegrenzt haben. Eine klare judenchristliche Interpretation des Christentums bieten die vormatthäischen Traditionen. Im Gegensatz zu den hellenistischen und internationalen Judenchristen lehnen sie jede Form der Heidenmission ab: Die christlichen Missionare sollen sowohl die Samariter als auch die Wege der Heiden vermeiden (Mt 10,5f.). Die Form des Verbots, das vor einer Öffnung des Christentums für Nicht-Juden warnt, setzt voraus, daß christliche Bewegungen bereits angefangen haben, das Evangelium unter den Samaritern und den Heiden zu verkündigen (Käsemann 87). Die Begründung für diese grundsätzliche Ablehnung der Heidenmission ist in der positiven Formulierung des Ziels der Aussendung der Missionare gegeben: Sie sind ausgesandt worden, um die verlorenen Schafe Israels zurückzuholen. Dieses Judenchristentum versteht sich also als eine eschatologische Reformbewegung des Volkes Israel: Israel soll für das nah gewordene -»Gericht Gottes vorbereitet werden. Deshalb orientieren sie sich an der pharisäischen Auslegungstradition des Gesetzes (Mt 23,2f.): die Christen sind dem ganzen Gesetz verpflichtet (Mt 5,18 f.) und sollen nicht nur alle Gebote beachten, sondern das ganze Gesetz als Ruf zum Gehorsam und zur Umkehr verstehen (Mt 23,23). Eine andere Form der judenchristlichen Theologie vertreten die „falschen Brüder", die Paulus in Gal 2 , 1 - 1 0 erwähnt, und die Missionare, die in Galatien tätig sind. Dieses „Judenchristentum" ist auch durch ein eschatologisches Bewußtsein geprägt. Dieses Bewußtsein führt es aber nicht zu einer Bußpredigt innerhalb von Israel, sondern umgekehrt zu einer eigenen Heidenmission. Auffällig ist nämlich zum einen, daß sich die Einwände der „falschen Brüder" in Jerusalem (Gal 2,1-10) nicht grundsätzlich gegen die Heidenmission des Paulus, sondern gegen die Anerkennung von Heidenchristen, die unbeschnitten bleiben, richten (Gal 2,3f.). In diesem Punkt ist übrigens die lukanische Darstellung des Konfliktes exakt geblieben (Act 15,1-5). Zum anderen sind die Kon-

Urchristentum

425

kurrenten des Paulus in Galatien Missionare, die auch ein „Evangelium" verkündigen (Gal 1 , 6 - 9 ) , das die Beschneidung der Heiden verlangt (Gal 5 , 2 - 1 1 ; 6 , 1 1 - 1 8 ) . Entscheidend ist, daß sie nicht vollkommenen Gehorsam gegenüber dem ganzen Gesetz für wichtig halten (Gal 5,3), sondern nur die symbolische Handlung der Beschneidung, die das Identitätsmerkmal der Zugehörigkeit zum erwählten Volk bildet. Am besten läßt sich dieser Sachverhalt so erklären, daß sich dieses Judenchristentum in der prophetischen Tradition des Alten Testaments versteht, die die eschatologische Zeit als die Zeit deutet, in der Gott seinen Bund auch für die Heiden öffnen wird (Martyn 3 4 3 - 3 5 2 ) . Das „Evangelium" der Missionare in Galatien besteht in der Botschaft, daß Gott den Heiden seinen Bund auch anbietet, so daß auch sie sich beschneiden lassen dürfen, um in das Volk der Erwählung eingeschlossen zu werden. 5. „Apostelkonzil" 5.1.

und

„Aposteldekret"

Definitionen

Der Begriff „Apostelkonzil" bezeichnet traditionell das Treffen in Jerusalem, das sowohl im autobiographischen Bericht des Paulus in Gal 2 , 1 - 1 0 als auch in der lukanischen Erzählung von Act 1 5 , 5 - 2 1 dargestellt wird. Beiden Darstellungen ist zu entnehmen, daß ein Treffen zwischen Paulus, Petrus, J a k o b u s und, nach Gal 2 , 9 , Johannes in Jerusalem stattgefunden hat, w o Fragen bezüglich der Anerkennung der Heidenmission des Paulus und der notwendigen Bedingungen für die A n n a h m e der Heiden in die christlichen Gemeinden erörtert worden sind. Der Begriff „ A p o s t e l d e k r e t " bezeichnet einen offiziellen Brief der Apostel und der Ältesten in Jerusalem an die Heidenchristen in Antiochien, Syrien und Kilikien, den Act 1 5 , 2 3 - 2 9 als das Ergebnis des „Apostelkonzils" formuliert oder zitiert (s.u. 5 . 3 . ) .

5.2. Das

„Apostelkonzil"

5.2.1. Anlaß und Thema des apostolischen Treffens. Nach der lukanischen Darstellung (Act 15,1 f.) ist das „Apostelkonzil" durch eine offizielle Anfrage der Gemeinde in Antiochien an die Apostel und an die Ältesten in Jerusalem veranlaßt worden. Die Erfolge der Predigt des Barnabas und des Paulus unter den Heiden (Act 14,44-48) hatten nämlich zu einem Konflikt geführt. Leute, die aus Judäa stammten, verlangten von den Heidenchristen, daß sie sich beschneiden ließen; denn ohne Beschneidung nach dem Gesetz Moses könne niemand gerettet werden. Deswegen beschloß die Gemeinde, Barnabas, Paulus und einige andere Brüder nach Jerusalem zu schicken, um die Entscheidung dort treffen zu lassen. In Jerusalem treten wiederum Judenchristen aus der Partei der -•Pharisäer auf, die sich an das Gesetz des Mose halten wollen, die Beschneidung der Heidenchristen verlangen (Act 15,5) und so die Versammlung der Apostel und der Ältesten unmittelbar verursachen. In der paulinischen Schilderung zieht Paulus nach Jerusalem wegen einer ->• Offenbarung und nicht aufgrund einer kirchlichen Entscheidung. Barnabas und Titus nimmt er mit. Paulus unternimmt die Reise, um seinen Kollegen seine Heidenmission darzustellen und um die Anerkennung seines Apostelamtes als Heidenapostel und die volle und bedingungslose Anerkennung der von ihm gegründeten heidenchristlichen Gemeinden sicherzustellen. Fraglich sind für ihn weder seine apostolische Autorität noch die Heidenmission, die beide zusammen auf einer Gottesoffenbarung gründen (Gal 1,12.26), sondern vielmehr die Verwirklichung einer tatsächlichen Einheit des Christentums in der Form einer bedingungslosen, gegenseitigen Anerkennung der Gemeinden in Judäa, der Mission im Judentum und in den Synagogen, des paulinischen Apostelamtes, der von ihm neu gegründeten heidenchristlichen Gemeinden in Syrien und Kilikien (Gal 1,21) und der Früchte der zukünftigen Missionsreisen. Als Symbol und Vertreter des Heidenchristentums nimmt Paulus Titus mit, der „Grieche" und unbeschnitten ist (Gal 2,1) und die Rolle eines Test- bzw. Präzedenzfalles spielt (Gal 2,3). Titus bleibt in der ganzen Apostelgeschichte unbekannt.

426

Urchristentum

5.2.2. Die beteiligten Personen und ihre theologischen Positionen. Die Apostelgeschichte berichtet von einer Plenarversammlung der Apostel und der Ältesten, die durch die Forderungen der Judenchristen pharisäischen Ursprungs veranlaßt wird. An der entscheidenden Diskussion beteiligen sich: Petrus, der den paulinischen Standpunkt aufgrund der Erfahrung von Act 10,1 — 11,15 und einer Anspielung auf Gal 2,14b-21 (vgl. Act 15,11 mit Gal 2,15) vertritt (Act 15,7-12); Paulus und Barnabas, die die Zeichen und Wunder Gottes unter den Heiden berichten (Act 15,12); Jakobus, der das Urteil formuliert, das als Beschluß angenommen wird. Paulus unterscheidet vier Gruppen und drei Kreise, in denen die Diskussionen stattfinden: Den ersten, großen Kreis bildet die Gemeinde in Jerusalem, in der Paulus das von ihm gepredigte Evangelium vorstellt (Gal 2,1—2a). Den zweiten Kreis bilden die „Angesehenen", mit denen er Sondergespräche hat und die weder die Beschneidung des Titus verlangen noch dem Heidenapostel etwas auferlegen (Gal 2,2b—6). Die dritte Gruppe bilden die „falschen Brüder", die die Beschneidung des Titus verlangen (Gal 2,4). Die vierte Gruppe und den dritten Kreis bilden die „Säulen", d.h. Jakobus, Kephas (Petrus) und Johannes, die für Paulus die entscheidende Rolle spielen (Gal 2,7-10). 5.2.3. Die Ergebnisse des apostolischen Treffens. In der Apostelgeschichte wird von einem Beschluß gesprochen, bei dem es um eine offizielle Genehmigung der paulinischen Heidenmission durch die doppelte Instanz der Apostel und der Ältesten im Einvernehmen mit der ganzen Kirche geht, das Aposteldekret (s.u. 5.3.). Gal 2 , 6 - 9 nennt folgende Ergebnisse der Gespräche des Paulus mit den „Angesehenen" und den „Säulen": Die „Angesehenen" haben die christliche -•Freiheit des paulinischen Christentums durch keine Auflage eingeschränkt (Gal 2,6b). Die „Säulen" haben festgestellt, daß Petrus und Paulus gleichberechtigte und komplementäre Aufträge erhalten haben (Gal 2,7). Die „Säulen" haben die göttliche Berufung des Paulus eingesehen (Gal 2,9a). Paulus, Barnabas und die „Säulen" haben sich einen symbolischen Gemeinschaftshandschlag gegeben (Gal 2,9b). Die Aufgaben der Mission sind verteilt worden. Die Säulen sind für die „Beschneidung", Paulus und Barnabas für die Heiden zuständig (Gal 2,9c; s.o. 4.2.2.1.). Paulus und Barnabas sind mit der Kollekte beauftragt worden (Gal 2,10). 5.2.4. Die Bedeutung des „Apostelkonzils". Die gemeinsame Voraussetzung der Auseinandersetzung, die in Jerusalem stattgefunden hat, ist nach den beiden Berichten des Paulus und des Lukas die Anerkennung der Legitimität der Heidenmission. Nach dem Geschichtsbild des Lukas war die grundsätzliche Problematik der Zulassung von Heiden in der Kirche in Act 10,1 — 11,15 behandelt und geregelt worden, und sowohl die „falschen Brüder" des paulinischen Berichts als auch die Brüder pharisäischer Herkunft von Act 15,5 waren bereit, Heidenchristen aufzunehmen, aber unter der Bedingung, daß sie in den Bund Gottes mit Israel eintreten und sich beschneiden lassen. In der Apostelgeschichte ist insofern das „Apostelkonzil" der große Wendepunkt der Missionsgeschichte, als es den offiziellen Übergang von der „Urgemeinde" in Jerusalem zum ökumenischen und westlichen Heidenchristentum der apostolischen Mission bildet. In dieser Hinsicht erscheint es als die Mitte des lukanischen Bildes des Urchristentums. Die Bedeutung, die die gegenseitige Anerkennung der Gemeinde in Jerusalem und der neu gegründeten heidenchristlichen Gemeinden für Paulus hat und die den Sinn der Kollekte erklärt (Rom 15,14-29; I Kor 16,1-9; II Kor 7,5-9,15; 11,7-15.20; 12,16-18; Gal 2,10), ist unmittelbar vom paulinischen Verständnis des Gottes-Evangeliums abhängig: Alle Brüder und Schwestern, die in Christus getauft worden sind, bilden einen Leib (Rom 12,3—9) und sind „eins" (Gal 3,26-28), so daß es in Christus weder Juden noch Griechen, weder Sklaven (—• Sklaverei) noch Freie, weder Mann noch —»Frau gibt. Das Christentum bildet insofern für Paulus eine universalistische Gesellschaft, als jeder Getaufte als Person und unabhängig von seinen Eigenschaften anerkannt ist. Daraus

Urchristentum

427

folgt, daß das Christentum insofern eine pluralistische Gesellschaft bildet, als jeder Getaufte mit seinen Eigenschaften anerkannt ist und geliebt werden soll (Gal 5,13-15). In der paulinischen Darstellung kann nicht von einer Legitimierung der Heidenmission, sondern „nur" von einer gegenseitigen und brüderlichen Anerkennung die Rede sein, denn die Autorität des paulinischen Apostelamtes und der daraus resultierenden Heidenmission gründet auf einer Offenbarung Gottes (Gal 1,12.16). 5.3. Das

„Aposteldekret"

5.3.1. Die Darstellung der Apostelgeschichte. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte endet das „Apostelkonzil" mit dem Beschluß, zwei Brüder mit Barnabas, Paulus und einem offiziellen Brief (Act 15,23-29) nach Antiochien, Syrien und Kilikien, d.h. in die Missionsgebiete der ersten Missionsreise des Paulus (Gal 1,21) bzw. des Barnabas und Paulus (Act 13f.), zu entsenden. Dieser Brief soll die Entscheidung mitteilen, die die autorisierten Gremien, d.h. die Apostel und die Ältesten mit der ganzen Kirche, getroffen haben (Act 15,22). Der Inhalt des Briefes nimmt den Vorschlag des Jakobus auf: Den Heidenchristen soll keine größere Last auferlegt werden als das Notwendige: Enthaltung von Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktem und Unzucht (Act 15,20.29). 5.3.2. Der historische oder fiktionale Charakter des „Aposteldekrets". Fraglich ist, inwiefern Lukas diesen Brief selbst komponiert hat oder ein historisches Dokument zitiert, und, falls er eine Quelle benutzt, was deren ursprünglicher Rahmen gewesen sein könnte. Literarisch ist der Text des Briefes von seinem erzählerischen Rahmen in der Apostelgeschichte abhängig. Er steht in der Kontinuität des „Apostelkonzils", das ihn genau vorbereitet. Die erwähnte Lösung entspricht gleichzeitig der Problemstellung, wie sie in Act 15,1 und 15,5 einerseits und in der Rede des Petrus in Act 15,7-11 andererseits formuliert wird: Zum einen soll sie den Sitten bzw. den Gesetzen des Mose konform sein, zum anderen soll die Offenheit des Christentums für die Heiden ermöglicht werden. Die Minimalbedingungen, die in Act 15,29 gestellt werden, wurden diesen beiden konträren Forderungen gerecht. Sie erfüllen nämlich die Vorschriften von Lev 17f.: Verbot fremder Opfer (Lev 17,8f.), Verbot des Blutes (Lev 17,10ff.), Verbot des Erstickten (Lev 17,13) und Verbot der Verwandtenehen (Lev 17,6ff.). Damit wird die heilsgeschichtliche Kontinuität der Heidenmission mit den alttestamentlich-jüdischen Verheißungen hervorgehoben, gesichert und bestätigt (vgl. auch T R E 24,585—587). Historisch fällt auf, daß Paulus das „Aposteldekret" weder voraussetzt noch erwähnt, daß umgekehrt seine Darstellung der Ergebnisse des apostolischen Treffens die Existenz einer solchen Vereinbarung ausschließt (Gal 2,6—10) und daß die ethischen Anweisungen der paulinischen und nachpaulinischen Apostelbriefe ein solches Dokument nie benutzen und erwähnen. Bemerkenswert ist nämlich, daß sich sowohl die ganze Argumentation von I Kor 8—10 über das Götzenopferfleisch als auch die Paränese von Rom 14,1-15,13 aufgrund eines solchen Beschlusses erübrigen würden. Allenfalls könnte Apk 2,24 die einzige Anspielung des Neuen Testaments auf das „Aposteldekret" sein. Daraus folgt, daß die historische Existenz eines Aposteldekrets, das die Diskussionen und die Ergebnisse des „Apostelkonzils" zusammengefaßt hätte und das den heidenchristlichen und gemischten Gemeinden bekanntgegeben worden wäre, höchst unwahrscheinlich ist. Plausibel ist entweder, daß Lukas den Brief selbst als Abschluß seiner dramatischen Konstruktion von Act 15,1—29 komponiert hat oder daß er Regelungen eingearbeitet hat, die in bestimmten westlichen Kirchen bekannt, überliefert oder praktiziert waren. Für die beiden Hypothesen, d.h. sowohl für die lukanische Fiktionalität des Aposteldekrets als auch für die Existenz pragmatischer Regeln in lokalen Gemeinden, sprechen die gleichen Argumente: zum einen die Offenheit der Lösung, die u.a. für das Problem der gemischten Tischgemeinschaften vorgeschlagen war, und zum anderen ihre biblische Logik.

428

Urchristentum

6. Die Predigt der Apostel und die geistige Bedeutung

des

Urchristentums

Da alle Paulusbriefe für Gemeinden geschrieben sind, die bereits zum Evangelium bekehrt wurden, und da die apostolischen Missionsreden der Apostelgeschichte das literarische Werk des Lukas sind, der Reden komponierte, wie es in der antiken Geschichtsschreibung üblich war, enthält das Neue Testament keine wirkliche Missionsrede. Es ist zwar versucht worden, rhetorische Motive der paulinischen Missionsstrategie durch die Analyse der Elemente der Diatribe in den Paulusbriefen zu rekonstruieren (Rudolf Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, 1910 [FRLANT 13]). Solche Versuche bleiben aber fragmentarisch und geben die thematischen Inhalte der christlichen Mission unter den Heiden nicht wieder. Am besten lassen sich die wesentlichen Aussagen der christlichen Heidenmission aus dem frühen 1. Thessalonicherbrief ableiten: zunächst die Ansage, daß sich der lebendige Gott geoffenbart hat, und die darauffolgende Aufforderung, die Götzen aufzugeben, um dem wahren und lebendigen Gott zu dienen (s.u. 6.1.); danach die Zusage, daß jeder, der sich zum wahren Gott bekehrt hat, heilig ist, und die darauffolgende Aufforderung, den Nächsten zu lieben (s.u. 6.2.). Das dritte Thema besteht in der Verheißung der Parusie, d . h . der Wiederkunft Christi, der Auferstehung der Toten und der vollkommenen Gemeinschaft mit Gott, und den darauffolgenden Aufforderungen, in der ->Hoffnung zu leben und wach zu bleiben (s.u. 6.3.; ->Eschatologie). 6.1. Die Unterscheidung

zwischen

den Göttern und die

Bekehrung

Die theologische Argumentation des Paulus in I Thess 1,2-10, die in I Kor 8 , 1 - 6 wiederaufgenommen und weiterentwickelt wird, fällt deswegen auf, weil sie nicht vom Monotheismus ausgeht, sondern vielmehr vom Ausschließlichkeitsanspruch —»Gottes, der zur alttestamentlichen Tradition der Monolatrie gehört und faktisch eine Situation des Polytheismus voraussetzt. Der Ausgangspunkt besteht in der Feststellung, daß es viele Götter gibt. Diese Aussage grenzt sich von den aufklärerischen Vorstellungen des Monotheismus ab, die in der hellenistisch-römischen Welt herrschten: Die Gottheit manifestiert sich zwar in der Form verschiedener Gestalten, aber das rationale Denken rechnet mit einem Gott (Cicero, nat. deor. 1,13; vgl. Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, München, II 4 1988, 569-578). Die Konsequenz der ersten apostolischen Aussage, daß es viele Götter gibt, besteht in der unmittelbaren Entscheidungssituation, die sich daraus ergibt. Wenn es viele Götter gibt, dann muß man zwischen den Göttern unterscheiden und sich zwischen den Göttern entscheiden. Die apostolische Predigt verlangt von ihren Zuhörern, daß sie sich für einen Gott gegen die anderen Götter entscheiden, und diese Entscheidung ist der notwendige Weg zum Dienst des wahren und lebendigen Gottes. Die Argumentation ist noch ausführlicher in I Kor 8,1—6: eigentlich gibt es viele „Götter" und Mächte, aber für uns gibt es nur einen einzigen Gott und einen einzigen Herrn, so daß es dann auch grundsätzlich nur einen Gott gibt. Die Konsequenz der Aufforderung, sich für einen Gott und gegen die anderen zu entscheiden, bedeutet aber, daß sich der Mensch dadurch für sich selbst entscheiden muß und daß er sich dadurch als individuelle Subjektivität (Badiou) konstituieren muß. Diese Notwendigkeit, eine persönliche Entscheidung zwischen den Göttern und für sich selbst treffen zu müssen, ist ein erstes Novum der apostolisch-christlichen —»Predigt, die weder durch die römisch-hellenistischen Religionen noch durch das Judentum, in dem das Volk die konstitutive Identität trägt, gefordert war. N u n ist der Gott der apostolisch-christlichen Predigt der Gott, der sich in der historischen Person eines gekreuzigten Menschen (Lukian, peregr. 13: „eines gekreuzigten Sophisten") geoffenbart hat. Diese Offenbarung ist insofern eine Torheit für das rationalistische Denken, als sie eine anthropologische Unterscheidung impliziert, die das zweite Novum der apostolisch-christlichen Predigt darstellt: die Anerkennung einer —>•Person

Urchristentum

429

im Menschen, die von seinen Eigenschaften, d.h. von seiner sozialen, nationalen und religiösen Identität, seinen Zugehörigkeiten, seinen Loyalitäten und seinem Geschlecht unabhängig ist. 6.2. Die Heiligkeit

und das zweifache

Gebot der Liebe

Die Konsequenzen der doppelten Entdeckung der individuellen Subjektivität und der Person, die in jedem Menschen, unabhängig von seinen Eigenschaften, anerkannt ist, bestehen zum einen in der Vorstellung eines verantwortlichen Subjekts und zum anderen in der gegenseitigen Anerkennung des Anderen als Person und individuelle Subjektivität. Ein Teil des Gebots („wie dich selbst") ist die Aufforderung, die bedingungslose Erwählung bzw. die rechtfertigende -»Gerechtigkeit Gottes wahrzunehmen und sich als anerkannte Person bzw. als durch die -»Gnade Gottes konstituierte individuelle Subjektivität zu verstehen. Dies begründet ein Selbstwertgefühl des Individuums als Person, welches das dritte Novum der apostolisch-christlichen Predigt darstellt. Das Selbstverständnis des Individuums als individuelle Subjektivität, die von Gott bedingungslos anerkannt und geliebt ist, impliziert auch die Anerkennung des Anderen als anerkannte Person und als individuelle Subjektivität. Die erste Aussage begründet also die zweite: „Du sollst deinen Nächsten lieben". Das zweifache Liebesgebot (Lev 19,18), wenn es von der Gottesoffenbarung in Christus her ausgelegt wird, d.h. wenn es durch die Unterscheidung zwischen der Person, die in der Gnade Gottes gründet, und ihren Eigenschaften, die empirisch feststellbar sind und die Kriterien der verschiedenen sozialen Ordnungen bilden, radikalisiert wird, begründet die Entstehung der christlichen Gemeinde als neue, offene Gesellschaft, die durch ihren Universalismus und gleichzeitig durch ihren Pluralismus gekennzeichnet ist (vgl. Gal 3,28): die christliche Gemeinde bildet insofern eine universalistische Gesellschaft, als jede Person als individuelle Subjektivität unabhängig von ihren Eigenschaften anerkannt und geliebt wird. Deshalb gibt es weder Juden noch Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder Mann noch Frau. Da aber jeder unabhängig von seinen Eigenschaften anerkannt und geliebt ist, bildet die christliche Gemeinde eine pluralistische Gesellschaft insofern, als jeder und jede mit seinen/ihren Eigenschaften anerkannt und geliebt wird: Es gibt in der Tat Juden und Griechen, Sklaven und Freie, M a n n und Frau, aber so, daß alle als gleichberechtigte, anerkannte und geliebte Geschwister gelten. Diese Form der pluralistisch-universalistischen Gesellschaft bildet das vierte Novum der apostolischchristlichen Predigt. 6.3. Die Erwartung

der Parusie und die Strukturierung

der Gegenwart als

Hoffnung

Ein drittes Thema bildet die Erwartung der Parusie, die die Zeit der Christen als Hoffnung und als -»Verantwortung gestaltet. Die Christen unterscheiden sich dadurch von ihrer heidnischen Umwelt, daß sie in der Hoffnung leben (I Thess 4,13). Der Grund dafür ist nicht, daß die Gläubigen entrückt werden (I Thess 4,13—18) oder verwandelt werden sollen (I Kor 15,50-58), während die Ungläubigen keine Z u k u n f t nach dem - • T o d haben würden, sondern vielmehr, daß diejenigen, die den Tod und die Auferstehung Jesu Christi bekennen (I Thess 4,14; I Kor 15,3b-5), um die endzeitliche Rettung der Menschheit wissen: genauso, wie alle in einem Menschen, Adam, gestorben sind, so werden alle in einem Menschen, Christus, auferstehen (I Kor 15,21 f.). Das N o v u m dieser Vorstellung besteht nicht in der Aussicht auf -»Unsterblichkeit oder im Versprechen einer Erlösung, sondern vielmehr in der zuversichtlichen Erwartung eines Ereignisses, das sowohl der apostolisch-christlichen Verkündigung ihren Wahrheitsanspruch für die ganze Wirklichkeit der Schöpfung (-»Schöpfer/Schöpfung) verleiht als auch die Verantwortung der Christen für ihre Gegenwart in der Welt begründet (Richard Hays, First Corinthians, Louisville, Ky. 1997, 277-282).

430

Urchristentum

Persönliche und soziale Vorteile (Identitätsangebot in einer Zeit der Unsicherheit und der Angst, Solidaritätsangebot in der Zeit der Mobilität) mögen zum Erfolg des Frühchristentums in der hellenistisch-römischen Welt beigetragen haben. Wer aber die Interpretation der Verbreitung des Evangeliums auf soziale Erklärungen reduziert, gibt den intellektuellen Kreisen des römischen Reichs Recht, wenn sie das Christentum für einen irrationalen Aberglauben (superstitio: Sueton, Nero 16,2; Tacitus, ann. XV,4,3) halten. Die Gründe für die Rezeption einer Predigt, die gerade antiaufklärerische Züge enthielt, bestehen vielmehr darin, daß eben solche Elemente wie die Ablehnung des verbreiteten rationalen Monotheismus (s.o. 6.1.) die Entdeckung neuer Dimensionen des geistigen Lebens des einzelnen, der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit und des Verhältnisses zum Kosmos bedeuteten. 7. Christentum und

Judentum

Die Quellen, über die wir verfügen, lassen kein Gesamtbild des Verhältnisses der frühchristlichen Gemeinden zum Judentum und der Trennungsprozesse zwischen Kirche und Synagoge rekonstruieren. Die jüdische Literatur enthält darüber keine Information (Maier; Gülzow), und die frühchristlichen Zeugnisse spiegeln nur Einzelfälle und lokale Situationen wider. Feststellen läßt sich nur, daß sich kein einheitlicher Prozeß beobachten läßt, daß frühe heidenchristliche Gemeinden existiert haben, die von Anfang an außerhalb des Judentums und der Synagoge entstanden sind, während die pseudo-clementinischen Schriften das Zeugnis für die Weiterentwicklung judenchristlicher Milieus liefern, die in der Mitte des 2. Jh. vom Judentum noch nicht klar getrennt waren (rec. 1,44,2; 62; 70f.). 7.1. Paulus und die paulinischen

Gemeinden

Einen ersten Fall bilden Paulus und die paulinischen Gemeinden. Zum einen scheint sich Paulus bis zum wahrnehmbaren Ende seines Apostelamtes als Mitglied der Synagoge verstanden zu haben. Nur so läßt sich die Erwähnung der synagogalen Strafe in dem Peristasenkatalog von II Kor 11,24 erklären. Zum anderen lassen die Briefe selbst vermuten (I Thess 1,9f.; I Kor 12,2), daß er heidenchristliche Gemeinden außerhalb der Synagogen gegründet hat, die sehr wahrscheinlich nie ein engeres Verhältnis zum Judentum gehabt haben. 7.2. Die

Apostelgeschichte

Die Apostelgeschichte liefert ein anderes Bild, das sehr wahrscheinlich auf den Erfahrungen der Mission des hellenistischen Judenchristentums (der „Hellenisten") in den Synagogen der großen hellenistischen Städte gründet: Das Evangelium wird im Rahmen des -»Gottesdienstes der Synagoge verkündigt, so daß Spannungen innerhalb der jüdischen Gemeinden entstehen und sich die Christen allmählich in privaten Häusern versammeln müssen (Act 17,1-9.10-15; 18,1-11). 7.3. Das Matthäus- und das

Johannesevangelium

Das Matthäus- und das Johannesevangelium bezeugen die Existenz von christlichen Gemeinden, die sich bis zur Reorganisation des Judentums nach dem Jüdischen Krieg innerhalb der Synagogen entwickeln konnten. Diese innerjüdische Entwicklung christlicher Gemeinden innerhalb des griechischsprechenden Judentums der Diaspora ist nach der Darstellung des Matthäusevangeliums nicht ohne Spannungen verlaufen (Mt 9,3510,42), hat aber keine Konfliktspuren im Johannesevangelium hinterlassen. In beiden Fällen scheint aber die Trennung dramatisch gewesen zu sein (Mt 23,13—39; Joh 9,22; 12,42; 16,2), und sowohl die Redaktion des Matthäusevangeliums (Hummel 12-17) als auch die johanneische Offenbarungstradition (Martyn 42-62. 84f.) sind durch die Auseinandersetzung mit dem pharisäischen, vorrabbinischen Judentum stark geprägt.

Urchristentum 8. Der 8.1.

431

„Frühkatholizismus" Definition

Der Begriff des „Frühkatholizismus" wurde von E. -»Troeltsch in einem 1912 veröffentlichten Essay über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen eingeführt. Seitdem ersetzt er in der Interpretationsgeschichte des Urchristentums die verschiedenen Begriffe des „embryonalen Katholizismus" (A. -»Ritsehl), der „Prämissen des Katholizismus" (A. von —»Harnack) oder des „alten Katholizismus" (H.J. —•Holtzmann). Letzterer wurde insofern aufgegeben, als „-»Altkatholizismus" zum terminus technicus wurde. Troeltschs Ansatz war soziologisch geprägt und lehnte sich an die Arbeiten von M. -»Weber an. Troeltsch unterscheidet drei Epochen des Frühchristentums: den idealen Anarchismus und den Liebeskommunismus der ersten Gemeinden; die Zeit der paulinischen Paränese, die dem Christentum konservativere Verhaltensnormen vermittelt hat; den „Frühkatholizismus", der dem religiösen Inhalt und der sozialen Organisation des Christentums wegen der Bedrohung durch den -»Synkretismus und durch den Enthusiasmus, die u.a. durch die —»Gnosis vertreten waren, eine feste Form gegeben hat. Der „Frühkatholizismus" ist an vier Merkmalen erkennbar: an der Festlegung einer christlichen Lehre in der Form einer authentischen, durch die -»Bischöfe garantierten -•Tradition; an der Festlegung einer Amtslehre in der F o r m der Erscheinung des Episkopats, d . h . eines christlichen Priestertums (—»Priester/Priestertum); an der Festlegung einer Sakramentenlehre in der F o r m einer engen Verbindung des Wunderbaren mit kultischen Handlungen und einer Begrenzung der Heilswirkung der -»Sakramente auf die legitime Kirche, d . h . auf den Klerus; an der Festlegung des kirchlichen - » K a n o n s . Entscheidend für die Prägung des Begriffs „Frühkatholizismus" und seiner Äquivalente ist die Idee einer Übergangsperiode, die sich durch die Entwicklungen, die sie voraussetzt, und einen Endzustand, den sie vorbereitet, wesentlich definieren läßt. 8.2. Die Vorgeschichte

des

Begriffs

Die soziologische Definition des „Frühkatholizismus" durch E. Troeltsch und die Einführung des Begriffs in die historisch-kritische Diskussion lehnen sich an eine Geschichtsvorstellung an, die im Protestantismus und im römisch-katholischen Modernismus des 19. und des frühen 20. Jh. verbreitet ist: In der nachapostolischen Zeit habe sich eine Rechtgläubigkeit gebildet, die aus der Entwicklung des Heidenchristentums neben und nach Paulus entstanden sei und die die „paulinische Dogmatik" zu einer „abgeblaßten Form" und zu einem „mittleren Durchschnitt apostolischer Lehre" herabgesetzt und sie unter die gesamte Autorität der Apostel, d.h. des Paulus und der Zwölf, gestellt habe (Holtzmann I, 498). 8.2.1. Den Hintergrund dieser Vorstellungen bildet die Jüngere -»Tübinger Schule und besonders die Geschichtstheologie F.Ch. Baurs. Bereits Baur hatte drei Epochen der frühchristlichen Theologie unterschieden, die sich nach dem Modell der Dialektik der Philosophie von G.W.F. -•Hegel aneinander anschließen. Die erste Epoche wird durch die Antithese des Heidenchristentums der authentischen Paulusbriefe (für Baur: Römerbrief, 1. und 2. Korintherbrief, Galaterbrief) und des petrinischen Judenchristentums der Apokalypse des Johannes konstituiert. Die zweite Epoche erstreckt sich von der Zerstörung Jerusalems bis zum Anfang des 2. Jh. Ihre theologische Produktion bilden die späteren, „nicht-authentischen" Paulusbriefe, der Hebräerbrief, der Jakobusbrief, die Petrusbriefe, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte. Sie besteht aus Versuchen, eine Synthese der paulinischen Lehre der großen Briefe und des petrinischen Judenchristentums zu erreichen. Sie bereitet insofern den Katholizismus vor, als „der Grund der katholischen Kirche dadurch gelegt war, daß neben und nach Petrus auch Paulus als der glorreichste Apostel und gleichberechtigte Stifter der römischen Kirche galt" (Baur, Lehrbuch 67). Damit war der ursprüngliche Gegensatz zwischen „Judaismus" und „Paulinismus" aufgehoben. Die dritte Epoche besteht im 2. Jh. aus verschiedenen Versuchen, sich mit der gnostischen Synthese zwischen Christentum, Judentum und Heidentum auseinanderzusetzen. Zu dieser Epoche, die den Übergang zur katholischen Kirche im eigentlichen Sinne bildet, gehören sowohl die -»Pastoralbriefe als auch die großartige Synthese der johanneischen Theologie. 8.2.2. Eine klare und systematische Vorstellung des „Frühkatholizismus" und seiner Voraussetzungen vertritt A. von Harnack. Für Harnack waren die Prämissen für die

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Urchristentum

Entstehung des Katholizismus schon vor dem 2. Jh. und vor dem heftigen Kampf mit d e m Gnostizismus gegeben. Fast alle Elemente, die den Katholizismus kennzeichnen, w a r e n nämlich bereits beim Ü b e r g a n g in das apostolische Zeitalter vorhanden. Der entscheidende F a k t o r für diese Entwicklung ist weder das Judenchristentum noch der Paulinismus gewesen, sondern das christologische, spekulative Bekenntnis des Heidenchristentums, welches das Evangelium, das sich selbst als persönliche Bindung an die Person Jesu definierte, in ein System von Lehren verwandelt habe, so daß der „Frühkatholizismus" seine Wurzeln in den Anfängen der hellenistischen Theologie hat. Die Verwandlung des christlichen Bekenntnisses in ein Lehrsystem bereitet schon an sich die kirchengesetzliche Ausprägung der Religion, der Lehre, der Kultuspraxis und der Disziplin vor. Was den „Katholizismus" für Harnack ausmacht, ist „die alttestamentlich-christliche Verkündigung, übergeführt und eingetaucht in die hellenistische Denkweise, das heißt in den Synkretismus des Zeitalters und in die idealistische Philosophie" und „die Verkündigung des einen Gottes und des gekreuzigten und auferstandenen Herrn und Heilands Jesus Christus, übergeführt in die hellenistische Denkweise und ausgeführt als ein systematisches Lehrganze[s]" (Harnack, Entstehung 182f.). „Dieses Lehrganze unterscheidet sich aber von den idealistischen Systemen dadurch, daß es auch dort, wo es als rational erscheint, auf Offenbarung zu ruhen behauptet, ferner dadurch, daß es den geschichtlichen (christologischen) Stoff größtenteils konserviert, in die religions-philosophischen Lehrsätze einbettet und unbedingten Glauben für ihn verlangt" (ebd. 183f.). Vom Katholizismus selbst unterscheidet sich allerdings der „embryonale Katholizismus" dadurch, daß er noch die Form einer dogmengeschichtlichen Vielfalt hat, die bei den „apostolischen Vätern" feststellbar ist. Daraus folgt, daß man den embryonalen Katholizismus nicht am Inhalt seiner Lehre erkennt, sondern an der formalen Fixierung einer „apostolischen Tradition", die „die Gesetzeskirche mit der Kirche der lebendigen und wirklichen Gläubigen identifiziert" (ebd. 177). Daraus folgt auch, daß der Protestantismus an sich keine Alternative zum „embryonalen Katholizismus" darstellt, weil auch er die Form einer Orthodoxie annehmen kann und dadurch eine formale Definition der Religion und der Kirche festlegt. Demnach läßt allein „der freie Protestantismus eine Vergleichung mit dem Kern der Verkündigung Jesu und mit dem Paulinismus als religiöse Ethik zu" (Harnack, Dogmengeschichte I, 152). 8.3. Die Voraussetzungen

des

Begriffs

D e r Begriff des „ F r ü h k a t h o l i z i s m u s " und seine Äquivalente entstammen den Versuchen des liberalen Protestantismus, sich gegen ein als h o m o g e n und einheitlich verstandenes Christentum des „ F r ü h k a t h o l i z i s m u s " abzugrenzen. Z u m einen erhält dadurch der Begriff eine doppelte Bedeutung, die sowohl die analytische Funktion für die Interpretation des frühen Christentums als auch eine identitätsstiftende Rolle für die eigene Selbstdefinition erfüllt. Z u m anderen setzt er Vereinfachungen voraus, die sowohl seinen heuristischen W e r t als auch seine Fragwürdigkeit ausmachen. 8.3.1. Die Einheitlichkeit der orthodoxen Kirche und die Eindeutigkeit der Grenze zwischen Orthodoxie und Häresie. Eine erste Voraussetzung des Begriffs „Frühkatholizismus" besteht in der Reduktion der Geschichte des Christentums des Endes des 1. Jh. und des Anfangs des 2. Jh. auf die idealistische Konstruktion einer einförmigen, einheitlichen und „orthodoxen" Kirche. Diese Sichtweise impliziert sowohl ein historisches Urteil, nach welchem sich das Christentum auf seine erfolgreichsten Erscheinungen reduzieren läßt, als auch eine entsprechende Abwertung seiner als häretisch geltenden Formen. Dies bedeutet nichts anderes, als daß die Einführung des vermeintlich kritischen Begriffs des „Frühkatholizismus" nur unter der Bedingung erfolgt, daß der Begriff selbst als eine adäquate Kennzeichnung der geschichtlichen Wirklichkeit empfunden wurde. Unbestreitbar gilt aber die historische Beobachtung, daß sich eine solche Geschichte der Rechtgläubigkeit in der Vielfalt der „orthodoxen" Theologien der neutestamentlichen Schriftsteller, der „apostolischen Väter" und der Kirchenväter historisch nicht nachvollziehen läßt, und daß sie nur als das kontrafaktische Ergebnis einer anachronistischen und ideologischen Konstruktion existieren kann. Diese Vereinheitlichung des urchristlichen Geschichtsbildes ist um so problematischer, als sich die theologischen Begriffe und Vorstellungen der verschiedenen Formen des Christentums des 1. und des 2. Jh. zwischen Orthodoxie und Ketzerei nicht klar zuordnen lassen. Theologiegeschichtlich sind die historischen Grenzen zwischen Rechtgläubigkeit und -»Häresie nicht eindeutig zu zeichnen, wie es die Ambivalenz der Theologie der johanneischen Schule und ihrer gleichzeitigen und par-

Urchristentum

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allelen Rezeptionsgeschichte bei den Gnostikern (-»Herakleon; -»Gnosis/Gnostizismus) und -»Irenaus von Lyon, die Ambivalenz der Theologie des -» Clemens von Alexandrien, der Lebenslauf von -»Valentin oder die theologische Entwicklung von —»Tertullian zum -»Montanismus belegen. Die Texte, die in der Bibliothek von -»Nag Hammadi 1945 gefunden worden sind, haben die Vielfalt der frühchristlichen Bewegungen deutlich herausgestellt und die Klassifizierungen noch erheblich erschwert. Es fällt auf, daß bestimmte theologische Motive, die als Kennzeichen des „Frühkatholizismus" betrachtet werden, zunächst gerade in vorgnostischen oder in gnostischen Kreisen eingeführt worden sind. Zwei Beispiele dafür sind die Bezugnahmen auf die apostolische Tradition als Autoritätsargument, die zunächst im Johannesevangelium (Joh 21,24f.), im Thomasevangelium (NHC 11,2), im Brief des Petrus an Philippus (NHC VIII,2) und im apokryphen Brief des Jakobus (NHC 1,2) angewandt werden und die der 2. Petrusbrief offensichtlich widerlegen muß (II Petr 1,17), und die Bindung der Sakramente an eine Offenbarungstradition, wie man sie in der johanneischen Schule (Joh 6,51-58; I Joh 5,5f.) und im Philippusevangelium (NHC 11,3) beobachtet. 8.3.2. Die Geschichte des Christentums als Verfallsgeschichte. Die zweite Voraussetzung der Rede vom „Frühkatholizismus" besteht in einer Auffassung der Geschichte des frühen Christentums und der „Alten Kirche", die sie als die Institutionalisierung des ursprünglichen Geistes des Christentums interpretiert und sie von der wertenden Opposition von Urchristentum und Kirche her versteht. Der kritische Begriff des „Frühkatholizismus" setzt die implizite Kombination der Geschichtsvorstellungen voraus, die einerseits dem Ursprungsdenken des 18. und des 19. Jh. und andererseits der Geschichtsphilosophie, die F.Ch. Baur in Anlehnung an G.W.F. Hegel entwickelt hatte, zugrunde liegen. Das Urchristentum bildet das anfänglich vorhandene, ursprüngliche, unverfälschte und reine Christentum, das den Ausgangspunkt für eine glückliche oder weniger glückliche Abfolge von historischen „Lehrbegriffen", die sich ineinander auflösen, darstellt. Die Definition dieses reinen Ursprungs kann variieren. Für B. Basedow, H.E.G. Paulus und J.Ph. Gabler (s.o. 1.2.) bestand das „Urchristentum" in der einfachen Lehre Jesu und der Apostel, die durch die Dogmen in ein Gedankengebäude verwandelt wurde, und A. von Harnack sieht das wahre Christentum in der persönlichen Verbindung zur Person Jesu, die durch die griechische Spekulation des embryonalen Katholizismus noch nicht verdorben worden ist. Der Höhepunkt des Urchristentums kann sich aber auch in der theologischen Anthropologie der Paulusbriefe (Bultmann 191 f.) und in der Synthese (Baur) oder in der existentialen Interpretation des schlechthinnigen Paradoxes (Bultmann 402ff.) des Johannesevangeliums finden. Mit Recht versucht danach Bultmann, die Entwicklung nach Paulus theologisch aufzuwerten. Dagegen verbindet der Begriff des „Frühkatholizismus" ein evolutionäres Interpretationsmodell mit der Vorstellung, nach welcher das „Urchristentum" gleichsam als Wahrheitskriterium fungieren soll, so daß die nachfolgende Theologieund Kirchengeschichte nur als Verfallsgeschichte verstanden werden kann. Das Verständnis der Entwicklung des Christentums als Verwandlung in einen Frühkatholizismus, der ein Sich-Einrichten der Kirche in der Welt auf längere Sicht bedeutet, setzt eine doppelte Vereinfachung voraus. Geht man davon aus, daß das christliche Evangelium, das die Bedingungslosigkeit und die Unmittelbarkeit des Heils verkündigen sollte, zu einem Priesteramt führt, das eine konstitutive Bedeutung an sich gewinnt und zu einer neuen Mittelinstanz zwischen Gott und den Menschen wird, daß sich die voraussetzungslose Rechtfertigung in Anweisungen zum Beschreiten eines Heilsweges verwandelt, wodurch die Kirche zur Heilsanstalt wird und wodurch sich Sakramentalismus und Moralismus gegenseitig verstärken, und daß der Glaube sich als regula fidei gegen das Phänomen der Häresie definiert (Conzelmann, Grundriß 333. 334-338), so vergißt man die scharfen Auseinandersetzungen, die u.a. in den Paulusbriefen geführt werden mußten, und idealisiert die Christentümer der apostolischen Zeit, um ihnen die Karikatur des „Frühkatholizismus" entgegenzusetzen, der sich als historische Größe nicht finden läßt. 8.3.3. Die justificatio impii als regula fidei. Eine dritte Voraussetzung der Rede vom „Frühkatholizismus" ist die klare Definition eines Kanons im Kanon, von woher die Vielfalt der historischen Formen des Christentums beurteilt werden soll. Sowohl die Definition als auch der Inhalt dieses Kanons im Kanon variieren. Die liberale Position wertet die Uberlieferung der Sprüche des historischen Jesus auf, um eine theologische Kritik des nachösterlichen und hellenistisch-spekulativen Kerygmas des Todes und der Auferstehung Christi zu begründen. Diese Sichtweise, die programmatisch von Mitgliedern des „Jesus-Seminars" (R. Funk; J.D. Crossan; B. Mack) vertreten wird, ist nicht neu. Bereits A. von Harnack hatte die These aufgestellt, daß die Logienquelle, die die Sprüche Jesu undogmatisch überliefert, ein besseres Verständnis des Christentums vermittle als das Markusevangelium, welches das hellenistische Glaubensbekenntnis des Todes und der Auferstehung Jesu entfaltet (Beitr. zur Einl. in das NT. II. Sprüche u. Reden Jesu, Leipzig 1907,162-170). Das Osterkerygma ist dagegen für die Vertreter der -»Dialektischen Theologie das eigentliche Thema der neutestamentlichen Theologie (Bultmann 45f.), so daß die paulinische Theologie der

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Urchristentum

Gerechtigkeit Gottes bzw. der -»Rechtfertigung und die paradoxe Christologie des Johannesevangeliums das Zentrum der neutestamentlichen Botschaft bilden. Für E. Käsemann entscheidet die paulinische Theologie der justificatio impii über den evangelischen oder nicht-evangelischen Charakter des „Frühkatholizismus": die Bindung des Geistes an das kirchliche -•Amt, der apostolischen Tradition an eine kirchliche Ordnung und der Sakramente an die -»Ordination eines Klerus widerspricht der These, nach welcher der Geist selbst die -»Charismen hervorbringt (Käsemann 248f.). In jedem Fall muß auf die Gefahr geachtet werden, daß das dogmatik-, religions- oder kirchenkritische Prinzip, das dem vielfach belasteten Begriff des „Frühkatholizismus" zugrunde liegt, zum Dogma werden kann und dann in einen Selbstwiderspruch gerät. Zum einen begründen die paulinische Interpretation des Kreuzes und der Auferstehung Jesu als Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und die daraus resultierende These der justificatio impii keine Orthodoxie, sondern vielmehr die Vorstellung der Kirche als offene Gesellschaft, die sowohl durch den Universalismus als auch durch den Pluralismus gekennzeichnet ist und in der dieser pluralistische Universalismus als Wahrheitskriterium des Gottesevangeliums und der christlichen Freiheit gilt (s.o. 6.2.). Historisch betrachtet bildet diese paulinische Interpretation des Oster- bzw. Kreuzesereignisses keinen einzelnen geometrischen Punkt in der Geschichte des Urchristentums. Einerseits befindet sie sich in der unmittelbaren Kontinuität des Wortes und des Werkes des historischen Jesus. Der „Trinker" und „Fresser" war es, der nach Lk 7,31-34 mit den Sündern und Zöllnern trank, aß und dadurch die Unterscheidung zwischen Person und Eigenschaften einführte (s.o. 4.2.2.3.). Andererseits bedeutet die Organisation der Kirchen als Institutionen nicht unbedingt die Aufgabe der evangelischen Freiheit. Die Einführung von bezahlten Ämtern, die in I Tim 5,17 vorausgesetzt ist, hebt nicht unbedingt das charismatische Selbstverständnis der christlichen Gemeinden auf. Der Paradigmenwechsel, durch welchen die Führung der christlichen Hausgemeinden vom Mäzenatentum und von der Gastfreundschaft der Hausherrschaften getrennt werden, kann auch als „demokratische" Verwirklichung der Metapher des Leibes (I Kor 12,1-30) verstanden werden. 8.4. „Frühkatholizismus",

Katholizismus

und

Katholizität

Die Relevanz des Begriffes des „Frühkatholizismus" ist dadurch begrenzt, daß er die Existenz einer klaren Grenze zwischen Orthodoxie und Ketzerei in der frühchristlichen Theologie und in der Alten Kirche impliziert und daß er den gemeinsamen Nenner der apostolischen und nachapostolischen Kirchen in einer einheitlichen, ekklesiologischen Lösung eines doppelten Problems auf Dauer zu sehen versucht, daß nämlich ideologische, institutionelle, sakramentale und kanonische Festlegungen sowohl die treue Vermittlung der Erinnerungen an das in die Ferne gerückte Gründungsereignis als auch eine sachgemäße Ausrüstung für eine lange Zukunft der Kirche sichern sollen. Dabei wiederholt die moderne Geschichtsschreibung einen Fehler, den die vermeintliche anti-heterodoxe Polemik der apostolischen und nachapostolischen Zeit nicht immer zu vermeiden wußte: die Verwechslung des Begriffs der „Katholizität" im Sinn eines pluralistischen Universalismus mit dem Begriff der „-»Katholizität" im konfessionellen Sinn der Verteidigung einer „ O r t h o d o x i e " gegen die Gefahr einer sog. „Häresie". Am klarsten erscheint diese Paradoxie der Katholizität in den Grenzen des Kanons. Der 2. Petrusbrief stellt sich als „Enzyklika" vor, und er beansprucht durch seine Form eine allgemeine Anerkennung, die er durch seine durchgängige Polemik gegen die „spöttischen Skeptiker" gefährdet. -»Ignatius von Antiochien versucht andererseits, das Selbstverständnis der Kirche durch eine Ideologie der Einheit zu definieren (ein Herr - ein Christus - eine Kirche - ein Abendmahl - ein Bischof). Dabei ist ihm bewußt, daß gerade sein Versuch, eine Struktur der Einheit durchzusetzen, Krisen und Spaltungen verursacht (IgnPhld 7,1 f.). Literatur Allgemein u. zu 1.: Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Gesch. u. Theol. einer exegetischen Disziplin, 1993 (BHTh 83). - Josef Blank, Probleme einer „Gesch. des Urchristentums": US 30 (1975) 261-286.-Rudolf Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, 1949 (ErasB); München 51986. - Karl Euling, Art. Ur-: DWb U/3 (1936) 2355-2615. - Dieter Lührmann, Erwägungen zur Gesch. des Urchristentums: EvTh 32 (1972) 4 5 2 - 467. - Henning Paulsen, Zur Wiss. vom Urchristentum u. der alten Kirche - ein methodischer Versuch: ZNW 68 (1977) 2 0 0 - 230. Robert Louis Wilken, The Myth of Christian Beginnings, Garden City, N.Y. 1971 = Notre Dame, Ind. 1980.

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Urgeschichte

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Urgeschichte 1. Uberblick

1.

2. Komposition(en) und theologische Linien

(Quellen/Literatur S.443)

Überblick

Die biblische Urgeschichte (Gen 1 — 11) erzählt von der Entstehung der Welt und von den Grundgegebenheiten menschlicher Existenz. Als paradigmatisch akzentuierte Ätiologie der conditio humana handelt sie einerseits von den Voraussetzungen menschlicher Geschichte, die von Gen 12 an (fokussiert auf Israel) entfaltet wird. Andererseits erweist

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sie sich über die mit dem Urmenschen beginnenden Genealogien in ein lückenloses Zeitkontinuum mit der Geschichte Abrahams eingebunden. In typologischer Perspektive präsentieren die Erzählungen von Gen 1 - 1 1 mithin ein jeder Geschichte vorausliegendes Urgeschehen (dazu bes. Westermann), innerhalb der dominierenden Kompositionsstruktur hingegen erscheint die anschließende Ursprungsgeschichte Israels geradezu als Neueinsatz der mit Gen 1 eröffneten Schöpfungsgeschichte (s.u. 2.3.). Die narrative Architektonik der Urgeschichte wird getragen von den Erzählungsblöcken zu Schöpfung (Gen 1 und 2f.) und Flut (Gen 6 - 9 ) . Der Erschaffung der Welt als „Lebenshaus" (Erich Zenger) für Menschen und Tiere stehen die (beinahe) völlige Auslöschung allen Lebens und der Neubeginn mit den Zusagen einer nachhaltigen Bewahrung der Schöpfung gegenüber. In dieser Perspektive markiert die Flut als Konsequenz der „Verderbnis" der Welt durch Mensch und Tier (6,11-13) zugleich deren ein für allemal „überstandene" Infragestellung. Dieser Grundspannung korrespondiert die Ambivalenz von tiefgreifenden Minderungen der Lebenswelt und hilfreichen kulturellen Errungenschaften, von Gelingen und Scheitern des Menschen, beginnend mit seinem selbstverschuldeten Ausgang aus der fürsorglichen Vormundschaft des Schöpfers in gottgleiche Selbstbestimmtheit (Paradieserzählung) und endend mit dem (gescheiterten) Menschheitsprojekt hybrider Selbstsicherung (Turmbauerzählung). Neben diesen Erzählungen mit dramatischen Brüchen und Veränderungen stellen „aufzählende" Texte die kontinuierliche Entfaltung menschlichen Lebens in Zeit (-> Genealogien) und Raum {-*Völkertafel; Gen 10) dar. Die Makrostruktur des kanonischen Textes ist von der Gliederung in „Toledot"Abschnitte bestimmt, die mit der Formel „die Hervorbringungen (töledöt) von N N " eingeleitet werden: auf den Schöpfungsbericht in Gen 1,1-2,3 folgen die „Toledot von Himmel und Erde bei ihrer Erschaffung" (2,4-4,26), das „Buch der Toledot Adams" (5,1-6,8), die „Toledot Noahs" (6,9-9,29), die „Toledot der Söhne Noahs: Sem, Ham und Japhet" (10,1-11,9) und die „Toledot Sems" (11,10-26); letztere dienen zugleich als Brücke zur Erzelterngeschichte. Gegen die übliche Abgrenzung (Gen 1 - 1 1 ) suchen neuere Arbeiten (Baumgart, Ende; ders., Umkehr; Witte) das Ende der kanonischen Urgeschichte bereits in Gen 9 , 2 9 und sehen Gen 1 0 - 1 1 als Hinführung auf die Erzelterngeschichte. Z u r Begründung wird u.a. auf die relative thematische Geschlossenheit von Gen 1 - 9 einerseits und die Züge einer ethnisch und geographisch differenzierten Welt in Gen lOf. verwiesen. Für die herkömmliche Sicht sprechen jedoch allein schon die Rückbindungen an die Flut in 1 0 , 3 2 und 1 1 , 1 0 und der Umstand, daß es in Völkertafel und T u r m bauerzählung um die Menschheit als ganze geht, in 1 1 , 1 - 9 sogar als einheitlich agierendes Subjekt.

2. Komposition(en)

und theologische

Linien

2.1. Die historisch-kritische Erforschung der Genese der Bibel hat nicht nur mit der Urgeschichte begonnen, sie hat hier auch zu einem substantiellen Grundkonsens geführt, wonach in Gen 1 - 1 1 zwei Textgruppen zu unterscheiden sind, die sich nach ihrem Eigenprofil und aufgrund spezifischer Querbezüge abgrenzen und in ihrem jeweiligen Grundbestand auf verschiedene Textschichten zurückführen lassen. Der einen Textgruppe werden zumeist der Schöpfungsbericht (1,1—2,3.4a), der Stammbaum Adams (5,128.30-32), eine Fluterzählung (in etwa: 6 , 9 - 2 2 ; 7,6.11.13-16a.[17a*?]18-21.24; 8 , 1 2a.3b-5.[7?]13a.l4-19; 9 , 1 - 1 7 ; 9,28f.), eine Völkertafel (10,*l-7.20.22f.31f.) und der Stammbaum Sems (11,10—26) zugerechnet; sie gilt aufgrund ihrer Fortführung, vor allem in Exodus und Leviticus, als „priesterliche" Überlieferung („P"). Die andere, „nichtpriesterliche" Textgruppe (im folgenden: „NP") umfaßt üblicherweise: die Paradieserzählung (2,4b-3,24), Kain und Abel sowie Kainiten- und Sethitenstammbaum (4,1-26; 5,29), die Engelehen (6,1-4), eine Fluterzählung (etwa: 6 , 5 - 8 ; 7,*l-5.[7*?]10.16b. 12.17[a?]b.22f.; 8,2b.3a.6.[7?]8-12.13b.20-22); Noah, der Weinbauer (9,18f. 2 0 - 2 7 ) ; eine Völkertafel (10,8-19.21.24-30); die Turmbauerzählung (11,1-9). Diese lediglich in Details strittige Scheidung (grundlegend: Hupfeld; E. Schräder; Gunkel) bewährt sich

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nicht nur bei aufeinanderfolgenden Textblöcken wie den beiden Schöpfungstexten (Gen 1 par. 2 f . ) , sondern auch bei der Flutgeschichte, in der zwei Erzählversionen kunstvoll ineinander gearbeitet sind (vgl. Emerton). Die überlieferungsgeschichtlichen Konkretionen freilich gleichen einem in den Variationsmöglichkeiten schier unbegrenzten Kaleidoskop. Zunächst schien sich der Rückschluß auf verschiedene „Quellen/Urkunden" geradezu aufzudrängen, ebenso wie die Extrapolation der hier gefundenen Kriterien und Modelle auf den —•Pentateuch. So werden in der klassischen Urkundenhypothese die beiden Hauptschichten mit dem (älteren) „ J " bzw. der (jüngeren) „ P " identifiziert. Darüber hinaus wurden jedoch schon früh innerhalb von NP Inkohärenzen ausgemacht, die zur Annahme mehrerer J-Rezensionen oder -Fäden (Budde; Gunkel; Smend, Erzählung; Eißfeldt u.a.), seltener auch einer „elohistischen" Quelle (Mowinckel; Hölscher) führten; analoge Versuche zu P (von Rad) blieben vereinzelt. Geläufiger sind Hypothesen zu schriftlichen oder (häufiger:) mündlichen Vorlagen der Haupterzähler (bes. bei der Paradieserzählung und Kainitengenealogie bzw. zu Gen 1 und 5) oder späteren Ergänzungen (s.u. 2.4.). M i t der Auflösung des auf die „Neuere Urkundenhypothese" gestützten Rahmenkonsenses (seit den 70er Jahren des 20. Jh.) verbreitert sich das Spektrum der Erklärungsmodelle noch mehr. Bei aller Hypothesenvielfalt halten sich freilich die Grundbeobachtungen und -probleme durch; wesentliche Lösungsalternativen sind zudem bereits in den frühen Analysen des 19. J h . präsent. 2.2. Die NP-Texte der Urgeschichte bilden teilweise keinen geschlossenen narrativen Zusammenhang, so vor allem in der Flutgeschichte und der Völkertafel. Findet dieser Befund herkömmlich seine Erklärung damit, daß der P-Text bei der Zusammenfügung als literarische Grundlage diente (Noth), so wird neuerdings die Möglichkeit vertreten, daß NP von vornherein als Ergänzung zu P gelesen sein wollte, sei es im Bereich der Flutgeschichte (Ska; Gosse) oder der gesamten Urgeschichte (Blenkinsopp; Otto), ohne daß sich freilich der literarische Supplementcharakter - zumindest für Gen 2 f. - hinreichend substantiieren ließe. Demgegenüber sprechen die Kohärenz der Erzähllinie und des Aussageprofils (s.u.) sowie deren Eigenständigkeit gegenüber P für eine zusammenhängende nicht-priesterliche Komposition in der Urgeschichte, deren Abgrenzung freilich in doppelter Hinsicht zur Diskussion steht: (a) „nach i n n e n " im Blick auf mögliche jüngere Ergänzungen, (b) „nach a u ß e n " zur anschließenden Erzelterngeschichte. Zu (a): Seit Hupfeld und E. Schräder ist die Zuordnung von 4,25f. nachhaltig kontrovers: Bilden die Verse (mit 5,29) das Fragment eines nicht-priesterlichen Sethitenstammbaums (so Hupfeld und viele andere), oder wurden sie redaktionell als Prolepse des priesterlichen Stammbaums in Gen 5,1 ff. gebildet? Zwar greifen Schräders literarkritische Argumente für letzteres (122ff.l32; aufgenommen bei Witte 61) nur bedingt, doch bleibt die Annahme einer Prolepse weniger spekulativ und führt auf die Spur einer harmonisierenden Lesehilfe, wonach Gen 4 und 5 unbeschadet mancher Namensgleichheit von verschiedenen Personen handeln, wobei die Sethitenlinie einen durch ihre Gottesnähe ausgezeichneten Neuanfang darstellt. In diesem Sinne wird der Anfang der JHWHVerehrung (gegen 4,3ff.!) mit Enosch ( = „Mensch") verbunden. Die Geburt Noahs und seine Namenserklärung nach 5,29 konnten ursprünglich unmittelbar an 4,24 anschließen (mit E. Schräder), womit auch die in P gegebene Zuordnung Noahs zu Lamech eine Erklärung findet. Die Namenserklärung selbst (ob mit nhm Pi. „trösten" [MT] oder nwh Hif. „Ruhe/Entlastung verschaffen" [vgl. LXX]) zielt weder auf Noahs Opfer und JHWHs Wort in 8,20-22 (zuletzt Baumgart, Brückenvers) noch gar „endredaktionell" auf den Bund in 9,1 ff. (Witte 208ff.220f.), bezieht sich doch der mit Noah verbundene Trost/die Ruhe nicht auf die Verfluchung des Erdbodens, sondern auf die daraus resultierende mühselige Arbeit der Menschen. Hierzu spenden die JHWH-Worte nach der Flut keinen Trost, wohl aber der von Noah erstmals angebaute Wein (9,20ff.). 5,29 gehört mithin als kompositorische Brücke zwischen 3,16 und 9,20ff. integral zur nicht-priesterlichen Urgeschichte (zu Gen 6 , 1 - 4 s.u. 2.4.). Zu (b): Unter der Voraussetzung des klassischen J war die originäre Verbindung der NP-Urgeschichte mit Gen 12ff. nicht nur eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, sondern bildete die Grundlage der theologischen Deutung, wie sie vor allem von G. von -»Rad, H.W. Wolff, O.H. Steck eindrucksvoll erarbeitet worden ist. Danach zeichnet J in Gen * 2 - l l eine dramatische Geschichte des Fluches und der Daseinsminderungen für die von der -»Sünde bestimmte Menschheit

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nach, zielt damit jedoch auf die mit Abraham einsetzende Gegenbewegung einer Segensgeschichte in universalem Horizont. Freilich stehen die exegetischen Grundlagen dieser Sicht in Frage: die Interpretation von 12,3b im Sinne einer Segensmittlerschaft Abrahams/Israels (Blum, Komposition 349ff.) und das Bild einer kumulierenden Unheilsgeschichte in Gen * 2 - l l (s.u.)- Darüber hinaus spricht nun einiges für die diachrone Eigenständigkeit der nicht-priesterlichen Urgeschichte (Crüsemann, Eigenständigkeit; Carr, Reading; [*2,4b-8,22:] Witte; Baumgart). Im Vergleich mit der Erzelterngeschichte differieren zunächst die Weltentwürfe und Problemhorizonte: hier die ätiologische Ausrichtung auf die Welt des Ackerbauern, von der her die unstete Lebensweise des Nomaden als fluchbeladene Existenz in den Blick kommt (4,10ff.), dort die umherziehenden Väterfamilien. Die Verheißungen für letztere wiederum sind nicht als Gegenbewegungen oder gar Aufhebung der nachhaltigen Begrenzungen der conditio bumana in der Urgeschichte profiliert. Umgekehrt bleiben die postulierten kompositionellen Querbezüge von der nicht-priesterlichen Urgeschichte her fragil (zur Diskussion zuletzt Witte 192ff.; diachron ist zumindest 4,26b [s.o.], aber wohl auch das Namensmotiv in l l , 4 a ß [vgl. die Inkohärenz in 11,4!] eher nach-P). Dagegen erweist sich die nicht-priesterliche Urgeschichte selbst als strukturell und thematisch geschlossene Komposition. Der narrativen Verdichtung des vielfältigen M a terials dient eine Fülle von Querverweisen (z. B. 4,1 auf 3,20; 4,7b auf 3,16b; 4,17 auf 4,1; 5,29 auf 3,17; 9,20; 8,21 auf 3,17; 11,2a auf 2 , 8 a . l 0 - 1 4 ; 4,16; 11,6 auf 3,22; 11,6a auf 9,20; 10,8), die zugleich die thematischen Anliegen der Erzählung exponieren. Darin geht es wesentlich um die Ätiologie der elementaren lebensweltlichen Verhältnisse, wie sie der Erzählgemeinschaft vorgegeben sind. Ihr Zentrum liegt in den Existenzbedingungen des (palästinischen) Ackerbauern: Von der '"dämäh (Ackerboden) genommen ist der 'ädäm (Mensch) zum Bebauen der "dämäh bestimmt (2,5b.7), aus der er in mühseliger Arbeit seine Nahrung gewinnt und zu der er im Tod zurückkehrt ( 3 , 1 7 - 1 9 ) . Zu dieser Welt gehören auch die Feindschaft zwischen Mensch und (wildem) Tier (3,15) und für die Frau: das Gebären unter Schmerzen und das Herrschaftsgefälle zwischen M a n n und Frau (3,16). All dies entsprach nicht den ursprünglichen Intentionen des Schöpfers, wie sie im Kontrastidyll des bewässerten Baumgartens mit Tierfrieden, ungetrübter Partnerschaft von M a n n und Frau und — dies erhellt erst im M o m e n t des Verlustes (3,19.22.24) — der Möglichkeit ewiger Jugend zum Ausdruck kommen. Die tiefgreifende Todesprägung der Lebenswelt hingegen ist die Konsequenz aus dem selbst verschuldeten/gewählten Ausgang des Menschen aus der fürsorglichen Bevormundung des Schöpfers in eine eigenverantwortete Lebensgestaltung. Das Vermögen, zwischen „ G u t e m " und „Schlechtem" zu unterscheiden, umfaßt - mit dem Bewußtsein der Sexualität (3,7) und der Auseinandersetzung mit der Sünde (4,7.13) — die Befähigung zu Weltorientierung und -gestaltung; darin wird der Mensch nun „wie ein G o t t " (3,5; 3,22: „wie unsereiner"; vgl. die Sachparallelen II Sam 14,17.20; 19,28; dazu Albertz) - freilich um den Preis der Hinfälligkeit zum Tode. Verbinden sich so Daseinsminderung und Daseinssteigerung, bleiben doch beide wiederum nicht ungebrochen: Dem Tod des einzelnen steht die durch die Sexualität (3,16b) ermöglichte Reproduktion des Lebens (3,16a) in der Familie gegenüber; dementsprechend kann Adam erst hier nach den Strafworten, nun aber verheißungsvoll, seine Frau hawwäh nennen, „denn sie wurde die Mutter alles Lebenden (hay)" (3,20). M i t seiner Autonomie und Erkenntnisfähigkeit wiederum bleibt der Mensch der ständigen Möglichkeit des Scheiterns ausgesetzt. Es ist diese vielfach gebrochene Ambivalenz menschlicher Bedingungen und Weltgestaltung, die in den Urzeitgeschichten vor und nach der Flut durchbuchstabiert wird. Als erstes Paradigma dient Kain, der mit dem Brudermord trotz der fürsorglichen Warnung des Schöpfers nicht das Gute wählt, sondern der Sünde verfällt (4,6ff.). Vom Ackerboden weg wird er verflucht zu der unsteten Existenz des Nichtseßhaften fern von JHWH (4,llf.l4), zugleich aber bewahrt vor wahlloser Gewalt. Mit den Kainiten ist zudem die Entdeckung zivilisatorischer Errungenschaften wie der Stadt (4,17) oder der Fertigkeiten von Kleinviehnomaden, Musikern und Schmieden (4,20- 22) verbunden. Deren kunstfertige Dienste bedeuten für die Menschen eine „Daseinssteigerung" - freilich wieder mit dunkler Kehrseite: nicht umsonst folgt das maßlose Gewalt feiernde „Prahllied" Lamechs auf die Einführung der Schmiedekunst (4,22.23f.). Ähnlich verhält es sich mit dem von Noah begonnenen Weinbau: einerseits Trost von der mühevollen Ackerarbeit

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(5,29) zeitigt der Wein andererseits eine zerstörerische Wirkung (9,20ff.). Hier, im Fluch über Kanaan, erscheint mit der Gliederung in Ethnien zugleich das Thema „Herrschaft/Unterwerfung" (9,25-27*; vgl. auch 10,8-12). Die Problematik, die mit der Daseinssteigerung durch zivilisatorische Weltgestaltung gegeben ist, kulminiert in der Turmbauerzählung (11,1—9): Das Großprojekt von Stadtund Turmbau zielt auf die Absicherung der Einheit der Menschen, deren schöpferisches Potential gerade entdeckt war (11,3!). Dieses Vorhaben einer nachhaltigen Selbstbehauptung wird zugleich ironisiert (vgl. das doppelte „Herabsteigen" Gottes) und ernst genommen im Urteil Gottes von 11,6. Dessen sprachliche Korrespondenz mit der Reflexion des Schöpfergottes in 3 , 2 2 und die jeweils folgende Prophylaxe verdeutlichen, daß es hier um eine Grundfrage der Stellung des Menschen geht: Er, der im „Erkennen von gut und schlecht" „gottgleich" geworden war, bleibt — als Individuum wie als Gattung - von Gott her auf seine Endlichkeit festgelegt. Die in dieser Höhenlinie aufeinander bezogenen Paradies- und Turmbauerzählungen bilden mit den Exempeln des Scheiterns und Gelingens im zwischenmenschlichen Bereich und in der Weltgestaltung sowie mit den Genealogien (Gen 4 par. 9,20ff.; 10*) eine mehrgliedrige Inclusio um die zentrale Fluterzählung (vgl. Steck, Genesis 546f.; außerdem: Jensen; Carr, Reading 235ff.). Die exponierte Stellung der Flut entspricht der äußersten krisenhaften Zuspitzung, begründet im Urteil Gottes, wonach die Menschheit mit ihrem Planen und Wirken sich schließlich ganz dem „Schlechten" ( = Lebensfeindlichen) zugewandt und so den Sinn der Erschaffung des Lebens in Frage gestellt hat (6,5-7). Freilich will gerade auch die Fluterzählung von ihrem Ende her gelesen sein, d.h. im Horizont der überwundenen Krise: Die Auflösung der Ambivalenz menschlichen Scheiterns und Gelingens am richtenden Maßstab Gottes wird letztlich aufgehoben in der gnädigen Ambivalenz des Schöpfers, der nicht nur Noah als „Gerechten" „ersieht" (7,1b), sondern angesichts eines andauernden Scheiterns des autonomen Menschen sich darauf festlegt, hinfort die dämäh nicht weiter zu mindern und nie mehr alles Lebende zu vernichten (8,21). (Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund im polytheistischen Mythos zuletzt Baumgart, Umkehr.) Entgegen einer verbreiteten christlichen Rezeption läßt sich eine negative Anthropologie im Sinne einer wesenhaften Sündhaftigkeit des Menschen weder aus 6 , 5 - 7 ; 8,21 noch gar aus der nicht-priesterlichen Urgeschichte insgesamt ablesen (vgl. die Aussagen in 4 , 7 ; 7,1 oder 9,20—27) (Crüsemann, Autonomie). Wohl aber artikuliert die nicht-priesterliche Urgeschichte eine reflexive skeptisch-realistische Sicht des menschlichen Vermögens der Weltorientierung und Weltgestaltung, wie es die weisheitliche Tradition als (positives) Bildungsziel voraussetzt (zur Referenz auf weisheitliche Kategorien in Gen 2 - 3 vgl. Albertz). Danach liegt die Ambivalenz weder in der menschlichen Natur noch im „weisheitlichen" Erkennen selbst begründet, sondern in dessen „Ätiologie", wie sie Gen 2 - 3 erzählt: Es ist „ e r k a u f t " mit der Störung der ursprünglich kindlichen N ä h e zum Schöpfer und untrennbar verbunden mit der leidvollen Endlichkeit des in die Mündigkeit entlassenen Menschen - auch wenn dieser in der Versuchung steht, gerade die Grenzen seiner Endlichkeit hybrid zu überschreiten (11,1—9). Daß in der nicht-priesterlichen Urgeschichte verschiedenartiges Material verarbeitet wurde, steht außer Frage: Für die Fluterzählung(en) ist die Kenntnis babylonischer Überlieferungen (bes. Gilgamesch; Atramchasis) vorauszusetzen (z. B. Van Seters 165ff.; zum Material Westermann, Genesis 536ff.), darüber hinaus wohl auch für die Grundstruktur von Schöpfung und Flut (Atramchasis, vgl. Carr, Reading 241 ff.). Von daher bleibt auch die These einer älteren Urgeschichte, die ihren Abschluß in Gen 8,22 hatte, bedenkenswert (Zenger u.a.). Eigenständige Vorlagen/Stoffe darf man für die Turmbauerzählung und die nicht-priesterlichen Elemente der Völkertafel annehmen, jedenfalls für die Episode von Noahs Trunkenheit und Kanaans Verfluchung, die noch eine ältere Fassung mit Kanaan und Sem (und Japhet?) als Söhnen Noahs zu erkennen gibt. In Gen 4,17ff. ist mit der urgeschichtlichen Adaption einer Keniterätiologie zu rechnen. Kaum noch zu überblicken sind die Analysen der Paradieserzählung. Nachdem ältere quellenkritische Analysen schon durch traditionsgeschichtliche Erklärungen abgelöst schienen (bes. Steck, Paradieserzählung), kehren neuere Arbeiten wieder zu literargeschichtlichen Hypothesen zurück (-»Schöpfung H.5.2.). Doch bleibt die Wiederherstellung allfälliger Textvorlagen unsicher. Die mit der J-Hypothese verbundene Datierung der nicht-priesterlichen Texte in die frühe Königszeit (10. Jh.) wird in neueren Arbeiten überwiegend aufgegeben (vgl. aber u.a. Crüsemann,

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Eigenständigkeit), zum Teil zugunsten einer Verortung im Kontext der nachexilischen Weisheit (zuletzt Blenkinsopp; Otto; Witte). Jedoch erscheinen die Argumente für eine solche Datierung fraglich, die sprachlichen (Witte 201 ff.; Otto 174) ebenso wie die Bezüge zur späten Weisheit: Die kritische Reflexion der Ambivalenz „weisheitlicher" Wirklichkeitserschließung hat ihre nächsten Parallelen weder in Prov 1 - 9 noch in der Sinnproblematik bei Hiob, Kohelet etc., sondern in der Hofgeschichte Davids. Konkretere zeitgeschichtliche Bezüge mag man sich in der Turmbauerzählung erhoffen (dazu Uehlinger). Da bei dem himmelhohen migdäl zu Babel doch wohl an die babylonische Ziqqurrat Etemenanki zu denken ist, könnte man in Gen 1 1 , 1 - 9 einen Reflex der Baumaßnahmen Nebukadnezars II. vermuten. Würde dies wiederum (frühestens) in exilische Zeit führen (Uehlinger 552ff.), bleibt doch auffällig, daß gerade die spezifischen Problemlagen dieser Zeit (Fremdherrschaft, Fremdgötter) hier nicht zu bemerken sind. Mehr noch, die Zeichnung des Babelprojekts als gemeinschaftliches Menschheitsunternehmen fügt sich besser zu einer Verarbeitung von Nachrichten über die unvollendet gebliebenen Baumaßnahmen Asarhaddons am Etemenanki (Uehlinger 551 f.), zu einer Zeit, als Babel eine Metropole, aber nicht die Fremdmacht repräsentierte. Eine wesentlich frühere Datierung der Urgeschichte wäre bereits im Blick auf die vorauszusetzende Rezeption altorientalischer epischer Texte (s.o.) unwahrscheinlich. 2.3. Die priesterlichen Texte in Gen 1 — 11 sind Teil einer weitgreifenden Pentateuchüberlieferung und können sachgemäß nur innerhalb des Gesamtkontextes von P interpretiert werden. Von einzelnen Abgrenzungsfragen (s.u.) abgesehen wird vor allem das literarhistorische Profil kontrovers diskutiert. Neben der vorherrschenden Auffassung von P als einer eigenständigen Quelle („Priesterschrift"), die von „dritter Hand" redaktionell mit der nicht-priesterlichen Hauptschicht verknüpft wurde, steht die Sicht von P als einer ergänzenden Bearbeitungsschicht (vgl. u.a. Cross; Van Seters; Rendtorff; Anderson; Tengström; als ältere Stimme: Volz/Rudolph). Für die Annahme einer eigenständigen Schrift sprechen gerade in der Urgeschichte die kompositorische Kohärenz der priesterlichen Texte, die weitgehende Geschlossenheit der P-Schicht in der Fluterzählung und ihre Verknüpfung in redaktioneller Technik mit dem parallelen Material, außerdem Details wie die Position der Toledotüberschrift in 6,9 (statt vor 6,5). Obschon P offenbar mit den vor-priesterlichen Texten vertraut ist und diese zum Teil auch sprachlich aufnimmt (McEvenue), kommt die scharfe Profilierung von Positionen hinzu, die mit der nicht-priesterlichen Urgeschichte unvereinbar sind: „P will bewußt eine andere Geschichtstheologie entwerfen" (Zenger, Bogen 33). Die Ergänzungsthese wird eher von Gen 12ff. her begründet, doch wird für Gen 1 - 1 1 u.a. darauf verwiesen, daß im P-Faden der in 6,10f. notierte Einbruch von Gewalt in die Schöpfung, ebenso der in 9,5f. vorausgesetzte Brudermord von P erzählerisch nicht eingeführt werden, wohl aber in Gen 4. Des weiteren fällt auf, daß die Toledotformel in 2,4a entsprechend dem sonstigen Gebrauch in P die NP-Überlieferung von Gen 2 - 4 einleitet (Cross 301ff.). Suchte man derartige Befunde in eine P-Quellenhypothese für Gen 1 - 1 1 zu integrieren, wäre zum einen damit zu rechnen, daß P nicht nur auf das nicht-priesterliche Material Bezug nahm, sondern Entsprechendes auch bei den Rezipienten voraussetzen konnte (Lohfink 197; Baumgart, Umkehr 405), zum anderen mit einer Redaktion, welche die Verflechtung mit der nicht-priesterlichen Urgeschichte im Sinne von P durchführte. Alternativ wäre eine Erklärung aus dem Produktionsprozeß von P selbst (Blum, Studien), d.h. eine in Teilen separate Konzeption und Niederschrift der P-Texte (in Kenntnis nicht-priesterlicher Vorlagen), die jedoch nicht „publiziert", sondern mit den Vorlagen zusammengearbeitet wurden. In jedem Falle ist mit der Möglichkeit dezidiert diskontinuierlicher Fügungen zu rechnen, die in der Perspektive der P-Überlieferung nicht auf harmonisierenden Ausgleich angelegt sind, sondern über die so exponierten P-Texte die Rezeption des Ganzen lenken (zu den Rahmenbedingungen in persischer Zeit s. Blum, Studien 345ff.). In P beginnt mit Gen 1,1—2,3 (—»Schöpfung II.5.1.) eine weitgreifende „Schöpfungsgeschichte", die ihren Fokus in der Schaffung des Gottesvolks und der Einwohnung J H W H s in dessen Heiligtum haben wird. Sie wird konstituiert durch Setzungen Gottes, in denen sich zugleich eine spannungsreiche Dynamik der Beziehung zwischen Gott und Mensch/Schöpfung widerspiegelt. Den entscheidenden Bruch markiert die große Flut, deren Begründung das Urteil des Schöpfers von Gen 1,31a aufnimmt und zugleich hart revidiert (6,12). Es folgt denn auch eine partielle Revokation der Schöpfung mit dem „Ende allen Fleisches ( = Mensch und T i e r ) " (6,13), herbeigeführt in der (kontrollierten) Rückkehr des Chaoswassers (7,11; 8,13 zu 1,2.6ff.). Der anschließende Neubeginn - ermöglicht durch die Bewahrung des „gerechten" N o a h und der Lebewesen in der Arche - knüpft einerseits mit der Wiederholung des Schöpfungssegens (9,1-7 zu

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1,28a) an die gute Schöpfung von Gen 1 an, andererseits beinhaltet er eine tiefgreifende Revision: Das dominium terrae, eine Konkretion des königlichen Schöpfungsstatus des Menschen als Bild Gottes (s. Groß), wird gegenüber der gewaltfreien Regentschaft von Gen 1 in eine auf Furcht und Schrecken gegründete Herrschaft transformiert (9,2) (Ebach u.a.). Dem korrespondiert die Neuregelung der Nahrungszuweisung: Erst nach der Flut wird tierische Nahrung zugestanden und damit ein Verfügen über anderes Leben, wenn auch mit einer doppelten Beschränkung; ausgenommen sind der Verzehr von Blut (als Inbegriff der individuellen Lebenskraft) und die Tötung eines Menschen (9,3—6). Die partielle Aufhebung der guten Schöpfungsordnung durch den Schöpfer ist eine Konsequenz ihrer faktischen Aufhebung mit der Ausbreitung von „Gewalt" unter Mensch und Tier (6,11 f. 13). Zugleich aber ist damit ihre grundsätzliche Infragestellung, wie sie in der Flut „schon einmal" vollzogen war, „aufgehoben" im Erhaltungswillen des Schöpfers und schließlich dauerhaft gebannt in seiner berit („Bund") mit der Menschheit und allem Lebendigen (9,8-17). Das (Bundes-)Zeichen dieser Bewahrung ist der abgelegte (Kriegs-)Bogen Gottes in den Wolken, das Erinnerungszeichen an den nachhaltigen Gewaltverzicht des Schöpfers (9,13—16) (Rüterswörden 131 ff.; anders Zenger, Bogen 124ff.l81). Bei alledem bleibt dieser Neuanfang der Schöpfung gekennzeichnet durch die unüberbrückbare Distanz im Verhältnis von Schöpfer und Mensch angesichts einer mit Gewalt imprägnierten Welt. Ihr Gegenstück bildet die Gottesunmittelbarkeit, wie sie in der guten Schöpfung dem Menschen zugedacht war und paradigmatisch bei Henoch und Noah aufscheint: sie „wandelten mit Gott" (5,22f.; 6,9). In dieser Linie steht denn auch eine Gegenbewegung, die JHWH in eine neue Menschengemeinschaft führt und auf die (partielle) Restitution der guten Schöpfung zielt: Sie beginnt mit der b'rtt Abrahams (Gen 17), dem JHWH „Gott sein" will und der „vor" ihm „wandeln" soll (17,1), und führt zu der utopischen Perspektive JHWHs, der „inmitten" Israels „wandeln" wird (Lev 26,llf.) — verbunden mit einer reichen Realisierung des (Schöpfungs-) Segens (26,4f.9f.) und der Stiftung eines „urzeitlichen" Friedens in Israels Land ohne Gewalt von Mensch und Tier (26,6). Möglich wird diese „neue" Gottesunmittelbarkeit nur im schützenden Raum des Kultes, und dieser setzt die Heiligung/Aussonderung des Gottesvolks voraus. Dazu gehören - innerhalb der durch Gen 1 und 9 markierten Schöpfungsgeschichte - eine drastische Begrenzung der tierischen Nahrung (Lev 11) sowie die Bindung jeder Schlachtung an den Kult (Lev 17). Ist damit das Leben erneut - im Sinne der Schöpfungsordnung von Gen 1 menschlichem Verfügen grundsätzlich entzogen, wird dem Gottesvolk doch zugleich das Blut des Opfertieres zur -»Sühne gegeben (Lev 17,11), d.h. zur andauernden Wiederherstellung der Grenzen zwischen heilig und profan. Zur partiellen Restitution der „guten Schöpfung" in Israel gehört auch die Teilhabe an Schöpfungsstrukturen wie den Zeiten und Festen (Gen 1,14) und insbesondere dem bei der Schöpfung geheiligten siebten Tag als Ruhetag (Gen 2,2f.). Vollziehen sich noch der Ablauf der Flut und die Aktionen Noahs in Ubereinstimmung mit einer impliziten Sabbatstruktur (insbesondere in der Kombination von P und NP, vgl. Lux; zu den bislang nicht völlig geklärten Problemen der Flut-Chronologie s. zuletzt Baumgart, Umkehr 64ff. mit Lit.), so soll danach allein Israel an der Heiligung des Sabbat partizipieren (Ex 16; 2 0 , 8 - 1 1 ; vgl. 31,12ff. P s ). Die schöpfungstheologische Prägung des Sinai-Heiligtums selbst wird durch kompositioneile Bezüge angezeigt (Buber/Rosenzweig 39ff.): besonders die Korrespondenzen zwischen der Vollendung des Zeltheiligtums in Ex 39f. und der Schöpfung in Gen 1 f., aber auch das Echo der Sieben-Tage-Struktur von Gen 1 , 1 - 2 , 3 in Ex 2 4 - 3 1 (u.a. Janowski). Steht hier traditionsgeschichtlich das altorientalische Konzept eines Palast-/Tempelbaus für den Schöpfergott im Anschluß an sein Schöpfungshandeln (z.B. Enuma elisch VI 48ff.) im Hintergrund (Weinfeld), so ist dies in P signifikant umgestaltet: Der Bau des Heiligtums markiert nicht mehr den Abschluß der Schöpfung, sondern eine innerhalb der korrumpierten Welt gestiftete Newschöpfung (Blum, Studien 289ff.).

Die Konstitution Israels als heiliges Volk bildet mithin noch nicht das Ziel der Schöpfung in Gen 1 (anders von Rad), doch ist es erst die darin gestiftete Gemeinschaft Gottes, die den Schöpfungswillen von Gen 1 unter den Bedingungen der vorfindlichen, in Distanz zum Heiligen bestehenden Welt von Gen 9 zu einer Erfüllung bringt.

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2.4. Die Beschreibung der letzten, auf den „Endtext" der Urgeschichte hinführenden Überlieferungsbildungen hängt wesentlich ab vom supponierten Profil der Redaktion(en), sei es als unselbständige Kompilationen bereits „kanonischer" Texte oder als von einem eigenen Aussagewillen geprägte Textbildungen, sei es als harmonisierendeinstimmige oder als bewußt polyphone Fügungen (instruktiv dazu der Forschungsüberblick bei Witte 1 - 4 3 ) . Exegetisch hängt an solchen Profilierungen die Frage, ob/ inwieweit die kanonische Urgeschichte eine spezifische Sinnkohärenz beansprucht jenseits der in ihr integrierten „Überlieferungsstimmen". Ausweislich der P und NP verbindenden Elemente in Gen 2,4a; 5,lb.2; 9,18f.; 10* erfolgte die Zusammenarbeitung in priesterlicher Tradition. Darüber hinaus erscheint für diese Komposition der Hauptsubstanz der Urgeschichte charakteristisch, daß Kontradiktionen wie bei Gen 1 und 2 f., 4* und 5 oder im Blick auf Noahs Opfer in 8,20 ohne Vermittlung bleiben. Eben hier setzt eine spätere auslegend-harmonisierende Redaktion an. Sie eröffnet mit 5,24f. die Möglichkeit einer kohärenten Lesung von Gen 4f. (s.o. 2.2.) und formuliert in 7,(3.7)8f. eine Synthese aus priesterlichen und nicht-priesterlichen Elementen, die Noahs Opfer mit dem Konzept von P zu harmonisieren sucht (L. Schräder). Mit dieser Redaktion möglicherweise verbunden ist die Einschreibung der Episode von den sog. „Engelehen" in 6 , 1 - 4 (einschl. V. 3, s. Gese; anders u.a. Bartelmus; Baumgart, Umkehr 391 ff.; nach-P: Vervenne; Witte 293ff.). Diese führt mit ihrer Betonung der Hinfälligkeit des Menschen (einschließlich der urzeitlichen Riesen!) ein genuines Anliegen der nichtpriesterlichen Komposition weiter, wenn auch in hellenistischem Problemhorizont; möglicherweise auch mit der Eintragung des Namensmotivs in l l , 4 a ß (vgl. 6,4). Diese vorrangige Ausrichtung am nicht-priesterlichen Material verbindet 6 , 1 - 4 mit 4,25 f. und 7,8 f., hinzu kommen gewisse sprachliche Berührungen zwischen 6,1 und 4,26. Auf diesem Faden lassen sich schließlich auch Bearbeitungselemente im Noah-Segen für Sem und Japhet (9,26f.) und 10,21 aufreihen. Davon verweist die Rede vom „Wohnen [Japhets] in den Zelten Sems" in 9,27 am ehesten auf den Alexanderzug und seine Folgen (zuletzt Witte 317ff.), während die b'räkäh für „ J H W H , den Gott Sems" in 9,26 erst im Zusammenspiel mit 10,21 (redaktionell dem „P-Zusammenhang" 10,22ff. vorangestellt) sich als Lobpreis für „ J H W H , den Gott der Hebräer" entschlüsselt. Ob die harmonisierenden bzw. fortschreibenden Elemente nun tatsächlich einer Redaktion oder verschiedenen Händen zuzuschreiben sind — die mit der Fügung der beiden Hauptschichten gegebenen Kontradiktionen und Inkohärenzen werden darin allenfalls punktuell ausgeglichen. „Die" Theologie „der Urgeschichte" kann es insofern nicht geben. Vielmehr hinterlassen die Tradenten von Gen 1 - 1 1 einen Text, der mit seinen Unbestimmtheiten und Diskontinuitäten gleichsam zu kreativen Rezeptionen herausfordert und das Potential einer vielfältigen Auslegungsgeschichte (vgl. bereits die Textgeschichte; dazu Rösel) in sich trägt. Quellen Vgl. die Quellen im Art.

Schöpfer/Schöpfung II.

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-»Gnosis/Gnostizismus

(1534-1583)

2. Schriften

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 448)

Leben

Z a c h a r i a s Ursinus w u r d e a m 18. Juli 1 5 3 4 in Breslau geboren. Sein Vater, C a s p a r Beer (gest. 1 5 5 5 ) , der seinen N a m e n als Ursinus latinisierte, s t a m m t e aus Wiener N e u stadt, w o dessen Vater C o n r a d Beer, ein Bruder des kaiserlichen O r a t o r s C a s p a r Ursinus Velius, gelebt hatte. C a s p a r Beer k a m nach dem Studium in W i e n 1528 als Hauslehrer der Söhne der Ratsfamilie Pucher nach Breslau, übernahm bald als D i a k o n die Verwaltung des 1 5 2 5 im Z u g e der R e f o r m a t i o n gegründeten städtischen Almosenamtes und heiratete 1 5 3 3 die Breslauer Bürgertochter A n n a R o t h e (gest. vor 1553). Ursinus besuchte die Schule an St. Elisabeth in Breslau, w o Ambrosius M o i b a n u s ( 1 4 9 4 - 1 5 5 4 ) , neben J . —»Heß einer der R e f o r m a t o r e n Breslaus, sein Lehrer w a r . A m 3 0 . April 1 5 5 0 i m m a -

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trikulierte sich Ursinus an der Universität -»Wittenberg. Wegen beschränkter Vermögensverhältnisse der Familie war er auf städtische Stipendien und die Unterstützung von Gönnern angewiesen. Am 10. September 1551 wandte sich -»Melanchthon deshalb an den Breslauer Arzt Crato von Crafftheim (1519-1585), der 1534 in Wittenberg Theologie, später in -»Leipzig und Padua Medizin studiert hatte und als Laientheologe eine bedeutende Gestalt des Breslauer Protestantismus war. Mit einem in lateinischen Versen gehaltenen Brief vom 17. Oktober 1551 bedankte sich Ursinus bei Crato für seine Unterstützung und begründete damit einen dauernden Briefwechsel mit dem väterlichen Freund und theologischen Gesprächspartner. In Wittenberg, wo er Hubert Languet (1518-1581) und J. —»Laski kennenlernte, schloß sich Ursinus Melanchthon als Schüler an. 1557 begleitete er ihn nach Worms (—• Wormser Kolloquium) und ging von dort aus, mit einem Empfehlungsschreiben Melanchthons, im Oktober 1557 auf eine Studienreise, die in die Schweiz (Zürich, Basel, Bern, Lausanne, Genf) und nach Frankreich (Lyon, Orléans, Paris) führte und ihn u . a . mit Johannes Frisius (1505—1564/65), H. -•Bullinger, P. M . -» Vermigli, Conrad Gesner (1516—1565), W. -»Musculus und - wahrscheinlich in Zürich (Neuser, Stammbuch) — mit -»Calvin in Verbindung brachte. Im September 1558 wurde er als Lehrer an die Breslauer Elisabethschule berufen. Als er im Breslauer Abendmahlsstreit von 1559 gegen Johannes Praetorius (Scholtz) (15241583) eine von Calvin beeinflußte (vgl. Sturm) Abendmahlslehre vertrat, wurde er aus dem Schuldienst seiner Heimatstadt entlassen und ging im Juni 1560 zunächst nach Wittenberg und dann über den Niederrhein, Frankfurt am Main, Heidelberg und Basel nach Zürich, wo er im Oktober 1560 eintraf. Dort erreichte ihn im Juli 1561 der Ruf nach Heidelberg, hinter dem - man hatte zunächst an eine Berufung Vermiglis gedacht — Languet und Thomas Erast (1523-1583) in Heidelberg und Bullinger in Zürich standen. Am 13. Oktober 1561 immatrikulierte sich Ursinus in Heidelberg. Als Nachfolger K. -»Olevians, der im M ä r z 1561 Professor an der theologischen Fakultät geworden war, übernahm Ursinus dessen Lehrtätigkeit an dem 1555 gegründeten und 1560 von Kurfürst Friedrich III. (reg. 1559-1576) in eine theologische Schule umgewandelten Sapienzkolleg. Am 25. April 1562 in Heidelberg zum Dr. theol. promoviert, wurde Ursinus einen Tag später zum Professor der Theologie ernannt und übernahm neben der Beibehaltung der Lehrtätigkeit im Sapienzkolleg die Loci comtrtuwes-Professur des ins Pfarramt wechselnden Olevian. Die vom Kurfürsten 1566 gewünschte Teilnahme an einem Kolloquium mit lutherischen Theologen in Amberg lehnte Ursinus ab, weil er keinen Erfolg erwartete. 1568 gab er die nun von Hieronymus —»Zanchi gehaltenen Loci-Vorlesungen auf, prägte aber als Leiter des Sapienzkollegs den reformierten Predigernachwuchs der Kurpfalz und anderer Territorien. 1568 verfaßte Ursinus, der eine durch Presbyterien ausgeübte Kirchenzucht befürwortete, eine Denkschrift an den Kurfürsten, in der er nicht nur den kurpfälzischen Kirchenrat, sondern auch die Beteiligung des Kurfürstensohnes Johann Casimir (1543-1592) an dem 1568 begonnenen dritten Bürgerkrieg in Frankreich kritisierte. Ursinus war im Heidelberger Antitrinitarierprozeß seit 1570, der am 23. Dezember 1572 zur Hinrichtung des Ladenburger Superintendenten Johannes Sylvan - wie Erast und Adam Neuser (gest. 1576) Gegner der von Ursinus befürworteten Kirchenzuchtordnung von 1570 - führte, am Gutachten der Heidelberger Theologen beteiligt. 1571 schlug er den Ruf als Professor nach —»Lausanne aus und erhielt 1573 im Sapienzkolleg in Jakob Kimedoncius (um 1550-1596) einen Helfer. Nach dem Tod Friedrichs III. (gest. 26. Oktober 1576) und im Zuge der lutherischen Restauration in der Kurpfalz unter dessen Sohn Ludwig VI. (1539-1583) wurden das Sapienzkolleg aufgelöst und Ursinus am 11. Oktober 1577 entlassen. Der jüngere Sohn Johann Casimir schuf den reformierten Theologen in den für ihn abgeteilten Ämtern Kaiserslautern, Neustadt a.d.H. und Böckelheim eine Zuflucht und gründete am 29. März 1578 in Neustadt a.d.H. als Ersatz für das Heidelberger Sapienzkolleg das Collegium Casimirianum. Hier konnte der bereits von schwerem Leiden gezeichnete Ursinus ab dem 26. M a i 1578 seine Lehrtätigkeit mit einer Jesaja-Vor-

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lesung wieder aufnehmen. Ursinus starb am 6. M ä r z 1583 in Neustadt a.d.H. und wurde in der dortigen Stiftskirche beigesetzt, bevor der Tod Ludwigs VI. (gest. 12. Oktober 1583) den Weg zur Wiederherstellung der reformierten Kirche in Heidelberg freimachte. Ursinus war seit 1574 mit Margareta Trautwein verheiratet und hatte einen Sohn, J o hannes. Dessen Vormund wurde Johann Jungnitz (gest. 1588), der erste Herausgeber der Schriften des Ursinus nach dessen Tod. 2.

Schriften

Die - zu Lebzeiten teils unveröffentlicht gebliebenen — Schriften von Ursinus lassen sich einteilen in die Frühschriften bis 1562, die Schriften im Umkreis des -»Heidelberger Katechismus und die späteren Schriften. Zu den Frühschriften (denen E. Sturm auch die Summa Theologiae von 1562 und den Catechismus Minor vom gleichen Jahr zuordnet) gehören die im Zusammenhang mit dem Breslauer Abendmahlsstreit stehenden Theses ...de sacramentis von 1559. Neben den Briefen lassen vor allem diese Frühschriften den Weg des Ursinus „vom Philippismus zum Calvinismus" erkennen. Wenn es richtig ist, daß Ursinus im Breslauer Abendmahlsstreit - nach vorangegangener Begegnung auf der Studienreise in die Schweiz - Calvin folgte, so ist der Beginn dieses Weges bereits hier feststellbar, auch wenn in den Theses melanchthonische wie calvinische Gedanken begegnen. Das „erste Zeugnis für eine Abwendung Ursinus' von Melanchthons Lehre vom freien Willen" (Sturm 170) sehen manche in dem am 23. Juli 1560 von Wittenberg aus an Abel Birkenhahn geschriebenen Brief, der auch Ursinus' damals bereits erlangte Kenntnis der Kommentare Vermiglis zum Römer(1558) und 1. Korintherbrief (1551) belegt. Hingegen sah D. Visser (1997) in den Breslauer Vorgängen weniger eine Übergangsphase zum Calvinismus als die Betonung von Selbständigkeit in der Form strenger Absonderung von den -»Gnesiolutheranern, wie er auch die Religionspolitik in der Kurpfalz erst nach 1566 von Calvinisten bestimmt glaubte. Bei den Schriften im Umkreis des Heidelberger Katechismus handelt es sich um die in der Forschung als Catechismus Major [= Ma] bezeichnete Summa Theologiae von 1562 und den Catechismus Minor [ = Mi] von 1562 sowie das theologische Hauptwerk des Ursinus, die erst 1598 von David Pareus (1548-1622) herausgegebenen Erläuterungen zum Heidelberger Katechismus, die Explicationes. Die Tradition, wonach Ursinus und Olevian die Verfasser des Heidelberger Katechismus waren, geht auf Heinrich Alting (1583-1644) in Emden zurück und wurde von K. Sudhoff übernommen, während eine Verfasserschaft Olevians seit W. Hollweg an dessen Gegengründen scheitert. Daß Ursinus der Verfasser der Summa Theologiae und des Catechismus minor sei, geht auf den zweiten Herausgeber seiner Werke, Quirinus Reuter (1558 -1613), zurück. A. Lang bezeichnete beide Schriften als von Ursinus verfaßte Vorarbeiten für den Heidelberger Katechismus und den Catechismus Minor (108 Fragen) als Auszug aus der Summa (323 Fragen). Für ihn beschränkte sich der Anteil des Ursinus am Heidelberger Katechismus (129 Fragen) auf diese Vorarbeiten, während er die Endredaktion Olevian zuwies. Dieser sei die in den beiden Vorarbeiten vorgetragene Prädestinationslehre (-»Prädestination) zum Opfer gefallen. J.F.G. Goeters (Entstehung) verwarf mit W. Hollweg die Endredaktion des Heidelberger Katechismus durch Olevian und bezeichnete ihn als Gemeinschaftsarbeit einer Kommission unter Vorsitz des Kurfürsten. Dabei erkannte er den theologischen Hauptanteil Ursinus zu und betrachtete den - 1 5 6 3 in einer von Ursinus besorgten deutschen Übersetzung in Heidelberg erschienenen - Genfer Katechismus (1545) Calvins und dessen Institutio sowie Bullingers und Melanchthons Schriften als Quellen. Goeters (Art. Heidelberger Katechismus) sah in Ursinus den Hauptverfasser des Heidelberger Katechismus, bei Endredaktion durch eine Superintendentenkonferenz, nannte aber nur noch Catechismus Minor als Entwurf für den Heidelberger Katechismus und wies Olevian Frage 80 zu. Gegen Goeters und Sturm bezweifelte W.H. Neuser (Väter) die Verfasserschaft des Ursinus am Catechismus Minor, den er als Kommissionsarbeit verstand; er betonte das Fehlen der Prädestinationslehre im Heidelberger Katechismus im Gegensatz zur Summa und zum Catechismus minor und fragte nach den „geistigen Vätern" des Heidelberger Katechismus, als die er alle Reformatoren bei Dominanz Calvins namhaft machte, ließ die Verfasserfrage aber offen. W. Metz (Necessitas; vgl. -»Heidelberger Katechismus I) nahm Ursinus nicht nur als Urheber von Summa und Catechismus minor in Anspruch, sondern auch als „eigentlichen Verfasser" des Heidelberger Katechismus, worin er von U. Hutter-Wolandt (1991) bestätigt wurde, der darüber hinaus in Ursinus den Vorsitzenden der Katechismuskommission sah und die calvinisch-theologische Prägung des Katechismus hervorhob, obwohl die Prädestinationslehre fehle. D. Visser (1997) sah wie Metz in Ursinus den Verfasser oder mindestens Hauptverfasser des Heidelberger Katechismus, hielt diesen wegen der Betonung der Verheißung statt des Bundes

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und wegen des Verzichts auf die Prädestinationslehre aber für melanchthonisch. Erst in Ursinus' Explicationes finde sich die Prädestinationslehre, wodurch der —>Dordrechter Synode 1618/19 die Rezeption des Katechismus möglich geworden sei. Schwierigkeiten bereitet bei allen Entwürfen, die Ursinus sowohl als Verfasser der Summa und des Catechismus minor als auch des Heidelberger Katechismus in Anspruch nehmen, der Verzicht auf die Prädestinationslehre in letzterem. Z u den späteren Schriften des Ursinus gehören die Loci Theologici, also der Druck der dogmatischen Vorlesungen, die Ursinus von 1562 bis 1568 in Heidelberg hielt, die Neustädter JesajaVorlesung und die gleichzeitig deutsch und lateinisch publizierte Schrift Admonitio Christiana von 1581, mit der Ursinus „die erste offiziell erstellte, obrigkeitlich propagierte und zugleich in den Grenzen des Reichs gedruckte Gegenschrift gegen das Konkordienbuch" (Dingel, Concordia 141) vorlegte. 3.

Wirkung

D i e Beurteilung der W i r k u n g des Ursinus h ä n g t ab v o n der Frage der Verfasserschaft a m Heidelberger Katechismus. N i m m t m a n mit der heute herrschenden M e i n u n g die - g a n z ü b e r w i e g e n d e - Verfasserschaft des Ursinus an, s o ist er der Urheber einer der bedeutendsten Bekenntnisschriften des Christentums, die die deutschen reformierten Kirchen e b e n s o prägte, w i e sie für den w e l t w e i t e n Protestantismus w i c h t i g w u r d e . D i e W i r k u n g umgreift d a n n auch den Synthesecharakter dieses aus d e m „ G e d a n k e n g u t aller R e f o r m a t o r e n " (W.H. N e u s e r ) , voran Calvin und M e l a n c h t h o n , g e s c h ö p f t e n D o k u ments. D a b e i bleibt Ursinus mit seiner T h e o l o g i e , vor allem mit seiner Christologie u n d seiner mit der lutherischen Ubiquitätslehre ( - » U b i q u i t ä t ) unvereinbaren Z w e i n a turenlehre - distinctio, sed non separatio — und mit deren Bedeutung für die A b e n d mahlslehre, reformierter T h e o l o g e . D i e s e Christologie steht hinter der Soteriologie der Fragen H e i d K a t 1 2 - 2 5 , für die M e t z g e g e n Goeters (Christologie) die Grundverschiedenheit v o n —»Anselms v o n Canterbury Cur Deus homo betonte, und findet sich konzentriert im M i t t l e r g e d a n k e n der Fragen 1 2 - 1 7 u n d in der E v a n g e l i u m s b o t s c h a f t der Frage 18 s o w i e in der c h r i s t o l o g i s c h e n C o n c l u s i o der Fragen 4 7 u n d 48. Quellen Briefsammlungen: Zacharias Ursins Briefe an Crato v. Crafftheim, nach den in Breslau befindlichen Urschr. [T. 1: 30 Briefe 1551-1559; T. 2: 35 Briefe 1556-1570], hg. v. W. Becker, mit einem Brief desselben Z. Ursins an Henricus Stephanus, nach einem Codex in Bremen, hg. v. C. Krafft: T A R W P V 8/9 (1889) 7 9 - 1 2 3 ; 12 (1892) 4 1 - 1 0 7 . - Briefe des Heidelberger Theologen Zacharias Ursinus aus Heidelberg u. Neustadt a.d.H. [80 Briefe 1559-1582], hg. v. Hans Rott: N H J 14 (1906) 3 9 - 1 7 2 . - Briefe des Heidelberger Theologen Zacharias Ursinus (1534-1583) [33 Briefe 1561-1578], hg. v. Gustav Adolf Benrath: H d j b 8 (1964) 9 3 - 1 4 1 . - Briefe des Heidelberger Theologen Zacharias Ursinus aus Wittenberg u. Zürich (1560/61) [3 Briefe 1560/61], hg. v. Erdmann Sturm: H d j b 14 (1970) 8 5 - 1 1 9 . - Hermann Finke (Hg.), Zacharias Ursinus an Ludwig Lavater, 21. März 1578, Heidelberg 1935. - Wilhelm H . Neuser, Der Briefwechsel Ursins mit dem Wittenberger Kryptocalvinisten Christoph Pezel im Jahre 1572 [1 Brief Ursins]: BPfKG 37/38 (1970/71) 216-222. - Erdmann K. Sturm, Der junge Zacharias Ursinus, Neukirchen-Vluyn 1972 [Liste der Briefe Ursins v. 1551 bis 1563: 309-313]. - Correspondance de Theodore de Beze, hg. v. Alain Dufour/Beatrice Nicoliier/Reinhard Bodenmann, XVII. 1576, 1994 (THR 286); XVIII. 1577, 1995 ( T H R 292). - Sonstige Quellen: Wilhelm H . Neuser, Das Stammbuch des Zacharias Ursinus (15531563 u.1581): BPfKG 31 (1964) 101-155. - BSRK Nr. 35 (HeidKat). - EKO 14 (1969) (Kurpfalz). - Leichenpredigt: Franz Junius d.Ä., In obitum clarissimi viri D. Zachariae Ursini . . . oratio: Zacharias Ursinus, Miscellanea Catechetica seu collectio eorum, quae catechesis explicationibus prius sparsim intexta, ed. David Pareus, Neustadt a.d.H. 1598, 2 0 1 - 2 2 4 u. EH III 8 3 - 9 2 . - Zeitgenössische Lebensbeschreibung: Melchior Adam, Dignorum laude virorum . . . Vitae germanorum theologorum, Heidelberg 1620, 5 2 9 - 5 4 2 ; Frankfurt a.M. 3 1705. Werkausgaben: Zachariae Ursini Vratislaviensis . . . Volumen Tractationum Theologicarum . . . Ed. Johann Jungnitz, t. I-II, Neustadt a.d.H. 1 5 8 4 - 8 9 [ = EN]. - D. Zacharii U r s i n i . . . Op. TheoIogica . . . tributa in tomos tres. Ed. Quirinus Reuter, Heidelberg 1612 [ = EH], Einzelschriften (Auswahl): Ad clariss[imum] virum . . . Quirinum Schlaher . . . rJSüXfoov, scriptum a Zacharia Ursino ..., Wittenberg 1552 [nicht EN u. EH], - Theses . . . de sacramentis, speciatim de Baptismo et Coena Domini (1559) [ = E N 1,339-382 u. E H 1,766-802], - Loci Theologici [EH 1,426-733] d.i. Summa religionis Christianae [EN 1,1-338]. - Catechismus, Summa Theologiae per quaestiones et responsiones exposita: sive capita religionis Christianae continens (1562) [seit

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August Lang (s.u. Lit.) L X I V „Catechismus M a j o r " gen.] = EN 1,620- 651; EH 1,10-33; August Lang (s.u. Lit.) 1 5 2 - 1 9 9 ] . - Catechismus minor (1562) = EH 1,34-39; August Lang (s.u. Lit.) 2 0 0 - 2 1 8 . - Explicationum catecheticarum D. Zachariae Ursini absolutum opus totiusque theologiae purioris quasi novum corpus. Ed. David Pareus, Neustadt a.d.H. 1598. - Vera doctrina de Sacra Jesu Christi coena. Gründlicher Ber. Vom Heiligen Abendmal unsers Herren Jesu Christi, Heidelberg 1564; Neudr. Neustadt a.d.H. 1590 u. 1603. - Monita D. D. Ursini Friderico III. electori proposita . . . (1568): August Kluckhohn (Hg.), Briefe Friedrichs des Frommen II, Braunschweig 1872, 15*. - De Libero Concordiae, quem vocant, a quibusdam theologis, nomine quorundam Ordinum Augustanae Confessionis, edito, Admonitio Christiana . . . , Neustadt a.d.H. 1581; Neudr. Hannover 1598 = EH 11,481-694. - Christi. Erinnerung Vom Concordienbuch So newlich durch etliche Theologen gesteh . . . [d.i. dt. 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II. Bildband, Heidelberg 1986,1144.148.(D 1.8).153.161.170. (D 4.3).182.520.(T 4.3).521.(T 4.9); II 128.(D 1.8). - Ernst Bizer, Frühorthodoxie u. Rationalismus, 1963 (ThSt[B] 71) 1 6 - 3 2 . - Klaus Bümlein, Philipp Melanchthon u. seine Freunde in der Rheinpfalz: BPfKG 64 (1997) 2 1 - 4 0 , hier 31. - Christopher J . Burchill, On the Consolidation of a Christian Scholar. Zacharias Ursinus ( 1 5 3 4 - 8 3 ) and the Reformation in Heidelberg: J E H 37 (1986) 5 6 5 - 5 8 3 . - Karl Burkardt, Zacharias Ursinus in seinem Abhängigkeitsverhältnis v. Melanchthon: N K Z 37 (1926) 6 6 9 - 7 0 0 . - Irene Dingel, Ablehnung u. Aneignung. Die Bewertung der Autorität Martin Luthers in den Auseinandersetzungen um die Konkordienformel: ZKG 105 (1994) 3 5 - 5 7 , hier 45 - 5 0 . - Dies., Concordia controversa. Die öffentlichen Diskussionen um das luth. Konkordienwerk am Ende des 16. Jh., 1996 (QFRG 63) 1 3 2 - 1 5 5 . 6 0 7 - 6 8 5 . - Johann Friedrich Albert Gillet, Crato v. 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Ursprungsmythen

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Harm Klueting

Ursprungsmythen 1. Urzeit - Mythos - Geschichte 2. Theogonie - Kosmogonie - Anthropogonie 3. Chaos und Kosmos 4. Mythenmaterial 5. Ursprungsmythen im Islam? 6. Phänomenologie der Urgeschichte (Quellen/Literatur S. 456)

1. Urzeit - Mythos -

Geschichte

Ursprungsmythen (—»Mythos) wollen Herkunft und Entstehung (Genese) von indigenen und religiösen Gemeinschaften erklären. Damit begründen sie die (mythische) Urgeschichte von Ethnien und Religionen und leiten gleichzeitig den Prozeß der Vergeschichtlichung ein. Sowohl Heilsgeschichte wie Unheilsgeschichte sind in den Ursprungsmythen virtuell gegenwärtig, indem sie die religiöse Praxis ritualisieren (-»Ritus), kultische Vorgänge periodisch wiederholen (Ursprungsmythen auf dem Hintergrund von „Kreislaufvorstellungen" mit periodisch wiederkehrendem Neuanfang; vgl. Zinser 446) und damit die Grundlage für die Entstehung von Theologien bilden. Was die Begriffe „Theogonie" und „Kosmogonie" betrifft, so kann hier Hesiod als Musterbeispiel für die Entstehung von Ursprungsmythen gelten (ca. 700 v. Chr.). Dadurch, daß er das überlieferte mythische Material sammelt, ordnet, benennt und die Götter in ihren Geschichten fixiert, wird Hesiod häufig zu deren Urheber oder Erzeuger. Nicht die Theogonie als solche scheint ihn dabei zu interessieren, sondern deren Resultat (Ebach 173f.). Andererseits gilt sein Interesse nicht nur den personalen Gottheiten des griechischen Pantheon, sondern auch den a-personalen numinosen Mächten und all dem, was existiert. Für ihn ist „die Theogonie eine Kosmogonie" (ebd. 175) bzw. von dieser nicht zu unterscheiden. Indem er die „Schöpfungsvorgänge" beim Namen nennt, wird der Mythos durch das Wort legitimiert, ein Vorgang, der in der Religionsgeschichte häufig anzutreffen ist. In der Regel gliedern sich die Ursprungsmythen nach dem Schema Chaos — Theogonie - Anthropogonie ( - Gericht - Eschatologie). Dabei lassen sich zwar einzelne Phänomene universalisieren, doch erweisen sich diese in jedem religionsgeschichtlichen Kontext als unterschiedlich und sind daher als „Archetypen" nur bedingt anwendbar. Einen guten Zugang zu den Phänomenen der Urgeschichte bieten etwa die Religionen der australischen indigenen Völker (Aborigines), die der Traumzeit in ihrem Symbolkosmos besondere Bedeutung beimessen. Die „Traumzeit" ist kein Goldenes Zeitalter, sondern, wie Stanner (514) sagt, „many things in one", d.h. sie umfaßt sowohl die Genese der Götter wie auch der Welt und der Menschen, ist aber an bestimmte geographische bzw. lokale Voraussetzungen (z. B. Ayers Rock, numinos besetzte Wasserstellen usw.) gebunden. Bezeichnenderweise definiert A. P. Elkin Traumzeit als „the ancient time of the heroes . . . , the eternal dream-time of spiritual reality to which historical

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significance is attached" (Elkin 11). Der Traum bedarf der materiellen Vergegenständlichung, deshalb führen sog. „Traumpfade" aus der „Traumzeit" in die (geschichtliche) Gegenwart bzw. von der (geschichtlichen) Gegenwart zurück in die Traumzeit: „Indem die Aborigines den Gesängen . . . lauschen, hören sie die Stimmen der allumfassenden Traumzeit" (Lawlor 51). Dem gleichen Zweck dient das ikonographische Material (Naturfasern, Ockerfarben), der ikonographische Kontext, (neolytische [?]) Felsmalereien, (vergängliche) Kunstwerke im Sand (Labyrinthe), die den Weg zu Wasserlöchern weisen, Tätowierungen: die Gottheit, der Ahnengeist, der Held, lassen ihr Bildnis zurück, das seinerseits teilhat am spirituellen Original (Berndt 9f.). In diesem Sinne ist auch der Geburtstotemismus als Repristination urgeschichtlicher Phänomene zu begreifen: Mit jeder menschlichen Geburt wiederholt sich gleichsam der Schöpfungsvorgang von neuem: der Ritus Geburt revitalisiert den Mythos Schöpfung. 2. Theogonie

— Kosmogonie



Anthropogonie

Sowohl in der oralen als auch in der schriftlich fixierten Mythentradierung kommt es auf rituelle Genauigkeit bei der Weitergabe an. 2.1.

Mesopotamien

Das akkadische Enuma elis (12./11. Jh. v. Chr.; -»Schöpfer/Schöpfung II.2.2.2.) wurde ab 700 v. Chr. regelmäßig am 4. Tage des Neujahrsfestes im Marduktempel von Babylon rezitiert (Beyerlin 107; vgl. Schöpfungsmythen 32f.): „Als droben der Himmel (noch) nicht genannt, / Drunten der Grund (noch) nicht benamt war, / Als . . . von den Göttern keiner erstanden, / Sie (noch) unbenannt und die Geschicke (noch) nicht bestimmt waren, / Da wurden . . . die Götter erschaffen . . . " (Introitus, Tafel I: Beyerlin 108; vgl. die Welt vor der Schöpfung in der ägyptischen Mythologie: Beyerlin 34).

Dann folgt der „Drachenkampf", in dessen Verlauf Gott Marduk die Tiamat tötet und den Himmel als Wohnsitz der Götter erschafft (Tafel V: Beyerlin 109). Schließlich (Tafel VI: ebd. 110) werden die Menschen ins Leben gerufen und zu Dienern der Götter bestimmt. Kosmogenese und Anthropogenese verwirklichen sich im Lande Tilmun in einer paradiesischen Ideallandschaft: unter Menschen und Tieren herrscht Gottesfriede; Krankheit und Leid sind unbekannt. „Dieser Platz ist rein, / In Tilmun krächzt der Rabe nicht, / Der Löwe tötet nicht, / Der Wolf raubt nicht das L a m m . . . Wes' Auge schmerzt, sagt nicht: ,Mein Auge ist krank', / Wes' Kopf schmerzt, sagt nicht: ,Mein Haupt ist krank'. / Seine Greisinnen sagen nicht: ,Ich bin eine alte Frau', / Seine Greise sagen nicht: ,Ich bin ein alter M a n n ' " (Beyerlin 111; vgl. Jes 1 1 , 6 - 9 ; 35,10; 51,11).

Die Götter beschließen — aus welchen Gründen auch immer - die Wiederauslöschung des Menschengeschlechts durch eine große Flut: „Für sieben Tage und sieben Nächte kam die Flut, der S t u r m . . . " (Beyerlin 118). Es folgt das Gilgamesch-Epos auf Tafel XI: „Utnapischtim sprach zu ihm, zu Gilgamesch: / „Ein Verborgenes, Gilgamesch, will ich dir eröffnen, / und der Götter Geheimnis will ich dir sagen . . . I Eine Sintflut zu machen, entbrannte das Herz den großen Göttern . . . I Mann von Schurippak, . . . Reiße das Haus ab, erbaue ein Schiff, / Laß fahren Reichtum, dem Leben jag' nach! / Besitz gib auf, der Seele erhalt das Leben! / Heb hinein allerlei beseelten Samen ins Schiff! . . . I Wie nun der siebente Tag herbeikam, / schlug nieder der Südsturm die Sintflut, den Kampf, . . . I Ruhig und Still ward das Meer. / Zum Berg Nißir trieb heran das Schiff" (Schott/von Soden 86-92).

Die alte Ordnung wird vernichtet, eine neue eingeleitet. Im alten Ägypten ist es naturgemäß nicht die Flut, sondern die Wüstenglut, die den Untergang bringt. Die Nilflut bringt Fruchtbarkeit und Segen. Sie ist mit der Sintflut nicht zu vergleichen.

452 3. Chaos und

Ursprungsmythen Kosmos

Ursprungsmythen beginnen mit dem Chaos, dem häufig (aber nicht immer) eine creatio ex nihilo und die Theogonie folgen; doch bleibt fraglich, ob es wirklich ein „Nichts" ist, dem die Götter das Material zum Bau der Erde entnehmen. So heißt es zwar Rig Veda 10,129,1-5 (Rig Veda: ed. Geldner III, 359f.): „Weder Nichtsein noch Sein war damals; nicht war der Luftraum noch der Himmel darüber. Was strich hin und her? Wo? In wessen Obhut? Was war das unergründlich tiefe Wasser? Weder Tod noch Unsterblichkeit war damals; nicht gab es ein Anzeichen von Tag und Nacht. Es atmete nach seinem Eigengesetz, dieses Eine. Irgendein anderes als dieses war . . . nicht vorhanden [vgl. Gonda 181]. Im Anfang war Finsternis in Finsternis versteckt; all dieses war unkenntliche (apraketäm) Flut. Das Lebenskräftige, das von der Leere eingeschlossen war, das Eine wurde durch die Macht seines heißen Dranges geboren" (Das Wasser ist Paradigma für Zeugung, hier „das Fruchtwasser, in dem der Weltkeim schwamm, von dem Leeren als den Eihüllen umschlossen" [ed. Geldner III, 360 Anm. 3b]).

Aber es sind Zweifel angebracht; denn der Sänger fährt fort (Rig Veda 10,129,6f.: ed. Geldner III, 360): „Wer weiß es gewiß, . . . woher diese Schöpfung kam? Die Götter [kamen] erst nachher durch die Schöpfung dieser [Welt], Wer weiß es dann, woraus sie sich entwickelt h a t ? . . . ob er sie gemacht hat oder nicht - der der Aufseher dieser [Welt] im höchsten Himmel ist, der allein weiß es, - es sei denn, daß auch er es nicht weiß". Ähnlich äußert sich das Gesetzbuch des Manu (2. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr.): „Dieses [Universum] war ganz Finsternis, unkenntlich, ohne Unterscheidungsmerkmale, dem Denken unerreichbar, unerfaßlich, ganz in tiefen Schlaf versunken. Dann trat der göttliche Selbstgeborene . . . hervor; . . . er vertrieb die Finsternis" (SBE XXV, 1,5f.). Der im Rig Veda angedeutete negative Monismus wird in den Upanishaden ontologisch und damit im Sinne der advaita-Lehre verstanden: „Seiend war dieses am Anfang, eines nur ohne ein Zweites" (Chändogya-Upanishad 6,2,1 [Deußen 160]). Dennoch gibt es keine einheitliche Überlieferung innerhalb der vedischen Religion (-»•Veda und Upanishaden). Es sind vielmehr unterschiedliche Vorstellungen, die einen „Urstoff" (Rig Veda 10,81 f.), die „Urwasser" (10,82,5f.), ja, sogar einen „Urgott" (Prajäpati) und vor allem ein „Urelternpaar" (4,56,3) annehmen, das die Zeugung der Schöpfung übernimmt (Satapathabrähmana 10,5,3,lff.; vgl. Gonda 180). Prajäpati ist Herr der Geschöpfe, die er durch die Macht seines Wortes ins Leben ruft (Satapatha-brähmana 2,2,4,4). „Er sprach bhüh [Erde]; dies wurde die Erde" (ebd. 11,1,6,3; Gonda 182), während er Menschen, Tiere und die Natur durch Opferhandlungen ins Leben ruft. Dabei bedient er sich seiner asketischen Fähigkeiten (tapas) und läßt die Schöpfung durch Emanation entstehen: Lebewesen, Berge, die Natur, Meere und der individuelle Geist gelten als Ausfluß des vedischen Urgottes Prajäpati. Das Chaos-Motiv ist auch den mesoamerikanischen Völkern vertraut. In dem eindrucksvollen Schöpfungsbericht des Popol Vuh (Schultze-Jena 4ff.), der heiligen Schrift der Quiche-Maya, heißt es: „Alles schwebte in Schweigen, alles war in tiefer Ruhe, bewegungslos und still und leer war der Himmel . . . Es gab noch keinen Menschen, kein Tier . . . Einzig und allein der Himmel war da"(!). Auf dem Hintergrund dieses Kontexts entstehen die Götter und handeln sogleich. Schließlich beginnen auch die Metamorphosen Ovids (43 v . C h r . - 1 8 n.Chr.) den Weltschöpfungsmythos mit einem Chaosbericht: „Ehe das Meer und die Erde bestand und der Himmel, der alles deckt, da besaß die Natur im All nur ein einziges Antlitz, Chaos . . . genannt, eine rohe und ungegliederte Masse . . . " (met. 1,5ff.). Die Schöpfergottheit ist eine Setzung, taucht in dem Bericht unvermittelt auf und trennt in einem ersten Schöpfungsvorgang Himmel und Erde. Anders die kosmogonische Spekulation im alten -»Ägypten. Sie nimmt zwar auch ein chaotisches Urgewässer an, aber das verkörpert bereits eine Gottheit, nämlich Nun, den Vater der Götter, der das Material liefert, aus welchem Gott Ptah als Demiurg die Welt und den Menschen schaffen wird. Nun ist der große Ozean, der die Erde umgibt

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(„Was dein Mund erzeugte, was deine Hände schufen, du hast es herausgenommen aus dem Nun", Morenz 181). Das Wasser war früher da als der Schöpfer aller Dinge; Nun ist Urheber der Schöpfung (Schöpfungsmythen 43), autogener Demiurg, aus sich selbst hervorgegangen. Von einer creatio ex nihilo ist nicht die Rede, im Gegenteil: „Der Schöpfer [Ptah] reißt die Potenzen des Urstoffes an sich und verleibt sie seinem Wesen ein" (Morenz 182). Dann erfolgt die Trennung von Himmel und Erde, und die Differenzierung beginnt. Der Urgott heißt darum auch „der Eine, der sich zu Millionen macht" (Der Amunhymnus von Hibis: Scharff 89). Die Erscheinungsformen des Chaos sind Substanz und Potenz; als solche bringen sie die Chaosmasse in Bewegung. In ihr erschafft Gott den „Urhügel", das erste Stück Land, das Niltal, das zur Grundlage der Schöpfung wird, ein Vorgang, der sich bei jeder Nilüberschwemmung bzw. dem ablaufenden Wasser wiederholt (Schöpfungsmythen 42). Eine creatio ex nihilo kennt die ägyptische Religionsgeschichte nicht, und das „Chaos" ist nicht das Nichts, sondern Ressource für das Dasein des Lebens. (Auch nach der ugaritischen Theologie [3. bis 2. Jahrtausend v. Chr.] geschieht Schöpfung durch Emanation und geht aus einem „uranfänglichen Grundstoff, einer numinosen Urwirklichkeit", hervor. Gott El ist „Vater der Menschen"; ab adm, „Schöpfer der erschaffenen Dinge", vgl. Georg Sauer: Haider/Hutter/Kreuzer 82.) Man hat in der ägyptischen Theologie drei kosmogonische Systeme zu unterscheiden: Schöpfergott in der heliopolitanischen Theologie ist der Urgott Atum (Re-Atum-Chepri, Sonnengott; Roeder, Urkunden 7,10), der die Schöpfung durch ein- und vorgeschlechtliche Zeugung (Selbstbefriedigung und darauffolgendes Aushusten und Ausspeien; Ausformung der Lehre in der 5. Dynastie) einleitet. In der memphitischen Theologie (Altes Reich) ist Ptah der Urgott, von dem es heißt, er habe „das, was ist, gemacht (»>;') und das, was existiert, geschaffen (km')" (vgl. Sandman-Holmberg 34). Er wird gepriesen als der, „der alle Götter, Menschen und Tiere gebildet hat (nbj), der alle Länder und Ufer und den Ozean erschaffen hat in seinem Namen, ,Bildner der Erde'" (hmww t'; Pap. Berlin 3048, VIII,2: ZÄS 64 [1928] 3 0 - 3 2 ) . Ptah ist nicht nur Erzeuger auf Grund seiner sexuellen Kraft, er ist vor allem Schöpfer durch das Wort; denn „sein Mund nannte den Namen aller Dinge" (Morenz 172). Ihm obliegt die Erschaffung von Göttern und Menschen. Die Schöpferworte des Gottes sind „vom Herzen gedacht (k'j) und von der Zunge befohlen (wd)". Erst mit der Benennung der Wesen und Dinge treten diese ins Dasein. In der hermopolitanisch-thebanischen Theologie (Texte aus der Spätzeit) ist die Rede von einer uranfänglichen Götter-Achtheit (Emanationen Atums), die am Anfang stand und den Gott Amun als Urgott aus einem Ei hervorgehen ließ. In der Ibis-Hymne auf Amun heißt es: „Du bist der Himmel, du bist die Erde, du bist die Unterwelt, du bist das Wasser, du bist die Luft, die zwischen ihnen ist" (vgl. Schöpfungsmythen 54 u. 232 Anm. 29). Morenz und Eliade machen ausdrücklich auf die Periodizität der ägyptischen Schöpfungsmythen aufmerksam: Die Schöpfung geschah beim „ersten Male (sp tpj)", in der Urzeit also, d.h. sie vollzieht sich seitdem immer wieder neu: Jeden Morgen stellt der Pharao als Stellvertreter des Demiurgen „die bei der Urschöpfung festgelegte Harmonie der Welt" von neuem her (Schöpfungsmythen 99). Es treten immer wieder neue Aspekte zum Schöpfungsvorgang hinzu; dieser hört nie auf. In der Urzeit wurde nur der Anfang gesetzt. Bezeichnend dafür ist ein Hymnus auf Ptah, der diese Universalität des Gottes preist: „Gegrüßet seist du, du Großer und Alter . . . , Vater der Götter, großer Gott des ersten Males, der die Menschen bildete und die Götter machte, der das Werden begann in der Urzeit: Erster, nach dem alles, was gekommen ist, entstand, der den Himmel machte durch das, was sein Herz schuf, . . . der die Erde gründete durch das, was er selbst gemacht hat, der sie umgeben hat mit dem Nun [und] dem Meere, der die Unterwelt gemacht hat, . . . der die Kehle atmen läßt . . . , der jedermann durch seine Speisen am Leben erhält, dem Lebenszeit, [d.h.] Zeitgrenze und Entwicklung unterstellt sind . . . , Herr der Ewigkeit, dem die Unendlichkeit unterstellt ist . . . , der den König geleitet zu seiner großen Stätte in seinem Namen .König der beiden L ä n d e r ' " (Pap. Harris 1,44,3ff.; Übersetzung bei Roeder, Religion 50).

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Bezeichnend für die kosmologische Spekulation in der iranischen Religionsgeschichte ist die offenbare Notwendigkeit eines Schöpfungsdualismus: Die Gottheit spaltet sich in zwei uranfängliche Geister auf, von denen der eine die kosmische Ordnung, der andere das böse Tun repräsentiert (Yasna 30; vgl. Widengren 8). Auf Grund dieser gegensätzlichen Aspekte setzt der Gott die Dinge in Bewegung und wird dadurch zum treibenden Prinzip im Weltall. Am altiranischen Windgott Vayu läßt sich der mythische Dualismus ebenso ablesen wie am Yin- und Yang-Symbolismus, dem wir im chinesischen Universismus begegnen. 4. 4.1.

Mythenmaterial Symbolkosmos

Theogonie und Anthropogonie benötigen einen umfangreichen Symbolkosmos, dem die Frommen ihre religiöse Praxis verdanken. Dazu gehört z. B. die Vorstellung vom Weltenei, dem Medium „zwischen Urstoff und Schöpfung" (Morenz 188), aus dem sowohl die Schöpfergottheiten wie die Welt hervorgegangen sein sollen. „Das Göttliche wohnte in diesem Ei ein Jahr lang; dann spaltete es sich durch seine Denkkraft in zwei Hälften, und aus diesen beiden Hälften bildete es Himmel und Erde...", heißt es in der Gesetzgebung des Manu (I,12f.). Chandogya-Upanishad 3,19,1 f. beschreibt die beiden Eihälften und interpretiert ihre Symbolik: „Die äußere Eihaut (jaräyu) sind diese Berge, die innere (ulvam) Wolken und Nebel, die Gefäßadern sind die Flüsse, das Fruchtwasser ist der Ozean". Das Ei symbolisiert Leben, Schöpfung, Fruchtbarkeit und Auferstehung (vgl. Newall 37). Auch die Theogonie der ägyptischen Götter geschieht im Zusammenhang mit dem Weltenei (Geburt des Horusfalken), desgleichen die Anthropogonie im alten Korea (vgl. Vos 43; vgl. auch die Herkunft des chinesischen Adam P'an Ku [Newall 36], des Ngendei der Fijianer und zahlreiche [vorchristliche Osterbräuche [vgl. Eckstein], bei denen das Ei als lnstrumentum Dei gefeiert wird, bis zur Entwicklung einer Embryologie auf religiöser Grundlage [Bäumer 35-54]). Eine ähnliche Symbolik und Funktion kommt in -»Polynesien naturgemäß der Muschel zu. Aber auch Tiere helfen bei der Schöpfung (so bei den Boschongo-Bantu [Eliade 88 f.] und den indianischen Yokuts in Kalifornien [der Adler als Weltschöpfer]). Tiere und Menschen teilen miteinander nicht nur die gleiche Genese, sondern auch das gleiche Schicksal. In geringerem Maße werden sogar Pflanzen wie die Lotusblume als Keimzellen organischen Lebens (Wurzeln in der „Ursubstanz"; vgl. Eliade 7 4 - 82) genannt. 4.2. Dreistöckige

Welt

Der Kosmos kann mehrstöckig sein und findet seine symbolische Entsprechung im Haus. Die Batakvölker auf Sumatra sehen z. B. im rumah adät, dem Sippenhaus, dessen Original im „Urdorf" steht, Urgeschichte und Heilsgeschichte mitsamt der Genealogie abgebildet. Die dort vollzogenen Eheschließungen wiederholen den göttlichen Schöpfungsakt der Urzeit: In der Oberwelt (oberes Stockwerk) residiert der allmächtige Schöpfergott Mmla Djadi na Bolon, in der Mittelwelt (mittleres Stockwerk) leben die Menschen, in der Unterwelt (unteres Stockwerk) haust der gefesselte Schlangendrache Näga Padöha. In der ersten Schöpfungsphase erschafft Müla Djadi unter Mithilfe von drei Vögeln die Götterwelt, in der zweiten Phase beauftragt er die Göttin Sideak Parudjar, die Menschenwelt aus dem Urmeer hervorzubringen (Stöhr/Zoetmulder 50; vgl. das Weltbild der Kafiren, das aus den Stockwerken urdesh [obere Welt], michdesh [mittlere Welt] und yurdesh [untere Welt] besteht). 4.3. Der Urmensch Die indo-iranischen Religionen entwickelten die Idee des Urmenschen und Urkönigs Yima (identisch mit dem indischen Yama, beides „Zwilling"), eine Urgestalt, die auf vor-zarathustrische Zeit zurückgeht [Widengren 52f.]). Yima gilt als Friedenskönig oder

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Sonnenkönig; er ist heilig, „der Glanzreichste unter den Geborenen, der Sonnenäugige unter den Menschen" (Yasna 9,4; Widengren 55). Mit seinem Tode ist das Goldene Zeitalter zu Ende, und die Menschen leiden. Yima ist Königsideal des altiranischen Herrschers. Zarathustra selbst, der erste Priester, Krieger und Hirt der Menschheit, wird nach Yast 13,93f. zum Urmenschen, persisch Gayö martä (Gayomart); Nyberg (Questions [JA 214] 302) spricht von der Erhöhung des Religionsstifters „zum göttlichen Urmenschen und Urkönig", der als Offenbarer, Lehrer und Erlöser zur „Urmenschgestalt des Zoroastrismus" schlechthin wurde. Im manichäischen Mythos und „gnostischen Dogma" (Widengren 303) bleibt der Urmensch Erlöser, bedarf aber selber der Erlösung („der erlöste Erlöser"; ebd.). In Rig Veda 10,90 (ed. Geldner III, 286-289) begegnet uns die vedische Version des Urmenschen im Mythos von Purusa, aus dem die Welt hervorgegangen ist. Die Kosmogenese geschieht durch sein Opfer: Aus seinen zerstückelten Gliedmaßen entstehen alle Elemente und Wesen. Der Hymnus beginnt mit den Worten „Tausendköpfig, tausendäugig, tausendfüßig ist Purusa; er bedeckte vollständig die Erde ... Purusa allein ist diese ganze Welt, die vergangene und die zukünftige; und er ist der Herr über die Unsterblichkeit... Er ist zugleich Gott und Mensch, Herr über Götter und Menschen" (Rig Veda: ed. Geldner III, 286f.; und Anm. zu 2cd). Die Kosmogonie des Rig Veda wird in der Philosophie der Upanishaden zur Anthropogonie: „Am Anfang war diese Welt allein der Ätman [das Selbst], in Gestalt eines Menschen. Der blickte um sich: Da sah er nichts anderes als sich selbst. Da rief er zu Anfang aus: ,Das bin ich' [aham asrni-, Harzer 196: „ . . . he (Purusa) became aware of himself and exclaimed: I am!"]. Daraus entstand der Name Ich . . . ; er heißt pur-ush-a", der Mensch, der Mann, die Person (Brhadaranyaka Upanishad 1,4,1; Deußen 392f.; vgl. Aitareya-Upanishad 1,1-4; Deußen 15f.). Erkenntnistheoretische Überlegungen, die im Purusa eine erste Ich-Identität entdecken wollen, sind jedoch verfrüht. Der Purusa wird, nachdem er aus sich selbst eine Frau erschaffen hat, zum Erzeuger des Menschengeschlechts. Der Urmensch besitzt offenbar die Macht, zum Zwecke der Schöpfung den Atman, das monistische All-Einheitsprinzip, zu spalten und eine „Einheit in Vielfalt" zu differenzieren. Atman und Purusa werden damit die „original entities" (Harzer 106) am Anfang von Kosmogonie und Anthropogonie. 4.4. Der Wehenbaum

als axis

mundi

Typisches Merkmal der urgeschichtlichen Mythologie ist das axis-mundi-Motiv. Es ist ubiquitär und symbolisiert die ursprüngliche Einheit von Göttern und Menschen: Der Schöpfergott der Batakvölker pflanzt vor der Erschaffung der Erde einen Weltenbaum, der Oberwelt und Mittelwelt (vielleicht auch die Unterwelt?) miteinander verbindet und nach Tobing (57.60 f.) die Totalität des Kosmos darstellt. Im Zentrum eines jeden Batakdorfes steht ein solcher Weltenbaum in Gestalt eines Waritigin aus der Spezies des ficus religiosa, dessen Blätter die Schicksale der Lebenden und Toten versinnbildlichen. Die Geschichte der Khasi von Meghalaya beginnt mit der Welteiche Diengiei, die in der Urzeit Götter und Menschen verband, bis sie von den Menschen in ihrem Drang nach Freiheit und Aufklärung gefällt wurde. Die Kafiren im Hindukusch kennen einen Urbaum, der Himmel und Erde zusammenhält und einst den Göttern als Leiter in die Menschenwelt diente. Die alten Koreaner verehrten den Paktal-Baum, eine heilige Birke, unter der die Helden der Vorzeit Erleuchtung erlangten (Vos 25), ein schamanistisches Motiv, zugleich aber auch ein Mythologem, das unter dem Einfluß des Bodhi rukkha, des Baumes der Erleuchtung im Buddhismus, entstanden sein könnte; schließlich die Himmel und Erde vereinende Weltesche Yggdrasil, die den Germanen als eschatologisches Medium für Heil und Unheil diente. In der Götterdämmerung „erbebt Yggdrasil, der uralte Baum, es ächzt sein Stamm, und der Riese reißt sich los" (Völuspä 47; vgl. Ström 117f.244f.). Unter ihren drei Wurzeln wohnen Hei, die Reifriesen und die Menschen. Zur Weltesche begeben sich die Götter, wenn sie Recht sprechen.

456 5. Ursprungsmythen

Ursprungsmythen im Islamf

Möglicherweise lassen sich Ursprungsmythen auch im Islam finden, zumal wenn man von den den abrahamischen Religionen gemeinsamen Schöpfungstraditionen im Qur'än absieht. So könnte z.B. das Prädestinationsdogma (-»Prädestination I), an das sich Allah selbst bindet, als ein urgeschichtliches Phänomen im obigen Sinne verstanden werden: Alles, was den Menschen vorherbestimmt ist, liegt „in einer Schrift", nämlich dem mythischen kitäb mu' aggal fest (Sure 57,22): Der ewige universale Ratschluß Gottes, qadä', der der Vorherbestimmung zugrunde liegt, geschah vor der Zeit und wirkt in Zeit und Geschichte fort. Ja, der gesamte Qur'än befindet sich in seiner Urfassung als 'umm al-kitäb (Sure 43,4) zusammen mit den „Büchern des Lebens" im Himmel (Sure 13,39). Muhammad hat seine Offenbarungen direkt aus dem Himmel bezogen, wo sie „auf einer wohlverwahrten Tafel" aufgezeichnet sind (Sure 85,22; 56,78) und nur von Reinen berührt werden dürfen (Sure 86,79). Auch die Schriften der Juden und Christen entstammen diesem Original (darum werden ihre Vertreter ahl al-kitäb, „Leute des Buches", genannt); aber sie erhielten ihre Offenbarungen nur auszugsweise, während der Qur'än in deutlicher arabischer Sprache herabgesandt wurde (Sure 26,195) und das wortgetreue Abbild des himmlischen Urbilds ist. Durch Offenbarung gelangte der Ur-Qur'än über Muhammad in die Zeit; so wurde der Mythos Geschichte (ähnliche Spekulationen über eine Ur-Ka'ba, die das himmlische Original der irdischen Ka'ba in Mekka repräsentiert und auf diese Weise Mythos und Geschichte miteinander verknüpft). 6. Phänomenologie

der

Urgeschichte

Die Ursprungsmythen sind demnach zu differenzieren: Die am Mythos orientierte und im Ritus vergegenwärtigte Heils- und Unheilsgeschichte läßt sich zwar an zahlreichen unterschiedlichen Phänomenen darstellen, muß aber an den Kontexten gemessen werden, in die sie eingebettet sind. Universalisieren läßt sich z. B. eine Reihe von basalen Aspekten, die - natürlich (immer noch und in Ermangelung anderer Wissenschaftskategorien) eurozentrisch verstanden bzw. vom eurozentrischen Wissenschaftsbegriff geprägt - als Bausteine für eine urgeschichtliche Mythologie dienen können: Das Urmeer symbolisiert das Chaos am Anfang und stellt gleichzeitig das Material für den Bau der Welt zur Verfügung; aus einer Urgottheit gingen einst („am Anfang") die Götter hervor; in der Urzeit (Traumzeit) entsteht die Welt, und der Fromme erlebt die Gleichzeitigkeit mit dem Mythos, der die Götter repräsentiert; im Urdorf, wo seine Ureltern zu Hause sind, hat er seine mythische Heimat; der Urmensch ist Progenitor, Erzeuger und Erlöser der Menschheit; durch die Urflut werden die Menschen wegen ihrer Vergehen bestraft; durch eine Urentscheidung oder Prädestination bestimmt die Gottheit das Einzelschicksal bzw. läßt sie Gnade vor Recht ergehen. Quellen 1. Allgemein: Walter Beyerlin (Hg.), Religionsgesch. Textbuch zum AT, Göttingen 1975 (Lit.). - Mircea Eliade, Gesch. der rel. Ideen. Quellentexte, Freiburg i.Br. 1981. - Helmer Ringgren, Die Religionen des Alten Orients, 1979 (GAT) (Lit.). - Die Schöpfungsmythen (s.u. Lit. bei: La naissance du monde). 2. Vorderer Orient u. Ägypten: Hermann Grapow, Rel. Urkunden, 3 Bde., 1915-1917 (UÄA 5). - Hermann Junker, Die Götterlehre v. Memphis, 1940 (ADAW.PH 1939,23). - Hermann Kees, Religionsgesch. Lesebuch. X. Ägypten, Tübingen 1928. - Samuel Mercer, The Pyramids Texts in Translation and Comm., 4 Bde., London/New York/Toronto 1952. - Siegfried Günther Roeder, Urkunden zur Religion des alten Ägypten, Jena 1915. - Ders., Die äg. Religion in Texten u. Bildern, Zürich, I 1959. - Alexander Scharff, Altäg. Sonnenlieder, Berlin 1922 (Kunst u. Altertum 4). Walther Wolf, Der Berliner Ptah-Hymnus: ZÄS 42 (1905) 1 1 - 4 2 . 3. Babylonien: Antonius Deimel, Enuma elis. Sive epos babylonicum de creatione mundi, 1912 1936 (SPIB). - Alexander Heidel, The Babylonian Genesis, Chicago 1942 21951 (Lit.). - Wilfred George Lambert/Simon B. Parker, Enuma elis. The Babylonian Epic of Creation. The Cuneiform J

Ursprungsmythen

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Ursulinen

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Peter Gerlitz

Urstandslehre -»Mensch, —»Sünde Ursulinen 1. Der ursprüngliche Orden und seine Entwicklung in Italien 2. Verfassungsänderungen und Ausdehnungen im 17. und 18. Jahrhundert 3. Das 19. und 20. Jahrhundert 4. Die modernen Zusammenschlüsse (Literatur S. 460)

1. Der ursprüngliche

Orden und seine Entwicklung

in Italien

Der Orden der Ursulinen war die erste größere Bildungseinrichtung für Frauen im römisch-katholischen Europa. Als Cotnpagnia di S. Orsola wurde der Frauenorden im Jahr 1535 von der Mystikerin St. Angela Merici (1474-1540; 1768 selig-, 1807 heiliggesprochen) in Brescia gegründet. Die ersten Ursulinen waren fromme Laiinnen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten, die ihr religiöses Leben in ihren Familien führten und nur private Gelübde ablegten. Sie sahen sich als jungfräuliche Bräute Christi, die das Ziel hatten, die Lehre Gottes zu verbreiten und Menschen in die Nachfolge Christi zu rufen. Dies taten sie vorrangig, indem sie in praktischer Tätigkeit mütterliches Mitgefühl zeigten, wenn sie Frauen und Mädchen in religiösen Dingen unterrrichteten, Kranke und Arme besuchten und Verstorbene begruben. Im Jahr 1544 wurde die Gemeinschaft mit der ursprünglichen Regel Angela Mericis offiziell von Papst -»Paul III. in seiner Bulle Regimini universalis Ecclesiae anerkannt. Nach einer Zeit innerer Spaltungen entwickelte sich die Gemeinschaft zu einer hierarchischen Körperschaft, die in Anlehnung an die zentralisierte Organisation der Jesuiten von einer Generalin geleitet wurde. Diese Ordensverfassung wurde vom Erzbischof von Mailand, C. -»Borromeo, verworfen, der in größerer Anlehnung an die Dekrete des -»Tridentinums wollte, daß die Schwestern in unabhängigen Ordenshäusern unter der Autorität des Bischofs lebten und sich eher dem Konventscharakter annäherten. Sie sollten ein gemeinschaftliches Leben mit einfachen Gelübden führen, wie es eine von Papst -»Gregor XIII. anerkannte Ordensregel vorsah. Im Jahr 1584 hatte die Diözese Mailand fünf Ordensgemeinschaften mit 600 Schwestern aufzuweisen. In -»Italien wurden darüber hinaus größere Gemeinschaften in Ferrara, Cremona, Bologna, Neapel, Rom, Foligno, Vicenza und Venedig gegründet. Nachdem Napoleon I. den Orden in Italien verboten hatte, wurde er 1866 durch die Gräfinnen Magdalena und Elisabeth Girelli (1838—1923; 1839-1919) auf Grundlage der Borromeischen Regel, wie sie Bischof Verzeri (amtierte 1850-1883) übernommen und auf andere italienische Ordenshäuser ausgeweitet hatte, wiederbelebt. Die italienischen Gemeinschaften bildeten einen Ver-

Ursulinen

459

band, der im Jahr 1958 als Säkularinstitut anerkannt wurde. Seitdem gibt es jedoch durch die Wiederentdeckung der vor-borromeischen Originalfassungen der Ursulinenregel Spaltungen. 2. Verfassungsänderungen

und Ausdehnungen

im 17. und 18.

Jahrhundert

Von besonderer Bedeutung war für die Ordensgeschichte das Wachstum des Ordens in -»Frankreich, wo um 1592 mit Unterstützung der beiden Patres Cesar de Bus (15441607) und Jean-Baptiste Romillon (1553-1622) eine Gemeinschaft von Ordensschwestern in Avignon eingerichtet wurde; dies stand im Zusammenhang mit der gleichfalls von beiden gegründeten „Kongregation der Christlichen Lehre", in der Weltpriester mit der Aufgabe des Religionsunterrichtes zusammengeschlossen waren. Bis zum Jahr 1673 sind etwa 260 selbständige Ursulinenhäuser in Frankreich gegründet worden. Sie bestanden aus acht Kongregationen, die den Satzungen der Ordenshäuser in Paris, Bordeaux, Dijon, Lyon, Tülle, Arles, Avignon und Toulouse folgten. Die französischen Ordenshäuser nahmen bald einen klösterlichen Charakter an. Im Jahr 1612 wurden die Pariser Ursulinen als eine Gemeinschaft von vorwiegend kontemplativ ausgerichteten Chornonnen mit strenger Klausur neugegründet, die nach feierlichem Gelübde unter der Augustinusregel hinter Gittern lebten. Die Klausur überwog seit 1658 in ganz Frankreich. Bis zum Jahr 1700 betrug die Anzahl der französischen Ursulinenschwestern zwischen 10.000 und 12.000, die in etwa 320 Klostergemeinschaften lebten und Mädchen aus allen sozialen Schichten unterrichteten. Eine Gemeinschaft in Lüttich, die seit 1622 an die von Bordeaux angeschlossen war, hatte bis zum Jahr 1664 dreizehn Tochter-Ordenshäuser in Belgien und im Deutschen Reich, sowie ein weiteres im Jahr 1688 in Rom hervorgebracht. Im Jahr 1639 gründete Marie (Guyart) de l'Incarnation (1599-1672) eine Ordensniederlassung in Quebec, von wo weitere Gründungen in anderen Teilen Nordamerikas, Martiniques und Brasiliens ausgingen. Im Jahr 1715 entstanden Ordenshäuser in Griechenland und 1771 in Irland. Das 18. Jh. brachte einen zahlenmäßigen Rückgang von Mitgliedern und Ordenshäusern. Einen empfindlichen Schlag gegen den Orden führte vor allem die —•Französische Revolution, in deren Verlauf 38 Ordensschwestern den Märtyrertod erlitten. 3. Das 19. und 20.

Jahrhundert

Im Verlauf des 19. und 20. Jh. konnten sich die Ursulinen jedoch erstaunlich gut erholen, angefangen in Frankreich, wo ein kaiserliches Edikt ihnen 1806 erlaubte, ihre Schulen wieder zu öffnen. Trotz der Konkurrenz neuerer Orden mit ihren Vorteilen größere Flexibilität, Freiheit von klösterlicher Klausur und eine zentrale Führung - gab es bis 1880 mehr als 4.000 Schwestern in 115 Ordenshäusern, und um 1878 bestanden 162 Ordenshäuser außerhalb Frankreichs. Die deutschen Ursulinen waren durch die Bedrängung während des -»Kulturkampfes und die französischen durch die Vertreibung religiöser Orden im Jahr 1902 stark in Mitleidenschaft gezogen. Im Zuge dessen nahmen die Ordensschwestern entweder eine pro /oWM-Säkularisierung an, oder sie emigrierten, um neue Ordenshäuser außerhalb Frankreichs zu gründen. Im 20. Jh. gab es einen weiteren erheblichen Zuwachs in den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und Großbritannien mit Missionsablegern in Lateinamerika, Asien und Afrika. 4. Die modernen

Zusammenschlüsse

Obwohl die Ordenshäuser der Ursulinen unter bischöflicher Autorität seit der Borromeischen Reform voneinander unabhängig waren, haben sie inzwischen Vereinigungen gebildet, deren größte die Römische Union des St. Ursulinenordens ist. Diese bildete sich im Jahr 1900 aus 63 Ordenshäusern und wird von einer Ordensgeneralin regiert. Zu weiteren Vereinigungen gehören die Union von Chatham aus dem Jahr 1915, bestehend aus den englischsprachigen Ordenshäusern Kanadas; die Kanadische Union von 1953, bestehend aus den Ordenshäusern, die Marie de l'Incarnation gegründet hatte;

460

Utilitarismus

die Irische Union von 1 9 7 8 ; die Französische Union der St. Angela Merici von 1973, sowie eine Deutsche Union aus d e m J a h r 1 9 6 4 . Einige weitere Ordenshäuser sind auton o m geblieben oder bestehen innerhalb von Diözesangemeinden. Literatur Hermann Albisser, Die Ursulinen zu Luzern. Gesch., Leben u. Werk, 1 6 5 9 - 1 8 4 7 , Stans 1938. - Annales de L'Ordre de St.-Ursule formant la continuation de l'histoire du même Institut depuis la Révolution française jusqu'à nos jours . . . , 2 Bde., Clermont-Ferrand 1857. - Marguerite Aron, Les Ursulines, Paris 1937. - Joseph Louis Beaumier, L'Union romaine des Ursulines (d'après les documents pontificaux), Three Rivers, Quebec 1951. - Charmarie J . Blaisdell, „Angela Merici and the Ursulines": Richard L. DeMolen (Hg.), Religious Orders of the Catholic Reformation in Honor of John C. Olin on his Seventy-Fifth Birthday, New York 1994, 9 9 - 1 3 9 . - Anne Conrad, Zw. Kloster u. Welt. Ursulinen u. Jesuitinnen in der kath. Reformbewegung des 16./17. Jh., 1991 (VIEG 142). - Dies., Mit Klugheit, Mut u. Zuversicht. Angela Merici u. die Ursulinen, Mainz 1994. - M . da Eucaristia Daniellou, História e espiritualidade das Ursulinas atravès dos séculos, Rio de Janeiro 1969. - Marie-Petra Desaing, Die Ursulinen, 1968 (OK 9). - Marie de Chantal Gueudré, Histoire de l'ordre des Ursulines en France, 3 Bde., Paris 1 9 5 8 - 1 9 6 4 . - Paolo Guerrini, La Compagnia di S. Orsola dalle origine alla soppressione napoleonica, S. Angela Merici e la Compagnia di S. Orsola nel IV centenario della fondazione. Memorie storiche della diocesi di Brescia, Brescia 1936. - Marie-Andrée Jégou, Les Ursulines du Faubourg St. Jacques à Paris, 1 6 0 7 1662, Paris 1981. - Teresa Ledóchowska, Angele Merici et la Compagnie de St.-Ursule, Rom/ Mailand 1967; engl.: Angela Merici and the Company of St. Ursula according to the Historical Documents, transi. Mary Teresa Neylan, 2 Bde., Mailand 1968. - Henri de Lubac, La spiritualité des Ursulines de L'Union Romaine, Lyon 1959. - Luciana Mariani/Marie-Andrée Jégou/MarieBénédicte Rio, Art. Ursulines: DSp 16 (1994) 7 1 - 9 9 . - Luciana Mariani/Elisa Tarolli/Maria Seynaeve, Angela Merici. Contributo per una biografia, Mailand 1986. - Sister Mary Monica, Angela Merici and Her Teaching Ideal, New York 1927. - Mary Justin McKiernan, The Order of St. Ursula, New Rochelle, N.Y. 1945. - Daniele Montanari, Disciplinamento in terra veneta. La diocesi di Brescia nella seconda metà del X V I secolo, 1987 (AISIG 8). - Mère de Pommereu, Les Chroniques de l'ordre des Ursulines recueillies pour l'usage des religieuses du mesme ordre, 2 Bde., Paris 1673. - Elisabeth Rapley, The Dévotes. Women and Church in Seventeenth-Century France, Montreal/ Kingston 1990. - Alessandro Tamborini, La Compagnia e le scuole della dottrina cristiana, Mailand 1939. - Gualberto Vigotti, St. Carlo Borromeo e la Compagnia di St. Orsola, nel centenario della ricostituzione in Milano della Compagnia di St. Orsola Figlie di St. Angela Merici (1872-1972), Mailand 1972. Sheridan Gilley

U r u g u a y —»Lateinamerika Utilitarismus 1. Grundlegung (Bentham) 2. Kritische Ergänzung (Mill) Intuitionismus (Sidgwick) 4. Umformungen (Moore, Popper)

3. Verbindung mit moralischem (Quellen/Literatur S. 463)

D e r Utilitarismus (lat. utilis: nützlich) ist eine mit starkem sozialreformerischem Potential ausgestattete F o r m n o r m a t i v e r - » E t h i k , welche sich im Laufe ihrer Entwicklung seit dem 18. J h . in zahlreiche Positionen ausdifferenziert hat. Sie ist bestimmt v o m Bemühen u m eine an den empirischen Wissenschaften orientierte Grundlegung der Ethik und bemißt die moralische Qualität von H a n d l u n g e n (oder Handlungsregeln) allein an ihren Folgen für das Glück (die Präferenzerfüllung, die Leidensverminderung) aller von der H a n d l u n g Betroffenen. 1. Grundlegung

(Bentham)

Im Anschluß an vorläufige Formulierungen des Nutzenprinzips in der englischen Rechts- und M o r a l p h i l o s o p h i e (bei Francis H u t c h e s o n [ 1 6 9 4 - 1 7 4 7 ] ; T h . —>Hobbes; Bischof R i c h a r d C u m b e r l a n d [ 1 6 3 1 - 1 7 1 8 ] ; D. - > H u m e ; A b r a h a m Tucker [ 1 7 0 5 - 1 7 7 4 ] ; J o s e p h Priestley [ 1 7 3 3 - 1 8 0 4 ] ; Claude Adrien Helvetius [ 1 7 1 5 - 1 7 7 1 ] ; Cesare Beccaria

461

Utilitarismus

[1738-1794]) bietet der englische Jurist Jeremy Bentham (1748-1832) eine umfassende Theorie des Utilitarismus, mit der er eine weitreichende Reform der „Wissenschaft der Moral" (Bentham I, 1) intendiert. Auf der Grundlage eines - sowohl deskriptiv wie normativ verstandenen - psychologischen Hedonismus, dem zufolge allein -»Freude und Leid (-*Leiden) (pleasure and pairi) menschliches Handeln bestimmen, formuliert Bentham das eines direkten Beweises unzugängliche Prinzip der Nützlichkeit (Prinzip des größten Glücks der größten Zahl der von einer Handlung Betroffenen) als Maßstab der moralischen Bewertung menschlicher Handlungen. Es billigt oder mißbilligt eine Handlung in dem Maße, „wie ihr die Tendenz innezuwohnen scheint, das Glück (happitiess) der Gruppe, deren Interessen in Frage steht, zu vermehren oder zu vermindern . . . " (Bentham I, 2). Als Instrument der Bestimmung des Gratifikationswertes einer Handlung dient Bentham der in seiner Durchführbarkeit bis heute höchst umstrittene hedonistische Kalkül, in dem Freude und Leid sowohl intrapersonal als auch interpersonell gegeneinander aufgerechnet werden sollen. Der Kalkül zieht die sieben Dimensionen von Intensität, Extensität, Temporalität, Gewißheit oder Ungewißheit, Nähe oder Ferne, Reinheit sowie Fruchtbarkeit von Freude und Leid in seine Berechnung ein. Der Katalog der von Bentham berücksichtigten Freuden und Leiden ist umfänglich, auch die Freude am Wohlgehen anderer wird von ihm anerkannt. Insofern läßt die egoistisch anmutende Psychologie Benthams in gewissem Maße Raum für altruistisches Handeln. Gemäß seinem Diktum „quantity of pleasure being equal, pushpin is as good as poetry" kennt Bentham jedoch keine qualitativen Differenzen verschiedener Freuden bzw. Leiden. 2. Kritische Ergänzung

(Mill)

Diese behauptet erst der nach utilitaristischen Prinzipien zu einer „reasoning machine" (Mill, Autobiography 91) erzogene John Stuart Mill (1806-1873), der im Bemühen um die Verteidigung der Benthamschen Thesen tiefgreifende Modifikationen an der Theorie des Utilitarismus vornimmt. Mill akzeptiert die von Bentham aufgezeigten quantitativen Dimensionen der Freude, bewertet diese jedoch als bloß äußerliche Kriterien. Ihnen zur Seite stellt Mill die Unterscheidung zwischen höheren und niederen, geistigen und körperlichen Arten der Freude, ergänzt so den quantitativen Hedonismus um einen damit inkompatiblen qualitativen Hedonismus. Zur Bestimmung der Rangfolge von Freuden greift Mill jedoch wieder auf quantifizierende Elemente zurück: Es gilt jene Art von Freude höher als eine andere, welche von allen, zumindest jedoch von der Mehrheit der mit beiden Arten vertrauten Personen bevorzugt wird. Benthams These von der Unbeweisbarkeit des Nützlichkeitsprinzips übernimmt Mill ebenfalls, führt jedoch Überlegungen zu dessen Stützung an, welche sich mannigfaltiger Kritik haben unterziehen müssen. Um den exklusiven Anspruch des Nützlichkeitsprinzips zu bewahren, unternimmt Mill in weit ausholender und verschlungener Untersuchung zum Gerechtigkeitsbegriff den Versuch, das ebenfalls schon von Bentham behauptete Zusammenfallen von allgemeiner Nützlichkeit und Gerechtigkeit zu erweisen. Einer solchen These stellt sich jedoch der Anspruch auf unverletzliche, utilitaristisch nicht zu rechtfertigende Menschenrechte entgegen, die auch dem Gemeinwohl nicht zu opfern sind. So wäre entgegen unseren moralischen Intuitionen unter dem Gebot der Nutzenmaximierung die Verurteilung eines Unschuldigen (Abschreckung) gerechtfertigt, wenn dadurch das allgemeine Wohl gefördert würde. 3. Verbindung mit moralischem

Intuitionismus

(Sidgwick)

Mit Henry -»Sidgwick hält der Utilitarismus Einzug in die englischen Universitäten, verliert jedoch zugleich an Radikalität seiner sozialreformerischen Bestrebungen. In seinem Hauptwerk, der durch äußerst detaillierte Argumentationen ausgezeichneten Schrift The Methods of Ethics, analysiert Sidgwick drei vorherrschende Methoden zur Bestimmung des richtigen Handelns: den egoistischen Hedonismus, den Intuitionismus

462

Utilitarismus

und den Utilitarismus. Während der allein auf das Wohl des Handelnden zielende egoistische Hedonismus und der Utilitarismus in widersprüchlichem Verhältnis zueinander stehen, sieht Sidgwick einen Übergang zwischen Intuitionismus und Utilitarismus. Der Utilitarismus verbindet so die moralischen Intuitionen der (victorianischen) Common Sense-Moral (Wohlwollen, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung, eheliche Treue) mit dem Glücksprinzip, die Prinzipien des Intuitionismus stehen im Dienste des utilitaristischen Maximierungsprinzips, können als mittlere Axiome der utilitaristischen Methode angesehen werden. Der Aufweis dieses natürlichen Überganges der Common Sense-Moral zum utilitaristischen Prinzip gilt Sidgwick als einziger Beweis, dessen das utilitaristische Prinzip fähig ist. Wenn auch die Regeln, unter denen die Common SenseMoral urteilt, einer kritischen Revision bedürfen, schließt Sidgwick die Möglichkeit aus, einen utilitaristischen Sittenkodex zu formulieren, da Natur und Lebensbedingungen der Menschheit einem ständigen Wandel unterworfen seien, welchen festgeschriebene Verhaltensregeln nicht zu berücksichtigen vermögen. Die Reform der Volksmoral besteht weniger in Einführung neuer moralischer Regeln als in Verschärfung bestehender -»Normen. Dem aufgeklärten Utilitaristen spricht Sidgwick das Recht zu, im Verborgenen gegen diese Sittengesetze (—•Sitte/Sittlichkeit) zu verstoßen, sofern die Beförderung des universellen Glücks dies erfordert. 4. Umformungen (Moore,

Popper)

George Edward Moore (1873-1958) verläßt die hedonistische Werttheorie des klassischen Utilitarismus, sein idealer Utilitarismus anerkennt auch die Wahrnehmung des Schönen (-»Schönheit) sowie die Wahrung freundschaftlicher Beziehungen als intrinsisch wertvoll. Die Einlösung seiner Forderung nach einer wissenschaftlichen, d.h. axiomatischen Ethik führt Moore zu dem Vorwurf, der Hedonismus begehe — ebenso wie metaphysische Ethiken (zu diesen rechnet Moore die Ethiken der —»Stoa oder —> Kants) - den Fehler des naturalistischen Fehlschlusses, d.h. die Identifikation des moralischen Grundwortes „gut" mit anderen moralischen oder außermoralischen Eigenschaften. „Gut" gilt Moore als einfache, nicht-definierbare, nicht-natürliche Eigenschaft von Dingen oder Handlungen. Moralisch richtiges Verhalten besteht darin, die größtmögliche Summe des Guten in der Welt hervorzubringen. Schon aufgrund der in dieser Kalkulation zu berücksichtigenden unendlichen, in die Zukunft ausgerichteten Zeitspanne haben Aussagen über Pflichten lediglich Wahrscheinlichkeitswert. Gleichwohl verurteilt Moore jeden Verstoß gegen die in einer Gesellschaft allgemein anerkannten Regeln, denn die Wahrscheinlichkeit, daß die Befolgung einer Regel nützlich sei, überwiege die Wahrscheinlichkeit ihrer Unnützlichkeit. Zudem werde der Vorbildcharakter eines Regelverstoßes größeren Schaden als Nutzen bewirken, denn selbst wenn die direkten Folgen der regelwidrigen Handlung gut sein sollten, sei doch damit zu rechnen, daß Wiederholungen und Nachahmungen solcher Handlungen unter veränderten Umständen schlechte Folgen bewirken. Jeder Verstoß gegen eine allgemein anerkannte und wahrscheinlich wahre moralische Regel dürfe daher bestraft werden. Sofern - wie in den meisten Fällen menschlichen Verhaltens — für eine Handlung keine allgemein anerkannten Regeln bestehen, habe der einzelne seine Orientierung an der direkten Abwägung der positiven bzw. negativen Folgen der einzelnen Handlung zu nehmen. So zeigt sich schon in Moores äußerst detaillierten Analysen die für spätere Diskussionen bestimmende Unterscheidung zwischen Akt- und Regelutilitarismus: Der Aktutilitarismus fordert, den Nützlichkeitstest für jeweils einzelne Handlungen durchzuführen, Vertreter des Regelutilitarismus beziehen den Test dagegen auf Handlungsregeln. Eine gute Folgen zeitigende Handlung gilt als falsch, wenn die Konsequenzen der sie bestimmenden Regel schlecht sind. Karl Raimund Popper (1902—1994) formuliert das Prinzip des Utilitarismus negativ: nicht die Maximierung des Glücks, sondern die Minimierung des Leidens solle erreicht werden. Er verneint somit die schon von Bentham behauptete Identität von Glücks-

Utilitarismus

463

maximierung und Leidensverminderung. Solch negativer Utilitarismus kann jedoch zu grotesken Konsequenzen führen, denn die v o l l k o m m e n s t e Leidensverminderung würde in der Ausrottung der Menschheit bestehen. Quellen Jeremy Bentham, An Intr. to the Principles of Morals and Legislation (1780), ed. by Jeremy H. Burns/Herbert Lionel Adolphus Hart, with a New Intr. by Frederick Rosen, Oxford 1996. John Stuart Mill, Collected Works, London; I. Autobiography and Literary Essays, 1981; X . Essays on Ethics, Religion and Society, London 1969, bes. 203 - 2 5 9 (dt.: Der Utilitarismus, Stuttgart 1997). - George Edward Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903; dt.: Principia Ethica, hg. v. Burkhard Wisser, Stuttgart 1996. - Ders., Ethics, London/Oxford 1912; dt.: Grundprobleme der Ethik, München 1975. - Ders., The Elements of Ethics, hg. v. Tom Regan, Philadelphia, Pa. 1991. - Karl Raimund Popper, The Open Society and Its Enemies, 2 Bde., London 1957; dt.: Die offene Gesellschaft u. ihre Feinde, 2 Bde., München/Bern 1 9 5 7 - 1 9 5 8 . - Henry Sidgwick, The Methods of Ethics, London 1874 London/New York 7 1907 Nachdr. Indianapolis, Ind. 1981; dt.: Die Methoden der Ethik, Leipzig 1909. Literatur Ernest Albee, A History of English Utilitarianism, London 1902. - Necip Fikri Alican, Mill's Principle of Utility. A Defence of John Stuart Mill's Notorious Proof, Amsterdam/Atlanta, Ga. 1994. - David Baumgardt, Bentham and the Ethics of Today, Princeton, N . J . 1952. - Dieter Birnbacher, Der Utilitarismus u. die Ökonomie: Bernd Biervert (Hg.), Sozialphil. Grundlagen ökonomischen Handelns, 1990 (stw 870) 6 5 - 8 5 . - Alfred Bohnen, Die utilitaristische Ethik als Grundlage der modernen Wohlfahrtsökonomie, Göttingen 1964. - Richard B. Brandt, A Theory of the Good and the Right, Oxford 1979. - Ulrich Gähde, Empirische u. normative Aspekte der klass. utilitaristischen Ethik: Lutz H. Eckensberger/ders. (Hg.), Ethische Norm u. empirische Hypothese, Frankfurt a . M . 1993, 6 3 - 9 1 . - Ders./Wolfgang H. Schräder (Hg.), Der klass. Utilitarismus. Einflüsse - Entwicklungen - Folgen, Berlin 1992. - Jonathan Glover (Hg.), Utilitarianism and Its Critics, New York/London 1990. - Richard M . Hare, Moral Thinking, Oxford 1981; dt.: Moralisches Denken, Frankfurt a . M . 1992. - Ross Harrison, Bentham, London 1983. - David H. Hodgson, Consequences of Utilitarianism, Oxford 1967. - Otfried Höffe (Hg.), Einf. in die utilitaristische Ethik, München 1975 Tübingen M992. - Olaf Hottinger, Eigeninteresse u. individuelles Nutzenkalkül in der Theorie der Gesellschaft u. Ökonomie v. Adam Smith, Jeremy Bentham u. John Stuart Mill, Marburg 1998. - Wolfgang R. Köhler, Zur Gesch. u. Struktur der utilitaristischen Ethik, Frankfurt a. M . 1979. - David Lyons, Forms and Limits of Utilitarianism, Oxford 1965. Harlan B. Miller/William H. Williams, The Limits of Utilitarianism, Minneapolis, Minn. 1982. - J u l i a n Nida-Rümelin, Kritik des Konsequentialismus, München 1993 1 1995. - John P. Plamenatz, The English Utilitarians, Oxford 1949 2 1958. - Anthony Quinton, Utilitarian Ethics, London 1973 z 1989. - Geoffrey Scarre, Utilitarianism, London/New York 1996. - Amartya Sen/Bernard Williams (Hg.), Utilitarianism and Beyond, Cambridge 1982. - Samuel Scheffler (Hg.), Consequentialism and Its Critics, Oxford 1988. - John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971; dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M . 1975. - John J . C. Smart/Bernard Williams, Utilitarianism. For and Against, Cambridge 1973. — Lukas K. Sosoe, Naturalismuskritik u. Autonomie der Ethik. Stud, zu G . E . Moore u. J . S . Mill, 1988 (RPT 28). - Leslie Stephen, The English Utilitarians, 3 Bde., London 1900. - Rainer W. Trapp, Nicht-klass. Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a . M . 1988. — Jean-Claude Wolf, John Stuart Mills „Utilitarismus". Ein krit. Komm., Freiburg i.Br./München 1992. Stephan L a m p e n s c h e r f

464

Utopie I

Utopie/Utopisten I. Philosophisch II. Kirchengeschichtlich . . III. Dogmatisch und ethisch

S.473 S. 479

I. Philosophisch 1. Uberblick 2. Die utopische Welt 3. Abgrenzung von alternativen Gegenwelten pie als Denkform (Quellen/Literatur S. 472)

4. Uto-

1. Überblick Ist mit dem von Thomas —•Morus geprägten Namen „Utopia" (griech. ov xónog, kein Ort, nirgendwo) ursprünglich nur die Ortlosigkeit eines idealen Staatswesens angezeigt, so wandelt sich der glücklich gegriffene Titel rasch zu einer mehrdeutigen Bezeichnung: „Utopia" figuriert als geographische Metapher, benennt einen idealen Verfassungsentwurf und fungiert als Prototyp einer neuen literarischen Gattung. In der historisch späten Herausbildung des abstrakten Allgemeinbegriffs „Utopie" zeigt sich dieser zugleich als Gesinnungsbegriff, der an historisch-konkrete, ideologisch kontroverse Einschätzungslagen gebunden ist; schließlich geht der Begriff in der adjektivischen Verwendung „utopisch" in politisch-propagandistischer Funktion in den Alltagssprachgebrauch ein. Unter Utopien sind Fiktionen von Gesamtgesellschaften zu verstehen, die dem sozio-politischen Kontext, innerhalb dessen sie entstanden sind, als kritisches Korrektiv, bzw. als regulative Idee gegenübergestellt werden. Insofern im Rahmen des philosophisch-literarischen Genres „Utopie" der Boden der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Richtung auf einen an fiktivem Ort oder in entfernter Zukunft angesiedelten Idealzustand von Sozialität verlassen wird, ist das utopische Denken seitens seiner Kritiker dem Vorwurf ausgesetzt, die Realität des hic et nunc mitsamt seiner Horizonte des konkret Möglichen aus dem Blick zu verlieren. In polemischer Verwendung bezeichnet der Begriff der Utopie somit illusionäres Wunschdenken, das, indem es sich theoretischprogrammatische Form verleiht, Gefahr läuft, die Realität zugunsten überzogener Vollkommenheitsansprüche in letzter Konsequenz auch buchstäblich zu opfern. Die Kontroverse, welche die Utopie seit ihrer Entstehung begleitet, resultiert aus der der Kategorie der Möglichkeit inhärenten Spannung von Potentialität und Irrealität, die sich im ausformulierten Gedankenexperiment eines rational konstruierten Gesellschaftssystems manifestiert. Das Zusammenspiel narrativer und theoretischer Elemente bestimmt die charakteristische literarische Form, durch welche die Utopie als Gattungsbegriff gekennzeichnet ist. Unter diese Gattung können, nach der historischen Ablösung der geographischen Utopien durch die Zeitutopien, auch noch die Antiutopien als das moderne pessimistische Gegenbild subsumiert werden. Im 20. Jh. vollzieht sich nach dem Ende der Utopien eine reflexive Wendung hin zum „Utopischen", das als Funktion gesellschaftskritischen Denkens definiert, bzw. als eine anthropologische Konstante entdeckt wird. Dergestalt hat die Utopie als philosophischer Begriff der Gegenwart ihre literarische Plastizität verloren und bezeichnet nurmehr formal eine spezifische Form transzendierenden Bewußtseins (Mannheim) oder ist im „Prinzip Hoffnung" (E. -»Bloch) allgemein erweitert auf den auf Weltveränderung gerichteten Grundzug menschlichen Wesens überhaupt. 2. Die utopische 2.1. Grundlegende

Welt Strukturmerkmale

der Utopie

Mit Thomas Morus' Utopia wird die Frage nach der institutionell richtigen Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion aufgeworfen angesichts eines Feudalstaates, der als ökonomische Zwangsanstalt nichts anderes darstellt als eine „Verschwörung

Utopie I

465

der Reichen, die im Namen und unter dem Rechtstitel des Staates für ihren eigenen Vorteil sorgen" (Morus, Utopia [1960] 108). In seinen Tugend- und Glücksvorstellungen einerseits noch der antiken Tradition verhaftet, formuliert Morus andererseits die Einsicht in die politische Notwendigkeit einer im Ausgang von konkreten empirischen Bedingungen vorzunehmenden Organisation des Sozialen, eines Bereichs, der im Sinne der Tradition dem Politischen als Bedingung vorauslag. Zwar ist in der „Utopia" Sozialphilosophie noch nicht als Wissenschaft betrieben, sondern in die Form eines konkreten Organisationsvorschlags gesellschaftlicher Verhältnisse gebracht (Habermas), bereits darin jedoch bekundet sich der spezifisch neuzeitliche Charakter der Utopie (Nipperdey, Funktion; ders., Utopia). Durch die fiktive Eröffnung eines alternativen Vorstellungsraums geschieht eine kritisch-rationale, weltimmanente Relativierung der Wirklichkeit: mithin eine implizite Aufforderung zur Umgestaltung der Welt. Diese Herausbildung einer innerweltlichen Transzendenz markiert ein vom antik-mittelalterlichen unterschiedenes, neues Weltverhältnis. 2.1.1. Als eine innerweltlich konkrete Kritik ist „Utopia" Kritik von Institutionen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Gegenstand der Utopien ist durchgängig weniger ein Aufriß des „Staatlichen" im modernen Sinne als vielmehr die Schilderung von Gebräuchen, Sitten und Institutionen. Utopien berichten von Formen der Arbeitsorganisation und -disziplin, von Freizeitverhalten, Spielen, Mahlzeiten und Reisen, schildern neben Kleiderordnung auch Stadtarchitektur und Gartenkultur, stellen Variationen in Familienverfassung, Geschlechterordnung und Kinderaufzucht vor, beschreiben Moral und Weltanschauung, Art und Stellung der Wissenschaften und der Religion. Dies dient der Veranschaulichung des fundamentalen Prinzips praktischer Politik in Utopia: die Person verwirklicht sich in ihrer substantiellen Bestimmung allein im Rahmen wohleingerichteter Institutionen, die so zu konzipieren sind, daß sie den Menschen nicht nur negativ freilassen, sondern positiv das Telos des guten Lebens befördern. 2.1.2. Entsprechend zielt jede Utopie mit charakteristischer Kompromißlosigkeit auf die Verwirklichung unentfremdeter Existenzmöglichkeiten, verstanden als schlichtes Ethos, christliches -»Heil oder innerweltliche Kulturtätigkeit. Der entmenschlichende Zwang ungerechter sozioökonomischer Systeme gründet in Notwendigkeiten der Selbsterhaltung, die sich gegen die eigentliche humane Bestimmung institutionell verfestigt haben. Utopien sind ihrem Wesen nach „sozialistisch"; ihr regierendes Prinzip ist die Gleichheit im Sinne gleichförmiger ökonomischer Existenzbedingungen, welche allererst die reale Chancengleichheit für ein glückendes Leben bereitstellt. Die Herstellung eines homogenen äußeren Freiheitsraums schafft die Möglichkeitsbedingungen für die harmonische Entfaltung eines seelischen Innenraums. Im Ausgang von einem noch vormodern konzipierten normativen Begriff des Menschlichen reflektiert die Utopie auf das Ineinandergreifen der institutionellen Verfaßtheit einerseits und der Vollendung menschlicher Möglichkeiten in Gemeinschaft andererseits. 2.1.3. Durchgängig regiert das „Strukturprinzip der universalen Interdependenz" (Nipperdey, Utopia 348) die utopische Welt. Utopia stellt sich als eine „funktionelle Totalität" (ders., Funktion 371) dar: die institutionellen Sphären von —•Familie, —»Wirtschaft, -»Recht, -»Kunst, -»Staat und -»Religion sind funktional vermittelt. Den Bruch mit der aristotelischen Tradition markierend, tritt die vor- und außerstaatliche Sphäre des olkos als Familien- und Wirtschaftsordnung vollständig in den Bereich des Politischen. Mit diesem, die „soziale Frage" (Arendt) umfassend integrierenden Begriff des Politischen antizipieren die prototypischen Formen der Utopie die von -»Rousseau, -»Hegel und —»Marx philosophisch reflexiv eingeholten interdependenten Verhältnisse von Politik, Gesellschaft und Person. 2.1.4. Als eine Konsequenz dieser umfassenden Vermitteltheit aller sozialen Bereiche erscheint die innere und äußere Geschlossenheit der Utopie (Freyer 24ff.). Der Entwurf

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Utopie I

einer transparenten, experimentell herstellbaren Ordnung macht die universale Kontrolle der Ursache-Wirkungszusammenhänge und damit die technische Sicherung gegen externe Einflußnahme notwendig. Utopien sind unausweichlich „geschlossene Handelsstaaten". Übergreifende und verbindende Kräfte wie Handel, Reiseverkehr, Geld, Gold, aber auch Krieg, sind ausgeschaltet. Nach innen tendiert die Utopie als sozialtechnologisches Anwendungssystem aus Psychologie, ->Sozialwissenschaften und -»Pädagogik auf eine Stillstellung des Geschichtlichen. Die vollständige, definite Vereinnahmung des menschlichen Begehrens in ausschließlich vernunftgemäßen Realisationsformen, befestigt nicht zuletzt durch staatliche Kontrollmechanismen, läßt das Leben in Utopia zum „Standphoto" gerinnen, zur unveränderlichen, definitiven Gegenwart. 2.2. Die drei klassischen

Entwürfe:

Utopia, Sonnenstaat,

Neu-Atlantis

2.2.1. Antike Vorformen. Auch die Antike kennt utopische Erzählungen, die für die Utopien der Neuzeit die klassischen Vorbilder abgeben konnten: als früheste Erzählung diejenige vom Fabelland Merope in Theopomps (4. Jh. v. Chr.) Philippischen Geschichten (vermittelt durch Aelian [2. Jh.]), bedeutender jedoch die Heilige Inschrift des Euhemeros (4./3. Jh. v. Chr.) mit der Darstellung des in der indischen Inselwelt gelegenen Wunderlands Panchaea (in Auszügen erhalten bei Diodor von Sizilien [1. Jh. n. Chr.]), geschildert als der theoretisierenden Phantasie eines mythischen Königs entsprungen, schließlich Jambulos' Sonneninseln (1. Jh. v. Chr.), die „letzte und radikalste Utopie, zu der es die Antike gebracht h a t " (Bloch 3 569), ebenfalls in Auszügen bei Diodor erhalten, die bereits alle utopischen Topoi versammelt: Gemeinbesitz, systematische Regelung von Arbeit und Konsum, Geschlechterkommunismus und Gemeinschaftserziehung, Aufhebung von Arbeitsteilung und Ständehierarchie. Kontrovers wird die utopische Intention im Falle von -»Piatos Staatsschriften, näherhin vor allem der Politeia und mit Einschränkung der Nomoi, diskutiert. Keine Utopie im strengen Sinne, läßt sich Piatos „Staat" jedoch wie die Sozialutopien unter den weiteren Begriff des „Idealstaates" subsumieren. Piatos bester Staat als „rein rationales, von einer zentralen Idee, der der Gerechtigkeit, aus streng logisch konstruiertes Gebilde, ist eben deshalb keine Utopie . . . : dazu entbehrt sie zu sehr des willkürlich-phantastischen Elements, des malerischen Beiwerks, der eudämonistisch-hedonistischen Lebensauffassung" (Dören 165). Dennoch hat der Entwurf der asketisch-elitären Besitz- und Familienlosigkeit des Wehrstandes im 5. Buch der Politeia, christlich-sozialistisch im Sinne des omnia sint communia gewandelt, utopische Geschichte geschrieben. Weniger Idealstaat als vielmehr menschengerechter „zweitbester" Staat, liefert die Staatskonzeption der Nomoi den ersten theoretischen Entwurf einer durchstrukturierten Wirtschaftsordnung, die allerdings für Plato im Gegensatz zu den neuzeitlichen Utopisten nicht den Gesamtbau, sondern nur den Unterbau seines Staates bestimmt. 2.2.2. Utopia: liberale Humanität. Die 1516 erschienene Schrift des Thomas Morus, die „Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia" (de optimo rei publicae statu sive de nova insula Utopia) kündet, läßt sich in eine Reihe mit -»Luthers Thesenanschlag (1517), -»Keplers Arbeiten am kopernikanischen Weltsystem (1515) und —»Machiavellis Principe (1513) stellen, wobei Morus' Ideal eines Kultur- und Wohlfahrtsstaats mit seinen konsensuellen, genossenschaftlichen und integrativen Elementen als eine antifeudale Alternative sowohl zur territorialen Fürstenherrschaft als auch zum frühneuzeitlich aufsteigenden Machtstaat Machiavellistischer Prägung anzusehen ist. Geschützt durch die Insellage leben die Utopier in unaufhebbarer Gleichheit, näherhin als Chancengleichheit, als Rechts-, Besitz- und Geschlechtergleichheit entfaltet. Telos der Gemeinschaft ist die Realisierung humanistischer Bildungsmöglichkeiten. Die Ablehnung der platonischen Trennung von Kopf und H a n d führt zu einer allgemeinen Verteilung der praktischen Arbeit, die Institution des Gemeineigentums bedingt ihre staatliche Organisation: in concreto sechs Stunden pro Tag und Person. Die Wirtschafts-

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struktur Utopias zielt auf eine kontinuierliche Stabilität der Güterproduktion zur krisenfesten Befriedigung gleichbleibend frugaler Bedürfnisse. Die Ökonomie ist der moralisch-geistigen Disziplinierung unterworfen, in institutionalisierter Luxusverachtung und der Ablehnung von repräsentativem Prunk und sinnlichem Raffinement treten deutlich christlich-asketische Züge hervor. Die dekretierte Bescheidenheit der Lebensweise läßt keinen Raum für individuell-ästhetische Nuancierungen, für „feine Unterschiede" und expressive Selbstdifferenzierungen. Universal regulierend wirkt ein am Ordensleben orientiertes Lebensideal der Nützlichkeit und einfachen Zweckmäßigkeit. Ordensmäßig mutet auch die Einziehung des Privatraums im Rahmen der Sozialordnung an: die staatliche Sorge geht gleichermaßen auf soziale Transparenz wie Kontrolle und spiegelt sich literarisch in mitunter kurios anmutenden Schilderungen marginaler Details. Als ein Gemeinwesen ohne Privatbesitz und Privatbereich stellt Utopia allerdings keine Neuauflage der platonischen Geschlechter- und Generationengemeinschaft dar, sondern liefert mit monogamer Ehe, die sich zu einer patriarchalen Familienstruktur weitet, die Matrix einer aufsteigenden, umfassenden Gliederung der Gesellschaft: von Ehe zu Familie (10 bis 16 Personen), Verein (30 Familien), Stadt (600 Familien) und schließlich zum Staat, der sich aus 54 vollständig identischen Städten zusammensetzt. Grundprinzip der „Utopia" ist ihre Vernünftigkeit: Ziel der vernunftgemäßen Ordnung ist Glück, das sich im ruhigen Genuß von sinnlicher Fülle und kulturellen Reichtümern realisiert. Morus' utopische Welt atmet bürgerliche Wohlfahrt, Liberalität und religiöse Toleranz, ohne dabei allerdings auf Sklaven und Söldner verzichten zu können. 2.2.3. Der Sonnenstaat: theokratische Bürokratie. Der 1602 vom calabresischen Dominikanermönch und Revolutionär Tommaso Campanella (1568-1639) in der Zeit seiner 27jährigen Gefängnishaft verfaßte Sonnenstaat (Civitas solis) erhält nur auf dem Hintergrund der chiliastischen Glaubenshoffnung (—>Chiliasmus) des Autors die rechte Kontur als notwendiges Endziel alles irdischen Lebens. Konzipiert aus Elementen von Piatos Staat und M o r u s ' Utopia, aus biblisch-prophetischen Reminiszenzen und dem Bild der geschwisterlichen Apostelgemeinde zu Jerusalem, ist im Sonnenstaat die Teilung der Menschheit in Stände, Klassen und Familien beseitigt. Menschliches Leben vollzieht sich in radikaler Gemeinschaft und zeitlosem Glücksdasein, ohne Privateigentum und Einzelehe. Campanellas Utopie bringt die in allen Utopien latent anwesenden Rigorismen plastisch an die Oberfläche: späthumanistischer Bildungsoptimismus ist gepaart mit unerbittlicher Zwangsbeglückung, das ökonomische Gleichheitsprinzip verbindet sich mit einem streng hierarchischen Ordnungsgedanken; eher Untertanen als Bürger, sind die Bewohner des Sonnenstaates einem theokratischen Gehorsamsprinzip unterstellt. Die Bürokratisierung des sozialen Lebens gipfelt in einer grotesk anmutenden Verstaatlichung der -»Tugenden: ethische Ideale gehen in staatlichen Funktionsträgern auf. „Soviele Namen wir für Tugenden haben, soviele Behörden gibt es bei ihnen; also Großmut, Tapferkeit, Keuschheit, Freigiebigkeit, richterliche und bürgerliche Gerechtigkeit, Gewissenhaftigkeit, Wahrheit, Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Heiterkeit, Fleiß, Nüchternheit" (Campanella [1960] 124). In der Rechtspraxis des Sonnenstaates finden sich deutliche Anklänge an die Praxis der -•Inquisition. Gemäß dem Urteil E. Blochs überbietet Campanella in seinem „Zwangsrausch der O r d n u n g " „Piatons Sparta-Ideal durch Verwendung der ganzen seitdem gekommenen byzantinischen und katholischen Hierarchie" (Bloch3 613). 2.2.4. Neu-Atlantis: technische Weltbeherrschung. Bereits in J.V. —»Andreaes protestantischer Christianopolis (Reipublicae christianopolitanae descriptio, 1619), vor allem aber in Francis Bacons (1561-1626) Neu-Atlantis (Nova Atlantis) von 1627 wird beispielgebend für die späteren Zeitutopien bis hin zur modernen Science Fiction die Naturwissenschaft zur zentralen Koordinate der Utopie gemacht. Die Atlantier Bacons hängen keinem christlichen modestia-Ideal an, leben weniger im Einklang mit der N a t u r als vielmehr in listiger Konkurrenz zu ihr, wobei eine von der Naturwissenschaft pro-

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fitierende industria immer raffiniertere Güter für einen sich stetig verfeinernden Geschmack produziert und ungehemmtes Wohlstandsstreben ein modernes Konsumdenken nach sich zieht. Dabei sind die Resultate der wissenschaftlichen Forschung eher Korrekturen der Natur als schon Mittel gesellschaftlicher Umwälzungen. Gemäß diesem Verständnis von Zukunft als allein in technischen Details verbesserter Gegenwart bleibt die statische Struktur der politisch-sozialen Organisation des patriarchal-hierarchisch gegliederten Königreichs Neu-Atlantis gleichermaßen wie die der Christianopolis vom wissenschaftlichen Fortschritt unberührt. Neu-Atlantis zeigt prototypisch die durchgängig in utopischen Entwürfen angezielte „Liquidation der politischen Herrschaft durch die Perfektion der technischen Herrschaft" (Lübbe 24). Deutlich wird hier wie späterhin auch bei Claude Henry de Rouvroy Saint-Simon (1760-1825; vgl. T R E 11,692,24-695,15) die utopische Intention, Politik durch Arbeit und produktive Praxis durch Verwaltung überflüssig zu machen, „den Staat in die Selbstverwaltung der gesellschaftlichen Arbeit" (Lübbe 32) sich auflösen zu lassen, die Herrschaft über Menschen durch die Herrschaft über Sachen, die Politiker durch Technokraten zu ersetzen. Tritt im Sonnenstaat Campanellas die totalitär vereinnahmende Tendenz utopischer Systeme deutlich zutage, so sind es im Fall von Bacons Neu-Atlantis die für die Utopien nicht weniger charakteristischen Züge eines ambivalenzfreien Wissenschaftsoptimismus und der daran gekoppelten technokratischen Problembewältigungsstrategien. 3. Abgrenzung von alternativen

Gegenwelten

Nahezu zeitgleich zu Morus' Utopia steigt in der -»Renaissance mit Arkadien ein weiterer utopisch-fiktionaler Raum empor. Prototypisch begründet Jacopo Sannazaros (1456—1530) Dichtung Arcadia (1504) die Gattung des europäischen Schäferromans (Jorge de Montemor [1520/24-1561]; Philip Sidney [1554-1586]; Honore d'Urfe [15671625]). Erst im Rahmen der Neuzeit wird Arkadien zu einem Symbol, das verschiedene Elemente der antiken Bukolik zusammenfaßt und sie darüber hinaus noch durch die Nähe zum Goldenen Zeitalter bereichert, auch wenn die ursprüngliche Entdeckung Arkadiens als „geistiger Landschaft" auf Vergil ( 7 0 - 1 9 v. Chr.) zurückgeht (Snell), mit dem, in Anlehnung an Theokrit (300-260 v. Chr.), die bukolische Dichtung ihren Anfang nimmt. Generell ist die aetas aurea - auf Hesiods (etwa 7 4 0 - 6 7 0 v. Chr.) Mythos vom Goldenen Zeitalter fußend — eine paradiesische Ära, welche die vorgeschichtliche Unentzweitheit von Mensch und Natur und von Mensch und Mensch vorstellt, zu trennen vom antiken Sinngehalt Arkadiens. Als ein von Ruhe und Frieden durchwaltetes mythisches Zeitalter eignet der aetas aurea die Einfachheit und Größe eines rückgewandten utopischen Gegenbildes. Demgegenüber ist Arkadien das „allegorisch chiffrierte Kürzel für einen gegenbildlichen Naturraum, in dem alle jene Normen in freier pastoraler Fiktion durchgespielt werden, die in der Gesellschaft noch nicht zur Geltung gelangten und an denen sie gemessen zu werden pflegt" (Garber 686). Zentral für die Bukolik sind Schilderungen des Landlebens als idealer Norm und Gegenbild zur -»Stadt, das gekennzeichnet ist durch Mühelosigkeit und Transparenz des Lebens wie durch das mußevolle Zwiegespräch mit der Natur und den konfliktfreien Umgang mit dem Nächsten. In der radikalen Verpflichtung von Politik auf eine Mensch und Natur umgreifende Friedensordnung im Modus des indirekten und allegorischen Sprechens entbehrt das arkadische Gegenbild indes der konkreten politischen, sozialen und verfassungsrechtlichen Statur der Sozialutopien, trotz der gelegentlichen Annäherung an das humanistische Genre des -»Fürstenspiegels. Im Laufe des 18. Jh. verliert die Tradition der Ekloge mit ihrem allegorischen Apparat endgültig an Bedeutung, an die Stelle Arkadiens tritt die Idylle. Das für die bürgerlich-gelehrte humanistische Arkadien-Dichtung (-»Dante, F. -»Petrarca, Giovanni Boccaccio [1313—1375]) ehemals konstitutive Wissensideal wird durch die Ideale empfindsamer Tugend, moralischer Integrität und seelischer Kultur abgelöst. Will man von einer „Poetik des art social" (Grimm 82) sprechen, so lassen

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sich vor diesem Hintergrund Interferenzen von antiker Bukolik, Arkadien- und Idyllendichtung und literarischer Utopie konstatieren. In Hinblick auf die sogenannten Robinsonaden allerdings besteht eine Verbindung zur Utopie allein in Äußerlichkeiten, wie z. B. im Inselcharakter des Landes und im zwangsweisen oder freiwilligen Abschluß von der übrigen Gesellschaft. Indes weisen die klassischen frühneuzeitlichen Utopien eine deutliche systematische N ä h e zur theologischen Konzeption des Naturzustandes (status naturae purae, auch status pure naturalis, status naturalis) auf. Entsprechend sehen frühe gattungsgeschichtliche Bestimmungen in „ U t o p i a " auch den Versuch, sich ein menschliches Gemeinwesen unter den Bedingungen des Standes der Unschuld vorzustellen, d . h . den Versuch der Darstellung einer hypothetischen politischen Ordnung secundum statum naturalem (vgl. Stockinger). D a s Gedankenspiel mit dem Erbsündendogma findet sich bereits in -•Augustins Gottesstaat (civ. X I X , 15), im weiteren setzt die kontroverstheologische D e b a t t e um die Antithese von - » N a t u r und - > G n a d e im 16. und 17. J h . Spekulationen über die anthropologischen Voraussetzungen politischer Gemeinschaftsbildungen unter der Bedingung der Sündlosigkeit frei. Vor diesem Hintergrund findet in „ U t o p i a " jener Aspekt eines paradiesischen Lebens Berücksichtigung, der sich auf die Idee einer öffentlichen Ordnung konzentriert, die sich allein auf der Basis der Übereinstimmung vernunftfähiger Bürger zwanglos ( e x p e r s coactionis) durchsetzt und damit gerade keinen postlapsarisch notwendigen Staat im Sinne eines Regiments darstellt. Z w a r liegt diese Idee einer vernünftigen und gerechten Ordnung unter der Voraussetzung des N o r m e n konsenses aller Bürger außerhalb der Möglichkeiten menschlichen Handelns, bildet jedoch, da sie sich auf die ursprüngliche und von G o t t gewollte Natur des Menschen bezieht, einen legitimen M a ß s t a b zur Beurteilung bestehender politischer Verhältnisse. Für die Darstellung dieser der Schöpfungsintention Gottes entsprechenden sozialen H a r monie bedienen sich die utopischen Autoren bevorzugt der überlieferten Symbolisierungen der Idee der Vollkommenheit, wie der geometrischen Regelmäßigkeit, insbesondere der Kreisform, oder auch des Stillstands der Zeit.

4. Utopie als

Denkform

4.1. Das 16./17. Jahrhundert:

Utopie als kritischer

Spiegel

In der frühen Neuzeit läßt sich eine semantische Mehrdeutigkeit hinsichtlich der Utopie konstatieren. Der Terminus „ U t o p i a " fungiert als Bezeichnung sowohl für das Werk als auch für das darin geschilderte Gemeinwesen und wird zudem in beiden Verwendungsweisen auf andere Werke, fiktive O r t e und soziale Ordnungspläne übertragen. „ U t o p i a " oder auch „ U t o p i e n " dient als exemplarische Bezeichnung aller denkbaren Orte einer fiktiven Geographie wie „ M a c a r i a " , „ A n t a n g i l " , „ C h r i s t i a n o p o l i s " , „Civitas s o l i s " , „ A t l a n t i s " , „ O c e a n a " und „ S e v e r a m b i a " . Im R a h m e n des utopischen Gedankenexperiments wird ein transzendierender Sprung vollzogen, die Antwort auf die Frage nach der Realisierbarkeit der utopischen Gehalte wird in der Schwebe gelassen. Einerseits ist „ U t o p i a " mit dem ihr inhärenten Verbindlichkeitsanspruch konsequent ausphantasiert, aber, wie z. B. bei M o r u s , andererseits zugleich realistisch in Zweifel gezogen, ohne allerdings zur Absurdität degradiert zu werden. Die klassische Utopie versteht sich nicht programmatisch, die Darstellung des Wunsch-Raumes mündet nicht in die Antizipation einer Wunsch-Zeit, der Wissensraum ist noch nicht über das Scharnier der Geschichtlichkeit mit der Dimension des M a c h b a r e n verbunden. Erst im weiteren gattungsgeschichtlichen V e r l a u f k o m m t es zur zunehmenden Ausarbeitung der Zukunftsperspektive. D e m frühneuzeitlichen, allegorischen Charakter der narrativen Gesellschaftskritik, die sich in die F o r m der Utopien kleidete, entsprach es indes mehr, ihre konkreten Gegenentwürfe in die räumliche Ferne eines gleichzeitigen, aber bislang noch unbekannten Ortes als in die zeitliche Ferne eines nahen, allseits bekannten Ortes zu verlegen.

470 4.2. Das 18. Jahrhundert:

Utopie I Der Übergang zur

Zeitutopie

Das 18. Jh. stellt nicht mehr die Zeit der großen Utopien, hingegen die große Zeit der Utopien dar. Die von den Idealen von Bürgertugend und Vernunft bestimmte Aufklärungszeit trägt selbst utopienahe Züge, insofern im Tugendcharakter der bürgerlichen Gesellschaft der absolutistische Staat und seine Institutionen überwunden werden und sich im Medium der Vernunft wie im Namen des -»Naturrechts die Destruktion des Überkommenen vollzieht. Eines der Elemente der Utopie: der Glaube, ohne der Dialektik von Idee und Realität Rechnung tragen zu müssen, Vernunft und Moral unmittelbar in Institutionen überführen zu können, ist auf das Zeitalter übergegangen. Utopische Entwürfe wie Morellys Iles flottantes ou la Basiliade (1753) erscheinen als Realisation des Naturrechts, wie andererseits G.B. de Mablys Naturrechtsschrift De la législation ou principes des lois (1776) deutlich utopische Züge trägt - eine Reihe, in die auch noch der Geschloßne Handelsstaat -»Fichtes von 1800 zu stellen ist. Insofern die Gestaltung der Z u k u n f t gleichsam als Realisierung einer vernunftgemäßen Ordnung begriffen wird, nähert sich das politische Denken der -»Aufklärung dem utopischen an. L.-S. Merciers L'an 2440 von 1770 markiert das erstmalige Auftreten der Zeitutopie. Mit ihrem Erscheinen ändert sich die innere Struktur des utopischen Denkens: unterliegt die Raumutopie der Logik des kritischen Spiegels, so die Zeitutopie dem der historischen Kontinuität. Im weiteren geht die Ablösung der Raum- durch die Zeitutopien mit einer veränderten literarischen Strukturierung der Texte einher: Dialog und allegorische Beschreibung werden durch die R o m a n f o r m abgelöst. Der Übergang von der Raum- zur Zeitutopie kann als deutliches Indiz für den Anbruch des geschichtsphilosophischen Fortschrittsbewußtseins geweitet werden: so fußt Merciers Utopie auf dem Gedanken einer schrittweisen Optimierung technischer und moralischer Verbesserungen, die ideale Gesellschaftsverfassung wird auf eine Folge einzelner Fortschritte umgelegt. Als positiv besetzbarer Begriff stand die Utopie der Geschichtsphilosophie der Aufklärung jedoch noch nicht zur Verfügung. Die Vorstellung von einer gegenwärtig noch nicht verwirklichten Idee, deren Realisation sich die Menschheit in der Z u k u n f t aber zumindest nähern kann, verbindet sich in der deutschen Aufklärungsphilosophie in der Regel mit dem Begriff des „Ideals" (vgl. Hölscher 775ff.). 4.3. Das 19. Jahrhundert:

Utopie als

Zukunftsentwurf

Im 19. Jh. wandelt sich „Utopie" von der Werkbezeichnung zum abstrakten Allgemeinbegriff, erweitert um die Konnotation der Prognose. Die mit der industriellen Revolution verbundene Erfahrung des fortschreitenden, unumkehrbaren Wandels hat die Z u k u n f t endgültig als einen R a u m politischer Planung und Gestaltung eröffnet. Die Struktur der Welt wird als dynamischer und zeitlicher Prozeß, als Geschichte erkannt; Zeit- und Handlungsstruktur der Utopie gehen ebenso wie ihr Ethos und Pathos auf das durch den „Entschluß zur Z u k u n f t " (Freyer) gekennzeichnete Zeitalter über. Als säkularisierte -»Eschatologie entwirft die Zeitutopie den Endpunkt eines linearen historischen Prozesses, der die real mögliche Emanzipation der Menschheit verheißt. Dieser Hintergrund erklärt die f ü r das Jahrhundert charakteristische ideologische Brisanz des Begriffs. „Utopie" im Sinne von -»Traum, Hirngespinst und Phantasterei gleichermaßen wie „Utopist" im Sinne von „Schwärmer" und „Phantast" werden zu politischen Gesinnungsbegriffen, vorrangig im Kontext der Schriften der -»Frühsozialisten und ihrer liberalen Gegner einerseits wie der einschlägigen Marx-Engelsschen Kritik ( - » M a r x / Marxismus) andererseits. Von konservativer Seite aus steht die Desavouierung der Utopie im Dienste der Zementierung eines politisch-sozialen Immobilismus mittels der Berufung auf unhintergehbare, gleichsam utopieresistente anthropologische Grundkonstanten. Bestimmend jedoch wirkt die Kritik im Kommunistischen Manifest (1848) am Utopismus der frühsozialistischen Theorien von Robert Owen (The New Moral World, 1836), Charles Fourier (Le Nouveau M o n d e Industriel, 1829) und Claude Henry Saint-Simon

Utopie I

471

(Nouveau Christianisme, 1825), die im Vorwurf der Ohnmacht und Willkürlichkeit der Theorien gipfelt in Abhebung des streng wissenschaftlichen Selbstverständnisses der marxistischen Theorie. Auch Friedrich Engels' Schrift Die Entwicklung des Socialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1883) bescheinigt den Sozialutopien letztlich bei aller Würdigung einen phantastischen, nicht realisierbaren Charakter. Angesichts der marxistischen Hypothese, die eine prognostische Valenz hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse allein ihrer wissenschaftlichen Erforschung einräumt, erscheint nunmehr die politische Utopie in ihrer Funktion als Prognose depotenziert. 4.4. Das 20. Jahrhundert:

Die reflexive Wendung auf das

Utopische

Zu Beginn des 20. Jh. verbindet sich die Kritik am angeblich verfehlten Programm der —»Sozialdemokratie mit anthropologischen, kulturhistorischen und wissenssoziologischen Theorien, die die Produktion von Utopien mit einer spezifischen Bewußtseinslage in politisch-sozialen Umbruchzeiten verbinden. Es entsteht, zunächst bei unorthodoxen Außenseitern des sozialistischen Lagers (Gustav Landauer [1870-1919]; Herbert George Wells [1866-1946]), ein neuer, positiver Begriff der Utopie: die Utopie rückt zum anerkannten Medium der literarischen Reflexion über positive Möglichkeiten der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung auf. Utopien gelten als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse einer Epoche und als Ausdruck der über sie hinausweisenden Ideen und Bestrebungen, „Utopisten" nun entsprechend als „Herolde, welche das Herannahen einer neuen Zeit ankündigen" (Ludwig Stein, zit. nach Hölscher 783). Das dem älteren Utopiebegriff inhärente Urteil über die Unmöglichkeit der Verwirklichung einer politischsozialen Reformidee relativiert sich zur Anerkennung seiner bloß aktuell bedingten Unmöglichkeit und gibt zugleich die Perspektive auf zukünftige Realisationsmöglichkeiten frei. Entsprechend der Definition K. Mannheims ist utopisch „ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ,Sein' nicht in Deckung befindet. Diese Inkongruenz erweist sich stets darin, daß ein solches Bewußtsein im Erleben, Denken und Handeln sich an Faktoren orientiert, die dieses ,Sein' verwirklicht nicht enthält" (Mannheim 3 169). Neue Ideen können entweder in der Form progressiver Utopien oder der Form reaktionärer Ideologien in Erscheinung treten. Generell ist für das 20. Jh. eine Verschiebung der Interessenlage von der konkreten Produktion von Utopien hin zur reflexiv-theoretischen Einholung deren allgemeiner Intention im Begriff des „Utopischen" zu konstatieren. Die umfassendste Analyse hat E. Bloch dem Phänomen des Utopischen gewidmet. Für Bloch faßt das Utopische als „zeitlich gerichtete Anspannung menschlichen Wünschens und Hoffens alle Elemente des menschlichen Bewußtseins zusammen, in denen sich dessen Verlangen nach einer besseren Welt manifestiert" (Hölscher 787), stellt ein seelisches Potential zur Überwindung des bloß Tatsächlichen dar, fungiert mithin als eine anthropologische Konstante. Gegen den Vorwurf der reinen Schwärmerei macht Bloch geltend: „Auch Utopien haben ihren Fahrplan" (Bloch 3 555), d . h . sie sind nicht frei über der Geschichte schwebende Wachträume, sondern als „konkrete Utopien" gehorchen sie „einem sozialen Auftrag, einer unterdrückten oder erst sich anbahnenden Tendenz der bevorstehenden gesellschaftlichen Stufe" (ebd. 556). Schließlich stellt sich im Rückblick auf utopische Entwürfe der Vergangenheit ein Bewußtsein der Konvergenz von Utopie und Geschichte ein. Wie Wilhelm Liebknecht (1826-1900) schon 1890 feststellt, ist „die Wirklichkeit... der kühnsten Phantasie vorangeeilt" (zit. nach Hölscher 785). Dieses Bewußtsein ist vor allem für die erstmalig im 20. Jh. auftretenden Gegen- oder Dystopien kennzeichnend. Bei diesen Formen hat sich die Richtung der utopischen Kritik umgekehrt: so warnt Aldous Huxleys Brave New World (1932) vor den Gefährdungen der industriellen Massengesellschaft, George Orwells 1984 (1949) vor den Gefahren des totalitären Sozialismus. Die utopische Projektion der gesellschaftlichen Wirklichkeit erscheint als Menetekel der in der Gegenwart angelegten Entwicklungstendenzen. Das für das 20. Jh. vorherrschende Verständnis des Utopischen als anthropologisches Grunddatum bzw. als Dimension gesellschafts-

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Utopie I

kritischen Denkens bedingt im Gegensatz zum ursprünglichen, enger umschriebenen, klassischen Begriff der Utopie eine gewisse Vagheit, Unbestimmtheit und Fragwürdigkeit. Die gegenwärtige Diskussion steht vorrangig unter dem Zeichen des Z u s a m m e n b r u c h s der sozialistischen Staaten und der Desavouierung der marxistischen Utopie, jedoch läßt sich seit E n d e der 60er J a h r e neben der ungebrochenen Präsenz des utopischen Trivialgenres der Science Fiction vor allem im angelsächsischen S p r a c h r a u m eine Konjunktur feministischer Utopien, n a c h inhaltlichen Motiven wie formaler Gestaltung dem klassischen Genre der literarischen Utopie zuzurechnen, feststellen. Im Vordergrund dieser E n t w ü r f e stehen die Neukonstitution des Geschlechterverhältnisses und die Konzeption eines nicht-herrschaftlichen Verhältnisses von M e n s c h und N a t u r . 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Utopie II

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Friederike Küster

II. Kirchengeschichtlich 1. Überblick und Fragestellung 2. Die gemeinsamen Schnittmengen von utopischem und chiliastischem Denken 3 . Die Differenz zwischen Utopia und dem Paradies 4. Der „neue M e n s c h " in utopischer und chiliastischer Perspektive 5. Utopische und chiliastische Zeitdiagnose 6. Divergierende Zeithorizonte des utopischen und chiliastischen Denkens 7. Abschließende Bemerkungen (Quellen/Literatur S . 4 7 8 )

1. Überblick

und

Fragestellung

Das Verhältnis der modernen Utopie zur institutionalisierten -»Religion sowohl des Protestantismus als auch des Katholizismus ist komplex. Entstanden mit der Utopia des Thomas -»Morus im Jahr 1516, überlappt sie sich seit der Frühen -»Neuzeit zwar mit dem von der jüdisch-christlichen Tradition geprägten Kulturkreis vor allem Westeuropas und ist in den von den anderen Weltreligionen geprägten Zivilisationen ursprünglich nicht präsent. Doch bemerkenswert erscheint auch, daß die utopischen Entwürfe seit Morus im Kern säkularisierte Konstrukte sind, die in der Regel Religionen zwar als eine Art Subsystem vorsehen. Doch dem konstruktiven Geist des „Machens" verpflichtet, sind sie für das Funktionieren der fiktiven gesellschaftlichen Totalität eher peripher: auf keine spezifische Religion festgelegt, können die geistlichen Institutionen utopischer Entwürfe vernünftig-deistische (z.B. Vairasse), naturreligiöse (Lahontan), protestantische (z.B. J.V. —»Andreae) oder katholische Inhalte (z.B. Lesconvel) transportieren, ja, als „Republik der Atheisten" (Fontenelle) verzichten sie zuweilen ganz auf theologische Festlegungen. Diese religions- und kirchengeschichtliche Neutralität des utopischen Denkens selbst gegenüber den polarisierenden Wirkungen von -»Reformation und Gegenreformation (-»Katholische Reform und Gegenreformation) kann bei genauerem Hinsehen wenig überraschen: Die das Mittelalter beherrschende augustinische Orthodoxie (-»Augustin/ Augustinismus) ist von einem englischen Utopieforscher als geradezu antiutopisch bezeichnet worden (Kumar 11). Wenn die Welt des gefallenen Menschen ein Tal der Tränen, eine Periode der notwendigen Leiden und der damit verbundenen Bewährung und Reinigung ist, bevor sie durch göttliche Vermittlung erlöst werden kann, dann ist ein Standpunkt bezogen, in dessen Perspektive jeder Versuch, ein -»Paradies auf Erden zu errichten, als hybride Anmaßung erscheinen muß (vgl. Nipperdey, Utopia 125). Andererseits enthalten die Bücher des Alten und des Neuen Testaments freilich genügend chiliastisch-eschatologische Passagen von der Genesis (-»Pentateuch) über die Prophezeiungen des -»Jesaja und das Matthäusevangelium (-»Evangelien, Synoptische) bis hin zur -»Apokalypse des Johannes, an die ketzerische Bewegungen und Interpreten anknüpfen konnten, welche die antiutopische Einstellung des —»Augustin nicht teilten.

Utopie II

474

Doch die kirchen- und religionsgeschichtliche Relevanz des utopischen Denkens läßt sich erst behaupten, wenn eine gemeinsame Schnittmenge der chiliastisch-eschatologischen Weltsicht mit der modernen Utopie nachweisbar ist. Zugleich ist aber auch zu prüfen, ob utopische und paradiesische Vorstellungen, die Konzeption des „neuen Menschen" in beiden Ansätzen, ihre spezifischen zeitdiagnostischen Instrumentarien sowie ihre unverwechselbaren Zeithorizonte tatsächlich in Ubereinstimmung zu bringen sind. Erst nach Prüfung dieser Fragen kann zu dem Problem Stellung genommen werden, ob es eine kirchengeschichtlich relevante „christliche Utopie" überhaupt gibt. 2. Die gemeinsamen

Schnittmengen

von utopischem

und chiliastischem

Denken

Tatsächlich hat die Utopieforschung das mittelalterlich-christliche und das jüdische Erbe des modernen utopischen Denkens seit Morus niemals geleugnet. Es ist, kurz gefaßt, auf die folgenden Formeln zu bringen: 2.1. Das Paradies (vgl. Gen 3,16—19) als Gegenbild zu den kritikwürdigen Verhältnissen der Menschen ist im chiliastischen Denken nicht im Jenseits, sondern - wie die utopische Fiktion - in dieser Welt angesiedelt. Zudem teilt die biblische Paradiesvorstellung mit dem utopischen Paradigma die Prämisse, daß eine Welt ohne das -•Böse möglich ist, sofern zwei Bedingungen erfüllt sind: Dem Kampf um Besitz (-»Eigentum) muß ebenso der Boden entzogen sein wie der aus der -»Sexualität folgenden Rivalität. Tatsächlich kennt nach dem Bericht der Genesis der Garten Eden weder über die Unterscheidung von Mein und Dein vermittelte Konkurrenzbeziehungen noch sexuelle Begierden (vgl. Finley 6f.). 2.2. Selber ein Beispiel göttlicher Vollendung, hat nach M t 5,48 für das chiliastische Denken keine geringere Autorität als Jesus selbst verfügt, daß die Menschen sich perfektionieren sollen: ein Postulat, das durch das im frühen Christentum weitverbreitete neuplatonische Denken (—»Neupiatonismus) noch zusätzliche Impulse erhielt (vgl. Cohn [1961] 162). Damit gerät auch dieser Topos in ein Immediatverhältnis zum utopischen Denken, weil dessen Konstrukte idealer Gemeinwesen mit der Schaffung eines „neuen Menschen", der die Defizite der auf Egoismus und Machtakkumulation beruhenden Herkunftsgesellschaft überwunden hat, steht und fällt. 2.3. Die Idee des -»Chiliasmus verweist insofern auf den utopischen Ansatz, als das Konzept des Millenniums eine intermediäre Ebene zwischen der rein irdischen Existenz der gefallenen Menschen und der rein himmlischen Seinsweise der Erlösten darstellte. Es handelt sich also um eine Form der —»Transzendenz, die Erde und Himmel eher verbindet als unversöhnlich trennt, wie die orthodoxe Doktrin des Augustin dies fordert. Die chiliastische Erwartung des tausendjährigen Zwischenreichs lebt also von der Perspektive eines neuen Himmels und einer neuen Erde, die in ihrer paradiesischen Vollkommenheit auf den Garten Eden vor dem Sündenfall des Menschen zurückgreift und gleichzeitig die zukünftigen Wonnen des ewigen Lebens vorwegnimmt (vgl. Kumar 17). 2.4. Zwar steht die Dreistadienlehre des -»Joachim von Fiore „formal nicht im Widerspruch zu Augustin" (R. Konrad: TRE 7,735,5). Auch fühlt sich Joachim bei aller „Lebendigkeit der Reichserwartung . . . ganz dem zweiten Status der Kirche zugehörig" (ebd., Z. 5—7). Doch im Unterschied zu Augustin betont er folgenreich die Erwartung des Dritten Zeitalters des Heiligen -»Geistes als Endphase der historischen Entwicklung, an die seine Schüler, allen voran franziskanische Spiritualen, anknüpfen. Wenn so im chiliastischen Denken nicht mehr die Hierarchie der -»Kirche, sondern die Mönche (—»Mönchtum) zum Vorbild für die Menschheit aufsteigen, dann ist zugleich auf die Affinität hingewiesen, die das mittelalterliche Kloster mit der Organisationsstruktur der klassischen utopischen Gemeinwesen der Frühen Neuzeit verbindet. Hervorgehoben wird der disziplinierte Tagesablauf, das frugale, auf jeden Luxus verzichtende Leben, die einfache und uniforme Kleidung sowie das hohe Ansehen der physischen Arbeit auf

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Utopie II

der Grundlage des Gemeineigentums (vgl. Seibt 15f.; Oexle 3 3 - 8 4 ) . Diese Strukturen finden sich in Morus' Utopia, in Tommaso Campanellas (1568-1639) Sonnenstaat und in J . V. Andreaes Christianopolis wieder. Selbst Francis Bacons (1561-1626) Wissenschaftsorganisation des „Hauses Salomon", wie er sie in seinem New Atlantis (1627) schildert, kann sein Vorbild im Muster des mittelalterlichen Klosters nicht leugnen.

Doch die Frage ist, ob diese gemeinsamen Merkmale ausreichen, eine Ineinssetzung von chiliastischem und utopischem Denken hinreichend zu begründen. Wenn es zutrifft, daß die antiken und christlichen Komponenten zwar in die Genesis des utopischen Konstrukts eingegangen sind, aber nicht mit diesem selbst verwechselt werden dürfen, dann stellt sich die Frage nach der Differenz zwischen beiden Ansätzen in aller Schärfe, weil nur auf der analytischen Folie ihrer Diskrepanzen das spezifische und unverwechselbare Profil der modernen Utopie abbildbar ist. 3. Die Differenz

zwischen

Utopia und dem

Paradies

Zwar hat die biblische Paradies-Vorstellung der modernen Utopie in dem Sinne vorgearbeitet, daß sie der Sehnsucht nach einer besseren Alternative zu den bedrückenden Lebensverhältnissen der Herkunftsgesellschaft bildhaft Ausdruck verleiht. Aber eine genaue Komparatistik beider Ansätze zeigt ebenso klar, daß sie von geradezu entgegengesetzten Prämissen ausgehen, die sich bis auf die Ästhetik ihrer Formensprachen auswirken. Während der Utopia des Thomas Morus ein klarer Gattungstyp zugrunde liegt, der - in welcher literarischen Gestalt auch immer - in der Darlegung seiner „Geschichte" auf die diskursive Argumentation festgelegt ist, entzieht sich die Metaphorik des Paradieses einer eindeutigen Gattungsbezeichnung (vgl. Hesse 99). Elemente des -»Märchens und der Sage assimilierend, ähnelt die Paradies-Erzählung einem -»Mythos, dessen Symbole vom Wandeln Gottes im Garten über den Lebensbaum und den Baum der Erkenntnis bis hin zur Schlange reichen. Vor allem aber bleibt die transzendente Stoßrichtung der biblischen Paradiesvorstellung selbst dann in Kraft, wenn sie auf Erden verwirklicht werden soll. Gebunden an Zeit und Ort, die nicht von dieser Welt sind, ist und bleibt ihr Vorbild der Zustand der Menschen vor dem Sündenfall und nach dem Jüngsten Gericht (vgl. List 133 Anm.). So gesehen ist das Paradies der Ort, „an dem die Frommen wie einst in der Urzeit mit Gott leben werden" (Hesse 97). Nicht die irdische Welt, in der die Menschen ihre Geschicke weitgehend selbst bestimmen, ist die Prämisse der Paradies-Erzählung, sondern jene natürliche Unschuld vor und nach der Geschichte, die allein Gott gewähren kann. Der Ausgangspunkt des utopischen Konstrukts ist demgegenüber ein ganz anderer. Für Morus' Utopia ist der Rekurs auf Bibel-Zitate peripher, wenn nicht bedeutungslos. Die Quelle seiner Inspiration ist neben der Aneignung der antiken Schriftsteller, vor allem der Politeia des —»Plato, jene Welle der -»Säkularisierung, die mit der Entdeckung der Neuen Welt mächtige Impulse erhielt. Morus geht es also nicht um die Schilderung der Vergangenheit und der Zukunft der Menschheit, nachdem sie ihre unmittelbare Gemeinschaft mit Gott preisgegeben hat. Auch rechnete er nicht mit einer natürlichen Fülle der Güter, die alle Konfliktursachen per se beseitigt. Vielmehr liegt dem utopischen Ansatz der realistische Erwartungshorizont zugrunde, daß die wirkliche Welt auf unabsehbare Zeit mit einem absoluten Mangel an Ressourcen konfrontiert ist.

Ausschließlich das Resultat menschlicher Anstrengungen und nicht eines transzendenten Gnadenaktes, erscheint im Unterschied zur Paradies-Konzeption Morus' Utopia ferner als das Resultat der Analyse jener Gesellschaft, aus der ihr Autor stammt und der sie zugleich als die bessere Möglichkeit entgegentritt. Die Alternative besteht nicht darin, daß man den irdischen Lastern und Beschäftigungen entsagt, um ein frommes Leben zu führen. Worauf es ankommt, ist vielmehr, die aufgezeigten weltimmanenten, von den Menschen selbst zu verantwortenden Ursachen des Elends zu beseitigen: Erst dann sind die Fundamente Utopias gelegt. 4. Der „neue Mensch"

in utopischer

und chiliastischer

Perspektive

Die Bedingung der Möglichkeit einer Wiedererlangung des Paradieses steht und fällt mit der Annahme, daß der -»Mensch ein vervollkommnungsfähiges Wesen sei: ein an-

476

Utopie II

thropologisches Axiom, das, wie gezeigt, gleichfalls für das utopische Denken konstitutiv ist. Doch auch diese scheinbar gemeinsame Prämisse wird durch tiefgreifende Differenzen relativiert. Die chiliastischen „Schwarmgeister" waren überzeugt, sie seien von der -»Sünde erlöst und verkörperten bereits den „neuen Menschen". „Sie hofften, bald bei dem erhöhten Herrn zu sein; der Zugang zum Gottesreich war ihnen offen" (Schütz 468); insofern hätten die vom Geist Gottes Getriebenen auch kein irdisches -»Gesetz mehr nötig: eine Überzeugung, aus der in der chiliastischen Praxis ein unübersehbarer antiinstitutioneller Impetus resultierte, der nicht nur den säkularisierten Staat und das Privateigentum, sondern auch Institutionen wie die der -»Ehe und der -»Familie in Frage stellte (List 185). Alles zielte darauf ab, den egalitären Zustand der christlichen Urgemeinde wiederherzustellen, der die Einführung des Gemeineigentums zur zwingenden Voraussetzung erhob. Von diesen Vorstellungen ausgehend ist im 16. Jh. eine Polarisierung chiliastischer Handlungsstrategien zu beobachten. Auf der einen Seite verwies -»-Müntzers „apokalyptische Predigt . . . nachdrücklich auf das kommende Gericht über die Bösen" (R. Bauckham: T R E 7,738,11 f.). An der Herbeiführung des irdischen Gottesreiches hätten die Erwählten durch aktiven Kampf mitzuwirken. Auf der anderen Seite schloß ein Täufer wie -»Menno Simons nach der Katastrophe von Münster (vgl. T R E 32,608-610) „die Erwartung eines irdischen Heilsreiches" (TRE 7,738,28) aus. Dessen Realisierung wurde im Medium gewaltfreier Geistigkeit spiritualisiert. Demgegenüber sind die „neuen Menschen" Utopias keineswegs a priori vollkommen. Ihre anthropologische Grundausstattung gleicht einer tabula rasa-. Sie kann durch äußere Einflüsse in eine positive oder negative Richtung modelliert werden (Jorgensen 830). Im Gegensatz zum chiliastischen Selbstverständnis spielen daher in der Raum-Utopie der Frühen Neuzeit Institutionen eine entscheidende Rolle: In Staat, Wirtschaft, Familie, Bildungswesen, Religionsgemeinschaft und Schule haben sie dafür zu sorgen, daß die konstruktiven Anlagen der Menschen gefördert und ihr destruktives Potential durch vernünftige Gesetze reprimiert wird. Zwar wurde in den Raum-Utopien der Frühen Neuzeit in der Regel gleichfalls dem Mein und Dein der Boden entzogen. Doch im Unterschied zum Chiliasmus hielt man an einer hierarchischen Ordnung fest, die vom politischen System bis zur patriarchalischen Familienstruktur reichte. 5. Utopische und chiliastische

Zeitdiagnose

Die Differenzen, die die biblischen Paradies-Vorstellungen und die chiliastische Konzeption des „neuen Menschen" vom utopischen Denken trennen, scheiden auch den utopischen und chiliastischen Erfahrungshorizont ihrer jeweiligen Herkunftsgesellschaften. Im utopischen Denken konstituiert sich der Realitätsbezug der Fiktion einer idealen Gesellschaft in der kritischen Analyse gesellschaftlicher Fehlentwicklungen. „Utopie ist K r i t i k " , schreibt Nipperdey, „und zwar grundsätzliche K r i t i k " (Nipperdey, Funktion 3 6 2 ) . Sie richtet sich nicht als moralischer Appell an Personen - seien es die Gewinner und Verlierer oder die T ä t e r und Opfer der innergesellschaftlichen Polarisierung. Vielmehr zielt sie auf das Z e n t r u m des Systems, auf die „Eigentumsverfassung ü b e r h a u p t " (ebd.). Tatsächlich haben die Klassiker des utopischen Denkens stets darauf geachtet, daß sie die Mechanismen der in ihren Augen ungerechten Herrschaft von Menschen über Menschen bloßlegten. In aller Regel von den sozialen und politischen Machtverhältnissen ausgehend, die sie in der eigenen Herkunftsgesellschaft vorfanden, wollten sie vor allem den Nachweis führen, daß das A u s m a ß der Über- und Unterordnung im gesellschaftlichen Z u s a m m e n h a n g bei weitem jenes M i nimum überschritt, welches angesichts des Standes der wissenschaftlich-technischen Entwicklung für die Reproduktion der Gesellschaft unverzichtbar ist. Der kategoriale R a h m e n , innerhalb dessen diese Bestandsaufnahme durchgeführt wurde, w a r interdisziplinär wie die Komponenten des kritisierten Herrschaftssystems selbst: er integriert ökonomische, gesellschaftliche, philosophische und politische Aspekte, die in ihrer Totalität dem Ideal dessen, was sein könnte, aber nicht ist, konfrontiert werden.

Utopie II

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Was für die Utopie die Sozialkritik bedeutet, ist für das chiliastische Paradigma die Apokalypse (-•Apokalyptik/Apokalypse). Sie läßt sich durch zwei Strukturmerkmale kennzeichnen. Einerseits dominieren in ihr nicht analytische Kategorien, sondern „dunkle und ungewöhnliche Bilder und Motive" (Ringgren 465). Auf die Einheitlichkeit der Gedankenführung und auf diskursive Stringenz weitgehend verzichtend, scheint die „Unbestimmtheit und Unklarheit" der apokalyptischen Botschaft beabsichtigt zu sein; sie soll „den Eindruck des Geheimnisvollen" verstärken und das „Unsagbare und Unergreifbare andeuten" (ebd.). So treten Völker, Reiche und Könige „als Tiere, Berge und Wolken usw. auf. . . . Auch Zahlenspekulationen spielen dabei eine Rolle; symbolische Zahlenwerke wie 3'A, 4, 7, 70 und 12 sind häufig" (ebd.).

Dem entspricht, daß sich die dem utopischen und dem chiliastischen Ansatz zugrunde liegenden Motive einander ausschließen. Nicht Aufklärung über die von den Menschen selbst verschuldeten Ursachen depravierter sozialer Verhältnisse ist die Stoßrichtung des apokalyptischen Paradigmas, sondern die Mobilisierung von individuellen und kollektiven Ängsten vor der Strafe Gottes (-»Strafe), die - abgesehen von der kleinen Elite der Frommen - die große Mehrheit des in Laster und Sünde verstrickten Menschengeschlechts treffen wird (Jepsen 658f.). 6. Divergierende

Zeithorizonte

des utopischen

und chiliastischen

Denkens

Noch wichtiger aber ist, daß der transzendente Bezug des chiliastischen Denkens die Vision eines tausendjährigen „Zwischenreiches" in einen Zeithorizont einbindet, wie ihn die europäische Geschichte bisher nicht kannte. Lebte das antike Denken von der Vorstellung einer zyklischen Geschichtsentwicklung, deren Prämisse die ewige Wiederkehr des Gleichen war, so wird im chiliastischen Denken die historische Welt im Blick auf das Jüngste Gericht interpretiert: Die Wiedererlangung des Paradieses erfolgt also in der Zukunft; es ist diese Erwartung, durch die die Geschichte ihren Sinn erhält. Demgegenüber „drücken (die frühen Raumutopien) eher Differenz aus — Utopia liegt nicht auf einer Entwicklungslinie, sondern bezeichnet eine Alternative - nicht Progression oder Steigerung" (j0rgensen 375). Die utopische Insel und die kritikwürdigen Zustände der Herkunftsgesellschaft existieren zeitgleich. Weil beide in der Gegenwart verankert sind, kennt das ursprüngliche utopische Muster die Projektion seiner idealen Gemeinwesen in die Z u k u n f t nicht. Diese spielt nur insofern eine Rolle, als sie, punktuell durch fiktive Modelle einer besseren Alternative gleichsam spielerisch-experimentell antizipiert, darauf besteht, daß die Welt, wie sie ist, positiv verändert werden kann, wenn ein bestimmter Grad der Naturbeherrschung vorläge und sich die Menschen bereit fänden, ihre eigenen Verhältnisse gemäß den Maximen ihrer Vernunft umzugestalten. So gesehen war es kein Zufall, daß die Architekten der frühneuzeitlichen RaumUtopie im 16. und 17. Jh. das Angebot der chiliastischen Geschichtsphilosophie ausschlugen, ihren idealen Staat in die Z u k u n f t zu verlegen: Beide Denkansätze waren schlicht inkompatibel. Jener setzte auf die Rationalität der planenden menschlichen Vernunft; dieser glaubte, den Willen Gottes als das movens der Geschichte erkennen zu können. Kompatibel im Sinne einer Konvergenz wurden beide Konzeptionen erst in der Mitte des 18. Jh. mit der Entstehung der Zeit-Utopie (vgl. Koselleck 1 - 1 4 ) bei Abbé Morelly (um 1715- nach 1778) und Louis-Sébastien Mercier (1740-1814), nachdem die Geschichtsphilosophie sich vom eschatologischen Heilsgeschehen verabschiedet und I. - • K a n t den Chiliasmus gleich in zweierlei Hinsicht destruiert hatte. Einerseits stilisierte er das Ziel der Geschichte in Gestalt des himmlischen -»Jerusalem zu einem Postulat des „göttlichen (ethischen) Staates", den man immer nur annäherungsweise erreichen kann. Andererseits nahm er „die Erwartung des nahen Reiches der Gerechten in der Zeitlichkeit" (Jorgensen 390) in die Subjektivität des Individuums zurück und entschärfte damit ihren kollektiven Geltungsanspruch. Kant zog nur die letzten Konsequenzen aus der für die Aufklärung so charakteristischen Einsicht, daß, wie Blumenberg schreibt, „Entstehung der Fortschrittsidee und ihr Einspringen für die von Schöpfung und Gericht begrenzte Gesamtgeschichte . . . zwei verschiedene Vorgänge [sind]" (Blumenberg [1974] 60). Im Gegensatz zur chiliastischen Geschichtskonzeption

Utopie II

478

setzt in der T a t der Fortschritt „als eine Aussage über die Totalität der Geschichte und d a m i t der Z u k u n f t " eine empirische Basis „in der Erweiterung der theoretisch zugänglich und verfügbar gewordenen Realität und in der Leistungsfähigkeit der dabei effektiven theoretischen M e t h o d i k " (ebd.) voraus. 7. Abschließende

Bemerkungen

W a s folgt begriffsanalytisch aus der Rekonstruktion der Übereinstimmungen und Differenzen des christlichen und utopischen Denkens? Selbstverständlich kann m a n an der O p t i o n einer „christlichen U t o p i e " festhalten. Die gemeinsamen Schnittmengen des utopischen Denkens mit dem christlichen E r b e des Paradieses, der Vervollkommnungsfähigkeit des M e n s c h e n , der Idee des Millenniums und der Organisationsstruktur des mittelalterlichen Klosters sind aufgezeigt worden. S c h w ä r m t e der Utopist Gabriel de Foigny ( 1 6 3 0 - 1 6 9 2 ) nicht von einem L a n d , in dem „ M i l c h und H o n i g " fließen, und nannte nicht ein A u t o r wie J o h a n n Gottfried Schnabel ( 1 6 9 2 — 1 7 5 1 / 5 8 ) seine Utopie der Insel Felsenburg ein „irdisches P a r a d i e s " ? Lebte M o r u s nicht vier J a h r e in einem Kloster? Und w a r nicht C a m p a n e l l a zeit seines Lebens ein M ö n c h ? D o c h abgesehen d a v o n , daß die chiliastische M e t a p h o r i k bei den genannten A u t o r e n in keinem Fall die spezifische Struktur des utopischen M u s t e r s sprengt, hat diese O p t i o n einen bedeutsamen Nachteil in Kauf zu nehmen: Sie m u ß den Begriff der Utopie bzw. des Chiliasmus so weit fassen, d a ß sie die aufgezeigten Differenzen mit einzuschließen hat. Ihr heuristischer Gebrauchswert und ihre analytische Trennschärfe sind also denkbar gering. Quellen Johann Valentin Andreae, Christianopolis (1619), 1972 H982 (QFWKG 4). - Francis Bacon, New Atlantis (1627): The Works of Francis Bacon, collected and ed. by James Spedding, London, III 1870 = Stuttgart-Bad Cannstatt, III 1963; dt.: Neu-Atlantis. Der utopische Staat, hg. v. Klaus J . Heinisch, Reinbek 1960. - Tommaso Campanella, La città del sole (1602): ders., Opere, hg. v. Alessandro D'Ancona, Turin 1854; dt.: Sonnenstaat. Der utopische Staat, hg. v. Klaus J . Heinisch, Reinbek 1960. - Gabriel de Foigny, La Terre Australe connue etc., Vannes 1676. - Bernard Le Bovier de Fontenelle, Histoire des Ajaoiens (1779), hg. v. Hans-Günter Funke, Heidelberg 1982. - Louis-Sébastien Mercier, L'An deux mille quatre cent quarante, Paris 1770; dt.: Das Jahr 2440, Frankfurt a. M . 1982. - Louis Armand de Lahontan, Suite de Voyage, de l'Amérique ou Dialogues de Monsieur le Baron de Lahontan et d'un Sauvage dans l'Amérique, Amsterdam 1704; dt.: Gespräche mit einem Wilden, Frankfurt a. M . 1981. - Pierre de Lesconvel, Relation du Voyage du Prince de Montberaud dans l'Ile de Naudely, Merinde 1706. - Thomas More, Utopia (1516): ders., The Complété Works, ed. Edward Surtz/Jack H. Hexter, New Häven/London, IV 1965; dt.: Utopia. Der utopische Staat, hg. v. Klaus J . Heinisch, Reinbek 1960. - (Abbé) Morelly, Code de la Nature (1755-1760), hg. v. Albert Soboul, Paris 1953; dt.: Gesetzbuch der natürlichen Gesellschaft oder der wahre Geist ihrer Gesetze, hg. v. Werner Krauss, Berlin 1964. - Johann Gottfried Schnabel, Insel Felsenburg (1731-1743), hg. v. Voler Meid/Ingeborg Springer-Strand, Stuttgart 1979. - Denis Vairasse, Histoire des Sevarambes, peuples qui habitent une partie du troisième Continent, communément appellé La terre australe, 2 Bde., Amsterdam 1702. Literatur Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966 '1996; erw. u. Überarb. NA u.d.T.: Säkularisierung u. Selbstbehauptung, Frankfurt a . M . 1974. - Norman Cohn, The Pursuit of the Millennium, London 1957; dt.: Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus u. sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, Bern 1961. Moses I. Finley, Utopianism Ancient and Modern: The Critical Spirit. FS Herbert Marcuse, hg. v. Kurt H. Wolf/Barrington Moore Jr., Boston, Mass. 1967. - Franz Hesse, Art. Paradies. III. Paradieserzählung: R G G 3 5 (1961) 9 8 - 1 0 0 . - Günther List, Chiliastische Utopie u. radikale Reformation. Die Erneuerung der Idee vom Tausendjährigen Reich im 16. Jh., München 1973. - Alfred Jepsen, Art. Eschatologie. II. Im AT: R G G 3 2 (1958) 6 5 5 - 6 6 2 . - Sven-Aage Jergensen, Utopische Potentiale in der Bibel. Mythos, Eschatologie u. Säkularisation: Utopieforschung, hg. v. Wilhelm Voßkamp, Frankfurt a . M . , I 1985, 375 - 4 0 1 . - Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Utopie: ebd., III 1985, 1 - 1 4 . - Krishan Kumar, Utopia and Anti-Utopia in Modern Times, Oxford/New York 1987. - Thomas Nipperdey, Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit: AKuG 44 (1962) 3 5 7 - 3 7 8 . - Ders., Die Utopia des Thomas Morus u. der Beginn der Neuzeit:

Utopie III

479

ders., Reformation, Revolution, Utopie, Göttingen 1 9 7 5 , 1 1 3 - 1 4 6 . - G e r h a r d Oexle, Wunschräume u. Wunschzeiten. Entstehung u. Funktionen des utopischen Denkens in M A , Früher Neuzeit u. Moderne: J ö r g Calließ (Hg.), Die Wahrheit des Nirgendwo. Z u r Gesch. u. Zukunft des utopischen Denkens, R e h b e r g - L o c c u m 1994, 3 3 - 8 3 . - Helmer Ringgren, Art. Apokalyptik. II. Jüdische Apokalyptik: R G G 3 1 (1957) 4 6 4 - 4 6 6 . - Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991; mit einem Vorw. zur 2. Aufl. (Utopisches Denken u. keine Ende?), B o c h u m 2 0 0 0 . - Roland Schütz, Art. Apokalyptik. III. Altchristliche Apokalyptik: R G G 3 1 (1957) 4 6 7 - 4 6 9 . - Ferdinand Seibt, Modelle totaler Sozialplanung, Düsseldorf 1972.

Richard Saage

III. Dogmatisch und ethisch 1. Eschatologie und Utopie 2. Stärken und Probleme utopischen Denkens Konzeptionalisierungen der Utopie 4. Systematisch-theologische Erwägungen

1. Eschatologie

und

3. Theologische (Literatur S. 4 8 4 )

Utopie

Die Erörterung der Relevanz utopischen Denkens für die Theologie als ein „vom christlichen Glauben inaugurierte[s] Denken" (Ebeling 18) bedarf zunächst einer Unterscheidung der Utopie von demjenigen Topos, in dem die Theologie das im Glauben implizierte Verständnis des Zukünftigen thematisiert: der -»Eschatologie. Utopie und Eschatologie lassen sich in drei wesentlichen Punkten voneinander unterscheiden: 1.1. Utopie und Eschatologie haben verschiedene Wurzeln, insofern sie in unterschiedlichen geschichtlichen Denktraditionen beheimatet sind: „Die Utopie hat ihren geschichtlichen Ort in der Tradition des philosophischen Denkens, die von den Griechen herkommt. Die Eschatologie hat ihren Ort in der Tradition des christlichen Glaubens, die von der Bibel und den Juden herkommt" (Kamiah 25). Hiermit verbindet sich auch eine unterschiedliche Reflexionsgestalt: „Die Utopie ist ein Unternehmen der philosophischen Vernunft. Die eschatologische Rede dagegen ist eine Unternehmung des christlichen Glaubens" (ebd. 31). Diese Differenzierung hinsichtlich der geschichtlichen Wurzeln ist jedoch nur dann berechtigt, wenn sie drei wesentliche Gesichtspunkte nicht überspielt: Zum einen weist auch die christliche Tradition utopisches Denken auf (s.o. I); zum anderen leben die Utopien seit Th. -»Morus auch von eschatologischen Bildern, Symbolen und Vorstellungen und erweisen damit ihre Herkunft aus dem von der christlich-jüdischen Tradition geprägten Kulturkreis (s.o. II). Schließlich ist hinsichtlich der Unterscheidung von Vernunft und Glaube fundamentaltheologisch die Angewiesenheit menschlichen Erkennens auf die passive Erschließung von Evidenz (vgl. Herms, Offenbarung 176ff.) ebenso zu bedenken wie der Sachverhalt, daß sich der Glaube der Erfahrung von Evidenz verdankt (vgl. Roth 209ff.). 1.2. Die Utopie hat Möglichkeiten und Gefahren menschlichen Handelns zum Gegenstand, die Eschatologie das Handeln Gottes und die durch Gott eröffnete Zukunft des Menschen. „Die Gottesherrschaft wird nicht vom Menschen errichtet, die Utopie ist nicht Gegenstand göttlicher Verheißung" (Lange 482). 1.3. Im Unterschied zur Utopie, die die Vorstellung einer idealen Gesellschaft (oder das Schreckensbild einer möglichen Entartung der Gesellschaft) zum Gegenstand hat, thematisiert die Eschatologie keine in der Geschichte zu verwirklichende Gesellschaftsform. „Die utopische Zukunft wird entworfen für eine andere Zeit in der Geschichte. Die eschatologische Zukunft befaßt sich mit dem endgültig vollzogenen Ende der Geschichte" (Braaten 329). So ist im Neuen Testament ein Verständnis des Symbols „Reich Gottes" (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) „als politisches Programm schon durch die Art der Darstellung unmöglich gemacht, z. B. im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 2 0 , 1 - 1 5 ) " (Lange 480).

480

Utopie III

2. Stärken und Probleme utopischen

Denkens

Insofern die Utopie die Möglichkeiten und Geiahren menschlichen Handelns im Raum der Geschichte thematisiert, ist sie zwar von der Eschatologie wesentlich unterschieden (s.o. 1.2. und 1.3.), aber in ihrer Relevanz für die Theologie nicht grundsätzlich negiert. Vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern die theologische Reflexion des menschlichen Handelns utopisches Denken zu integrieren vermag. Die Auseinandersetzung mit dem utopischen Denken macht sowohl auf die Stärken des utopischen Denkens (2.1.) als auch auf Probleme aufmerksam, die das utopische Denken zeitigt (2.2.). 2.1. Stärken utopischen

Denkens

2.1.1. Hinweise auf anthropologische Dimension: Nach R Tillich gehören Utopien zum Menschsein des Menschen, insofern ,,[d]ie Utopie im Menschsein selbst [verwurzelt ist]" (Tillich, Bedeutung 198). Als eine anthropologische Notwendigkeit ist die Utopie zu bezeichnen, weil der Mensch ohne das Aus-sich-Heraussetzen von Utopien nicht existieren kann. Das Prinzip aller Utopie ist für Tillich die „Negation des Negativen", vornehmlich die Negation der Endlichkeit und der Entfremdung. „Menschsein heißt: Utopie haben" (ebd.). Gerade das utopische Denken ermöglicht es dem Menschen, „über das Gegebene und Vorhandene hinaus denkend, planend und entwerfend die vorhersehbare Z u k u n f t zu gestalten" (Honecker 262f.). Die „motivierende Zukunftsorientierung durch Utopien [ist] nicht ohne weiteres allein durch ,moderne', pragmatische Rationalität ersetzbar" (Kreß 1184). Auch E. Herms betont, daß die anthropologische Notwendigkeit utopischen Denkens darin besteht, daß soziale Ideale durch Phantasien aufgebaut werden. Diese Phantasien sind „Vorstellungen von möglichen Formen des Gemeinschaftslebens, an denen der Phantasierende selbst teilnimmt. Auch persönliche oder soziale Utopien, Vorstellungen des guten Lebens in vollendeter Gemeinschaft mit idealen Partnern, sind Phantasieprodukte, deren hohe libidinöse Besetzung zur progressiven Erstarkung des Ich beitragen kann, obwohl die phantasierende Person keine Möglichkeit zur Realisierung dieser Vorstellung besitzt" (Herms, Phantasie 325). Dabei hält Herms ausdrücklich daran fest, daß diese Phantasien als nichterfüllbares Ideal angesehen werden und somit ausschließlich als „regulative Ideen" (ebd.) verinnerlicht werden. 2.1.2. Aufweis der Sollensbestimmung des Menschen: Insofern die Utopie das Bild eines Ideals (oder der Entartung eines Ideals) beschreibt, bringt sie den Menschen als einen ,,Sein-sollende[n]" zur Sprache (Thielicke 854). „Die Utopien sind erfüllt vom Pathos des menschlichen Sein-könnens und der Bestimmung des Menschen" (ebd. 860). 2.1.3. Ideologiekritik: Nach K. Mannheim können geistige Konstruktionen unter soziologischem Gesichtspunkt zwei Formen aufweisen: „Sie sind .ideologisch', wenn sie der Absicht dienen, die bestehende soziale Wirklichkeit zu verklären oder zu stabilisieren; ,utopisch', wenn sie kollektive Aktivität hervorrufen, die die Wirklichkeit so zu ändern sucht, daß sie mit ihren, die Realität übersteigenden Zielen übereinstimmt" (Mannheim 256). Als wirklichkeitsverändernde Kraft verhindert die Utopie gegen eine ideologische Verklärung bestehender und vergangener Gesellschaftsformen, daß „eine statistische Sachlichkeit zustande [kommt], in der der Mensch selbst zur Sache w i r d " (ebd. 293). 2.1.4. Sozialkritik: Sowohl indem die Utopie das ideale Bild einer Gesellschaft entwirft als auch indem sie die Entartung einer Gesellschaft beschreibt, vermag sie einen Beitrag zu leisten zur Diagnose der gegenwärtigen Gestalt der Gesellschaft. Die Utopie „entsteht da, wo die Kluft zwischen dem sozial Vorhandenen und dem Erwünschten zu groß erscheint, um im Raum ,tagespolitischen' Handelns . . . überbrückt zu werden, so daß literarisch dem Gegebenen ein Bild des ,eigentlich' Aufgegebenen entgegengestellt werden m u ß " (Thieme 1189). Gerade weil Utopien sich an dem Vorhandenen orientieren (vgl. ebd. 1193), besitzen sie einen diagnostischen Gehalt für die Gegenwart.

481

Utopie III

2.1.5. Wirklichkeitsverändernde Kraft: Nicht zuletzt aus der Perspektive der Befreiungstheologie (-»Theologie II/5.2.) wird kritisiert, daß die Betonung der „himmlischen Heimat" des Christen zur Vergleichgültigung von ,,Projekte[n] für die irdische Heimat" (Libanio/Bingemer 24) geführt hat. Von daher ist das Interesse an der Utopie begründet in ihrer Fähigkeit, als „wirklichkeitsverändernde Kraft, als schöpferischer Entwurf einer neuen Gesellschaft" (ebd. 25) zu fungieren. So wird das „eschatologische Problem der .Rettung in einem Augenblick', der Verdichtung der Geschichte im Augenblick des Todes" nun von dem ,,zunehmende[m] Interesse am sozialen und politischen Engagement, an der sozialen Bedeutung der Utopie im Geschichtsprozeß abgelöst" (ebd.). 2.2. Probleme

utopischen

Denkens

2.2.1. Verkennung des menschlichen "Wesens: In ihrer Schilderung einer idealen Gesellschaft besitzt die Utopie die Tendenz, die wesentliche Fragmentarizität menschlichen Daseins ebenso außer Betracht zu lassen wie das zwiespältige Wesen des Menschen (vgl. Jonas 287ff.). Gerade die theologische Anthropologie wird aufgrund ihrer Einsicht in die Sündhaftigkeit des Menschen (-»Sünde) jede Vorstellung einer idealen Gesellschaftsform ablehnen, die die strukturelle Verkehrung des Menschen außer Betracht läßt und Vollkommenheit als menschenmöglich behauptet (vgl. Honecker 265). 2.2.2. Säkularer Messianismus: Insofern die Utopien das Ideal einer Gesellschaft beschreiben, haben sie die Tendenz, zu säkularen Heilsvorstellungen zu werden (vgl. Honecker 263) und in einen „innerweltlichen Messianismus" (ebd.) umzuschlagen. Von hier aus kann dem utopischen Denken sogar entgegengehalten werden, daß es den Menschen „um seine eigentliche Zukunft [betrügt]" (Hauser 244), weil es die „durchschaubare und erzwingbare Zukunft" (ebd.) als „letzte, eigentliche Erfüllung" (ebd.) ausgibt. 2.2.3. Absolutheitsanspruch: Die Utopie besitzt die Tendenz, ein bestimmtes gesellschaftspolitisches Programm absolut zu setzen und damit anderen möglichen Formen gegenüber intolerant zu werden (vgl. Rieh 233). Darüber hinaus enthalten viele Utopien Prämissen, die nur mit Zwang zu verwirklichen sind (vgl. Honecker 264). Demgegenüber wird betont, daß gerade die Eschatologie den Christen daran zu erinnern hat, daß alle „wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Strukturen unserer Welt" (Rieh 132) relativ und darum „veränderungsfähig und veränderungsbedürftig" (ebd.) sind. Die christliche -»Hoffnung setzt gegen „Fanatismus und Leidenschaft . . . Gelassenheit und ruhiges Vertrauen" (Hauser 250). 2.2.4. Verrat am Gegenwärtigen: Die Utopie tendiert dazu, „im verführerischen Banne einer Totalutopie" (Rieh 182) und dem damit verbundenen „Maximalismus" (ebd.) einen „Verrat des Gegenwärtigen an ein Utopisch-Künftiges, des Unvollkommenen an ein imaginär Perfektes, des Relativen an ein Pseudoabsolutes" (ebd.) zu begehen. So erweist sich die Utopie als unfähig „zu realen Veränderungen des Bestehenden im Interesse der Verwirklichung von mehr Humanität und gesellschaftlicher Gerechtigkeit in der heutigen Zeit" (ebd.). 3. Theologische

Konzeptionalisierungen

der

Utopie

Die unterschiedlichen Funktions- bzw. Ortsbestimmungen der Utopie im Rahmen der Theologie sind gekennzeichnet durch das Bemühen, die Leistungsfähigkeit des utopischen Denkens für die Theologie unter Vermeidung ihrer problematischen Tendenzen fruchtbar zu machen. Drei theologische Konzeptionalisierungen der Utopie lassen sich unterscheiden: 3.1. Utopie als Arbeit am Reich

Gottes

H. Gollwitzer unterscheidet zwischen der Gottesherrschaft als der von Gott zu schaffenden „absoluten Utopie" und der vom Menschen zu schaffenden „relativen Utopie"

482

Utopie III

(vgl. Gollwitzer 55ff.). Beide müssen zwar unterschieden werden, doch ist die relative Utopie nach dem Barthschen Prinzip der analogia fidei auf die absolute Utopie als deren Urbild zu beziehen. Eine enge Zusammengehörigkeit findet sich auch bei F.-W. Marquardt, der eine erste „systematische Entwicklung einer Utopie im Zusammenhang der Dogmatik" (Marquardt 7) beansprucht. Die Theologie bedarf nach Marquardt der Utopie, um gerade die Welt von ihrer künftigen Vollendung her in den Blick zu nehmen. So versucht Marquardt, die „Utopie theologisch zu begreifen als das, was von Gott her, genauer: aus dem Zielwillen des Inneren Gottes heraus, nach einem Raum in der Herberge der Welt und der Menschheit sucht, aber dort noch nicht gefunden h a t " (ebd. 11). Utopie und Eschatologie werden als Sehnsucht und Hoffnung aufeinander bezogen: „Gott lehrt uns hoffen, indem er Sich-Selbst zum Ziel unseres Lebens und dem der ganzen Kreatur gibt. In der Sehnsucht sind wir aber ganz menschlich, suchen, finden, ergreifen weltliche Vorstellungen, Bilder, wo sie sich finden lassen und mit deren Hilfe wir uns auch selbst versprechen, was Gott uns versprochen h a t " (ebd. 22), kurz: „Eschatologie lehrt hoffen, Utopie weckt Sehnsucht" (ebd. 23). 3.2. Utopie als aufgeklärter

Zukunftsentwurf

des

Möglichen

G. Picht plädiert für eine aufgeklärte Utopie, die den fanatischen Idealismus vermeidet und realistischen Uberzeugungen und Überlegungen R a u m gibt. Als realer aufgeklärter Zukunftsentwurf muß sich die Utopie sowohl der kritisch-rationalen Reflexion als auch der Uberprüfung anhand der realen Möglichkeiten aussetzen (vgl. Picht, Technik 393f.). Als „handlungsanleitenden Zukunftsentwurf" (Honecker 255) sucht auch M . Honecker die Utopie für die ethische Reflexion fruchtbar zu machen. Z w a r haben Utopien die Tendenz, zu säkularen Heilsvorstellungen zu werden, aber die Theologie hat durch die Unterscheidung von Utopie und Eschatologie dem Umschlag der Utopie in eine Heilslehre zu wehren (vgl. ebd. 263). Die Utopie ist auf das „real Mögliche" (ebd.) zu beziehen im Unterschied zur Eschatologie, die „das vom Menschen schlechterdings nicht zu Verwirklichende" (ebd.) zur Sprache bringt. Daher plädiert Honecker für eine „reale . . . ,aufgeklärte' Utopie" (ebd.), die Realisierbarkeit intendiert. Gerade hiermit intendiert Honecker, auch die Kritik an dem utopischen Denken zu beachten, nämlich die Nichtrealisierbarkeit der Utopie und ihren Totalitarismus. „Eine reale, aufgeklärte Utopie . . . entwirft nicht poetische Bilder einer neuen Welt, sondern prüft kritisch und rational die gesellschaftlichen und technischen Bedingungen zukünftiger Gestaltung der Lebenswelt der Menschen" (ebd. 266). 3.3. Utopie als Auslegung

des

Gesetzes

Gegenüber dem Versuch, den Begriff der Utopie auf einen aufgeklärten Zukunftsentwurf des Möglichen zu beschränken, fordert D. Lange, daß auch „die Unbedingtheit der ethischen Forderung in irgendeiner Weise zur Geltung k o m m t " (Lange 484). „Das bedeutet, daß es oberhalb der - sicherlich unverzichtbaren - Konzeption eines tatsächlich erreichbaren gesellschaftlichen Zustandes auch eine Idealvorstellung geben muß, welche die Unbedingtheit der ethischen Forderung repräsentiert" (ebd.). Soll jedoch weder die Zweideutigkeit der ethischen Situation noch die Prägung jeder Utopie durch individuelles und auch sündhaftes Denken außer Betracht gelassen werden, muß gelten, daß jede Utopie „erstens wirklich U-topie bleibt, d.h. nie realisiert werden wird und zweitens . . . korrekturbedürftig ist" (ebd. 484f.). Daher ist die Utopie „keine Handlungsanweisung" (ebd. 485), sondern besitzt ausschließlich eine „regulative . . . Funktion" (ebd.). Die Utopie „formuliert ein ideales Leitbild jenseits tatsächlicher menschlicher Möglichkeiten, an dem das Verhalten sich orientieren soll. Aber weder ist das Leben des Menschen durch die Verwirklichung dieses Leitbildes konstituiert, noch kann die Ethik mit seiner Verwirklichung rechnen" (ebd.). Damit bekommt die Utopie die Aufgabe, „konkrete Auslegung des ,Gesetzes' für das gesellschaftliche Leben" (ebd.) zu sein. Als Auslegung

Utopie III

483

des -*Gesetzes darf die Utopie aber nicht mit dem Evangelium (-»Gesetz und Evangelium) verwechselt werden. „Im Eschaton . . . hebt die Gottesherrschaft die Utopie auf, weil und insofern das Evangelium das Gesetz . . . aufhebt" (ebd.). 4. Systematisch-theologische

Erwägungen

4.1. Zur Verhältnisbestimmung

von Eschatologie,

Utopie und

Sozialethik

4.1.1. Utopie und Sozialethik: Thematisiert die Utopie die ideale Form einer durch menschliches Handeln in der Geschichte hervorzubringenden Gesellschaft, so hat sie ihren Ort in der Theologie innerhalb der —»-Sozialethik, insofern diese aus der Perspektive des Glaubens nach den Formen menschlichen Interagierens fragt. 4.1.2. Eschatologie und Sozialethik: Thematisiert die Eschatologie gerade keine durch menschliches Handeln in der Geschichte zu verwirklichende Gesellschaftsform, so kann die Bedeutung der Eschatologie für die Sozialethik nicht darin bestehen, die in der Sozialethik erörterten Gesellschaftsformen in irgendeiner Weise aus der Eschatologie abzuleiten. Vielmehr besteht die Bedeutung der Eschatologie für die Sozialethik ausschließlich darin, die in der Sozialethik thematisierten konkreten Zielvorstellungen zu relativieren, insofern sie als vorläufige und daher revisionsfähige Entwürfe der Gestaltung einer menschenwürdigen Gesellschaft in den Blick kommen. Darüber hinaus beschreibt die Eschatologie eine Motivation für die Gestaltung einer menschlichen Gesellschaft, insofern eine kritische Distanz zu jeder bestehenden Gesellschaftsform besteht und diese daher der Überschreitung für fähig und bedürftig in den Blick kommt (so zu Recht Honecker 269). N i m m t man ernst, daß die in der Eschatologie thematisierte Hoffnung sich auf ein Jenseits der Geschichte bezieht, das durch Gottes vollendendes Handeln herbeigeführt wird, so wird man zwar sagen können, daß die Hoffnungssätze der Verheißung die Wirklichkeit, die da ist, in die Veränderung hineinführen wollen, nicht aber, daß die Hoffnungssätze der Verheißung die „Wirklichkeit, die da ist, in die Veränderung hineinführen [wollen], die verheißen ist und erhofft w i r d " (so Moltmann 14). 4.1.3. Utopie und Eschatologie: Das utopische Denken kann in der theologischen Reflexion nicht dazu dienen, die Eschatologie zu einem normativen Leitbild für die Weltveränderung zu transformieren. Dies gilt es kritisch zu bemerken zu dem Versuch von H . Gollwitzer, die vom Menschen zu schaffende „relative Utopie" auf die Gottesherrschaft als der von Gott zu schaffenden „absoluten Utopie" nach dem Prinzip der analogia fidei zu beziehen (s.o. 3.1.); denn damit wird die Gottesherrschaft als ein „vermeintlich . . . politisches Programm verstanden, das vom Menschen - jedenfalls ansatzweise - vollzogen w i r d " (Lange 482). Diese Kritik trifft auch F.-W. Marquardts Versuch, die Utopie als das menschliche, sehnsüchtige Gestalten des von Gott erhofften Zieles zu begreifen (s.o. 3.1.). 4.2. Utopie: aufgeklärter ethischen Forderung?

Zukunftsentwurf

des Möglichen

oder Unbedingtheit

der

Der Versuch, die Utopie in die Sozialethik zu integrieren, indem sie transformiert wird in einen aufgeklärten Zukunftsentwurf des real Möglichen, kann gute theologische Gründe geltend machen (s.o. 3.2.). Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Transformation der Utopie das utopische Denken nicht um seine Pointe bringt. Besteht das Wesen utopischen Denkens gerade darin, daß es eine Idealvorstellung einer Gesellschaft zum Gegenstand hat, so verliert der Begriff der Utopie seinen präzisen Sinn, wenn utopisches Denken zur Prüfung realer Handlungsmöglichkeiten mit der Intention ihrer Realisierbarkeit wird (so Lange 483). Wenn die Utopie „kritisch und rational die gesellschaftlichen und technischen Bedingungen zukünftiger Gestaltung der Lebenswelt der Menschen [prüft]" (Honecker 266; s.o. 3.2.), dann geht die „Unbedingtheit der ethischen

484

Utopie III

F o r d e r u n g " (Lange 4 8 4 ; s.o. 3.3.) verloren, die die Utopie jedem Versuch des M a c h b a r e n zumutet. 4.3. Zur

Verhältnisbestimmung

von Evangelium,

Gesetz

und

Utopie

Bringt die Utopie die Unbedingtheit der ethischen F o r d e r u n g zur Geltung, dann fragt es sich, welcher Stellenwert ihr in der ethischen Theoriebildung z u k o m m t . 4.3.1. Gesetz und Utopie: Besteht die theologisch zu bejahende Leistungskraft der Utopie gerade darin, daß sie das „Sein-Sollen" des Menschen zur Sprache bringt (s.o. 2 . 1 . 2 . ) , so gehört die Utopie auf die Seite des Gesetzes Gottes, insofern das Gesetz lehrt, w a s wir „tun sollen" ( - » L u t h e r : W A 2 4 , 4 ) . Von daher ist D. L a n g e zuzustimmen, wenn er der Utopie die Aufgabe zuschreibt, Auslegung des Gesetzes für das gesellschaftliche Leben zu sein (s.o. 3 . 3 . ) . 4.3.2. Utopie und Evangelium: D a das Evangelium nicht lehrt, was wir tun sollen, sondern, was uns „geschenkt i s t " ( W A 2 4 , 4 ) , entspricht ihm die in der Eschatologie thematisierte Hoffnung und nicht die in der Utopie präsentierte Forderung. Die Utopie verhält sich zum Evangelium, wie sich das Gesetz zum Evangelium verhält. 4.3.3. Gesetz und Evangelium: Die F r a g e nach dem O r t und der Funktion utopischen Denkens in der T h e o l o g i e läßt sich d a m i t zurückführen auf die Frage n a c h der angemessenen Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium. Erschließt eine Ethik unter dem Gesetz „ d a s ganze Feld des Ethischen . . . aus der Güte des kategorischen I m p e r a t i v s " (Bayer, Freiheit 100), eine Ethik unter dem Evangelium hingegen „ a u s der Güte der kategorischen G a b e " (ebd.), dann wird die theologische Ethik durch die F r a g e nach der Relevanz utopischen Denkens vor die Entscheidung gestellt, o b sie eine Auslegung des Gesetzes und der im Gesetz an den M e n s c h e n ergehenden Forderung sein will oder eine Explikation derjenigen H a l t u n g im Prozeß des menschlichen Handelns, zu der das Evangelium befreit. Literatur Oswald Bayer, Zugesagte Freiheit. Zur Grundlegung theol. Ethik, Gütersloh 1980. - Ders., Aus Glauben Leben. Über Rechtfertigung u. Heiligung, Stuttgart 1984. - Ernst Bloch, Geist der Utopie, München 1918. - Carl E. Braaten, Die Bedeutung der Zukunft: EvTh 32 (1972) 3 2 6 - 3 3 8 . - Martin Buber, Pfade in Utopia, Heidelberg 1950 Darmstadt 3 1986. - Ders., Der utopische Sozialismus, Köln 1967. - Uwe Dittmer, Die Utopie des Reiches Gottes. Politik mit der Bibel. Mit einem Vorw. v. Jürgen Moltmann, Frankfurt a . M . 1997. - Jürgen Ebach, Die Utopie ist noch nicht erledigt. Zum Predigttext Jesaja 65,17 - 2 5 : J K 55 (1994) 5 5 9 - 5 6 1 . - Gerhard Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, Tübingen, I J 1987. - Joachim C. Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin 1991 5 1993. - Helmut Gollwitzer, Die Revolution des Reiches Gottes u. der Gesellschaft: Ernst Feil/Rudolf Weth (Hg.), Diskussion zur Theol. der Revolution, München 1969, 4—64. - Richard Häuser, Utopie u. Hoffnung: Säkularisation u. Utopie. Ebracher Stud. FS Ernst Forsthoff, Stuttgart 1967, 235 - 2 5 1 . - Eilert Herms, Phantasie u. Realität in der seelsorgerlichen Beratung: ders., Theorie f. die Praxis - Beitr. zur Theol., München 1982, 3 1 3 - 3 3 6 . - Ders., Offenbarung: ders., Offenbarung u. Glaube. Zur Bildung des christl. Lebens, Tübingen 1992, 1 6 8 - 2 2 0 . - Martin Honecker, Sozialethik zw. Tradition u. Vernunft, Tübingen 1977. - Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik f. die technologische Zivilisation, Frankfurt a . M . 1979. - Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795): ders., GS. 1. Abt. VIII. Abh. nach 1781, Berlin 1969, 3 4 1 - 4 8 6 . - Wilhelm Kamiah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Krit. Unters, zum Ursprung u. zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim 1969. - Hartmut Kreß, Art. Utopien: Lexikon der Wirtschaftsethik, hg. v. Georges Enderle u.a., Freiburg i.Br./Basel/Wien 1 9 9 3 , 1 1 7 9 - 1 1 8 4 . - Dietz Lange, Ethik in ev. Perspektive. Grundfragen christl. Lebenspraxis, Göttingen 1992. - J o i o B. Libanio/Maria C. Lucchetti Bingemer, Escatologia cristä, Petröpolis 1985; dt.: Christi. Eschatologie. Die Befreiung in der Gesch., 1987 (BThB). - Theodor Mahlmann, Eschatologie u. Utopie im geschichtstheol. Denken Paul Tillichs: NZSTh 7 (1965) 3 3 9 - 3 7 0 . - Karl Mannheim, Ideologie u. Utopie, Bonn 1929 Frankfurt a . M . '1978. - Friedrich-Wilhelm Marquardt, Eia, warn wir da - eine theol. Utopie, Gütersloh 1997. - Jürgen Moltmann, Theol. der Hoffnung, 1965 " 1 9 8 5 (BEvTh 38). - Wolfhart Pannenberg, Theol. u. Reich Gottes, Gütersloh 1971. - Ders., Der Gott der Hoffnung: ders., Grundfragen syst. Theol. GAufs., Göttingen, I 1979, 3 8 7 - 3 9 8 . -

Utrecht

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Michael Roth

Utraquisten —»Hus/Hussiten

Utrecht, Universität 1. Universität

2. Theologische Fakultät

(Quellen/Literatur S. 488)

1. Universität Nachdem in der freien „Republik der sieben vereinigten (nördlichen) Niederlande" (—»•Niederlande) schon mehrere provinziale -»Universitäten und Athenaeen entstanden waren, stifteten die Bürgermeister der Stadt Utrecht eine eigene Schola Illustris in den Räumen des Domkapitels (17./27. Juni 1634). Mit fünf Lehrstühlen - für Geschichte, Klassische Sprachen, Jura und Theologie - war das Athenaeum gut ausgestattet. 1636 erhoben die Utrechter Staaten kraft eigener Souveränität diese Schola Illustris in den Rang einer Akademie (16./26. März), jetzt auch mit einer medizinischen Fakultät. Die junge Universität Utrecht erwarb sich in der Republik und in der reformierten Kirche den Ruf politischer und dogmatischer Zuverlässigkeit. Anhänger der neuen französischen Philosophie, wie z. B. R. -»Descartes, wurden energisch bekämpft. Auch im 18. Jh. sollte Utrecht diesen calvinistischen Charakter behalten. Theologie und Jura waren die wichtigsten Fakultäten. Als es 1795 infolge der -»Französischen Revolution zum Untergang der Republik und zur Errichtung der vereinigten Bataafschen Republiek kam, wurde die Bevorzugung der reformierten Kirche beendet. Während der Eingliederung der Niederlande in das Kaiserreich Frankreich nach 1810 war die Utrechter Universität zum Athenaeum degradiert und unter Aufsicht des Leidener Rektors gestellt. Nach der Befreiung Ende 1813 wurde diese Maßnahme zwar rückgängig gemacht, aber auch das neugeformte Königreich der Niederlande blieb zentralistisch. Von den einstigen provinzialen Akademien wurden nur die in -»Leiden, -»Groningen und Utrecht als Staatshochschulen erhalten. Die Utrechter Universität behielt auch jetzt ihren konservativen und betont protestantischen Charakter. Als 1853 Papst -»Pius IX. die katholischen Bischofssitze wiederherstellte, wurde Utrecht mit seinem „hervormde" Kirchenvorstand und der Universität das Zentrum einer antikatholischen und antiliberalen Agitation, die sogar zum

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Utrecht

Sturz der Regierung führte. In der zweiten Hälfte des 19. Jh. wuchs die Zahl der Medizinstudenten. Auch die Naturwissenschaften und literarischen Studien gewannen an Bedeutung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Veterinärhochschule - als Institut für die Ausbildung von Tierärzten schon seit 1821 tätig - als Fakultät der Tierheilkunde eingegliedert. Seit 1945 nahm der Einfluß der Naturwissenschaften und der neugebildeten Sozialwissenschaften stark zu. Die Möglichkeiten der Universität wurden nach 1982 von der Regierung durch Schließung einiger Bereiche, u.a. der für Zahnmedizin, Archäologie, Lateinisch und Griechisch, eingeschränkt. In der Forschung arbeiten besonders die Medizinische und die Naturwissenschaftliche Fakultät eng zusammen. Um 1870 zählte die Universität etwa 500 Studenten, 1940 ca. 2.500, 1998 mehr als 21.000. 1998 betrug die Zahl der ordentlichen Professuren 337, dazu kamen noch 142 außerordentliche. 2. Theologische

Fakultät

Mit der Ernennung von G. —»Voetius als Theologe am Athenaeum (1634) zeigten die Behörden, daß ihre Stiftung im Geist der -»Dordrechter Synode von 1618/1619 arbeiten sollte. Voetius und seine späteren Kollegen Meinhard Schotanus (1593-1644) und Johannes Hoornbeek (1617-1666) versuchten, die reformierte -»Orthodoxie mit einer konkreten Gestaltung des persönlichen Lebens zu verbinden. Programmatischen Charakter hatte schon Voetius' Antrittsrede gehabt, in der er forderte, „Gottseligkeit mit Wissenschaft zu verbinden" (Oratio inauguralis De pietate cum scientia coniugenda vom 21. August 1634). Damit zielte Voetius auch auf das öffentliche Leben. Seine nichttheologischen Kollegen und auch die Mitglieder der Stadtverwaltung waren dahingegen zumeist anderer Ansicht. In der gleichen Gesinnung wie Voetius arbeiteten auch seine Nachfolger Petrus van Mastricht (1630-1706) und Melchior Leydekker (1642-1721). Die mit Voetius einsetzende Polemik gegen die Föderal theologie des Leidener Professors J. —»Coccejus teilte die reformierte Kirche bis weit nach 1700 in „Voetianer" und „Coccejaner". Die Utrechter Kuratoren beriefen 1680 nach Voetius' Tode (1676) Herman Witsius (1636-1708) aus -»Franeker, obwohl dieser eher der Föderaltheologie zugeneigt war. Offenbar wollten sie die Fakultät nicht mehr einseitig festgelegt wissen. Witsius ging 1698 nach Leiden. Neue Aufregung entstand, als 1704 Hermann Alexander Röell (16531718), ebenfalls aus Franeker, zur Fakultät stieß, obwohl er schon dort beschuldigt worden war, daß er allzu optimistisch von der menschlichen —»Vernunft rede. Derlei Auseinandersetzungen setzten sich in der Folgezeit in Utrecht fort. Wegen gleichartiger Anschuldigungen hatte auch der Bremer Theologe Friedrich Adolf Lampe (1683-1729) nur sieben Jahre in Utrecht lehren können (1720-1727): man vermutete, in seiner Bundeslehre habe er ketzerisch von Christus gesprochen. Auf die Studenten übte Lampe jedoch großen Einfluß aus. Sie lernten von ihm, biblische Ausdrücke als „Sprache Kanaans" symbolisch zu gebrauchen, also pietistisch von eigenen Glaubenserfahrungen zu sprechen, und in der Predigt die verschiedenen Gruppen von Zuhörern anzureden. Damit beeinflußte er eine Art von Erweckungspredigt, die sich durch die Verwendung vieler Bibelworte auszeichnete. Als Hochburg der reformierten Orthodoxie wurde die Utrechter Fakultät auch von ausländischen Studenten gern besucht. Wichtig wurde das (bis heute bestehende) Stipendium Bernardinum, 1761 vom reichen Kaufmann Daniel Bernard (1676-1761) aus seinem Kolonial vermögen gestiftet und gedacht für Studenten aus der —»Pfalz und aus -»Ungarn, einschließlich -»Siebenbürgen. Auf die praktische Ausbildung der Studenten als zukünftige Pfarrer wurde in Utrecht traditionell viel Wert gelegt. Wissenschaftlich blieb man mit rein philologischer Exegese auf dem einmal bewährten Weg. Neue Entwicklungen, z. B. in der Philosophie, wurden höchstens beiläufig kommentiert oder ganz ignoriert. Der Versuch von Jodocus Heringa (1765—1840), der 1794 antrat, um die Terminologie der Dogmatik biblischer zu gestalten,

Utrecht

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machte ihn sofort verdächtig. Seine Schüler waren lange Zeit in den Gemeinden wenig willkommen. Das neue Königreich der Niederlande (1815) sollte sich, wie es damals hieß, der hohen Berufung bewußt werden, im Geist der griechischen Philosophie und mit Beispielen aus der Geschichte von Kirche und Vaterland im Herzen Europas eine bessere Menschheit zu erziehen. Unterricht so gesonnener Art wurde besonders in Utrecht gepflegt. So kam es u . a . zu einem neuen Interesse an der Kirchengeschichte. Utrechter Altstudenten wurden 1823 auf die neuen Lehrstühle in Leiden und Utrecht berufen. Der Utrechter Kirchenhistoriker Herman J. Royaards (1794-1854, in Utrecht 18231854) übte zusammen mit seinem Leidener Kollegen einen belebenden Einfluß auf das Studium der Kirchengeschichte aus. In der Exegese des Neuen Testaments versuchte Jakobus Isaak Doedes (1817-1897, in Utrecht 1859-1888), die Zuverlässigkeit der biblischen Texte nachzuweisen und Argumente gegen die Kritik aus Tübingen (-»Tübinger Schulen) oder Leiden vorzubringen. Sein Kollege im Fach Dogmatik, Johannes Jacobus van Oosterzee (1817-1882, in Utrecht 1863—1882), charakterisierte dementsprechend das Utrechter Profil als „biblisch-apologetisch". Dogmatisch und exegetisch an der deutschen ->Vermittlungstheologie orientiert, fand er im homiletischen und pastoraltheologischen Bereich vielfältige Aufnahme. Als 1876 der Gesetzgeber die Neutralität des Staates auch im Fakultätsaufbau durchsetzte, führte dies zu tiefgreifenden Änderungen in der Organisation der Hochschultheologie. Der alte N a m e „Godgeleerdheid" (Theologie) blieb zwar erhalten, aber faktisch bedeutete er jetzt „Godsdienstwetenschap" (Religionswissenschaft). Im Unterricht der Staatsfakultäten sollten Dogmatik und Praktische Theologie ausgeklammert bleiben. Die reformierte Kirche (d.h. die Nederlandse Hervormde Kerk) bekam das Recht, für jede Fakultät zwei „kirchliche Professoren" zu berufen. Die reformierte Synode griff dafür anfangs meistens auf erfahrene Pfarrer und nicht auf ausgewiesene Dogmatiker zurück. In Utrecht orientierten sich die Studenten jetzt besonders an dem neuen Professor für Altes Testament, Jean Josue Philippe Valeton (1848-1912, in Utrecht 1877-1912). Er vertrat eine „ethische" (existentielle) Theologie und betonte für die Exegese eine persönliche Glaubensentscheidung als hermeneutische Voraussetzung. Es war ein folgenreicher Eingriff in die Autonomie der Utrechter Fakultät, daß die Regierung sich seit 1903 aus politischen Gründen erfolgreich darum bemühte, besonders diese Fakultät mit bekenntnistreuen Reformierten zu besetzen: Religionsphilosophie (1904), Neues Testament (1908), Altes Testament (1912). Infolge dieser Interventionen kam es, abgesehen von einigen kirchenhistorischen Studien, zu einem erheblichen Rückgang neuer Doktorarbeiten. Lediglich Hugo Visscher (1864-1947, in Utrecht 1904-1932) bildete als Religionsphilosoph und als engagierter Doktorvater eine positive Ausnahme. Die „ethische" Richtung wurde von Herman Theodoras Obbink (1869-1947, in Utrecht 1913-1939) beibehalten, der als Religionsgeschichtler, wie vormals Valeton, schulbildend wirkte. Zusammen mit dem „kirchlichen" Professor Anneus Marinus Brouwer (1875 -1948) publizierte er eine sehr geschätzte Bibelübersetzung (De Bijbel. Verkorte uitgave. Opnieuw uit den grondtekst vertaald, bearb. v. Herman Theodoras Obbink [Bde. I—II: AT]/Anneus Marinus Brouwer [Bd. III: N T ] , 3 Bde., Amsterdam 1921-1927). Seit etwa 1930 räumte die Regierung der Fakultät bei Berufungen wieder mehr Mitspracherechte ein. Nach 1945 war besonders der Neutestamentier Willem Cornelis van Unnik (1910-1978, in Utrecht 1946-1978) bestrebt, den Stand von Forschung und Lehre zu verbessern. Er initiierte eine eigene Arbeitsgruppe für das Corpus Hellenisticum, das sich dem Studium der Umwelt des Neuen Testaments widmete. Die Regierung gewährte nun auch die Einrichtung neuer Lehrstühle, z. B. für die Geschichte der Alten Kirche (Gilles Quispel [geb. 1916] 1952), für ö k u m e n i k (Johannes Christiaan Hoekendijk [1912-1975] 1958) und genehmigte die Trennung von Ethik (Johannes de Graaf [19111991] 1955) und Religionsphilosophie (Arnoldus Ewout Loen [1896-1990] 1955). Von den „kirchlichen" Professoren wirkte Arnold A. van Ruler (1908-1970, Professor seit

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Utrecht

1947, seit 1952 speziell für Dogmatik) als Dogmatiker besonders durch den von ihm gepflegten Dialog mit der Philosophie anregend. Die Zahl der Dissertationen erreichte im Jahre 1945 wieder ihr altes Niveau. Neben der selbständigen Pfarrerausbildung der Hervormde Kerk wurden nach 1950 auch das Priesterseminar der Altkatholischen Kirche und die beiden Predigerseminare der Baptistengemeinden sowie der Freien evangelischen Gemeinden mit der Utrechter Fakultät verbunden. Viele praktische Schulungen werden mittlerweile gemeinsam durchgeführt. Die Möglichkeiten der Fakultät erweiterten sich nachhaltig, als die Katholischen Bischöfe beschlossen, ihre Großseminare zu vereinigen und im Bereich der Utrechter Universität eine Katholische Theologische Hochschule [jetzt: Universität] Utrecht (KTUU) zu gründen (2. Dezember 1967). Die Zusammenarbeit in spezialisierter Forschung, bei den Graduierungen und auch im Unterricht erwies sich als sehr fruchtbar, z.B. in der Exegese, Judaistik, Patristik und Religionsphilosophie. Zu der in Utrecht neugestifteten Universiteit voor Humanistik (29. Januar 1989, u. a. Sozialwissenschaften, Ethik, Philosophie) bestehen gute Verbindungen. Innerhalb der Fakultät arbeiten außerdem noch ein Interuniversitäres Institut für Missiologie und Oekumenika (IIMO, 1969) und das Zentrum für Bio-Ethik und Gesundheitsrecht, letzteres in Zusammenarbeit mit den Fakultäten für Jura, Medizin und Tierheilkunde, an denen Mitglieder der Fakultät und KTUU beteiligt sind. Außer den kirchlichen Angestellten zählte die Fakultät 1998 etwa 65 Mitarbeiter. Der Unterricht wird den 450 Studenten in zwei gleichwertigen Studiengängen (in der Arbeitswoche oder am Sonnabend) angeboten und ist „klassisch" ausgerichtet, d.h. mit Lateinisch, Griechisch und Hebräisch. Die Synoden der sich vereinigenden protestantischen Kirchen (gereformeerd, hervormd, evangelisch-lutherisch; vgl. -•Niederlande 4.3.) entschieden 1999 aus Ersparnisgründen, die kirchliche Ausbildung ihrer Theologiestudierenden zu konzentrieren in Leiden, Kampen und Utrecht. Die „hervormde" kirchlichen Lehrstühle (Dogmatik und praktische Theologie) in Groningen und -»Amsterdam wurden aufgegeben. Das Theologische Seminar der Evangelisch-Lutherischen Kirche wurde 2001 von Amsterdam nach Utrecht verlegt. Quellen Album Studiosorum Rheno-Trajectinae, Utrecht 1886. - Resolutien van de Vroedschap van Utrecht betreffende de Academie, hg. v. Johan W. Wijnne/Lucie Miedema, Utrecht 1900. - Album Promotorum qui inde ab anno 1636 usque ad annum 1815 in Academia Rheno-Trajectina gradum doctoratus adepti sunt, hg. v. Frans Ketner, Leiden 1936. - Album promotorum der Rijksuniversiteit Utrecht. 1815-1936, en Album promotorum der Veeartsenijkundige Hoogeschool, 1918-1925, Leiden 1963.

Literatur Zu 1.: Gerhard W. Kernkamp u.a., De Utrechtsche Universiteit 1636-1936, 2 Bde., Utrecht 1936. - Tussen ivoren toren en grootbedrijf. De Utrechtse Universiteit, 1936-1986, onder redactie van Hermann W. v. der Dunk u.a., Maarsen 1986. Zu 2.: Jan Anthony Cramer, De theol. faculteit te Utrecht ten tijde van Voetius, Utrecht 1932. - Ders., De theol. faculteit te Utrecht in de 18de en het begin der 19de eeuw, Utrecht 1936. Willem Frederik Dankbaar, Art. Utrecht, Univ.: RGG3 6 (1962) 1220. - Paul Dibon, Regards sur la Hollande du Siècle d'Or, Neapel 1990. - Aart de Groot, De Faculteit der Godgeleerdheid: Tussen ivoren toren en grootbedrijf (s.o. zu 1.) 321-334.

Otto J. de Jong

Utrechter Union ->• Altkatholizismus

Vadian Vadian, Joachim 1. Leben

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(1484-1551)

2. Werk

(Quellen/Literatur S. 491)

1. Leben Joachim von Watt, der sich seit seiner Studienzeit Vadianus nannte, wurde am 29. November 1484 in St. Gallen geboren. Er entstammte einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie, die durch Leinwandhandel und städtische Ämter zu Wohlstand und Ansehen gelangt war. Nach dem Besuch der Lateinschule seiner Heimatstadt bezog er im Wintersemester 1501/02 die Universität in -»Wien, die bis 1518 seine hauptsächliche Wirkungsstätte blieb. Nachdem er 1506/07 für einige Zeit vor der Pest nach Villach ausgewichen war und eine Reise durch Oberitalien unternommen hatte, wurde er 1508 in Wien zum Magister promoviert. Seine Lehrer waren Konrad Celtis (1459-1508), daneben Johannes Cuspinian (1473-1529) und der Mathematiker und Astronom Georg Tannstetter (Collimitius, 1482-1535). In seiner Wiener Lehrtätigkeit gab er literarischen Interessen breiten Raum. Vadian behandelte das Lehrgedicht des Reichenauer Abtes Walahfrid Strabo (gest. 849) Vom Gartenbau, das er 1509 während eines kurzen Besuchs im St. Galler Kloster entdeckt hatte, ebenso wie klassische Autoren (Sallust; Cicero; Vergil). Neben Literatur und Poetik gewannen medizinische, geographisch-naturwissenschaftliche und historische Studien für ihn an Bedeutung. 1512 übernahm er die Vertretung für den vielbeschäftigten Cuspinian, bevor er wenig später einen eigenen Lehrstuhl für Poetik erhielt. Mehrfach trat er für die Universität als Redner auf. 1514 wurde er von Kaiser -»Maximilian I. zum Poeta laureatus gekrönt, 1516/17 amtierte er als Rektor. Daneben betrieb Vadian ein medizinisches Studium, das er Ende 1517 mit der Doktorpromotion abschloß. Die Motive, die ihn zur Aufgabe seiner akademischen Karriere und zur Rückkehr nach St. Gallen bewogen, sind nicht geklärt. Vadians Weggang aus Wien, das er während einer Reise über Leipzig, Posen, Breslau, Krakau und Olmütz 1518/19 noch einmal besuchte, und die endgültige Übersiedlung nach St. Gallen im Jahr 1519 bedeuteten eine Zäsur. In Wien war Vadian Mittelpunkt eines humanistischen Gelehrtenkreises gewesen, an den sich in der Schweizer Heimat nur schwer anknüpfen ließ. Er wurde Stadtarzt in St. Gallen und verheiratete sich 1519 mit Martha Grebel, der Schwester des späteren Täuferführers Konrad Grebel (um 14981526), der in Wien sein Schüler gewesen war. 1521 wurde Vadian in den Rat der Stadt aufgenommen. Obwohl seit längerem in brieflichem Kontakt mit U. —»Zwingli, läßt sich Vadians Neigung für die —»Reformation vor 1522 nicht eindeutig fassen. In diesem Jahr verfaßte er die kleine Arbeit Brevis indicatura symbolorum, die als seine „erste redigierte reformatorische Schrift" bezeichnet wurde (Näf, Vadian II, 134). Mehr durch -•Luther als durch Zwingli angeregt, wandte er sich biblischen Studien zu. 1523 erläuterte er in einem privaten Kurs der St. Galler Geistlichkeit die Apostelgeschichte. Außer durch die Züricher Reformation wurde die Entwicklung in St. Gallen angestoßen durch Predigten B. -»Hubmaiers und die Wirksamkeit des theologisch gebildeten Laien Johannes Kessler (1502/03—1579), der in -»-Wittenberg gewesen war und Vadians Biograph werden sollte. Vadian, inzwischen von „humanistischer Gelehrsamkeit zu reformatorischer Überzeugung gelangt" (ebd. II, 186), nahm Ende Oktober 1523 im Auftrag der Stadt an der zweiten Zürcher Disputation teil, als deren Präsident er fungierte. In seiner Heimatstadt wuchs er mehr und mehr in eine Führungsrolle bei der reformatorischen Umgestaltung der Verhältnisse hinein. Er gehörte der Kommission an, die das 1524 erlassene Ratsgebot, nur das Evangelium zu predigen, zu überwachen hatte. Diese Aufgabe nötigte ihn zu Reflexion und Stellungnahme im theologischen Streit, wobei sich eine doppelte Frontstellung ergab: gegen die Altgläubigen, die an der Abtei einen Rückhalt hatten, und gegen das in St. Gallen unter Grebel zeitweise einflußreiche Täufertum (—»Täufer/Täuferische Gemeinschaften). Ende 1525 wurde Vadian zum Bürgermeister gewählt, was er bis zu seinem Tode blieb. In dieser Funktion hatte er maß-

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geblichen Anteil daran, daß St. Gallen die zweite evangelische Stadt in der Eidgenossenschaft nach Zürich wurde. In den folgenden Jahren lenkte Vadian die St. Galler Politik im Innern und nach außen und unternahm zahlreiche Reisen im Auftrag der Stadt. Anfang 1528 wohnte er, wieder als Präsident, dem Berner Religionsgespräch (vgl. T R E 25,34,39-48) bei, und er führte St. Gallen in ein Bündnis mit Zürich. Im ersten Kappelerkrieg stand er auf Zwingiis Seite. Der Versuch, den Erfolg zu nutzen, um den Abt von St. Gallen aus der Stadt zu verdrängen, scheiterte nach der Niederlage der Evangelischen im zweiten Kappelerkrieg; 1532 war Vadian an dem Vertrag beteiligt, mit dem die Abtei restituiert wurde. Der damals erreichte Ausgleich zwischen Kloster und reformierter Stadt erlaubte es Vadian in den Jahren nach 1532, sich neben seinen Aufgaben als Bürgermeister und Stadtarzt stärker seinen theologischen und historischen Interessen zu widmen und seine gelehrten Kontakte zu pflegen. Er starb am 6. April 1551 in St. Gallen. 2. Werk Vadian blieb bis zu seinem Tod schriftstellerisch tätig. In seinem Werk, das zu seinen Lebzeiten nur teilweise veröffentlicht wurde, läßt sich die Wiener von der St. Galler Periode unterscheiden. In Wien - zwischen 1510 und 1519 entstanden etwa 40 Publikationen - widmete er sich humanistischen Themen und Genres; die meisten Veröffentlichungen standen im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Hochschullehrer. Er verfaßte lateinische Gedichte und Reden und trat durch Editionen hervor (unter anderem Sallust; Cicero; Ovid; Plinius d.Ä.), darunter die Erstausgabe von Strabos Hortulus (1510, in zweiter Auflage 1512). An größeren Arbeiten sind zu nennen die Posse Gallus pugnans von 1514 sowie als Hauptwerke die 1518 und erneut 1522 und 1530 erschienenen Scholien zu dem Geographen Pomponius Mela, Libri de situ orbis tres, das „bekannteste, verbreitetste, am längsten nachlebende Werk aus Vadians Wiener Zeit" (Näf, Vadian I, 277), sowie die Lehre von der Dichtkunst, De Poetica et carminis ratione, die aus einer Vorlesung hervorging und ebenfalls 1518 veröffentlicht wurde. Gelegentlich beförderte Vadian auch zeitgenössische Texte zum Druck, so die Gedichte seines verstorbenen Freundes Arbogast Strub, eine Schrift U. von -> Huttens oder Gedichte seines Lehrers Celtis. In Vadians St. Galler Werk (1519-1551) lassen sich fünf Phasen unterscheiden: die frühe Auseinandersetzung mit der Reformation, eine erste historiographische Phase bis in die Mitte der 1530er Jahre, dogmatische Traktate bis Mitte der 1540er Jahre, schließlich eine zweite historiographische Phase um 1545 und das Alterswerk über die Reformation des Mönchs- und Nonnenstandes. Vadians frühe Auseinandersetzung mit den durch die Reformation aufgeworfenen Problemen ist dokumentiert in mehreren kleineren Arbeiten von 1521/22, darunter eine Argumentensammlung gegen den Primat des Papstes und die erwähnte Schrift über die Glaubensbekenntnisse. Sie blieben zu seinen Lebzeiten ebenso ungedruckt wie die Erklärung der Apostelgeschichte von 1523, die aber Früchte trug in dem 1534 veröffentlichten Werk Epitotne trium terrae partium. Vadians dogmatische Schriften entstanden zwischen 1536 und 1543. In den 1536 gedruckten Aphorismen über die Eucharistie suchte er nach einer Verständigungsmöglichkeit im lutherisch-reformierten Abendmahlsstreit, den er für überbrückbar hielt. Über die Beschäftigung mit dem -»Abendmahl wurde der Nichttheologe Vadian in die Auseinandersetzungen über die Lehre Kaspar —>Schwenckfelds verwickelt, mit dessen Christologie er sich seit 1536 in mehreren Publikationen auseinandersetzte (Orthodoxa et erudita... Epistola, 1536 entstanden, 1539 gedruckt; Epistel an Johannes Zwick und Antilogia gegen Schwenckfeld, 1540; Pro veritate carnis triumphantis Christi, 1541; 1543 weitere Schriften). Historische Interessen hatte Vadian schon in Wien gezeigt. An seinem Hauptwerk, der Chronik der Äbte von St. Gallen, die die Zeit zwischen 1199 und 1491 abdeckte, arbeitete er seit der Mitte der 1520er Jahre; es war etwa 1533 abgeschlossen, blieb

Vadian

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jedoch unveröffentlicht (sogenannte ältere oder größere Chronik). Das T h e m a Klosterwesen, aber auch die allgemeine Geschichte des Mittelalters, seiner H e i m a t und der Eidgenossenschaft hat Vadian auch später zu Studien angeregt, von denen er jedoch keine zum Druck beförderte. 1545/46 griff er die Arbeit an der Chronik der Äbte von St. Gallen noch einmal auf; er kürzte und ergänzte sie durch frühmittelalterliche und zeitgeschichtliche Abschnitte (sogenannte jüngere oder kleinere Chronik). Den Abschluß seiner Beschäftigung mit dem M ö n c h t u m bildete die umfangreiche Schrift vom Mönchsund N o n n e n s t a n d und seiner R e f o r m a t i o n (1548), in der er in der Bedrängnis des -»Schmalkaldischen Kriegs und des -»Interims vor dem Irrweg der „ M ö n c h e r e i " warnen wollte. Von Vadian ist außerdem ein Diarium erhalten, das die Krisenjahre zwischen 1529 und 1533 abdeckt. Die Vadianische Briefsammlung, die an die 2.000 Stücke u m f a ß t - in der Frühzeit überwiegend an Vadian gerichtete Schreiben —, ist eine Quelle von hohem Wert; seine umfangreiche Bibliothek vermachte er der Stadt St. Gallen. In eindrücklicher Weise zeigt sich bei Vadian die Verbindung von - » H u m a n i s m u s und Reformation und ihre Fruchtbarkeit auch f ü r eine Neugestaltung von Politik und Kirche. Quellen Vadians Werke verzeichnet Näf, Vadian (s.u. Lit.) I, 381 £.; II, 551 f.; zu Vadians Publ. bis 1518 vgl. ders., Analekten (s.u. Lit.) 44-60. - Verz. der im dt. Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jh., hg. v. der Bayerischen Staatsbibliothek in München in Verb, mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, Stuttgart, 1/21 1994, Nr. V 3 - V 3 7 . Spätere Ausgaben: Melchior Goldast, Rerum Alamannicarum scriptores, Frankfurt a.M., III 1661 [enthält lat. Geschichtswerke Vadians]. - Joachim v. Watt (Vadian), Dt. hist. Sehr., hg. v. Ernst Götzinger, 3 Bde., St. Gallen 1875-1879 [enthält u.a. die Chronik der Äbte v. St. Gallen]. - Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen, hg. v. Emil Arbenz/Hermann Wartmann, 1890-1913 (MVG 24.25.27-30a). - Johannes Kesslers Sabbata mit kleineren Sehr. u. Briefen, unter Mitw. v. Emil Egli u. Rudolf Schoch hg. vom Hist. Verein des Kantons St. Gallen, St. Gallen 1902 [darin S. 601-609: Joachimi Vadiani vita per Joannem Kesslerum Sangaliensem conscripta]. - Johannes Keßlers Sabbata. St. Galler Reformationschronik 1523-1539, bearb. v. Traugott Schieß, Leipzig 1911 (SVRG 103). - Joachim Vadian, Lat. Reden, hg., übers, u. erkl. v. Matthäus Gabathuler, St. Gallen 1953 (Vadian-Stud. 3). - Joachim Vadian, Brevis Indicatura Symbolorum, hg. v. Conradin Bonorand, Textbereinigung u. dt. Übers, v. Konrad Müller, St. Gallen 1954 (Vadian-Stud. 4). - Joachim Vadianus, De Poética et carminis ratione. Krit. Ausg. mit dt. Ubers, u. Komm. v. Peter Schäffer, 3 Bde., München 1973-1977 (Humanistische Bibliothek 2. R. 21/1-3). - Bibliotheca Vadiani. Die Bibliothek des Humanisten Joachim v. Watt nach dem Kat. des Josua Kessler v. 1553, unter Mitw. v. Hans Fehrlin u. Helen Thurnheer bearb. v. Verena Schenker-Frei, St. Gallen 1974 (Vadian-Stud. 9). - Joachim Vadian, Ausgew. Briefe, hg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen 1983. - Vadian 1484-1984. Drei Beitr., hg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen 1985 (Vadian-Stud. 12). - Joachim Vadian, Vom Mönch- u. Nonnenstand u. seiner Reformation 1548. Ms. 138 der Burgerbibliothek Bern, hg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen 1988 (Vadian-Stud. 14). - Joachim Vadian, Uber die Stadt St. Gallen. Vadians Schrift „Von anfang, gelegenheit, regiment u. handlung der weyterkandten frommen statt zu Sankt Gallen", übers, in die Sprache der Gegenwart, mit Erläuterungen, hg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen 1996. Joachim Vadian, Uber Gesang u. Musik im Gottesdienst. Uber Wallfahrten. Drei Abh. aus den Mss. 51 u. 53 der Vadianischen Sammlung, hg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen 1998 (VadianStud. 16). Literatur BDG, II 1935, Nr. 21628-21656. - Peter G. Bietenholz, Art. Joachim Vadianus: ders./Thomas B. Deutscher (Hg.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, Toronto/Buffalo/London, III 1987, 364f. - Conradin Bonorand, Stand u. Probleme der Vadian-Forschung: Zwing. 11 (1959-1963) 586-606. - Ders., Vadians Weg vom Humanismus zur Reformation u. seine Vortr. über die Apostelgesch. (1523), St. Gallen 1962 (Vadian-Stud. 7). - Ders., Joachim Vadian u. der Humanismus im Bereich des Erzbistums Salzburg, St. Gallen 1980 (Vadian-Stud. 10). — Ders., Vadian u. die Ereignisse in Italien im ersten Drittel des 16. Jh. Personenkomm. III zum Vadianischen Briefwerk, St. Gallen 1985 (Vadian-Stud. 13). - Ders., Vadians Humanistenkorrespondenz mit Schülern u. Freunden aus seiner Wiener Zeit. Personenkomm. IV

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Vagantentum

zum Vadianischen Briefwerk, St. Gallen 1988 (Vadian-Stud. 15). - Ders., Vadian u. Graubünden. Aspekte der Personen- u. Kommunikationsgesch. im Zeitalter des Humanismus u. der Reformation, Chur 1991 (Quellen u. Forschungen zur Bündner Gesch. 3). - Ders., Joachim Vadian: Dt. Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600). Ihr Leben u. Werk, hg. v. Stephan Füssel, Berlin 1993, 3 4 5 - 3 5 8 (Lit.). - Ders./Guido Kisch, Aus Vadians Freundes- u. Schülerkreis in Wien. Vadians Valla-Ausg., St. Gallen 1965 (Vadian-Stud. 8). - Ders./Heinz Haffter (Hg.), Die Dedikationsepisteln v. u. an Vadian. Personenkomm. II zum Vadianischen Briefwerk, St. Gallen 1983 (Vadian-Stud. 11). - Dieter Demandt, Die Auseinandersetzungen des Schmalkaldischen Bundes mit Herzog Heinrich d.J. v. Braunschweig-Wolfenbüttel im Briefwechsel des St. Galler Reformators Vadian: Zwing. 22 (1995) 4 5 - 6 6 . - Richard Feller/Edgar Bonjour, Geschichtsschreibung der Schweiz vom SpätMA zur Neuzeit, Basel/Stuttgart, I 1962 2 1979, 1 8 9 - 1 9 6 . - Ernst Götzinger, Joachim Vadian, der Reformator u. Geschichtschreiber v. St. Gallen, 1895 (SVRG 50). - Ders., Art. Joachim v. Watt: ADB 41 (1896) 2 3 9 - 2 4 4 . — Franz Graf-Stuhlhofer, Humanismus zw. Hof u. Universität. Georg Tannstetter (Collimitius) u. sein wiss. Umfeld im Wien des frühen 16. Jh., Wien 1996 (Schriftenr. des Universitätsarchivs Wien 8). - Ders., Vadian als Lehrer am Wiener Poetenkolleg: Zwing. 26 (1999) 93 - 98. Johannes Kessler, Die Rede der Klosterbibliothek zu St. Gallen an den Bürgermeister Joachim v. Watt 1531. Lat. Text mit Übers, u. Erläuterungen hg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen 1984. Bernhard Milt, Vadian als Arzt, St. Gallen 1959 (Vadian-Stud. 6). - Werner Näf, Art. Watt, von: HBLS 7 (1934) 429. - Ders., Die Familie v. Watt. Gesch. eines St. Gallischen Bürgergeschlechtes. Stammtaf. zur Genealogie der Familie v. Watt, ausgearbeitet v. A. Bodmer, 1936 (MVG 37/2). Ders., Vadianische Analekten, St. Gallen 1945 (Vadian-Stud. 1). - Ders., Vadian u. seine Stadt St. Gallen, 2 Bde., St. Gallen, I 1944 II 1957 (Lit.). - Johannes Ninck, Arzt u. Reformator Vadian, St. Gallen 1936. - Personenkomm. I - I V zum Vadianischen Briefwerk v. Conradin Bonorand. Gesamtreg., bearb. v. Rudolf Gamper u. Fredi Hächler, St. Gallen 2001 (Vadian-Stud. 15a). - Theodor Pressel, Joachim Vadian. Nach hsl. u. gleichzeitigen Quellen, 1861 (LASRK). - Markus Ries, Art. Vadian: LThK 3 10 (2001) 507f. - Dora Fanny Rittmeyer, Vadian-Bildnisse, St. Gallen 1948 (VadianStud. 2). - Rudolf Stähelin, Die reformatorische Wirksamkeit des St. Galler Humanisten Vadian, 1882 (BVG 11) 1 9 1 - 2 6 2 . - Peter Wegelin (Red.), Vadian u. St. Gallen. Ausstellung zum 500. Geburtstag im Waaghaus St. Gallen. Kat., St. Gallen 1984. - Erich Wenneker, Art. Vadian: BBKL 12 (1997) 1 0 0 3 - 1 0 1 3 (Lit.). Armin Kohnle

Vagantentum (Literatur S. 494) Unter Vaganten sind jene M e n s c h e n zu verstehen, die sich innerhalb der mittelalterlichen Mobilität das „ F a h r e n " als eine eigene, den Lebensunterhalt sichernde Lebensform gewählt haben. W ä h r e n d die mittelalterliche Mobilität von den Reisen des Kaufm a n n s bis zu denen des Pilgers auf Ziele hin orientiert und stets nur eine t e m p o r ä r e Lebensform w a r , ist die des Vaganten eine Chancensuche, deren Ende nie abzusehen w a r . W i e schwierig die Abgrenzung von Mobilität und Vagantentum ist, zeigt sich an den Ausdrücken Vagantenlyrik oder Vagantenstrophe für dichterische Erzeugnisse gebildeter Studenten, die sich als Kleriker an fernen Studia generalia aufhielten. Diese von der Historiographie des 19. J h . künstlich geprägten Ausdrücke treffen das Wesen des mittelalterlichen Vagantentums nicht. Z u den a m frühesten bezeugten Existenzformen der Vaganten gehören die Unterhaltungskünstler, v o m Spielmann über den Gaukler und Akrobaten bis zum Schausteller seltener Tiere. Die Quellen verwenden dafür ein aus der Antike entlehntes Vokabular ioculator scurra, mimus. D e n n o c h ist an eine spätantik-mittelalterliche Kontinuität nicht zu denken. Die Erwerbsmöglichkeiten dieser Fahrenden ergeben sich aus den U n t e r haltungsbedürfnissen. Dabei sind im Verlauf des Mittelalters tiefe Wandlungen zu beobachten. Ein Beispiel bildet der schon in karolingischer Zeit bezeugte Bärenführer, der noch im Spätmittelalter häufig begegnet. W a s aber in früheren Zeiten Z u r s c h a u stellung gebändigter Wildnis bedeutete, Beleg für die Domestizierung jenes wilden Tieres, das noch in den W ä l d e r n heimisch w a r , ist im Spätmittelalter Erinnerung an die d u r c h den Landesausbau verschwundene Wildnis.

Vagantentum

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Die Erwerbsformen der Vaganten waren so verschieden, daß sich bei ihnen mit dem hohen Mittelalter eine Oberschicht herausbildete, die sog. gerenden. Diese lebten vor allem von den Gaben, die sie an adeligen und kirchlichen Höfen begehrten (daher die Bezeichnung); dafür verkündeten sie den Ruhm von der Freigebigkeit der Herren Multiplikatoren der höfischen Repräsentation. Auch hier ein Beispiel für die schwierigen Abgrenzungen: Walther von der Vogelweide ist kein Vagant und auch kein gerender man. Er erhält Geld für einen neuen Pelz, also nicht gebrauchte Kleidung, die übliche Gabe für die gerenden. Der Spielmann, die prominenteste Gestalt unter allen Fahrenden, unterlag seit dem frühen Mittelalter häufig kirchlichen Verdikten („Diener des Satans"), die dazu führten, daß er auch im weltlichen Recht (Sachsen- und Schwabenspiegel) des hohen Mittelalters für unehrlich erklärt wurde. Die Realität aber sah anders aus. Unverzichtbar war der „Spielmann" - ein Sammelbegriff für Unterhaltungskünstler vom Musiker über den „Sprecher" (dem Verbreiter gereimter, oft politischer Verse) bis hin zum Gaukler - für die höfische Repräsentation, so daß im Spätmittelalter der von einem Fürsten oder Adeligen patronisierte Fahrende, der das Wappen seines Herren als Brustschild oder auf das Wams gestickt trug, die Nachfolge der hochmittelalterlichen gerenden antritt. Weder die kirchliche Infamierung noch die weltliche Unehrlichkeit waren für den einzelnen Vaganten wirklich existenzbedrohend. Die Gefährdung seines Lebens lag vielmehr in seiner „Freiheit", denn diese bedeutete Schutzlosigkeit. Unter den vielen Existenzformen der Fahrenden begegnen im kirchlichen Bereich seit dem 13. Jh. die „Goliarden", ein Seitenzweig sowohl der auf Mobilität begründeten Studienorganisation als auch der des Klerikerproletariats. Der Laienfrömmigkeit (-•Volksfrömmigkeit) hingegen ist die Erscheinung des berufsmäßigen Pilgers im Spätmittelalter zuzuordnen, der eine von seinem Auftraggeber gelobte -»Wallfahrt stellvertretend übernimmt. Weiterhin gehört in den Bereich der Laienfrömmigkeit die Erscheinung des wandernden Reliquienschaustellers. Schon in karolingischer Zeit wird beklagt, daß Menschen durch die Lande ziehen und das Stroh aus der Krippe von Bethlehem vorweisen. Diese stationiarü werden dann in der Reformationszeit zu jenen Gestalten, an denen sich die Kritik an der alten Kirche trefflich personifizieren läßt. Es ist aber die Frage, ob sie tatsächlich so zahlreich auftraten, wie die Polemik gegen sie vermuten läßt. Wenn im Volksbuch vom Till Eulenspiegel dieser sich u.a. als von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehender Schausteller mit gefälschten Reliquien betätigt, so zeigt sich, daß die reformatorische Kritik spätmittelalterliche Vorläufer hat, und es zeigt sich weiterhin im Zusammenhang mit anderen, auf Mobilität gegründeten Abenteuern in diesem Volksbuch, daß hinter der Fiktion jene Realität bewahrt wird, welche Vaganten zwang, verschiedene Tätigkeiten ausüben zu können. Fließend sind die Grenzen zwischen Vagant und Wanderhändler. Die mittelalterlichen Hausierer, die „Wannenkrämer" mit ihrem Tragekorb auf dem Rücken, bestenfalls einen Esel als Lasttier benutzend, hatten weite Wege zurückzulegen, woran in Oberdeutschland der Ausdruck „Kauderwelsch" erinnert, der die vielfach aus Oberitalien stammenden, Südfrüchte verhökernden („kaudern") Wanderhändler benennt. Wie die gerenden im literarischen und musikalischen Bereich repräsentieren auch die Wanderhändler die Bedeutung des Vagantentums, das in Kommunikation und Erfahrungsaustausch zwischen den Siedlungen der Seßhaften besteht. Ebenso fließend sind auch die Grenzen zwischen Vaganten und Wanderbettlern. Die Almosenstiftungen (-»Armenfürsorge) reichten bei weitem nicht aus, um die soziale Not in einer Gemeinschaft abzufangen, so daß viele gezwungen waren, auf schon im Mittelalter gewohnheitsrechtlich verfestigten Touren über Land zu ziehen. In der Gestalt des Krüppels, der zur Versorgung von Ort zu Ort von dem jeweiligen Gemeindeknecht geschoben wird, wird diese Problematik am eindrücklichsten sichtbar. Über die Lebensumstände der Vaganten ist wenig zu erfahren. Partnerschaftsbeziehungen drücken sich darin aus, daß neben dem spielman auch das spielwib auftritt,

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Vagantentum

zumeist als Dirne verdächtigt. Diese Gestalt weist darauf hin, daß so gut wie nichts, von den Wanderdirnen abgesehen, über weibliches Vagantentum zu ermitteln ist. Daß aber Frauen einen größeren Anteil an der Unterschichts-Mobilität gehabt haben müssen, bezeugen Nachrichten in Bürgerbüchern („ist enweg") und die Praxis spätmittelalterlicher Städte, fahrende Frauen als Kundschafterinnen im Umland einzusetzen. Daß Armut und Not Begleiter dieser Lebensform waren, wird in den Quellen immer wieder bestätigt. Die Nähe zur Kriminalität, vor allen Dingen zur Kleinkriminalität, ist unter diesen Umständen wahrscheinlich. Die Fahrenden haben zur Verbreitung des seit dem ausgehenden 13. J h . bezeugten Argot — in deutschen Landen: Rotwelsch - beigetragen. Als sich im 15. J h . in Oberdeutschland, besonders im elsässisch-rheinischen Raum -»Bruderschaften fahrender Leute bilden, ist das vordringliche Anliegen dieser überlokal organisierten Bruderschaften die Zulassung zum -»Abendmahl und sodann die Ehrbarkeit der Lebensführung. Die große Bedeutung des mittelalterlichen Vagantentums, die u.a. im europaweiten musikalischen Austausch liegt, wird in der frühen Neuzeit durch folgende Umstände verdrängt: Der Repräsentationsstil des Adels wandelt sich, wie der gehrende Mann verschwindet auch der patronisierte Fahrende aus der Welt des Hofes und der Oberschicht. Die Konfessionalisierung des 16. J h . läßt mit den fahrenden Schülern auch die Goliarden, die noch im späten Mittelalter zu kirchlichen Hilfsdiensten herangezogen werden konnten, ebenso verschwinden wie den berufsmäßigen Pilger. Da das Pilgerwesen insgesamt durch entsprechende Zeugnisse der zuständigen Pfarrer, was sich schon seit dem Spätmittelalter abgezeichnet hatte, reglementiert wurde, fehlte ein weiter Bereich jener spezifisch mittelalterlichen Mobilität, der sich die Vaganten hatten zuordnen können. Der von ihnen im Mittelalter getragene mündliche Erfahrungsaustausch geht weitgehend auf Druckwerke über (wobei der Notendruck nicht vergessen werden darf). Vor allen Dingen werden die Fahrenden seit dem 16. J h . unter dem Stichwort des obrigkeitlich verbotenen Müßigganges kriminalisiert. Der Hausierer wird in den meisten frühneuzeitlichen Polizeiordnungen als unerwünschte Person denunziert. Als Bänkelsänger oder Zeitungssinger leben etwa „Spielmann" und „Sprecher" nur noch in mißachteter sozialer Gestalt weiter. Aus Vaganten werden Landstreicher. D a ß die Verdrängung des Vagantentums in der frühen Neuzeit auf einen tiefgreifenden Mentalitätswandel, der durch obrigkeitliche Maßnahmen noch verstärkt wurde, hinweist, belegt die Geschichte der Leute aus „Klein-Egypten" (wie die Zigeuner [-•Sinti und R o m a ] vor dem 16. J h . genannt wurden). Seit deren Auftreten in deutschen Landen 1417 werden ihnen wegen ihrer Herkunftslegende (sie hätten der heiligen Familie Schutz und Hilfe bei deren Flucht nach Ägypten gewährt) Almosen gereicht und ihre Lebensform wird geachtet, weswegen bisweilen sogar ihren Oberhäuptern Epitaphien in Kirchen gewidmet werden können. Seit dem ausgehenden 15. J h . werden sie jedoch zunächst als türkische Spione, dann aber auch als Kriminelle in den Reichspolizeiordnungen und den entsprechenden territorialen Gesetzen verfolgt. Literatur Theodor Hampe, Die fahrenden Leute in der dt. Vergangenheit, Leipzig 1902. - Walter Salmen, Spielfrauen im MA, Hildesheim 2000. - Ernst Schubert, Fahrendes Volk im MA, Bielefeld 1995.

Ernst Schubert

Valentin/Valentinianer

495

Valentin/Valentinianer 1. Vorbemerkung

1.

2. Valentin

3. Valentinianer

(Quellen/Literatur S. 499)

Vorbemerkung

(Die Abkürzungen der einzelnen Traktate der Nag Hammadi Codices [NHC] finden sich in T R E 23,732f.)

Das Bild der sogenannten „valentinianischen Gnosis" differiert in der Forschung erheblich, weil es zum einen abhängig ist von dem jeweils vorausgesetzten Bild der Gnosis (—»Gnosis/Gnostizismus), das seinerseits stets stark von Vorannahmen geprägt ist (K. Berger: TRE 13,521,25-522,48; zuletzt Williams). Zum anderen wird gegenwärtig durchaus unterschiedlich beurteilt, ob die antike häresiologische Rekonstruktion einer Geschichte dieser speziellen Form von Gnosis, die im Kern auf Irenaus von Lyon zurückgeht, historische Glaubwürdigkeit beanspruchen kann. Irenäus hatte die Zusammenhänge zwischen verschiedenen christlichen Lehrern des 2. Jh. nach der Analogie der SiaSox>j, d. h. der personalen Sukzession einer zeitgenössischen Philosophenschule, zu einer Ualentini scola (SiSaaKaXeiov: „Schule Valentins") zusammengestellt. Als deren Häresiarchen und Schulhaupt stellte er Valentin, einen in -»Ägypten und -»Rom wirkenden christlichen Theologen des 2. Jh., vor und ordnete ihm verschiedene weitere Theologen als Schüler zu. Dabei konnte er sich darauf berufen, daß sich zu seiner Zeit (d. h. im letzten Drittel des 2. Jh.) in Rom persönliche Schüler des stadtrömischen Lehrers —»Ptolemäus, der Mitte des 2. Jh. lebte, als Schüler Valentins bezeichneten (Irenäus, haer. I praef. 2). Dieses Detail der häresiologischen Konzeption des Irenäus wurde mit dem ganzen Konzept von den späteren antiken christlichen Autoren in aller Regel übernommen. Seither gilt Valentin als Begründer der nach ihm benannten „valentinianischen Gnosis", und wichtige „Valentinianer" wie —»Herakleon oder Ptolemäus wurden in der Antike bzw. Neuzeit als seine persönlichen Schüler betrachtet (vgl. TRE 15,54,30; 27,699,17). Gemeinsame Züge der verschiedenen valentinianischen „Lehrsysteme", wie sie bei den antiken Häresiologen Irenäus, —»Tertullian, -»Hippolyt von Rom und Epiphanius von Salamis (spätes 4. Jh.; -»Zypern) referiert wurden oder aus Fragmenten bei -»Clemens von Alexandrien und -»Orígenes möglicherweise zu rekonstruieren sind, wurden daher gern auf Valentin zurückgeführt (so nach Irenäus vor allem Quispel und zuletzt wieder Holzhausen). In den letzten Jahren haben freilich detaillierte Untersuchungen der häresiologischen Konzepte der genannten Autoren (Le Boulluec) und Analysen der authentischen Fragmente der als Valentinianer bezeichneten christlichen Lehrer (N. Förster; W. A. Lohr: TRE 27,699-702; Markschies; zuletzt Wucherpfennig) gezeigt, daß sich eine kontinuierliche Weitergabe und Entwicklung eines einheitlichen „valentinianischen" Lehrkonzeptes, das im Kern auf Valentin zurückgeführt werden kann, an diesem Material nicht nachweisen läßt (so übrigens schon Preuschen). Vielmehr tritt die theologische Originalität einzelner Gestalten immer deutlicher hervor. Dadurch erweisen sich aber traditionelle Modelle für die Gesamtentwicklung der Schule wie das einer zunehmenden „Verkirchlichung" ihrer Lehren (z. B. bei Strutwolf 30-209) als zu starke Vereinfachung der inzwischen hochdifferenzierten Befunde. Von der antiken häresiologischen Konstruktion einer Ualentini scola bleibt nach diesen Untersuchungen vor allem der Rückbezug auf die Person des Valentin, eines geachteten Lehrers, der in der stadtrömischen Mehrheitsgemeinde unangefochten lehrte. Wie in anderen antiken (Philosophen-)Schulen (für den -»Piatonismus vgl. T R E 26,693 - 6 9 6 ) implizierte eine solche personale Kontinuität bzw. Sukzession aber keineswegs automatisch Kontinuität im Blick auf die Lehre. Im Gegenteil: eine Schule bewies ihre intellektuelle Kraft durch die Originalität ihrer Lehrbildung.

496 2.

Valentin/Valentinianer Valentin

Über das Leben Valentins ist wie bei den allermeisten christlichen Theologen des 2. Jh. k a u m etwas bekannt (Sammlung und Diskussion der Nachrichten bei Markschies, Valentinus Gnosticus? 2 9 5 - 3 3 6 ) . N a c h Irenäus k a m er vor dem J a h r 140 nach Rom und wirkte d o r t mindestens 15 Jahre innerhalb der Großgemeinde unangefochten als freier theologischer Lehrer (Irenäus, haer. 111,4,3). Epiphanius nennt im 4. Jh. (vielleicht aus lokaler Überlieferung) einen unbedeutenden Geburtsort in Ägypten und behauptet, Valentin sei in -»Alexandrien ausgebildet worden (Epiphanius, haer. XXXI,2,3). Ob er sich noch in R o m (so Tertullian, Val. 4,1 f.) oder erst in Zypern von der christlichen Mehrheitsgemeinde getrennt hat (so Epiphanius, haer. XXXI,7,2) oder in solchen Informationen die späteren klaren Grenzen zwischen O r t h o d o x i e und Häresie rückprojiziert werden, bleibt ebenso unklar wie das J a h r seines Todes. Auch die Nachricht Tertullians, er habe auf das Bischofsamt gehofft und sei aus Z o r n über die nicht erfolgte Wahl z u m Häretiker geworden (Val. 4,1 f.; vgl. praescr. 30,1), transportiert ein historisch k a u m auswertbares Gerücht. Eine Diadoche, die Valentin mit d e m sonst unbekannten Paulus-Schüler T h e o d a s verbindet (Clemens von Alexandrien, str. VII,106,3f.), dürfte aus Valentinianerkreisen s t a m m e n u n d setzt großkirchliche Sukzessionsreihen in der Art voraus, wie sie Irenäus aufstellt. Vom Werk des Valentin sind nur neun kurze Fragmente erhalten geblieben (Text und Analyse bei Markschies, Valentinus Gnosticus? 11-289): Er schrieb (Lehr-)Briefe, Predigten und Hymnen, die offensichtlich von seinen Schülern gesammelt wurden (Tertullian, carn. Chr. 17,1; 20,3; Orígenes [?], frgm. in lob 21,12 [PG 17,80 A = PTS 48, Nr. 26 p. 355, ed. Hagedorn] sowie Canon Muratori Z. 81-83). Clemens Alexandrinus und Hippolyt überliefern diese kurzen Bruchstücke allerdings schon mit späteren Deutungen, die wahrscheinlich auf die zweite Generation der Valentinianer zurückgehen. Für die gelegentlich behauptete Zuschreibung weiterer Schriften (z. B. des EV [NHC 1,3; XII,2], des Diognet- oder des Rheginosbriefs [NHC 1,4]) oder anonym überlieferter Fragmente an Valentin (z. B. Porphyrius, De abstinentia I,42,2f.) fehlen wirklich überzeugende sprachliche oder inhaltliche Argumente (Markschies, Valentinus Gnosticus? 337—363; für das EV vgl. seither Helderman; Irenäus, haer. 111,11,9 rechnet die Abfassung des Textes Schülern Valentins zu; zum Text und seiner Herkunft jetzt knapp H.-M. Schenke: Nag Hammadi Deutsch I, 28-33). Das Valentin-Referat bei Irenäus, haer. 1,11,1 ist eine verwickelte Kompilation verschiedenster valentinianischer Lehrdetails, die bereits rein sprachlich eine Fülle von Lehrsystemen - und damit die Situation des späteren 2. Jh. - voraussetzt (Markschies, Valentinus Gnosticus? 364-379). Auch der Vorschlag, das „große Valentinianer-Referat" (Sagnard) bei Irenäus (haer. 1,1,1-8,5), das ein späterer Redaktor Ptolemäus zuschreibt (Holzhausen, Irenäus 347; vorher schon Markschies, Research 249 -253), aufgrund der Parallele bei Clemens von Alexandrien, exc. Thdt. 43,2- 65,2 (s.u. 3.) als Lehre Valentins anzusprechen, ist schon aufgrund der Präsentation dieses Abschnittes durch Irenäus als Lehre der Schüler Valentins, die eigentlich Schüler des Ptolemäus sind, wenig wahrscheinlich (s.o. 1.): Es handelt sich um die Lehrbildung der Ptolemäus-Schule (Referat des Systems bei W. A. Lohr: TRE 27,700,23 702,5). Allerdings sind die Lehrbildungen der Schüler mit den Fragmenten Valentins z. B. durch einzelne Stichwortbezüge verbunden (für die Schüler des Markus Magus vgl. Irenäus, haer. 1,21,4 und EV 24,28-25,19 mit Valentin frgm. 4, Z. 8-10; weiter Markschies, Valentinus Gnosticus? 392 -402). N a c h Ausweis der erhaltenen Fragmente lehrte Valentin wie viele jüdische und christliche Autoren der Zeit, d a ß der —»Mensch durch die -»Engel defizient geschaffen wurde und von - » D ä m o n e n zusätzlich verdorben wird, aber doch vom obersten Gott her bestimmte intellektuelle Fähigkeiten erhalten hat (Clemens von Alexandrien, str. 11,36,2-4/ I I , 1 1 4 , 3 - 6 / I V , 8 9 , 6 - 9 0 , 1 = Frgm. 1/2/4). Die O f f e n b a r u n g des allein guten Vaters reinigt das H e r z des Menschen und läßt ihn G o t t schauen (str. 11,114,3-6 = Frgm. 2, Z . 4 - 7 . 2 3 26 = M t 19,17; 5,8b). In derselben Weise ist der Kosmos wohlgeordnet, und eine bruchlose Kette verbindet die himmlische Welt und ihr irdisches Abbild (Hippolytus, haer. VI,37,7 = Frgm. 8). Die Menschen waren ursprünglich unsterblich geschaffen (Frgm. 4, Z . 3f.), was Valentin wieder auf den obersten G o t t zurückführt (str. IV,89,690,1 = Frgm. 5).

Valentin/Valentinianer

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Mit einer solchen Lehrbildung beteiligte sich Valentin an dem Versuch christlicher Theologie im 2. Jh., in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Piatonismus, soweit man ihn vom Hörensagen kannte, eine differenzierte Gotteslehre zu entfalten, die den obersten Gott aus den handwerklichen Vollzügen der Schöpfung (-*Schöpfer/Schöpfung) und Weltleitung herausnahm. Gleichzeitig entsprach es aber einem solchen Interesse, die Affekte und Wirrungen der biblischen Schöpfungsgeschichte auf die Ebene eines idealen Vorbildes zu heben (vgl. zu den zeitgenössischen Apologeten L.W. Barnard: TRE 3,374,19-375,18). Für solche Überlegungen konnte man im hellenistischen Judentum Vorbilder finden; verschiedene Lehrbildungen Valentins erinnern an -»Philo von Alexandrien, ohne daß deswegen direkte Kenntnis postuliert werden muß. Das Verhältnis zu gnostischen Texten wie dem Apokryphon des Johannes aus dem Fund in -»Nag Hammadi (NHC 11,1; 111,1; IV,1; BG 2: Waldstein 95-150) ist umstritten (für einen Einfluß des Apokryphons auf Valentin vgl. zuletzt Simonetti 198-201; für eine Beeinflussung des Apokryphons durch Valentin vgl. Holzhausen, Mythos 188-216; ähnlich schon Petrement [1991] 227).

Valentin vertrat ferner eine enkratische, aber dezidiert keine doketische Christologie und versuchte, das Verhältnis von Gottheit und Menschheit in Jesus am Beispiel der Verdauung Jesu zu explizieren (str. 111,59,3 = Frgm. 3; vgl. IgnTrall. 9,1 „wahrhaftig geboren wurde, aß und trank"). Der -»Logos der Stoiker ist — wie bei den Apologeten - das neugeborene Kind Jesus (Hippolytus, haer. VI,42,2 = Frgm. 7). Die Theologie Valentins versucht, biblische Texte vor dem Hintergrund zeitgenössischer jüdischer und vulgärplatonischer Konzeptionen (einschließlich stoischer Elemente, z. B. in dem Hymnus-Frgm. 8 [Holzhausen, Psalm 6 9 - 7 2 ] ) zu deuten: „Vieles von dem, was in den allgemein verbreiteten Büchern geschrieben steht, findet man auch in der Gemeinde Gottes geschrieben" (str. VI,52,3—53,1 = Frgm. 6, aus einer Predigt, die in ihrer starken formalen Gestaltung an die Osterhomilie Über das Pascha des —»Melito von Sardes erinnert; anders Schüngel, Soteriologie 258). Das vermittelnde missionarische Interesse Valentins wird auch noch in der kritischen Polemik der Häresiologen deutlich: Platonicus fuerat (Tertullian, praescr. 7,3 bzw. carn. Chr. 20,3; kritisch zum Piatonismus Valentins A . H . B . Logan, Rez. Markschies, Valentinus Gnosticus?: JThS NS 45 [1994] 3 1 0 - 3 1 3 ) . 3.

Valentinianer

Da Valentin in Rom wie z. B. —»Justin der Märtyrer als freier Lehrer arbeitete, sammelte er Schüler um sich. Justin kennt bereits kurz nach 155 n.Chr. eine Gruppe, die er OvaXsvriviavoi nennt (dial. 35,6), aber erst Tertullian verwendet den Begriff durchgängig (Belege: Markschies, Gnosticism 412—419). Möglicherweise gehörte zu diesem Kreis der gleichfalls in Rom wirkende Lehrer Ptolemäus, dessen einziger eindeutig überlieferter Text, der Brief an die Flora (Epiphanius, haer. XXXIII,3—7; dazu: W. A. Lohr: TRE 27,699,33-700,21), zwar eine originelle, gegen -»Marcion gerichtete Prinzipienlehre entwickelt, aber kaum Berührungen mit Valentin zeigt (Details: Markschies, Research 2 3 9 - 2 4 6 ) . Die folgende Geschichte der valentinianischen Schule ist nur noch schwer zu rekonstruieren. Zunächst stehen für eine solche Rekonstruktion die häresiologischen Quellen zur Verfügung: Irenaus von Lyon ist ca. 180 n.Chr. Zeuge für eine größere Zahl von Valentinianern und eine bereits ziemlich entfaltete Lehrbildung mit diversen Varianten eines grundlegenden Systementwurfs: er nennt einen gewissen Secundus (haer. 1,11,2), einen „weiteren berühmten Lehrer" (haer. 1,11,3: vermutlich Markus Magus, so jedenfalls N. Förster 15), zwei weitere anonyme Gruppen (haer. 1,11,5 sowie 12,3) und die erwähnten Schüler des Ptolemäus. Ausführlicher behandelt werden freilich nur diese (durch Zitat des „großen Systems" haer. 1,1,1-8,5 sowie einer Variante in 1,12,1) und der Magier Markus (haer. 1,13,1-16,2: ausführlicher Kommentar jetzt bei N. Förster 54-388). Über diesen ca. 160-180 wirkenden Lehrer überliefert auch Hippolyt unabhängiges Material: haer. VI,39,1-54,2 (weitere abhängige Quellen bei N. Förster 31-52). Irenäus kennt nicht nur eine Lehrschrift des Markus, sondern auch drei Kultformeln (haer. I,13,2f. und 13,6) und bezeugt Missionstätigkeit von Markus-Schülern im Rhonetal (haer. 1,13,7). Möglicherweise spricht bereits Clemens von Alexandrien (sekundäre [?] Überschrift der Excerpta ex Theodotou: Clemens Alexandrinus, hg. v. Otto Stählin/Ludwig Früchtel/Ursula Treu, Berlin, III 1970 [GCS 17] 105) von der Existenz zweier valentinianischer Schulen, der „italischen" (hafocoTlKrj) und der „östlichen" (a.\axo\iKt\), sicher ist diese Differenz aber erst bei Tertullian und Hippolyt (haer. VI,35,5-7) be-

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Valentin/Valentinianer

zeugt. Die Terminologie folgt der Praxis zeitgenössischer Philosophenschulen. Der von Hippolyt als spezifische Differenz zwischen beiden Schulen angegebene Lehrunterschied über die Natur des Leibes des Erlösers (ipuyjKÖv a&na oder nvsvfiaTiKÖv ocofia: haer. VI,35,6) wirkt freilich so konstruiert, daß man vermuten kann, daß die Art und Weise der Differenzierung auf das Konto der Häresiologen gehen könnte (Details bei Markschies, Gnosticism 4 3 2 - 4 3 6 ) : Eine bestimmte kleinere Differenz im System wird zu einer Schulspaltung stilisiert, um die variantenreiche Lehre der Häretiker von der einheitlichen regula fidei der Kirche abzuheben (Clemens von Alexandrien, str. 111,102,3 ist keine spezifische Information über Valentin, sondern über die Valentinianer, vgl. W. A. Lohr: T R E 27,699,25 —28). Schließlich finden sich auch in Tertullians geistreich polemisierender Schrift Gegen die Valentinianer (ca. 2 0 7 - 2 0 9 n.Chr.) einzelne wichtige Informationen. In jedem Falle werden in den Texten der genannten Häresiologen neun valentinianische Lehrer neben Valentin und Ptolemäus greifbar, über deren Lebensumstände praktisch nichts bekannt ist: Alexander (Tertullian, carn. Chr. 16,1; 17,1), Florinus (Eusebius, h.e. V,20,l; weitere Quellen bei Fliedner 2 - 232), Herakleon (ausführlich C. Bammel: T R E 1 5 , 5 4 - 5 7 ; jetzt Wucherpfennig 3 6 0 403), Secundus (Irenäus, haer. 1,11,12; vgl. Preuschen 4 0 5 , 4 - 1 8 ) und Theotimus (Tertullian, Val. 4,3) werden traditionellerweise der westlichen italischen Schule zugerechnet, Axionicus von Antiochia (Tertullian, Val. 4,3; Hippolyt, haer. VI,35,7), Markus der Magier (anders: N. Förster 395) samt seinem angeblichen Schüler Kolorbasos (Epiphanius, haer. X X X V , 1 , 1 - 3 , 9 ; vgl. Irenäus, haer. 1,14,1 und jetzt ausführlich N. Förster 1 6 8 - 1 7 3 ) und Theodotus dagegen der östlichen Schule der Valentinianer (Zusammenstellung aller Textbelege und Diskussion bei Leisegang 2 2 6 1 - 2 2 7 3 ) . Zu ihr gehörte möglicherweise auch ->Bardesanes (Hippolyt, haer. VI,35,7; vgl. H . J . W . Drijvers: T R E 5,206,20). Nur von letzterem, über dessen Lebensumstände nahezu nichts bekannt ist, sind Materialien innerhalb der Excerpta ex Theodotou des Clemens von Alexandrien erhalten. Diese vorläufigen Notizen des Clemens enthalten - neben Kommentaren des Autors - von Theodot vor allem Erklärungen von Passagen der paulinischen Briefe (vielleicht auch des Hebräerbriefes: exc. Thdt. 38,2) und Abschriften aus einer valentinianischen Definitionensammlung von nicht näher identifizierbaren zeitgenössischen Valentinianern (exc. Thdot. 25,1: oi S' änd OöaXevzlvoo). Davon ist dann noch ein dritter Abschnitt abzuheben, eine separate mythologische Erzählung valentinianischer Provenienz mit deutlichen Parallelen zu Irenäus, haer. 1,1,1-8,5, die auf die Benutzung derselben Quelle zurückzuführen sind (exc. Thdt. 4 3 , 2 - 65,2; vgl. Dibelius 2 3 0 - 2 4 7 ) . F ü r eine von häresiologischen Schemata unabhängigere Rekonstruktion der Geschichte des Valentinianismus w ä r e eine präzisere historische und literarische E i n o r d nung von valentinianischen T e x t e n wie dem sogenannten „ L e h r b r i e f " bei Epiphanius (haer. X X X I , 5 , 1 - 6 , 1 0 : zur Diskussion über sein Alter Markschies, Valentinus Gnosticus? 45) und den Schriften aus N a g H a m m a d i notwendig, als sie gegenwärtig möglich ist. Zum Formenkreis einer „valentinianischen Gnosis" dürften folgende sieben Schriften gehören (Details bei H.-M. Schenke: T R E 23,732f.): PrecPl (NHC 1,1); EV (I.3/XII.2); Rheg (1,4); TracTrip (1,5); EvPh (11,3); IApcJac (V,3) u. ExpVal (XI,2). In jedem Fall demonstrieren diese vermutlich hauptsächlich aus dem 3. Jh. stammenden Texte eine Vielfalt des Valentinianismus, die weit über die Variationen der Systemreferate der Häresiologen hinausgeht (so auch explizit: TestVer [NHC I X / 3 , 5 6 - 5 9 ] ) . Dabei lassen sich sowohl weitere systemische Differenzierungen beobachten als auch Reduktionen und deutliche Modifikationen. Letzte Zeugnisse, die für die E x i s t e n z von Valentinianern in Anspruch g e n o m m e n werden können, s t a m m e n aus dem 7. J h . (Kanon 9 5 des Trullanum II: T e x t e für das 4 . - 7 . J h . und knappe K o m m e n t a r e bei Koschorke 1 2 7 - 1 3 9 ) , aber nach der M i t t e des 5. J h . scheinen sie keine wirkliche G r ö ß e mehr dargestellt zu haben. Die soziologische Gestalt der Bewegung orientierte sich zunächst an den zeitgenössischen Schülerzirkeln um freie L e h r e r , scheint sich dann aber - nicht zuletzt aufgrund des Ausschlusses aus der G r o ß k i r c h e - zu stabileren Institutionen verfestigt zu haben. Dafür sprechen N a c h r i c h t e n über valentinianische Sakramente bei Irenäus (haer. I , 1 3 , 2 f . ; 21,3—5) und im Textfund von N a g H a m m a d i (besonders im EvPhil: vgl. Gaffron 1 0 0 2 1 9 ; Schenke passim). W i e m a n a m Corpus Hermeticum ( - > H e r m e t i c a ) und den Chaldäischen Orakeln sehen kann, g a b es freilich solche fließenden Übergänge zwischen einem philosophischen Zirkel und einer Kultgemeinde auch anderswo (Markschies, G n o sticism 4 0 3 —411). Die eigene Lehre - seit etwa 160 n . C h r . ein in verschiedenen F o r m e n entfalteter und kommentierter platonisierender Kunstmythos mit besonderem G e w i c h t

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auf der Protologie und der Eschatologie - verstand man als Christentum für Fortgeschrittene. Dazu p a ß t auch die Nachricht Justins, d a ß die Mitglieder der G r u p p e sich selbst einfach „ C h r i s t e n " nennen (dial. 35,1.6). Quellen (in Auswahl) Clemens Alexandrinus, Stromata Buch I—VI, hg. v. Otto Stählin, neu hg. v. Ludwig Früchtel, 4. Aufl. mit Nachtr. v. Ursula Treu, Berlin 1985 (GCS Clemens Alexandrinus I I ) . - CPG 1,1135-1141. - Epiphanius, Ancoratus u. Panarion, hg. v. Karl Holl, Leipzig 1915 (GCS Epiphanius I). - Ders., The Panarion of Epiphanius of Salamis. Book I (Sects 1 - 4 6 ) , transi, by Frank Williams, Leiden u.a. 1987 (NHS 35). - Die Gnosis. Zeugnisse der Kirchenväter, unter Mitw. v. Emst Haenchen u. Martin Krause eingel., übers, u. erl. v. Werner Foerster, Zürich 1995. - Die Gnosis. Kopt. u. manichäische Quellen, eingel., übers, u. erläutert v. Martin Krause/Kurt Rudolph, hg. v. Werner Foerster, Zürich 1995. - Irenäus v. 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500

Valla

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Christoph Markschies

Valla, Laurentius 1. Leben

1.

2. Werk

(1405/07-1457) (Quellen/Literatur S. 503)

Leben

Laurentius Valla (Lorenzo Valla) ist zwischen August und November 1406 (so nach dem jüngsten Ansatz von Monfasani, nach Mancini dagegen 1405 und nach Sabbadini 1407) in einer aus Piacenza stammenden Juristen- und Kurialenfamilie in Rom geboren. Sein Vater war Konsistorialadvokat, sein Großvater mütterlicherseits, Giovanni Scrivani, Generalprokurator der Apostolischen Kammer, sein Onkel Melchiorre Apostolischer Sekretär. In Rom erhielt er seine Schulbildung, widmete sich autodidaktisch der -»Rhetorik, lernte bei Rinuccio da Castiglione (ca. 1395-1450) Griechisch und verfaßte als Zwanzigjähriger mit der Comparatio Ciceronis Quintilianique seine erste, leider nicht mehr erhaltene nonkonformistische Schrift, die Quintilian eine Cicero überlegene rhetorische Meisterschaft zuschrieb. Nachdem er vergeblich versucht hatte, als 24jähriger die Nachfolge seines Onkels anzutreten, ging er zunächst nach —»Venedig und von dort zur Übernahme des elterlichen Erbes nach Piacenza. Danach begab er sich nach Pavía, wo er dank Beziehungen zum Hofdichter der Visconti, Antonio Beccadelli (1394—1471), am 29. November 1431 zum Professor für Rhetorik an der Universität ernannt wurde, ein Amt, das er etwa anderthalb Jahre versehen hat. Hier vollendete er die erste Fassung seines Dialogs über das wahre Gute (de voluptate), in dem der Panormita, wie Beccadelli genannt wurde, als Dialogpartner erschien und epikureische Auffassungen vertrat. Er begann mit der ersten Ausarbeitung der Elegantie, der Dialéctica - einer Abhandlung über die Logik mit Kritik an -»Aristoteles und der scholastischen Philosophie — sowie der Neufassung von De vero bono. Ein Angriff auf die Korporation der Juristen, insbesondere auf den als Autorität gefeierten Exponenten der scholastischen Rechtswissenschaft Bartolo da Sassoferrato (1313/14-1357), gegen den er eine Schrift in Form eines Briefes an Pier Candido Decembrio (1399-1477) richtete, führte dazu, daß er seine Lehrtätigkeit aufgeben und im März 1433 Pavia verlassen mußte. Er begab sich nach Mailand, wo er bis zum Ende des Jahres lehrte, und weiter nach Genua, wo er durch Unterstützung des Genueser Kanzlers und Gesandten bei den Visconti, Biagio Assereto (ca. 1385-1456), eine Professorenstelle erhielt. 1434/35 hielt er sich in Ferrara und Florenz auf, bemühte sich um

Valla

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eine förmliche Anerkennung seiner Abhandlung De vero bono durch namhafte Humanisten (Ambrogio Traversari [1386-1439]; Leonardo Bruni [1370-1444]; Carlo Marsuppini [1398—1453]), suchte vergebens um eine Stellung bei Papst Eugen IV. (14311447) nach, dem er das dritte Buch seiner Schrift widmete, ging eine dauerhafte Freundschaft mit Giovanni Tortelli (ca. 1400—1466) ein, machte Bekanntschaft mit Francesco Filelfo (1398-1481) und erhielt von Giovanni Aurispa (gest. 1459) und Bruni Zuspruch für die Elegantie. Doch schon im ersten Halbjahr 1435 erscheint er in Neapel als Sekretär von Alfons V. von Aragon (reg. 1416-1458), bei dem er bis 1447 blieb. Während dieser Jahre erlebte er die fruchtbarste Zeit seiner schriftstellerischen Tätigkeit mit Übersetzungen aus dem Griechischen (Äsop; Xenophon; Homer) und der Abfassung der Schriften, die sein innovatorisches und in mancher Hinsicht auch umstürzendes und nonkonformistisches geistiges Wirken kennzeichnen. Er führte die Elegantie aus und überarbeitete die Dialéctica, Schriften, die bereits während seiner Zeit in Pavia herangereift waren, und erstellte eine dritte Fassung von De vero bono. Mit De libero arbitrio führte er einen Angriff auf theologischem Gebiet und mit De falso credita et ementita Constantini donatione auf dem Feld institutioneller Ordnungsvorstellungen. In De professione religiosorum erwies er den Anspruch des —»Mönchtums auf eine besondere Stellung innerhalb der Christenheit als unbegründet und legte in der Collatio Novi Testamenti ein erstes Muster eines neutestamentlichen Kommentars vor. Infolge einer Auseinandersetzung mit den neapolitanischen Theologen und Bischöfen um die Frage des Filioque und den Ursprung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, dessen traditionell angenommene Herkunft von den zwölf Aposteln Valla bestritt, wurde er im Frühling oder Sommer 1444 bei der —>• Inquisition angezeigt und sah sich genötigt, als stärkstes Mittel seiner Verteidigung gegen den Vorwurf der Häresie mit nachdrücklicher Forderung nach Gedankenfreiheit eine Apología an den Papst zu richten. Nach der unerfreulichen Begegnung mit der Inquisition geriet Valla in eine neue Auseinandersetzung mit dem Panormita und mit Bartolomeo Facio (nach 1405-1457), bei der es um die in seinen Gesta Ferdinandi regis (1445) zutage tretende Geschichtsauffassung und um das Verfahren der Emendation klassischer Texte, insbesondere des Liviustextes ging. Das letzte Jahr seines Aufenthaltes in Neapel war der Abfassung des Antidotum in Facium und wiederholten Verhandlungen mit Kardinälen und Vertretern der Kurie über eine dauerhafte Rückkehr nach Rom gewidmet. Dort verbrachte er seit Ende 1447 bis zu seinem Tod am 1. August 1457 ein nicht ganz einfaches Jahrzehnt. Es war durch Anfeindungen von Prälaten und Kurialen belastet, doch in literarischer Hinsicht auch wieder fruchtbar. Er gab den bereits ausgearbeiteten Schriften ihre letzte Gestalt, verfaßte für -»Nikolaus V. bedeutende Übersetzungen aus dem Griechischen (Herodot und Thukydides) und schloß neue, anregende Freundschaften (mit Nikolaus von Kues; -»Bessarion; Niccolö Perotti [1429/30-1480]). Vom Papst wurde Valla zum scriptor litterarum apostolicarum ernannt (1448), er erhielt einen Lehrstuhl für Rhetorik am Studium Urbis (1450) sowie die Würden eines Apostolischen Sekretärs (1455) und eines Kanonikers von S. Giovanni in Laterano, hatte einen Zusammenstoß mit Poggio Bracciolini (1380-1459) (Antidotum in Pogium), schrieb eine Confutatio als Entgegnung auf die von Benedetto Morandi (gest. 1478) erhobene Kritik, er habe sich herausgenommen, die von Titus Livius überlieferte Genealogie der Tarquinier zu korrigieren, und hielt drei Reden, eine zur Eröffnung des akademischen Jahres 1455/56, in der er die Rolle der Kirche für die Erhaltung der lateinischen Sprache und Bildung während der voraufgegangenen Jahrhunderte des Verfalls herausstellte, eine zweite am Gründonnerstag 1456 oder 1457 über das Sakrament der Eucharistie und schließlich eine Lobrede auf ->Thomas von Aquino am 7. März 1457. 2. Werk Kennzeichnend für Vallas gesamtes Werk ist - in der Philosophie und Theologie mehr als in der Rhetorik - ein radikales Ausbrechen aus der klassischen und schola-

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stischen Tradition und die Forderung geistiger und sittlicher Erneuerung. Sie verfolgte er mit philologischer Kompetenz, im Bewußtsein der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe geistigen Schaffens, mit leidenschaftlichem Eifer für die Wahrheit und aus dem Verlangen nach kirchlicher Erneuerung. Die dialogische Anlage des Hauptteils seiner Schriften dient der herausfordernden Absicht seiner Kritik. Sie ist der geeignetste Weg, zur Wahrheit zu finden, das Kampffeld für Gesprächspartner, die mit den Waffen der dialektischen Auseinandersetzung um die - historische, sprachliche, sittliche, philosophische oder religiöse - Wahrheit ringen, die stets eine wesenhafte Beziehung zu Gott hat, wenn sie auch nicht mit ihm gleichgesetzt wird. In De vero falsoque bono werden die Sätze der klassischen Ethik (Cicero, off.; fin.) und die Grundlagen der platonischen und aristotelischen Philosophie durch Infragestellung des stoischen Ideals des honestum als Grundlage des sittlichen Handelns hinfällig. Die -»Tugend (virtus) ist für Valla untrennbar verbunden mit der Dynamik des Handelns nach dem Lustprinzip (voluptas), das den Grundsatz der Nützlichkeit (utilitas) in sich schließt. Die Lust der Sinne läßt sich nicht von der der —»Seele trennen; denn die voluptas als Handlungsprinzip ist unteilbar, und die jeweilige Handlung ist nach ihrer situativen Einbindung und ihrer Wirkung zu beurteilen. Die historisch-philologische Untersuchung des -» Constitutum Constantini entlarvt dieses Dokument als frühmittelalterliche Fälschung, verlangt vor allem aber eine Auflösung der in der römischen Kirche begegnenden historischen und theologischen Widersprüche durch Wiederaufnahme der Wertmaßstäbe der apostolischen Kirche und der aus der erlösenden -»Gnade erwachsenden evangelischen wie der von der menschlichen Natur geforderten politischen -»Freiheit. In De libero arbitrio sucht Valla eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem Vorherwissen und menschlicher Willensfreiheit. Er kritisiert die von -»Boethius begründete Sicht und schlägt mit einer Unterscheidung von göttlichem Vorherwissen und göttlichem -»Willen eine eigenständige Lösung vor, wobei das Vorherwissen nicht in Widerspruch zum freien Willen zu sehen ist; Gottes Wissen hat demnach keinen Einfluß auf die Wirklichkeit. Eine neue und eigenständige, an der im Evangelium gründenden heilbringenden libertas (Freiheit) ausgerichtete Synthese von klassischer Ethik und sittlicher Autonomie begegnet in De professione. Die Religiösen und die Laien stehen danach als Angehörige der selben, nicht durch ein besonderes Attribut näher zu bestimmenden christlichen Religion auf gleicher Ebene. Sie unterscheiden sich durch ihr inneres Leben und die Intensität ihrer Tugendübung, nicht aber durch ihren Stand. Der vom Taufgelöbnis (Votum) geforderte kämpferische Einsatz bezieht sich auf das ganze Evangelium und ist die einzige von Christus und den Aposteln gegebene Regel. Um zur Heiligkeit zu gelangen, braucht der Mensch kein heilsanstaltliches Instrumentarium; denn das hat sich als dem Evangelium unangemessen erwiesen, es ist in Verkehrung und Verirrung verfallen. Mit der Collatio Novi Testamenti und ihrer Überarbeitung und Erweiterung in den von -»Erasmus entdeckten und veröffentlichten Adnotationes beginnt die moderne biblische Philologie. Sie überträgt die Methoden der kritischen Texterschließung von der klassischen Literatur auf die biblischen Texte, bricht mit der auf der quaestio beruhenden scholastischen Schriftauslegung und fordert die grammatische Exegese der lateinischen Vulgata als einer Übersetzung ursprünglich hebräischer und griechischer Texte, um zugleich mit ihrer eigenen sprachlichen und semantischen Gestalt ihren authentischen Sinn zu erschließen. Das erlaube die bestmögliche Lösung exegetischer und theologischer Probleme der neutestamentlichen Botschaft. Im Encomiort s. Thomae entfaltet sich Vallas Redekunst mit einer dichten Folge ironischer Spitzen zur Präsentation einer humanistischen Theologie im Gegenüber zur Scholastik des 14. Jh. und zum verfallenen Thomismus (-»Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus) seiner Zeitgenossen. Es stellt durch Erzählung der von dem

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Heiligen vollbrachten Taten unter besonderer Betonung der militia Christi, des Einsatzes im Dienst Christi, eine scientia fidei, eine Glaubenskunde vor. Das Lob des Thomas als eines geschichtlichen Beispiels für virtus und scientia (Tugend und Einsicht) wird zur refutatio (Widerlegung) des Anspruchs des Thomismus auf gegenwärtige und andauernde Geltung als theologisches System. Das Denken der Väter der alten Kirche wird nicht nur als Quelle der -»Tradition neu erschlossen, sondern auch als eine für die theologische Arbeit mustergültige Methode, die sich unmittelbar aus dem einzigartigen Vorbild spekulativen christlichen Denkens, der paulinischen Theologie, herleitet. Quellen Laurentii Vallae Opera, Basel 1540 = Laurentius Valla, Opera omnia. I. Scripta in editione Basilensi anno M D X L collecta. Con una premessa di Eugenio Garin, 1962 (MPPR 1/5). - Laurentii Vallae opuscula tria, hg. v. Johannes Vahlen: SAWW.PH 61/1 u. 7 (1869) 7 - 6 6 . 3 5 7 - 4 4 4 ; 62/5 (1869) 9 3 - 1 4 9 . - De libero arbitrio, hg. v. Maria Anfossi, Florenz 1934 (Opuscoli filosofici 6); franz.: Dialogue sur le libre arbitre, ed. et trad. par Jacques Chomarat, Paris 1983 (Textes et documents de la renaissance 5); dt.: Uber den freien Willen. De libero arbitrio, hg., übers, u. eingel. v. Eckhard Keßler, München 1987 (Humanistische Bibliothek R. 2, Texte 16). - Scritti filosofici e religiosi. Introd., trad. e note di Giorgio Radetti, Florenz 1953 (CdF 6). - Collatio Novi Testamenti, hg. v. Alessandro Perosa, Florenz 1970 (Studi e testi/Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento 1). - De vero falsoque bono, hg. v. Maristella De Panizza Lorch, Bari 1970. - Gesta Ferdinandi regis Aragonum, hg. v. Ottavio Besomi, Padua 1973 (Thesaurus mundi 10). - De falso eredita et ementita Constantini donatione, hg. v. Wolfram Setz, 1976 (MGH.QG 10); dt.: Des edlen Römers Laurentii Vallensis Clagrede wider die erdicht u. erlogene Begabung so v. dem Keyser Constantino der Roemischen Kirchen sol geschehen sein. Eine dt. Übers, v. Lorenzo Vallas Sehr. De falso eredita et ementita Constantini donatione aus der Reformationszeit, hg. v. Wolfram Setz, Worms 1524 Nachdr. Basel 1981. - Antidotum primum. La prima apologia contro Poggio Bracciolini, hg. v. Ari Wesseling, Assen 1978 (Respublica literaria Neederlandica 4). - Antidotum in Facium, hg. v. Mariangela Regoliosi, Padua 1981 (Thesaurus mundi 20). - Repastinatio dialectice et philosophie, hg. v. Gianni Zippel, 2 Bde., Padua 1982 (Thesaurus mundi 21.22). - Epistole, hg. v. Ottavio Besomi/Mariangela Regoliosi, Padua 1984 (Thesaurus mundi 24). - De professione religiosorum, hg. v. Mariarosa Cortesi, Padua 1986 (Thesaurus mundi 25). - L'arte della grammatica, hg. v. Paola Casciano, Mailand 1990. - Orazione per l'inaugurazione dell'anno accademico 1 4 5 5 - 1 4 5 6 , hg. v. Silvia Rizzo, Rom 1994. - Le Postille aH'„Institutio oratoria" di Quintiliano, hg. v. Lucia Cesarini Martinelli/Alessandro Perosa, Padua 1996. - L'Epistola Contra Bartolum del Valla, hg. v. Mariangela Regoliosi: Vincenzo Fera/Giacomo Ferraù (Hg.), Filologia umanistica per Gianvito Resta, Padua, II1997,1501-1571. - De reciprocatione „sui" et „suus". Édition critique avec une introduction et une traduction, hg. v. Elisabet Sandström, 1998 (SGLG 63). Literatur Salvatore Camporeale, Lorenzo Valla tra Medioevo e Rinascimento. Encomion s. Thomae 1457: M D o m NS 7 (1976) 11-194. - Ders., Lorenzo Valla. Umanesimo e teologia, Florenz 1972. - Ders., Lorenzo Valla e il „De falso eredita Donatione". Retorica, libertà ed ecclesiologia nel '400: M D o m 19 (1989) 181-293. - Ders., Lorenzo Valla. Etica umanistica e prassi cristiana. 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Mariarosa Cortesi

Vandalen -»Afrika; —» Germanenmission, arianische Vaterunser I. Neues Testament II. Judentum III. Kirchengeschichtlich und praktisch-theologisch

S.512 S. 515

I. Neues Testament 1. Textgeschichte 4. Zusammenfassung

1. 1.1.

2. Das Vaterunser im Rahmen jüdischer Gebete (Literatur S.511)

3. Die einzelnen Bitten

Textgeschichte Übersicht

Das Vaterunser ist in drei Varianten überliefert, nämlich der aus nur fünf Bitten bestehenden lukanischen Kurzfassung (Lk 11,2-4) und den beiden miteinander eng verwandten Langfassungen von Mt 6 , 9 b - 1 3 und Did 8,2f. Der heute meist akzeptierte Text von Nestle/Aland27 ist zuverlässig; Varianten, wie sie insbesondere zur lukanischen Reichsbitte überliefert sind (e' rjßäQ-, D; die vermutlich auf Marcion zurückgehende Bitte um den heiligen Geist), haben keine Chance auf Ursprünglichkeit (vgl. Delobel). Die lukanische Fassung besteht aus der knappen Anrede näzep, den beiden mit einem Suffix der 2. Person endenden Du-Bitten und den drei längeren Wir-Bitten. Die Langfassung besteht aus drei Du-Bitten, deren letzte zweiteilig ist, und drei längeren zweiteiligen Wir-Bitten. Erst in der westlichen Tradition seit Augustin (enchir. 30 [115]) wurde die letzte zweiteilige Bitte als zwei Bitten gezählt, so daß das Vaterunser sieben Bitten umfaßt. Die Fassung von Did 8,2f. unterscheidet sich dabei von derjenigen von Mt 6,9b-13 nur sehr geringfügig. Die Mehrzahl der Forscher nimmt an, daß die Didache aus einer durch das Matthäus-Evangelium geprägten Gemeinde stammt und daß ihr Text auf demjenigen des Matthäus basiert. Ihre Fassung hat demzufolge bei der traditionsgeschichtlichen Rekonstruktion des ältesten Wortlautes auszuscheiden. 1.2. Quelle und

Redaktion

Die meisten nehmen an, daß Matthäus und Lukas das Vaterunser in ihrem Exemplar der Q-Quelle vorgefunden haben. Diese Annahme ist zwar wahrscheinlich, aber man muß damit rechnen, daß sie es außerdem aus der gottesdienstlichen Tradition der eigenen Gemeinde kannten. So ist im Einzelfall schwer zu beurteilen, was von den jeweiligen Besonderheiten ihrer Wörtlaute auf ihre Redaktion und was auf die liturgische Tradition ihrer Gemeinde zurückgeht. Ist überhaupt damit zu rechnen, daß individuelle Autoren

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wie Matthäus oder Lukas bei einem liturgischen Text wie dem Vaterunser den Wortlaut individuell redigiert haben? Das Beispiel der Abendmahlseinsetzungsworte, wo der „Historiker" Lukas durch Zusammenfügen zweier verschiedener Überlieferungen einen ganz neuen Text geschaffen hat (Lk 22,15—20), und die zahlreichen spontanen Variationen, die uns in der Überlieferung jüdischer Gebete belegt sind, zeigen, daß mit dieser Möglichkeit zu rechnen ist. Es gibt rabbinische Texte, die eine wörtliche Fixierung von Gebeten geradezu zu verbieten scheinen: „Man soll an jedem Tag dem (vorgeschriebenen Gebet) Neues hinzufügen" (yBer 4,4,8a [Der Jerusalemer Talmud in dt. Übers., ed. Charles Horowitz, Tübingen 1975, 127]). Bei Lukas, dessen Text im Umfang der konservativere ist, könnten in der Brotbitte tö KaO' rjjiEpav und der Imperativ Präsens SiSov redaktionell sein, in der Vergebungsbitte tag ä/iapriaq und die paränetische Zuspitzung navzi ocpsiXovzi. Bei Matthäus rechne ich eher damit, daß viele Sonderformulierungen aus der Gemeindetradition stammen könnten: Das gilt wohl für die volle, zeitgenössischen jüdischen Formulierungen entsprechende Anrede „unser Vater in den Himmeln" (vgl. Scheiben 418—428), für die neue dritte Bitte „dein Wille geschehe . . . " V. 10 und für die abschließende Zusatzbitte „sondern bewahre uns vor dem Bösen" V. 13b (anders Carruth/Garsky). Dafür spricht vor allem, daß die matthäische Fassung des Vaterunsers sehr früh bekannt gewesen zu sein scheint (II Tim 4,18; Did 8,1 f. und Polyk 6,2; 7,2; evtl. M k 11,25; Joh 17,15?). Die schöne Rundung des vormatthäischen Vaterunsers durch die den ersten Teil gewichtig abschließende dritte Bitte, die Aufwertung der kurzen Schlußbitte zu einer Doppelbitte und der rhythmische Charakter des Textes weisen auf seinen liturgischen Gebrauch. Da die Sprache der Sonderbitten weitgehend matthäisch ist, muß man dann allerdings annehmen, daß das matthäische Vorzugsvokabular vom Vaterunser mitgeprägt worden ist. 1.3. Ursprünglichster

Wortlaut

J. Heinemann lehnt die Frage nach einem ursprünglichsten Wortlaut des Vaterunsers angesichts des Variantenreichtums jüdischer Gebete ab (Heinemann 43). Gerade bei individuellen Gebeten, die auch im Judentum sehr zahlreich unter dem Namen einzelner Lehrer überliefert sind (ebd. 190f.; vgl. Abrahams 85), müsse man mit der Möglichkeit rechnen, daß ein Lehrer ein Gebet in verschiedenen Fassungen gelehrt hat. Für das Vaterunser vertritt erstmals Origenes, or. XVIII,2f., eine solche These, in der modernen Forschung z.B. Lohmeyer ( 1 5 - 1 7 . 2 0 8 f . ) . Immerhin besteht bei individuellen Gebeten grundsätzlich die Möglichkeit, eine Urfassung rekonstruieren zu können.

Für das Vaterunser scheint die Frage nach dem ursprünglichsten Wortlaut aber doch sinnvoll: Die weitgehende Identität der Wortlaute von Matthäus und Lukas im Grundbestand der Bitten, auch in so seltenen griechischen Wörtern wie enwooioq (s.u. 3.2.), legt nahe, daß es zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine griechische Übersetzung eines aramäischen Wortlautes gegeben hat. Die beiden Zusatzbitten der vormatthäischen Fassung entsprechen liturgischen Bedürfnissen und sind deutlich sekundär. Bei der Suche nach dem ursprünglichen Wortlaut dürfte sich die oft vertretene These bewähren, daß Lukas in der Zahl der Bitten und in der Anrede, Matthäus dagegen im Wortlaut ursprünglicher ist. Eine weitergehende traditionsgeschichtliche Dekomposition ist unnötig. 1.4. Die Ursprache

des

Vaterunsers

Als Ursprache des Vaterunsers ist am ehesten das Aramäische anzunehmen. Gelegentlich wird hebräische Ursprache vertreten (Carmignac 3 0 - 3 3 ) ; doch gibt es dafür kein Indiz außer der unbestrittenen Tatsache, daß im zeitgenössischen Judentum die meisten erhaltenen Gebete hebräisch formuliert waren. Für aramäische Ursprache gibt es zwei Hinweise: 1) Hinter dem lukanischen näztp dürfte das auch in urchristlichen liturgischen Traditionen aramäisch überlieferte 'abbä' stehen (Mk 14,36; Rom 8,15; Gal 4,6). 2) 'Ofaifalfia heißt griechisch nur „Geldschuld"; die metaphorische Verwendung in V. 12 wird nur vom aramäisch höbä' her verständlich, das zugleich „Geldschuld" und „-»Sünde" heißen kann (zur Beziehung zum aramäischen Qaddischgebet s.u. 2.). Bei der Rückübersetzung des Gebets ins Aramäische besteht für etwa die Hälfte des Textes weitgehender Konsens. Es ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß das aramäische Vaterunser

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rhythmisch formuliert war. W i e in späteren jüdischen Gebeten zeigen sich Spuren eines Endreims, der in der Regel durch die Endsuffixe der 2. Person Singular bzw. der 1. Person Plural konstituiert ist (Kuhn 3 0 - 4 0 ) . Eine durchgehend gereimte F o r m des Vaterunsers läßt sich aber nicht herstellen, weil wir bei der Rückübersetzung der Brotbitte im Dunkeln tappen. O b die matthäischen Sonderbitten je aramäisch existiert haben, ist sehr fraglich.

1.5. Herkunft von Jesus Das Vaterunser stammt von Jesus. Diese Annahme wird heute von den meisten Forschern geteilt (anders z.B. Meli; Taussig). 2. Das Vaterunser im Kähmen jüdischer

Gebete

Jahrhundertelang galt das Vaterunser als ureigenes Zeugnis des christlichen Glaubens. -»Tertullian sah in ihm eine Zusammenfassung der gesamten Glaubens- und Sittenlehre, ein breviarium totius Evangelii (or. I). Für ihn entspricht dem neuen Bund eine neue Gebetsform; sie ist der „neue Schlauch", in dem der „neue Wein" aufbewahrt wird. Für -» Cyprian ist es coelestis doctrinae compendium (dorn. orat. IX). In der Alten Kirche wurde es den Täuflingen vor der -» Taufe feierlich „übergeben" und nach der Taufe von ihnen als erstes Gebet gesprochen (Rordorf 2 - 5 ) . Noch für N.L. —»Zinzendorf ist es das Gebet der Wiedergeborenen par excellence, das nur von denen gebetet werden kann, die aus dem Heiligen -»Geist gezeugt sind (vgl. Luz 440). Dem entspricht, daß es liturgisch seit der Alten Kirche seinen Platz in der nur von den Getauften gefeierten Messe hatte, seit der Meßreform —»Gregor I. des Großen unmittelbar nach dem Kanon. Nicht nur für —»Luther, sondern für die Kirchen aller Konfessionen ist es zentraler Bestandteil der Katechismen. Der Umschlag erfolgte durch die -»Aufklärung, die entdeckte, daß dieses „war Christlich gebett" (Berner Synodus: BSRK 53) in Wirklichkeit weithin ein jüdisches Gebet ist. Für H. -»Grotius ist der Jude Jesus kein Neuerer: Sein Vaterunser enthält quicquid in Hebraeorum precibus erat laudabile (Annotationes in Novum Testamentum, Groningen, 11826, 223). J. J. -»Wettstein schreibt, das Vaterunser sei tota ...ex formulis Hebraeorum concinnata (Novum Testamentum Graecum I, Amsterdam 1752 = Graz 1962, 323) und enthalte alles, was zum Gebet vor der göttlichen Majestät notwendig sei. Seit der Aufklärung wurde es mehr und mehr zum gemeinsamen Gebet, das Juden und Christen miteinander verbindet (vgl. Brocke/Petuchowski/Strolz). Da seine Herkunft von Jesus bis heute nahezu unbestritten blieb, wurde es zum zentralen Testfall für die Frage, wie weit Jesus als Vertreter eines „common Judaism" bzw. wie weit er als „ganz besonderer Jude" verstanden werden muß, dessen Besonderheiten innerhalb des Judentums dazu führten, daß sich das junge Christentum vom Judentum trennte. Das „Besondere" des Vaterunsers sah man in der neueren Exegese insbesondere in drei Punkten, nämlich 1) in der einfachen und direkten Anrede an den „Vater"; 2) in seiner Kürze und Bündigkeit und 3) in seiner eschatologischen Orientierung (so z. B. Davies/ Allison I, 595). Zunächst ist festzuhalten, daß seine Kürze kein es von jüdischen Gebeten unterscheidender Zug ist. Mit seiner Vermeidung unnötiger Worte, Gottesepitheta und Berakot gehört es mit anderen jüdischen „kurzen Gebeten" zusammen. Solche hat es häufig gegeben: Längere Gebete konnten kurz zusammengefaßt werden, wie z. B. das SchemoneEsre in den Kurzfassungen von mBer 4,3f. (vgl. Bill. IV, 219f.). Kurz und schlicht sind normalerweise auch die von einzelnen Rabbinen überlieferten persönlichen Gebete (Heinemann 190f.; Beispiele Bill. IV, 222f.; I, 419f.). In der redaktionellen lukanischen Rahmung erscheint das Vaterunser denn auch als ein „Lehrergebet", das Jesus seinem Schülerkreis vermittelte (Lk 11,1). Dazu paßt, daß im Vaterunser wie in anderen jüdischen individuellen Gebeten manche Topoi der jüdischen Gemeindegebete fehlen, z.B. die Berufung auf die Patriarchen und auf die Erwählung Israels. Es fehlt auch eine nationale Färbung der Bitten und die konkrete Ausmalung der Zukunftshoffnung.

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M a n darf aber weder bei jüdischen Gebeten noch beim Vaterunser einen Gegensatz zwischen individuellen Gebeten und Gemeindegebeten aufrichten. J e n e knüpfen vielmehr oft an diese an. Das zeigt sich gerade beim Vaterunser, welches an das aramäische Qaddischgebet anschließt, das später am Schluß des Predigtteils des Synagogengottesdienstes gesprochen wurde. Sein Anfang ist den beiden ersten Bitten des Vaterunser parallel: „Groß gemacht und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat nach seinem Willen. / Er lasse seine Königsherrschaft herrschen in eurem Leben und in euren Tagen und im Leben des ganzen Hauses Israel, in Eile und in naher Zeit" (vgl. Staerk 30). Es ist gut denkbar, daß die Du-Bitten des Vaterunsers an das Qaddisch anknüpfen. Für die drei Wir-Bitten gilt dies aber nicht. Nach Fiebig und Jeremias hätte Jesus in ihnen den beiden „jüdischen" Bitten sein Eigentliches und Neues hinzugefügt; das Vaterunser wäre dann eine Art Verfremdung des Qaddisch durch Jesus. Das ist unwahrscheinlich: Das Nebeneinander von Namensbitte und Königsherrschaft ist auch in anderen Gebeten anzutreffen (z. B. im 'Alenu-Gebet [Text bei Bill. I, 419] oder im MusaphGebet für Neujahr [Text bei Staerk 22]); auch zu den Wir-Bitten gibt es jüdische Parallelen. Eher kann man sagen, daß das Vaterunser zu Beginn an jüdische Gemeindegebete erinnert und anschließend spezifische „Alltagsbitten" formuliert. Die Besonderheit des Vaterunser ist also eher innerhalb der jüdischen individuellen Gebete zu suchen als im Gegenüber zu ihnen. Damit soll nicht bestritten werden, daß es anderen jüdischen Gebeten relativ fern steht, z. B. der klassischen Version der 'Amidah aus dem 2. J h . 3. Die einzelnen

Bitten

In der -»Religionsgeschichtlichen Schule ist die eschatologische Deutung des Vaterunsers aufgekommen. Für A. —»Schweitzer ist das Vaterunser als ganzes „das Gebet um das Reich, in dem Jesus . . . dessen Kommen von Gott erflehen heißt. Auf diese Bitte laufen alle . . . hinaus" (Reich Gottes und Christentum [1967], Neuausgabe München 1995 [Werke aus dem Nachlaß I] 351f.). Sie ist bis heute herrschend geblieben und wird u.a. von J . Jeremias, E. Lohmeyer, H. Schürmann, R . Brown und W . D . D a v i e s / D . C . Allison vertreten. Die exegetische Grundfrage lautet heute, wie weit sich die einzelnen Bitten auf das Eschaton bzw. wie weit sie sich auf den gegenwärtigen Alltag beziehen. Die große Schwierigkeit besteht dabei darin, daß die Bitten so kurz und so offen formuliert sind, daß sich ihr Sinn nur selten eindeutig festlegen läßt. Ich verstehe diese Unbestimmtheit und Offenheit des Textes nicht als ein Manko, sondern als etwas Gewolltes: Sie erlaubt den Beterinnen und Betern, für ihre eigenen Hoffnungen und Bitten im Vaterunser ein sprachliches Haus zu finden. Die entscheidende exegetische Frage ist also nicht die, welche vorgegebene Grundidee (des Lehrers Jesus) den Sinn der einzelnen Bitten bestimmt, sondern die, welche Assoziationen die damaligen Beterinnen und Beter mitbringen, wenn sie die offen formulierten Bitten nachsprechen. Das Vaterunser ist ein Mustertext für eine an der Rezeption orientierte Exegese. Es ist klar, daß sich dieses methodische Prinzip gegen eine einlinige, „uniforme" Deutung der einzelnen Bitten auswirken wird. 3.1. Die

Anrede

Das ursprüngliche lukanische närsp dürfte der aramäischen Anredeform 'abbä' entsprochen haben. Sie wird im damaligen Aramäisch als Anrede von kleinen und erwachsenen Kindern an ihre Väter und auch als respektvolle Anrede an alte Männer gebraucht. J. Jeremias sah in ihr ein zentrales Kennzeichen der ipsissima vox Jesu und einen Ausdruck des einzigartigen Gottesverhältnisses des Sohnes Jesus (Jeremias 162f.). Seine These ist in ihrer „jesulogischen" Exklusivität nicht haltbar. Ob sprachlich die Gottesanrede 'abbä' singulär ist, ist schwer zu entscheiden: Aus zeitgenössischen jüdischen Gebeten sind vielfache Formen der Anrede Gottes als Vater belegt, aber nicht 'abbä' (so Fitzmyer, Abba; vgl. aber [den späten Text?] bTaan 23b!). Da die Texte aber selten genau datiert werden können und auch sprachgeschichtlich manches unklar ist, bleibt eine gewisse Unsicherheit (ähnlich Schelbert; Fitzmyer, Abba). Aber auch wenn

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diese Gottesanrede Jesu vielleicht nicht singulär war, auffällig bleibt sie auf jeden Fall: Im Vaterunser zeigt der Bruch des Rhythmus - das alleinstehende 'abbä' ordnet sich in die folgenden Zweierrhythmen nicht ein und verlangt nach sich eine Pause welches Gewicht auf ihr liegt. Die in griechischen Texten erhaltene aramäische Gottesanrede äßßä (Rom 8,15; Gal 4,6; M k 14,36) zeigt, daß die christlichen Gemeinden in dieser Gottesanrede Jesu etwas Besonderes gesehen haben. Auch der fortbestehende Gebrauch von 'abbä' als Gottesanrede im Diatessaron und in den altsyrischen Übersetzungen weist in diese Richtung.

Von damaligen jüdischen Betern konnte die Vateranrede sehr verschieden konnotiert werden: Man konnte an den -»Schöpfer und Erzeuger, den Erhalter, den obersten Lenker der Welt denken. Vom Sachkontext der Verkündigung Jesu her ist die Liebe Gottes besonders wichtig, welche auch in Jesu Vatergleichnissen ausgedrückt ist (bes. Lk 11,1113 [Q]; 15,11-32). Von Jesus her ist also wohl vor allem an die Nähe Gottes und an seine Liebe zu denken. Dazu paßt auch die auf alle weiteren Epitheta verzichtende Schlichtheit der Anrede und - auf der Textebene des Matthäus - das unmittelbar vorangehende Logion Mt 6,7f. Mit der Gottesanrede näxtp beginnt also das Vaterunser mit einem Stück Heilszusage: Das ist nicht unjüdisch, aber doch charakteristisch jesuanisch. Jesus bewegt sich hier innerhalb einer jüdischen Sprachmöglichkeit. Man darf, ja muß von einem besonderen Gottes Verständnis Jesu sprechen, sollte dies aber nicht mit einem unjüdischen Gottesverständnis verwechseln. So denkt auch die matthäische Gemeinde, die den Vater Jesu „unsern Vater in den Himmeln" nennt und sich damit an einen damals in der Synagoge wichtig werdenden jüdischen Sprachgebrauch anschließt, sich also nicht davon distanziert. 3.2. Die Du-Bitten Ist die erste Bitte „dein Name werde geheiligt" eschatologisch zu deuten? Der Sinn der ersten beiden Bitten wäre dann fast identisch. Aus dem griechischen Imperativ Aorist darf man aber nicht schließen, daß ein einmaliges Einschreiten Gottes für seinen Namen erbeten würde. Er entspricht vielmehr griechischem Gebetsstil; aus dem zugrundeliegenden aramäischen Imperfekt können ohnehin keine entsprechenden Schlüsse gezogen werden. Es ist also sprachlich ebensogut möglich, daß Gott um Heiligung seines Namens hier und jetzt in der Geschichte gebeten wird. Schließlich ist zu fragen, ob das Passivum wirklich ein Passivum Divinum ist oder ob nicht auch die Menschen Subjekt der Heiligung des Namens sein können. Von Gott würde dann erbeten, daß Menschen seinen Namen heiligen. Dieser Deutungsvorschlag entspricht der bis zum Aufkommen der eschatologischen Vaterunser-Deutung in der kirchlichen Tradition herrschenden paränetischen Auslegung: Gott besitzt die Fülle aller Herrlichkeit; „gleichwohl befiehlt er . . . , darum zu bitten, daß er auch durch unser Leben verherrlicht werde" (-»Johannes Chrysostomus, hom. in Mt. 19,4 = PG 57, 279). In diese Richtung weisen manche biblischen (z. B. Ex 20,7; Lev 22,32; Jes 29,23 etc.) und die meisten jüdischen Parallelen, insbesondere die erste Bitte des Qaddisch und die verbreiteten rabbinischen Aussagen über die „Heiligung des Namens" (Bill. I, 411-418; Luz 445f. Anm. 70.76). Die Bitte ist außerdem so allgemein und knapp formuliert, daß sie sowohl an ein Handeln des Menschen als auch an ein Handeln Gottes zu denken erlaubt. Ein ethisches Moment darf auf keinen Fall ausgeschlossen werden. Eine verkappte Selbstaufforderung („laßt uns den Namen Gottes heiligen") ist die Bitte dennoch nicht; sie bleibt eine Bitte: menschliche Erkenntnis, menschliches Handeln und menschliche Erfahrung wird von Gott ermöglicht, ermutigt und getragen. In der zweiten Bitte „dein Reich komme" hat die eschatologische Deutung ihren stärksten Pfeiler. Es ist autfällig, wie oft die zukünftige Gottesherrschaft (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) Gegenstand von Bitten der Rabbinen ist, bei denen sonst eher der Gegenwartsaspekt von Gottes Herrschaft im Vordergrund steht (Schemone-Esre 11. Beraka; Qaddisch; 'Alenu-Gebet; Tg. Obadja 14; Texte bei Bill. 1,418f.; Dalman 311-313). Gegenüber den jüdischen Parallelen auffällig ist Jesu Redeweise vom Kommen der Got-

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tesherrschaft: Jesus versteht sie nicht als etwas Statisches, was nur sichtbar werden wird (Sib 3,47f.; AssMos 10,1), sondern als etwas Dynamisches, Machtvolles (Schlosser 2 6 1 - 2 8 4 ) . Auffällig ist wieder die lapidare Kürze der Bitte: in der 11. und 12. Beralca des Schemone-Esre ist von der Rückkehr der Richter und der Vernichtung R o m s die Rede; das Qaddischgebet bittet um Gottes Herrschaft „in E i l e " . Im Vaterunser fehlen solche T ö n e . Das paßt gut zu Jesus, der das Kommen des Gottesreichs auch sonst nicht ausmalt, zeitlich fixiert und der seine politischen und nationalen Dimensionen zurücktreten läßt. Die offene Formulierung der Bitte schreibt den Beterinnen und Betern nicht ein bestimmtes Verständnis der Gottesherrschaft vor. Die in Mt 6,10b.c überlieferte Zusatzbitte „dein Wille geschehe ..." läßt sich kaum eschatologisch deuten. Der Nachsatz setzt wohl voraus, daß Gottes Wille im Himmel bereits geschieht, und daß er sich, wie schon im Himmel, so auch auf der Erde durchsetzen möge. Einen Hinweis auf das matthäische Verständnis gibt 6,33, wo der Evangelist zum Reich Gottes öiKaioovvt] zufügt, ähnlich wie er die dritte Bitte des Vaterunsers neben die zweite stellt: Trachtet nach dem Reich, indem ihr die ihm entsprechende Gerechtigkeit tut! Noch wichtiger ist die Gethsemaneszene in 26,42: Wenn Jesus bittet, daß „dein Wille geschehe", so bittet er nicht nur darum, daß Gott tue, was er will, sondern zugleich auch um die Kraft, sich selber aktiv diesem Willen Gottes zuzuordnen. Im Bereich alttestamentlich-jüdischen Denkens wird der Wille des aktiven Gottes immer als Forderung an einen aktiven Partner verstanden. Es geht nicht um die Ergebung in ein undurchschaubares und nur gläubig zu akzeptierendes Fatum. Eine Alternative zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln des Menschen ist m.E. unmöglich. 3.3. Die

Wir-Bitten

Die Brotbitte ist wegen des seltenen, außerchristlich nur noch einmal bezeugten Wortes emoöawQ schwierig zu deuten. Auszugehen ist etymologisch von einer Verbindung von eni mit einem Derivat des Verbes ievai (gehen werden, kommen) und nicht des Verbes elvai (z. B. ovaia, oöaa), weil eine solche zwingend das Wort £1loomoQ (mit Elision des /) erwarten ließe. Damit fallen sehr viele der klassischen kirchlichen Auslegungen der Bitte weg. Am wahrscheinlichsten ist eine Ableitung von ij enioöaa (sc. rjpepa: der kommende Tag), einem in hellenistischer Zeit gerade im Umkreis des Neuen Testaments sehr häufig belegten Ausdruck (nach Hemer: 13mal bei Polybius [2. Jh.]; 33mal bei - » J o sephus Flavius; zweimal in L X X ; dreimal in Act). Davon abgeleitet ist das Adjektiv miovaioq eine völlig normale Bildung, um so verständlicher, als es ein anderes griechisches Adjektiv mit der Bedeutung „morgig" nicht gibt. Die Deutung „unser morgiges Brot gibt uns heute" ist außerdem durch das Nazaräerevangelium (Frgm. 5) für die erste Hälfte des 2. J h . bezeugt ( N T A p o 5 1 , 1 3 4 ) . Als aramäisches Äquivalent für iniovoioq ist vom Nazaräerevangelium her am ehesten eine Bildung mit mähär anzunehmen (Jeremias 165f.); die in der Exegese beliebte Anspielung auf die Gabe des M a n n a und insbesondere E x 16,4 ist m.E. eher unwahrscheinlich (gegen Starcky; Grelot; Davies/ Allison 608f.). D a ß mähär auch die Bedeutung „zukünftig" haben kann und daß das erbetene Brot das zukünftige Himmelsbrot, das Brot der eschatologischen Mahlzeit im Reich Gottes meinen könnte (vgl. M k 14,25 par.; M t 8,11 f. par.; Lk 22,30), ist natürlich möglich. Es ist aber nicht die nächstliegende Deutung. Sowohl das Possessivpronomen rjficbv als auch das Adverb atj/j.epov, das in diesem Fall eine extreme Naherwartung voraussetzte, sprechen dagegen. Die vierte Bitte des Vaterunsers gehört m . E . in eine Situation sozialer N o t , in der die Nahrung für den folgenden Tag nicht einfach selbstverständlich vorhanden ist. M a n kann etwa an die Situation eines Tagelöhners denken, der noch nicht weiß, ob er am folgenden Tag wieder eine Arbeit findet, wovon er mit seiner Familie leben kann. „Brot für morgen" enthält zugleich eine Begrenzung: es geht um das Überlebenkönnen, nicht um Reichtümer. „ H e u t e " ist keineswegs überflüssig, sondern läßt die Dringlichkeit der Bitte spüren. Jüdische Parallelen zu dieser Bitte sind spärlich. Zur 9. Beraka des Schemone-Esre, wo aus der Perspektive des Bauern für die Frucht des Jahres gebetet wird, besteht ein charakteristischer Unterschied. Die Bitte reflektiert vermutlich nicht die be-

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sondere Situation der um der Verkündigung des Gottesreichs willen arm gewordenen Jesusjünger, die nach Lk 10,4.7f. [Q] nichts mit sich tragen dürfen, auch nicht den Proviant für den folgenden Tag. Sie zeigt, daß das Vaterunser nicht ein besonderes Jüngergebet sein will. Bei der Vergebungsbitte stoßen wir wieder auf ein zentrales Thema jüdischen Betens (Schemone-Esre, 6. Beraka; 'Abinu Malkenu; Habinenu [Texte bei Bill. I, 421], vgl. auch die Gebete für den Versöhnungstag bei Bill. I, 113f.). Sünde wird bei Jesus wie manchmal auch im Judentum (Dalman 336-338) nicht als Verfehlung, sondern als „Schuld" verstanden (vgl. z.B. Lk 7,41-43; 16,1-8; Mt 18,23-35). Das Auffällige an dieser Bitte ist ihr Nachsatz. Er schließt eine eschatologische Deutung dieser Bitte aus: Blickt man auf die schon geschehene menschliche Vergebung zurück (Aorist!), so kann sich die Bitte um Gottes Vergebung nicht erst auf das Eschaton beziehen. Der Gedanke, daß göttliche Vergebung an menschliche Vergebung gebunden ist, ist zwar jüdisch verbreitet (Sir 2 8 , 2 - 5 ; mYom 8,9), aber es gibt in jüdischen Texten m.E. keinen Fall, wo menschliches Handeln in dieser Weise in einen zentralen Gebetstext hineingenommen wird. Wieder zeigt sich, daß Gebet und menschliches Handeln sich nicht ausschließen. Das Verhältnis des Nebensatzes zum Hauptsatz ist unklar: Der textlich sicher ursprüngliche matthäische Aorist dipijKaßev ist angesichts der aramäischen Tempora nicht zu pressen, meint aber bei Matthäus doch wohl im Sinne von M t 5,23 f.; 6 , 1 4 f . ; 7 , l eine Bedingung. Das lukanische Praesens äiofiEV paßt zur lukanischen paränetischen Tendenz: Immer soll gelten, daß auch wir jedem Schuldner vergeben. Es könnte hier aber auch eine ältere Textform vorliegen (vgl. Did 8,2).

Auch für die Schlußbitte, die Versuchungsbitte, wurde eine eschatologische Interpretation vorgeschlagen: Mit neipaafiöq wäre dann die endzeitliche Drangsal gemeint. Fast alles spricht dagegen: Weder in der jüdischen —»-Apokalyptik noch im Neuen Testament ist neipaanÖQ ein apokalyptischer terminus technicus. Auch fehlt der dann zu erwartende bestimmte Artikel. Auch jüdische Parallelen (11Q05 24,10-12; bBer 60b) sprechen dafür, an die im alltäglichen Leben begegnenden Versuchungen zu denken. Sehr beschäftigt hat ältere und neuere Ausleger die Frage, ob es denn Gott selbst sei, der in -»Versuchung führt. Ein aramäischer Kausativ, der hinter prj ebeveyKtjq stehen dürfte, kann sowohl aktives Handeln wie permissives Zulassen meinen. Aber der griechische Übersetzer spricht von einem aktiven Handeln Gottes. Im Gebet ist Gottes unbedingte Macht einfach vorausgesetzt. Es gilt auch hier: Der Mensch bittet um etwas, was er selber durch sein Verhalten bestimmt. Nur bei Matthäus steht die Bitte „ s o n d e r n bewahre uns vor dem Bösen", welche die Versuchungsbitte auf die Länge der übrigen Wir-Bitten bringt. Sie betont die Realität der Macht des -•Bösen, das hinter der Versuchung steht. Ist novr\poö maskulinisch oder neutrisch zu verstehen? Die Mehrzahl der matthäischen Belege, die Parallelität zur Versuchungsbitte, die ältesten mutmaßlichen Deutungen der Bitte in II Tim 4,18 und Did 10,5 sowie die jüdischen Parallelen - im Judentum ist „der Böse" als Satansbezeichnung (-> Teufel) kaum belegt - sprechen für neutrische Deutung. Von den jüdischen Parallelen (bes. bei Dalman 3 5 2 - 3 5 4 ) her legt es sich wiederum nahe, an Alltagserfahrungen zu denken: an Krankheit, Drangsal, böse Menschen, den bösen Trieb.

Die in den christlichen Gottesdiensten übliche dreigliedrige Doxologie fehlt bei Lukas und in den besten Handschriften des Matthäus. Im Grundtyp geht sie auf I Chr 29,11 zurück. Daß das Vaterunser von Anfang an mit Doxologie gebetet wurde, zeigen II Tim 4,18 und die nach dem Brauch der Didache (10,5!) zweigliedrige Doxologie Did 8,2. Auch jüdische Gebete sind nicht ohne abschließende Doxologie denkbar. 4.

Zusammenfassung

Das Vaterunser ist ein sehr offen formuliertes Gebet, das gerade durch seine Offenheit vielen Beterinnen und Betern ein Mitbeten erlaubt, ohne eine bestimmte Interpretation der Bitten festzulegen. Eine durchgehende eschatologische Interpretation ist so gut wie ausgeschlossen. Vielmehr beziehen sich die meisten seiner Bitten auf den gegenwärtigen Alltag der Menschen, die Brotbitte spezifisch auf den Alltag von armen Menschen. Nur

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die zweite Bitte richtet sich auf das E s c h a t o n . Gerade das Nebeneinander von Bitten, die auf den Alltag bezogen sind und solchen, die sich auf die Endzeit beziehen, ist typisch für viele jüdische Gebete, z. B. das Schemone-Esre und das Qaddisch. Z u ihnen gesellt sich auch das Vaterunser. Z ü g e , welche charakteristisch jesuanisch sind, gibt es in ihm auch: Dazu gehört vor allem die Bitte um das Kommen der Gottesherrschaft, die aus der Perspektive der A r m e n formulierte Brotbitte und die Betonung des menschlichen Vergebungshandelns im N a c h s a t z der Vergebungsbitte. Ein spezifisches Jüngergebet aber ist das Vaterunser nicht. 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Ulrich Luz

II. Judentum 1. Einleitung dischen Liturgie

2. Parallelen der außerkanonischen und rabbinischen Literatur sowie der jü3. Zusammenfassung (Literatur S. 515)

1. Einleitung Jüdische Analogien zur Struktur des Vaterunsers sind kaum belegt, da Privatgebete wie das Vaterunser selten Eingang in den literarischen Reproduktionsprozeß fanden. Die (zufälligen) Textfunde haben daher kaum aramäische Parallelen aus dem Bereich der Gebetstexte gebracht. Das Vaterunser entstammt keiner liturgischen Praxis und hat auch vor dem 4. Jh. keine solche begründet (Taft; Bradshaw). Es hat daher keine Vorbilder in der Liturgie der Qumrangemeinde (—»Qumran), spiegelt nicht die Entwicklung von Vorläufern der späteren jüdischen Stammgebete und ist auch nicht als Gegenentwurf zu denselben verstanden worden (anders Wiek). Eine Fülle von thematischen Parallelen aus der jüdischen Literatur und Liturgie zeigen jedoch, daß das Vaterunser nicht nur aufgrund seiner offenen Formulierung, sondern auch inhaltlich an einem breiten Konsens des zeitgenössischen und rabbinischen Judentums partizipiert. Viele Elemente des Vaterunsers lassen sich durch Hinweise auf das Alte Testament, die außerkanonische und die rabbinische Literatur in ihrem kulturellen Kontext verorten. Neben den Anmerkungen von H. —»Grotius und J . J . -»Wettstein (s.o. 1.2.) hat John Lightfoot ( 1 6 0 2 - 1 6 7 5 ) systematisch Parallelen zur jüdischen Literatur und Liturgie analysiert. Sein Repertoire wurde von Ch. Schöttgen, F. Nork und anderen erweitert und erst durch die Sammlungen von G. Dalman und P. Billerbeck (Bill.) ersetzt. Die Entwicklung der historisch-kritischen Forschung zeigte zunächst, daß Texte der rabbinischen Literatur und jüdischen Liturgie nicht direkte Vorbilder des Vaterunsers gewesen sein konnten. Gleichzeitig wurde das Repertoire von thematischen Parallelen durch die Erschließung oder Entdeckung außerkanonischer Texte erweitert. Für Aspekte der Unabhängigkeit des Vaterunsers von jüdischen Quellen wird bis heute auf der Basis von (um Elemente mit klaren jüdischen Parallelen) reduzierten Formen des Textes argumentiert. U. Meli verteidigt trotz Rekonstruktion eines Urtexts dessen jüdischen Charakter.

Jüdische Texte, die wichtige Parallelen zum Vaterunser aufweisen, sind die apotropäischen Gebetselemente (2.1.), der hebräische Sir 51,8.10—12 (2.2.), die „Lehrergebete" bzw. die „kurzen Gebete" des -»Talmud Bavli (2.3.; vgl. o. 1.2.) und das Qaddisch (2.4.; vgl. o. 1.2.). Neben diesen Parallelen aus euchologischen Texten, ist der Hintergrund der Vergebungsbitte mit Hilfe von jüdischen Quellen zu deuten (2.5.). 2. Parallelen aus der außerkanonischen schen Liturgie

und rabbinischen

Literatur sowie der jüdi-

2.1.1966 wies D. Flusser auf das aramäische, literarische Privatgebet Levis in 4QLevi b ar 4Q213a DJD 22 (par. hebräisch 1 lQPs" Plea 19,13 - 1 6 ) und seine Parallelen in Gebeten aus der rabbinischen Literatur (bBer 16b; 60b) hin. Sie erweisen die letzten Bitten des Vaterunsers als apotropäisches Gebetselement: „Vergib, JHWH, meine Sünde. Reinige mich von meinem Vergehen. Gewähre mir gnädig einen Geist des Glaubens und des Wissens. Ich möge nicht durch Zerstörung entehrt werden. Laß nicht Satan und einen unreinen Geist in mir herrschen. Schmerz und böser Trieb mögen sich nicht meiner bemächtigen". Der Text zeigt, daß die entsprechenden Bitten des Vaterunsers als Einheit zu lesen sind. Wie das Gebet Levis deuten sie das Neutrum „Unrecht" in Ps 119,133b

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(„Laß kein Unrecht in mir herrschen!") dämonologisch - „ . . . erlöse uns von dem Bösen". In der späteren jüdischen Literatur ist die Bezeichnung „der Böse" für Satan (-»Teufel) nicht belegt (Dalman) und spätere jüdische Gebetstexte kehren teilweise wieder zu abstrakten Begriffen zurück. Daß Gott selbst Menschen erprobt („versucht"), ist aus dem Alten Testament genauso evident (Gielen) wie problematisch und forderte zu Apologien (vgl. llQPs* 155 2 4 , 3 - 1 7 DJD 4; PsSal 5,6; I Kor 10,13; BerR 32.34.55; ShirR 2,16 §2; MTeh 11,4; Ps 11,5) und dämonologischen Deutungen (Jub 10,8: Mastema erhält zehn Prozent der Dämonen, um die Menschen zu versuchen) heraus. In einer vermutlich jüdisch-griechischen Bearbeitung des Achtzehngebets (Papyrus Egerton 5,15-17; 4./5. Jh., Ägypten, vgl. Horst) wurde dieses Element in den Kontext der Bitte um Sündenvergebung eingetragen. Die Wortwahl zeigt keinen Einfluß des Vaterunsers.

2.2. Im hebräischen Sir 51,10-12 sind die Vater-Anrede Gottes, der Ausdruck des Lobes seines Namens und die Bitte um Erlösung von Unheil in einem Gebetstext zusammengestellt. 2.3. Seit Lightfoot wird das Vaterunser im Horizont der Lehrergebete (vgl. o. 1.2.) des Talmud Bavli gesehen. Diese literarischen Kompositionen können aus der Gebetspraxis gespeist sein und gingen teilweise im Kanonisierungsprozeß der jüdischen Tagzeitenliturgie zum Ende des ersten Jahrtausends in die liturgische Praxis ein. Das Vaterunser ist weder eine Abkürzung eines bestehenden längeren Gebets noch ein Stoßgebet in einer Notsituation. Eine inhaltliche Parallele findet sich dennoch aus der Gruppe der „kurzen Gebete" in bBer 29b: „Unsere Rabbinen lehrten: Wer an einem Ort von Rudeln wilder Tiere und von Räubern geht, betet ein kurzes Gebet. Was ist ein kurzes Gebet? Rabbi Eliezer sagt: Tue deinen Willen im Himmel oben. Gib denen, die dich unten fürchten, einen ruhigen Geist. Tue, was nach deiner Meinung gut ist. Gepriesen bist du, Y', der das Gebet erhört." (vgl. nach Situation und Inhalt M t 26,39.42 par.) Die „kurzen" Gebete davor und danach haben die Erfüllung der Bitte um das Wohlergehen des Volkes Israel zum Gegenstand. Im selben Kontext stellt Abaye fest, daß sich der Beter „immer mit der Gemeinde zu verbinden h a t " . In die Zeit des Neuen Testaments zurückprojiziert, verbietet das den Schluß auf eine liturgische Rezitation des Textes aufgrund seiner pluralischen Formulierung: „Unser . . . " . Das Vaterunser stellt das Privatgebet in den Kontext des Volkes, aus dem es erst formuliert werden kann. Diese Perspektive erleichtert auch die Akzeptanz des Paradox, d a ß der Beter die Erfüllung des Willens Gottes empfiehlt und danach Bitten formuliert. 2.4. Die erste „Bitte" um Heiligung des Namens Gottes ist als Gebetseinleitung (SifDev 343; vgl. Heinemann, Prayer 184) - ja als Ausdruck des Respekts bei der Namenserwähnung (analog dazu der Ersatz des Gottesnamens durch „der Heilige — gepriesen sei er!", vgl. Metzler) zu verstehen. Auch die folgenden zwei „Bitten" können als Huldigung an Gott gedeutet werden. Eine nahe strukturelle Parallele ist der Anfang des aramäischen Qaddisch — das heute vor allem als Schlußdoxologie die Abschnitte der Tagzeitenliturgie gliedert und in der Antike als Antwort des Volkes auf die Predigt entstand. Vollständig ist es erst im 9. Jh. bezeugt (hebräische Übersetzung: Gebet zur Toralektüre; schon Sof 14,6; SER 12; vgl. zum Qaddisch die umfassende Studie von Lehnardt). Weizman datiert es durch seine Analyse der darin gespiegelten (antignostischen - ergo frühestens um das 2. Jh. zu datierenden) Theologie und des Zitats seines Anfangssatzes (ohne biblische Vorlage) als Abschluß eines Gebets in Peschitta I Chr 19,19 (die Chronik wird 344 von -»Aphrahat zitiert) in die Zeit der ersten Generationen der Gelehrten des Talmud. Das Qaddisch ist in der dritten Person gehalten und beginnt daher nicht mit einer Anrede Gottes. Die passivischen Formulierungen entsprechen dem Vaterunser. Wie das Vaterunser steht es zwischen Bitte und Huldigung Gottes. Das Vaterunser kann nicht vom Qaddisch abhängig sein (anders de Sola Pool), zeigt aber, daß die Elemente des Qaddisch bereits in der Gebetssprache des 1. Jh. im Rahmen der einleitenden Doxologie eines Privatgebets geprägt waren.

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2.5. Der matthäische Text der Vergebungsbitte (s.o. 1.3.3.) bedient sich der Metaphorik der Geschäftswelt, um über Verfehlung und Sünde zu sprechen. Diese Sprachform wurde in nach-alttestamentlicher Zeit zu einem weit verbreiteten Paradigma (Anderson) und verdrängte teilweise die Auffassung von Sünde als „Last" (z. B. Lev 16,22; Jes 53,12; Mi 7,18; Ps 32,1; 85,3; vgl. Dalman 336f.: Aktualisierung der Metaphern z.B. Targum Onkelos Ex 23,21; 34,7; Num 14,19) oder als „Verunreinigung" (z. B. Jer 33,8; Ps 51,9). Die Kombination der Thematik von menschlicher und göttlicher Vergebung ist der rabbinischen Literatur geläufig, wobei zu fragen ist, wie sie zueinander stehen. In mYom 8,9 (Sifra achre mot Pereq 8,1 f.) wird für das Problem der Wirkung des Versöhnungstags die (finanztechnische) Maximalforderung gestellt: „Verfehlungen zwischen einem Menschen und seinem Genossen sühnt der Versöhnungstag nur, wenn er seinen Genossen zufrieden gestellt hat", was implizierte, daß der Gläubiger formell das Erlöschen seines Anspruchs zum Ausdruck gebracht hat (schon 4. Jh. v. Chr. etc., Formel tyb Ibby: vgl. Muffs). Wer nicht gerade auf einen Heiligen trifft, der im Voraus verzeiht (Rabbi Tarfon, yShevi 4,2 35b), oder wer nicht selbst so bedeutend ist, daß der die Verzeihung verweigernde Genosse sofort einem Arbeitsunfall zum Opfer fällt (bYom 87a), kann noch auf die Vermittlung anderer hoffen oder seine über die Wiedergutmachung hinaus erforderliche Bitte um Vergebung (mBQ 8,7; tBQ 9,29) vor Zeugen am Grab des Geschädigten äußern (yYom 8,9 45c; bYom 87a). Analog dazu sollte die Zeile lauten: „Wie auch uns unsere Gläubiger die Schulden erlassen haben". Zum Vaterunser passen daher jene Texte, die zur Barmherzigkeit gegenüber den „Schuldnern" aufrufen und auf das zu erwartende analoge Verhalten Gottes hinweisen (tBQ 9,30 = yBQ 8,7 6c, SifDev § 96; bShab 115b; bRHSh 17a etc.; wenn die Vergebung trotz Bitten ausbleibt, vergibt Gott dennoch nach PesR 38). Die Vergebungsbitte des Vaterunsers ist im Rahmen der Finanzmetaphorik problematisch, wenn der Beter den „Schuldenerlaß" Gottes an den eigenen Verzicht auf legale Finanztransaktionen bindet (auch übertragen auf Sünden gegen Gott kann ein solcher Nachlaß nicht unbedingt erwartet werden: yTaan 4,4 66c; QohR 11,1[2]). yBer 5,3 9c „So wie ich im Himmel barmherzig bin, sollt auch ihr barmherzig auf der Erde sein." steht nicht im Kontext der Sündenvergebung, sondern der für den Gesetzespositivismus gefährlichen Frage nach den Gründen für die Gesetze der Tora.

Die Metaphern der Vergebungsbitte sind im Kontext von Markt und Gericht dekodierbar (Anderson). Im Rechtsstreit mit Satan setzt Gott eine Waage (Dan 5,25-27; tQid 1,13; bQid 40b; QohR 10,1 [1]) ein, um die Sünden Israels gegen ihre Verdienste zu messen. Während Satan sich entfernt, um weitere Sünden herbeizuschaffen, nimmt Gott Sünden aus der Waagschale (PesR 45) oder zieht zugunsten des Sünders einen Schuldschein von der ausgewogenen Waage (PesK 25,2). Nach mBB 5,11 hat der Verkäufer bei Ausgewogenheit der Waagschalen zugunsten des Käufers eine gewisse Menge des Gutes dazuzulegen - die Waage zugunsten jenes entscheiden zu lassen. In diesem Sinn erbittet die Vergebungsbitte zusammen mit der folgenden Selbstverpflichtung von Gott, er möge sich beim Abwägen von Sünden und Verdiensten so verhalten, wie auch der Beter — sowohl im täglichen Geschäft als auch übertragen in seinen Beziehungen zugunsten seiner Schuldner - zu verrechnen pflegt. 3.

Zusammenfassung

Das Vaterunser schöpft seine Motive aus dem Alten Testament und den Texten der außerkanonischen Literatur. Jene Texte sind daher zur Beschreibung des geistesgeschichtlichen Hintergrunds des Vaterunsers heranzuziehen. Der Mangel an zeitgenössischen, literarischen, jüdischen Privatgebeten macht es zu einem wichtigen Zeugen für eine Gattung, die bei reicherer Beleglage auch nach Struktur und Funktion besser zu erforschen wäre. Seine Beziehung zur rabbinischen Literatur und jüdischen Liturgie ist mit Vorsicht zu beschreiben, weil z. B. Texte babylonischer Gelehrter des 4. Jh. sich von ihren kulturellen Wurzeln im Palästina des 1. Jh. schon weit entfernt haben können.

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D i e b e s c h r i e b e n e n P a r a l l e l e n h e l f e n , A s p e k t e des V a t e r u n s e r s zu d e u t e n , i n d e m sie es als f r ü h e n V e r w a n d t e n der s p ä t e r e n T e x t e u n d t h e o l o g i s c h e n V o r s t e l l u n g e n auffassen. D a s V a t e r u n s e r ist d a h e r n i c h t n u r w e g e n seiner b r e i t e n R e z e p t i o n im C h r i s t e n t u m , s o n d e r n a u c h in seiner B e d e u t u n g für die F r ü h g e s c h i c h t e j ü d i s c h e n B e t e n s v o n g r ö ß t e r Bedeutung. Literatur S.a. die Lit. zu I. Gary A. Anderson, The Genesis of Perfection. Adam and Eve in Jewish and Christian Imagination, Louisville, Ky. 2001, bes. 1 5 5 - 1 7 6 . - Bill. I, 4 0 6 - 4 2 6 . - Paul F. Bradshaw, Daily Prayer in the Early Church. A Study of the Origin and Early Development of the Divine Office, 1981 (ACC 63). - Gustaf Dalman, Die Worte Jesu, Leipzig I 1898 2 1930, 2 8 3 - 3 6 5 . - Craig A. Evans, Jesus and the Dead Sea Scrolls: T h e Dead Sea Scrolls After 50 Years. A Comprehensive Assessment, hg. v. Peter W. Flint u.a., Leiden, II 1999, 5 7 3 - 5 9 8 , bes. 5 8 1 - 5 8 4 . - David Flusser, Qumran and Jewish „Apotropaic" Prayer: IEJ 16 (1966) 1 9 4 - 2 0 5 = ders., Judaism and the Origins of Christianity, Jerusalem 1988, 2 1 4 - 2 2 5 . — Marlis Gielen, „Und führe uns nicht in Versuchung". Die 6. Vater-Unser-Bitte - eine Anfechtung f. das bibl. Gottesbild?: Z N W 89 (1998) 2 0 1 - 2 1 6 . - Alon Goshen-Gottstein, God and Israel as Father and Son in Tannaitic Literature, Jerusalem 1 9 8 6 - 1 9 8 7 , bes. 2 4 0 - 247 [Diss., hebräisch, engl. Zusammenfassung]. - Joseph Heinemann, T h e Background of Jesus' Prayer in the Jewish Liturgical Tradition: T h e Lord's Prayer and Jewish Liturgy, hg. v. Jakob J . Petuchowski u.a., London 1978, 8 1 - 8 9 . - Pieter W. van der Horst, Neglected Greek Evidence for Early Jewish Liturgical Prayer: J S J 29 (1998) 2 7 8 - 2 9 6 . - Andreas Lehnardt, Qaddish. Unters, zur Entstehung u. Rezeption eines rabbinischen Gebetes, 2002 (BAJ 87). - John Lightfoot, Horas hebraicae et talmudicae in quatuor evangelistas . . . ( 1 6 5 8 - 1 6 7 4 ) , Leipzig 1684, 2 2 9 303 = ders., Op. Omnia, Franeker, II 2 1699, 3 0 0 - 3 0 3 ; engl. Übers.: A Comm. on the N T from the Talmud and Hebraica, Oxford 1859 Nachdr. Peabody, Mass., II 1989, 1 4 6 - 1 5 4 . - Ulrich Meli, Gehört das Vater-Unser zur authentischen Jesus-Tradition? (Mt. 6 , 9 - 1 3 , Lk 1 1 , 2 - 4 ) : B T h Z 11 (1994) 1 4 8 - 1 8 0 . - Norman Metzler, T h e Lord's Prayer. Second Thoughts on the First Petition: Bruce Chilton u.a. (Hg.), Authenticating the Words of Jesus, 1998 ( N T T S 28/1) 1 8 7 - 2 0 2 . - Yochanan Muffs, Studies in the Aramaic legal Papyri from Elephantine, 1969 (SDIO 8). - F. Nork [Pseud, v. Felix Korn], Rabbinische Quellen u. Parallelen zu ntl. Schriftstellen, Leipzig 1839. - David de Sola Pool, T h e Old Jewish-Aramaic Prayer. T h e Kaddish, Leipzig 1909 Nachdr. Jerusalem 1964, bes. 2 1 - 2 3 . 2 7 - 2 8 . 1 1 1 - 1 1 2 . - Christian Schöttgen, Horae hebraicae et talmudicae in universum NT, Dresden 1733, 6 0 - 6 5 . - Georg Schelbert, Abba, Vater! Stand der Frage: F Z P h T h 40 (1993) 2 5 7 - 2 8 1 . [Entgegnung v. Eugen Ruckstuhl: ebd. 41 (1994) 5 1 5 - 5 2 5 ; Antwort v. Schelbert: ebd. 5 2 6 - 5 3 1 . ] - Angelika Strotmann, Mein Vater bist du! (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes in kanonischen u. nichtkanonischen frühjüd. Sehr., 1991 (FTS 39). - Robert Taft, T h e Lord's Prayer in the Eucharistie Liturgy. When and Why?: E O 14 (1997) 1 3 7 - 1 5 5 . - Michael P. Weitzman, The Origins of the Qaddish: Hebrew Scholarship and the Medieval World, hg. v. Nicholas de Lange, Cambridge 2001, 1 3 1 - 1 3 7 [Zusammenfassung v. T h e Qaddish Prayer and the Peshitta of Chronicles: Hebrew and Arabic Studies in Honour of Joshua Blau, hg. v. Haggai Ben-Shammai, Tel Aviv 1993, 2 6 1 - 2 9 0 (hebräisch)]. - Peter Wick, Der hist. Ort v. M t 6 , 1 - 1 8 : R B 105 (1998) 3 3 2 - 3 5 8 . Clemens Leonhard

III. Kirchengeschichtlich u n d p r a k t i s c h - t h e o l o g i s c h 1. Vorbemerkung 2. Alte Kirche 3. Mittelalter 6. Praktisch-theologisch (Quellen/Literatur S. 527) 1.

4. Reformationszeit

5. Neuzeit

Vorbemerkung

A u c h w e n n K i r c h e n g e s c h i c h t e n i c h t n u r G e s c h i c h t e der A u s l e g u n g d e r H e i l i g e n - » S c h r i f t ist, s o n d e r n s e l b s t ä n d i g e d o g m a t i s c h e , s o z i a l e , p o l i t i s c h e , liturgische u n d spirituelle B e d e u t u n g besitzt, k o m m t sie o h n e den g e g e n w ä r t i g e n S t a n d d e r E x e g e s e n i c h t a u s . D a s gilt a u c h für den W e g des V a t e r u n s e r s d u r c h die J a h r h u n d e r t e des c h r i s t l i c h e n - • G l a u b e n s und - * B e t e n s . E r m u ß m a ß s t ä b l i c h b e t r a c h t e t w e r d e n . D a s M a ß ist a u f g r u n d des v o r a u s g e g a n g e n e n n e u t e s t a m e n t l i c h e n A r t i k e l s (s. o . I) eine e l e m e n t a r e F a s s u n g des U r s p r u n g s w i s s e n s . E l e m e n t a r h e i ß t in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g die E r i n n e r u n g an ein-

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fache und grundlegende Sachverhalte, die die Sinn- und Sachzusammenhänge faßbar und verständlich machen. 2. Alte

Kirche

Kirchengeschichtlich greifbar wird das Vaterunser erstmalig in der —>Didache: „ . . . wie es der Herr in seinem Evangelium geboten hat, so betet: Unser Vater im Himmel . . . Dreimal am Tag betet so!" (Did 8,2). Nach der Berufung auf das Gebot des Herrn wird bis auf geringfügige Abweichungen die Fassung des Matthäusevangeliums wiedergegeben, und zwar erstmalig mit einer zweigliedrigen Doxologie. Jüdischer Sitte gemäß wird dazu aufgerufen, dreimal am Tag so zu beten. Wahrscheinlich ist damit das private und häusliche Gebet gemeint (vgl. Niederwimmer 167-173). Die erste Auslegung des Vaterunsers begegnet uns bei —•Tertullian. In diesem Gebet werde wirklich das ganze Evangelium zusammengefaßt (breviarium totius evangelii, or. 1). In einer dieser Aussage angemessenen Kürze schreitet die Erklärung von Bitte zu Bitte und wird in ihrer theologischen Dichte bedeutungsvoll für die Zukunft. Die „Anrede ist Ausdruck des Kindesverhältnisses" (or. 2). Der Name Gottes werde „an jedem Orte und zu jeder Zeit . . . schon hier auf Erden" geheiligt (or. 3). Das Reich Gottes, dessen Kommen erbeten wird, ist „Gegenstand unserer Hoffnung" (or. 5). „Man muß es buchstäblich verstehen ..., daß der Wille Gottes in uns auf Erden geschehe" (or. 4). Die Brotbitte gebe „auch den Bitten um irdische Bedürfnisse Raum . . . Trotzdem sollen wir [sie] denn doch lieber geistig verstehen: Christus nämlich ist unser Brot" (or. 6). Die Vergebungsbitte, die um Nachsicht bittet und damit Schuld eingesteht, „geht darauf hinaus, daß auch wir bekennen, unseren Schuldnern nachsehen zu wollen" (or. 7). In der Versuchungsbitte gehe es nicht nur um die „Nachlassung der Sünden, sondern auch um deren gänzliche Abwendung . . . Aber fern sei der Schein, als versuche der Herr". Das bedeute denn auch — so wird die siebte Bitte angeschlossen —, „entferne uns vom Bösen" (or. 8). Was die Didache noch offenließ, die Gebetszeiten, wird jetzt den „Hauptabschnitten des Tages", der dritten, sechsten und neunten Stunde (-• Stundengebet), empfehlend zugeordnet (or. 25). Der Vergleich mit dem Ursprungswissen zeigt die auslegerische Treue Tertullians, aber auch die dann geschichtlich wirksamen anderen Akzentsetzungen, z. B. die erstmals eucharistisch gedeutete Brotbitte. -•Cyprian von Karthago schließt sich in De dominica oratione eng an Tertullian an, mit der gleichen Betonung des geforderten moralischen Bemühens. —»Origenes diskutiert in ITepi evxfjQ, der ersten griechischen Abhandlung über das Gebet, zuerst ausführlich die Natur des Gebetes im Lichte der philosophischen Kritik, wobei die menschliche Willensfreiheit (—• Wille/Willensfreiheit) eine entscheidende Rolle spielt. Dann behandelt er die einzelnen Abschnitte des Gebets im Detail und zeigt, wie jeder auf die eine oder andere Weise die Vorstellung der menschlichen -»Seelen, die als Ebenbild Gottes geschaffen und wiederhergestellt werden, ausdrückt (Stritsky 70-180). War das Vaterunser von Anfang an ein gottesdienstliches Gebet? Haben wir es mit einem liturgischen Text zu tun? Vorsichtige Annahmen, die sich auf Rom 8,15 und Gal 4,6 sowie auf einige Veränderungen am Text (s.o. 1.1. und 1.2.) stützen, lassen dies möglich erscheinen. Liturgiegeschichtlich erscheint das Vaterunser erstmalig im Taufgottesdienst (—•Taufe) der Apostolischen -»Konstitutionen (VII,45) und wird dort nach der -»Salbung „gen Osten" gesprochen. In den „Liturgischen Katechesen", die dem Taufgottesdienst vorausgehen und ihn vorbereiten, steht es unter der —»Arkandisziplin und wird den Täuflingen vor der Zulassung zur Eucharistie übergeben. Das deutet darauf hin, daß es schon vorher liturgisches Stück gewesen ist (nicht aber im Gottesdienst, an dem die Katechumenen teilnahmen). Die Vermutung von Rordorf, daß auch die Vaterunser-Auslegungen von Tertullian, Origenes und Cyprian von Karthago Taufkatechesen waren (Rordorf 3; —•Katechumenat/Katechumenen), verstärkt diese Möglichkeit (vgl. auch [Ps?-]Ambrosius, sacr. V,18-30; VI,24ff.). Wann es in den -»-Gottesdienst aufgenommen

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wurde, wissen wir nicht; nur daß es „in der Alten Kirche das Gebet der Getauften [ist]. Erst der Getaufte kann Gott als Vater ansprechen" (Cyrill [ed. Röwenkamp] 50). Erst in den Mystagogischen Katechesen des -»-Cyrillus von Jerusalem ist das Vaterunser fester Bestandteil der Eucharistie. Nach der Epiklese, ,,[n]achdem wir das geistliche Opfer, den unblutigen Dienst vollendet haben" (V,8), und den Fürbitten „sprichst du dann jenes Gebet, das der Heiland seinen eigenen Schülern überliefert h a t " (V,ll). Darauf folgt die Kommunion. Zweifellos wurde das Vaterunser an dieser Stelle vor der Kommunion als Vorbereitungs- oder Tischgebet der familia dei aufgefaßt. Die vierte Bitte wurde direkt auf das eucharistische Brot bezogen, ,,[u]nser wesentliches Brot gib uns heute" (Cyrill V,15), die fünfte und die siebte Bitte als Vorbereitung auf die Kommunion verstanden. In den Meßordnungen, die sich nun in den östlichen und westlichen Kirchen ausbildeten, hatte das Vaterunser seinen Platz stets nach dem Kanon. Zunächst folgte es auf den Akt der Brotbrechung, in dem die Abendmahlsgabe zur Austeilung bereitgemacht wurde - so in den byzantinischen und römischen Liturgien. —»Gregor der Große stellte es jedoch um, ließ es seiner Würde gemäß unmittelbar an den Kanon anschließen (mox post precetri) und setzte es vor die Brotbrechung. So blieb es auch in der Göttlichen Liturgie des heiligen -»Johannes Chrysostomus wie in den Mozarabischen und Gallikanischen Liturgien (Prex eucharistica 467f.; 497f.). „Die heutige Ordnung der römischen Messe geht in diesem Punkt auf Gregor den Großen zurück" (Jungmann II, 344). 3.

Mittelalter

3.1. Das Vaterunser im

Mönchtum

In die -»Benediktusregel ging über Johannes -»Cassianus die Spiritualität der Wüstenmönche ein (-»Mönchtum). In den Unterredungen des Cassianus (coli. IX: CSEL 13 [1966] 11,265 - 2 7 2 ) begegnet uns eine eingehende Behandlung des Vaterunsers als Anleitung, wie sich der Betende mit Gott „wie mit dem eigenen Vater in besonderer Anhänglichkeit unterredet" (BKV [59] 558). Sie trägt im wesentlichen das Urwissen vom Herrengebet in sich; sie enthält über die Vergebungsbitte die aufschlußreiche Bemerkung, daß einige „diese Stelle mit Stillschweigen . . . übergehen" (ebd. 564). Die Erklärung der Versuchungsbitte stützt sich auf den von Antonius ausgehenden und unter den Wüstenmönchen verbreiteten Gedanken: „ N i m m die Versuchungen weg, und es ist keiner, der Rettung findet" (apophth. patr. 5). Das abschließende Votum Cassians verengt die Weite des Vaterunsers durch die Aussage, daß der Herr nicht wolle, „daß man . . . Zeitliches von ihm erbitte" (BKV [59] 565). In der Benediktusregel wird das Vaterunser zum festen Bestandteil des Stundengebets. Die schon in der Didache ausgesprochene Anweisung, es dreimal am Tag zu beten und es, dem Vorschlag Tertullians gemäß, mit der dritten, sechsten und neunten Stunde zu verbinden, findet hier ihre geregelte Form: „Die Morgen- und die Abendfeier dürfen auf keinen Fall zu Ende gehen, ohne daß der Obere am Schluß das ganze Gebet des Herrn so spricht, daß alle es hören . . . Bei den anderen Gebetszeiten spricht man nur den Schluß dieses Gebets laut, so daß alle antworten: Sondern erlöse uns von dem Bösen!" (c. 13,3; Benedikt [ed. Steidle] 99). Einen Einblick in spätere Entwicklungen gibt Die erste Regel der minderen Brüder des heiligen Franziskus von Assisi (1221): „Für die Fehler und Nachlässigkeiten der Brüder sollen sie täglich das Miserere und Vaterunser beten . . . Die Laienbrüder sollen für die Preces das ,Ich glaube an Gott' und vierundzwanzig Vaterunser mit ,Ehre sei dem Vater' beten; für die Laudes jedoch fünf; für die Prim . . . sieben Vaterunser; für die Terz, Sext und N o n je sieben; für die Vesper zwölf; für die Komplet . . . sieben Vaterunser . . . für die Verstorbenen sieben Vaterunser mit ,Herr, gib ihnen die ewige Ruhe' . . . " (Regula non bullata c. 3; vgl. von Balthasar 290). Einige meinen, daß wir es nicht mehr mit dem Gebet der Gemeinde, sondern mit sinnloser Häufung und formelhaftem Mißbrauch von Vaterunsern zu tun haben, sowie

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mit der „Ableistung einer Formel, die den Verstorbenen zugute kommen soll" (Goltzen 262f.). 3.2. Das Vaterunser als Gebet der

Gemeinde

Etwa um die Mitte des 6. Jh. wird in den Skrutinien (Prüfung über Glauben und Lebensführung vor Taufe und Weihe) eine Vermehrung der Übergaben erkennbar: „zur traditio symboli ist jetzt die traditio evangeliorum und die traditio orationis getreten . . . i n der Reihenfolge Evangelium, Symbol, Vaterunser" (Kretschmar 256f.). Natürlich war die traditio orationis schon früher üblich. Jetzt erfolgt sie aber in einer eigenen gottesdienstlichen Feier mit knappen Auslegungen, in denen auch die einzelnen Vaterunser-Bitten erläutert wurden. Im Hintergrund stand dabei und durch das ganze Mittelalter hindurch die von -»Ambrosius, -»Augustin und anderen an die Getauften gesprochene Mahnung, das Vaterunser „täglich nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen zu sprechen" (Ambrosius, off. 111,4,19; Augustin, symb. 1,1). Längst galt es als Zentrum des Gebets, als Kennzeichen der Kinder Gottes und deshalb als Vorrecht der Getauften. Getragen, gestützt und immer wieder neu begründet wurde diese Auffassung vom Vaterunser durch den Katechumenat. Die mittelalterliche Kirche unterrichtete im Dienst der Taufe. Sie handelte aber nicht selbst durch ihre Organe unmittelbar an den Kindern und überließ es den Eltern, nachdem sich die Säuglingstaufe im 5. und 6. Jh. allgemein durchgesetzt hatte. „Der Priester übernahm das Kind erst zum Beichtunterricht, wobei der spezifische Taufunterricht schon vorausgesetzt wurde. Der letztere bestand obenan in der Einlernung des apostolischen Symbols und des Vaterunsers. Das war Aufgabe der Paten, respektive der Eltern. Von jenen forderte man . . . die Kenntnis derselben" (von Zezschwitz II/l, 38). Vollendet und bereits als Urform des -»Katechismus erkennbar, tritt uns die Festlegung des Vaterunsers als Katechumenenlehrstück in den Anordnungen -»Karls des Großen entgegen. Ihnen zufolge sollten alle Erwachsenen wenigstens das Taufsymbol (-»Apostolisches Glaubensbekenntnis) und das Vaterunser kennen. „Wir besitzen noch eine Ansprache [aus dieser Zeit], in welcher ein Priester seine Gemeinde zum Lernen der Glaubensformel und des Gebetes ermahnt. Da heißt es: ,Drum soll jeder, der ein Christ sein will, den Glauben und das heilige Gebet mit allem Eifer lernen und die lehren, welche er aus der Taufe empfängt, damit er am Gerichtstage nicht genötigt werde, Rechenschaft zu geben'" (Hauck II, 285f.). „Die Forderung, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser in der eigenen Sprache beten zu können, ging durch das ganze Mittelalter und erfuhr im Hoch- und Spätmittelalter eine bedeutsame Ausweitung" (Angenendt 471). Es war aber ebenso dringend wie schwierig, eine solche Gebetserziehung im Volk durchzuführen. Nachdem sich der bereits in den östlichen Liturgien der Alten Kirche auftauchende und in fränkischen Antiphonarien wiederkehrende „Englische Gruß" {Ave gratia plena . . . , Lk 1,28, das Ave Maria, vgl. TRE 12,69,27- 32) als Wiederholungsgebet immer mehr durchgesetzt hatte, wurde er in den Kanon der Pflichtigen Grundgebete aufgenommen. Als Vorschrift erschien er zum ersten Mal in den Synodalkonstitutionen des Bischofs Odo von Paris (1198): „Die Priester sollen das Volk immer anhalten, das Herrengebet, das Credo in Deum und den Gruß der seligen Jungfrau zu sprechen" (Scherschel 49ff.65). Damit tritt die bedeutsame Ausweitung vor unser Auge: die Verknüpfung von Vaterunser und Ave Maria, die sich bald als Selbstverständlichkeit ergab. Sie hat einen äußeren Grund: Zwar bildeten in der mönchischen Gebetserziehung die Psalmen den Ausgangspunkt; aber da man ihre Kenntnis nicht allgemein verlangen konnte, ersetzte man sie durch das Vaterunser. Es könnte allerdings eine tiefere Auffassung damit zusammenhängen, nämlich der im Ave Maria hinter dem vordergründig Marianischen verborgene Hinweis auf das Christusdogma, wie Scherschel vermutet (67f.). Einem verdienstlichen Mißbrauch durch ungebührliche Häufung (vgl. die erste Franciscusregel!) war dadurch nicht gewehrt. Doch galt nun die Kombination von Credo, Vaterunser und Ave Maria gewissermaßen als

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die Kurzformel, die die Kirche den Gläubigen nahezubringen hatte, eine Dreiheit, die nun die am meisten fixierte Gestalt des mittelalterlichen catechismus darstellte, die —»Luther noch in seinen ersten katechetischen Arbeiten als traditionellen Bestandteil fortführte. Aus ihr entstand im 15. Jh. der -»Rosenkranz, das „Jesusgebet des Westens" (Scherschel), das die „Gesätze" des Lebens Jesu und Mariens mit dem Beten des Vaterunsers verband. Jede große Perle gehört dem Vaterunser, das durch die allgemeine Verbreitung dieser Gebetsform im späten Mittelalter im Gebetsleben der Glaubenden fest verankert wurde. Die evangelische Forschung nahm von dieser Entwicklung wenig Notiz. Das Gebetsleben der Glaubenden mußte sich im Sterben (-»Tod) bewähren. Sie „sterben ganz nach mittelalterlichem Verständnis langsam, rituell" (Haas 134). Es hatte, wenn es nicht plötzlich geschah, nichts Zufälliges, sondern war geformt: „Der Kranke soll das Herrengebet und das Glaubensbekenntnis sprechen, seinen Geist in Gottes Hände befehlen (commendatio animae), sich mit dem Kreuz bezeichnen und von den Lebenden Abschied nehmen" (ebd. 196). Die Kurzformel des Glaubens, Credo und Vaterunser, hält sich bis in die Sterbestunde durch. In der „Bilder-Ars" (Laager 175 - 2 2 9 ) begegnet uns sogar die Anweisung, „einem Sterbenden das Glaubensbekenntnis mit vernehmlicher Stimme vorzusagen und mehrmals zu wiederholen" (Laager 193; -»Ars moriendi). Wir können daraus schließen, daß es mit dem Vaterunser ebenso gehalten wurde. Seine einzelnen Bitten dem Sterbenden langsam und nicht zu laut ins Ohr zu rufen hielt sich als uralter Beistand im Fränkischen noch bis ins 20. Jh. Neben dem Katechumenat waren es die theologischen Erklärungen und die Predigten, die das Vaterunser als exemplarisches Gebet durch das ganze Mittelalter lebendig erhielten. Die ->Glossa Ordinaria, der Standardkommentar seit dem 12. Jh., die Erklärungen des Vaterunsers von - » T h o m a s von Aquino in der Summa theologica (111,83,9: ed. Bernhart 381 ff.) und anderen, die wie Nikolaus von Dinkelsbühl um 1400 (Dibelius 129ff.) das Vaterunser für das Volk ausgelegt haben, sind hier zu nennen. Demgegenüber tritt das Vaterunser als Predigttext zurück. Formal erscheint es in einem schon lange gültigen Rahmen: Nach Verlesung des Textes, exordium (Einleitung) und dispositio (Gliederung), gehen der „eigentlichen Predigt . . . ein Paternoster oder ein Ave Maria voraus" (Niebergall, Geschichte 252). Seinen homiletischen Ort gewinnt es im späten Mittelalter in Fastenpredigten, in denen wieder die Grundbestände des Glaubens, -»Dekalog, Paternoster und Credo, behandelt werden. 4.

Reformationszeit

In den Taufritualien um 1500 war nach den exorzistischen Eingangshandlungen „die Reihenfolge Vaterunser - Ave Maria - Glaubensbekenntnis" (Jordahn 377) üblich. Anfangs noch zögernd, entfernte Luther dann das Ave Maria und setzte das Vaterunser hinter die Evangeliumslesung. Im Taufbüchlein von 1523 folgt deshalb auf das Kinderevangelium (Mk 10,13-16) das Vaterunser mit -»Handauflegung und an der Taufstätte nach der Absage an den Teufel die Frage nach dem Glauben (WA 12,24—47). So bleibt es auch im Taufbüchlein von 1526 - wegen der Kritik von Luthers Freunden an seiner 1523 zu stark bewahrenden Haltung „aufs neue zugerichtet" (WA 19,537—541). Die Auflegung der Hände beim Vaterunser bedeutet, daß die Übergabe des Herrengebetes (traditio orationis dominicae) über den katechetischen Gedanken hinausgeht und als fürbittendes Segensgebet erscheint, unter dessen Vollzug die zu Taufenden selbst beten. Das Gebet Jesu wird hier unmittelbar den Worten Jesu und dem einen Wort, „und legte die Hände auf sie und segnete sie" (Mk 10,16), angefügt und so zu seiner Würde gebracht. Die reformierten Taufordnungen übernehmen die Kernstücke Evangelium, Vaterunser und Credo, aber ohne Handauflegung (—»Zwingli). Bei -»Calvin schließt sich das Vaterunser an ein längeres Taufgebet an. Theologisch weichen sie insofern von Luther ab, als „das Geschehen am Kinde und mit dem Kinde nicht mehr im Mittelpunkt steht" (Jordahn 477).

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„Die Hauptthat der reformatorischen Erneuerung auf unserem Gebiete war die, den ,Unterricht* zur Thatsache und Wahrheit zu erheben und die Kirche selbst wieder unmittelbar in ihren Organen dafür zu verpflichten, sie darin zur Vorgängerin des Hauses zu machen" (von Zezschwitz II/l, 41). Zu diesem Unterricht gehörten in der zeitlichen Abfolge die Katechese der Getauften, das Bekanntmachen mit ihrer Taufe und die Anleitung, entsprechend zu leben. Im Blick darauf liegt Luthers katechetische Hauptleistung in seinen Katechismen. An dieser Stelle ist an zwei Gelehrte zu erinnern, die in ihren Katechismusforschungen dem Vaterunser besondere Beachtung schenkten: Gerhard von —»Zezschwitz und Albrecht Peters (19251987); der eine in seinem Lehrstück vom Gebet (von Zezschwitz II/l, 135-157), der andere in seinem Kommentar zu Luthers Katechismen (Band 3: Das Vaterunser). Sie folgen Luthers eigener Intention aus der Vorrede zur Deutschen Messe (1526): „Diesen Unterricht oder Unterweisung weiß ich nicht schlechter noch besser zu stellen, denn sie bereits ist gestellet vom Anfang der Christenheit, und bisher blieben, nämlich die drei Stück: Die Zehn Gebot, der Glauben und das Vaterunser. In diesen drei Stücken steht es schlecht und kurz, fast alles, was einem Christen zu wissen not ist" (WA 19,76,7f.). Sie zeigen, daß Luther die Kernstücke der Tradition, Dekalog, Symbol und Vaterunser, aufnimmt und sich an ihre Reihenfolge hält. Die Differenzen über ,,[d]ie Zuordnung der drei zentralen Hauptstücke" (Peters III, 38) in der neueren Zeit überlassen wir den Gelehrten. „Luther bietet weder einen systematischen Ordo Salutis: Mose - Christus - der Geist, noch hat er die einzelnen Hauptstücke blockartig nebeneinander gestellt" (ebd. 48). Sie stimmen endlich auch darin überein, daß Luther anhand der traditionellen Anordnung vielmehr den Weg des Christen vom Geschöpfsein über den Glauben zum Gebet beschreibt, zu den sieben Bitten des Vaterunsers, das „das Hauptstück des Katechumenenbuches" darstellt, „in dessen gedächtnismäßigen Besitz das getaufte Kind zuerst zu sehen ist" (von Zezschwitz I, 375). So soll es - laut der Vorrede zum Kleinen Katechismus (1529) - die Kirche mit ihren amtlichen Personen, den ,,Pfarrherr[n] oder Prediger[n]", tun und „den Katechismus in die Leute, sonderlich in das junge Volk bringen" (KIKat, Vorrede: BSLK 502,33f.). Dem entspricht es, daß Luther das Dritte Hauptstück mit den Worten überschrieb: „Das Vaterunser, wie ein Hausvater dasselbige seinem Gesinde aufs einfältigste vorhalten soll" (BSLK 512,15ff.).

Die Reformationszeit brachte viele Katechismen hervor (vgl. Reu). Ein Anfang war schon Luthers Kurze Form der zehn Gebote, des Glaubens und des Vaterunsers 1520 (WA 7,204—229). Eine der vielen Fortsetzungen stellte der Nürnberger Katechismus des Andreas —»Osiandcr (1531) dar, der das Vaterunser ohne weitere Erklärung enthielt und sich noch stärker als Luther an den traditionellen Wortlaut band (Osiander IV,340). „Auch auf Seiten der Reformierten gab es eine Vielzahl von Katechismen" (J.F.G. Goeters: HeidKat [ed. 1997] 84). Dem Kleinen Katechismus Luthers vergleichbar, hob sich dort später der Heidelberger Katechismus (1563) hervor. Auch er gab dem Vaterunser mit einer „gebetsähnlichen Paraphrase" (Weber 90) als Erklärung seine gebührende Bedeutung; aber an anderer Stelle: im dritten und letzten Teil Von der Dankbarkeit nach den Geboten; das Credo und die Sakramente waren schon im zweiten Teil Von der Erlösung vorausgegangen. Gezählt werden nur sechs Bitten, weil die sechste nicht, wie sonst üblich, geteilt wird, um die „heilige" Siebenzahl zu erreichen. Die Getauften und Unterwiesenen gehen in den Gottesdienst und begegnen auch dort dem Gebet des Herrn. Sie begegnen ihm in den Ordnungen des Predigt- und Abendmahlsgottesdienstes. In Luthers zweiter Schrift zur Neuordnung des Gottesdienstes, der Formula missae et communionis (1524), schließen sich Vaterunser und Friedensgruß „als eine Art öffentlicher Absolution" (Mahrenholz 109) an die Stiftungsworte an. „Doch das folgende Gebet: ,Wir bitten, erlöse uns etc.' [soll] ausgelassen werden . . . " (WA 12,213,5f.). Gemeint ist der sog. Embolismus (Einschub), eine durch das ganze Mittelalter übliche Weiterführung der siebten Bitte in der römischen Messe (Jungmann II, 343f.). In der 1525 folgenden Deutschen Messe tritt (wie bisweilen schon in der mittelalterlichen Kirche) nach der Predigt an die Stelle der Präfation „eine öffentliche Paraphrasis des Vaterunsers und Vermahnung an die, so zum Sakrament gehen wollen" (WA 19,55,20f.). Für diese umschreibende Erläuterung des Herrengebets gibt Luther einen Vorschlag, „dessen Akzent auf der 4. und 5. Bitte liegt, also auch auf der Aner-

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kenntnis unserer Sündhaftigkeit und der Getröstung, daß Gott seine Gnade verheißen hat. Damit . . . ist die Bedeutung, die das Vaterunser auch in der Sakramentsfeier der alten Kirche gehabt hat, wiederhergestellt" (Mahrenholz 110). Die Stelle, die es hier erhielt, wurde auch dann beibehalten, wenn man das Vaterunser nicht paraphrasierte und den Sakramentsteil mit der Präfation begann. Die Betonung der Vergebungsbitte war zwar in der Tradition schon angelegt; aber auf diese Weise wird das Vaterunser verengt „und verliert seinen konkreten Bezug zur Kommunion" (Schmidt-Lauber, Eucharistie 183). Im Gottesdienst der reformierten Kirche hatte das Vaterunser sowohl im Predigtgottesdienst (nach dem Fürbittengebet) als auch im Abendmahlsgottesdienst (Kirchengebet - Vaterunser - Apostolikum - Einsetzungsbericht) seinen Ort. Zusammenfassend kann man drei Funktionen des Vaterunsers im Blick auf seinen gottesdienstlichen Gebrauch unterscheiden: „In der Eucharistiefeier dient es der Vorbereitung auf die Kommunion . . . Im Predigtgottesdienst beschließt [es] regelmäßig den Gebetsteil vor dem Schlußsegen . . . Eine dritte Funktion gewinnt [es] als Segensgebet insbesondere (unter Handauflegung) bei Taufe, Trauung und Ordination, ferner bei Einweihungen" (Schmidt-Lauber, Vaterunser 212). Von 1568 stammt eine päpstliche Anweisung, das Vaterunser vor jedem Stundengebet zu beten, abgesehen von der Komplet. Im -+Book of Common Prayer (1662) war dies auch so vorgesehen. Das Vaterunser wurde als Vorbereitungsgebet verstanden, sowohl bei der Eucharistie als auch beim Morgen- und Abendgebet. In der Abendmahlsfeier der Anglikanischen Kirche (-»-Kirche von England) wird es dann als Klimax der liturgischen Handlung noch ein zweites Mal gebetet. Im Gottesdienst begegnete die Gemeinde auch der Predigt über das Vaterunser. Das geschah zunächst einmal an dem Sonntag, dessen Perikope das Gebet des Herrn enthielt, wie z.B. am 22. September 1528 (16. Sonntag nach Trinitatis). In ihr sagte Luther auch etwas über seinen häuslichen und privaten Gebrauch: „ D r u m soll man die Kinder gewöhnen, daß sie des Morgens und Abends, desgleichen vor und nach dem Essen und der Abendmahlzeit, vor der Arbeit und was man auch sonst beginnen mag, beten, auf daß das Vaterunser das allgemeine Gebet werde" (Mülhaupt II, 133). Was die Werktage betraf, empfahl Luther in der Deutschen Messe: „Des Montags und Dienstags früh geschiehet eine deutsche Lektion von den zehn Geboten, vom Glauben und Vaterunser ..., daß diese zween Tage den Katechismus erhalten und stärken in seinem rechten Bestand" (WA 19,79,17ff.). Und weil „im deutschen Gottesdienst ein grober, schlichter, einfältiger, guter Katechismus vonnöten" ist (ebd. 76,lf.), gab er ein wirkungsgeschichtlich bedeutsames Vorbild im Großen Katechismus. In ihm sind die 1528 gehaltenen Vaterunser-Predigten für den Druck überarbeitet enthalten und mit einer seelsorgerlich eindrücklichen Einleitung „wie man beten soll" versehen (BSLK 662,19f.). Nachdem Oslander wenig später 1531 das Beispiel Luthers in seinen Nürnberger Kinderpredigten aufgriff und in sieben Predigten das Vaterunser auslegte, wuchs der Katechismuspredigt in den folgenden Jahrhunderten „eine bezeichnende Sonderaufgabe zu. Sie sollte das neue Glaubens- [und Gebets-]verständnis lehrmäßig vertreten und biblisch begründ e n " (W. Jetter: T R E 17,752,24f.). 5.

Neuzeit

5.1. Die nachreformatorische

Zeit

Wir wenden uns nun der Stellung des Vaterunsers in den neuzeitlich „wirksamen Ergebnissen der reformatorischen Bemühung um die rechte Gestalt des öffentlichen Gottesdienstes zu" (Schmidt-Lauber, Eucharistie 113). In den -»Kirchenordnungen der nachreformatorischen Zeit kommt es zwar im Gefolge der Bugenhagenschen Meßordnungen (vgl. TRE 2,15-18) vor, daß das Vaterunser vor die Einsetzungsworte gestellt wird, wie später im Typ A der Agende I (1955); in der Regel aber gehört es dem Kommu-

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nionkreis an, der aus Paternoster und Pax, Agnus Dei und Communio besteht, d.h. es hat seinen Ort normalerweise zwischen Anamnese und Austeilung, wie später im Typ B der Agende I (1955). Wie kam es aber, „daß die oberdeutschen Kirchen, darunter auch die lutherische, anstatt der von Luther sanktionierten Messe den schlichten Predigtgottesdienst zum sonntäglichen Hauptgottesdienst machten" (Agende III/l [1988] Richtlinien 7) ? Und wie kam es, daß sich in den messelosen Ordnungen das Abendmahl „als ein bloßes Anhängsel zum Predigtgottesdienst" (ebd. 10) einbürgerte? Es sind die mittelalterlichen Vorbilder, deren Schwerkraft zur Verselbständigung drängte. Der aus den einzelnen Formularen rekonstruierbare Predigtgottesdienst brachte das Vaterunser stets nach dem Allgemeinen Kirchengebet als Zusammenfassung der darin enthaltenen Bitten. So war es auch bei Calvin und den in seinem Gefolge entstandenen reformierten Gottesdienstordnungen. Auch dort erscheint „die Abendmahlsfeier . . . als angehängter Teil und wird lediglich dadurch stärker an das Vorausgehende angebunden, daß die dem Allgemeinen Kirchengebet folgende Vaterunserparaphrase zugleich als Abendmahls-Vaterunser dienen m u ß " (Weismann 55). Vorbildlich war und wurde bis in die fränkischen Gebiete hinein die Württembergische Kirchenordnung von 1553. In ihr folgten auf die Predigt katechetisch-pädagogische Stücke: Zehn Gebote, Glaube und Vaterunser - vorgesprochen und leise mitgesprochen. Das Vaterunser wäre dann, wenn man von der vielerorts berichteten Gewohnheit absieht, es am Eingang still als Rüstgebet zu sprechen, dreimal, mindestens aber zweimal im Gottesdienst gebetet worden. Die genannten Stücke entfielen, als „die Schule . . . dem Hause vor allem in der Aufgabe des Unterrichts helfend zur Seite" trat, und wurden durch den zunehmenden Katechismusunterricht überflüssig (von Zezschwitz I, 379). Das Vaterunser blieb jedoch genauso wie das altkirchliche Evangelium und der Segen als geordnete Bestandteile an seinem angestammten Platz. Es bildete, wenn Abendmahl gefeiert wurde, „die Brücke zwischen Wortteil und Sakramentsteil und erfüllte damit sowohl die Funktionen des Allgemeinen Kirchengebets nach der Predigt wie des Rüstgebetes vor der Kommunion" (Agende I, 60), gesprochen oder auch in Luthers Liedfassung von 1539 (Evangelisches Gesangbuch [EG] 344) von der Gemeinde gesungen. Auch im Taufgottesdienst durfte das Vaterunser zunächst nicht fehlen. Die lutherischen wie die reformierten Ordnungen halten an ihm fest, wenn auch seine Stellung verschieden ist und es manchmal schon am Anfang der Feier gebetet wird. In den lutherischen Kirchen folgt es in der Regel auf das Kinderevangelium Mk 10,13—16 mit Auflegung der Hände nach einer Weisung J. -»Gerhards: „In der Verrichtung der Taufe wird dem Beispiel des segnenden Christus entsprochen" (Jordahn 507). Völlig aus dem Rahmen fällt das Liturgiebüchlein 1755/57 (Alt 312-314) der Herrnhuter Brüdergemeine (—• Brüderuni tät/Brüdergemeine) von N.L. Graf von —>Zinzendorf. In ihm fehlen bei der Taufe „die Lesung Mk. 10, das Vaterunser, das Credo, die Signado crucis und die Abrenuntiation", wenngleich die Taufe rite vollzogen wird (Jordahn 500). Erst gegen Ende des 17. Jh. treten „freyere Formulare" auf, die das Vaterunser nicht mehr enthalten. Aufschlußreich dafür und auch für die übrigen Gottesdienste geltend sind die Begleitworte von S.Ch. Lappenberg 1785: „Kein Liturg muß gar zu genau an den Buchstaben vorgeschriebener Gebete gebunden seyn . . . Ebenso urtheile ich von dem Gebrauche des Gebets des Herrn . . . Dem beständigen Plappern des ganzen Vaterunsers müssen wir, der Absicht Jesu gemäs, wehren" (Jordahn 573f.). In den Taufvermahnungen und Fragen an die Paten begegnet uns die aus dem Mittelalter bekannte Mahnung, die Kinder die zehn Gebote, den Glauben und das Vaterunser zu lehren. Das taten nun die Schulen (-»-Schule/Schulwesen). Das Vaterunser hatte seinen festen Platz in der schulischen Morgenandacht, der die Volkssprache die Bezeichnung „Katechismusbeten" gab. Erst wenn die Kinder mit gefalteten Händen das Vaterunser zu ihrem Eigentum gemacht hatten, sofern sie es nicht schon von zu Hause kannten, wurden sie auch in das Verständnis des Wortlauts eingeführt. Schon bald, am Anfang des 17. Jh., folgten Bestrebungen, sie vor dem mechanischen Memorieren zu bewahren.

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Zu diesem Zweck wurden schwierige Ausdrücke erklärt, die einzelnen Bitten mit biblischen Geschichten und Bibelworten belegt und durch Fragen des Lehrers ein Gespräch darüber hervorgerufen. Das hielt sich so bis ins 19. Jh. In den Werken über „Die Geschichte der christlichen Predigt" (A. Niebergall; Schian) wurde der Katechismuspredigt wenig Beachtung geschenkt. Doch sind nicht-perikopengebundene Lehrpredigten von jeher üblich gewesen; sie wurden durch Luthers Vorbild als Katechismuspredigt zum festen Bestandteil der beiden nachreformatorischen Jahrhunderte. In Nördlingen hörte man um 1645 vom Superintendenten Georg Albrecht (1601-1647) 38 Vaterunserpredigten, und Gottfried Olearius (1635-1711) berichtete „von (252!) alten und neuen Lehrern, welche das Vaterunser erklärt haben" (zit. bei W. Jetter: T R E 17,761,51f.). Über die weitere Geschichte der Katechismuspredigt mit ihren Vaterunserauslegungen bis zu ihrem Ende in der Aufklärung berichtet W. Jetter (TRE 17, 761ff.). —»Erasmus von Rotterdam stellte seinen Precationes (1535) eine Meditation über das Gebet des Herrn voran. Was die nachreformatorische Fülle von Gebetsund Andachtsbüchern betrifft, so enthalten viele von ihnen das Vaterunser mit einer Erklärung. Selbst in katholischen Gebetsbüchern findet man Luthers Vorbetrachtung zum Vaterunser (aus dem Betbüchlein; WA 10/2,395 - 4 0 7 ) und seine Vaterunserparaphrase aus der Deutschen Messe von 1526 „als ,katholische Gebete' - in friedlicher Eintracht mit echt katholischen Erzeugnissen" (Althaus 67.85 f.) beieinander stehen. Die tägliche Andacht im H a u s christlicher Familien schloß gleichsam selbstverständlich mit dem Vaterunser. Es wurde auch als Tischgebet und als Rüstgebet des einzelnen vor Beginn des Gottesdienstes gesprochen. Und in den ländlichen Gegenden lutherischen Bekenntnisses ließen sich die Leute durch die Betglocke morgens, mittags und abends allein oder gemeinsam zum Beten eines Vaterunsers rufen. 5.2. Seit der

Aufklärungszeit

N u n werden Theologie, Kirche, Gottesdienst und Frömmigkeit stark von der -»Aufklärung beeinflußt, die sich in ihrer Spätphase zum -»Rationalismus steigert. Vom Programm eines „vernünftigen Gottesdienstes", das die konfessionellen Besonderheiten zurücktreten ließ und auch die alten Kirchengebete Veränderungen unterzog, wurde auch das Vaterunser erfaßt: „Und nun das Vaterunser! Wie paßt es denn, wenn ein Sterbender Gott im Vaterunser um das tägliche Brot a n r u f t . . . ? " (Graff II, 132). Um das Vaterunser unter den neuen Rahmenbedingungen weiter sprechen zu können, kamen immer mehr Umschreibungen auf, die sich mit zweifelhaftem Recht auf Luthers Vaterunserparaphrase beriefen. Eine davon sei hier wiedergegeben: „Vater, unser Vater im Himmel, dich beten wir an! Dein Reich, Wahrheit und Tugend, verbreite sich unter uns! Dein Wille geschehe auf der Erde, wie im Himmel! Heute gib uns, was wir heute bedürfen! Fehlen wir, so verzeihe, wie wir unsern Beleidigern! In harte Prüfungen führe uns nicht, und entferne, was uns schadet! Denn du herrschest allmächtig und herrlich und ewig. Amen!" Häufig waren sie erheblich länger und gewagter, bis dahin, daß einer in der zweiten Bitte „dein Reich" durch „deine große Aufklärungsanstalt" ersetzte (Graff II, 138). Begründet wurden diese Änderungen regelmäßig damit, daß das Vaterunser durch zu häufige Wiederholung nicht mit Andacht und Verstand gesprochen werden könne. Das betraf nicht nur den Gebets-, sondern auch den Abendmahlsteil des Gottesdienstes: „Da wir jetzt das Gedächtnismahl Jesu feyern wollen, so setzen wir uns vor allen Dingen in eine feyerliche Stimmung, indem wir andachtsvoll beten, wie uns Jesus gelehrt h a t " (Graff II, 151). In den Tauf- und Kasualgottesdiensten war es nicht anders. Nach dem Kinderevangelium leitete man in Helmstedt 1797 beispielsweise mit solchen Worten zum Vaterunser über: „ Z u m erstenmal, geliebter Eduard, beten wir für dich . . . Vater unser . . . " (ebd. 230). Verständlicherweise wurde von nicht wenigen vor diesen wortreichen Umschreibungen und wolkigen Einleitungen auch gewarnt. Durch die Erlanger Quellenedition Die Reform des Gottesdienstes in Bayern im 19. Jahrhundert, die auch Agenden der anderen Landeskirchen berücksichtigt, ist es

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möglich, Gebrauch und Stellung des Vaterunsers durch das ganze 19. Jh. genau zu verfolgen. Mit Hilfe von 265 Verweisen wurde in einem einmaligen Vorgang die Geschichte eines Gebets für diesen Zeitraum offengelegt. Es genügt, ihr einige repräsentative Daten zu entnehmen, die als Ergebnis eines Ringens, vom rationalistischen zum Geist der Reformation voranzuschreiten, in gewisser Weise bis heute stabil geblieben sind. Die weitschweifigen Vorreden wurden zurückgenommen, und es heißt in den Taufordnungen wieder: „ . . . und betet das Vaterunser" (Reform I, 45). Im Gottesdienst mit Abendmahl fällt das gemeinsame stille Vaterunser vor der Predigt langsam weg; es wird zunächst noch auf der Kanzel nach dem Allgemeinen Kirchengebet und zum zweiten Mal beim Abendmahl in den verschiedenen Entwürfen vor oder nach den Einsetzungsworten gesungen oder gesprochen (ebd. 45.53.162.222). Eine unnötige Einleitungsformel, die aus dem „Entwurf einer Agende aus dem Jahr 1840" stammt und „fast durchaus gebräuchlich" war, hat sich leider bis heute erhalten: „Alles, was wir sonst noch auf dem Herzen haben, fassen wir zusammen in dem Gebet des Herrn . . . " (ebd. II, 278). Ein bayerischer Brauch, der vor allem in den fränkischen Gemeinden geübt wurde und vereinzelt noch bis in die Gegenwart reicht, ist die „Abdankungsrede". Sie wird vom Lehrer des Dorfes oder von einem Freund des Brautpaares am Ende des Hochzeitstages gehalten. Für sie sieht der Aufriß einer Agende aus dem Jahr 1823 vor, daß „am Schluß der Rede . . . das Vaterunser gebetet und das Lied: N u n danket alle Gott gesungen" wird (ebd. I, 59). Nicht vergessen seien die vereinzelt nach wie vor gehaltenen und zum Teil veröffentlichten Reihenpredigten über das Vaterunser. Betrachtet man zum Beispiel die von W. -»Löhe (Predigten, Nürnberg 1835), so kann man von einer auslegerischen Treue sprechen, die in überraschendem M a ß e das Ursprungswissen bewahrte bzw. es sich von neuem erarbeitet hat. 5.3. Im 20.

Jahrhundert

Im 20. Jh. trat, was die Stellung des Vaterunsers im Gottesdienst betrifft, eine Beruhigung ein. Im Gottesdienst ohne Abendmahl steht es zwischen Allgemeinem Kirchengebet und Entlassung. Im Gottesdienst mit Abendmahl „wurde die in den Gemeinden und den vorhergehenden Agendenstadien stets wechselnde Reihenfolge von Einsetzungsworten, Agnus Dei und Vaterunser bzw. Vaterunser, Agnus Dei und Einsetzungsworten einfach als Form A und B gleichberechtigt nebeneinander gesetzt" (Kerner 174). Eine Neigung, das Vaterunser als Kommuniongebet, d.h. als dem Empfang unmittelbar vorausgehendes Tischgebet zu verstehen und deshalb Form B vorzuziehen, ist unverkennbar. In den Lehrbüchern für -»Praktische Theologie dieser Zeit wird es ausnahmslos in diesem Sinn gewürdigt. In einem heißt es sogar: „Der Höhepunkt des ganzen Kultus in jeglicher Form sollte das Unservater sein, wird es ja doch auch durch das Geläut des nach ihm benannten Glöckleins ausgezeichnet . . . es [hebt] immer aller Gedanken zu Gott empor. Die Unsitte, es mit einem Satz wie ,alles, was wir sonst noch auf dem Herzen haben' usw. einzuführen, läßt immer mehr nach" (Niebergall, Theologie II, 215). Die Erneuerte Agende nahm sie merkwürdigerweise wieder auf und bot fünf „Einleitungen zum Vaterunser" an (Erneuerte Agende 654). Sie sind im Evangelischen Gottesdienstbuch bis auf das offenbar unvermeidliche „wie Jesus uns zu beten gelehrt h a t " (Gottesdienstbuch 232) wieder verschwunden. Das Vaterunser bedarf in seiner Gedrungenheit, sprachlichen Kraft und Kürze keiner besonderen Einleitung. Im Verlauf der sich intensivierenden Begegnungen zwischen Christen und Juden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ließ man die exegetische Frage, ob das Vaterunser eine christliche Neuschöpfung oder nachweislich im frühjüdischen Gebetsleben verwurzelt sei, hinter sich. Es gewann die Funktion eines „Brückengebets" zwischen der jüdischen und christlichen Gemeinde (Mußner). Das zeigen nicht nur die Praxis gottesdienstlicher Zusammenkünfte, sondern auch die argumentativen Begründungen auf beiden Seiten. So wird von jüdischen Theologen gesagt, „aller Wahrscheinlichkeit nach ist es aus dem Glaubensschatz seines [Jesu] Volkes und aus seinen ureigenen Gotteserfahrun-

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gen zusammengewachsen, hat in seinem Herzen Wurzeln geschlagen, bis es eines Tages ,gebetsreif' war" (Lapide 56), und katholische Theologen konstatieren, es sei „besonders, was die Vateranrede betrifft, aus den Gebetsanliegen des Judentums heraus geformt" (Erklärung 10f.). Aus diesem Grund stellen beide fest, es könne von jedem Juden ohne innere Reserven mitgebetet werden, wie auch ein Christ fast alle jüdischen Gebete vorbehaltlos mitbeten könne. Im Lexikon der jüdisch-christlichen Begegnung heißt es sogar: „Wenn die Christen es beten, bekennen sie sich in geistiger Hinsicht zusammen mit Jesus als jüdische Fromme" (Lexikon 422). Die Verabschiedung vom Glauben, der seit langem laufende Prozeß, das eigene Denken, Sprechen und Handeln christlichen Grundsätzen zu entziehen, befiel auch das Gebet, betraf auch das Vaterunser. Es kann hier nur angedeutet werden, was sich im Hinblick darauf in der modernen Literatur niederschlug. Der Einspruch bezog sich schon auf die Anrede, über die -»Nietzsche schrieb: „Der Vater in Gott ist gründlich widerlegt" (zitiert nach Strolz 14), und die seit den unmenschlichen Geschehnissen im 20. Jh. die härtesten Verwerfungen erfuhr: Dem „Vater", der dies alles entweder veranlaßte oder zuließ, sei einfach nicht mehr zu vertrauen - nach Auschwitz zumal. Die „Konzeption Gottes als Vater" ist „in eine Krise großen Ausmaßes geraten" (Strolz 23) und mit ihr die sieben Bitten, deren Erhörung von ihm erwartet werde, aber nun hinfällig sei. In diesem Zusammenhang spielen die Vaterunser-Parodien eine beträchtliche Rolle. Sie sind schon in den vorhergehenden neuzeitlichen Jahrhunderten seit der Reformation nachweisbar. Sie haben eine politische Absicht und zielen auf den Kurfürst, den König oder auf Napoleon. Weit verbreitet war eine Verspottung mit den Anfangsversen „Kapital unser, das Du bist im Westen - Amortisiert werde Deine Investition - Dein Profit komme . . . " , die aus den Studentenaufständen 1968/69 stammt (Theologiestudenten 1969, 77). Diese Vorgänge zeigen, daß auch die Grundlagen und das Innerste des christlichen Glaubens, das altkirchlich durch die Arkandisziplin vor dem verständnislosen oder feindseligen Zugriff geschützt war, heute der Befragung, der Kritik und doch auch vielleicht einem darin verborgenen Suchen nach Gott ausgesetzt sind. Auch der literarische Gegensatz gegen das Vaterunser und seinen Anspruch, den lebendigen Gott zu bezeugen, kann noch etwas von einem unausgesprochenen Verlangen nach einem letzten, den Menschen bergenden Geheimnis enthalten. Am Ende dieses Weges ergeben sich zusammenfassend folgende Gesichtspunkte für die Auslegungs- und Wirkungsgeschichte des Vaterunsers: „Das Vaterunser stammt von Jesus" (U. Luz: s.o. I.I.5.); 1) die Kühnheit der vertrauensvollen Gottesanrede Abba, die Bedeutung der Namenrede und die Heiligung des Namens; 2) der eschatologische Charakter des Vaterunsers, gesichert durch die zweite Bitte; 3) das unabhängige Geschehen des Gotteswillens und die Kraft der Einwilligung; 4) das Verhältnis der Brotbitte zum eucharistischen Verständnis; 5) die Bedeutung der Vergebungsbitte für die Ethik des Alltags; 6) in der Versuchungsbitte erbittet der Mensch etwas, „was er selber durch sein Verhalten bestimmt" (U. Luz: s.o. 1.3.3.); 7) die endgültige Befreiung von allem, was das Leben belastet und beschwert; 8) die feierliche Form und die lapidare Kürze; 9) das Problem der bei Matthäus und Lukas nicht überlieferten Doxologie. 6.

Praktisch-theologisch

Das Forschungsgebiet der Praktischen Theologie ist die Kirche im Vollzug ihres Auftrags, die Menschen ihrer Zeit vor die Wirklichkeit Gottes zu stellen. Das bedeutet für unsere Aufgabe, etwas über den Gebrauch des Vaterunsers in der Liturgie, in der -> Verkündigung und in sonstigen Verwendungen zu sagen. Schmidt-Lauber (Vaterunser 212), dem wir hier folgen, unterscheidet drei Funktionen: a) Das Vaterunser als Rüstgebet in der Feier der Eucharistie. Im Evangelischen Gottesdienstbuch, das 1999 die bisherigen Agenden ablöste, kann es in der Grundform I. Gottesdienst mit Predigt und Abendmahl nach dem Sanctus vor den Einsetzungsworten (gemeinsam) gebetet werden; in der Regel folgt es aber auf das Abendmahlsgebet II

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(Anamnese), gesungen oder gesprochen vor dem Friedensgruß und Agnus Dei. In der Grundform II. Predigtgottesdienst [Mit Abendmahl] hat es seinen Ort nach dem Abendmahlsgebet vor dem Friedensgruß. „In den Ordnungen ohne Abendmahl ist das Vaterunser in gewisser Weise auch Platzhalter für die grundsätzlich einbezogene Abendmahlsfeier" (Gottesdienstbuch 25). In der römischen Messe ist es seit Cyprian und Ambrosius üblich und noch heutige Praxis, den (von Luther verbannten) sog. „Embolismus" nach der siebten Bitte einzuschieben, eine Erweiterung mit folgendem Wortlaut: „Erlöse uns, Herr, allmächtiger Vater, von allem Bösen und gib Frieden in unseren Tagen. Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten". Darauf folgt die sonst in den katholischen Gottesdiensten fehlende Doxologie. b) Das Vaterunser als zusammenfassender Abschluß des Gemeindegebets. In dieser Funktion begegnet es der Gemeinde, die es laut mitbetet, in allen Gottesdiensten an Sonn- und Feiertagen, in Andachten und Gebetsgottesdiensten. In den Tagzeitgebeten wird es den Preces, den im Wechsel gesungenen oder gesprochenen Gebeten, vorangestellt. In gleicher Weise ordnete es Luther dem Morgen- und Abendsegen sowie dem Tischgebet zu (WA 30/1,262,1). c) Das Vaterunser als Segensgebet. Als solches ist es ein „Spezifikum lutherischer Liturgik" (Schmidt-Lauber, Vaterunser 212). So wird es bei Taufe, —•Konfirmation, Trauung, —»Ordination und bei Einweihungshandlungen gebetet. In der Lima-Liturgie von 1982 (vgl. TRE 21,369-373) wird das Vaterunser in der Taufliturgie ausgelassen, in der Eucharistie dagegen vor dem Friedensgruß und dem Brechen des Brotes gesprochen. In der Lutherischen Taufagende wird es mit den Worten eingeleitet: „Diesen Segen erbitten wir auch für dieses Kind. Darum laßt uns ihm die Hand auflegen und gemeinsam beten, wie uns der Herr gelehrt hat" (Agende III/l [1988] 28). Weniger häufig als in liturgischen Zusammenhängen erscheint das Vaterunser in der Verkündigung und im -»Religionsunterricht. Dort wird es in den Lehrstücken vom Gebet und im Rahmen des Katechismus behandelt. Ältere Entwürfe, wie z. B. der von J. Schieder drangen noch bis zum „III. Hauptstück. Das Vaterunser" vor (Schieder 179-197). Heute ist es zwar in den Lehrplänen enthalten; z.B. Jahrgangsstufe 3 (Grundschule): „Beten und Bedeutung der Bitte um Vergebung im Vaterunser" (Lehrplan [1981] 32) oder Jahrgangsstufe 7 (Gymnasium): „Das Vaterunser als Modell christlichen Betens" (Lehrplan [1990] 247); aber die ihm Gewicht gebende Behandlung ist der Freiheit der Unterrichtsgestaltung überlassen. In den Perikopenreihen enthält die Reihe V Mt 6,(5—6.)7—13(.1415) für den Sonntag Rogate; Lk 11,1-8 ist für „Bittage" vorgesehen. Um so zahlreicher wurde das Vaterunser in den entsprechenden Predigthilfen erklärt und in Reihenpredigten einzeln oder im Rahmen der -»Bergpredigt ausgelegt. Bekannt und viel verwendet wurde die Überschrift, die H. —•Thielicke seinen „Reden über das Vaterunser" gab: Das Gebet, das die Welt umspannt. Das Vaterunser ist im Bewußtsein der meisten Menschen unseres Kulturkreises noch vorhanden. Bei den Friedensgebeten vor dem Ende der DDR wurde es regelmäßig gesprochen. Auch in der —> Seelsorge an Kranken und Sterbenden nimmt es einen wichtigen Platz ein. Manchmal sprechen es sogar ganz entkirchlichte Patienten, die keine Liedstrophen mehr kennen, laut oder leise mit. Aber es ist im Begriff, aus dem Bewußtsein und den Seelen zu schwinden. Eine Fernsehsendung, in der der Moderator aufforderte, einzelne tragende Worte einem bestimmten Gebet zuzuordnen, machte es deutlich: die Befragten vermochten es nicht, kannten also auch das Vaterunser nicht mehr. Deshalb muß es den Menschen in einer Zeit des gewandelten Welt- und Wirklichkeitsverständnisses aufs Neue nahegebracht werden. Das kann durch Gottesdienst, Predigt, Unterricht, Seelsorge und religiöse Literatur geschehen. Im Gottesdienst in Deutschland beten die Evangelische und die -»-Römisch-Katholische Kirche das Vaterunser im Wortlaut gleich. Damit verwirklichen sie die Intention Jesu: Es soll die Christen zusammenschließen. Die Kirchen haben in ihren je eigenen

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Stunden der - » A n f e c h t u n g , durch die sie heute gehen, das miteinander und füreinander gesprochene Gebet des H e r r n so notwendig wie n o c h nie. Wenn über das Vaterunser gepredigt wird, dann sollte es ganz bleiben und nicht „ z e r k l ä r t " werden. Statt die Fassade abzuleuchten, gehört das Licht ins H a u s . M a n kann z. B. von der vierten Bitte als Achse ausgehen: a) W i r bitten im Gebet des H e r r n u m Brot im engsten und notwendigsten Sinn (4. Bitte); b) wir bitten aber auch um Mittel und Energien zur Führung und Bewahrung unseres Lebens im Glauben (5. bis 7. Bitte); c) wir bitten endlich um B r o t v o m H i m m e l im weitesten und tiefsten Sinn, u m das K o m m e n des Reiches Gottes ins H e u t e (1. bis 3. Bitte). Auf religionspädagogischem Gebiet wird m a n es mit der F r a g e nach G o t t als H i n tergrund-Einwand zu tun haben, von dem aus das Gebet ganz allgemein in Frage gestellt wird. Wer d a r a u f eingeht - es ist unerläßlich! - , kann dann aber auch sagen: E r betet! Das ist des „ B e w e i s e s " Gottes genug. In der Seelsorge wurde in der letzten Zeit die Bedeutung des -»Segens wieder entdeckt. Es ist deshalb möglich, das Vaterunser, der lutherischen Tradition g e m ä ß , als Segensgebet einzusetzen. Stellvertretend für die außerhalb des kirchlich-theologischen R a u m e s vorhandenen Verwendungen des Vaterunsers seien die Betrachtungen über das Vaterunser von Simone Weil genannt. Darin heißt es a m Schluß: „Dieses Gebet enthält alle je m ö g lichen Bitten; m a n kann kein Gebet ersinnen, das nicht schon darin beschlossen wäre. Es ist als Gebet, was Christus als M e n s c h ist. E s ist unmöglich, es einmal zu sprechen und dabei a u f jedes W o r t die Fülle der Aufmerksamkeit zu richten, ohne daß in der Seele eine vielleicht unendlich kleine, aber wirkliche Veränderung bewirkt w i r d " (Weil 248). Quellen Agende f. ev.-luth. Kirchen u. Gemeinden I, 5 Teilbde., Hannover 1 9 5 1 - 1 9 5 4 . - Agende f. ev.-Luth. Kirchen u. Gemeinden. III. Die Amtshandlungen. T. 1. Die Taufe, Hannover 1988. Ambroise de Milan, Des Sacrements. Des mystères. Explication du Symbole, ed. Bernard Botte, 1980 = z 1959 (SC 25 bis ). - Benedikt v. Nursia, Die Benediktus-Regel. Lat.-Dt., hg. v. Basilius Steidle, Beuron 1963 3 1978. - Johannes Cassianus, Conlationes I - X X I V , hg. v. Michael Petschenig, II 1886 (CSEL 13). - Cyprianus, De dominica oratione: CChr.SL 3A (1976) 9 0 - 1 1 3 . - Cyrill v. Jerusalem, Mystagogicae catecheses/Mystagogische Katechesen, Griech.-Dt., übers, u. eingel. v. Georg Röwenkamp, 1992 (FC 7). - Ders., Sämtl. Sehr., übers, v. Karl Kohlhund, Kempten, I 1879 (BKV 59), bes. 5 5 8 - 5 6 5 . - Didache (Apostellehre), eingel., hg., übertr. u. erl. v. Klaus Wengst, 1984 (SUC 2). - Monica Dorneich (Hg.), Vaterunser-Bibliogr., Freiburg i.Br. 1987. - Erneuerte Agende, Vorentwurf, hg. v. der Arbeitsgruppe Erneuerte Agende, Hannover 1990. - Ev. Gottesdienstbuch. Agende f. die Ev. Kirche der Union u. f. die Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Deutschlands, Berlin 2000. - Der HeidKat, hg. v. Otto Weber, Gütersloh 1978. - HeidKat, hg. v. der Ev.-Ref. Kirche, Rev. Ausg., Neunkirchen-Vluyn 1997. - KO, wie es mit der Leere u. Ceremonien im Fürstenthumb Wirtemberg angericht vnnd gehalten werden soll, Tübingen 1553. - Origenes, De oratione: ders., Werke, III 1899 (GCS3) 2 9 7 - 4 0 3 . - Prex eucharistica. Textus e variis liturgiis antiquioribus selecti, hg. v. Anton Hänggi/Irmgard Pähl, 1968 (SpicFri 12). - Die Reform des Gottesdienstes in Bayern im 19. Jh. Quellened., hg. v. Hanns Kerner/Reinhold Friedrich/Manfred Seitz u. a., 4 Bde., Stuttgart 1 9 9 5 - 1 9 9 8 . - Johann Michael Reu, Quellen zur Gesch. des kirchl. Unterrichts in der ev., Kirche Deutschlands zw. 1530 u. 1600, 10 Bde., Gütersloh 1 9 0 4 - 1 9 3 5 . - Tertullian, De oratione: Quinti Septimi Florentis Tertulliani Opera, I 1890 (CSEL 20) 1 8 0 - 200. - Tertullians sämtl. Sehr. I. Die apologetischen u. prakt. Sehr., hg. v. Karl A. Heinrich Kellner, Köln 1882, 2 9 2 - 3 1 1 . - Thomas v. Aquin, Summe der Theol. III. Der Mensch u. das Heil, hg. v. Joseph Bernhart, Stuttgart 2 1954,381 ff. — W A . - Weisung der Väter. Apophthegmata Patrum, hg. v. Bonifaz Miller, Freiburg i.Br. 1965. Literatur Vgl. die Lit. des Art. -»Katechismuspredigt. Hermann Alt, Der christl. Kultus, Berlin 1851. - Paul Althaus d.Ä., Forschungen zur Ev. Gebetsliteratur, Gütersloh 1927. - Arnold Angenendt, Gesch. der Religiosität im MA, Darmstadt 1997. - Philippe Ariès, L'homme devant la mort, Paris 1977; dt.: Gesch. des Todes, München 1980 7 1995. - Karl Auer, Das Vaterunser in der Gesch. der ev. Frömmigkeit, Tübingen 1924. - Erhard Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen u. Definitionen, Stuttgart 1974. - Hans Urs v. Balthasar,

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Vaterunser III

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Vatikan

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Manfred Seitz

Vatikan 1. Historisch

2. Gegenwart

(Quellen und Literatur S . 5 3 1 )

Als Vatikan bezeichnet man im alltäglichen Sprachgebrauch den Papst mit der päpstlichen -> Kurie wie auch den Vatikanstaat. 1.

Historisch

Seit dem 6. Jh. v. Chr. hieß ager Vaticanus jene Hügelkette, die sich in der Höhe -•Roms auf dem rechten Tiberufer über eine Länge von ca. 13 km erstreckt, seit dem 2. Jh. n. Chr. nur noch der heutige Vatikanische Hügel und das sich bis zum Tiber anschließende Gelände. Das Gebiet wurde von der Via Aurelia, der Via Cornelia und der Via Triumphalis durchzogen, deren damaliger Verlauf im einzelnen nicht bekannt ist. Dort lagen zwei Nekropolen und im Süden der ca. 300 m lange Zirkus des CaligulaNero. In ihm starben nach Tacitus im Jahre 64 unter Nero römische Christen als angebliche Brandstifter. Sie werden als erste Märtyrer der Kirche von Rom verehrt. Seit der Mitte des 2. Jh. wurde in der vatikanischen Nekropole das Grab des heiligen -•Petrus verehrt. Über ihm ließ -»Konstantin der Große 3 1 9 - 3 2 2 die Basilika Alt St. Peter errichten. Im Gegensatz zu den anderen Memorialbauten Roms lag das Grab nicht unter der Kirche in einer Katakombe, sondern es war als oberirdisches Grabmal in die Kirche einbezogen. Alt St. Peter wurde eines der bedeutendsten Märtyrer- und Pilgerheiligtümer der Christenheit. Die Besucher erreichten es auf einer von Kolonnaden gesäumten Straße von der Hadriansbrücke (heute Engelsbrücke) her. Mit Alt St. Peter begann für dieses Gebiet die Entwicklung zu einem neuen Stadtteil, dem Borgo. Die Päpste behielten dagegen ihre Residenz in der Stadt bei der Laterankirche. Weiteren Aufschwung erhielt der Borgo nach der Eroberung des -»Heiligen Landes durch die Araber (639), als die Pilgerfahrt dorthin erschwert wurde, sowie seit der Hinwendung der germanischen Völker zum katholischen Bekenntnis. Seitdem entstand hier eine Fülle von Kirchen, Kapellen und Pilgerhospizen (scholae). Als erster Papst verlegte Symmachus (498-514) wegen innerstädtischer Machtkämpfe seine Residenz zeitweise nach St. Peter. Ein Ausbau dieser Nebenresidenz erfolgte unter Leo III. (795-816), der für -•Karl den Großen das palatium Caroli erbauen ließ. Leo IV. (847-855) ließ den Borgo wegen der Sarazenengefahr mit einer Mauer schützen, die in Teilen erhalten ist. Die nunmehrige civitas Leonina besaß einen eigenen Rechtsstatus, blieb aber Teil der Stadt Rom. Bis zu Eugen III. (1145-1153) besaß die Residenz bei St. Peter wenig Bedeutung. Seitdem aber wurde sie wegen der innerstädtischen Auseinandersetzungen zur Alternative für die Hauptresidenz beim Lateran. —»Innocenz III. (1198-1216) setzte den ent-

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Vatikan

scheidenden Akzent, indem er die Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude auf die bis dahin unbebaute Nordseite der Basilika, den Möns Scaccorum, verlegte und damit der weiteren Entwicklung den Weg wies. —»Innocenz IV. (1243-1254) ließ dort einen Wohnturm errichten und entschied sich damit endgültig für die Verlegung der Residenz auf die Nordseite der Basilika. Im übrigen hielten sich die Päpste wegen der politischen Instabilität im 13. Jh. oft außerhalb Roms in Anagni, Viterbo, Orvieto und Perugia auf. Nikolaus III. (1277-1280) aus dem Hause Orsini faßte die Gebäude nördlich der Basilika zu einem Palastkomplex zusammen und brachte aus seinem Familienbesitz das Mausoleum Hadrianum ein, das seit der Spätantike in das Verteidigungssystem der Stadt einbezogen worden war. Der Erwerb dieses Monumentes ermöglichte den Päpsten den Ausbau einer Festung, die ihnen in Krisenzeiten Sicherheit bot, die durch einen Verbindungsgang (passetto) mit ihrer Residenz verbunden wurde und überdies die im Mittelalter einzige Tiberbrücke kontrollierte. Der N a m e Engelsburg (Castel S. Angelo) ist seit 825 bezeugt und spielt auf eine Michaelserscheinung an, die -»Gregor der Große bei einer Bittprozession gehabt habe. Während des Aufenthaltes der Päpste in Avignon (1309-1377) und des Großen Abendländischen Schismas (vgl. T R E 30,133,31-35) verfiel mit Rom und dem -»Kirchenstaat auch der Vatikan. Nach dem Konzil von -»Konstanz (1414-1418) führte die Rückkehr der Päpste nach Rom langsam zum Wandel. Als die Päpste seit der Mitte des 15. Jh. ihre Residenz vom Lateran nach St. Peter verlegten und nicht nur ihren H o f , sondern auch die Kurie mit sich dahin zogen, erhielt der Vatikan ein neues Gepräge, zumal die Päpste sich seit -»Nikolaus V. dem - » H u manismus und der Renaissancekultur (-»Renaissance) öffneten. Bis zum 17. Jh. entstand hier die größte Palastanlage der Welt. Den Auftakt machte Nikolaus mit seiner Neuplanung des Borgo, der der Bedeutung des -»Papsttums entsprechen sollte. Es gelang ihm jedoch nicht, über einige Anfänge hinauszukommen. Seine Nachfolger setzten diesen Kurs fort. Dazu gehörten der Ausbau der Engelsburg, unter -»Sixtus IV. (1471-1484) der Bau des für seine Zeit vorbildlichen Hospitals vom Heiligen Geist, das durch seine Größe zum Ausdruck brachte, welchen Stellenwert die Sorge um die Armen für die Päpste besaß, und die Sixtinische Kapelle, die die besten umbrischen und toskanischen Maler der Zeit mit Fresken schmückten. 1475 folgte die Gründung der Vatikanischen Bibliothek. -»Julius II. (1503-1513) begründete die vatikanische Kunstsammlung, aus der später die Museen hervorgingen. Alt St. Peter hatte das Mittelalter unversehrt überstanden, doch hatte seit der Abwesenheit der Päpste in Avignon der Verfall eingesetzt. Um 1500 setzte sich dann der Plan eines Neubaues als Kuppelanlage durch. Der 1506 durch Donato Bramante (14441514) begonnene Neubau erfuhr bis zu seiner Vollendung 1626 mancherlei Modifikationen. Die Gestaltung der Kuppel geht auf -»Michelangelo Buonarroti zurück. Der Petersplatz und der Apostolische Palast erhielten im Zeitalter des -»Barock ihre heutige Gestalt, doch gingen Erweiterungsbauten, besonders für die Museen, bis ins 20. Jh. weiter. Der Borgo blieb bis zum Untergang des Kirchenstaates (1870) Stadtteil der Päpste, doch votierte seine Bevölkerung nach der Besetzung Roms durch italienische Truppen 1871 mehrheitlich für den Anschluß an das Königreich -»Italien. 2.

Gegenwart

Der durch die Annexion des Kirchenstaates ausgelöste Konflikt zwischen Papsttum und italienischem Staat wurde 1929 unter -»Pius XI. durch die Lateranverträge (-»Italien 7.4.) beigelegt. Dadurch wurde der Stato della Cittä del Vaticano (SCV; 0,44 km 2 ) gegründet. Er knüpft nicht an den Kirchenstaat an, sondern ist eine Neubildung, die als Enklave im italienischen Staatsgebiet liegt und im wesentlichen den Petersdom, den Petersplatz, den Apostolischen Palast, die Vatikanischen Paläste mit Behörden, dem Archiv, der Bibliothek und den Museen sowie die Gärten umfaßt. Außerdem genießen die in Rom liegenden Patriarchalbasiliken, Amtsgebäude der römischen Kurie und die

Vatikan

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päpstliche Sommerresidenz in Castel Gandolfo sowie eine Reihe weiterer kirchlicher Immobilien den Status der Exterritorialität. Der Vatikanstaat hat die Staatsform einer Wahlmonarchie (-»Papstwahl), in dem der Papst die gesetzgebende, richterliche und ausführende Gewalt besitzt. Diese wird zum Teil durch ihn selbst, zum Teil durch delegierte Organe ausgeübt, darunter die 1939 gegründete Päpstliche Kommission für den Vatikanstaat, der das Governatorat untersteht. Als souveräner Staat besitzt der Vatikanstaat eigene Organe der Rechtspflege und der Polizei sowie eine eigene kirchliche Verwaltung (Pfarreien St. Peter, St. Anna). Seine Bevölkerung liegt unter 1.000 Personen verschiedener Nationalität. Er besitzt eine eigene Flagge (gelb-weiß mit gekreuzten Schlüsseln und Tiara), ein eigenes Wappen, eine Hymne und eine eigene Post. Er gibt eigene Münzen (seit 2002 Euro) heraus, die bis 2002 auch in Italien, seitdem im gesamten Euro-Raum gelten, obwohl der S C V nicht der Europäischen Union angehört. Das Gebiet des Vatikanstaates gilt als neutral und unverletzlich. Es steht mit seinen Kulturgütern seit 1958 unter dem Schutz der Konvention von Den Haag und im Falle eines bewaffneten Konfliktes unter der des Generalsekretärs der -»Vereinten Nationen. 1982 wurde der S C V in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Er dient dem Heiligen Stuhl (im kurialen Gebrauch auch „Apostolischer Stuhl") als Völkerrechtssubjekt und damit dem Papst mit der Kurie zur Wahrnehmung ihrer internationalen Aufgaben. Der Heilige Stuhl steht völkerrechtlich auf gleicher Stufe mit den Staaten und internationalen Organisationen. Er ist gemäß den Lateranverträgen zu dauernder Neutralität verpflichtet. Auf dieser Basis wirkt er durch seine diplomatische Friedenskultur weit über die katholische Kirche hinaus. Die Verwaltung des S C V nimmt eine Kommission wahr. Der Austausch diplomatischer Vertreter mit 174 Staaten (2002) erfolgt durch den Heiligen Stuhl im Namen der Kirche und zugleich des SCV. Darüber hinaus hat der Heilige Stuhl bei acht internationalen Organisationen, vor allem den Vereinten Nationen — denen er aber wie die Schweiz (bis 2002) nicht angehört - und deren Unterorganisationen sowie beim Europarat Beobachterstatus. Bei der Finanzierung des Vatikan ist zu unterscheiden zwischen dem Heiligen Stuhl mit seinen gesamtkirchlichen Aufgaben und dem SCV. Seit dem Mittelalter finanzierte sich das Papsttum wesentlich durch Gebühren, so aus der Verleihung kirchlicher Ämter, und später durch Steuern aus dem Kirchenstaat. Seit 1870 war es vor allem auf Spenden angewiesen. Durch die Lateranverträge erhielt seine Finanzwirtschaft wieder eine gesicherte Basis durch die Zahlung einer Abfindungssumme für die verlorenen Einkünfte aus dem Kirchenstaat und der Enteignung kirchlichen Besitzes (-»Säkularisation). Diese wurde im wesentlichen angelegt. Aus ihrem Ertrag wird der Vatikan finanziert. Wegen des seit den letzten Jahrzehnten größeren Finanzbedarfes spielen Spenden eine wachsende Rolle. Die Einnahmen des Heiligen Stuhles beliefen sich 2000 auf 218 Millionen Euro, die Ausgaben auf 208,84 Millionen Euro. Von den Einnahmen kamen 62,82 Millionen Euro aus freiwilligen Leistungen bzw. Spenden. Quellen und Literatur H a r t m u t Benz, Finanzen u. Finanzpolitik des Hl. Stuhls. R o m . Kurie u. Vatikanstaat seit Paul VI., Stuttgart 1993 ( V S W G . B 108). - N i c c o l o Del R e (Hg.), M o n d o Vaticano, Vatikanstadt 1995; dt.: Vatikan-Lexikon, dt. Bearb. v. E l m a r Bordfeld, Augsburg 1998. - Heribert F. Köck, Die völkerrechtliche Stellung des Hl. Stuhls, Berlin 1975. - Richard Krautheimer, R o m e . Profile of a City 3 1 2 - 1 3 0 8 , Princeton, N . J . 1 9 8 0 ; dt.: R o m . Schicksal einer Stadt, München/Leipzig 1987 Darmstadt 2 1 9 9 6 . - Philippe Levillain (Hg.), Dictionnaire historique de la Papaute, Paris 1994. - Paolo Liverani, L a topografia antica del Vaticano, Vatikanstadt 1999 ( M o n u m e n t a Sanctae Sedis 2). - Carlo Pietrangeli (Hg.), II Palazzo Apostolico, Florenz 1992. - Winfried Schulz, Leggi e disposizioni usuali dello Stato della Cittä del Vaticano, 2 Bde., R o m 1 9 8 1 - 1 9 8 2 . - Karl S o n n e / H o r s t Nusser/Fritz Z a h m (Hg.), Der Vatikan als Staatsorganisation, München 1995. - Katharina B. Steinke, Die m a . Vatikanpaläste u. ihre Kapellen. Baugesch. Unters, anhand der schriftlichen Quellen, Vatikanstadt 1984 (Studi e documenti per la storia del Palazzo Apostolico Vaticano 5a).

Erwin Gatz

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Vatikanum I

Vatikanum I und II I. Vatikanum I (1869-1870) II. Vatikanum II (1962-1965) I. Vatikanum I

S.541

(1869-1870)

1. Historischer Hintergrund 2. Vorbereitung 3. Zusammensetzung und Richtungen 4. Verlauf 5. Zur Diskussion um Freiheit und ökumenizität 6. Lehraussagen 7. Historischer Ort (Quellen/Literatur S. 540)

1. Historischer

Hintergrund

Hintergrund des Ersten Vatikanischen Konzils ist vor allem die Defensivhaltung der katholischen Kirche gegen die durch -»Aufklärung und -»-Französische Revolution geprägte Moderne, wobei diese Anti-Haltung sich freilich speziell seit der Mitte des 19. Jh. moderner struktureller Elemente (katholische Volksbewegung, politischer Katholizismus) bediente (-»Ultramontanismus); sie führte zu einer Darstellung der Kirche unter der Signatur blockartiger Geschlossenheit gegen eine feindliche Welt. Die politischen Umbrüche im Gefolge der Französischen Revolution hatten seit Beginn des 19. Jh. speziell in -»-Frankreich und -»Deutschland die Zerstörung jener kirchlichen Strukturen zur Folge, die bis dahin ein Bollwerk des -»Episkopalismus (bzw. -»Gallikanismus und Febronianismus [-»Febronius/Febronianismus]) gewesen waren: der Ecclesia gallicana und der deutschen Reichskirche. Dies bedingte kurzfristig Auslieferung an die staatliche Kirchenherrschaft, langfristig jedoch administrativ, kirchenpolitisch und geistig eine bisher unerhörte Konzentration der katholischen Kirche auf das —»Papsttum, zumal dem die geistige Atmosphäre der Zeit der Restauration nach 1815 entgegenkam. Mehr und mehr stellte sich das Papsttum, besonders unter Gregor XVI. (1831-1846), als entscheidende anti-revolutionäre Kraft und als Bollwerk des Autoritätsprinzips dar (Verurteilung der liberalen Freiheiten in der Enzyklika Mirari vos von 1832), gleichzeitig auch als nunmehr einziges Gegengewicht gegen das übermächtige Staatskirchentum (-»Staatskirche/Staatsreligion); wer gegen das Staatskirchentum und für die Freiheit der Kirche vom Staat kämpfte, war tendenziell „römisch" und „ultramontan". Der Ultramontanismus befand sich so seit den 1820er Jahren in Klerus und Kirchenvolk im Vormarsch, wobei 1830 (Julirevolution; H.F.R. de -»Lamennais), 1837 (Kölner Kirchenstreit) und 1848 (europäische Revolutionen) besondere Zäsuren bildeten; die Popularität von Papst -»Pius IX. (1846-1878) gab ihm in einer komplexen Verkettung persönlicher Momente und historischer Konstellationen speziellen Auftrieb. Ging bis zur Mitte des Jahrhunderts die ultramontane Bewegung vor allem von der Basis aus, während die Eingriffsmöglichkeiten Roms schon infolge der staatskirchlichen Hemmnisse begrenzt waren, so wird seit 1850 die „römische" Ausrichtung auf allen Ebenen durch die Kurie und die Nuntiaturen zielbewußt vorangetrieben. Geistig entsprach dem die vor allem von den -»Jesuiten des Römischen Kollegs geförderte Neuscholastik (-»Scholastik/Neuscholastik), negativ die römische Verurteilung philosophisch-theologischer Versuche, bei modernen Subjektphilosophien anzusetzen (G. -»Hermes; Anton Günther [1783-1863]) und die reserviert-ablehnende Haltung gegenüber dem Einbruch historischen Denkens in die Theologie (J.J.I. —»Döllinger). Die Situation nach 1848 verschärfte einerseits die Defensivsituation des Katholizismus: geistig waren -»Restauration und -»Romantik überwunden, —»Positivismus und —»Materialismus auf dem Vormarsch; politisch dominierten seit dem Ende der 50er Jahre die Tendenzen der -»Säkularisierung und des -»Liberalismus, wobei die Bedrohung und Reduzierung des -»Kirchenstaates (1859-1861) und die päpstliche Antwort auf diese Tendenzen im -»Syllabus und der gleichzeitigen Enzyklika Quanta cura 1864 besondere Marksteine bildeten. Ließ so diese Verschärfung der Bedrohung ein ökumenisches Konzil (-»Synode) dringender erscheinen, so machte es andererseits die Lockerung des Staatskirchentums nach den Revolutionen von 1848

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und die seitdem errungene größere Freiheit der katholischen Kirche in vielen Ländern möglich. Die Radikalisierung des Ultramontanismus in den 60er Jahren und speziell seit dem Syllabus, vor allem der Verlust der ihm noch um 1848 vielfach anhaftenden politisch-freiheitlichen Momente, bewirkte dabei auch kirchliche Gegenreaktionen und führte Theologen (so Döllinger) und Bischöfe in die Opposition, die 1848 im Kampf gegen das Staatskirchentum und die letzten Ausläufer der kirchlichen Aufklärung noch zu den „Ultramontanen" gehört hatten. So kam es seit Anfang der 60er Jahre vor allem in Deutschland und Frankreich, aber auch in -»England und -»Italien zu scharfen innerkirchlichen Gegensätzen zwischen „liberalen Katholiken" und Ultramontanen; in Frankreich stand dabei die Einstellung zu den Prinzipien von 1789, den „liberalen Freiheiten" und speziell der -»Religionsfreiheit im Vordergrund (Mechelner Rede von Ch. de —•Montalembert 1863 mit prinzipiellem Ja zur Religionsfreiheit), in Deutschland die Auseinandersetzung um die Freiheit der theologischen Wissenschaft und die Rolle der Geschichte innerhalb der Theologie (Döllinger). Diese Kontroversen sollten sich noch am Vorabend des Konzils 1869 verschärfen. 2.

Vorbereitung

Nach mehreren Sondierungen und Überlegungen mit Kurienkardinälen und Bischöfen berief Pius IX. das Konzil am 29. Juni 1867 anläßlich der 1.800-Jahr-Feier des Martyriums Petri und Pauli ein. Das Ziel war sehr weitgespannt und lag auf der allgemeinen Linie des Syllabus. Die Vorbereitung geschah durch sechs Kommissionen: die Zentralkommission, welche die Geschäftsordnung ausarbeitete, und fünf Sachkommissionen (die Dogmatische, Disziplinäre, Kirchenpolitische, für Orden, für Ostkirchen u. Missionen), die bis Ende 1869 65 Dekretentwürfe ausarbeiteten. Die ausschließlich römisch-ultramontane Zusammensetzung dieser Kommissionen wurde auf Drängen des Prager Kardinals Friedrich v. Schwarzenberg (1809-1885) Ende 1868 nur unwesentlich modifiziert. Die Geschäftsordnung, für die Arbeiten des Jesuiten Sebastiano Sanguineti (1829-1893) und des Konzilshistorikers (seit Beginn des Konzils Rottenburger Bischofs) C. J. —»Hefele (letzterer jedoch nicht in der Grundtendenz übernommen) maßgeblich waren, orientierte sich an den Präzedenzfällen des 5. Laterankonzils (1512—1517; —• Lateransynoden II) und des —•Tridentinums, dem Prinzip der ausschließlich päpstlichen Konzilsleitung und den Erfordernissen einer großen Versammlung, wurde jedoch noch während des Konzils aufgrund der dortigen Erfahrungen (am 22. Februar 1870) im Sinne einer Straffung der Diskussionen und einer Stärkung der Deputation modifiziert. Der Kreis der Teilnahmeberechtigten entsprach im wesentlichen dem in Trient (Bischöfe inklusive Titularbischöfe, Ordensgeneräle und Generaläbte klösterlicher Kongregationen). An die Stelle der auf dem Tridentinum praktizierten Zweiheit von Generalkongregationen und Theologenversammlungen trat die von Generalkongregationen und Deputationen, welche, aus den Konzilsvätern und durch sie gewählt, die diskutierten Texte umarbeiteten und neu vorlegten. Für alle innerkonziliaren Vorgänge galt striktes Geheimnis. Neu war, daß auf die Einladung der Staaten bewußt verzichtet wurde. Geschahen die Vorbereitungen „hinter verschlossenen T ü r e n " , so stand das Konzil seit Februar 1869 in der Öffentlichkeit im Zeichen einer innerkirchlichen Polarisierung, deren Kristallisationspunkt vor allem die (erhoffte oder befürchtete) Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit war, in der es jedoch um den Gesamtkomplex des Verhältnisses von Kirche und Moderne, bzw. liberalen Freiheiten ging. Die öffentliche Kontroverse wurde zunächst durch Verfechter der Unfehlbarkeitsdefinition (Infallibilisten) angestoßen. Dies war vor allem die römische Jesuitenzeitschrift Civiltà Cattolica mit dem Artikel Korrespondenz aus Frankreich vom 6. Februar 1869, die die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit, noch dazu durch „geistgewirkte" Akklamation, als Wunsch der „eigentlichen Katholiken" in Frankreich (im Gegensatz zu den „liberalen Katholiken") darstellte, ferner der französische Journalist Louis Veuillot (1813-1883) in seiner Zeitung Univers sowie die Erzbischöfe Victor Auguste Dechamps von Mecheln (1810-1883)

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und Henry Edward Manning von Westminster (1808-1892). Darauf reagierten die „liberalen Katholiken" mit öffentlichen Angriffen gegen die Unfehlbarkeit (in Deutschland Ignaz v. Döllinger unter dem Pseudonym „Janus" in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, dann in Buchform veröffentlicht, in Frankreich der Dekan der Theologischen Fakultät der Sorbonne Henri-Louis-Charles Maret [1805-1881], zuletzt Bischof FélixAntoine Dupanloup von Orléans [1802-1878]). Versuche, staatliche Interventionen zur Verhinderung „extremer" Beschlüsse herbeizuführen, gingen vor allem von Döllinger, während des Konzils auch von dem englischen liberalen Katholiken Emmerich Lord Acton (1834-1902) und einzelnen Bischöfen der Minorität aus. Sie gipfelten in der Zirkulardepesche des bayrischen Ministerpräsidenten Chlodwig v. Hohenlohe-Schillingsfürst (1819-1901) vom 9. April 1869 an die Mächte, fanden jedoch keinen dauernden Rückhalt bei den Großmächten (von denen Frankreich als Schutzmacht des Kirchenstaates am ehesten imstande war, Druck auszuüben). Grund war, daß an einer Intervention letzlich nur die „liberalen Katholiken" interessiert waren, aber weder die Ultramontanen noch meist der katholischen Kirche feindlich oder distanziert gegenüberstehende Politiker; eine anti-infallibilistische Intervention erbrachte keine Wählerstimmen und gefährdete andere, für wichtiger erachtete Ziele. 3. Zusammensetzung

und

Richtungen

Am 8. Dezember 1869 wurde das Konzil eröffnet; es tagte im rechten Querschiff von St. Peter und zählte 792 (gleichzeitig zwischen 600 und 700) Teilnehmer. Außer den romanischen Ländern (nach Herkunft 6 4 % ) waren der deutsche Kulturbereich (8,6%), die anglophonen Länder (14,1%, darunter Nordamerika 8,3%), die Missionsländer (6,3 % , freilich nur Apostolische Vikare europäischer Herkunft) und die unierten Ostkirchen (5,5%) stattlich vertreten (insgesamt 7 2 % aus Europa). Gleich zu Beginn kam es zur Spaltung in eine infallibilistische Mehrheit und eine Minderheit, die gegen die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit kämpfte. Hauptführer der Infallibilisten waren Erzbischof Manning und Bischof Ignaz v. Senestrey von Regensburg (1818-1906). Diese hatten, einem Impuls der Civiltà Cattolica folgend, bereits im Juni 1867 unter Leitung des Jesuitenpaters Matteo Liberatore (1810—1892) das Gelübde abgelegt, alles in ihren Kräften Stehende für die Definition der Unfehlbarkeit zu tun. Zusammen mit einer Kerngruppe von zehn bis zwanzig anderen Konzilsvätern propagierten sie systematisch die Unfehlbarkeitsdefinition (die zunächst in den offiziellen Konzils-Vorlagen nicht vorgesehen war) und sorgten immer wieder durch gezielte Unterschriftensammlungen sowie Demarchen bei Konzilsleitung und Papst für ihre vorrangige und beschleunigte Behandlung. Theologisch bedeutende Verfechter der Unfehlbarkeit waren die Erzbischöfe Dechamps (Mecheln), John Martin Spalding (1810—1872; Baltimore), Emmanuel Garcia Gii (1802—1881; Zaragoza), die Bischöfe Louis Pie (1815-1880; Poitiers), Konrad Martin (1812-1879; Paderborn) und Vinzenz Gasser (1809-1879; Brixen). Die Mehrheit der Bischöfe war theologisch von der päpstlichen Unfehlbarkeit überzeugt, nicht jedoch schon von Anfang an von der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Definition; zumindest war sie nicht von vornherein darauf als eine Hauptaufgabe des Konzils konzentriert. Sie wurde jedoch meist bis Januar 1870 unter dem Eindruck der öffentlichen Polarisierung für die Definition gewonnen, da sie zur Überzeugung kam, daß in dieser Situation ein Schweigen des Konzils in den Augen der Öffentlichkeit gleichbedeutend mit einer negativen Entscheidung sei und einen immensen Autoritätsverlust zur Folge haben würde. Die Minderheit (ca. 2 0 % der Konzilsväter) bestand aus den meisten Bischöfen Deutschlands und Österreich-Ungarns, über 4 0 % der französischen und nordamerikanischen Bischöfe, einigen Orientalen (Melkiten und Chaldäer), Engländern und Norditalienern. Ihre Bedenken gründeten zum Teil in der konkreten Signalfunktion der Unfehlbarkeit (ihrer „Inopportunität"), d.h. in ihrem Gesamtkontext innerhalb einer un-

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differenziert negativ-abwehrenden Einstellung der Kirche zur „Moderne". Sie stützten sich aber auch auf gewichtige historische und theologische Bedenken unterschiedlicher Radikalität; wurde auch der päpstliche Primat als solcher von den Bischöfen der Minorität nie und die Möglichkeit des Papstes, in bestimmten Situationen auch ohne Konzil den Glauben der Kirche verbindlich und unfehlbar zu definieren, kaum je bestritten, so richtete sich in jedem Fall ihr Widerstand gegen eine isolierte Herauslösung des Papsttums und seiner Unfehlbarkeit aus dem ekklesialen Gesamtkontext, bzw. gegen eine „persönliche, absolute und getrennte Unfehlbarkeit", kraft derer der Papst unabhängig von Tradition, Glaubenskonsens der Kirche und Zeugnis der Bischöfe definieren könne. Führende Persönlichkeiten der Minderheit waren aus Deutschland W.E. von —»Ketteier (Mainz), C . J . Hefele (Rottenburg), aus Österreich-Ungarn die Kardinäle Josef Othmar Rauscher (1797—1875; Wien) und F. von Schwarzenberg (Prag), ferner Bischof Josip Juraj Stroßmayer (1815-1905; Djakovo), aus Frankreich Erzbischof Georges Darboy (1813-1871; Paris), Bischof Dupanloup (Orleans), aus den USA die Erzbischöfe Peter Richard Kenrick (1806-1893; St. Louis), John Purcell (1800-1883; Cincinnati) und Bischof Augustin Verot (1804—1876; Savannah, dann St. Augustine). Diese Bischöfe hatten praktisch alle bis in die 60er Jahre und zum Teil auch jetzt noch (Ketteier; Rauscher) zu der ausgesprochen römisch-ultramontanen Richtung gezählt, wandten sich jetzt jedoch gegen ihre Radikalisierung und vor allem die Abwertung der bischöflichen Gewalt. Das Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit war von Anfang an gespannt; zur Unzufriedenheit der Minorität trug die von oben aufoktroyierte Geschäftsordnung, die mangelnde Strukturierung des Konzils, die Geheimhaltung der vorbereiteten Schemata (außer den jeweils zur Beratung vorgelegten) und die schlechte Akustik der Konzilsaula bei; Verbesserungsvorschläge der Minorität, die auf größere Transparenz der Verhandlungen abzielten (z. B. Gliederung des Konzils nach Sprachgruppen, Mitteilung aller vorbereiteten Schemata, Druck der Konzilsreden), fanden bei der Konzilsleitung kein Gehör, welche vor allem Indiskretionen und Verletzung des Konzilsgeheimnisses befürchtete. 4.

Verlauf

Zur Diskussion gelangten von den 65 ausgearbeiteten Texten, die sich praktisch auf alle Bereiche kirchlichen Lebens erstreckten, nur fünf, davon drei zur Abstimmung (darunter ein Dekret über einen geplanten und vom Papst auszuarbeitenden Einheitskatechismus für die ganze katholische Kirche), aber nur zwei (die beiden Dogmatischen Konstitutionen) zur feierlichen Verabschiedung. Das zuerst vorgelegte Schema De doctrina catholica, von dem Wiener Theologen Johann B. Schweiz (1803-1890) und dem Jesuiten Johann B. Franzelin (1816-1886) ausgearbeitet und in erster Linie gegen G. Hermes und A. Günther gerichtet, vom 28. Dezember 1869 bis zum 10. Januar 1870 diskutiert, fand wegen seiner Weitschweifigkeit und Ferne gegenüber den modernen Glaubensproblemen massive Kritik in der Konzilsaula, am schärfsten bei den Bischöfen der Minorität, aber nicht nur bei ihnen. Es wurde dann von Dechamps, Pie und Martin vor allem mit Hilfe des Jesuitentheologen Josef Kleutgen (1811-1883) ein neuer kürzerer Text erstellt, der nur den „fundamentaltheologischen" Teil enthielt (Schöpfung, Offenbarung, Glaube, Verhältnis von Glaube und Vernunft). Er wurde vom 22. März bis 1. April diskutiert und am 24. April als Dogmatische Konstitution Dei Filius einstimmig verabschiedet. Der Kampf um die Unfehlbarkeit setzte gleich zu Beginn des Konzils ein: die Wahlen zur wichtigen Dogmatischen Deputation, der eine Schlüsselstellung für die Vorlage und Umarbeitung der Texte zukam, erbrachten am 14. Dezember 1869 einen vollständigen Sieg der Infallibilisten, so daß unter ihren 24 Mitgliedern nur ein Minoritätsbischof war. Unterschriftensammlungen für die Vorlage der Frage im Konzil kamen bis Ende Januar 1870 auf ca. 440 Namen (über 6 0 % der Konzilsväter), während die Gegen-

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adressen der Minorität nur 136 erreichten. Eine nicht unwesentliche Rückwirkung auf die Konzilsväter hatte hier die öffentliche Kontroverse und die Spaltung der Katholiken, vor allem in Deutschland und Frankreich. Denn das strikte „Konzilsgeheimnis", das für alle innerkonziliaren Texte und Vorgänge galt und gerade das Hineinziehen des Konzils in die Öffentlichkeit vermeiden wollte, bewirkte das Gegenteil. Es konnte nicht verhindern, daß durch undichte Stellen Informationen an die Öffentlichkeit kamen, verunmöglichte jedoch eine Richtigstellung durch umfassende Darlegung der Zusammenhänge. Faktisch formte so Döllinger, gestützt auf römische Informanten, in den Kömischen Briefen vom Konzil unter dem Pseudonym „Quirinus" in der Augsburger Allgemeinen Zeitung das Konzilsbild der deutschen kritischen Öffentlichkeit. Der öffentliche Kampf, den er in Deutschland und der Oratorianer Alphonse Gratry (1805—1872) in Frankreich gegen die päpstliche Unfehlbarkeit führten, bestärkte jedoch viele zunächst unentschiedene Bischöfe in der Überzeugung, nun sei ein Schweigen des Konzils über diese Frage nicht mehr möglich. Das am 21. Januar vorgelegte Kirchenschema, vor allem von dem Jesuitentheologen Clemens Schräder (1820-1875) entworfen, enthielt zwar ein Kapitel über den Primat, nicht jedoch über die päpstliche Unfehlbarkeit. Pius IX. ließ ihm jedoch ein Zusatzkapitel über die päpstliche Unfehlbarkeit einfügen, was den Konzilsvätern am 6. März bekanntgegeben wurde. Weitere Demarchen der Gruppe um Manning und Senestrey erreichten dann, daß die Kapitel über den päpstlichen Primat aus dem Kirchenschema herausgelöst und vorrangig behandelt wurden. Diese wurden von Schräder und Willibald Apollinaris Maier (1823-1874; Theologe von Senestrey) verfaßt und Anfang Mai als Konstitution Pastor aeternus in vier Kapiteln (Einsetzung des Primats durch -»-Jesus Christus in -»Petrus, Fortdauer in den römischen Bischöfen, Jurisdiktionsprimat, Lehrinfallibilität) vorgelegt. Die konziliare Diskussion vom 13. Mai bis 4. Juli war inhaltlich umfassend, ließ auch die Minorität ausgiebig zu Wort kommen (40% der Reden), erbrachte jedoch so gut wie keine Annäherung der Standpunkte. Die Minorität forderte vor allem eine deutlichere und feststellbare Rückbindung der päpstlichen Unfehlbarkeit an den Konsens der Gesamtkirche, während die Majorität darin die Gefahr erblickte, sich der Verbindlichkeit päpstlicher Lehrentscheidungen im Ernstfall zu entziehen. Die Minorität wurde aber in ihren Forderungen wieder durch extreme Tendenzen der Gegenseite, die die Kirche praktisch auf den Papst reduzierten, bestärkt. Kompromißversuche zwischen beiden Parteien, immer wieder unternommen (zuletzt noch am 18. Juni in der Konzilsaula durch Kardinal Filippo Maria Guidi von Bologna), scheiterten, weil einerseits die Führer der Majorität und vor allem Pius IX. (Ausspruch gegenüber Kardinal Guidi: „Die Tradition bin ich") sie nicht wollten, andererseits die Minorität (in einer trügerischen Strategie) ihre einzige Chance im blockartigen Zusammenstehen bis zum Schluß sah, da man vor einfacher Majorisierung einer Minderheit von 80 bis 100 Konzilsvätern zurückschrecken und dann (aber erst dann) einen Kompromiß mit ihr suchen werde. Eine andere Auseinandersetzung, von der Öffentlichkeit und auch der Masse der Konzilsväter unbemerkt, spielte sich innerhalb der Dogmatischen Deputation ab. Hier ging es nicht um das Subjekt (wie zwischen Majorität und Minorität im Konzil), sondern um den genaueren Gegenstand der Unfehlbarkeit, bzw. um die Frage ihrer Ausdehnung über den eigentlichen Glaubensbereich hinaus auf Dinge, die damit notwendig „zusammenhängen" (facta dogmatica, Qualifizierung von Irrtümern unterhalb der „Häresie", Heiligsprechungen, Approbation von Orden), wobei es bei letzterem wesentlich auch um den Syllabus und die päpstlichen Verurteilungen des Liberalismus ging. Zunächst setzte sich innerhalb der Deputation Martin v. Paderborn durch, der die Unfehlbarkeit strikt auf den Glaubensbereich eingrenzen wollte. Dann jedoch erreichten Senestrey, Manning und die Jesuiten der Civiltä Cattolica, daß der Papst am 13. Mai in die Beratungen der Deputation eingriff und nun eine Formel gewählt wurde (tenendam statt fide divina credendam), die eine weiter gefaßte Unfehlbarkeit offenließ. Diese sollte innerhalb des Kapitels über die Unfehlbarkeit der Kirche in der noch zu behandelnden

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weiteren Kirchenkonstitution genauer bestimmt werden, was freilich nie geschah, so daß diese Frage letztlich unbestimmt blieb. Einzelmodifikationen in der Neufassung vom 9. Juli (DH 3061.3069f.) genügten der Minorität nicht. Gleiches gilt für die wichtige Relatio, die Gasser (Brixen) am 11. Juli im Namen der Glaubensdeputation hielt. Die Relatio grenzte sich von allen extremen Interpretationen ab, betonte die Rückbindung des Papstes an die Kirche wie auch die Grenzen seiner Unfehlbarkeit, stellte jedoch ebenso deutlich heraus, daß man die Rückbindung des Papstes an die Kirche nicht als juridische Bedingung formulieren könne und der Papst im konkreten Modus, wie er den Glauben der Kirche ermittle, frei sein müsse. Dies wurde jedoch von der Minorität als ungenügend erachtet. Sie wollte nun „Stärke" demonstrieren, um die Majorität im letzten Moment kompromißbereit zu machen. Bei der vorläufigen Schlußabstimmung vom 13. Juli gab es 451 Placet, 88 Non placet, 62 Placet iuxta modutrt (davon 32 im Sinne der Minorität, 24 für schärfere Fassung). Dies bewirkte bei Konzilsleitung und Papst Verhärtung statt Nachgiebigkeit: so wurde nun an die bereits im Text stehende Formulierung ex sese (für die Irreformabilität päpstlicher Glaubensdefinitionen) das (gegen den 4. gallikanischen Artikel gerichtete) non autem ex consensu ecclesiae angefügt und am 16. Juli im Konzil angenommen. Die Minorität reiste nun unter Protest ab; die Konstitution wurde ohne sie in der feierlichen Sitzung vom 18. Juli (mit nur zwei Gegenstimmen von 535) verabschiedet. Das Konzil wurde zunächst nur beurlaubt (bis zum 11. November), jedoch nach der Einnahme Roms durch die Italiener und dem Ende des Kirchenstaates (20. September) von Pius IX. am 20. Oktober fristlos vertagt. Die Minoritätsbischöfe waren meist nicht von vornherein entschlossen, die Konzilsdefinitionen anzunehmen, zumal sie als Bedingung gültiger konziliarer Glaubensentscheidungen die moralische Einstimmigkeit (den Consensus moraliter unanimis) ansahen und zudem das Konzil zunächst noch nicht beendet war. Sie nahmen dann jedoch, meist isoliert innerhalb eines infallibilistischen Klerus (so in Frankreich) oder inmitten der Polarisierung von Gegnern und Anhängern der Definition in Entscheidungszwang versetzt (so in Deutschland), fast alle bis zum Frühjahr 1871 das Dogma nachträglich an (später die Ungarn, als letzter erst 1881 Stroßmayer). Die sich in Deutschland und der Schweiz organisierende Widerstandsbewegung gegen die Papstdogmen führte, nachdem die Bischöfe gegen sie mit Kirchenstrafen einschritten (17. April 1871 Exkommunikation Döllingers durch den Münchner Erzbischof), bis 1873 zur Bildung der altkatholischen bzw. (in der Schweiz) christkatholischen Kirche (->Altkatholizismus). 5. Zur Diskussion

um Freiheit und

Ökumenizität

Von der tatsächlichen Repräsentativität der römisch-katholischen Kirche her scheint die ökumenizität des Ersten Vatikanums weniger anfechtbar als die aller früheren Konzilien, zumal die des rein „romanischen" Konzils von Trient. In der Tat war es, ermöglicht durch die modernen Verkehrsmittel Dampfschiff und Eisenbahn, das erste „weltweite" Konzil, bzw. das erste Konzil, auf dem die Mehrheit des mit Rom vereinigten Episkopats nicht nur eingeladen, sondern auch tatsächlich anwesend war. Die eigentlichen Probleme seiner Ökumenizität stellen sich jedoch im Zusammenhang mit seiner Freiheit und moralischen Einstimmigkeit Die Freiheit des Konzils wurde schon in seinem Verlauf von den Unfehlbarkeitsgegnern innerhalb und außerhalb und nachher von den Gegnern seiner Beschlüsse heftig bestritten (zuletzt 1977 von A.B. Hasler). Tatsächlich unterlag die Minorität gravierenden Einschränkungen (Nicht-Möglichkeit des Drucks ihrer Schriften im Kirchenstaat, Pressionen des Papstes vor allem auf italienische Bischöfe, Papstreden mit öffentlicher Bloßstellung der Bischöfe der Minorität). Von Chancen-Gleichheit kann keine Rede sein. Andererseits kann nicht bezweifelt werden, daß die Minorität im Endeffekt ihren Standpunkt genügend in Diskussion und Schriften zur Kenntnis des Konzils bringen konnte, so daß es, zumal im historischen Vergleich mit anderen Konzilien, schwer fällt,

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das Verdikt der fehlenden Legitimität wegen „Unfreiheit" aufrechtzuerhalten. Ernster zu nehmen und mehr in der Tradition der Konzilien begründet ist der Vorwurf der Verletzung des Prinzips der „moralischen Einstimmigkeit" bei dogmatischen Konzilsbeschlüssen. Dieses Prinzip wurde als unabdingbare Voraussetzung der Gültigkeit konziliarer Glaubensdefinitionen immer wieder im Konzil von der Minorität proklamiert, besonders deutlich in der von Ketteier verfaßten Eingabe vom 2. März 1870 gegen die neuen Geschäftsordnungsregeln (Mansi 51,29). Daß dieses Prinzip immer in der konziliaren Tradition als Ideal und qualifiziertes Zeichen für das Wirken des Heiligen Geistes galt, kann nicht geleugnet werden. Die Behauptung seiner faktisch ausnahmslosen Befolgung bei den alten Konzilien (so von Hefele behauptet) beruht jedoch auf einer idealisierten Sicht; und seine Aufstellung als conditio sine qua non für Glaubensentscheidungen findet sich nicht einmal im klassischen Konziliarismus und Gallikanismus, ist vielmehr erst bei den späteren Jansenisten (—• Jansen/Jansenismus) des 18. Jh. nachweisbar. Letztlich ist jedoch die Frage der „Freiheit" und damit Gültigkeit des Vatikanums I nicht ohne ekklesiologische Vorentscheidungen beantwortbar. Sieht man in der päpstlichen Konzilsleitung schon eine Einengung der konziliaren Freiheit, wird man das Vatikanum I nicht als „freies" Konzil anerkennen können. Insofern setzt es in Struktur und Entscheidungsprozeß den päpstlichen Primat voraus, den es (nachdem er als solcher schon innerkatholisch allgemein, auch bei der Minorität, anerkannt war) genauer definiert. 6.

Lehraussagen

6.1. Die Konstitution

Dei Filius

Sie spricht in ihren vier Kapiteln über Schöpfung (gegen A. Günther: Gott muß nicht aus seinem Wesen als guter Gott die Welt schaffen), —»Offenbarung (auch natürliche Gotteserkenntnis als des Schöpfers), -»Glauben (Freiheit, Gnadenhaftigkeit, Autoritätscharakter) und Verhältnis von Glauben und -»Vernunft. Ihre Aussagen wenden sich gegen -»Rationalismus, -»Pantheismus, aber auch gegen fideistische Abwertung der Vernunft. Positiv werden die Transzendenz des Schöpfergottes, seine radikale Freiheit gegenüber der Welt, das Extra nos von Offenbarung und Glaubensgegenstand, die Unbedingtheit und eigene, nicht in Vernunfteinsicht auflösbare Gewißheit des Glaubens festgehalten. Z u m Verhältnis von Glaube und Vernunft wird betont, daß der Glaube nicht notwendiges Ergebnis einer Vernunftevidenz sei, sondern einerseits ein freier menschlicher Akt, andererseits Gnadengeschenk, wobei man hier nicht (wie bei Hermes) Glaube als Für-wahr-Halten (als rein rational durch die „praktische Vernunft" begründbar) und als vertrauende Hingabe an Gott („Herzensglaube") scheiden kann (DH 3035). Andererseits wird der Vernunft eine positive Funktion innerhalb des Gesamtgeschehens des Glaubens zugewiesen. Die recta ratio kann die fundamenta fidei erkennen (DH 3019), d . h . die Existenz des Schöpfergottes (DH 3026) sowie Wunder als äußere Zeichen der göttlichen Offenbarung (DH 3009.3033f.). Selbst innerhalb des Glaubensbereichs ist der „durch den Glauben erleuchteten Vernunft" (ratio fide illuminata) die Erkenntnis der inneren Sinnhaftigkeit und des Zusammenhanges der Glaubensmysterien zugänglich (DH 3016). Andererseits ist der Glaube etwas anderes als Vernunftevidenz: er ist Unterwerfung der menschlichen Erkenntnis unter eine absolute Autorität; sein Motiv ist die „Autorität des offenbarenden Gottes" (DH 3031 f.); ihm ist eine eigene Gewißheit eigen, die nicht in den Glaubwürdigkeitsgründen aufgeht, weshalb es nicht erlaubt ist, den Glauben in Frage zu stellen, bis alle Zweifel gelöst sind (DH 3036). Nach dem Vatikanum II (s. u. II) wird in der katholischen Theologie hervorgehoben, daß die Konstitution, wenngleich primär gegen die „autonome Vernunft" der Aufklärung gerichtet, nicht in einer anti-aufklärerischen Stoßrichtung aufgeht, vielmehr dem Rückzug in einen irrationalen Glauben, der sich der Verantwortung vor der Vernunft entzieht, wehrt (Pottmeyer). Ihre zeitgeschichtlichen Grenzen werden in dem typisch neuschola-

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stischen Extrinsezismus, der damit zusammenhängenden Fixierung auf Autoritätsdenken (Gott als übermächtige, dem Menschen letztlich äußerlich gegenüberstehende Autorität), dem Fehlen von Hermeneutik, vor allem jedoch in dem Ausfall geschichtlichen Denkens gesehen: die in Dei Filius integrierte Ratio ist a-historisch, was sich besonders in der Behandlung der Frage von Konflikten zwischen Glauben und Ratio (DH 3018f.3042f.) zeigt, bei denen nur die (fehlbare) menschliche Vernunft und der (unfehlbare) Glaube gegenübergestellt und das Problem der zeitbedingten Vorstellung von Glaubenswahrheiten nicht gesehen wird. 6.2. Die Konstitution

Pastor

aeternus

Sie dogmatisiert den Primat des römischen Bischofs als von Christus in Petrus gestiftet und bestimmt ihn näher als letzte und inappellable Entscheidungskompetenz in Fragen der Kirchenordnung (Jurisdiktionsprimat) und des Glaubens (Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramts). Ihm kommt die „volle und oberste Jurisdiktionsgewalt über die ganze Kirche" zu; er besitzt „nicht nur den Vorrang (potiores partes), sondern auch die ganze Fülle dieser obersten Gewalt" (DH 3064). Sein Lehramt ist unfehlbar bei definitiven Entscheidungen in Glaubens- und Sittenfragen: „wenn er [der römische Bischof] ex cathedra spricht, d. h. wenn er als Hirt und Lehrer aller Christen mit seiner höchsten apostolischen Autorität eine Glaubens- oder Sittenlehre als von der ganzen Kirche zu halten definiert, genießt er kraft des göttlichen Beistandes, der ihm im hl. Petrus verheißen ist, die Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche in der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausrüsten wollte; deshalb sind solche Definitionen des römischen Bischofs aus sich, nicht aber aus der Zustimmung der Kirche, unabänderlich" (DH 3074). Diese Letztvollmacht ist freilich nicht autonom: sie setzt den ebenfalls auf Stiftung Christi und eigenständiger Vollmacht beruhenden Episkopat voraus (DH 3061), ist in Lehrfragen nicht von innovativem, sondern bewahrendem Charakter (DH 3070: „Den Nachfolgern Petri ist der Hl. Geist nicht verheißen, damit sie unter seiner Offenbarung eine neue Lehre bekanntmachen, sondern damit sie unter seinem Beistand die durch die Apostel überlieferte Offenbarung oder die Glaubenshinterlage treu bewahren und darlegen"), ja geschieht normalerweise in „kollegialer" Einbettung (DH 3069). Das „aus sich (ex sese)" bezieht sich weder auf den Papst als Subjekt noch auf „unfehlbar" als Prädikat, ist daher keine Aussage über den Seinsgrund seiner Unfehlbarkeit, sondern bezieht sich auf die Verbindlichkeit der Definitionen und den Erkenntnisgrund dieser Verbindlichkeit (sie sind endgültig durch sich, nicht durch einen noch hinzukommenden bestätigenden Konsens); entsprechend weist das non ex consensu Ecclesiae nicht die Notwendigkeit des Papstes zurück, sich auf die bereits vorliegende (wenn auch vielleicht momentan angefochtene) Glaubensüberzeugung der Kirche zu stützen, wohl aber die Notwendigkeit einer nachträglichen Ratifikation, die der Definition des Papstes erst letzte Verbindlichkeit verleihen würde. Andererseits ist der Papst, wenngleich an den Glaubenssinn der Kirche gebunden, bei der Feststellung dieses Glaubens keiner andern Instanz juridisch verantwortlich, an ihre Approbation gebunden oder durch sie kontrollierbar. Im übrigen setzt die Definition der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes die grundlegendere Unfehlbarkeit der Kirche voraus, die in bestimmten (seltenen) Fällen durch den Papst aktuiert wird. Diese Unfehlbarkeit der Kirche hat das Konzil in Wesen und Umfang nicht näher bestimmt, wenngleich dies ursprünglich im Rahmen der Gesamtkonstitution über die Kirche vorgesehen war. 7. Historischer

Ort

Historisch ist das Vatikanum I vor allem Reaktion der katholischen Kirche auf Aufklärung und Französische Revolution unter dem Signum der „Autorität" und dem leitenden Interesse der „Sicherheit". Es geht in seinen Entscheidungen vor allem darum, in einer Welt und Gesellschaft, die sich von kirchlich-religiösen Bindungen löst und in ständigem Wandel begriffen ist, Glaube und kirchliche Einheit sicher und „unangreifbar"

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zu machen. Geistig besinnt sich die Kirche auf die eigene Gewißheit des Glaubens, nachdem dieser nicht mehr in einen selbstverständlichen Kosmos des Wissens von Gott und Welt eingebettet, sondern durch die autonome Vernunft und eine säkularisierte Weltanschauung in Frage gestellt ist. Ekklesiologisch besinnt sich die katholische Kirche auf ihr eigenes institutionelles Einheitszentrum, nachdem nicht mehr die bergende Selbstverständlichkeit der christlichen Gesellschaft existiert. Dies bedeutet zugleich, dai? sie sich gegenüber der profanen Gesellschaft, die sich in einem Demokratisierungsprozeß befindet, auf sich selbst zurückzieht. So sind die Papstdogmen des Jurisdiktionsprimats und der Lehrinfallibilität Ausdruck einer Kirche, die sich vor allem innerlich vom Staat emanzipiert, indem sie in sich einen eindeutigen und unangreifbaren Einheitspunkt hat. Insofern sind sie, wenngleich auf einer 1.800-jährigen Entwicklungsgeschichte des Primats fußend, eigentlich nur nach-revolutionär möglich, so wie auch Dei Filius als Auseinandersetzung mit der autonomen Vernunft nur nach-aufklärerisch möglich ist. Gleichzeitig verliehen diese Festlegungen ebenso wie die ganzen sie tragenden Paradigmen des Ultramontanismus dem Katholizismus innere Festigkeit und (relative) Stabilität in der Zeit, die heute Soziologen (Karl Gabriel, Christentum zw. Tradition u. Postmoderne, Freiburg i.Br. 1992; Franz-Xaver Kaufmann, Religion u. Modernität, Tübingen 1989) als „eingeschränkte" oder „segmentierte M o d e r n e " bezeichnen und die bis über die Mitte des 20. Jh. dauert: nachdem nicht mehr die Societas Christiana existiert, gelingt es dem Katholizismus, unter Benutzung moderner Mittel eine Sondergesellschaft mit relativ starker innerer Kohäsion und eigenem Wert- und Normensystem aufzubauen. Quellen Text der Lehraussagen des Vatikanum I: DH 3 0 0 0 - 3075. - Konzilsakten: Mansi 4 9 - 5 3 . Wichtige Dokumente um das Konzilsgeschehen: ADSCR 7. - Tagebücher u. Brief Sammlungen: Ignaz v. Döllinger/John Emmerich Lord Acton, Briefwechsel, hg. v. Victor Conzemius, 3 Bde., München 1963-1971. - André Duval/Yves Congar, Le Journal de Mgr. Darboy au Concile du Vatican (1869-70): RSPhTh 54 (1970) 4 1 7 - 4 5 3 . - Giovanni Giuseppe Franco, Appunti storici sopra il Concilio Vaticano, hg. v. Giacomo Martina, 1972 (MHP 33). - Ignaz v. Senestrey, Wie es zur Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit kam, hg. v. Klaus Schatz, 1977 (FTS 24). - Wilhelm Emmanuel Freiherr v. Ketteier, SW u. Briefe 1/3, hg. v. Erwin Iserloh, Mainz 1982. - Lajos Pâsztor, Il Concilio Vaticano I. Diario di Vincenzo Tizzani, 1991 (PuP 25). Literatur 1. Historisch: Gabriel Adriânyi, Ungarn u. das 1. Vatikanum, 1975 (BoBKG 5). - Roger Aubert, Vatican I, 1964 (HCO 12); dt.: Vaticanum I, Mainz 1965. - Cuthbert Butler/Hugo Lang, Das I. Vatikanische Konzil, München 1933 M961. - Victor Conzemius, Das 1. Vatikanum im Bannkreis der päpstlichen Autorität: Die päpstliche Autorität im katholischen Selbstverständnis des 19. und 20. Jh., hg. v. Erich Weinzierl, Salzburg/München 1970, 5 3 - 8 3 . - Frederick John Cwiekowski, The English Bishops and the First Vatican Council, 1971 (BRHE 52). - Johannes Friedrich, Gesch. des Vatikanischen Konzils, 3 Bde., Bonn 1877-1887. - Theodor Granderath, Gesch. des Vatikanischen Konzils, 3 Bde., Freiburg 1903-1906. - August Bernhard Hasler, Pius IX. (1846-1878), Päpstliche Unfehlbarkeit u. 1. Vatikanisches Konzil, 1977 (PuP 12). - James Hennesey, The First Council of the Vatican. The American Expérience, New York 1963. - Michele Maccarrone, II Concilio Vaticano I e il „giornale" di Möns. Arrigoni, 2 Bde., Padua 1966. - Giacomo Martina, Pio IX (1867-1878), 1990 (MHP 56). - Jean Remy Palanque, Catholiques libéraux et gallicans en France face au Concile du Vatican, Aix-en-Provence 1962. - Constantin Patelos, Vatican I et les évêques uniates, 1981 (BRHE 65). - Klaus Schatz, Kirchenbild u. päpstliche Unfehlbarkeit bei den deutschsprachigen Minoritätsbischöfen auf dem 1. Vatikanum, 1975 (MHP 40). - Ders., Vaticanum I (1869-1870), 3 Bde., Paderborn 1972-1974. 2. Systematisch: Siehe auch die Lit. zu -»Papsttum; -»Primat. Zu Dei Filius: Roger Aubert, La Constitution Dei Filius du Concile du Vatican: De doctrina Concilii Vaticani I, Vatikan 1969, 4 6 - 1 2 1 . - Georges Paradis, Foi et raison au premier Concile du Vatican: ebd. 221-281. - Hermann Josef Pottmeyer, Der Glaube vor dem Anspruch der Wiss., 1987 (FThSt 87). - Zu Pastor aeternus: Umberto Betti, La costituzione dogmatica Pastor aeternus del Concilio Vaticano I, Rom 1961. - Heinrich Fries, „Ex sese, non autem ex consensu Ecclesiae": Volk Gottes. FS Josef Höfer, hg. v. Remigius Bäumer/Heimo Dolch, Freiburg i. Br. 1967,480-500.

Vatikanum II

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- Gustave Thils, L'infaillibilité pontificale. Source - conditions - limites, Gembloux 1969. - Ders., La primauté pontificale. La doctrine de Vatican I. Les voies d'une révision, Gembloux 1972.

Klaus Schatz II. Vatikanum II

(1962-1965)

1. Einberufung, Vorbereitung, Erwartungen 2. Struktur und Richtungen Dekrete 4. Bedeutung und Rezeptionsprobleme (Quellen/Literatur S. 552)

1. Einberufung, Vorbereitung,

3. Verlauf und

Erwartungen

Als Papst -»Johannes XXIII. am 25. Januar 1959 in seiner Ansprache vor den Kardinälen in St. Paul vor den Mauern ein ökumenisches Konzil ankündigte (neben einer römischen Diözesansynode und der Neubearbeitung des Kirchenrechts), löste dies Überraschung aus; denn es artikulierte noch keineswegs einen in weiten kirchlichen Kreisen verbreiteten Wunsch. Die verstreuten Erwartungen, Gravamina und Reformwünsche hatten sich noch nicht in einem gewaltigen Strom der Reformhoffnung durch ein Konzil gesammelt und verdichtet. Dies geschah im wesentlichen erst in den folgenden drei bis vier Jahren, zum Teil überhaupt erst unter dem Eindruck des Konzilsgeschehens selbst. Programm und Ziel waren inhaltlich noch wenig bestimmt. Die generelle Linie ließ Johannes XXIII. in einer Vielzahl von Ansprachen durchklingen: nicht ein Konzil der lehrmäßigen Abgrenzung und der Verurteilung von Irrtümern, sondern des aggiornamento, der Erneuerung und Unterscheidung von Zeitbedingtem und Bleibend-Gültigen, das die Kirche in eine neue Epoche ihrer Geschichte hineinführe. Auch stand der Konzilsplan von Anfang an im Kontext einer entschiedeneren und zupackenderen Einschaltung Roms in die ökumenische Bewegung (-»Ökumene), an Stelle der bloß abwartendpassiven Haltung unter -»Pius XII. Das Ziel des Konzils selbst wurde am 29. Juni 1959 in der Enzyklika Ad Petri Cathedram folgendermaßen definiert: innere Erneuerung der Kirche und Anpassung (aggiornamento) ihrer äußeren Ordnung an die Bedingungen unserer Zeit, wobei der ökumenische Aspekt („Einladung" für die getrennten Christen, die von Christus gewollte Einheit zu suchen) impliziert ist. Ende 1959 wurde klar, daß zum Konzil Beobachter der getrennten Kirchen eingeladen würden. Im Juni 1960 wurde nach einer Anregung des ökumenisch sehr engagierten Paderborner Erzbischofs Lorenz Jäger (1892-1975) das Sekretariat für die Einheit der Christen unter Kardinal Augustin ->Bea geschaffen, durch welches das ökumenische Anliegen einen institutionellen Platz innerhalb der römischen Kurie erhielt. In der Vorbereitung bemühte man sich einerseits um möglichst umfassende Bestandsaufnahme aller Wünsche und Desiderate. Andererseits suchte römisch-kuriale Kontrolle diese Tendenzen voll im Griff zu behalten, um keinen Überraschungen ausgesetzt zu sein. Insgesamt kamen von Bischöfen, Ordensoberen und Theologischen Fakultäten, die alle befragt wurden, bis Mitte 1960 2.150 Postulate zusammen. Ihre Tendenz war sehr unterschiedlich. Eine Gruppe, vor allem von westeuropäischen Bischöfen, tendierte, wenngleich meist noch sehr vorsichtig, in die Richtung einschneidenderer theologischer und praktischer Reformen, wie diese dann durch das Konzil beschritten wurde (Aufwertung des Bischofsamtes und der Ortskirche sowie der kirchlichen Würde der Laien, Reform der Liturgie mit stärkerer Berücksichtigung der Volkssprache u.a.). Stärker war jedoch die Gruppe, vor allem aus romanischen Ländern, die vom Konzil die „Krönung von vier Jahrhunderten Intransigenz" (Etienne Fouilloux: Storia del Concilio Vaticano II, Bd. I, 124-131) erhoffte: d.h. negativ lehrmäßige Verurteilungen auf der Linie des —»Syllabus, des Anti-Modernismus (—»Modernismus) und der Enzyklika Humant generis Pius' XII. (1950), positiv neue marianische Dogmen (-»Maria/Marienfrömmigkeit), vor allem der Gnadenmittlerschaft. Es waren noch andere Mehrheitsverhältnisse und dominierende Überzeugungen als die, welche drei Jahre später zu Beginn des Konzils, als Frucht eines bereits angelaufenen Meinungsbildungsprozesses, zu Tage treten sollten.

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Nach der Sammlung dieser Vota begann durch das Motuproprio Superno Dei nutu vom 5. Juni 1960 die eigentliche Konzilsvorbereitung. Es wurden zehn vorbereitende Kommissionen gebildet, denen noch das gleichzeitig geschaffene Einheitssekretariat unter Bea zugeordnet wurde. Hinzu kam die Zentralkommission, die aus römischen und auswärtigen Kardinälen und den Vorsitzenden der Bischofskonferenzen bestand. War in den Kommissionen durch auswärtige Bischöfe und Experten auch die Weltkirche und ihre Pluralität ungleich stärker vertreten als beim Vatikanum I (s.o. 1.3.), so waren sie insofern auch jetzt noch fest unter kurialer Leitung, als ihre Vorsitzenden mit denen der entsprechenden römischen Kongregationen identisch waren. In den inhaltlichen Vorstellungen bildeten Alfredo Kardinal Ottaviani ( 1 8 9 0 - 1 9 7 9 ) , Sekretär des Heiligen Offiziums, und die von ihm geleitete Theologische Kommission einerseits, Kardinal Bea und das Einheitssekretariat andererseits, die beiden entgegengesetzten Pole, vor allem in Fragen wie Bibelkritik, Verhältnis von -»Schrift und -»Tradition, Rolle der Gottesmutter, Kirchengliedschaft nicht-katholischer Christen und -»Religionsfreiheit; suchte die erstere Richtung voll die bisherige Linie fortzuführen, so stand letztere für die Anliegen einer stärker biblisch-patristischen Theologie. Die Gegensätze stießen vor allem in der Zentralkommission zusammen. Insgesamt arbeiteten die vorbereitenden Kommissionen bis zu Beginn des Konzils 69 Dekretentwürfe aus, von denen nur zwölf, und diese auch nur nach tiefgreifender Umgestaltung, in Konzilstexte eingehen sollten. In der kirchlichen Öffentlichkeit wirkte das bevorstehende Konzil in den Jahren 1 9 5 9 1962 als Katalysator sehr unterschiedlicher Erwartungen und Hoffnungen. Es führte zur Bewußtwerdung ungelöster Probleme, geschichtlicher Hypotheken und lange verdrängter Reformanliegen. Ein nicht unwesentlicher Hintergrund war auch die zeitgeschichtliche Atmosphäre („Ende der Nachkriegszeit", beginnende Auflösung der „katholischen Milieus", gleichzeitig Reform-Euphorie und Glaube an Problemlösungen). Die Liste der konkreten Erwartungen war dabei meist noch relativ bescheiden. Sie umfaßte einmal die Weiterführung der Anliegen der -»Liturgischen Bewegungen (bessere Auswahl der Lesungen, Möglichkeit zur Konzelebration, zur Kelchkommunion, zum Beten des Breviers in der Muttersprache) und stärkere Berücksichtigung der Muttersprache in der -»Liturgie (freilich meist nur in den Lesungen und den zusammen mit dem Volk gesprochenen Gebeten). Andere Erwartungen zielten ab auf die Ausdifferenzierung des kirchlichen Amtes durch Erneuerung des Diakonats (durch Weihe von Verheirateten) und auf innerkirchliche Dezentralisierung durch Stärkung der Kompetenz der Bischofskonferenzen. Speziell in Mitteleuropa nahm die Reform der Mischehengesetzgebung (-»Mischehe) in vielen Erwartungen der „Basis" einen wichtigen Platz ein. Lehrmäßige Erwartungen bezogen sich vorzugsweise einmal auf Aufwertung des Bischofsamtes, dann der kirchlichen Würde der Laien. Allerdings gewannen bei Insidern auch zunehmend pessimistische Erwartungen an Boden, die sich 1962 steigerten und bis zu Konzilsbeginn andauerten. Dies galt besonders, als der Papst Weihnachten 1961 den Herbst des kommenden Jahres als Eröffnungstermin des Konzils bestimmte, was die Furcht nährte, das Konzil komme zu früh und werde deshalb scheitern. Konkrete Vorgänge verstärkten noch diese Befürchtungen. Dies war einmal die zugleich mit dem Konzil angekündigte römische Diözesansynode, welche im Januar 1960 stattfand und mit ihren kleinlichen Verordnungen für den Klerus auf der typischen Linie der Klerusreform der zweiten Hälfte des 19. Jh. den Argwohn weckte, dies sei der Geist, in dem man auch das ökumenische Konzil konzipiere. Hinzu kam 1961 die Kampagne konservativer Kreise, vor allem der Lateran-Universität, jedoch mit der Unterstützung maßgeblicher kurialer Stellen, gegen das Päpstliche Bibelinstitut und seine Verwendung der historisch-kritischen Methode (die „nordischen Nebel", die in das schöne sonnige Rom eindrängen); sie führte zur Absetzung zweier Professoren, M a x Zerwick ( 1 9 0 1 - 1 9 7 5 ) und Stanislas Lyonnet ( 1 9 0 2 - 1 9 8 6 ) , die erst unter Paul VI. rehabilitiert wurden. Schließlich folgte das päpstliche Motuproprio Veterum sapientia von Februar 1962, welches (offiziell nie zurückgenommen) die lateinische Sprache für den

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ganzen theologischen Unterricht vorschrieb. Johannes XXIII. selbst, durchaus viel weniger „progressiv" als sein nachträglicher Ruf und auch als sein Nachfolger, fand erst durch das Konzil und die Ereignisse seiner ersten Wochen zu einer klaren und konsistenten Linie. Läßt sich in seinen programmatischen Äußerungen auch schon sehr früh eine Konzilsvision entdecken, die mit der defensiven Enge der Konzilsvorbereitungen kontrastiert, so ist doch davon auszugehen, daß er die Implikationen und Konsequenzen dieser Vision erst im Laufe der Zeit und unter dem Einfluß anderer erfaßte. Jedenfalls hatten diese hyperkonservativen Tendenzen und ebenso die Bekanntmachung der ersten ausgearbeiteten Schemata unter den Konzilsvätern zur Folge, daß ab August 1962 eine fieberhafte Kontaktaufnahme zwischen „progressiven" Bischöfen und Theologen einsetzte, die zu Konzilsbeginn ihre Früchte trug. 2. Struktur

und

Richtungen

Das Konzil, dessen Mitgliederzahl zwischen 2.000 und 2.500 schwankte, hatte eine ähnliche Struktur und Geschäftsordnung wie das Vatikanum I, vor allem die Doppelgleisigkeit von Generalkongregation und Konzilskommissionen, der Unterschied von Generaldebatte und Spezialdebatte, die Möglichkeit des Votums mit Placet iuxta modum. Unterschiede betrafen vor allem die jetzt gegebene Begrenzung der Redezeit (auf zehn, später acht Minuten), die Festlegung der erforderlichen Mehrheit auf zwei Drittel, die Wahl der Kommissionen (jetzt zu zwei Drittel durch die Konzilsväter gewählt, zu einem Drittel vom Papst ernannt), schließlich die Präsenz von Personengruppen in den Generalkongregationen ohne Stimmrecht: der Beobachter der nicht-katholischen Kirchen, der vom Papst ernannten offiziellen Konzilstheologen (Periti), seit der 2. Sitzungsperiode auch von ausgewählten Laien als Auditores. Die päpstliche Konzilsleitung war auf ihm nicht weniger, zum Teil sogar noch mehr ausgeprägt als auf dem Vatikanum I; was das Vatikanum II von seinem Vorläufer unterscheidet, ist das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit. Waren auf dem Vatikanum I zwar schon alle Kontinente präsent, aber Europa mit 72 % der Konzilsväter eindeutig dominant, so stellte das Vatikanum II sich viel stärker als Konzil der „Weltkirche" dar: Europa stellte nur noch 39 % der Väter (bei damals 42% der Katholiken), die beiden Amerikas 3 5 % , Afrika und Asien 23,5% (wobei in Süd- und Ostasien die meisten Bischöfe bereits Einheimische waren, während in Afrika die Indigenisierung des Episkopats erst begonnen hatte). Die sich vor allem in den Medien sofort durchsetzende Einteilung der Konzilsväter in „Konservative" und „Progressive" trifft bei aller Simplifizierung insofern die Realität, als die Einstellung zur Moderne und zur Welt der Aufklärung ein wesentlicher Punkt war, an dem sich die beiden Richtungen schieden. Die „Konservativen" lebten aus dem Anti-Liberalismus und der Anti-Haltung zu den Prinzipien von 1789, wie diese im 19. Jh. ausgebildet worden waren. Umfassender freilich kann man die „konservative" Richtung innerhalb und außerhalb des Konzils von daher charakterisieren, daß sie die spezifischen kirchengeschichtlichen Weichenstellungen des zweiten Jahrtausends (die gregorianische, gegenreformatorische, anti-liberale etc.) mit ihrer Mentalität und Stoßrichtung geradlinig weiterführen wollte. Die Reformrichtung jedoch suchte, gestützt auf die Weiterentwicklung der neuen theologischen Ansätze seit den 20er Jahren, diese Weichenstellungen zu relativieren und zu korrigieren, und zwar im Rückblick auf ältere, zum Teil verschüttete und vergessene Traditionselemente. Das Unterscheidende war also mindestens ebenso sehr wie die Einstellung zur Moderne der Traditionsbegriff und damit auch der Begriff von -»Kirche und —»Katholizität. War für die „Konservativen" maßgebliche kirchliche Tradition im wesentlichen das, was im kirchlichen Gegenwartsbewußtsein davon faktisch lebendig war, so gehörte für die Anderen auch die Korrektur, der Rückgriff auf Vergessenes und Verschüttetes wesentlich dazu. Freilich bildete die „konservative" Minderheit nicht wie die Minorität auf dem Vatikanum I einen geschlossen zusammenhaltenden Block. Um den „harten Kern" des

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Dreigestirns der Kardinäle Ottaviani (Heiliges Offizium), Giuseppe Siri (1906-1989; Genua) und Ernesto Ruffini (1888-1967; Palermo) und des Coetus internationalis Patrum (zu dem nicht diese drei Kardinäle gehörten, jedoch Kardinal Rufino Santos v. Manila und die Bischöfe Geraldo Proenga Sigaud v. Diamantana und Marcel Lefebvre von Dakar [1905-1991]) gruppierte sich eine sehr lockere und unbestimmte Zahl von Anhängern, die nicht konstant war, sondern je nach Thema und Problemstellung stark fluktuierte. Bei eigentlich umstrittenen Fragen lag sie meist um die 10 bis 15 % , konnte jedoch im Einzelfall bis auf 25 bis 3 0 % und noch höher ansteigen. Unterscheidender Wesenszug des Vatikanums II ist, daß das im Vatikanum I mißachtete Prinzip der moralischen Einstimmigkeit in einer Weise beobachtet wurde wie bei wenigen ökumenischen Konzilien vorher. Z w a r genügte offiziell die Zweidrittelmehrheit; faktisch wurden jedoch durch die Kommissionen die Modi auch einer kleinen Minderheit so lange berücksichtigt, bis der Consensus unanimis faktisch erreicht war. Bei der Schlußabstimmung betrug die Mehrheit bei keinem Dekret weniger als 96 % , meist über 9 9 % , wobei es jedoch in einzelnen Fällen (Religionsfreiheit, Verhältnis zu den Juden, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes) bis kurz vorher eine Opposition von 10 bis 12% gab. Die beiden Konzilspäpste haben sich immer bemüht, Majorisierung einer Minderheit zu vermeiden, selbst um den Preis einer gewissen Verwässerung der von der Konzilsmehrheit gewünschten Aussagen. Faktisch war dies möglich, weil es auf dem Konzil selbst zu einem intensiven Begegnungs- und Lernprozeß kam, welcher starre Frontenbildungen nicht zuließ. Dazu gehörte sowohl die enge Zusammenarbeit zwischen Bischöfen und Theologen wie vor allem der Aspekt der internationalen Begegnung. Inoffizielles, jedoch faktisch sehr wirksames Strukturprinzip innerhalb des Konzils waren die Bischofskonferenzen. Konzilsperiti wie K. —• Rahner, Josef Ratzinger (geb. 1921), Eduard Schillebeeckx (geb. 1914), H . de —>Lubac und Yves Congar (1904-1995) prägten das Konzil nicht allein durch ihre Arbeit in den Kommissionen, sondern auch durch stark besuchte Zusammenkünfte, in welchen sie die neuen theologischen Perspektiven den Konzilsvätern vermittelten. In der ersten Periode dominierte die Theologie des deutschen und französischen Sprachraumes. Ihre Resonanz in der „Dritten Welt" Lateinamerikas, des schwarzafrikanischen und asiatischen Raumes wurde durch die internationalen Beziehungen des deutschen Episkopates und speziell von Josef Kardinal Frings (1887-1978; Köln) durch seine Hilfswerke (Adveniat und Misereor) gefördert. Dieser Verbindung, die gleich in den ersten Konzilswochen in der Wahl der Kommissionen ihren Ausdruck fand, lag aber auch eine sachliche Affinität zugrunde: Die Bischöfe dieser Länder konnten ihre seelsorgerlichen Anliegen und Probleme eher mit einer Theologie verbinden, welche Kirche stärker als geschichtliche Größe sah, außerdem Dezentralisierung und Aufwertung des Bischofsamtes betonte, als mit einem geschlossenen System, welches auf alle Fragen fertige Antworten bereit hatte. Diese Dominanz der westeuropäischen Theologie schwächte sich freilich seit der 3. Konzilsperiode (Ende 1964) deutlich ab. Zunächst Nordamerika, dann auch Lateinamerika und die Missionskirchen des afrikanischen und asiatischen Raumes traten stärker aktiv in den Vordergrund. 3. Verlauf und

Dekrete

Das Konzil tagte in vier Sitzungsperioden, jeweils zwei bis zweieinhalb Monate im Herbst, wobei in der Zwischenzeit freilich die Arbeit in den Kommissionen weiterging. 3.1. Die 1. Sitzungsperiode

(11. Oktober

bis 8. Dezember

1962)

In der Eröffnungsansprache Gaudet mater Ecclesia vom 11. Oktober 1962, die ganz von ihm persönlich entworfen wurde, setzte Johannes XXIII. eindeutige Akzente für eine offenere Richtung, die nicht zuerst Irrtümer verurteilt, sondern sich zunächst den Fragen der modernen Welt stellt und in der Glaubensüberlieferung zwischen zeitbedingter Form und bleibend gültigem Inhalt unterscheidet. Damals von Bischöfen und Theo-

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logen wenig beachtet, entfaltete sie ihre Wirkung erst in den folgenden Wochen und vor allem bei der Diskussion des Offenbarungsschemas und trug dann entscheidend zur „Identitätsfindung" des Konzils bei. Zu einem Schicksalstag aber wurde der 13. Oktober, als Konzilssekretär Pericle Felici (1911-1982) den Konzilsvätern mitteilte, daß jetzt schon die zehn Konzilskommissionen gewählt werden sollten. Da die Väter darauf nicht vorbereitet und innerkonziliare Kommunikationsmechanismen noch unausgebildet waren, wären damit die meisten Stimmen auf die Mitglieder der vorbereitenden Kommissionen gefallen (die gleichzeitig die Väter auf einer Liste vor sich hatten), was eine Vorentscheidung für die Fortführung der Richtung der vorbereiteten Texte bedeutet hätte. Darauf forderten die Kardinäle Achille Lienart (1884—1973; Lille) und Frings eine Verschiebung der Wahl, um Zeit zur Beratung und Kontaktaufnahme zwischen den Bischofskonferenzen zu gewinnen. Es wurde eine Verschiebung von drei Tagen erreicht. Eine von deutsch-französischer Seite in Zusammenarbeit mit nicht-europäischen Bischofskonferenzen aufgestellte internationale Kandidatenliste gewann am 16. Oktober die überwältigende Mehrheit; nur durch den Papst, der ein Drittel der Kommissionsmitglieder ernannte und der eine zu einseitige Zusammensetzung vermeiden sowie die Kontinuität mit der Vorkonzilsarbeit wahren wollte, wurde dieses Ergebnis wieder etwas ausgeglichen. Bei der Beratung der ersten Schemata zeigte sich ebenfalls die Eigenständigkeit des Konzils. Nicht das zuerst behandelte Liturgie-Schema offenbarte die stärksten Gegensätze, sondern das Lehrschema über die Quellen der Offenbarung. Es entsprach ganz der Ottaviani-Siri-Ruffini-Gruppe und war vor allem Werk des Jesuitenpaters Sebastian Tromp (1889-1975) von der römischen Gregoriana. Es schien die Befürchtungen zu bestätigen, die durch die Kampagne gegen das Bibelinstitut geweckt worden waren. Sowohl das Verhältnis von Schrift und Tradition (als zwei inhaltlich sich ergänzende parallele Offenbarungsquellen) wie die Irrtumslosigkeit der Schrift und die Historizität der Evangelien wurden in ausgesprochen enger Weise ausgesagt. Uber den bereits in der Enzyklika Pius' XII. Dtvino afflante spiritu (1943) geschaffenen Ausweg der „literarischen Gattungen" hinaus enthielt es keine Öffnungen. Auf Versammlungen führender Konzilstheologen mit prominenten Konzilsvätern (so besonders am Nachmittag des 19. Oktober bei Hermann Volk) war bereits vereinbart worden, die ersten Schemata durchfallen zu lassen; vernichtende Gutachten vor allem von Schillebeeckx und Rahner zum Offenbarungsschema verfehlten ihre Wirkung auf die Bischöfe nicht. Es stieß daher in der Konzilsaula auf starken Widerspruch. Nach einer durch unklare Fragestellung und Lücken der Geschäftsordnung verunglückten Abstimmung, die eine juristisch zweifelhafte Situation schuf (62,5% lehnten das Schema ab), entschied Johannes XXIII. am 21. November, das Schema durch eine neue, aus beiden Richtungen paritätisch besetzte Kommission neu ausarbeiten zu lassen. Kritik erfuhren auch zwei andere Schemata, nämlich das Schema De Ecclesiae Unitate, welches sich mit den getrennten Ostkirchen befaßte, sowie das erste Kirchenschema, ebenfalls ein Werk von Ottaviani und Tromp. Sie enthielten einzelne bemerkenswerte Neuansätze, blieben jedoch in ihrer Grundkonzeption einem eher statischen Kirchenbild verhaftet, welches hierarchie-zentriert war und die historische Dimension der Veränderung und Korrektur weitgehend ausklammerte. Die Kritik entzündete sich vor allem an der fehlenden „pastoralen" Ausrichtung und berief sich wiederholt auf die päpstliche Eröffnungsansprache Gaudet mater Ecclesia, während die konservative Seite (Kardinal Santos, Carli, Lefebvre) erwiderte, Grundlage der Pastoral sei die eindeutige Lehre. Konkrete Ergebnisse hatte die 1. Sitzungsperiode nicht gebracht. Aber das „kommunikative Ereignis Konzil" (G. Alberigo: Storia del Concilio Vaticano II, Bd. II, 630f.) war geschaffen und hatte seinerseits in der Weltöffentlichkeit seine eigene Dynamik entfaltet. Es war deutlich geworden, daß das Konzil trotz seiner großen Zahl imstande war, seine eigenen Kommunikationsmechanismen auszubilden und damit zu wirklicher Willensbildung zu kommen, dann daß die Mehrheit der Konzilsväter, nun in engem

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Kontakt mit den Konzilstheologen, nicht bereit war, Vorlagen passieren zu lassen, die die theologischen Entwicklungen und Fragestellungen der letzten Jahre ignorierten. 3.2. Pontifikatswechsel

und 2. Sitzungsperiode

(29. September

bis 4. Dezember

1963)

Am 3. Juni 1963 verstarb Johannes XXIII., von der ganzen Welt betrauert wie kaum ein Papst. Die Wahl des Kardinals Giovanni B. Montini v. Mailand am 21. Juni zum Nachfolger (-»Paul VI.; 1963-1978) bedeutete keine Abschwächung, sondern eine Verstärkung der eingeschlagenen Linie. Ein Mann des Überlegens und der differenzierten Reaktionen, mehr intellektuell und problembewußt als der aus einer einfachen bäuerlichen Frömmigkeit lebende Vorgänger, war ihm andererseits auch nicht dessen menschliche Unmittelbarkeit und Spontaneität gegeben. Bestimmte Akzente zu Beginn seines Pontifikates setzten die Linie der „Öffnung" fort: die Vergebungsbitte gegenüber den getrennten Brüdern in der Ansprache zu Beginn der 2. Sitzungsperiode (29. September), die Schaffung einer handlungsfähigen Konzilsleitung aus vier Moderatoren, nämlich den Kardinälen Julius Döpfner (1913-1976; München), Leo Suenens (1904-1996; Mecheln), Giacomo Lercaro (1891 — 1976; Bologna) und Gregor Agagianian (1895—1971; Präfekt der Propaganda-Kongregation), schließlich die Aufhebung des Konzilsgeheimnisses für die Generalkongregationen, was den Konzilsreden sofort Öffentlichkeitswirkung verlieh. Die beiden entscheidenden Ergebnisse der zweiten Konzilsperiode waren jedoch der Durchbruch der neuen theologischen Ansätze im Kirchenschema und die Verabschiedung des Liturgie-Dekrets. Das Kirchenschema war jetzt umgearbeitet und um zahlreiche neue Aspekte bereichert. Es beruhte vor allem auf einem Entwurf des Löwener Dogmatikers Gérard Philips (1898-1972), welcher im Gegensatz zu den radikaleren Vorschlägen von Schillebeeckx und Rahner (die die Verwerfung des alten Schemas und einen ganz neuen Ansatz wollten) die konservativen Elemente des ersten Kirchenschemas vorsichtig mit den neuen Ansätzen verbinden wollte. Von der deutschen Theologie inspiriert war die geschichtliche und sakramentale Dimension der Kirche, primär von der französischen die Aussagen über Sakramentalität der Bischofsweihe und Kollegialität. Die Frage, ob man das Kapitel über das Volk Gottes nicht vor dem über die Hierarchie behandeln solle, um eine einseitig hierarchie-zentrierte Kirchenauffassung zu überwinden, von Kardinal Suenens angeregt und von der Kommission offengelassen, wurde von den meisten Rednern bejaht, was dann in der Neufassung des Schemas berücksichtigt wurde. Am stärksten kontrovers erwiesen sich in der Debatte Begriff und Sache der bischöflichen „Kollegialität", dann aber überhaupt all das, was sich auf die Überwindung einer einseitig juridisch-institutionellen Perspektive bezog. Zu dem Konflikt zweier Kirchenbilder kam der Gegensatz zweier Frömmigkeiten hinzu, als es um die Frage ging: eigenes Marienschema oder Kapitel über die Muttergottes im Rahmen des Kirchenschemas? Es ging hier letzten Endes um den Platz der Mariologie in Theologie und Frömmigkeit: ihren primär ekklesiologischen oder christologischen Ort. Über diese Frage wurde schließlich am 29. Oktober eine Alternativ-Abstimmung durchgeführt, nachdem noch einmal zusammenfassend die jeweiligen Argumente von den Kardinälen Franz König (geb. 1905, Wien; für Einfügung ins Kirchenschema) und Santos (Manila, für eigenes Marienschema) dargelegt worden waren. Mit knapper Mehrheit (1.114 zu 1.074) entschied das Konzil für Einfügung ins Kirchenschema (im Grunde eine Entscheidung gegen weitere Verselbständigung der Mariologie und für ihre Integration in die Kirche). Weitere Testabstimmungen am folgenden Tag bezogen sich auf die bischöfliche Kollegialität, ihre sakramentale Verwurzelung in der Bischofsweihe sowie auf die Wiederherstellung des ständigen Diakonats. Sie ergaben eine Mehrheit von 80 bis 84 % , beim Diakonat von 75 % . Damit waren wichtige ekklesiologische Entscheidungen gefallen. Vor allem war die Trennung von sakramentaler Ordnung und Jurisdictio und die Engführung auf einen Kirchenbegriff jurisdiktioneller Über- und Unterordnung überwunden.

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Vorgelegt wurden außerdem das Schema über die Hirtenaufgabe der Bischöfe (bei dem in Fragen wie Vollmacht der Bischofskonferenzen, Altersgrenze der Bischöfe und Größe der Diözesen auch innerhalb des „progressiven" Flügels sehr kontrovers diskutiert wurde) und das im April 1963 vom Einheitssekretariat ausgearbeitete ÖkumenismusSchema, zu welchem damals noch die Kapitel über die Religionsfreiheit und über das Verhältnis zu den Juden gehörten. Gerade hier brachen starke Gegensätze zwischen den meisten westeuropäischen, nordamerikanischen und afro-asiatischen Bischöfen einerseits, einer Minderheit von Vätern vor allem aus rein katholischen Ländern andererseits auf. Am Ende der Sitzungsperiode wurden zwei Texte verabschiedet: ein Dekret über die Massenkommunikationsmittel, das keine besondere Bedeutung erlangt hat, und die Liturgiekonstitution. Theologisch gibt sie der Liturgie ihren zentralen Platz als Vergegenwärtigung des Passamysteriums Christi und als zentraler Selbstvollzug von Kirche. Im praktischen Teil stellt sie die ursprüngliche Gestalt der Eucharistiefeier, des Kirchenjahres sowie der Sakramente und des Stundengebetes wieder her und gibt eine Überarbeitung des Meß-Ordo und eine neue reichhaltigere Ordnung der Lesungen in Auftrag (der Novus Ordo Missae, der zum liturgischen Jahr 1968/69 herauskam und 1976 obligatorisch vorgeschrieben wurde). In der Frage der Muttersprache in der Messe trägt sie noch die Spuren des damals möglichen Kompromisses zwischen fortschrittlichen und beharrenden Kräften, der freilich offen war für weitere Entwicklungen: die lateinische Liturgiesprache sollte erhalten bleiben, der Volkssprache vor allem bei Lesungen, Gesängen und mit dem Volk gesprochenen Gebeten weiterer Raum zugemessen werden, ohne daß eine noch weitere Verwendung (ermächtigt durch die Bischofskonferenz mit Zustimmung des Apostolischen Stuhls) ausgeschlossen wird. 3.3. Die 3. Sitzungsperiode

(14. September

bis 21. November

1964)

Diese war die stürmischste und dramatischste. Sie erbrachte härtere Konfrontationen und am Schluß den kritischsten Moment des Konzils, die „Novemberkrise" von 1964. Die Zuspitzung der Gegensätze zeigte sich bei der weiteren Diskussion des Kirchenschemas, wo nach wie vor die Kollegialität der umstrittenste Punkt war: 10 bis 15 % der Konzilsväter sahen in ihr eine Beeinträchtigung der päpstlichen Vollgewalt nach dem Vatikanum I, die sie als eine streng monarchische und rein persönliche verstanden, und dies, obgleich die jetzt vorgelegte neue Fassung die souveräne Vollmacht des Papstes wieder wesentlich stärker betonte. In der Diskussion der neuen Erklärung über die Religionsfreiheit, jetzt vom Ökumenismus-Schema gelöst, ließ sich ebenfalls der Widerspruch einer Minderheit nicht überwinden, welche die klassische Lehre verteidigte, wie sie im Syllabus und der Enzyklika Quanta cura (1864) ihren Ausdruck gefunden hatte: nur die Wahrheit habe Rechte, nicht der Irrtum. Für die Religionsfreiheit setzte sich besonders der amerikanische Episkopat ein, aber auch viele Bischöfe aus dem Ostblock (Stefan Kardinal Wyszynski von Warschau [1901-1981]; Josef Kardinal Beran von Prag [1888-1969], Erzbischof Karol Wojtyla von Krakau [geb. 1920] u. a.), welche ihre Wichtigkeit für die Position der Kirche im Kommunismus erkannten. Noch schärfere Emotionen provozierte die jetzt ebenfalls aus dem Ökumenismus-Schema herausgelöste Erklärung über die Juden. Hier bestand die Gegnerschaft nicht alleine aus dem üblichen konservativen Block, sondern auch aus Konzilsvätern aus den arabischen Ländern, für welche diese Erklärung wesentlich im Schatten des Nahost-Konflikts stand. Es folgte die Debatte des Offenbarungs-Schemas, welches an die Stelle des in der 1. Sitzungsperiode durchgefallenen Schemas über die „Quellen der Offenbarung" getreten war. Schon in der damals geschaffenen paritätischen Kommission und auch jetzt im Plenum prallten die Gegensätze, vor allem in der Frage des Verhältnisses von Schrift und Tradition und im Verständnis der Irrtumslosigkeit der Schrift, sehr scharf aufeinander. Der jetzige Text blieb hier auf der Stufe von Divino afflante spiritu stehen und stieß deshalb auf Kritik in der Konzilsaula, besonders durch Kardinal König, welcher das Problem der „Irrtümer" in der Heiligen Schrift aufwarf.

548

Vatikanum II

Diskutiert und sehr scharfer Kritik unterzogen wurden außerdem die Schemata über das Laienapostolat, über die Priester und die Missionen, die letzteren beiden zur grundlegenden Überarbeitung an die Kommission zurückverwiesen, während das Dekret über die (unierten) Ostkirchen wenig kontrovers verhandelt und am Ende der Session verabschiedet wurde. Ein ganz neuartiges Dokument war die Pastoralkonstitution „über die Kirche in der Welt von heute". Die Idee entstand in der 1. Sitzungsperiode, um den mehr innerkirchlich orientierten Schemata über Kirche, Offenbarung, Liturgie und Ökumenismus ein Dokument zur Seite zu stellen, in welchem das Konzil mehr „nach außen" sprach. In ihm sollte sich die Kirche der Welt von heute und ihren geschichtlichen Herausforderungen stellen, aber dies nicht in abstrakten überzeitlichen Prinzipien und durch Verkündung ewiger Wahrheiten, sondern im geschichtlichen Dialog. In der betreffenden Kommission arbeiteten auch zahlreiche Laien mit (während die von Paul VI. geschaffenen „LaienAuditoren" in der Konzilsaula mehr eine Staffage waren). Der erste Entwurf, sehr stark von einer französischen Theologie der „irdischen Wirklichkeiten" inspiriert, atmete einen gewissen unbeschwerten Weltoptimismus. Er tendierte etwas dazu, auf der Linie einer gewissen Vulgär-Rezeption -»-Teilhards de Chardin christliche Hoffnung allzu bruchlos in Verlängerung und als Vollendung irdischen Fortschritts zu sehen. Die Kritik kam nicht nur aus der Konzilsaula, sondern auch seitens der Beobachter der Reformationskirchen: Hier werde das Gefährliche von „Welt" als Macht der -»Sünde und der menschlichen Selbstherrlichkeit und Selbstanbetung nicht ernstgenommen. Nach der Diskussion dreier weiterer Texte (zur zeitgemäßen Erneuerung des Ordenslebens, zur Priesterausbildung und zur christlichen Erziehung) schienen nun drei zentrale Konzilstexte verabschiedungsreif: über Kirche, Ökumenismus und Religionsfreiheit. Aber nun folgte die schwerste Krise des Konzils, welche zur Folge hatte, daß am Ende des Jahres 1964 bei den meisten Vertretern konziliarer Erneuerung dunkle Wolken den Horizont überschatteten. Hintergrund war der Wille des Papstes, Majorisierung von Minderheiten um jeden Preis zu vermeiden, zugleich mit Zeitdruck, der eine konziliare Beratung nicht mehr zuließ. Zunächst war dem endgültigen Text der Kirchenkonstitution, der am 14. November den Konzilsvätern ausgehändigt wurde, eine Nota explicativa praevia beigefügt. Formell war sie nicht ein Konzilsdokument, sondern eine rein päpstliche Entscheidung. Das Konzil stimmte nie über sie ab; aber die Abstimmung über die Kirchenkonstitution bezog sich, wie Konzilssekretär Felici erklärte, auf die Konstitution, insofern sie durch diese Nota authentisch interpretiert werde. Inhaltlich betonte sie noch einmal zusätzlich, obwohl dies bereits in Kap. 22 der Kirchenkonstitution zur Genüge stand, die souveräne Vollmacht des Papstes, der auch „allein", ohne das Kollegium zu befragen, entscheiden könne. Zwei weitere Entscheidungen wurden am 19. November bekanntgegeben: die Vertagung der Abstimmung und Verabschiedung des Dekrets über Religionsfreiheit auf das nächste Jahr und 19 Modifikationen im Ökumenismus-Dekret, die, von Paul VI. vorgeschlagen, wegen Zeitdruck nur von Kardinal Bea mit seinen engsten Mitarbeitern besprochen werden konnten. Bestürzung und Niedergeschlagenheit erregte vor allem das Zusammentreffen aller drei Entscheidungen, dazu rein von oben ohne Mitbeteiligung des Konzils. In der Öffentlichkeit erlitt der bisher fast uneingeschränkt „progressive" Ruf Pauls VI. seinen ersten Schlag. Der (in dieser Form unzutreffende) Ruf des Montini-Papstes als „Zauderer" und seine Gegenüberstellung zu dem angeblich „mutigeren" Johannes XXIII. setzte hier ein. Inhaltlich relevant war einzig die Nota praevia. Sie veränderte zwar nicht die Aussagen der Kirchenkonstitution, verlagerte jedoch durch die Eindringlichkeit, mit der sie die Vollmacht des Papstes als rein persönliche betont, wieder den Gesamtakzent nach der primatialen Seite hin. Immerhin wurden nun die Kirchenkonstitution Lumen gentium und das ökumenismus-Dekret Unitatis Redintegratio verabschiedet. Es waren zwei Dokumente, in denen es gelungen war, ohne Bruch mit der katholischen Tradition doch Einseitigkeiten des zweiten Jahrtausends und speziell der gegenreformatorischen Zeit zu überwinden, den

Vatikanum II

549

Blick auf die Schrift und die ganze Tradition wiederzugewinnen und zugleich eine Öffnung auf die anderen christlichen Kirchen hin zu vollziehen, in denen sich aber auch die ganze Spannung zwischen den beibehaltenen juridisch-institutionellen und den „offeneren" Momenten ausdrückt. In ihrem Kompromißcharakter suchen sie die ganze katholische Tradition zu integrieren, gleichzeitig durch Relativierung, freilich nicht Eliminierung „exklusivistischer" kirchlicher Momente (Heilsnotwendigkeit, Ausschließlichkeitsanspruch, Unveränderlichkeit, hierarchische und Gehorsams-Struktur) eine vorsichtige Öffnung gegenüber der „Moderne" zu vollziehen, enthalten dabei aber auch in sich schon die Grundlage späterer Kontroversen und Interpretationsprobleme. Die Kirchenkonstitution Lumen gentium, Gipfel und Abschluß eines halben Jahrhunderts Wiederentdeckung der vollen Dimension der Kirche von R. -»Guardini bis zu H. de Lubac, überwindet die rein jurisdiktionell-klerikale Engführung und sieht die Kirche stärker als Volk Gottes, in ihrer sakramentalen (Kirche als „Sakrament", d.h. Zeichen und Werkzeug für die Vereinigung der Menschen mit Gott wie der Menschheit unter sich: Nr. 1) und geistlichen Dimension, schließlich als geschichtliche, auf dem Wege befindliche und ständig der Reform bedürftige Wirklichkeit. Der Exklusivitätsanspruch der katholischen Kirche im Vergleich zu den anderen christlichen Gemeinschaften und ebenso ihre Heilsnotwendigkeit werden im Prinzip aufrechterhalten, jedoch flexibler und weniger exklusivistisch gefaßt im Sinne einer stufenweisen Kirchengliedschaft in konzentrischen Kreisen (anstelle der früheren Deutung, wie noch im ersten Kirchenschema: nur die Katholiken gehören reapse der Kirche Christi an, die andern nur voto). In keiner Weise abgeschwächt oder begrenzt, vielmehr noch emphatisch betont, wird die Primatsstruktur, freilich ihr in der bischöflichen Kollegialität ein „kommunitäres" Strukturelement zur Seite gestellt. Das Ökumenismus-Dekret Unitatis Redintegratio bedeutet nicht nur die Überwindung zeitbedingter „gegenreformatorischer" Einseitigkeiten, was mehr oder weniger von allen Konzilsdekreten gilt. Als positive Verhältnisbestimmung zu den getrennten Kirchen und Gemeinschaften bildet es auch geschichtlich ein Novum. Theologisch leistet es die Gratwanderung, ohne Aufgabe oder Relativierung des spezifisch Katholischen ein echtes Miteinander und gemeinsames Suchen nach der christlichen Einheit zu ermöglichen, bei dem weder Herstellung der Einheit nur als „Rückkehr der Andern" verstanden wird noch die katholische Kirche sich einfach gleichberechtigt auf eine Ebene mit den andern Kirchen stellt. Die von der katholischen Kirche als wesentlich für diese Einheit betrachteten und in ihr verwirklichten Elemente (Sakramente, kirchliches Amt einschließlich des Petrus-Amtes) gelten als unverzichtbar für die volle Einheit; andererseits ist auch die katholische Kirche stets auf dem Weg zur vollen Verwirklichung ihrer Katholizität und zu einem Dialog mit den andern Kirchen verpflichtet, bei dem sie nicht nur die Lehrende ist. 3.4. Die 4. Sitzungsperiode

(14. September

bis 8. Dezember

1965)

In ihr wurde eine Reihe wichtiger Konzilsdokumente zu Ende beraten und verabschiedet. Die Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit stieß nach wie vor auf den Widerstand von 10 % der Väter. Sie wurde jetzt umgearbeitet und theologisch tiefer in der Beziehung des Menschen zur Wahrheit begründet, welche dabei nur durch die Vermittlung des Gewissens geschieht. Dennoch konnte dies die Opposition nicht besänftigen, die bei den folgenden Abstimmungen sogar auf über 11 % anstieg und erst bei der feierlichen Schluß Verabschiedung am 7. Dezember auf 3 % schrumpfte. Die Bedeutung dieser Erklärung besteht nicht zuletzt darin, daß hier in dem eigentlich zentralen und neuralgischen Punkt die neuzeitliche Freiheitsgeschichte als evangeliumsgemäß bejaht wird. Damit wird ein Schlußstrich unter den ein Jahrhundert vorher in Syllabus und Quanta cura gipfelnden anti-liberalen Defensivkampf für den katholischen Staat und die Societas christiana gezogen.

550

Vatikanum II

Eine Reihe schon vorher diskutierter pastoral-innerkirchlicher Texte wurde nur noch abgestimmt und in der feierlichen Sitzung vom 28. Oktober verabschiedet: die Dekrete über das Hirtenamt der Bischöfe, über die Priesterausbildung, die Erklärung über die christliche Erziehung und schließlich das Dekret Perfectae caritatis über das Ordensleben. Die Bedeutung des letzteren besteht darin, dal? es mit der Verabsolutierung zeitbedingter Ordenstraditionen und mit der Vorstellung vom Ordensstand als der „vollkommeneren" Nachfolge Christi bricht, die entscheidende Mitte des Evangeliums betont und die Erneuerung des Ordenslebens an dem dreifachen Bezugsrahmen der Nachfolge Jesu im Evangelium, der Ursprünge und genuinen Überlieferungen des jeweiligen Instituts und schließlich den veränderten Lebensverhältnissen der Gegenwart orientiert. Neu diskutiert und schließlich verabschiedet wurden auch die Dekrete über die Missionen und über Dienst und Leben der Priester. Die politisch sehr umstrittene Juden-Erklärung war jetzt in den größeren Zusammenhang der Erklärung Nostra aetate über die nicht-christlichen Religionen eingefügt, was dennoch nicht verhindern konnte, daß noch eine Minderheit von 12,4 % (bei der feierlichen Verabschiedung am 28. Oktober noch 3,8%) gegen den Text stimmte. Ihre Bedeutung besteht einmal darin, daß sie (u. a. durch ausdrückliches Abrücken von dem Vorwurf der Kollektivverantwortung der Juden für den Tod Jesu und von der „Verwerfung" Israels) ein positiveres Verhältnis zum Judentum einleitet, das dann in den folgenden Jahrzehnten, nicht zuletzt durch die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. weitergepflegt wurde. Darüber hinaus aber begründet sie (in einer vorrangig positiven, vielleicht manchmal zu harmonisierenden Weise) den (damals in Europa noch kaum akuten) Dialog mit den Weltreligionen, die primär als Antworten auf die menschlichen Fragen gewürdigt und in ihren Werten (in dem, was in ihnen „wahr und heilig" ist) anerkannt werden. Nicht mehr erneut diskutiert wurde das Offenbarungs-Schema; es konnten nur noch Modi eingereicht werden. Die beiden wichtigsten Modi wurden auf Ersuchen konservativer Konzilsväter von Paul VI. vorgelegt, freilich nicht als autoritative päpstliche Befehle, sondern — was in der Konzilsgeschichte ein Novum war - als dem Urteil der Kommission anheimgestellte Vorschläge. Sie wurden im wesentlichen angenommen. Der eine davon betraf die Irrtumslosigkeit der Schrift, der andere das Verhältnis von Heiliger Schrift und Tradition. Erstere wurde in Nr. 11 zwar nicht materiell eingegrenzt, jedoch (durch die Formulierung, die heiligen Schriften enthielten die Wahrheit, die Gott nostrae salutis causa niedergelegt haben wollte) vom Heilsbezug als ihrem Formalobjekt her bestimmt. Diese Offenbarungs-Konstitution Dei Verbum, neben der über die Kirche die zweite Dogmatische Konstitution des Konzils, am 18. November feierlich verabschiedet, hat ihre Bedeutung nicht zuletzt darin, daß ein additives Verständnis von einzelnen „Offenbarungsquellen" überwunden und - durch den Zentralbegriff des „Wortes Gottes", welches der Sohn Gottes selbst ist und das sich in seiner Botschaft selbst weitergibt - die innere Einheit und gegenseitige Verschränkung von Schrift, Tradition und Lehramt betont wird. Die leidvolle Geschichte der Beziehungen zwischen kirchlichem Lehramt und historisch-kritischer Forschung hat zwar keine Lösung für alle Probleme erfahren, aber doch eine wesentliche Entschärfung. Das Problem der göttlichen Wahrheit in menschlicher Begrenztheit wird nicht mehr ausschließlich von den „literarischen Gattungen" her angegangen, wie noch in den ersten Konzilsvorlagen, sondern umfassender vom Sprechen Gottes im Menschenwort (Nr. 12). Schärfere Gegensätze wurden vor allem bei der Schlußberatung von Gaudium et Spes (Kirche in der Welt von heute) deutlich. Vor allem mehrere deutsche Konzilsväter (Frings, Höffner, Volk) bemängelten erneut den zu optimistischen Tenor des Textes: von Sünde und -»Kreuz, von der ganzen Ambivalenz von „Welt" im Sinne der Schrift, sei hier zu wenig die Rede. Diese Kritik wurde zum Teil in der Endredaktion berücksichtigt. Etwa 20 % der Konzilsväter (ca. 450) forderten in diesem Dokument eine aus-

Vatikanum II

551

drücklichere Verurteilung des Kommunismus. Das geschah hauptsächlich deshalb nicht, weil der Vatikan seine vorsichtigen Bemühungen um Verbesserung der Situation der Kirche in den Ostblockstaaten nicht gefährden wollte. Noch stärker waren die Gegensätze in den Fragen von Krieg, Frieden und atomarem Krieg. Eine stärker „pazifistische" Richtung forderte eine viel radikalere Ächtung des Krieges und eine eindeutige Verurteilung von ABC-Waffen und sah angesichts des modernen Krieges die traditionelle Lehre vom „gerechten Krieg" als mehr oder weniger revisionsbedürftig an. Dazu gehörten die Kardinäle Bernhard Alfrink (1900-1987; Utrecht), Liénart, Paul-Emile Léger (19041991; Montreal), aber auch Ottaviani, während die meisten konservativen Väter, aber auch viele Amerikaner unter Führung von Kardinal Francis Spellman (1889-1967; New York) den Akzent auf die legitime Verteidigung setzten. Der definitive Text, welcher (in Nr. 79 und 80) den Hauptakzent auf die Verurteilung des Krieges setzt und das Verteidigungsrecht als äußersten Grenzfall eher in Klammern stellt, fand daher vor allem den Widerspruch dieser letzten Gruppe. Bei der Abstimmung über dieses Kapitel am 4. Dezember gab es daher noch 483 Non placet, d.h. ca. 20% der Konzilsväter votierten dagegen. Die ganze Konstitution erhielt 89 % und dann schließlich bei ihrer feierlichen Schlußabstimmung 97% Ja-Stimmen. Ihre Gesamtbedeutung liegt weniger in ihren Einzelaussagen als darin, daß sie eine neue, mehr geschichtlich-dialogische Form des Sprechens der Kirche zu den Weltproblemen einleitet: die primäre Defensivhaltung der Kirche gegenüber einer feindlichen Welt, gegen die sie sich zur Wehr setzt oder der gegenüber sie unwandelbare „naturrechtliche" Prinzipien verkündet, wird aufgegeben zugunsten einer Solidarität mit den Problemen und Anliegen der modernen Menschen und der Gemeinsamkeit im Suchen nach Antworten. Ihre geschichtliche Wirkung geht in unterschiedliche Richtung: In Europa verstärkte sie die Tendenz zur Autonomie der weltlichen Bereiche, während sie in Lateinamerika in der Richtung der „Option für die Armen" und der „Theologie der Befreiung" (-»Theologie II/5.2.) weitergeführt wurde. Nicht selten wird ihr nach wie vor ein zu weltoptimistischer Tenor vorgeworfen. Daß eine entsprechende Atmosphäre die Konstitution mitgeprägt hat, läßt sich nicht leugnen; andererseits können auch ihre fortschrittskritischen Momente nicht übersehen werden. 4. Bedeutung und

Rezeptionsprobleme

Das Vatikanum II unterscheidet sich vor allem dadurch von allen früheren Konzilien, daß es nicht nur partiell in gefährdeten Bereichen reformierend, ordnend und lehrmäßig klärend oder abgrenzend eingriff, sondern versuchte, umfassend unter dem Anruf sowohl des Evangeliums und der ganzen Überlieferung der Kirche wie der spezifischen Herausforderung der „Zeichen der Zeit" kirchliches Leben zu erneuern und dabei in fast allen Bereichen neue Akzente zu setzen, und dies nicht primär durch rechtliche Regelungen, sondern von der geistlich-theologischen Mitte her. Inhaltlich könnte man seine Grundintuition in der theologischen und praktischen Sicht der Kirche als geschichtliche Wirklichkeit (damit auch als plural, veränderungsfähig, der Reform bedürftig, geschichtlich defizient) sehen. In fast allen Bereichen hat das Konzil die katholische Kirche nachhaltig geprägt und verändert, besonders in der Reform der Liturgie und in der Theologie, während im neuralgischen Bereich der kirchlichen Strukturen (vor allem im Verhältnis von Ortskirchen und Zentrale) die meisten Konflikte und Krisenphänomene auftauchten. Die Rezeption des Konzils stand und steht so weithin im Zeichen der noch nicht abgeschlossenen „nachkonziliaren Krise", welche auf ein sehr komplexes Geflecht kirchen- und allgemeingeschichtlicher Ursachen zurückzuführen ist. Zu ihm gehört der „Problemstau", mit dem es das Konzil zu tun hatte und mit dem es im Grunde überfordert war, die innere Spannung der Konzilsdokumente selbst, auf die sich daher „Konservative" wie „Progressive" berufen konnten (vor allem innerhalb der Kirchenkonstitution Lumen gentium sowie zwischen den innerkirchlichen Texten und Gaudium et Spes), nicht zuletzt aber auch die (zumeist von den Konzilsvätern unterschätzte) Eigendynamik der Moderne, zumal die Rezeption des Vatikanums II in der westlichen Welt

552

Vatke

mit einem soziologischen Wandel zusammenfiel, der als Übergang von der „eingeschränkten" und „segmentierten" zur „radikalen Moderne" bezeichnet wird. Einerseits war das Vatikanum II ein „Modernisierungsphänomen", wurde auch in den Aussagen und Reformen am leichtesten rezipiert, die dem entsprachen; andererseits konnte es dies nur in sehr begrenztem Ausmaß sein; dadurch und durch die Weiterentwicklung der Moderne in der profanen Gesellschaft wurde zwangsläufig in den folgenden Jahrzehnten der Graben zwischen katholischer Kirche (vor allem ihrem Lehramt) und dem dominierenden „Zeitgeist" nicht geringer, sondern größer. Quellen Voten f. das bevorstehende Konzil u. Akten der vorbereitenden Zentralkommission: ADCOV, 23 Bde., 1960-1969. - Akten der Generalkongregationen: ASCOV, 25 Bde., 1970-1978. Yves Congar, Vatican II. Le Concile au jour le jour, Paris 1963-1966. - Hanno Helbling, Das Zweite Vatikanische Konzil, Basel 1966. - Max Lackmann, Mit ev. Augen. Beobachtungen eines Lutheraners auf dem II. Vatikanischen Konzil, 5 Bde., Graz 1963-1966. - Josef Ratzinger, Vaticanum II. Ergebnisse u. Probleme, 4 Bde., Köln 1963-1966. Literatur Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965). Vorgesch. - Verlauf- Ergebnisse - Nachgesch., Würzburg 1993. - Storia del Concilio Vaticano II, hg. v. Giuseppe Alberigo, 5 Bde., Bologna 1996-2001; dt.: Gesch. des Zweiten Vatikanischen Konzils, hg. v. Klaus Wittstadt, Mainz 1997ff. - Vatican II. Bilan et perspectives, hg. v. René Latourelle, 3 Bde., Paris 1988 (Recherches NS 15-17). - Vatikanum II u. Modernisierung. Hist., theol. u. soziologische Perspektiven, hg. v. Franz Xaver Kaufmann/Arnold Zingerle, Paderborn 1996. - Hubert Wolf (Hg.), Antimodernismus u. Modernismus in der kath. Kirche. Beitr. zum theologiegesch. Vorfeld des II. Vatikanums, Paderborn 1998. - Das 2. Vatikanische Konzil. Dokumente u. Komm., 3 Bde.: LThK 2 12-14 (1966-1968). - Das II. Vatikanum. Christi. Glaube im Horizont globaler Modernisierung, hg. v. Peter Hünermann, Paderborn 1998. Klaus Schatz

Vatke, Wilhelm 1. Leben 1.

(1806-1882)

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 554)

Leben

Johann Karl Wilhelm Vatke bleibt in der Theologiegeschichte des 19. Jh. ein etwas rätselhafter Gelehrter, da er von 1841 bis zu seinem Tod 1882 keine Schriften mehr veröffentlicht hat. Geboren am 14. März 1806 als Sohn eines Pfarrers in Behndorf, wuchs er nach dem Tod des Vaters (1814) zunächst im nahen Helmstedt, dann nach dem Tod der Mutter (1818) seit 1820 als Schüler an den Francke'schen Stiftungen (A. H. -»Francke) in Halle auf. Das Studium der Theologie begann Vatke 1824 in -»Halle und setzte es 1826 in -»Güttingen, ab Frühjahr 1828 in -»Berlin fort, wo er 1830 mit einer Dissertation über -»Clemens von Alexandrien (ungedruckt) das Lizentiatenexamen ablegte und Privatdozent wurde. Im Wintersemester 1830/31 begann Vatke seine Vorlesungen, zumeist über das Alte und das Neue Testament, wurde 1837 zum außerordentlichen Professor an der Theologischen Fakultät ernannt und lehrte in diesem Rang Bibelwissenschaft und Religionsphilosophie bis 1875. Wichtige akademische Lehrer Vatkes waren W. -»Gesenius, G.H.A. -»Ewald und A. -»Neander; für seine alttestamentliche Arbeit ist W.M.L. -»De Wette von größter Bedeutung. Seit dem Sommer 1828 ist Vatkes Interesse an der Philosophie G.W. F. -»Hegels in Briefen dokumentiert (s. Benecke). In wichtiger Beziehung stand Vatke zu Ph.K. -»Marheineke und zu C.I. -»Nitzsch; ihr Einfluß konnte jedoch die entschiedene Gegnerschaft E.W. -»Hengstenbergs an der Fakultät nicht ausgleichen. Seit 1831 verband ihn eine Freundschaft mit D.F. -»Strauß. Durch seine Heirat 1837 mit Minna Döring, einer Berliner Kaufmannstochter, fand sich Vatke in einer finanziellen Lage, in der er auf die aussichtslose Berufung zum ordentlichen Professor in Berlin nicht mehr angewiesen war und 1844 eine Anfrage aus Bern ablehnen konnte. 1880 von der theologischen Fakultät in Jena, an der sein früherer Schüler Adolf Hilgenfeld (1823-1907) wirkte, zum Ehrendoktor promoviert, starb Vatke am 19. April 1882.

Vatke 2.

553

Werk

Vatkes R u h m g r ü n d e t sich a u f sein B u c h Die Religion den kanonischen

Büchern

wissenschaftlich

dargestellt

entwickelt

des Alten

Testamentes

v o n 1 8 3 5 (als B a n d I v o n Die Biblische

nach Theologie

erschienen), das einen spezifischen Begriff v o n historischer

und religionsgeschichtlicher W i s s e n s c h a f t v o r a u s s e t z t (dazu Perlitt). Vatke erweist sich in zwei Punkten als ein E r b e des 18. J h . : darin, d a ß er die biblische Überlieferung i m H o r i z o n t der Universalgeschichte der M e n s c h h e i t u n t e r s u c h t , und d a r i n , d a ß er die - » G e s c h i c h t e in einem u m f a s s e n d e n System verstehen will (vgl. d a z u Koselleck). Beide Anliegen sieht er a m besten in der Philosophie H e g e l s weitergeführt. Seine U n t e r s u c h u n g des Alten T e s t a m e n t s soll deshalb einen b e s t i m m t e n „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n S t a n d p u n k t " , denjenigen der Philosophie H e g e l s , „in einem k o n k r e t e n I n h a l t " „ k o n s e q u e n t d u r c h f ü h r e n " , u m d a m i t zugleich für d a s Gebiet der Religion d a s g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e M o d e l l selbst zu rechtfertigen. D a b e i läßt sich Vatke v o n d e m m e t h o d i s c h b e w u ß t e n K r i t e r i u m leiten: „ D e r historische Verlauf der Religion d a r f i h r e m Begriffe nicht w i d e r sprechen und dieser jenem nicht, und die H a r m o n i e beider m u ß wirklich n a c h g e w i e s e n w e r d e n . " H i s t o r i s c h e F o r s c h u n g dürfe nicht „ r e i n - e m p i r i s c h " v e r f a h r e n , vielmehr m ü ß ten das E m p i r i s c h e und das L o g i s c h e in ein Verhältnis zueinander gesetzt w e r d e n (Religion des A T v - v i i ) . Für die Seite des Logischen diskutiert Vatke in einer ausführlichen Einleitung die „drei möglichen und notwendigen Hauptmomente" von Begriff, Erscheinung und Idee der Religion, um polemisch gegen die Vereinseitigung, sei es des Logischen, sei es des Empirischen, seine Betrachtung der Religionsgeschichte in ein philosophisches Verstehen der Geschichte des Geistes nach Hegel zu integrieren (ebd. 149f.). Erscheinungen der Religion (Vorstellungen, Kultus, Mythos) sind, in welcher Epoche auch immer, nur Durchgangspunkte in der Entwicklung der Idee der Religion, bis diese im Christentum realisiert ist. Das historische Material des Bibelwissenschaftlers fällt in drei Gruppen, die drei Entwicklungsstufen entsprechen: die Naturreligion, der -»Monotheismus, die Christologie. Das Christentum hat den „Charakter der absoluten Religion", es ist die „Idee der Religion" (ebd. 1 0 4 - 1 1 0 ; vgl. 23.40 - 45). Von der Philosophie ausgehend, macht Vatke die neutestamentliche Christologie, philosophisch gedeutet im Licht von I Kor 2,10, zur Voraussetzung der Erforschung des Alten Testaments. So stehe am Begriff der Wahrheit gemessen dem Christentum „die Gesamtheit der nicht-christlichen Religionen" gegenüber, von denen keine „schlechthin falsch sein kann, jede aber die Wahrheit nur als . . . im Werden begriffen darstellt" (ebd. 114f.). Das Alte Testament wird in komparatistisch-religionsgeschichtlicher Perspektive prinzipiell auf derselben Ebene wie die griechische und die römische Religion gesehen. Für die Seite des Empirischen definiert Vatke acht Epochen der -»Geschichte Israels vom mosaischen bis zum mazedonischen und makkabäischen Zeitalter, in denen sich die Entwicklung von der Naturreligion zum Monotheismus vollzogen habe. Dabei entwirft er ein neues, kritisches Bild der Frühzeit Israels, denn Israels Geschichte läßt sich für ihn nicht mehr als eine Geschichte der mosaischen Theokratie nacherzählen. Zwar nimmt auch Vatke an, daß der „Begriff der Alttestamentlichen Religion" „als Prinzip" „längst vor dem babylonischen E x i l e " vorhanden gewesen sei, seine „vollendete Entwickelung" falle jedoch „erst in dieses spätere Zeitalter" (ebd. 64). Damit ergibt sich trotz allen kritischen Anspruchs ein Bogen von - » M o s e , auf den durch eine Deutung des -»Dekalogs (ebd. 229) „das Prinzip . . . der religiösen Anschauung wie des sittlichen Lebens" „mit Sicherheit" zurückführbar scheint (ebd. 243), zu -»Deuterojesaja, der den „höchsten Standpunkt" repräsentiere, „den das hebräische Prinzip hervorgerufen h a t " (ebd. 525). Ergänzend stellt Vatke dann aber für die Kultgeschichte die These auf, erst -»Ezechiel habe „den ersten Schritt" dazu getan, „ein durchgebildetes System der theokratischen Symbolik" zu entwerfen. Für die Pentateuchkritik hat diese weit über De Wette hinausgehende These die wichtige Konsequenz, daß die entsprechende Gesetzgebung erst in die beginnende Perserzeit (-»Perserreich und Israel) fallen kann (ebd. 5 3 3 - 5 4 2 ) . Die Religionsgeschichte Israels über die Jahrhunderte spiegelt nach Vatke den Konflikt zwischen dem höheren Prinzip des Monotheismus und vielfältigen, durch die ursprüngliche Naturreligion geprägten Religionsformen, der zuerst dadurch entsteht, daß das neue mosaische Prinzip der voraufgehenden, allgemein verbreiteten Naturreligion gegenübertritt. Diese wird aufgrund von Am 5,25f. als Gestirnsdienst geschildert (ebd. 190.249). Vatkes Darstellung des Konfliktes zeichnet sich durch philosophisch qualifizierte Charakterisierungen alttestamentlicher Traditionen aus (vgl. Perlitt; Rogerson).

554

Vatke

Für Vatke gibt es, im Gegensatz etwa zu J . G . -»Herder, keine Uroffenbarung und Offenbarungstradition vor M o s e mehr (Vatke, Religion des A T 193.660); zugleich verfällt auch eine relevante vormosaische Patriarchenzeit der historischen Kritik. Anders als bei De Wette wird das mosaische Prinzip nicht mehr aus ägyptischen Mysterienkulten abgeleitet (ebd. 6 9 2 - 6 9 4 ) , sondern als einzigartige hebräische Besonderheit verstanden (ebd. 700f.). Z w a r liegt damit der Übergang von der Naturreligion zum Monotheismus in Israel; in religionsphilosophischer Perspektive ist dieser Schritt jedoch insofern zu relativieren, als es nicht entscheidend sein soll, ob „die Subjektivität des Göttlichen als Einheit oder Vielheit gesetzt" ist (ebd. 112). Vatke versteht die Religion Israels als eine Zwischenstufe in der universalgeschichtlichen Entwicklung der Idee der Religion, die in Christologie und Ekklesiologie gipfelt. Die Kritik des Alten Testaments zeigt im einzelnen, wie sich die Überwindung der Naturreligion vorbereitet, bevor in der christlichen Religion „die höhere Natur im Menschen mit dem Göttlichen identisch gesetzt" wird (ebd. 1 9 - 2 6 ) . Die Interpretation des Alten Testaments wird zur Illustration eines religionsphilosophisch und geschichtsphilosophisch verstandenen zielgerichteten Prozesses. Vatkes Buch über das Christentum selbst durfte aus universitätspolitischen Gründen nicht die ursprünglich geplante Form einer Fortsetzung der Religion des Alten Testamentes annehmen und erschien 1841 als eine systematische Untersuchung Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältniß zur Sünde und zur göttlichen Gnade. Die geschichtsphilosophische Orientierung auch dieses, in kritischem Bezug auf F.D.E. -• Schleiermacher geschriebenen Werkes ist indessen unverkennbar, wenn Vatke notiert, in Christus habe „die Weltgeschichte... ihren Mittel- und Scheidepunkt erreicht" (Die menschliche Freiheit 514). Mit Hinsicht auf Gen 1 - 3 untersucht Vatke die Entwicklung des Gegensatzes zwischen dem subjektiven Willen und dem göttlichen Willen aus ihrer im Begriff der Gottebenbildlichkeit gemeinten ursprünglichen Einheit (ebd. 228ff.), um dann die Vergebung der Sünde als einen Akt der Gnade zu bestimmen, in dem der göttliche Wille sich „mit dem Bewußtsein und Willen des Subjekts zu freier Identität zusammenschließt" (ebd. 349). Postume Veröffentlichungen erweisen Vatke als einen akademischen Lehrer, der von Hegel nicht zu L. ->Feuerbach weitergeht, sondern die „Frömmigkeit" als ein „lebendig gegenwärtiges Element des Geistes" betrachtet (Religionsphilosophie 246).

3.

Wirkung

Vatke war eine bedeutende Gestalt in jenen intellektuellen Kreisen der Berliner Universität, für die Marheineke die Überzeugung vertrat, es sei „aus der Hegeischen Philosophie nicht herauszukommen, wenn man überhaupt noch Philosophie will"; und auch der Theologe könne „die Hegeische Philosophie nicht mehr umgehen oder ignorieren", wolle er nicht „aus dem Kreise der gegenwärtigen Bildung heraustreten und sich selbst antiquieren" (Marheineke 52). Vatkes Buch von 1835 stieß jedoch nicht nur bei Hengstenberg und weiteren traditionell kirchlich orientierten Gegnern auf energische Ablehnung, sondern fand auch wenig Anerkennung in der Bibelwissenschaft bei Rezensenten wie De Wette und Ewald (vgl. Perlitt). In der alttestamentlichen Wissenschaft gilt Vatke seit J . -»Wellhausens Geschichte Israels nur mehr als ein Vorläufer in der historischen Kritik alttestamentlicher Überlieferungen, wobei Wellhausen sein Werk mit Nachdruck anerkannte (Wellhausen, Geschichte 1 4 - 1 4 . 3 7 9 . 4 2 7 f . ; ders.: Bleek 172.655). Dabei hat sich jedoch der Akzent stark auf die historische Forschung verschoben, und Vatkes religionsphilosophischer Entwurf, sein heuristisches Modell für die Erforschung des Historischen, blieb eine Episode in der Geschichte der Bibelwissenschaft (zur Hegelrezeption vgl. T R E 14,550ff.). Quellen Werke: Die bibl. Theol. wiss. darg. I. Die Religion des AT nach den kanonischen Büchern entwickelt, Berlin 1835 [nicht fortgesetzt]. - Die menschliche Freiheit in ihrem Verhältniß zur Sünde u. zur göttlichen Gnade wiss. darg., Berlin 1841. - Zahlreiche Rez.: Jb. f. wiss. Kritik 1 8 3 0 1839. - Hallische Jb. f. dt. Wiss. u. Kunst 1 8 3 8 - 1 8 4 0 (vgl. Brömse [s.u. Lit.]). - Em/, zu: Philipp Marheineke, Theol. Vorl., hg. v. Stephan Matties/Wilhelm Vatke, 4 Bde., Berlin 1847-1849, I, i x - x x i v . - Postum: Hist.-krit. Einl. in das AT. Nach Vorl. hg. v. Hermann G.S. Preiss, Bonn 1886. - Religionsphil, oder Allg. Phil. Theol. Nach Vorl. hg. v. Hermann G.S. Preiss, Bonn 1888.

Vaux

555

Literatur Heinrich Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben u. seinen Sehr, darg., Bonn 1883. - Gerhard Besier/Christoph Gestrich (Hg.), 450 Jahre Ev. Theol. in Berlin, Göttingen 1989 (s. Reg.).-Friedrich Bleek, Einl. in das AT, 4. Aufl. bearb. v. Julius Wellhausen, Berlin 1878. - Charles A. Briggs, General Intr. to the Study of the Holy Scripture, Edinburgh 1899. - Michael Brömse, Stud, zur „Bibl. Theol." Wilhelm Vatkes, Diss, theol. Kiel 1973. - Ders., W. Vatkes phil. Theol. im Streit der Polemik u. Apologie: Eilert Herms/Joachim Ringleben (Hg.), Vergessene Theologen des 19. u. frühen 20. Jh. Stud, zur Theologiegesch., Göttingen 1984 (GTA 32) 1 2 9 - 1 4 5 . - Thomas K. Cheyne, Founders of O T Criticism. Biographical, Descriptive, and Critical Studies, London 1893. - Ludwig Diestel, Gesch. des AT in der christl. Kirche, Jena 1869 Neudr. Leipzig 1981. - Moritz Drechsler, Die Unwissenschaftlichkeit im Gebiete der Atl. Kritik belegt aus den Sehr, neuerer Kritiker, bes. der Herren v. Bohlen u. Vatke, Leipzig 1837. - Adolf Hilgenfeld, Wilhelm Vatke: Z W T h 27 (1884) 1 9 4 - 2 1 6 (dort 3 6 3 - 3 6 5 sowie in 28 [1885] 5 2 - 7 2 . 1 5 6 - 2 3 2 . 2 5 7 - 2 8 0 einige Nachlaßmaterialien zum AT). - Cornelis Houtman, Inleiding in de Pentateuch, Kampen 1980; dt.: Der Pentateuch, Kampen 1994 (Contributions to Biblical Exegesis and Theology 9). - Martin Kegel, Wilhelm Vatke u. die Graf-Wellhausensche Hypothese, Gütersloh 1911. - Reinhart Koselleck, Art. Gesch. V . - V I I . : GGB 2 (1975) 647 - 717. - Hans-Joachim Kraus, Gesch. der hist.-krit. Erforschung des AT ['1956: v. der Reformation bis zur Gegenwart], Neukirchen 1956 J 1969 3 1982 = "1988. Ders., Die Bibl. Theol. Ihre Gesch. u. Problematik, Neukirchen-Vluyn 1970. - Philipp K. Marheineke, Einl. in die öffentlichen Vorl. über die Bedeutung der Hegeischen Phil, in der christl. Theol., Berlin 1842. - Lothar Perlitt, Vatke u. Wellhausen, 1965 (BZAW 94). - John W. Rogerson, O T Criticism in the Nineteenth Century. England and Germany, London 1984, 6 9 - 7 8 . - Ders., What is Religion? The Challenge of William Vatke's „Bibl. Theol.": Christoph Bultmann/Christoph Levin/Walter Dietrich (Hg.), Vergegenwärtigung des AT, Göttingen 2002, 272 - 284. - Jan Röhls, Prot. Theol. der Neuzeit. I. Die Voraussetzungen u. das 19. Jh., Tübingen 1997 (s. Reg.). - Rudolf Smend, Epochen der Bibelkritik. GS 3, 1991 (BEvTh 109) (s. Reg.). - Henry P. Smith, Essays in Biblical Interpretation, Boston, Mass. 1921. - Robert J . Thompson, Moses and the Law in a Century of Criticism since Graf, 1970 (VT.S 19). - Julius Wellhausen, [ab z 1883: Prolegomena zur] Gesch. Israels, Berlin, I 1878 '1927 Nachdr. Berlin/New York 2001. - Ders. (Bearb.): Friedrich Bleek (s.o.). - Alexandre Westphal, Les Sources du Pentateuque. Etude de Critique et d'Histoire, 2 Bde., Paris 1888-1892. - Eduard Zeller, Die Phil, der Griechen. Eine Unters, über Charakter, Gang u. Hauptmomente ihrer Entwicklung, Tübingen, I 1844. Christoph Bultmann

Vaux, Roland

de

(1903-1971)

(Quellen/Literatur S.556) Geboren a m 17. D e z e m b e r 1 9 0 3 in Paris, wurde R o l a n d Guérin de V a u x 1 9 2 9 zum Priester ordiniert und t r a t in demselben J a h r in den Dominikanerorden ein. N a c h d e m er in Paris Semitische Sprachen studiert hatte, reiste er 1 9 3 3 nach Jerusalem und lehrte v o m folgenden J a h r an an der École Biblique et Archéologique Française. Die Geschichte des alten Israel und die A r c h ä o l o g i e Palästinas wurden die beiden Felder der F o r s c h u n g und der Lehre im Laufe eines in Jerusalem verbrachten Lebens, w o er a m 10. September 1971 starb. De Vaux w a r Herausgeber der Revue Biblique von 1938 bis 1953 und Direktor der École Biblique von 1 9 4 5 bis 1965, was einen Eindruck von dem Einfluß vermittelt, den er auf Generationen von Schülern ausübte. Darüber hinaus sollte m a n nicht vergessen, daß er Hauptinitiator der sogenannten Bible de Jérusalem (vgl. —> Bibelübersetzungen I V / 3 . 1 . ) w a r , von der er selbst die Bücher Genesis, Samuel und Könige übersetzte und die 1956 in einem B a n d erschien. Eingeführt in die A r c h ä o l o g i e durch Père Louis-Hugues Vincent ( 1 8 7 2 - 1 9 6 0 ) , dem Mitarbeiter von Père M a r i e - J o s e p h L a g r a n g e ( 1 8 5 5 - 1 9 3 8 ) , entwickelte de Vaux eine bedeutsame archäologische Wirksamkeit: bereits 1 9 3 7 grub er ein byzantinisches M o s a i k in Mä'in aus, 1 9 4 4 eine Karavanserei in Abu Gös, dann begann er von 1 9 4 6 an eine Reihe von neun K a m p a g n e n in Teil el-Fär'a nahe Nablus, ohne Zweifel Thirza, die H a u p t s t a d t des Nordreiches, deren N a m e siebzehnmal im A T (vgl. I R e g 1 4 , 1 7 u.ö.) v o r k o m m t . Aber die Ausgrabung von Teil el-Fär'a k a m ins Stocken und wurde sogar

556

Vaux

unterbrochen durch die Grabungsunternehmungen in Hirbet Qumrän und seiner Umgebung von 1949 bis 1958 (->Qumran). Auf Anfrage von Gerald Lankester Harding, Direktor des Department of Antiquities von Jordanien, übernahm de Vaux aufgrund seines archäologischen Sachverstandes die Ausgrabung von Höhle 1, die von Beduinen in einer Felswand entdeckt worden war (1949), die der Anlage von Hirbet Qumrän (1951; 1953-1955), die der Höhlen von Wädi Murabba'ät (1952), die der Höhlen 2 - 1 1 von Qumrän (1952-1956), schließlich die der Anlage von 'En Fesha, die sich 3 km südlich von Qumrän befindet (1958). Von 1952 an bis zu seinem Tod war de Vaux Hauptherausgeber der Textfunde aus der judäischen Wüste; ihm unterstand eine internationale und interkonfessionelle Forschergruppe. 1961 legte der gelehrte Dominikaner die 1959 anläßlich der Schweich Lectures der British Academy zusammengefaßten Hauptergebnisse vor, zu denen man aufgrund der Ausgrabungen in Qumrän und seiner Umgebung kommen kann. Das andere Forschungsfeld, das de Vaux am Herzen lag, war die - * Geschichte Israels. Bereits 1934 veröffentlichte er einen Aufsatz mit dem Titel La chronologie de Hazaël et de Benhadad III, rois de Damas. Dieser Aufsatz wurde mit anderen in dem Sammelband Bible et Orient wiederabgedruckt. Indessen legte de Vaux sein ganz besonderes Interesse auf die Erforschung der Patriarchen in ihrem historischen Umfeld und widmete diesem Problem zwischen 1946 und 1965 zahlreiche Aufsätze. In der Folge nahmen andere Interessenschwerpunkte Platz ein, zuallererst die Lebensordnungen des Volkes Israel, aber auch die -»Opfer des Alten Testaments. De Vaux hatte vor, eine Geschichte Israels in drei Bänden zu schreiben, die er mit den Patriarchen beginnen lassen wollte, was heutzutage bestreitbar erscheinen mag. Nur der erste Band war zum Zeitpunkt seines Todes vollendet und deckte die Periode von den Ursprüngen bis zur Etablierung in Kanaan ab. Vom zweiten Band wurden nur die schon redigierten Kapitel über die Richterzeit veröffentlicht (1973). De Vaux hat ein unvollendetes Werk hinterlassen. Er hat jedoch als Archäologe und Historiker viele Schüler inspiriert und durch seine Schriften eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Quellen 1. 'Werke (Auswahl): Les patriarches hébreux et les découvertes modernes: RB 53 (1946) 321 — 348; RB 55 (1948) 321-347; RB 56 (1949) 5 - 3 6 ; dt.: Die hebräischen Patriarchen u. die modernen Entdeckungen, Leipzig 1959. - Art. Israël (Histoire d'): DBS 4 (1949) 729-777. - Les institutions de l'Ancien Testament, Paris, I 1958 J 1989 II 1960 3 1990; dt.: Das AT u. seine Lebensordnungen, Freiburg i. Br./Basel/Wien, I 1960 II 1962. - L'archéologie et les manuscrits de la Mer Morte. The Schweich Lectures of the British Academy 1959, London 1961; engl.: Archaeology and the Dead Sea Scrolls, Oxford 1973. - Les sacrifices de l'Ancien Testament, 1964 (CRB 1). - Les patriarches hébreux et l'histoire: RB 72 (1965) 5 - 2 8 ; dt.: Die Patriarchenerzählungen u. die Gesch., 1965 (SBS 3). - Bible et Orient, Paris 1967; engl. (Ausw.): The Bible and the Ancient Near East, London 1971. - Histoire ancienne d'Israël, I 1971 II 1973 (EtB 57). - Fouilles de Khirbet Qumrân et de Aïn Feshkha. I. Album de photographies, répertoire du fonds photographique, synthèse des notes de chantier du Père Roland de Vaux, hg. v. Jean-Baptiste Humbert/Alain Chambon, 1994 (NTOA.SA 1).- Die Ausgrabungen v. Qumran u. En Feschcha. IA. Die Grabungstagebücher, dt. Ubers, u. Informationsaufbereitung durch Ferdinand Rohrhirsch/Bettina Hofmeir, 1996 (NTOA Ser. archaeologica 1A). 2. Bibliographie: Catalogue de l'École Biblique et Archéologique Française de Jérusalem/Catalogue of the French Biblical and Archaeological School of Jerusalem on CD-ROM, Leiden/Boston 2000. Literatur L'Ancien Testament. Cent ans d'exégèse à l'École Biblique, hg. v. Jean-Luc Vesco, 1990 (CRB 28). - Pierre Benoit, Activités archéologiques de l'École Biblique et Archéologique Française à Jérusalem depuis 1890: RB 94 (1987) 397-424 - Raymond Jacques Tournay, In Memoriam Le Père Roland de Vaux: RB 79 (1972) 4 - 6.

Jacques Briend

Veda und Upanishaden

557

Veda und Upanishaden 1. Die vedische Literatur 2. Das vedische Ritual 3. Das vedische Pantheon 4. Der vedische Mythos 5. Die Entwicklung des vedischen Rituals 6. Vom vedischen Ritual zur Philosophie der Upanisads 7. Von den Upanisads zum Sämkhya und Vedänta (Anmerkung/Literatur S. 565) 1. Die vedische

Literatur

Als Veda werden verschiedene Sammlungen von - aus ganz unterschiedlichen Zeiten stammenden - Texten bezeichnet, die Verwendung im Kult der vedischen S t ä m m e fanden und deren gemeinsamer Bezugspunkt das Ritual ( - » R i t u s ) ist. 1 In der ältesten dieser Textsammlungen, dem Rgveda, liegen uns die aus der 2. Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrtausends stammenden (metrischen) „Hymnen" vor, die anläßlich des -»Opfers rezitiert wurden. Geordnet nach ihrer tatsächlichen Verwendung im vedischen Ritual und unter Beigabe der Melodien, nach denen sie zu singen sind, bilden sie zugleich den (Kern des) Sämaveda, der Sammlung der rituellen Gesänge. Die teils metrischen, teils prosaischen Opfersprüche, die einer der Priester leise zu sprechen hatte, stellen den Inhalt des dritten Veda, des Yajurveda, dar. Der vierte Veda schließlich, der Atharvaveda, enthält Zauber für alle möglichen Anlässe - Segen für Mensch und Vieh, Bannung von Krankheiten, Abwehr böser Mächte, Liebeszauber - und wurde erst sekundär dem vedischen Opferkult adaptiert, dergestalt daß er einem der Priester zugeordnet wurde, der die einzelnen Ritualhandlungen zu überwachen und nur bei etwaigen Störungen oder Fehlern einzuschreiten hatte, um diese eben mit Hilfe seines Textes „gutzumachen". Der ganze Kult mit all seinen Details war Gegenstand vielfältiger Deutungen, die ihren Niederschlag vor allem in den Brähmanas fanden, umfangreichen Texten, die sich an die vier genannten Veden anschließen (s. u. 5.). Anders als diese bieten die Srauta- und Grhyasütras detaillierte Beschreibungen der einzelnen Rituale, bestimmt für die verschiedenen Priester bzw. den einzelnen pater familias, in dessen Händen die Durchführung des Hauskults lag (s. u. 2.) Den Abschluß der vedischen Literatur bilden Aranyakas - Textsammlungen speziell für den den Veda erlernenden Schüler - und Upanishaden {Upanisads). Vor allem letztere - eine Sammlung von einzelnen Traktaten zur Natur des Seins - lassen deutlich einen gesellschaftlichen und religiösen Umbruch und eine Weiterentwicklung philosophischer Reflexion erkennen. Gleichwohl sind auch sie dem Opfer/Ritual noch in hohem Maße verpflichtet (s.u. 6.). Im folgenden soll in erster Linie die Entwicklung, die v o m (älteren) Veda zu den Upanisads führte, in ihren Grundzügen nachgezeichnet werden. Deshalb werden vor allem solche „ E l e m e n t e " des älteren Veda im Vordergrund stehen, auf denen die Konzeptionen der Upanisads fußen. 2. Das vedische

Ritual

Im Verlauf des 2. vorchristlichen Jahrtausends wanderten kriegerische S t ä m m e aus dem Osten Irans ( - » I r a n i s c h e Religionen) - dort blieben die mit ihnen verwandten (späteren) Zarathustrier zurück — über den Hindukush nach Indien in das Gebiet des heutigen Panjab ein. Im Mittelpunkt der religiösen Vorstellungen dieser sich selbst als Aryas, „Gastfreundliche", bezeichnenden Viehzüchter stand die kultische Verehrung von G ö t tern, die Glück und Wohlstand, aber auch kriegerische Überlegenheit sicherten - dies als ihr Teil eines Vertrags, den sie mit den M e n s c h e n geschlossen haben. Deren Leistung in diesem Bund, der Teil eines sehr k o m p l e x e n Tauschsystems ist, besteht vor allem darin, die G ö t t e r mit Speise und Trank zu „ b e w i r t e n " . D a ß diese die Einladung zu solchen Opfermahlen annehmen und auch weiterhin zu diesen Gelagen k o m m e n werden und sich den M e n s c h e n geneigt zeigen, ist nicht zuletzt den kunstvoll geformten Opferhymnen zu verdanken, die denn auch im R g v e d a seit frühester Z e i t gesammelt vorliegen ( s . o . 1.). Den R a h m e n für diese Götterbewirtungen bildeten k o m p l e x e Rituale, deren wichtigste auf die Epiphanie der geladenen G ö t t e r zielten: Herstellung — und (als Abschluß des Rituals) Beseitigung — eines Kultplatzes, Epiklese, Kulthandlungen, die Adventus und Präsenz der Götter in Szene setzen, Bittgebete und als H ö h e p u n k t das Opfer, die Entäußerung eines materiellen Objektes, sei es Sorna - ein berauschendes Getränk, das den Göttern „Unsterblichkeit" sicherte —, sei es ein T i e r , seien es M i l c h p r o d u k t e

558

Veda und Upanishaden

oder Vegetabilien. Neujahr, Wechsel der Jahreszeiten, A u s s a a t , Ernte, „ K ö n i g s w e i h e " oder Kriegszüge waren Anlässe für den Einsatz dieser Rituale. Neben dem hier greifbaren „öffentlichen" Kult standen die häuslichen Rituale, die von jedem pater familias mit seinem Hausfeuer eigenständig durchgeführt wurden (s. o. 1.). Initiation, Heirat ( - » E h e / Eherecht/Ehescheidung), Geburt, - » T o d - dies sind hier die Bruchstellen, die rituell zu überbrücken sind. Solche konkreten Bedürfnislagen bestimmen die Wahl der Götter, die angerufen und um Beistand gebeten werden, und die spezifische Gestalt des eingesetzten Rituals - definiert etwa durch die Art des Opfers, durch die Opfersubstanz, die Opfersprüche oder die Gestik. 3. Das vedische

Pantheon

Die vedische Religion ist ein klassischer -»Polytheismus: konzipiert ist ein H a n d e l n einer Mehrzahl persönlich vorgestellter Götter, wobei dieses als aufeinander bezogen, als auf die „ W e l t " gerichtet, als die Menschen betreffend dargestellt wird. Konstitutive Elemente sind a) Gottesvorstellungen, - und auf diesen fußend - Göttergruppierungen und Pantheonbildung, b) Kultus, Rituale und Riten (s.o. 2.) und c) Mythen (s.u. 4.). Gottesvorstellungen sind ein Grundmuster einer soziomorphen Interpretation von Welt, die Sozialbeziehungen als Modell für eine Deutung nicht-sozialer Verhältnisse heranzieht. M i t diesen Göttern sind somit Sozialbeziehungen konzipierbar - G r u n d l a g e des gesamten Kultus. Die derart konstituierten Götter sind durch - » N a m e , Epitheta, „ E h r e n " und Funktionen sowie Wirkungsbereiche definiert, und sie gehören einem Pantheon zu - die Zahl handelnder Götter ist in der vedischen Religion traditionell auf 33 begrenzt - , d a s über Verwandtschaft, „ A l t e r " , Arbeitsteiligkeit und Kooperation, aber auch Konkurrenz und Konflikt strukturiert ist und d a s seinerseits - durch seinen Systemcharakter - den Gottesgestalten ausgeprägte Konturen verleiht: Der Himmelsgott Dyaus, seine Frau, die Erdgöttin PrthivT, und ihre Tochter, die über die Güter der Unterwelt gebietende Morgenröte Usas, bilden die alte Götterfamilie, zu der auch Indra, der „ H i m m e l s s o h n " , der Gott des kriegerischen „ D r a u ß e n " , der „regellosen" Nicht-Seßhaftigkeit, gehört; sein Gegenpol ist Varuna, der über die Ordnung der Seßhaftigkeit und deren Einhaltung wacht und so eine Gruppe mit anderen Göttern bildet, deren Funktion gleichfalls der Schutz gesellschaftlicher Grundprinzipien ist - Mitra schützt Verträge jeglicher Art, Aryaman das Gastrecht, Bhaga die gerechte Verteilung unterschiedlichster Güter; die Asvin, die göttlichen Zwillinge und - als solche - die prototypischen Helfer des Menschen, stehen in einer engen, doch nicht spannungsfreien Beziehung zu lndra; Rudra, ein Heil- und Seuchengott; Marut, die göttlichen Gegenstücke der Initianden, eine Gruppe von Göttern, die dadurch an Indra gebunden ist, daß die Marut unter lndra kämpfen.

Die N a m e n der meisten Götter des Pantheons der (rg)vedischen Religion sind etymologisch undurchsichtig, „nicht-sprechend" also: spezifische Eigenschaften und Funktionen werden daher durch zahlreiche Epitheta angezeigt, die, als Beinamen z u m N a m e n gesetzt, ihrerseits ein System von kategorialen Querverbindungen bilden, d a s d e m Pantheon eine spezifische Binnenstruktur aufprägt. Gleiches leistet der Entwurf einer Arbeitsteiligkeit: verschiedene Götter sind für unterschiedliche Bereiche und Funktionen zuständig. D o c h nicht nur werden von Göttern bestimmte Funktionen erfüllt und Aspekte der Wirklichkeit hergestellt oder garantiert. Sie sind auch Teil der Welt. In besonders ausgeprägter Weise ist dies bei den ortsgebundenen Bereichsgöttern der Fall, die - gewissermaßen - das materielle Substrat von Weltbereichen sind: Väta, der Wind(gott), Usas, die Göttin „ M o r g e n r ö t e " , Parjanya, der Gott des Regens. D o c h auch die typischen Funktionsgötter und die voll personalisierten Götter „ w o h n e n " an bestimmten Orten dieser Welt. D o c h sie sind - anders als die Bereichsgötter - nicht an diese gebunden, w a s (u.a.) unmittelbare Folgen für die Kommunikation mit ihnen hat, können sie doch — wenn sie denn wollen - zu den zu ihren „ E h r e n " veranstalteten Opfern kommen. Und so sind denn sie vornehmlich die Götter, denen der vedische Kult gilt.

Veda und Upanishaden 4. Der vedische

559

Mythos

Über diese Götter, ihre Beziehungen und Konflikte berichtet der —• Mythos — definiert als eine traditionelle Erzählung von Verbindlichkeit für die sie tradierende Gruppe. Von seinen bevorzugten Darstellungsmodi ist vor allem das Mittel der Dramatisierung geeignet, das - auch gegenläufige - Handeln einer Mehrzahl von Göttern sichtbar zu machen, da der Mythos seine Plausibilität nicht selten aus Alltagserfahrungen bezieht. Die Bedeutung kriegerischen Lebens für die rgvedische Gesellschaft widerspiegelnd, wird im zentralen Mythos des Rgveda ein Kampf - von Göttern gegen Götter - gewählt, um zu beschreiben, wie der Jetzt-Zustand der Welt, getrennt durch eine Zäsur von der Vorzeit - eben jenen Kampf —, begründet ist. Protagonisten dieses Götterkampfes sind die Asuras, die urzeitlichen Götter des jegliches Leben unmöglich machenden Chaos, auf der einen und die sie nach ihrem Sieg entmachtenden Götter auf der anderen Seite. Mit ihrer Übernahme der Herrschaft k o m m t es zur Entstehung der Welt, und Teile von ihr gehen aus (Teilen der) unterlegenen Götter hervor — so etwa der Himmel - oder diese werden in Randbereiche der Welt abgedrängt, wo sie in sicherer Entfernung von der in der Mitte der Welt „entstehenden" (vedischen) Gesellschaft wohnen. Dieser (in verschiedenen Varianten überlieferte) kosmogonische Mythos (—• Ursprungsmythen) verflochten mit einem uralten Herrschaftssukzessionsmythos - ist zugleich ein politischer. Denn entsprechend der Vorstellung, daß sich etwa Indra, der Kriegsgott, im Anführer des Stammes „verkörpere", berichtet der Mythos auch von (aktueller) Eroberung von Siedlungsgebiet. Zentrale Themen dieses „Landnahme-Mythos" spiegeln sich denn auch im großen Sorna-Opfer wider, das vornehmlich zu Ehren Indras gefeiert wird und in dessen Rahmen sein „menschliches" Gegenstück — etwa in einem Kampf oder in einem Redewettstreit - bestimmt wird (s.u. 5.). Gegenseitige Prägung von Mythos und Ritual ist hier somit - wie etwa auch im Falle des alten (nurmehr erschließbaren) Initiationsrituals der rgvedischen Gesellschaft - wahrscheinlich. 5. Die Entwicklung

des vedischen

Rituals

Der vedische Kult ist durch die ganze Frühzeit hindurch anikonisch. Das grundsätzliche Problem eines solchen Kultes, seinen Bezugspunkt zugleich plausibel und verbindlich zu halten, findet hier seine Lösung darin, daß die Götter in rituellen Epiphanien durch Menschen - und zwar die das Ritual verrichtenden „Priester" - dargestellt werden, die (in aller Regel) die Funktion des Gottes erfüllen, den sie repräsentieren (s.o. 4.). Wurden die verschiedenen Rituale in ältester Zeit von allen Mitgliedern der Gesellschaft, die die einzelnen „Priesterämter" im Austausch bekleideten, durchgeführt, zog die zunehmende Komplexität des Rituals die Herausbildung eines religiösen Spezialistentums nach sich. Dies aber vereinigte das religiöse Monopol in den Händen einer Gesellschaftsgruppe, der Brahmanen, der nun berufsmäßigen Priester. Daß die rgvedische Religion keine „Tempelreligion" ist, daß — abgesehen von den Bereichsgöttern (s.o. 3.) - alle Götter (etwa zum Opfer) herbeigerufen werden müssen (so ihnen denn nicht das zum Himmel „auffliegende" Opferfeuer die Opfergaben bringt), führte zu einer enormen Bedeutung des Wortes. Und die unbedingte Zusammengehörigkeit von N a m e und Benanntem, die Überzeugung, durch die lautliche Aktualisierung des Namens im Ritual die Präsenz des Namensträgers bewirken zu können, mithin der Glaube an die schöpferische Kraft des Wortes und der —•Sprache, deren Wirken man auch in Flüchen und Verwünschungen (—»Segen/Segen und Fluch) zu erkennen meinte, ließ die Vorstellung einer in den Hymnen und rituellen Akten wirkenden Potenz - brahman genannt - entstehen, über die der Priester verfügen und mit der er sich selbst die Götter zu Willen machen kann. „Theologisch" konnten solche Vorstellungen abgesichert werden, da es (hauptsächlich) die Priester waren, die die „heiligen" Texte des Veda — vom Lehrer auf den Schüler - tradierten und die dadurch die Art und Weise des Verständnisses der vedischen Texte kontrollierten. Dies bereitete mit den entscheidenden Umbruch in der

560

Veda und Upanishaden

vedischen Weltauffassung vor, der zwischen (etwa) 1000 und 700 v. Chr. stattgefunden haben muß. Der harte Lebenskampf, den die Ausbreitung der vedischen Kultur in den Osten Indiens mit sich brachte, scheint ganz wesentlich zu einer Umgestaltung des Rituals beigetragen zu haben: Unter Ausschaltung (möglichst) aller Unsicherheitsfaktoren - ausgehend von der Vorstellung, ein in allen Einzelheiten vorschriftsmäßig durchgeführtes Ritual müsse (zwangsläufig) die gewünschten Resultate zeitigen - wurde ein völlig aus sich selbst wirkendes Ritual, ein Instrument der Weltbeherrschung, entwickelt, das zugunsten des einen Opferveranstalters (yajamana) von den Priestern inszeniert wurde: In dieser konstruierten Welt des Rituals sind Gefahren kalkulierbar, beherrschbar, eliminierbar - eben durch das Ritual. Und das erstrebte Ergebnis wird erzielt, da das Ritual (im allgemeinen) eine paradigmatische Urhandlung wiederholt, die einst ein solches zeitigte. Daß Rituale also wiederholbar sein müssen - und zwar Punkt für Punkt - , läßt Wissen und Wissensträger von allerhöchster Bedeutung werden. Und so stehen, wie es in einem vedischen Text heißt (Väjasaneyi-Samhitä XXXI,21), selbst die Götter in der Macht des wissenden Priesters. Bei diesem Wissen handelt es sich nun nicht nur um die Kenntnis ritueller Details, sondern auch und vor allem um das Wissen von „Zusammenhängen" (bandhu). Die Dinge sind nicht nur das, (als) was sie (erscheinen, sondern hinter ihrer Fassade verbirgt sich ihr - oftmals „eigentliches", „wahres" Wesen: Wirklichkeit wird somit grundsätzlich deutungsbedürftig. Die Deutung der Welt (mitsamt des Menschen) mittels sozio-, techno- und biomorpher Interpretationsmodelle - und eine solche ist seit frühester Zeit faßbar - hatte ein Geflecht von Beziehungen zwischen (all) ihren „Elementen" geschaffen, wobei einige wenige vorgegeben - gewissermaßen natürlich - sind, die meisten aber auf Ähnlichkeiten, Analogien oder (bloßer) klanglicher Assonanz beruhen: Solche Vernetzung macht die Welt zu einem System — alles ist mit allem verbunden —, und folglich haben Eingriffe in Teil(system)e Konsequenzen für das Ganze. Es ist diese Vorstellung, die die Handlungsanweisungen der Brähmanas prägen: Der Opferplatz ist die Welt, und was immer auf ihm geschieht, hat Folgen in der und für die Welt. Von hier lassen sich die Kräfte des Weltgeschehens steuern, hier sitzt gewissermaßen das Kraftzentrum - das bereits genannte brahman —, über das der Priester gebietet: „Die Sonne ginge nicht auf, opferte er nicht (morgens) eine Milchspende ins Opferfeuer: Eben deshalb opfert er diese" (Satapatha-Brähmana 11,3,1,5). Da auch die eigene Person Teil dieses Netzwerk ist, hat rituelles Geschehen (immer) auch Rückkoppelungen auf den Opfernden selbst. Und so sind Ritual, eigene Person und Außenwelt die drei Bereiche, die immer und immer wieder miteinander verbunden werden: „Die Milch von zwei Kühen opfere der Priester für einen, der Vieh wünscht. . . . Durch die erste Kuh melkt er die Erde" - diese Milch wird denn auch in einen irdenen Topf gemolken - , „den Himmel durch die zweite. Nachdem er den irdenen Topf mit der ersten Melkung ans Feuer gesetzt hat, gießt er die zweite Melkung hinzu. Dadurch gießt er (den) Samen (des Himmels) in die Vulva (der Erde und erzeugt dem Opferherrn Vieh)" (Taittiriya-Brähmana 11,1,5,4-5). Es dürfte deutlich sein, daß sich nicht (ohne weiteres) zwischen Ritual und -»Magie - zumindest so wie diese gemeinhin verstanden wird - unterscheiden läßt. So kennzeichnet etwa die Technizität „magischer" Akte mit ihren sehr präzisen Zielvorgaben („Wer mich aus östlicher, aus südlicher, aus westlicher, aus nördlicher Himmelsrichtung, von oben, von unten anfeindet, . . . " , Käthaka VII,2) und ihr performativer Charakter weithin auch das vedische Ritual. Die charakteristischen Elemente dieses anikonischen vedischen Kults — rituelle Inszenierung göttlicher Epiphanien (sie machte die Priester im wahrsten Sinne des Wortes zu „menschlichen Göttern" [Satapatha-Brähmana 11,2,2,6]), Bedeutung des gesprochenen Wortes, Vorstellung der Regeneration der Welt durch das Ritual und der Neugeburt des Opfernden aus ihm (beides offenbar abstrahiert aus dem Neujahrsfest), Erwerb einer himmlischen Nachtod-Existenz durch das Opfer — sollten die Entwicklung der kommenden Jahrhunderte bestimmen. Vor allem gegen die Vormachtstellung der Brahmanen - letztlich wurzelnd in ihrer „Veda-Autorität" - regte sich alsbald Widerstand,

Veda und Upanishaden

561

der schließlich zur Formierung der nicht-/anti-vedischen „Asketenbewegung" führte, aus der u.a. der -»Buddhismus und der —• Jainismus hervorgingen. Es waren dann die Upanisads, in denen die u. a. in dieser Asketenwegung entwickelten Konzeptionen - wiederholt dargelegt nicht von Brahmanen, sondern von Kshatriyas (s.u. 6. [Ende]) - in die brahmanische Wissenstradition integriert wurden. 6. Vom vedischen

Ritual zur Philosophie

der

Upattisads

Bereits in jüngeren Teilen des Rgveda und in hohem Maße im Atharvaveda wird das Bemühen sichtbar, die Vielheit der Erscheinungswelt auf ein Prinzip zurückzuführen: Ein Gott, das Eine - oder im Atharvaveda konkreter - die (eine) Sonne, die (eine) Atemkraft, der (eine) axis mundi. Zwar stand auch den Brähmanas die (letztliche) Einheit allen Seins fest, doch trat sie vor der Erfassung und Vernetzung der einzelnen Elemente dieses Seins immer wieder in den Hintergrund; (bezeichnenderweise) allein im Bereich des Pantheons kam es zu einer VeremAe/ilichung. Doch auch dieser eine Gott, Prajäpati, war ein Gott des Opfers - Opfernder und Opfer zugleich —, über das allein seine kosmogonische Funktion hinausweist. Diese weitgehende Konzentration auf das Opfer ließ in den Brähmanas vergleichsweise wenig Raum für ein Hinterfragen des propagierten Weltbildes. Gleichwohl war die Tatsache, daß es für diese „manipulatorische" Opfertechnik unabdingbar war, die Daseinsfaktoren und ihr (Zusammen-)Wirken in einiger Vollständigkeit zu erfassen und zu bestimmen, von wesentlicher Bedeutung für die Konzeptionen der Upanisads. Auf dieser Grundlage und durch weitere Durchdringung des „Seins" treiben sie die Suche nach dem Einen durch stetige Reduktion und durch eine Kombination von Wahrnehmung, Schlußfolgerung, (realem und fingiertem) Experiment und Spekulation in bemerkenswerter Beharrlichkeit voran: Sie suchen nach der Essenz der Essenzen, nach der Wahrheit des Wahren, nach dem, „durch das man das, was man (noch) nicht erkannt hat, erkennen kann" (Chändogya-Upanisad VI,1,3). Und in welcher Beziehung dieses Eine zur empirischen Welt steht, ist eine Frage, deren Beantwortung in den Upanisads breiten Raum einnimmt: Es ist das Erste, das Höchste, die Grundlage, die causa materialis, der Schöpfer, das alles belebende Prinzip. Oftmals ist deshalb die Schöpfung als ein Akt der Selbstentfaltung dieses Einen konzipiert, in dem es das All aus sich entläßt. So dienen denn die kosmogonischen Entwürfe der Upanisads (oftmals in erster Linie) dazu, die Existenz des Einen hinter der Vielfalt der Erscheinungswelt zu erweisen: das Bestreben der Upanisads, eine Vision der Einheit allen Seins zu schaffen, bestimmt nachhaltig ihre Argumentationsmuster und Plausibilitätsschemata. Es war ein langes, tastendes Suchen, ehe das brahman als dieses Eine ausgemacht war. Vielerlei Beweisführungen - oft im Hinblick auf die Frage, was denn „Träger des Lebens" sei - hatten zuvor etliche Faktoren als jeweils höchstes Prinzip und unter diesen insbesondere den Raum („Äther"), den Wind und den Atem als Urgrund der Welt und allen Lebens bestimmt (vgl. Brhadäranyaka-Upanisad 111,7,2; Chändogya-Upanisad 1,9,1). Doch erst mit dem brahman kristallisierte sich eine Entität heraus, auf die, vorgeprägt in langer historischer Entwicklung (s.o. 5.), alle von einem Urprinzip geforderten Eigenschaften projiziert werden konnten. Daß dieses als „belebender" Faktor, als -*Seele der (in biomorpher Interpretation) als Organismus, als Lebewesen gedeuteten Welt betrachtet wurde, ist hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis dieses Urprinzips zum -»Menschen selbst, zum Selbst des Menschen, von besonderer Bedeutung. Denn nach dem Mikro-/Makrokosmos-Modell, das zwischen Welt und Mensch eine weitgehende Parallelität konstruiert, und entsprechend der Vorstellung des Rituals, der zufolge der das Opfer Ausrichtende, der „Opferherr", mit der Welt identisch, wesenseins ist, wurde die „Seele" der Welt und die des Menschen in eins gesetzt - eine Konzeption von größter Tragweite für die nachfolgende Entwicklung der indischen Philosophie (s.u. 7.): „Kleiner als ein . . . Hirsekorn oder ein enthülstes Hirsekorn - ein solches Selbst gehört mir innen in meinem Herzen. Größer als die Erde, größer als der Raum zwischen Himmel und Erde, größer als der Himmel . . . - ein solches Selbst gehört mir innen in meinem Herzen. Dieses [mein Selbst] ist das brahman" (Chändogya-Upanisad 111,14,3-4).

Bis dieses Streben nach Vereinheitlichung allerdings auf die Seelenvorstellung(en) übergegriffen und zur Vorstellung der einen Seele geführt hatte, war es ein weiter Weg.

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Veda und Upanishaden

Zunächst waren die Upanisads auch in der Frage, was denn das Wesentliche, das eigentlich Wichtige des Menschen ist, in den vorgezeichneten Bahnen verblieben. Entsprechend der Vorstellung, daß zum einen die äußere Form Identität garantiert und daß zum anderen erst der Name eine Sache zu erfaßbarer Wirklichkeit und damit letztlich zur Existenz erhebt, sahen die Upanisads, wie schon die Brähmanas, zum einen a) im Körper, zum anderen b) im Namen den Menschen selbst: a) ,,,Was seht ihr (als euer Selbst)?' - ,Unseren vollständigen Körper sehen wir (in eine Schale voll Wasser blickend) als unser Selbst, es entspricht ihm bis zu den Haaren und Nägeln' - ,Das Selbst ist dies (, was ihr im Wasser seht)'" (Chändogya-Upanisad VIII,8,1-3), b) „,Wenn ein Mensch stirbt, was verläßt ihn dann nicht?' - ,Der Name ist es, der ihn nicht verläßt. Denn ohne Ende ist der Name'" (Brhadäranyaka-Upanisad 111,2,12). Doch der schnelle Verfall des Körpers nach dem Tode machte die Vorstellung, der Körper sei der Mensch an sich, unattraktiv, und auch der Name als das Wesentliche des Menschen war zu wenig mit anderen Vorstellungen - etwa von den Funktionen des Körpers - vereinbar, als daß er auf Dauer von entscheidender Bedeutung hätte bleiben können. Daher dienten — bereits auch in vorupanischadischer Zeit — andere Komponenten des Lebens, vornehmlich solche, die sich sichtbar beim Tode ablösen, als Interpretamente von Selbst und Ich. Und diese - Atem, Farbe, Blut, Schatten, Spiegelbild, Männchen im Auge - werden denn auch in den Upanisads immer wieder genannt, wenn die Frage erörtert wird, was denn den Mensch im eigentlichen Sinne ausmache. Und die „pluralistische" Interpretation von Person, also die Annahme einer Mehrzahl parallel existierender „Selbste", sicherte diesen „Seelenvorstellungen" ein Fortleben. Doch allmählich wird als das Selbst des Menschen ein in seinem Inneren liegender Kern ausgemacht, der von für konkrete physiologische und psychische körperliche Prozesse zuständigen Faktoren - wie etwa dem Atem oder dem Denkvermögen - verschieden ist. Dieser Kern aber tritt (nur) dann in Erscheinung, wenn er sich - etwa in Träumen, bei Ohnmächten oder (und dann endgültig) im Tode - vom und aus dem Körper löst, den in solchen Fällen (etwa) der Atem am Leben erhält (s. Brhadäranyaka-Upanisad IV,3,12). Inbesondere außerhalb des Körpers also ist er der Träger der persönlichen Existenz des Menschen. Und als dieser Kern (und zugleich als das dem Körper Leben verleihende Prinzip) gilt - dies die maßgebliche Seelenvorstellung der alten Upanisads — der ätman, die eine Seele des Menschen, die als wesenseins mit der „Weltseele", dem brahman, betrachtet wurde (s.o.). Unabhängig von dieser Vereinheitlichung der Seelenvorstellungen verlief die Entwicklung der Wiedergeburtslehre (-»Wiedergeburt). Doch auch sie erhielt ihre „klassische" Gestalt - eine Seelenwanderungslehre (-> Seelen Wanderung) (s.u.) - in den alten Upanisads. Ausgangspunkt scheint — darauf deutet manches hin - die Vorstellung gewesen zu sein, daß der Verstorbene nach einem längeren Aufenthalt im himmlischen Jenseits, das er sich durch die Darbringung von Opfern erwirbt, in seiner eigenen Familie wiedergeboren wird (weshalb denn etwa auch Brhadäranyaka-Upanisad 111,9,17 der eigene Sohn als „Selbst" gelten kann). Deutlich ist dabei die postmortale Existenz nach zentralen Vorstellungen des Kults konstruiert: So wie die Götter vom Opfer leben, das ihnen der Mensch darbingt, so lebt auch dieser - nach dem Tode — von seinem Opferverdienst. In diesem Jenseits - so die vedische Anschauung - blieb die Persönlichkeit des Verstorbenen gewahrt, kamen doch dort seine Bestandteile wieder zusammen, die sich beim Tode in ihre kosmischen Gegenstücke aufgelöst hatten (Atemkraft, Rede-, Seh-, Hörund Denkvermögen gehen - respektive - in Wind, Feuer, Sonne, Mond und Wasser ein [s. u.]). Diese Restitution leistete zum einen das (korrekt durchgeführte) Bestattungsritual {-*Bestattung) seitens der Hinterbliebenen, dem deshalb entscheidende Bedeutung zukam, zum anderen - dies allerdings erst in jüngerer vedischer Zeit greifbar - der Erwerb eines „Selbst" im Himmel durch die Darbringung (bestimmter) Opfer. Mit der — offenbar sehr alten - Vorstellung, daß der Mensch seine himmlische Existenz dereinst wieder aufgebe (bzw. - so eine in den Upanisads greifbare Variante - auf eigenen Wunsch aufgeben könne), und mit derjenigen, daß ein Leben im Jenseits weitgehend so ablaufe

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wie eines im Diesseits, also mit einem (wie auch immer beschaffenen) Tod „endet", sowie mit der von den Gegnern des vedischen Ritualismus (u.a. der Asketenbewegung spät-vedischer Zeit [s.o. 5.]) verfochtenen Kritik, den im Jenseits Weilenden ereile der „Wiedertod" (punarmrtyu), wenn erst seine durch das Ritual erworbenen Verdienste aufgezehrt seien, bahnte sich der Glaube an, der Mensch (als solcher) sei in eine - anfangsund endlose — Kette von Wiedergeburten eingebunden. Erst allmählich - offenbar im Zuge der oben skizzierten Vereinheitlichung der Seelenvorstellungen - entwickelt sich aus dieser Wiedergeburtsvorstellung die einer Wanderung einer Seele, faßbar erstmals in einem späten Textstück der alten Upanisads (Brhadäranyaka-Upanisad IV,4,3), womit das Problem der Identität der „zwei" zu verschiedenen Zeiten lebenden Menschen gelöst ist. In ihrem jeweiligen Schicksal, ihrer Existenzhöhe, ist diese {eine) Seele von den „Lebensleistungen" des Menschen abhängig, die post mortem bilanziert werden, da ein enger Zusammenhang von Tun und Ergehen postuliert wird - dies die Grundlage der sich in den alten Upanisads erst langsam Bahn brechenden karman-VVorstellung, die als etwas Neues eingeführt wird, von dem bislang nur wenige „Eingeweihte" gehört haben: „,Yäjnavalkya, wenn das Sprechvermögen des verstorbenen Menschen ins Feuer eingeht, sein Atem in den Wind, seine Sehkraft in die Sonne, sein Denkvermögen in den Mond, sein Hörvermögen in die Himmelsgegenden, sein Leib in die Erde, sein Selbst in den Raum, sein Körperhaar in die Pflanzen, sein Kopfhaar in dje Bäume, sein Blut und Same ins Wasser, wo bleibt da der Mensch?' — ,Reiche mir Deine Hand, Artabhäga! Wir beide wollen dies alleine in Erfahrung bringen. Nicht finde dieses unser [Gespräch] in der Öffentlichkeit statt.' Sie gingen beide hinaus und unterredeten sich. Wovon sie miteinander sprachen, das war das Karman, was sie hervorhoben, war das Karman: Gut wird einer durch gute Werke, schlecht durch schlechte Werke" (Brhadäranyaka-Upanisad

111,2,13).

Hier ist als die treibende Kraft der Wiedergeburt - und offenbar als das „durchlaufende" Prinzip - das Karman ausgemacht, das auch eine Erklärung für deren jeweilige Art liefert, also etwa dafür, weshalb sich die Lebensumstände des Menschen so verschieden gestalten (vgl. Chändogya-Upanisad V,10,7). Beseitigt werden kann das Karman durch Wissen (s.u.), weshalb „am Wissenden schlechte Tat nicht haftet, wie Wasser nicht am Blatt eines Lotos haftet" (Chändogya-Upanisad IV,13,3). Da die Seele (ätman) als Subjekt der psychischen Vorgänge, als das erkennende, als das handelnde und damit auch das (er)leidende Prinzip gilt, war (spätestens) mit der Abwertung des Körpers als einer reinen Hülle der Seele deren Befreiung aus und von ihrem (körperlichen) Gebundensein in die grundsätzlich als leidhafte erachtete Welt dies die Einschätzung seit spät-vedischer Zeit - eschatologisches Muster. Herbeigeführt werden kann die Erlösung (in allererster Linie) durch die Erkenntnis von ätman und brahman („Der Kenner des ätman überwindet das Leid [dieser Welt]", ChändogyaUpanisad VII,1,3; „Wer das unsterbliche brahman kennt, wird unsterblich", Brhadäranyaka-Upanisad IV,4,17) und das Innewerden ihrer Wesenseinheit und der Einheit allen Seins. Der auf diese Weise zur Erlösung gelangten Seele wird ein Ort zugewiesen, der, nicht auf der Erde liegend, das alte himmlische Jenseits ablöst: Diese Stätte der Erlösung ist das brahman - auch dies ist das brahman das wiederholt in der Sonne lokalisiert wird (vgl. Chändogya-Upanisad 111,19), die seit je als Grenzscheide zwischen Diesseits und Jenseits galt (vgl. Satapatha-Brähmana 11,3,3,7). Damit wird zugleich der Vorstellung Rechnung getragen, daß der Mensch durch sein Opferfeuer „repräsentiert" wird und daß dieses sein „kosmisches" Gegenstück in der Sonne hat, wohin der Opfernde nach seinem Tod gelangt. Dies weist zurück auf das vedische Ritual der Feuergründung - in diesem hat sich der Mensch das Feuer anzulegen, mittels dessen er seine Opfer ausführt in dem die ätman-brahman-Einheitslehie bereits vorgebildet war. Die Upanisads lehren Mittel und Wege zur Befreiung der gebundenen Seele. Warum diese gebunden ist, wie sie befreit werden kann und wie sich in diesem Falle ihr weiteres Schicksal gestaltet, legt insbesondere die (sog.) Pancägnividyä dar, das „Wissen um die fünf Feuer" (KausTtaki-Upanisad I; Brhadäranyaka-Upanisad VI,2; Chändogya-Upa-

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nisad V,3-10): Ursache der Bindung ist (letztlich) das Nichtwissen, dessen Beseitigung bedeutet Erlösung. Ist diese erlangt, verläßt die Seele den Körper und zieht auf dem „Pfad der Götter" - dem Weg, auf dem diese zum Opfer kommen - in den Himmel, um in die Welt des brahmart einzugehen, von wo sie nicht mehr zurückkehrt. Im Gegensatz zur vedischen Vorstellung des postmortalen Fortbestehens eines „Individuums" bleibt für die Upanisads eine „Personalität" nach der Erlösung nicht gewahrt: Die Einzelseele löst sich gewissermaßen in der „Weltseele" auf. Folglich kann es kein Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit mehr geben (Brhadäranyaka-Upanisad 11,4,12 = IV,5,13), wie überhaupt jegliches Objektbewußtsein geschwunden ist - ein Zustand, den der traumlose Tiefschlaf vorwegnimmt. Damit wird zwar ein Innewerden des Erlösungszustandes und der Seligkeit des Jenseits prekär. Doch gewinnt aus dieser Vorstellung die postulierte Unbeschreibbarkeit des ätman/brahman und der durch ihre Erkenntnis zu verwirklichenden Erlösung ihre Plausibilität: Sie sind jeglicher Vergleichbarkeit entzogen, so daß über sie nur in Verneinung gesprochen werden kann („Von diesem Selbst spricht man immer m i t , n i c h t ' " , Brhadäranyaka-Upanisad IV,4,22), sofern ihnen nicht verschiedene Vollkommenheitsprädikate beigelegt werden. Ein ähnliches Paradoxon wird durch das Postulat der Unerkennbarkeit des ätman auf der einen Seite und dem der Erlösung durch dessen Erkenntnis auf der anderen erzeugt - allerdings nur scheinbar: Denn die Vorstellung ist, daß der ätman zwar gewöhnlicher Objekterkenntnis nicht zugänglich, aber mittels eines intuitiven Innewerdens faßbar ist. Und so ist die upanischadische Philosophie durchaus nicht „zweckfrei", nicht bestimmt von einem Suchen nach einer abstrakten Wahrheit. Ziel ist immer die Erlangung des erlösenden Wissens, das das Unwissen beseitigt, mithin die Ursache der Fesselung der Seele in diese leidvolle Welt. Wie für die ihnen vorausliegenden Texte bedeutet auch für die Upanisads Wissen Macht und Verfügungsgewalt: „Diejenigen, die (die Pancägnividya [s.o.]) in dieser Weise kennen, gelangen in die Welten des brahman-, ... Von dort kehren sie nicht mehr zurück" (Brhadäranyaka-Upanisad VI,2,15). Das von diesen Texten gelehrte Wissen ist ein Wissen auf der Basis einer LehrerSchüler-Tradition (s. Chändogya-Upanisad 111,11,5), die in einer ununterbrochenen Kette in ferne Vergangenheit zurückreicht - Brhadäranyaka-Upanisad VI,5 zufolge bis auf die Sonne, von der das menschliche Geschlecht abstamme —, und diese Verankerung garantiert seine Wahrheit und Verbindlichkeit. In dieses - wahrhaft traditionelle - Autorisierungsmuster wird wiederholt die Vorstellung eines anderen, umfassenderen, höheren Wissens eingeflochten. Dadurch aber wird der herkömmliche Modus der Weitergabe und des Erwerbs von Wissen aufgebrochen, wodurch zugleich das Verhältnis von Brahmanen und Kshatriyas neu bestimmt werden kann. Denn auf diese Weise können auch Kshatriyas als Kenner und Verkünder des richtigen Wissens auftreten: „Dieses Wissen war bislang (noch) bei keinem Brahmanen - Dich aber werde ich es lehren", spricht in Brhadäranyaka-Upanisad VI,2,8 ein der Klasse der Krieger Angehöriger zu einem Brahmanen. D a ß dieses höhergestellte Wissen bisweilen als ein geheimes präsentiert wird, mag Strategie und historische Entwicklung verzahnen. 7. Von den Upanisads zum Sämkhya

und

Vedänta

Auf diese Weise fanden über die Upanisads außerhalb der brahmanischen Wissenstradition entwickelte Vorstellungen Eingang in diese. Auch deshalb waren diese Texte von solch nachhaltigem Einfluß auf die weitere Entwicklung der indischen Philosophie. Einer ihrer Leitsätze - „Wahrlich, dieser ätman ist (wesenseins mit dem) brahman" (Brhadäranyaka-Upanisad IV,4,5) - sollte zum Kernstück des (sog.) Advaita-Vedänta werden, einer philosophischen Richtung, die ihre volle Blüte im 9. Jh. n. Chr. entfaltete. Diese lehrt - daher ihr N a m e „(Philosophie der) Zweitlosigkeit" daß außer dem Absoluten, dem brahman, das zugleich das wahre Selbst des Menschen ist, der ätman, kein Zweites existiere: Alle Vielheit ist Illusion, die im Augenblick der Erlösung schwindet. Doch bereits in den älteren Upanisads stehen brahman und ätman bisweilen in

Venantius Fortunatas

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deutlichem Gegensatz, und in den (sog.) mittleren verschärfte sich dieser erheblich, so daß dort der Monismus aufbricht und an seine Stelle ein Dualismus tritt, in dem ätman als die Seele und das brahmart als materieller Urgrund der Welt die beiden einzigen nicht weiter reduzierbaren Prinzipien sind. Und diese Vorstellung sollte mit zur Ausbildung des Sämkhya-System führen, das ein Nebeneinander von einer Urmaterie und einer Vielzahl individueller Seelen lehrt, deren - scheinbares — Zusammenspiel die letzteren in die Kette der Wiedergeburten fesselt, aus der sie die Erkenntnis ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit befreit. Doch auch das (vedische) Ritual sollte eine feste Größe indischer Kultur bleiben, der häusliche Kult - wenngleich in veränderter Form - bis auf den heutigen Tag. Und die große Bedeutung, die dem gesprochenen Wort in jedwedem Ritual zukam, war letztlich Ausgangspunkt für eine intensive Beschäftigung mit den verschiedenen Aspekten von Sprache — Grammatik, Phonetik, Semantik - und damit für die Entwicklung einer Sprachphilosophie, um die sich vor allem die Karmamtmämsä verdient machte, eine philosophische Schule, die aus Kreisen hervorgegangen war, die feste Interpretationsregeln für das richtige Verständnis der rituellen Vorschriften des Veda erarbeitet hatten, und deren Kernsatz von der Ewigkeit des Veda (infolge der Ewigkeit seiner Worte) diesem absolute, nicht zu hinterfragende Autorität zusprach. 1

Mehr als alles andere war mir der Nachlaß der allzu früh verstorbenen Hertha Krick, mit dem zu arbeiten mir das Indologische Institut der Universität Wien freundlicherweise gestattet, Hilfe bei der Abfassung dieses Beitrags.

Literatur Ernst Arbman, Unters, zur primitiven Seelenvorstellung mit besonderer Rücksicht auf Indien (T. 2): M O 21 (1927) 1 - 1 8 5 . - Joel Brereton, The Upanishads: William Theodore de Bary/Irene Bloom (Hg.), Approaches to the Asian Classics, New York 1990, 1 1 5 - 1 3 5 . - Franklin Edgerton, The Beginnings of Indian Philosophy, London 1965. - Erich Frauwallner, Nachgelassene Werke. II. Phil. Texte des Hinduismus, hg. v. Gerhard Oberhammer/Chlodwig H. Werba, Wien 1992, 3 1 - 7 3 . - Paul Hacker, Grundlagen indischer Dichtung u. indischen Denkens, Wien 1985. - Thomas Oberlies, Die Religion des Rgveda. I. Das rel. System des Rgveda, Wien 1998. - Hermann Oldenberg, Vorwissenschaftliche Wissenschaft. Die Weltanschauung der Brähmana-Texte, Göttingen 1919. Hermann Oldenberg, Die Lehre der Upanishaden u. die Anfänge des Buddhismus, Göttingen 1915. - Patrick Olivelle, Upanisads, Translated from Original Sanskrit, Oxford/New York 1996. - Lambert Schmithausen, Mensch, Tier u. Pflanze u. der Tod in den älteren Upanisaden: Gerhard Oberhammer (Hg.), Im Tod gewinnt der Mensch sein Selbst, Wien 1995, 4 3 - 7 4 . - Brian Smith, Reflections on Resemblance, Ritual, and Religion, Oxford/New York 1989. - Paul Thieme, Upanischaden. Ausgew. Stücke, Stuttgart 1966 *1979. - Ders., Gedichte aus dem Rig-Veda, Stuttgart 1964.

Thomas Oberlies

Venantius Fortunatas (um 540 - um 600) 1. Leben

1.

2. Werk

3. Wirkung

(Quellen/Literatur S. 568)

Leben

Venantius Honorius Clementianus Fortunatas wurde um 540 in Norditalien in der Nähe von Treviso geboren. Er erhielt eine reguläre klassische Bildung in —»Ravenna und reiste dann nach Norden ins merowingische Gallien (-»-Frankreich I). Er spricht von einer in seinen jungen Jahren begründeten Dankesschuld gegenüber einem Bischof Paulinus von Aquileia, und die Gedichte 1/1 und 2 sind an einen Bischof Vitalis von Ravenna gerichtet (dessen Identität allerdings umstritten ist). Durch diese kirchlichen Beziehungen erhielt er offenbar Empfehlungsschreiben an die Bischöfe in Austrasien, vor allem an Nicetius von Trier (525/26—nach 566), den er auf der Suche nach Förderern

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Venantius Fortunatus

in einer Zuschrift pries. Der Vortrag eines Lob- und Hochzeitsgedichtes anläßlich der Vermählung des austrasischen Königs Sigibert I (reg. 561-575) mit der westgotischen Prinzessin Brunichilde (566/67) verschuf ihm einen spektakulären Zugang zu dem breiten Kreis der weltlichen und kirchlichen Großen, die sich aus diesem Anlaß in Metz zusammengefunden hatten. Fortunatus verstand die Gelegenheit zur Anknüpfung von Beziehungen zu nutzen und entfaltete während der nächsten Jahre eine umfangreiche literarische und Reisetätigkeit, wobei zu seinen Förderern zahlreiche weltliche Große und die Bischöfe Leontius von Bordeaux, Sidonius von Mainz, Vilicus von Metz und Eufronius von Tours zählten. Eine Empfehlung des letztgenannten führte ihn nach Poitiers, wo er die Bekanntschaft der außergewöhnlichen, charismatischen Königinwitwe Radegunde (um 520/25-587) machte, die dort das Kloster zum Heiligen Kreuz gegründet hatte. Seitdem war Poitiers seine neue Heimat; seine Schriften spiegeln seine Teilnahme an den Belangen der Klostergemeinschaft innerhalb des Frankenreichs und darüber hinaus (insbesondere seine literarische Fühlungnahme mit dem byzantinischen Hof zur Beschaffung von Reliquien für das Kloster); sie bezeugen aber auch seine enge Freundschaft mit dem bedeutenden zeitgenössischen Bischof und Geschichtsschreiber -»Gregor von Tours. Die zweite Hälfte des 6. Jh. war für das Frankenreich eine Zeit großer Unruhe und innerer Auseinandersetzungen. Fortunatus stellte sich während dieser Jahre in den Dienst der Bemühungen Radegundes, Frieden zwischen den Streitparteien zu wahren, und nach ihrem Tod 587 unterstützte er Gregor von Tours bei seinem Eintreten für Frieden zwischen den Teilreichen und eine diplomatische Bereinigung der Spannungen. Insbesondere in Angelegenheiten Radegundes war er während der ersten Jahre in Poitiers literarisch sehr aktiv und unternahm weite Reisen, wobei seine Befähigung wie sein Rang als bedeutender lateinischer Dichter ihre Belange sehr gefördert haben. Seine Gedichte spiegeln aber auch den alltäglichen Lebensablauf der Klostergemeinschaft. Auch seine enge und dauerhafte Freundschaft mit Gregor von Tours schlägt sich darin mit dem Aufgreifen literarischer, diplomatischer und praktischer Themen nieder. Gregor wurde sein Förderer bis hin zur Übertragung eines Gutes und weiterer Zuwendungen. Fortunatus zeigte sich dafür erkenntlich durch seine unbeirrte Verteidigung Gregors in seinem Lobgedicht auf König Chilperich I. von Neuster (561—584) auf der Synode von Berny-Riviere von 580. Sehr wahrscheinlich wurde er während der neunziger Jahre zum Presbyter geweiht, möglicherweise von Gregor selbst, und wirkte während der letzten Jahre seines Lebens als Bischof von Poitiers. Zu Beginn des 7. Jh. ist er gestorben. 2. Werk Fortunatus war mit den wichtigsten heidnischen wie christlichen lateinischen Dichtern vertraut. Von den heidnischen waren ihm Vergil (70-19 v.Chr.), Horaz ( 6 5 - 8 v.Chr.), Statius (um 4 0 - u m 96 n.Chr.) und Martial (um 40 n.Chr. - bald nach 100) geläufig. Er besaß eine eingehende Kenntnis der Bibel und der frühen kirchlichen Schriftsteller und christlichen Dichter, insbesondere von Arator (490-550), -»Paulinus von Nola, Paulinus von Perigeux (um 470) und —»Prudentius. Sein Werk umfaßt eine große Zahl von Gelegenheitsgedichten unterschiedlicher Gattungen - persönliche Dank- und Grußschreiben, Trostschreiben, Grabtexte und Lobgedichte. Diese Dichtungen sind sehr wahrscheinlich in drei Sammlungen veröffentlicht worden, die erste (Bücher I—VII) 576 mit einer Widmung an Gregor von Tours, die zweite (Bücher VIII—IX) bald nach dem Tod Radegundes (587), und die letzte (Bücher X - X I ) während der neunziger Jahre. Das wesentliche Interesse des Dichters gilt der Kirche und ihrer Geistlichkeit. Bedeutende weltliche Stücke sind das Hochzeitsgedicht auf Sigibert und Brunichilde (VI,1), das Lobgedicht auf Chilperich mit politischen Akzenten (XI,1), die Sigibert und Brunichilde gewidmete Beschreibung einer Moselfahrt (De navigio suo: X,9) mit feinen Anklängen an Ausonius oder die Elegie über den Untergang des Thüringerreiches (de excidio Thoringiae: app. 1), die bei den Verhandlungen

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Radegundes mit dem byzantinischen Hof eine Rolle gespielt hat. Buch I enthält Gedichte, die an Bischöfe gerichtet sind oder von ihren Kirchen handeln; Buch II enthält die Gedichte und ->Hymnen über das Heilige —»Kreuz, darunter die berühmten Hymnen Fange lingua (carm. 11,2) und Vexilla regis prodeunt (carm. 11,6), sowie Dichtungen, in denen es um die Geistlichkeit von Toulouse und Paris geht; Buch III und V enthalten Gedichte und Buch IV Grabtexte für Bischöfe und Geistliche. Das Leben der Klostergemeinschaft vom Heiligen Kreuz beschreiben die eher förmlichen, für die Öffentlichkeit bestimmten Gedichte für Radegunde und ihre Klostergemeinschaft in Buch VIII. Buch X, eine stärker zusammengestückelte Sammlung, enthält Gedichte über Kirchen des Bistums Tours. Buch XI umfaßt lediglich kleinere, weniger förmliche Dichtungen, in denen sich das Leben der Klostergemeinschaft von Poitiers niederschlägt. Der Appendix der Ausgabe der MGH enthält Stücke, die aus dem Zusammenhang der ursprünglichen elf Bücher herausgelöst worden sind. In einer Reihe von Fällen preisen Gedichte Leben und Werk der zeitgenössischen bischöflichen Adressaten, so etwa des Domitian von Angers (carm. XI,25) und Germanus von Paris (vor 500—576) (carm. 11,9 und 10). Andere preisen besonders glanzvolle Vorhaben, den Bau der neuen Bischofskirche in Nantes durch den Ortsbischof Felix (carm. 111,6 und 7) oder den Neubau der Bischofskirche in Tours durch Gregor (carm. X,6). In Gedichten auf Bischof Leontius von Bordeaux wird die energische Evangelisierung der Landbevölkerung (carm. 1,8—13) und in einem Gedicht auf Bischof Nicetius von Trier dessen praktischer Einsatz für das Wohl seiner Gemeinde (carm. 111,12) gepriesen. Neben diesen größeren Gedichtsammlungen hat Fortunatus auch eine Anzahl hagiographischer Schriften verfaßt, vornehmlich im Auftrag von Bischöfen, die das Gedächtnis eines Vorgänger gefeiert wissen wollten. Domitian von Angers lud ihn zu einem Aufenthalt in seinem Bistum ein und stellte ihm Material zur Abfassung der Vita des etwa zwanzig Jahre zuvor verstorbenen Albinus zur Verfügung (carm. XI,25 und Prolog der Vita Albini). Germanus von Paris beauftragte ihn mit der Aufzeichnung der hauptsächlich mündlichen Überlieferung über den heiligen Marcellus, und zum Preis des Bischofs selbst schrieb der Dichter bald nach dessen Tod (576) die Vita Germani. In der Vita Paterni beschrieb er das Leben des Reklusen Paternus (um 480- um 565) auf Wunsch des Abtes Martianus, dessen Gemeinschaft von Paternus gegründet worden war. Die Vita Hilarii ist für Pascentius verfaßt worden, der zur Zeit der Niederlassung des Dichters in Poitiers dort Bischof war. Die Vita der Fortunatus sehr nahe stehenden Radegunde ist kurz nach deren Tod 587 entstanden und erhielt bald darauf eine Ergänzung durch eine zweite Vita Radegundis von der Nonne Baudonivia aus dem Heiligkreuzkloster. Fortunatus' bedeutendstes hagiographisches Werk aber ist die in gebundener Sprache geschriebene Vita Martini, die in vier Büchern die Taten eines christlichen Helden, des Apostels von Gallien preist (->Martin von Tours). In Metrik, Intention und Stil entspricht sie den Anforderungen der Epik. Inhaltlich beruht sie auf der Prosavita Martins von ->Sulpicius Severus und seinen Dialogi. Sie entstand auf den Wunsch Radegundes und der Äbtissin des Heiligkreuzklosters Agnes und ist Gregor von Tours gewidmet. 3. Wirkung Für seine Zeitgenossen war Fortunatus die Verkörperung der weltlichen wie kirchlichen lateinischen Literatur. Als Vertreter der Romanitas, an der sich Galloromanen wie Franken ausrichteten, hat er die unterschiedlichen literarischen Gattungen dem kulturellen Umfeld der merowingischen Mischkultur angepaßt und weitergeführt. Im kirchlichen Raum war er die Stimme, die dem Leben und den bemerkenswerten Unternehmungen der zeitgenössischen Geistlichkeit zu dauerhaftem Ansehen verhalf. Im Falle Gregors von Tours z. B. bestärkten und profilierten die Vita Martini und Elogen über Gregors Tätigkeit wie auch Beiträge zu ihr in Form von Bildunterschriften aus der Martinsvita für die erneuerte Bischofskirche Gregors Missionsarbeit und seine Bemühungen um die Festigung der Verehrung des großen Heiligen.

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Seine persönliche wie dichterische Vergegenwärtigung Radegundes und ihrer Klostergemeinschaft vom Heiligen Kreuz außerhalb der Klostermauern vermittelte in einem von Gewalt zerrissenen Land Frieden; seine großen Hymnen und seine Gedichte für die Gemeinschaft verhalf den Nonnen zu öffentlicher, über das Frankenreich hinausreichender Geltung. Einzelne seiner Hymen sind bei Katholiken und Anglikanern im lateinischen Original oder in Übersetzungen immer noch beliebt, vornehmlich die Kreuzeshymnen Pange lingua und Vexilla regis prodeunt (carm. 11,2 und 6.). Seine Einstellung gegenüber den Königen, insbesondere Charibert von Paris (561—567) und Chilperich I. von Neuster (561-584), brachte ein Verständnis des -•Königtums zum Tragen, das diesem ein hohes Maß an moralischer und religiöser Verantwortung zusprach. Für die nachfolgenden Generationen blieb Fortunatus mit seinen weltlichen wie mit seinen kirchlichen Schriften ein Vorbild. Er war einer der drei oder vier Schriftsteller, die eine Brücke zwischen der Welt der Spätantike und der des Mittelalters schlugen. Handschriften seiner Werke waren weit verbreitet, auf dem Festland wie in -»England. Er wurde von Schriftstellern wie Angilbert (um 745-814), Theodulf von Orleans (750/ 60—821), Ermoldus Nigellus (gestorben um 835), —>Alkuin, —»Hrabanus Maurus und Walafrid Strabo (808/09-849) gelesen. Seine Vita Martini wirkte befruchtend auf die Arbeit späterer Hagiographen. Im übrigen waren seine Schriften nicht nur ein Vorbild. Sein Preis des Bischofs Magnerich von Trier wurde später in die Vita Magnerici des Abtes Eberwin von St. Martin in Trier (gestorben 1047) einbezogen, und seine Vita S. Kemigii wurde im 9. Jh. zur Grundlage der Remigiusvita von —»Hinkmar von Reims. Sein Einfluß beschränkt sich nicht nur auf die sprachliche Form seiner Schriften und ihre Bildwelt. Seine Vorstellung vom Königtum und von den Beziehungen zwischen dem weltlichen und dem kirchlichen Bereich (-> Kirche und Staat) zog lang anhaltende Wirkungen nach sich. Quellen De Vita Sanctae Radegundis Libri duo, hg. v. Bruno Krusch: Fredegarii et aliorum chronica. Vitae sanctorum, Hannover 1888 = 1956 (MGH.SRM 2) 3 6 4 - 3 9 5 . - Epistolae aevi Merowingici collectae, hg. v. Wilhelm Gundlach: Epistolae Merwowingici et Karolini aevi, Berlin 1892 = 1994 (MGH.Ep 3/1). - Gregor v. Tours, Libri Historiarum decem, hg. v. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, Hannover 1937 M951 = 1993 (MGH.SRM 1/1); dt.: Historiarum libri decem/Zehn Bücher Geschichten, aufgrund der Ubers. W. Giesebrechts neubearb. v. Rudolf Buchner, 2 Bde., 1 9 5 5 1956 = '1986/1974 (AQDGMA 2). - Ders., Libri de virtutibus sancti Martini episcopi: ders., libri octo miraculorum, hg. v. Bruno Krusch, Hannover 1885 = 1969 (MGH.SRM 1/2) 5 9 4 - 5 9 6 . - Venantius Fortunatus, Opera Pedestria, hg. v. Bruno Krusch, Hannover 1885 = München 1981 (MGH.AA 4/2). - Ders., Opera Poetica, hg. v. Friedrich Leo, Berlin 1881 = 1961 (MGH.AA 4 / 1 ) . - Ders., Vita Germani episcopi Parisiaci: Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici, ed. Bruno Krusch, Hannover/Leipzig 1920 = 1979 (MGH.SRM 7) 3 7 2 - 4 1 8 . - Ders., Vita Severini episcopi Burdegalensis, ed. Wilhelm Levison: Passiones vitaeque sanctorum aevi Merovingici, ed. Bruno Krusch, Hannover/Leipzig 1920 = 1979 (MGH.SRM 7) 2 1 8 - 2 2 4 . Literatur Brian Brennan, The Conversion of the Jews of Clermont: JThS NS 36 (1985) 3 2 1 - 3 7 . - Ders., The Career of Venantius Fortunatus: Tr. 4 l (1985) 4 9 - 7 8 . - Raymond Van Dam, Saints and their Miracles in Late Antique Gaul, Princeton, N.J. 1993. - Judith W. George, Venantius Fortunatus. A Poet in Merovingian Gaul, Oxford 1992. - Dies., Venantius Fortunatus. Personal and Political Poems, Liverpool 1995. - Ian Wood, The Merovingian Kingdoms. 4 5 0 - 7 5 1 , London/New York 1994.

Judith W. George

Venedig

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Venedig 1. Frühes und hohes Mittelalter

1. Frühes und hohes

2. Die Zeit der Blüte

3. Neuzeit

(Literatur S. 573)

Mittelalter

Der Name rührt von Venetia et Histria her, der Bezeichnung für die 10. Region des römischen Imperiums in der Einteilung des Kaisers Augustus (44 v . C h r . - 1 4 n.Chr.). Die Gründung einer Stadt Venetiae am 25. März 421 ist eine Legende, gab aber gleichwohl Anlaß für eine förmliche 1000-Jahr-Feier. Wahrscheinlich haben zunächst Flüchtlinge vor den Einfällen der „Barbaren" auf den Inseln in der Lagune und an deren sumpfigen Rändern (später genauer: von Grado bis Cavarzere) Schutz gesucht. Beim Eindringen der Langobarden in Italien (seit 568) wurden daraus ständige Ansiedlungen romanischer Bevölkerungsgruppen. So blieb das Gebiet beim Byzantinischen Reich, der Verwaltungschef dieser Provinz führte seit etwa 715 die Amtsbezeichnung dux. Es gelang, sich Versuchen der Einverleibung erst in das langobardische Königreich, dann in das Frankenreich -»Karls des Großen zu widersetzen. Andererseits fiel mit der Schwächung der griechischen Herrschaft in Italien allmählich auch die direkte Abhängigkeit von Byzanz, so daß die Dogen (duces) bald nicht mehr durch Einsetzung, sondern durch Wahl in ihr Amt kamen: besonders Agnello Particiaco im Jahre 811, zu dessen Zeit das Regierungszentrum in die Mitte der Lagune, auf die Rivus altus genannte Inselgruppe (Rialto) verlegt wurde, schon mit dem Sitz am heutigen Ort des Dogenpalastes. Daß der Dukat sich bei der Neuordnung Europas im 1.18. Jh. seine Distanz zum Frankenreich hatte bewahren können, führte zur säkular bestimmenden politischen Orientierung Venedigs nach Südosten und in die Richtung des offenen Meeres sowie bei den wirtschaftlichen Interessen zur Konzentration auf den Seehandel. Dem Ansturm der Langobarden ausweichend, war auch der Patriarch von Aquileia, Paulinus I., nach Grado in venetisches Gebiet geflohen. Er selbst und seine Nachfolger richteten sich dort auf Dauer ein, dann aber wurde 607 in einer Vakanz an beiden Orten je ein Patriarch gewählt. Die daraus entstandene Konkurrenz der Rechtsansprüche suchte 827 eine Synode in Mantua, die unter dem Vorsitz päpstlicher Legaten tagte, definitiv zu beenden, indem Grado der Titel abgesprochen wurde. Die dortigen Patriarchen ließen sich jedoch dadurch nicht beirren und bemühten sich beständig, ihren Konkurrenten in Aquileia die Würde aberkennen zu lassen, dabei häufig sogar durch päpstliche Verfügungen unterstützt; erst 1180 erreichte -»• Alexander III. endlich den Verzicht auf diese Bestrebungen. Die Gewalt der Metropoliten war allerdings eng beschränkt auf die Diözese Grado selbst und die sechs kleinen Suffraganbistümer des Dukats: Cittanova Eracliana und Torcello sind dadurch entstanden, daß zu Beginn des 7. Jh. wegen der langobardischen Ausbreitung die Sitze aus Oderzo und Altino verlegt wurden, auch Caorle mag auf das antike Concordia Sagittaria zurückgehen. Neugründungen des 8., allenfalls des 9. Jh. sind dagegen wahrscheinlich Malamocco (verlegt nach Chioggia) und Equilium, das spätere Jesolo, vor allem aber das Bistum Olivolo (seit etwa 774), dessen Sitz an der östlichen Spitze der Stadt Rialto-Venedig eingerichtet wurde. Im 11. Jh. setzte sich dafür der Name Castellanus durch; die Kirche S. Pietro di Castello blieb Kathedrale bis 1807, als der Sitz an die Markus-Basilika übertragen wurde. Die Kirchenprovinz war in ihrer Ausdehnung mit dem Dukat identisch, so daß die Metropoliten von Grado seit dem 11. Jh. immer wieder als Patriarchen von Venedig bezeichnet wurden. Dieser Zuordnung entsprach auch, daß sie wohl schon damals überwiegend in der Stadt residierten: Ihr Palast befand sich gleich neben der Pfarrkirche S. Silvestro, seit alters Eigenkirche des Patriarchats. Bereits in jener frühen Zeit bestand eine enge Verbindung zwischen dem Staat und der lokalen Kirche. Die Übertragung der Gebeine des heiligen Markus aus -»• Alexandrien nach Venedig, die der Doge Giustiniano Particiaco (827-829) bald nach der Synode von Mantua durchführen ließ, diente nicht nur der Etablierung eines identitätsstiftenden

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Patrons für das Gemeinwesen, sondern in der konkreten Situation sollte sie auch die Stellung des Patriarchen von Grado gegen seinen Konkurrenten in Aquileia stärken, denn der Evangelist wurde als Gründer von dessen Kirche verehrt. Die Reliquie fand ihren würdigen Platz in der neuen Palastkapelle des Dogensitzes, der heutigen Basílica di S. Marco. Aus derselben Zeit stammen auch die ersten sicheren Nachrichten über Klöster. 819 schenkten die Dogen Agnello und Giustiniano Particiaco dem Konvent von S. Servolo einen geräumigeren Platz, so daß er in die neue Abtei SS. Ilario e Benedetto am Rande der Lagune unweit Mestre-Marghera verlegt werden konnte (im 13. Jh. wieder zurück nach Venedig: S. Gregorio). Dieselben Dogen förderten den Nonnenkonvent S. Zaccaria in der Nähe ihrer eigenen Residenz, an Ansehen stets dem anderen Frauenkloster S. Lorenzo voraus, obwohl dieses kaum sehr viel jünger war. Später, im Jahre 982, verdankte die Abtei S. Giorgio Maggiore sogar einer förmlichen Gründung durch das Staatsoberhaupt ihre Entstehung. Mannigfache Parteienkämpfe zwischen Familienclans, die bis in das 12. Jh. hinein weite Strecken der Geschichte Venedigs charakterisieren, verhinderten nicht die stetige Zunahme politischer und wirtschaftlicher Macht, zumal mit dem Fortschreiten des 9. Jh. die Zugehörigkeit zum Byzantinischen Reich immer mehr zu reiner Formsache wurde und sich allmählich zu einer Bündnispartnerschaft entwickelte. Außerdem gelang die Ausweitung des eigenen Herrschaftsbereichs: Seit dem Jahre 1000, nach erfolgreichem Kriegszug, führte das Staatsoberhaupt den Titel eines Herrschers über Dalmatien. In der Regierung wurde eine Phase, die während bestimmter Zeiträume immer wieder Dogen aus einer und derselben Familie aufeinander folgen ließ (Particiaco, Candiani, Orseolo), bald nach dem Anfang des 11. Jh. durch einen konsequent vollzogenen Wechsel im höchsten Amt abgelöst. Mit der ersten Hälfte des 12. Jh. begann dann die Durchsetzung kommunaler Strukturen in Form der Mitentscheidung durch ein consilium sapientum. Ein hoher Grad von Stabilität im Innern und eine effiziente Handelspolitik mit der Folge großer wirtschaftlicher Macht des gesamten Staates und der Kumulation von Reichtümern durch einzelne Personen und Familien führten zu erheblichem internationalem Ansehen. Indiz dafür ist etwa die Friedensvermittlung des Jahres 1177: Papst Alexander III. und Kaiser -»Friedrich I. Barbarossa einigten sich auf ein Treffen in der Lagunenstadt, um ihren jahrzehntelangen Konflikt beizulegen. 2. Die Zeit der Blüte Das 13. Jh. begann mit der Beteiligung Venedigs am vierten Kreuzzug (-*Kreuzzüge), die in der Eroberung der Stadt -»• Konstantinopel gipfelte; danach bezeichneten sich die Dogen als Herren über ein Viertel und ein Achtel des Byzantinischen Reiches. Verfeinert wurde die Staatsverfassung insbesondere durch die strikte, Mißbräuche ausschließende Bindung der Amtsführung des Dogen, der allerdings weiterhin auf Lebenszeit gewählt wurde, an die Entscheidung einer Vielzahl konstitutioneller Gremien und an komplizierte Regelwerke (meist: capitularía), unter denen die vom Staatsoberhaupt nach der Wahl zu beschwörende promissio das wichtigste war, eine Art Verfassungsgesetz - mit ständig anschwellendem Umfang. Ziel war stets ein ausgewogenes System von Effizienz und Kontrolle zur Verhütung der Alleinherrschaft eines einzelnen oder einer Familie, wie sie in den italienischen Staaten des 13. und mehr noch des 14. Jh. so häufig vorkam. In Venedig regelte 1297 ein Beschluß des Großen Rates unzweideutig die Zugehörigkeit zur adeligen Führungsschicht: er sollte stets aus allen denjenigen zusammengesetzt sein, deren Väter oder Großväter ihm bereits in der vorherigen Periode jährlicher Neuwahl angehört hatten, und das Recht war nur durch Vererbung zu erhalten. Diese rechtliche Klassifizierung war keineswegs mit einer ökonomischen identisch; vielmehr begegnen in der Folgezeit Nichtadelige unter den wohlhabenden Kaufleuten, Bankiers und Grundbesitzern ganz ebenso wie Adelige; den Letztgenannten war die Ausübung eines manuellen Berufs - einschließlich der Notarstätigkeit - strikt untersagt, so daß wirtschaftlicher Mißerfolg zu Armut und sogar zum Verlust der Adelsqualität führen mochte. Die er-

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reichte innere Stabilität konnte zweimal, 1310 und 1355, gegen Umsturzversuche erfolgreich verteidigt werden. Vor der Pest von 1348 war Venedig mit wohl 110.000-120.000 Einwohnern eine der volkreichsten Städte Europas, dazu kamen etwa 40.000 weitere im übrigen Dukat; durch das große Sterben mögen die Zahlen halbiert worden sein. Grundlage der wirtschaftlichen Bedeutung und damit auch der politischen Außenwirkung Venedigs war der Fernhandel über See. Seiner Unterstützung diente der Erwerb zahlreicher Kolonien am Ostufer der Adria, von Istrien bis zur Peloponnes, und in der griechischen Inselwelt, besonders Kreta und Euboia, später auch -»Zypern. Zusätzlich entwickelte sich ein deutliches Interesse am umliegenden italienischen Festland, zuerst in der Form vereinzelten Grundbesitzes venezianischer Klöster und Privatleute, dann auch durch den Erwerb von Treviso mitsamt Territorium (1339). Im Chioggia-Krieg (1378-1381), in dem die konkurrierende Handelsrepublik Genua die Hauptgegnerin war, gelang die Verteidigung der Lagune nur durch extreme Anspannung auch der letzten Kräfte. Dieser Schock dürfte einer grundsätzlichen Neuorientierung in der venezianischen Politik zugrunde liegen: der Schaffung eines festländischen Staatsgebiets durch die Eroberung von Verona, Vicenza, Padua, Feltre, Belluno (1404/05), durch die Unterwerfung des Friaul (1420), die Einnahme von Brescia und Bergamo (1426-1428), endlich die Herrschaft in Ravenna (1441). Im Ergebnis gelangte die Republik in die Reihe der fünf großen italienischen Staaten, denen der Friede von Lodi (1454) für lange Jahrzehnte zu einem stabilen Gleichgewicht verhalf. Im Osten dagegen hatte sie sich immer stärker mit den andrängenden Osmanen auseinanderzusetzen (-»Türkenkriege), besonders nach dem Fall Konstantinopels (1453). Regiert wurde der Staat weiterhin allein von den Adeligen der Stadt, unter deren dünner Schicht sich seit dem 15. Jh. eine weitere, ebenfalls schmale Gruppe entwickelte, abgehoben vom Rest der Bevölkerung: die cittadini originari. Die Haltung der Regierenden Venedigs gegenüber den kirchlichen Institutionen zeichnet sich traditionell durch zwei konkurrierende Prinzipien aus: ihre Förderung nicht nur durch private Stiftung, sondern auch durch das Gemeinwesen insgesamt steht neben der mißtrauischen Beobachtung frommer Initiative durch die staatlichen Organe. Auf der einen Seite zu nennen ist die öffentliche Unterstützung der neuen Orden des 13. Jh., die sich alle in Venedig ansiedelten: —»Franziskaner, —»Dominikaner, -»AugustinerEremiten, -»Karmeliter, Serviten. Auf der anderen Seite finden sich im Laufe der Zeit zunehmende Vorkehrungen, die Schenkungen von Grundbesitz an Klöster, Kirchen und Hospitäler einzudämmen, außerdem verraten die Quellen immer deutlicher, wie sehr etwa die Aktivitäten der religiösen -»Bruderschaften, scuole genannt, überwacht und gegebenenfalls diszipliniert wurden. Ganz entsprechend ist auch das Verhältnis zum Papsttum vorwiegend von der Staatsräson geprägt worden. Das 1177 bewiesene Engagement für das Wohl der allgemeinen Kirche ist von den Venezianern gern angeführt worden als Beleg für ihre Behauptung, sie handelten stets als die ergebensten Söhne des Papstes und der Kirche. Derlei war nützlich, denn etwa für den Levantehandel brauchte man die spezielle Erlaubnis zum persönlichen Umgang mit den „ungläubigen" Muslimen, die seit 1198 (zuerst durch -»Innocenz III.) immer wieder erteilt wurde. Auch halfen die Venezianer mit Galeeren, als Urban V. (1362—1370) 1367 den Versuch unternahm, die Kurie von Avignon nach Rom zurückzuverlegen. Als aber nach der doppelten Papstwahl von 1378 die römische Kirche auf die Unterstützung der weltlichen Mächte dringend angewiesen war, hielten sie sich fern. Diese Einstellung mußte allerdings aufgegeben werden, als seit dem Beginn des 15. Jh. drei Venezianer den Papstthron besetzten, davon zwei aus dem regierenden Adel: Gregor XII. (1406-1415) und Paul II. (1464-1471) neben Eugen IV. (1431-1447); außerdem gab es eine Reihe venezianischer Kardinäle. Z u r Ausschaltung unerwünschter Einflußnahme wurden die Regeln verschärft, nach denen bei der Behandlung kirchlicher Angelegenheiten die Verwandten der Päpste und sonstiger Prälaten an der römischen Kurie die Entscheidungsgremien zu verlassen hatten (cacciati). Immerhin halfen die Verbindungen bei der Verwirklichung

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der entschiedenen Absicht, in der eigenen Stadt die kirchlichen Benefizien den Einheimischen vorzubehalten, im gesamten Staatsterritorium wenigstens die Bischofssitze Venezianern zukommen zu lassen, möglichst sogar den Söhnen von Adeligen. Aktive Kirchenpolitik führte 1451 zu dem Ergebnis, daß Grado und Castello zum Patriarchat Venedig vereinigt wurden mit dem später heiliggesprochenen Lorenzo Giustinian (1381 — 1456; Bischof von Castello seit 1433) als erstem Inhaber. 3. Neuzeit Bald nach dem Beginn des 16. Jh. sah Venedig sich mit einer feindlichen Koalition halb Europas unter Einschluß -»Julius' II. konfrontiert, der Liga von Cambrai, die der Republik 1509 bei Agnadello eine empfindliche Niederlage zufügte. Fast das gesamte Staatsgebiet ging verloren, bis an die Ränder der Lagune heran; erst 1517 konnte die Rückeroberung beendet werden. Neben solche politischen Schwierigkeiten waren wirtschaftliche getreten: die Erschließung des Schiffahrtsweges um Afrika untergrub die Grundlage des profitablen venezianischen Handels mit Gewürzen aus Asien, der auf den aufwendigeren Landtransport und die Übernahme der Waren an den Küsten des östlichen Mittelmeers, wenn nicht des Schwarzen Meeres angewiesen war. Besonders der Adel zog sich aus der einstmals so ertragsstarken Kaufmannstätigkeit zurück und begnügte sich mit den Einkünften aus Mieten und Pachten. In der säkularen Türkenabwehr folgte auf den Sieg in der Seeschlacht vor Lepanto 1571, an dem die Flotte Venedigs hervorragenden Anteil hatte, schon im nächsten Jahr der Verlust von Zypern, später derjenige von Kreta nach langem Krieg (1645—1669). Die Staatsfinanzen wurden dadurch derart strapaziert, daß man nun den Eintritt in den Adel Venedigs zu hohem Preis käuflich machte. Für die kirchlichen Angelegenheiten waren die in den vorangegangenen Jahrhunderten entwickelten Prinzipien zu befolgen, inbesondere das Eintreten gegen jedwede Störung der öffentlichen Ordnung. In diesen Zusammenhang gehört die erste förmliche Einrichtung eines abgeschlossenen -»Gettos im Jahre 1516. Die Absicht ständiger Aufsicht über religiöse Initiativen galt selbstverständlich auch für die reformatorischen Bestrebungen des 16. Jh., aber ebenso bremste sie andererseits gegenreformatorische Bemühungen. Zwar fanden die -»Jesuiten bald nach der Gründung des Ordens auch in Venedig Eingang, und der Doge hatte seit jeher unter seinen Pflichten die Unterstützung des Kampfes gegen die Häresie zu beschwören, doch dem antiketzerischen Wirken der römischen -»Inquisition stand entgegen, daß die Souveränität des Staates nicht durch Beschränkung der eigenen Jurisdiktion angetastet werden durfte, etwa durch die Verlagerung von Prozessen an die päpstliche Kurie, und daß der Staat wirtschaftliche Nachteile nicht in Kauf zu nehmen bereit war. Dies bewirkte im Ergebnis ein vergleichsweise hohes Maß von -»Toleranz und Respekt vor individueller Entfaltung. Solche Prinzipien führten 1603 und 1605 zu Gesetzen, wonach die Errichtung kirchlicher Gebäude und der Verkauf von Kirchengut an ausdrückliche Genehmigung durch den Senat gebunden waren. Paul V. (1605-1621) trat solchen Einschränkungen kirchlicher Freiheit energisch entgegen und nahm dies zusammen mit der Weigerung Venedigs, zwei wegen gewöhnlicher Verbrechen verurteilte Priester der kirchlichen Jurisdiktion auszuliefern, im Jahre 1606 zum Anlaß für die Verhängung des Interdikts über das gesamte Staatsgebiet; diplomatische Bemühungen, besonders von Franzosen, erreichten erst ein Jahr später eine Aussöhnung und die Aufhebung der Strafe. Die Jesuiten, die sich durch Unterstützung der päpstlichen Maßnahmen hervortaten, wurden ausgewiesen und durften erst 1657 zurückkehren. Trotz solcher Distanz zu den Päpsten und deren Bestrebungen war allerdings an einen generellen Übertritt zum Protestantismus nicht zu denken. Doch duldete die venezianische Liberalität die seit Beginn des 17. Jh. an einigen Gesandtschaften in Venedig auftretenden Prediger und seit etwa 1650 sogar eine deutsche evangelische Gemeinde, die in enger Verbindung stand mit dem Fondaco dei tedeschi, der geräumigen Niederlassung der deutschen Kaufleute.

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Für das 18. J h . werden Politik und Gesellschaft in Venedig deutlich durch Stillstand und Dekadenz charakterisiert. Dem Eroberungswillen Napoleons war ernsthaft nichts mehr entgegenzusetzen: bedrängt durch vorrückende Truppen, beschloß der Große R a t am 12. M a i 1797 das Ende der Republik. Das Staatsterritorium - oder doch jeweils wesentliche Teile davon — kam noch in demselben J a h r durch den Frieden von Campoformido an -»-Österreich, 1805 an Napoleons Italisches Königreich, 1815 durch Festlegung im Wiener Kongreß erneut an Österreich, nun als Teil Lombardo-Venetiens, endlich 1866 - als Folge des Sieges Preußens über die Habsburgmonarchie — an den jungen Einheitsstaat Italien. Kirchenorganisatorisch vergrößerte -»-Pius VII. 1818 die Provinz der Patriarchen von Venedig um die einstmals dem Patriarchat Aquileia, nach dessen Aufhebung 1751 dem Erzbistum Udine zugeordneten Bistümer Belluno (vereint mit Feltre), Ceneda (seit 1939: Vittorio Veneto), Treviso, Padua, Vicenza, Concordia sowie Udine selbst (seit 1847 wieder selbständiges Erzbistum) und zusätzlich um Adria (vorher bei Ravenna), während von den alten Bistümern des Dukats nur noch Chioggia erhalten blieb. Literatur 1. Bibliographie: 1998.

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Dieter Girgensohn Venezuela -> Lateinamerika Verantwortung I. Philosophisch-ethisch II. Theologisch-ethisch

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I. Philosophisch-ethisch 1. Gebrauch und Geschichte des Begriffs Verantwortung 2. Freiheit als Bedingung der Verantwortlichkeit 3. Verantwortung als Grundbegriff der Ethik (Literatur S. 5 7 7 )

1. Gebrauch

und Geschichte

des Begriffs

Verantwortung

1.1. In seiner grundlegenden Bedeutung bezeichnet der Begriff Verantwortung den Sachverhalt, daß jemand für die Folgen der ihm zugeschriebenen Handlungen Rechenschaft ablegen muß oder für sie bestraft werden kann. Im alltäglichen Sprachgebrauch taucht der Begriff in einer Reihe von Verbindungen auf: Man kann Verantwortung übernehmen oder zurückweisen, zur Verantwortung gezogen werden, sich der Verantwortung stellen oder entziehen etc. Diese Vielfalt der Verwendungsweisen weist darauf hin, daß die Bedeutung des Begriffs je nach Kontext variiert. Zur Orientierung sind folgende Unterscheidungen hilfreich. Erstens ist zu differenzieren zwischen retrospektiver, sich auf Vergangenes beziehender, und prospektiver Verantwortung. Zweitens gibt es neben der moralischen die moralisch indifferente Verantwortung im Sinne der Zuständigkeit. Es ist keine moralische Frage, wer in einer Firma für die Buchhaltung verantwortlich, also zuständig ist. Ferner kann sowohl nach individueller wie nach überindividueller Verantwortung gefragt werden: Inwiefern ist der einzelne für die Umweltverschmutzung verantwortlich, inwiefern die Menschheit als ganze? Schließlich ist Verantwortlichkeit im Sinne der Zurechnungsfähigkeit zu unterscheiden von bestimmten Verantwortlichkeiten, welche die Zurechnungsfähigkeit immer schon voraussetzen. Wer, wie Kleinkinder, nicht zurechnungsfähig ist, der kann auch nicht zur Verantwortung gezogen werden. Charakteristisch für alle moralischen und rechtlichen Verwendungsweisen ist, daß Verantwortung sich nicht auf irgendwelche, sondern auf unerwünschte Handlungsfolgen bezieht. Bürger werden nicht zur Verantwortung gezogen, wenn sie die Gesetze einhalten, sondern nur wenn sie gegen sie verstoßen. Da der moralisch-rechtliche Begriff der Verantwortung die Unterscheidung unerwünschter und erwünschter Handlungsfolgen voraussetzt, enthält er neben dem deskriptiven Aspekt der Zurechnung den normativen Aspekt der Bewertung. Der Uberblick zeigt, daß der Begriff der Verantwortung seinen Platz in einem Feld von Begriffen hat, mit denen er zum Teil synonym verwendet wird: -»Schuld, Zuständigkeit, -»Pflicht, Haftung und Zurechnungsfähigkeit. 1.2. Begriffsgeschichtlich gesehen, lassen sich die deutschen Wörter „verantworten" und „Verantwortung" auf das lateinische respondere zurückführen, das so viel bedeutete wie: vor Gericht auf eine Anklage antworten. Mit dieser Bedeutung haben sich die deutschen Ausdrücke seit dem 15. Jh. eingebürgert; der am Rechtsleben orientierte Gebrauch dominierte bis ins 19. Jh. Legt man den forensischen Kontext zugrunde, dann

Verantwortung I

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bezeichnet Verantwortung eine vierstellige Relation: Jemand (der Angeklagte) ist für etwas (seine Tat) vor einer Instanz (dem Gericht) in bezug auf bestimmte Normen (die Gesetze) verantwortlich. Mit der Übernahme des Begriffs in die Philosophie und Theologie wurden die vier Glieder der Relation zum Teil neu bestimmt. So galten innerhalb der christlichen Tradition Gott oder das -»Gewissen als Instanz, vor der man nicht nur Handlungen und ihre Folgen, sondern auch Gesinnungen zu verantworten hatte (s.u. II.1.2.). Die heute geläufige Auffassung, daß andere Personen oder die moralische Gemeinschaft die Instanz der Verantwortung bilden, hat sich dagegen spät herausgebildet. Zu einem Grundbegriff der Philosophie hat sich „Verantwortung" erst seit Beginn des 20.Jh. entwickelt, und zwar im Rahmen der von M. —»Weber inaugurierten Verantwortungsethik (s.u. 3.1.). Einen weiteren Markstein bildete Hans Jonas' Das Prinzip Verantwortung (1979). Heute spielt der Begriff Verantwortung vor allem in den Debatten über ökologische Fragen und die Technikfolgenabschätzung (-»Technik), z.B. die Anwendung der Gentechnologie, eine zentrale Rolle. Charakteristisch für die Begriffsgeschichte im 20. Jh. sind drei Tendenzen. Erstens tritt der Begriff der Verantwortung häufig an die Stelle älterer ethischer Termini wie Pflicht (Schwartländer 1578) oder Schuld (Wieland 2). Zweitens wird der Bereich der Verantwortung immer größer. Während in der Tradition Verantwortung auf einzelne Handlungsfolgen oder Zuständigkeitsbereiche begrenzt wurde, fordern heute einige Denker eine „universale Verantwortung" für das Sein als ganzes, die Natur oder die Geschichte (Picht 329) ein. Schließlich gewinnt die prospektive oder präventive Verantwortung gegenüber der retrospektiven immer mehr an Bedeutung. Die Probleme, vor denen einzelne und Kollektive stehen, erfordern es, daß Verantwortungen für die Zukunft festgelegt werden, sei es für die Erhaltung von etwas, z. B. der Lebensbedingungen der Menschheit, oder die Abwendung von Schäden. 2. Freiheit als Bedingung der

Verantwortlichkeit

Wenn in der Rechtsprechung nach der Zurechnungsfähigkeit eines Täters gefragt wird, wird vorausgesetzt, daß Personen im allgemeinen zurechnungs-, d.h. schuldfähig sind. Die Unzurechnungsfähigkeit bildet eine Ausnahme, deren Vorliegen erwiesen werden muß. In diesem eingeschränkten Sinne hatte schon -»Aristoteles die philosophische Frage nach den subjektiven Bedingungen der Verantwortlichkeit gestellt: Freiwillig ist ein Handeln, wenn es ohne Zwang von außen und im vollen Wissen um die Umstände der Handlung geschieht (eth. Nie. III,3,Ulla). Mit dem in der Neuzeit aufkommenden Determinismus verschärft sich die Frage nach den Bedingungen der Verantwortung. Wie kann ein Subjekt für sein Handeln verantwortlich sein, wenn dieses als ein Ereignis in der Natur vollständig determiniert ist? Können Menschen überhaupt für ihr Tun verantwortlich sein? - Die Antworten auf dieses Problem lassen sich in Typen zusammenfassen. Dem „harten" Determinismus zufolge sind Handlungen vollständig naturgesetzlich bestimmt. Der „weiche" Determinismus faßt Entscheidungen als eine mentale Art der Verursachung auf. Unabhängig von der Frage nach der Willensfreiheit gilt ihm die Handlungsfreiheit, d.h. die Möglichkeit, ohne äußeren Zwang seine Absichten zu verfolgen, als hinreichende Bedingung der Verantwortung. Schließlich kann man dem Willen oder der praktischen Vernunft eine Kausalität sui generis zuschreiben, die entweder mit der Naturkausalität vereinbar ist (Kompatibilismus) oder nicht (Inkompatibilismus). I. -»Kant, der einflußreichste Vertreter der Vereinbarkeitsthese, hielt die Freiheit des Willens zwar für unbeweisbar; jedoch könnten wir ein und dieselbe Handlung zugleich als ein determiniertes Glied in der Reihe der Erscheinungen und als Ergebnis vernünftiger Entscheidung auffassen, da wir als intelligible Wesen nicht der Naturkausalität unterstehen. Diese Vereinbarkeitsthese ist bis heute umstritten. Die handlungstheoretischen Debatten über die allgemeine Verantwortlichkeit menschlichen Handelns stehen in auffälligem Kontrast zur moralischen und rechtlichen

576

Verantwortung I

Praxis. Hier ist es nicht nur so, „daß Verantwortung Freiheit voraussetzt; vielmehr wird zugleich auch Freiheit unterstellt, um Verantwortung zuschreiben zu können" (Bayertz, Geschichte 12). Wenn die Praxis des Beurteilens und Strafens nicht nur hingenommen, sondern legitimiert werden soll, bleibt es jedoch eine dringliche Aufgabe der Philosophie, unser wissenschaftlich geprägtes Naturverständnis mit unserem Selbstverständnis als freie Wesen in Übereinstimmung zu bringen (Pothast 484). 3. Verantwortung

als Grundbegriff

der

Ethik

3.1. Ungeachtet der Diskussion über die Willens- und Handlungsfreiheit hat sich der Begriff der Verantwortung zu einem zentralen Begriff der -»Ethik entwickelt, seit M a x Weber in Politik als Beruf (1919) idealtypisch Verantwortungs- und Gesinnungsethik gegenübergestellt hat. Der Verantwortungsethiker trifft seine Entscheidungen anhand der Folgen seines Handelns, für die er persönlich einsteht. Er trägt der Realität Rechnung, indem er seine Handlungen und Ziele den gegebenen Bedingungen anpaßt. Dem Gesinnungsethiker hingegen geht es allein darum, seinen Grundsätzen treu zu bleiben. Er folgt ihnen und stellt, wie der Christ, „den Erfolg Gott anheim" (Weber 551). Die beiden Ethiktypen schließen sich allerdings nicht aus; erst in ihrer Ergänzung machen sie den Menschen aus, der den „Beruf zur Politik" haben kann (ebd. 559). Weber hat die Verantwortungsethik im Rahmen politisch-ethischer Überlegungen konzipiert, er ordnet sie als Ethiktyp ausschließlich der Politik zu. In der Folgezeit wurden dann Versuche unternommen, durch den Begriff der Verantwortung einen neuen Typus einer universalen Ethik zu begründen. Dabei spielten Erfahrungen von Krisen und Gefährdungen die entscheidende Rolle, zunächst die Gefahr der atomaren Selbstzerstörung und des Totalitarismus, später die ökologische Krise und die Gefahren, die sich aus der Anwendung von Wissenschaft und Technik ergeben. Angesichts der drohenden Selbstvernichtung der Menschheit hat H. Jonas eine Ethik für die technologische Zivilisation entworfen, die auf dem „Prinzip Verantwortung" gründet. Ihren Kern bildet der Imperativ: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden" (Jonas, Prinzip 36). Er wird gestützt durch die Annahme, daß eine Welt und die Menschheit in ihr sein soll, daß also dem Sein ein Eigenwert gegenüber dem Nicht-Sein zukommt. Als einflußreich für die ökologische Ethik erweist sich Jonas' „Heuristik der Furcht": Bei der Anwendung technologischer Innovationen soll das Prinzip in dubio pro malo gelten, d.h. daß im Zweifelsfall die schlechtere Prognose den Ausschlag geben soll. Im Anschluß daran fordert R. Spaemann eine Umverteilung der Beweislast: Nicht die Schädlichkeit, sondern die Unschädlichkeit neuer Technologien für die Erhaltung der Natur muß nachgewiesen werden (Spaemann 204f.). Im Mittelpunkt der gegenwärtigen Debatten stehen folgende Fragen: Welcher Instanz gegenüber sind wir für den Erhalt der Natur oder der Menschheit verantwortlich? Zukünftige Generationen kommen hier bestenfalls als virtuelle Instanz in Frage. Lassen sich die idealethischen Normen der Verantwortung in „Praxisnormen" übersetzen, so daß Aussicht auf ihre reale Befolgung besteht (Birnbacher, Verantwortung 199)? Wem kann innerhalb bestimmter Kollektive oder Korporationen Verantwortung für das kollektive Handeln zugeschrieben werden? Umstritten ist auch, inwiefern einzelne Personen für die Folgen synergetischer, d.h. nicht durch Kooperation gesteuerter Prozesse verantwortlich gemacht werden können: Ein einzelner Autofahrer ist im kausalen Sinne nicht für das Waldsterben verantwortlich, wohl aber die Gesamtheit der Autofahrer. Es ist abzusehen, daß der Begriff der Verantwortung nur dann zum Kriterium unseres Handelns werden kann, wenn konkrete Verantwortlichkeiten festgelegt werden, so daß ihre Einhaltung kontrolliert und ihre Nichteinhaltung geahndet werden kann. Ein solche Definition und Kontrolle von Verantwortungsbereichen dürfte nur mit den Mitteln des Rechts umzusetzen sein.

Verantwortung II

577

3.2. Die gegenwärtige Diskussion konzentriert sich weitgehend auf Verantwortung für andere oder anderes. Zunächst ist aber jeder für sich selbst verantwortlich. Dies bringt der in der antiken Philosophie geläufige Begriff der „Sorge um sich" zum Ausdruck. Im 20. Jh. hat die Existenzphilosophie an die Verantwortung für sich selbst erinnert. So bestimmt W. Weischedel die „Grundselbstverantwortung" als Anspruch, „von sich — seinem Grund-,ich* - aus zu sein" (Weischedel 76). In dieser existenzphilosophischen Fassung bleibt die Struktur der Selbstverantwortung unbestimmt. Sie läßt sich jedoch entfalten, wenn man das praktische Selbstverhältnis von Personen zugrunde legt: Sie rechtfertigen sich selbst oder anderen gegenüber ihre Handlungen durch Gründe, die sie selbst für überzeugend halten. Sie stellen Ansprüche an sich und wollen diesen gerecht werden. Dieses Streben nach Konsequenz in bezug auf die eigene Identität ist Bedingung dafür, daß jemand Verantwortung für andere übernehmen kann (Gerhardt 308). Nur derjenige, der sich selbst ernst nimmt, wird auch die ihm durch seine sozialen Rollen zugewiesenen Verantwortlichkeiten ernst nehmen. Literatur 1. Bibliographien: Ulrike Arndt, Auswahlbibliogr. zum Thema „Verantwortung": Kurt Bayertz (s.u. Lit.) 287-303. - John Martin Fischer, Recent Work on Moral Responsibility: Ethics 110 (1999) 9 3 - 1 3 9 [Bibliogr. 130-139], - Ulrich Pothast, Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise, Frankfurt a.M. 1987 [Bibliogr. zum Thema Freiheit 423 - 479]. 2. Sonstige Literatur: Karl-Otto Apel, Diskurs u. Verantwortung, Frankfurt a.M. 1988 21999. - Kurt Bayertz (Hg.), Verantwortung - Prinzip oder Problem?, Darmstadt 1995. - Ders., Eine kurze Gesch. der Herkunft der Verantwortung: ebd. 3 - 7 1 . - Dieter Birnbacher (Hg.), Ökologie u. Ethik, Stuttgart 1980. - Ders., Verantwortung f. zukünftige Generationen, Stuttgart 1988. - John Martin Fischer/Mark Ravizza (Hg.), Perspectives on Moral Responsibility, Ithaca, N. Y./London 1993. - Maximilian Forschner, Art. Verantwortung: StL7 5 (1989) 589-593. - Peter A. French, Collective and Corporate Responsibility, New York 1984. - Volker Gerhardt, Selbstbestimmung, Stuttgart 1999. - Roman Ingarden, Uber die Verantwortung. Ihre ontischen Fundamente, Stuttgart 1970. - Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M. 1979 J 1984. - Ders., Technik, Medizin u. Ethik, Frankfurt a.M. 1985. - Klaus-Michael Kodalle, Verantwortung: Ethik. Ein Grundkurs, hg. v. Heiner Hastedt, Reinbek 1994, 180-197. - Hans Lenk, Konkrete Humanität. Vorl. über Verantwortung u. Menschlichkeit, 1998 (stw 1250). - Knud Ejler L0gstrup, Art. Verantwortung: RGG 3 6 (1962) 1254-1256. - Weyma Lübbe, Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen, Freiburg i.Br. 1998. - Jürgen Mittelstraß, Leonardo-Welt. Uber Wiss., Forschung u. Verantwortung, 1992 2 1996 (stw 1042). - Christian Müller, Verantwortungsethik: Annemarie Pieper (Hg.), Gesch. der neueren Ethik. II. Gegenwart, Tübingen/Basel 1992, 103-131. - Georg Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, Stuttgart 1969. - Walter Schulz, Phil, in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, 630 - 855. - Johannes Schwartländer, Art. Verantwortung: HPhG 6 (1974) 15771588. - Robert Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik: Dieter Birnbacher (s.o.) 180-206. - Jay R. Wallace, Responsibility and the Moral Sentiments, Cambridge, Mass. 1994. - Max Weber, Politik als Beruf: ders., Ges. Politische Sehr., hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1945 31985, 505-560. - Wilhelm Weischedel, Das Wesen der Verantwortung, Frankfurt a.M. 1933 31972. - Wolfgang Wieland, Verantwortung - Prinzip der Ethik?, Heidelberg 1999. - Jean-Claude Wolf, Utilitarismus, Pragmatismus u. kollektive Verantwortung, 1993 (SThE 52). Hector Wittwer

II. Theologisch-ethisch 1. Geistesgeschichtliche Hintergründe 2. Konzeptionen der Verantwortungsethik 3. Verantwortung und der Gottesgedanke 4. Verantwortung „für" Werte (Literatur S. 581) 1. Geistesgeschichtliche

Hintergründe

1.1. Erst im 20. Jh. ist Verantwortung zu einem, ja geradezu zu dem Schlüsselbegriff der -»Ethik geworden. Er hat ältere ethische Leitbegriffe »Tugend, -»Gesetz (z.B. die Tora oder das Naturgesetz im Sinne des -» Naturrechtes), Gesinnung, -»Pflicht -

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Verantwortung II

abgelöst oder fortgeschrieben. Seit Beginn des 20. Jh. stellt die Verantwortungsidee eine Reaktion auf zivilisatorische Umbruchs- und Krisenerfahrungen dar. Aufgrund des Kulturschocks, den der Erste Weltkrieg auslöste, sowie damaliger gesellschaftlicher Anonymisierung, Technisierung und Bürokratisierung urteilte A. -»Schweitzer in seiner 1923 erschienenen Kulturphilosophie, der ethische Fortschritt sei hinter dem technischen Fortschritt zurückgeblieben. Um der Krise der modernen Zivilisation gegenzusteuern, sei eine „Steigerung des Verantwortungsgefühls", nämlich eine verstärkte Verantwortung der Menschen für ihre ethische Gesinnung notwendig. Den normativen Kern der neuen Ethik „grenzenloser Verantwortungen" sollte ihm zufolge die Ehrfurcht vor dem Leben bilden. Vor dem gleichen Krisenhintergrund hielt M. -» Weber 1919 seinen Vortrag „Politik als Beruf", der die moderne Sicht von Verantwortungsethik als pragmatischer, rationaler Handlungsfolgenabschätzung inaugurierte. Drei Jahrzehnte später beruhte es auf der Erfahrung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, daß die Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 das Leitbild einer der Freiheit und Gerechtigkeit verpflichteten „verantwortlichen Gesellschaft" entwarf oder daß 1949 die nominatio dei („Verantwortung vor Gott") in die Präambel des Bonner Grundgesetzes Eingang fand. Weitere, jeweils aktuelle politische, zivilisatorische oder ökologische Krisenkonstellationen waren ausschlaggebend, als in den Nachkriegsjahrzehnten, z. B. von Carl Friedrich von Weizsäcker (geb. 1912), eine umfassende christliche Weltverantwortung oder die Verantwortung für den Frieden und die Bewahrung der Schöpfung postuliert wurden. 1.2. Das Christentum hat den juridischen Gehalt von Verantwortung, der dem römischen Rechtsleben entstammte und die Verteidigung vor Gericht betraf, in theologische Gedankengänge integriert, indem es, auch ohne direkte Verwendung des Begriffes als solchen, die Verantwortung vor Gott oder Christus als eschatologischem Richter (II Kor 5,10) aussagte (vgl. Picht 319ff.). Hierdurch erfolgte zugleich eine Akzentverschiebung und religiös begründete Erweiterung der Idee der Verantwortung: Sie betraf nicht mehr nur das äußere Handeln, über das vor einem weltlichen Gericht Rechenschaft abzulegen ist, sondern individualethisch die Innerlichkeit und das -» Gewissen des Menschen, insofern der einzelne seine innere sittliche Einstellung und persönliche Gesinnung vor der Transzendenz bewußt verantworten soll. Individualethische Akzente setzten ebenfalls die hebräische Bibel und das Judentum. Dem Weisheitstext Sir 15,14 zufolge hat Gott den Menschen in die Hand seines eigenen Ratschlusses gegeben (et reliquit illum in manu consilii sui). Diesen Vers zitierten -»Thomas von Aquino und später das Zweite Vatikanische Konzil (-»Vatikanum I und II; vgl. Gaudium et spes [1965] Nr. 17: DH 4317), um die Willensfreiheit (-»Wille/Willensfreiheit) und ethische Verantwortlichkeit des Menschen zu unterstreichen. I. —»Kant hat die individualethische Dimension von Verantwortung dann explizit auf den Begriff gebracht, indem er anknüpfend an Rom 2,14ff. das menschliche Gewissen „als subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung" bezeichnete (Metaphysik der Sitten [1797], Tugendlehre § 13: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin, VI 1914, 439,13f.). 1.3. Mit anderer Bedeutung verwendete — zumindest singulär »Luther den Verantwortungsbegriff (vgl. Staats 4). Die Aufforderung in I Petr 3,15, gegenüber den Heiden eine „Apologie", also eine Darlegung und Verteidigung der christlichen Hoffnung vorzunehmen, übersetzte er mit Verantwortung. Bei P. -»Tillich wurde „apologetische Theologie" dann zur Programmformel dafür, daß eine „antwortende Theologie" sich auf die Situation und Lebenswelt der jeweiligen Gegenwart bewußt einlassen soll (Tillich 12).

Verantwortung II 2. Konzeptionen

der

579

Verantwortungsethik

Zum Aufstieg des Verantwortungsbegriffs zu einer Schlüsselkategorie der Ethik des 20. Jh. trugen Philosophie, Soziologie, aber auch evangelische sowie katholische Theologie bei. Im einzelnen wurden dabei sehr unterschiedliche Modelle ethischer Verantwortung konzipiert. Eine enggeführt situationsethische (—•Situationsethik), dezisionistisch bleibende Sicht trug im Jahr 1929 D. -»Bonhoeffer vor, indem er ethische Verantwortung aktualistisch vom jeweiligen „Augenblick" und der je aktuellen „Situation der Entscheidung" her begriff (Bonhoeffer, Grundfragen). Wegweisende Anstöße zu einer inhaltlich gefüllten, personal-dialogischen Ethik der Verantwortung vermittelte demgegenüber das Werk M . Bubers. Buber deutete Verantwortung als „ A n t w o r t " des Menschen auf das Du, den konkret begegnenden Mitmenschen, und entfaltete Kriterien der dialogischen Begegnung (Wahrhaftigkeit, Rückhaltlosigkeit, Akzeptation und personale Vergegenwärtigung des Anderen etc.). Sein Leitbild dialogischer Verantwortung enthielt zugleich Impulse für die Sozialethik, Pädagogik und Psychologie sowie für eine am ArztPatienten-Verhältnis interessierte medizinische Anthropologie, so wie sie dann bei Viktor von Weizsäcker (1886—1957) exemplarisch zum Ausdruck gebracht wurde. Gesichtspunkte zu einer personal-mitmenschlichen Verantwortungsethik traten sodann ebenfalls im späteren Werk D. Bonhoeffers zutage (Bonhoeffer, Ethik 238-269: „Die Struktur des verantwortlichen Lebens"). Besonderen Stellenwert besitzen außer- wie innerhalb der Theologie die Konzeptionen, die die Notwendigkeit der Handlungsfolgenverantwortung (Abwägen von positiven und negativen, intendierten und nichtintendierten Handlungsfolgen) oder der normativen bzw. Wert-Verantwortung unterstreichen oder die die Perspektive einer Präventions-, Zukunfts- und Fernverantwortung entwickeln. 3. Verantwortung

und der

Gottesgedanke

Formal ist ethische Verantwortung ein mehrstelliger Relationsbegriff. Er betrifft die Verantwortung der menschlichen Person „ v o r " Gott und auch „ v o r " ethischen Werten „ f ü r " ihr Tun oder Unterlassen „in bezug a u f " einzelne Gegenstandsbereiche und Handlungsfelder sowie „in bezug a u f " die Zeitmodi von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Ausgehend von der Relation zwischen Gott und Mensch, nämlich der Verantwortung des einzelnen vor Gott, prägte sich die oben (1.2.) erwähnte individualethische Verinnerlichung und gewissensethische Vertiefung der Verantwortungsidee aus. Darüber hinaus waren in der abendländischen Kulturgeschichte aber auch ethische Werte, die das verantwortliche Handeln der Menschen inhaltlich normieren, letztlich im Gottesgedanken verankert: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, die Achtung vor der Menschenwürde und andere Wertvorstellungen erhielten im Gottesgedanken ihre Vertiefung und Begründung. Ethikgeschichtlich war die Verantwortung vor ethischen Werten damit der Verantwortung vor Gott zu- und untergeordnet. Diesen Sachverhalt hat erstmals F. -•Nietzsche theoretisch erfaßt und auf den Begriff gebracht: „der Werth, Sinn, Umkreis der Werthe war fest, unbedingt, ewig, Eins mit G o t t " (Nietzsche, KGA VIII/2, 11 [226] Nr. 2, S. 329). Nietzsche selbst vertrat indes eine religionskritisch-atheistische Position. Er bestritt die Existenz Gottes bzw. eines metaphysischen „Centralwesenjs] der Verantwortlichkeit" (ebd. VIII/1, 5 [63], S. 212) und ging vom „Tod Gottes" in der modernen Kultur aus (ebd. V/2 [Die fröhliche Wissenschaft] N r . 125, S. 158ff.). Auf diese Weise rückte er ein zentrales Problem der modernen säkularisierten, weltanschaulich pluralen Gesellschaft ins Licht: Wie läßt sich ethische Verantwortung nahebringen und begründen, wenn zahlreiche Menschen sich nicht mehr vor Gott verantwortlich fühlen und wenn ethische Werte nicht mehr im Gottesgedanken fundiert und legitimiert sind? Nietzsches eigene Philosophie lief auf einen „postulatorischen Atheismus des Ernstes und der Verantwortung" hinaus (Scheler 55). Der Philosoph sei es, dem nun in besonderer Weise die „Verantwortlichkeit" für die menschliche Moral zukomme (Nietzsche, KGA VI/2

Verantwortung II

580

[Jenseits von Gut und Böse] Nr. 61, S. 77ff.). Andere Vordenker der Moderne betonten ebenfalls, daß aufgrund der Ablösung vom Gottesgedanken in der Moderne die Menschen selbst zu einem gesteigerten, bislang ganz unbekannten M a ß an eigenständiger Verantwortung genötigt sind. Anstatt auf Gott als Garanten der sittlichen Weltordnung vertrauen zu können, muß der handelnde Mensch selbst die Folgen seiner Handlungen rational verantworten (Max Weber). Weil er von Gott „verlassen" ist, ist der einzelne „zur Freiheit verurteilt" und gezwungen, sich selber zu wählen: Er wird „verantwortlich für das, was er ist", sowie verantwortlich „für alle Menschen" (J.-P. —»Sartre). Auch H. Jonas' Konzeption von Verantwortung ging von der „Abschaffung der Transzendenz" in der modernen Gesellschaft aus (Jonas 231); eine verantwortliche, universale Geltung beanspruchende Begründung ethischer Werte könne heute nicht mehr religiös, sondern müsse rational-philosophisch erfolgen. Für die Gegenwartskultur ist es in der Tat unhintergehbar geworden, daß moralische Verantwortung und ethische Wertbegründungen sich nicht mehr exklusiv religiös herleiten lassen. Andererseits kann nicht pauschal gesagt werden, der Gedanke einer Verantwortung vor Gott sei heute als Handlungsmotivation und Handlungsbegründung überhaupt nicht mehr relevant. Auch im Plausibilitätshorizont der heutigen weltanschaulich differenzierten Gesellschaft besitzt er Überzeugungskraft. Daher hat z. B. die Verfassungskommission, die 1992/93 nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik tätig war, beschlossen, die nominatio dei („Verantwortung vor Gott") in der Präambel des Grundgesetzes zu belassen. Aufgrund einer Volksinitiative wurde diese Formel 1994 in die Präambel der Niedersächsischen Landesverfassung sogar neu aufgenommen. In den Verfassungen einiger neuer Bundesländer (Sachsen-Anhalt 1992, Thüringen 1993) ist sie ebenfalls enthalten. Dennoch macht der weltanschauliche Pluralismus der Gegenwartsgesellschaft es erforderlich, grundlegende ethische Werte, auf denen ein humanes staatliches und gesellschaftliches Zusammenleben basiert, um ihrer generellen Geltung und Akzeptanz willen mit allgemein nachvollziehbaren Argumenten zu begründen. Im Blick auf den Wertediskurs und Grundwertekonsens der Gegenwartsgesellschaft ergibt sich für die Theologie daher die Aufgabe, christliche Wertbegriffe in ihrer rationalen Plausibilität darzulegen. Darüber hinaus gilt es, für eine überzeugende Vermittlung des Gottesgedankens selbst die Verantwortung zu übernehmen. Hierauf lenkt nicht nur Tillichs Programmatik der apologetischen, auf die Gegenwartssituation antwortenden Theologie das Augenmerk (s.o. 1.3.). Vielmehr wurde die protestantische Theologie auch von außen her, von psychologischer Seite, darauf aufmerksam gemacht, daß ihr heute „eine neue Verantwortung vor dem weltlichen Zeitgeist zugewachsen" ist (Jung 119), um der Abständigkeit zwischen dem tradierten Gottesgedanken und dem modernen Bewußtseinshorizont entgegenzuwirken. Theologische oder religionsphilosophische Bemühungen um eine kontextuell verantwortliche Rede von Gott können dann dazu beitragen, auch in der Moderne ein vom Bewußtsein der Verantwortung vor Gott getragenes Ethos wachzuhalten. 4. Verantwortung

„für"

Werte

Die heutige kulturelle Situation ist von der ökologischen Krise, der Ambivalenz des technischen Fortschritts, dem Problem der Welternährung und sonstigen tiefgreifenden Problemen der Entwicklungsländer geprägt. Vor diesem Hintergrund ist die Übernahme von Verantwortung für ethische Werte, auch für neue Werte (z.B. Nachhaltigkeit), unausweichlich. Im 20. Jh. erhielten die Denkmodelle der Verantwortungsethik ihr Profil, indem sie Krisenerfahrungen (s.o. 1.1.) und den Mißbrauch von Macht aufarbeiteten. Gegenwärtig treten neu zu bedenkende Strukturen von Macht zutage. Moderne Hochtechnologien wie Gen- und Reproduktionstechnologie, Neurochirurgie, Informationstechnologie, Kernenergie durchdringen die Lebenswelt, prägen das Alltagsbewußtsein - z. B. im Blick auf das Verständnis von Gesundheit, Krankheit, Lebensqualität und Lebenserwartung - und verändern letztlich sogar das Menschenbild. Sie stellen Formen

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von Macht dar, die humanverträglich verantwortet werden müssen und sorgsam zu erörternde Abwägungsprobleme aufwerfen. Zum Beispiel ist in der Bioethik ein schonender, verantwortlich abgewogener Ausgleich erforderlich angesichts von Wertkonflikten, die in dieser Form in der Vergangenheit noch nicht vorhanden waren. Dies ist etwa beim Wertkonflikt von Heilung und Gesundheit versus Embryonenschutz der Fall, der bei der Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik oder der embryonalen Stammzellforschung in den Jahren 2001 und 2002 relevant geworden ist. Weil im Zuge des modernen Wertewandels tradierte ethische Normen an Geltung verlieren und weil derzeit ganz neue zivilisatorische Herausforderungen entstehen, sind eine Steigerung und Beschleunigung ethischer Verantwortung und eine bewußte Gestaltungsverantwortung für Werte und Normen Gebote der Gegenwart. Die Übernahme von Verantwortung für Werte, für Wertabwägungen und für ein humanes Menschenbild, die über die Verantwortung „vor" tradierten Normen nochmals hinausweist, bildet für die Gesellschaft, die verschiedenen Wissenschaften und damit auch die Theologie eine ganz neue Stufe ethischer Reflexion. Literatur Oswald Bayer, Freiheit als Antwort, Tübingen 1995, 1 8 3 - 1 9 6 . - Dietrich Bonhoeffer, Grundfragen einer christl. Ethik: ders., GS, München, III 1960, 4 8 - 5 8 . - Ders., Ethik, München '1981. - Wolfgang Huber, Konflikt u. Konsens, Stuttgart 1990, bes. 135 - 250. - Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a.M. 1979. - Carl Gustav Jung, Antwort auf Hiob, Ölten 1973. - FranzXaver Kaufmann, Der Ruf nach Verantwortung, Freiburg i.Br. 1992. - Peter Kaufmann, Verantwortung: Gerfried W. Hunold (Hg.), Theol. Ethik. Ein Werkbuch, Tübingen/Basel 2000, 1 7 0 - 1 8 6 . - Wilhelm Korff, Art. Verantwortungsethik: LThK* 10 (2001) 6 0 0 - 603. - Hartmut Kreß, Theol. Ethik: ders./Karl-Fritz Daiber, Theol. Ethik - Pastoralsoziologie, Stuttgart 1996, 7 1 - 8 6 . - Ders./ Wolfgang Erich Müller, Verantwortungsethik heute, Stuttgart 1997. - Karl-Wilhelm Merks, Gott u. die Moral, Münster 1998. - Friedrich Nietzsche, Werke. Krit. GA, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967ff. [zit. KGA] - Georg Picht, Wahrheit, Vernunft, Verantwortung, Stuttgart 1969. - Trutz Rendtorff, Vom ethischen Sinn der Verantwortung: HCE 3 (1993) 1 1 7 - 1 2 9 . - Jean-Paul Sartre, L'existentialisme est un humanisme, Paris 1946; dt.: Ist der Existentialismus ein Humanismus?, Zürich 1947. - Max Scheler, Mensch u. Gesch., Zürich 1929. - Johannes Schwartländer, Art. Verantwortung: HPhG 6 (1974) 1577-1588. - Reinhart Staats, Das Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel, Darmstadt 1996. - Paul Tillich, Syst. Theol., Stuttgart, I 1958. - Viktor v. Weizsäcker, GS. V. Der Arzt u. der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie, Frankfurt a.M. 1987.

Hartmut Kreß

Verdienst -»Lohn; -»Werke, gute

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(VELKD)

1. Gegenwärtiger Befund 2. Aufgaben 3. Vorgeschichte und Entstehung 4. Verabschiedung der Verfassung 5. Organe/Struktur 6. Arbeitsbereiche und Arbeitsergebnisse (Quellen/ Literatur S. 592)

1. Gegenwärtiger

Befund

In der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) sind acht lutherische Landeskirchen (-»Lutherische Kirchen) zu einer Kirche zusammengeschlossen: die Evangelisch-Lutherische Kirche in —»Bayern, die Evangelisch-lutherische Landeskirche in -»Braunschweig, die Evangelisch-lutherische Landeskirche —»Hannovers, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche -»Mecklenburgs, die -»Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche -»Sachsens, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche -»Schaumburg-Lippe, die Evangelisch-Lutherische Kirche in —»Thüringen. Diese haben in der VELKD den Status von Gliedkirchen,

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die „ihre Selbständigkeit in Kultus und Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung" behalten, soweit die Verfassung nichts anderes bestimmt (Art. 4 Abs. 1 der Verfassung). D e m korrespondiert auf Seiten der VELKD eine Gesetzgebungskompetenz „ m i t Wirkung f ü r ihre Gliedkirchen" (Art. 6 Abs. 1 der Verfassung). Die Gliedkirchen der VELKD sind Mitgliedskirchen des -»Lutherischen Weltbundes. Dadurch haben sich Formen der Zusammenarbeit auch mit solchen lutherischen Kirchen in Deutschland entwickelt, die nicht der VELKD angehören. Das sind die Evangelisch-Lutherische Kirche in -»Baden (Freikirche), die Evangelisch-Lutherische Kirche in -»Oldenburg, die Pommersche Evangelische Kirche (-»Pommern), die Evangelische Landeskirche in -»Württemberg, die Lippische Landeskirche (Lutherische Klasse) (-»Lippe). Diese bilden gemeinsam mit den Gliedkirchen der VELKD das Deutsche Nationalkomitee (DNK) des Lutherischen Weltbundes.

Die Gliedkirchen der VELKD sind zugleich auch Gliedkirchen der -»Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Das Verhältnis der VELKD zur EKD ist ein durch ihre Gliedkirchen vermitteltes; sie ist nicht selbst Gliedkirche der EKD. Gleichwohl enthält die Verfassung das M a n d a t zu einer Gesamtvertretung der Gliedkirchen durch die VELKD innerhalb der EKD (Art. 6 Abs. 4). Das Verhältnis der VELKD zu den „anderen evangelischen Kirchen in D e u t s c h l a n d " ist bestimmt durch „die im Kampf um das Bekenntnis geschenkte, auf der Bekenntnissynode von Barmen 1934 bezeugte Gemeins c h a f t " (Art. 2). Grundlage der VELKD ist „das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben und in den Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, vornehmlich in der ungeänderten Augsburgischen Konfession von 1530 und im Kleinen Katechismus M a r t i n Luthers bezeugt ist" (Art. 1 Abs. 1). Im einzelnen ist der Bekenntnisstand in den Gliedkirchen und innerhalb dieser regional unterschiedlich. Die Verfassung der VELKD n i m m t darauf mit ihrer inklusiven Formulierung Rücksicht, macht aber zugleich auch deutlich, d a ß bei aller in den Bekenntnisschriften erkennbaren Lehrentwicklung diese einen Lehr- und Interpretationszusammenhang darstellen, der als solcher zur Geltung zu bringen ist und innerhalb dessen die Confessio Augustana und Luthers Kleiner Katechismus eine zentrale Bedeutung haben. Das Kirche-Sein der VELKD ist seinerzeit bewußt beansprucht w o r d e n , wie sich aus der Diskussion über die unterschiedliche ekklesiale Qualität von EKD u n d VELKD ergibt. Es ist theologisch begründet in der kirchebildenden Wirkung des Bekenntnisses und in der zwischen den Gliedkirchen von Anfang an bestehenden Abendmahlsgemeinschaft. In der klassischen Terminologie geht es um die Unterscheidung zwischen Kirchenbund und Bundeskirche. 2.

Aufgaben

Die Aufgaben der VELKD ergeben sich aus ihrem Auftrag „zum gemeinsamen Bekennen und einheitlichen H a n d e l n " (Präambel der Verfassung) und k ö n n e n so beschrieben werden: Förderung der Einheit der VELKD und Vertretung der Gliedkirchen nach außen, insbesondere auch gegenüber der Ö k u m e n e ; Geltendmachung der Grunddaten lutherischer Theologie in der Aus- u n d Fortbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern, bei der Erarbeitung gottesdienstlicher O r d n u n g e n , im kirchlichen Leben insgesamt; Förderung der lutherischen Diaspora sowie der Arbeit anderer lutherischer kirchlicher Werke, insbesondere der Diakonie und der Mission (Art. 7 der Verfassung). Hinzu k o m m e n die ökumenische Arbeit (Art. 3) und die Gesetzgebung (Art. 6). 3. Vorgeschichte

und

Entstehung

Wenn auch die Konflikte um die G r ü n d u n g der VELKD nach 1945 leicht den Eindruck vermitteln, als ginge es lediglich um eine späte Neuauflage der konfessionellen Auseinandersetzungen des 19. Jh., so ist das nur ein Teilaspekt eines sehr komplexen Vorganges. Dazu gehören die um die Mitte des 19. Jh. einsetzenden lutherischen Einigungsbemü-

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hungen ebenso wie das Ende des landesherrlichen —• Kirchenregiments nach dem Ersten Weltkrieg und mit besonderem Gewicht auch die institutionelle Aufarbeitung der im Kirchenkampf gemachten Erfahrung der Bedeutung einer konfessionsübergreifenden Zeugnisgemeinschaft auf der einen Seite und der Kraft der überlieferten Bekenntnisse in den aktuellen Auseinandersetzungen der Zeit auf der anderen. Die Unionsbildungen des 19. Jh. stellten für die Lutheraner eine ernste Infragestellung der Bedeutung des Bekenntnisses für die Identität einer Kirche dar. Das Gewicht der Frage wird leicht deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die evangelischen Kirchen in Deutschland ihrem Bekenntnisstand nach mehrheitlich die Confessio Augustana als das „gemeinsame Grundbekenntnis der Reformation" (Baden) anerkennen; das gilt insbesondere auch für die Mehrheit der zu Preußen gehörenden unierten Kirchen, die sich ausdrücklich als Kirchen der lutherischen Reformation definieren. Zwar werden durch die Unionsbildungen die Bekenntnisse der Reformation keinesfalls abgeschafft; im Gegenteil: sie werden ausdrücklich bestätigt. Auch werden sie nicht durch ein drittes, eben ein Unionsbekenntnis überboten. Gleichwohl wird der Bekenntnisbegriff auf die Dauer undeutlicher, und zwar sowohl durch den additiven Charakter des definierten Bekenntnisstandes wie auch durch die Betonung des gemeinreformatorischen Erbes, durch die das Unterscheidende an Gewicht verliert. Demgegenüber entwickelte sich auf lutherischer Seite zunehmend die Entschlossenheit zum Festhalten an der konfessionellen Identität, die u.a. ihren Ausdruck darin fand, daß -»Schleswig-Holstein und Hannover sich nach 1866 in Preußen als lutherische Kirchen behaupten konnten.

Darin steckten zum Teil sicher antipreußische ebenso wie gegen die Union gerichtete Affekte; darin spiegelte sich aber auch die WiederEntdeckung des Luthertums als einer das kirchliche Leben, die Ordnung der Kirche und ihre Verkündigung erneuernden und durch Erneuerung prägenden Kraft, die sich durchaus in gewissem Sinne exklusiv verstehen konnte. Es entwickelte sich ein konfessionelles Selbstbewußtsein, zu dem ein Kirchenbegriff gehörte, der auf der Grundlage des gemeinsamen Bekenntnisses eine lutherische Kirche dachte, die zwar in einzelne Kirchentümer gegliedert, aber gleichwohl zu einer Einheit verbunden ist. Diese Einheit galt es künftig darzustellen, was programmatisch in den Konferenzen von Leipzig (1843) und Dresden (1852) und durch die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz vorangetrieben wurde. 3.1. Die Allgemeine

Evangelisch-Lutherische

Konferenz

Die Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz (AELK; vgl. -*Neuluthertum 8.2.), 1867 von G.Ch.A. von -»Harless, Th. -»Kliefoth, Wilhelm Koopmann ( 1 8 1 4 1871), Christoph Ernst Luthardt (1823-1902), G. -»Uhlhorn (1826-1901) und anderen zunächst als Reaktion auf die Annexion Hannovers, Schleswig-Holsteins, Lauenburgs, Frankfurts, Nassaus und Kurhessens durch Preußen 1866 und die damit ausgelösten Unionsängste vorbereitet, trat 1868 in Hannover zu ihrer ersten Tagung zusammen. Sie war eine Konferenz von lutherischen Einzelpersönlichkeiten, später kamen sog. Vereinslutheraner aus der preußischen Landeskirche, schließlich auch Theologische Fakultäten, lutherische Konferenzen, Arbeitsverbände für Innere und Äußere Mission, für Diakonie und Diaspora dazu. Wenn auch nicht offiziell, so waren die lutherischen Landeskirchen von Anfang an doch personell durch ihre führenden Köpfe vertreten. Obwohl von Harless bei der 1. Konferenz zum Ausdruck brachte, daß man keine Demonstration, vor allem keine politische wolle, sondern von der Not der lutherischen Kirche bestimmt sei, muß man doch Wirksamkeit und Wirkung der AELK alles andere als unpolitisch nennen. In ihr artikulierte sich der Gedanke einer lutherischen Kirche, die ihre Einheit in der die einzelnen Kirchentümer umfassenden Einheit des Bekenntnisses hat. Dabei ist ausdrücklich nicht an eine lutherische Nationalkirche, sondern an „einen Bund der lutherischen Kirchen überhaupt" gedacht (Luthardt nach Fleisch, Kirche 25). Dem entspricht es, daß bald auch Gäste und Referenten aus Nordamerika und den nordischen lutherischen Kirchen zur Konferenz stießen; Tagungen fanden 1901 in Lund, 1911 in Uppsala, 1925 in Oslo statt. Geplant war für 1907 auch eine Einladung nach Amerika, die aber nicht zustande kam. Bereits 1890 war der schwedische Bischof Knut Henning

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Gezelius von Scheele (1838-1920) (Wisby) zum 2. Vorsitzenden der Konferenz gewählt worden. Zwei Entwicklungen bestimmten die weitere Arbeit der AELK, seit 1927 Lutherisches Einigungswerk (Allgemeine Evangelisch-Lutherische Konferenz): 1) Die Ablösung des landesherrlichen Kirchenregiments in Deutschland. Nach ersten, noch vorsichtigen Äußerungen, die nach der Verselbständigung der Kirche für deren engeren Zusammenschluß plädierten, erklärte L. ->Ihmels, Vorsitzender der Konferenz, im Mai 1920: „Eine Beschränkung der Organisation auf die einzelnen Landeskirchen hat sachlich nur in demselben Sinne ein Recht, als eine nationale Ausprägung des Christentums ein Recht hat. Zu erstreben ist eine deutsche lutherische Kirche und ein Zusammenschluß der lutherischen Kirchengemeinschaften überhaupt" (Fleisch 88; Hervorhebung vom Verfasser). Es ist typisch für das kirchenpolitische Denken der AELK, daß sie den Gedanken der einen lutherischen Kirche, die in den einzelnen Kirchentümern existiert, konsequent anwendet auf eine weltweite Darstellung des Luthertums. Dieses ist auch für das Selbstverständnis der VELKD in der Spannung zwischen einem Zusammenschluß lutherischer Kirchen in Deutschland und der Teilhabe an der lutherischen Weltfamilie entscheidend geworden. 2) Der lutherische Weltkonvent. Zunächst gab es auf Seiten der AELK eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der Gründung eines lutherischen Weltkonvents, war man doch der Ansicht, die AELK selbst sei schon ein solcher übernationaler Bund. Schließlich nahm sie aber doch eine Initiative des National Lutheran Council in Amerika auf und lud mit diesem zusammen für 1923 zu einem lutherischen Weltkonvent nach Eisenach ein. An ihm nahmen ca. 150 Delegierte aus 30 Ländern teil. Auf deutscher Seite wurden die Teilnehmer von der AELK bestimmt, für die 2. Tagung in Kopenhagen entsandten die deutschen Kirchen offiziell ihre Vertreter. Dadurch wurde die lutherische Sammlung in Deutschland in die Bemühungen um weltweite Einigung der lutherischen Kirchen integriert, zu deren Zustandekommen sie zugleich erheblich mit beigetragen hatte, nicht nur durch die AELK, sondern ebenso durch die Verbindungen zu den Auswandererkirchen in Nordamerika und deren Unterstützung durch in Neuendettelsau, Hermannsburg und Kropp ausgebildete und von dort ausgesandte Pastoren, durch Zusammenarbeit auf dem Missionsfeld usw. Die Schaffung einer globalen Gemeinschaftsstruktur der Lutheraner, die erst 1947 durch die Gründung des Lutherischen Weltbundes abgeschlossen wurde, geschah deutlich später als bei anderen konfessionellen Weltfamilien. Bereits 1867 traten in London 7 6 anglikanische Bischöfe zur 1. -»Lambethkonferenz zusammen. 1875 wurde der -»Reformierte Weltbund gegründet. Weitere Gruppierungen folgten. Was sich 1923 mit dem Einfluß der Einigungsbemühungen der deutschen Lutheraner vollzog, war alles andere als ein engstirniger antiunionistischer Sonderweg, sondern es war ein allerdings ziemlich spätes Entdecken der Bedeutung einer weltweiten konfessionellen Gemeinschaft und damit der nur noch relativen Bedeutung territorial und national definierter Kirchengrenzen. Es war auch die Entdeckung der Bedeutung konfessioneller Profile als Lebenswirklichkeit einer weltweiten Christenheit. Jede Bewertung der Entwicklung im deutschen Luthertum, die diesen Gesamtzusammenhang nicht berücksichtigt, geht letztlich an der Sache vorbei.

3.2. Anfänge der Zusammenführung

der lutherischen

Kirchen

Auf der Tagung der „Engeren Konferenz" 1926 in Marburg wies Ihmels auf die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses der lutherischen Kirchen in Deutschland hin; das ergebe sich im Zusammenhang mit den Einigungsbestrebungen des Lutherischen Weltkonvents, in dem künftig die Kirchen vertreten sein müßten, und aus der Entwicklung des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes, innerhalb dessen das kirchliche Luthertum zur Geltung zu bringen sei, was die einzelne Landeskirche überfordere. Daraus erwuchs vor allem der Vorschlag zur Einberufung einer lutherischen Bischofskonferenz, die dann auch tatsächlich 1927 am Vortage einer Sitzung der Engeren Konferenz am 10. Januar in Erlangen erstmalig zusammentrat.

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Am 12. Mai 1933 rief die Konferenz zum Aufbruch der Kirche zu einer „Evangelischen Kirche deutscher Nation" auf, die nur eine lutherische Kirche sein könne. Darauf bezog sich Hans Meiser (1881-1956), als er, an der Bischofskonferenz vorbei, Vertreter der lutherischen Kirchen nach Würzburg einlud, wo es am 14. Mai zur Bildung des lutherischen Zweiges innerhalb der werdenden „Deutschen Evangelischen Kirche" kam. Damit war klar gesagt, daß die Deutsche Evangelische Kirche nicht als eine lutherische Nationalkirche gedacht wurde, was ja auch angesichts der zu diesem Zeitpunkt bereits bekannten Vorstellungen für eine Deutsche Evangelische Kirche (DEK; Hermann Kaplers [1867-1941] Aufruf vom 23. April 1933) ganz unrealistisch gewesen wäre. Die Würzburger Entscheidung macht allerdings auch deutlich, daß die Lutheraner die Entwicklung der DEK keineswegs den anderen allein überlassen, sondern sich kirchenpolitisch eigenständig behaupten wollten. Auch ist ein lutherischer Dominanzanspruch nicht zu übersehen, wenn Meiser in Würzburg davon spricht, daß die „neu werdende Kirche nach unserem Willen und nach unserer Forderung lutherisches Gepräge erhalten muß" (Braun/Nicolaisen I, xxvii), was nach der in Würzburg verabschiedeten „Kundgebung" seinen Ausdruck darin finden sollte, „daß diese Kirche von einem lutherischen Geistlichen geführt wird" (Fleisch, Kirchengeschichte 160). In der „Kundgebung" von Würzburg taucht auch zum ersten Mal der Begriff „Vereinigte lutherische Kirchen Deutschlands" auf (Fleisch, Kirchengeschichte 160). Dem Bündnis von Würzburg schlössen sich alle lutherischen Landeskirchen an. Meiser wurde Vorsitzender des „Direktoriums". Dieses „Corpus Lutheranorum" (Fleisch, Kirchengeschichte 161) zerfiel jedoch schnell wieder: Die Auseinandersetzungen um die „Wahl" des Reichsbischofs und insgesamt mit den -»Deutschen Christen lähmten die Arbeit nachdrücklich. Am 25. August 1934 kam es auf Einladung und unter Vorsitz von August Marahrens (1875-1950), der auch Präsident des Lutherischen Einigungswerkes war, zur Gründung des „Lutherischen Rates", dem die lutherischen Bischöfe, Mitglieder lutherischer Fakultäten und „Persönlichkeiten, die in verantwortlicher Arbeit stehen", angehörten (Luth. Generalsynode 1948, 204f.). Am 12. Februar 1935 schlössen die „intakten Kirchen" Hannover, Württemberg und Bayern den sog. „Lutherischen Pakt" in der Überzeugung, „über das bisher Geschaffene hinaus der Aufgabe weiterer Vereinheitlichung des evangelischen Kirchenwesens noch auf andere Weise entsprechen zu sollen und zu können" (Luth. Generalsynode 1948, 208ff.). Die Front, gegen die sich der Pakt wie auch vorher schon der Rat richten, ist der Aufbau und die Entwicklung der Deutschen Evangelischen Kirche unter Überspielung der Bekenntnisverschiedenheit der zugehörigen Kirchen. Damit knüpften Rat und Pakt an die Einleitung der Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934 an, die bewußt auf die Verfassung der DEK verwiesen hat und im Interesse ihrer Wahrung verabschiedet wurde. Diese Verfassung geht von der Existenz bekenntnisbestimmter Kirchen aus. Am 5. Juli 1935 folgt der „Lutherische T a g " in Hannover, der jedes Kirchenregiment verwirft, „das zwar die lutherischen Bekenntnisse ,unangetastet' stehen lassen will, das sich aber in seinem kirchlichen Handeln von anderen Rücksichten und außerkirchlichen Einflüssen bestimmen l ä ß t " . Wer die kirchlichen Zeugnisse nur als historische Dokumente behandele, verfalle demselben Irrtum, dem die Deutschen Christen erlagen (Luth. Generalsynode 1948, 2 1 2 ) . Der Lutherische T a g bildete ein Direktorium und einen Fortsetzungsausschuß (Braun/Nicolaisen I, Dokument 177 und 178), w a r also, ursprünglich als lutherische Synode gedacht (ebd., Dokument 177 Anm. 1), auf Dauer angelegt. N a c h Gründung des Luther-Rates hat dieser noch einen entsprechenden Versuch unternommen, der aber an den allgemeinen Verhältnissen scheiterte.

3.3. Der Rat der Evangelisch-Lutherischen

Kirche

Deutschlands

Auf der anderen Seite hielt aber auch die Bekenntnisfront nicht. Sei es, daß auf die Dauer die Spannung zwischen „intakten" (bischöflichen) Kirchen (Bayern, Hannover, Württemberg) und „bruderrätlicher" (synodaler) Kirchenleitung zum Konflikt führen

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mußte, sei es, daß der Streit um Bedeutung und Verständnis der Barmer Theologischen Erklärung nicht beizulegen war: Am 18. März 1936 wird der Rat der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands gebildet, der „die gemeinsame Leitung für die lutherischen Kirchen und Werke wahrfnimmt], die sich der Bekennenden Kirche zugeordnet haben" (Bestellungsurkunde: Luth. Generalsynode 1948, 212f.; vgl. auch K . D . Schmidt, Nr. 191f.). Er soll die „lähmende Zerspaltung der lutherischen Kräfte überwinden und den Weg zu einer Bekennenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands öffnen. ... Der Rat hat die Aufgabe, in ständiger Fühlungnahme mit den anderen Organen der Bekennenden Kirche den Kampf für die Reinheit und Freiheit der Verkündigung der biblischen Botschaft und für eine dem Evangelium und Bekenntnis gemäße Neuordnung der Kirche fortzuführen" (Wort an die Gemeinden, 1936: Luth. Generalsynode 1948, 214). Lutherische Teilnehmer hatten nach der unmittelbar vorangegangenen 4. Bekenntnissynode in Oeynhausen eine „Mißachtung durch die Dahlemer Brüder" (Braun/Nicolaisen II, Dokument 19) beklagt. Das Luthertum müsse wieder Handlungsfreiheit gewinnen und seine Interessen gegenüber der „Dahlemer Leitung" und dem Reichskirchenausschuß vertreten, den man nicht im Stich lassen dürfe. Die Bundesgemeinschaft mit der Bekennenden Kirche dürfe dabei aber nicht aufgegeben werden (ebd.). Die Aufgabe bestehe darin, die lutherischen Bruderräte mit dem Lutherischen Pakt oder mit den Resten des Direktoriums von 1933 zusammenzubringen, wie Niklot Beste (1901-1987) (Mecklenburg) das in einem Brief an Meiser vom 14. September 1935 zum Ausdruck brachte, und dabei „in der Bewegung der Bekennenden Kirche zu bleiben" (Braun/Nicolaisen II, Dokument 21).

Natürlich wurde die Bildung des Rates seitens der nichtlutherischen Teile der Bekennenden Kirche mit Mißtrauen verfolgt. Es wird eine Spaltung und damit Schwächung der Bekennenden Kirche befürchtet. Die „lutherischen Mitglieder" der 2. Vorläufigen Kirchenleitung formulieren ihren Widerspruch am 25. März 1936 und beklagen, daß Unionslutheraner an den Beratungen nicht beteiligt wurden. In einem eigenen Anschreiben dazu wird deutlich gemacht, daß die Vorläufige Kirchenleitung keine Möglichkeit sieht, „von dem Auftrag der Leitung und Vertretung etwas preiszugeben, der ihr von der Bekenntnissynode übertragen worden ist" (K. D. Schmidt, Nr. 196f.). Das alles konnte die Akteure auf lutherischer Seite nicht überraschen. Sie blieben gleichwohl von der Richtigkeit ihres Vorgehens überzeugt, ohne allerdings den Bund mit den anderen riskieren zu wollen. Dem Rat gehören zum Zeitpunkt seiner Bildung an die Landesbischöfe von Bayern, Hannover und Württemberg sowie die Bruderräte von Mecklenburg, Sachsen und Thüringen. Eineinhalb Jahre später nennen die Grundbestimmungen die „Landeskirchen Bayern, Braunschweig, Hannover, Sachsen, Schaumburg-Lippe und Württemberg, die lutherische Klasse der Lippischen Landeskirche sowie die lutherischen Landeskirchen in Lübeck, Mecklenburg, Schleswig-Holstein und Thüringen in ihren Vertretungen durch die Bruderräte", die den Bund lutherischer Landeskirchen innerhalb der DEK bilden (Grundbestimmungen des Rates vom 21. Oktober 1937: Luth. Generalsynode 1948, 219ff.). Außerdem arbeiten in einem Gastverhältnis mit „die unierten Landeskirchen von Baden und Kurhessen-Waldeck, beide mit dem Willen zu einer Neubesinnung hinsichtlich ihres Bekenntnisstandes" (Denkschrift des württembergischen Oberkirchenrats: Luth. Generalsynode 1948, 231; vgl. auch Braun/Nicolaisen II, X X I I Anm. 25).

Ziel der Bildung des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands ist die Ausgestaltung zur Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands: „Die Kirchen sind willens, unter Gewährleistung ihrer Eigenart sich künftig der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands als Sprengel einzufügen" ( § 2 der Grundbestimmungen). Genau dieses Ziel war aber zunächst umstritten: Sollte man die „territorialen Landeskirchen" preisgeben (Thomas Breit [1880-1966])? Sollte man diesen Schritt jetzt vorsehen oder später (Marahrens)? Auch Württemberg zögert, während Mecklenburg „aus dem territorialen Rahmen" herauskommen will (Braun/Nicolaisen II, Dokument 25). Eine andere offene Frage nach Bildung des Rates ist die nach seiner tatsächlichen Leitungskompetenz: Was ist „geistliche Leitung", wie wird sie wahrgenommen, wie vollzieht sich „bekenntnisgebundenes Kirchenregiment" (ebd.)?

Die Grundbestimmungen vom 21. Oktober 1937 haben das Ganze zu einem in sich stimmigen Konzept verarbeitet. In einem „Schlußprotokoll" wird dabei auch die Frage

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der Unionslutheraner behandelt: „Lutherische Gemeinden oder Einzelpersonen innerhalb einer unierten Kirche können dem Bund nicht angeschlossen werden." Der Lutherische Pakt wurde faktisch in den Luther-Rat integriert (s. Vorspruch der Grundbestimmungen), der Lutherische Rat wurde aufgelöst (Luth. Generalsynode 1948, 215f.). 3.4 Der Zusammenschluß

nach 1945

Mit den Grundbestimmungen liegt faktisch das Programm vor, mit dem der LutherRat in die Diskussion um die Neukonstituierung der Deutschen Evangelischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg ging. Für den 2 7 . - 3 1 . August 1945 hatte Theophil Wurm (1868-1953) zu einer „Kirchenversammlung" nach Treysa eingeladen. Meiser lud für die Tage davor (24./25. August) den Luther-Rat ebenfalls nach Treysa ein, ebenso wie -»•Niemöller zu einer „Vortagung" des Reichsbruderrates vom 2 1 . - 2 4 . August nach Frankfurt eingeladen hatte. Damit waren die „Fronten" klar. Wenn auch auf der Sitzung des Luther-Rates nach dem Protokoll „schließlich" alle zustimmen, die „Vereinigte evangelisch-lutherische Kirche Deutschlands" zu schaffen und einen Ausschuß für die baldige Ausarbeitung einer Verfassung einzusetzen, insoweit also eine Fortsetzung der bisherigen Arbeit beschlossen wird, so ist doch andererseits deutlich, daß Meisers Frage auf der Sitzung gelautet hatte, ob man „jetzt" bereit sei, „die Vereinigte deutsche lutherische Kirche" zu schaffen. Dazu erklärt Württemberg, „ihm scheine die Zeit hierfür noch nicht gekommen". Ob Meiser und der Luther-Rat wirklich die Deutsche Evangelische Kirche durch eine Deutsche lutherische Kirche ersetzen wollten, mag dahingestellt bleiben. Fleisch legte in Treysa den Verfassungsentwurf für eine „Deutsche lutherische Kirche" vor, tatsächlich geht es wohl doch nicht um mehr als um eine Fortschreibung der Arbeit des Luther-Rates, also um den Zusammenschluß der lutherischen Kirchen, allerdings mit der wichtigen Erweiterung, daß „die östlichen Kirchenprovinzen der bisherigen Evangelischen Kirche der ApU [Altpreußischen Union] der DLK beitreten" können (Vertreter von Danzig und Posen nahmen an der Sitzung teil).

In einer Erklärung vom 27. August 1945 stellt der Rat fest, daß die in ihm zusammengeschlossenen Kirchen sich aufgerufen wissen, „die Neuordnung der DEK in der gleichen Gemeinschaft kirchlicher Entscheidung [sc. wie im Kirchenkampf] zu beginnen". Er sieht seine vornehmste Aufgabe darin, bei „der Neuordnung der Deutschen Evangelischen Kirche die Lutherische Kirche Deutschlands zur Darstellung zu bringen". Wurm entwickelte seit 1943 die Idee eines Kirchlichen Einigungswerkes: Sammlung der unterschiedlichen Kräfte in Anknüpfung an die in Barmen gewonnene Gemeinschaft unter Achtung der durch Schrift und Bekenntnis gegebenen Grundlagen. Entscheidend für die weitere Klärung wird die Entschließung des Luther-Rates vom 4. Juni 1947, in der es heißt: „Die VELKD will innerhalb der EKD in brüderlicher Gemeinschaft mit den übrigen evangelischen Kirchen in Deutschland bleiben. Sie fühlt sich mitverantwortlich für das gesamte evangelische Kirchentum in Deutschland." Sie „will die EKD nicht spalten, sondern im Gegenteil zu einer rechten kirchlichen Ordnung im Sinne eines Bundes von Bekenntniskirchen beitragen. Damit setzt sie die Linie der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem fort". Ausgeschlossen wird in dieser Entschließung die Ordnung der EKD als einer „unionistischen Einheitskirche" (Luth. Generalsynode 1948, 238; Brunotte 305). Die Kirchenversammlung der EKD hat diese Entschließung des Luther-Rates in einer eigenen Entschließung vom 6. Juni mit Dank zur Kenntnis genommen und erklärt „Ubereinstimmung darin, daß die EKD ein Bund lutherischer, reformierter und unierter Kirchen ist". Sie erklärt auch „Übereinstimmung darin, daß die EKD auf dem Boden der in Barmen getroffenen Entscheidungen steht" (Text bei Brunotte 308).

4. Verabschiedung

der

Verfassung

Am 8. Juli 1948 wurde in Eisenach die Verfassung der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands durch die Verfassunggebende Generalsynode einstimmig angenommen. Sie sollte am 31. Dezember desselben Jahres in Kraft treten, „sofern mindestens drei Gliedkirchen die Ratifikationsurkunden bei dem Vorsitzenden des Rates der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands hinterlegt haben" (Art. 18).

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Diese Voraussetzung wurde erfüllt, nachdem bereits zum Zeitpunkt der Verabschiedung bzw. in den Monaten danach Bayern (1947), Braunschweig (1947), Hamburg (1948), Hannover (1947), Mecklenburg (1947), Sachsen (1948), Schaumburg-Lippe (1946), Schleswig-Holstein (1948) und Thüringen (1948) der VELKD beigetreten waren. Lübeck folgte 1949 als zehnte Gliedkirche, 1967 auch Eutin. W ü r t t e m b e r g und Oldenburg sind der V E L K D nicht beigetreten, ebenso P o m m e r n nicht, das als lutherische Kirche in der Union im Gaststatus an der Synodentagung teilgenommen hatte und sich d a n k b a r für alle Bemühungen zeigte, „die T ü r offenzuh a l t e n " . Dieses Offenhalten der T ü r geschah durch eine N a m e n s ä n d e r u n g im letzten Augenblick, nämlich zwischen erster und zweiter Lesung des Verfassungstextes. W a r in der ersten Lesung, abweichend von Verfassungsentwurf, der N a m e „Evangelisch-Lutherische Kirche D e u t s c h l a n d s " a n g e n o m m e n w o r d e n (32 gegen 4 Stimmen), wurden dagegen besonders von Vertretern n o c h nicht beigetretener Kirchen Bedenken geltend g e m a c h t ; sie fühlten sich gleichsam als „illegitime Kinder des L u t h e r t u m s " . Als Meiser mitteilte, daß die Bischöfe keine Bedenken hätten, „vorläufig" bei dem ursprünglichen N a m e n zu bleiben, w a r der Weg frei für die „Vereinigte" Kirche. Dabei ist es geblieben. Nach der völligen Schließung der innerdeutschen Grenze durch die Regierung der D D R am 13. August 1961 wurde eine geordnete Arbeit der VELKD, vor allem die der Generalsynode, erheblich beeinträchtigt bzw. unmöglich gemacht. Darum beschloß diese im April 1965 (ohne die an der Ausreise gehinderten Vertreter der östlichen Gliedkirchen) das „Kirchengesetz über eine regionale Gliederung der Organe der V E L K D " , das zunächst die Weiterarbeit in einer VELKD ermöglichen sollte. 1968 beschlossen beide Regionalsynoden aufgrund der weiteren Entwicklung und im Interesse größerer Handlungsfreiheit der Organe in den Regionen die Möglichkeit der Verselbständigung der beiden Teile. Davon machte die Regionaltagung Ost noch im selben Jahr Gebrauch, so daß es ab 1. Dezember 1968 eine eigene Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche (VELK) in der D D R gab. Zu ihr gehörten die drei östlichen Gliedkirchen Mecklenburg, Sachsen und Thüringen. Ein Jahr später wurden erste Überlegungen über die Delegation von Aufgaben der VELK an den -»Bund der Evangelischen Kirchen in der D D R und im weiteren Verlauf zu dem Plan der Bildung einer Vereinigten Evangelischen Kirche (VEK) in der D D R angestellt. Dieser Plan wurde von den lutherischen Kirchen besonders gefördert, scheiterte aber schließlich an den reformierten Vertretern der berlin-brandenburgischen Synode (1984). Dem folgte eine Phase der Unsicherheit über den weiteren Weg der VELKD. Schließlich wurde der Generalsynode für ihre Tagung im Juni 1987 der Vorschlag vorgelegt, „die bisherigen Aufgaben der VELKD künftig möglichst weitgehend im Bund [sc. der Evangelischen Kirchen in der DDR] wahrzunehmen", gleichzeitig aber „an der in der VELK erreichten Gemeinsamkeit festzuhalten" und bestimmte Aufgaben „in Zukunft gemeinschaftlich im Rahmen des Bundes wahrzunehmen". Dementsprechend beschloß die Generalsynode im Juni 1988 das Kirchengesetz der VELK in der DDR zur Aufhebung ihrer Verfassung. Die Gliedkirchen hatten bereits ein Kirchengesetz beschlossen, das das künftige gemeinschaftliche Handeln regeln sollte. Zu den gemeinsamen Aufgaben gehörte auch die Wahrnehmung der Beziehungen zur VELKD. Die Verfassung der VELK wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1989 aufgehoben. Nach der Öffnung der Grenze im Herbst 1989 und der Herstellung der Deutschen Einheit 1990 sind Sachsen und Thüringen 1991 und Mecklenburg 1992 (mit Wirkung vom 31. Dezember 1991) der VELKD wieder beigetreten. Schleswig-Holstein, Hamburg, Lübeck und Eutin haben sich zusammen mit dem Kirchenkreis Harburg der hannoverschen Landeskirche mit Wirkung vom 1. Januar 1977 zur Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche zusammengeschlossen. Diese ist Gliedkirche der Vereinigten Kirche. Die 1948 verabschiedete Verfassung blieb hinter dem ursprünglichen Ansatz, den die Grundbestimmungen des L u t h e r r a t s von 1 9 3 7 verfolgt hatten, zurück. Waren diese noch von einer „Evangelisch-Lutherischen Kirche D e u t s c h l a n d s " ausgegangen, der sich die Kirchen als Sprengel einfügen (§ 2), k a m tatsächlich eine „ V E L K D " zustande, der die Kirchen als Gliedkirchen angehören. D a m i t w a r auch das Ziel der Überwindung der kirchlichen Grenzen, die aus dem landesherrlichen Kirchenregiment herrührten, zunächst nur bedingt erreicht w o r d e n . Andererseits stattete die Verfassunggebende Generalsynode die Vereinigte Kirche mit einer stabilen Organstruktur und einem Vorrang

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der Gesetze der VELKD vor den Gesetzen der Gliedkirchen aus, was zusammen mit dem vorgegebenen Konsens in Bekenntnisangelegenheiten aus der VELKD einen äußerst leistungsfähigen Kirchenkörper machte. Über das DNK gibt es zudem enge Beziehungen zu den nicht beigetretenen anderen lutherischen Kirchen in Deutschland, so daß man durchaus von einer wirksamen Gemeinschaft der lutherischen Kirchen in Deutschland sprechen kann. Ein eigenes Thema war bei den Verhandlungen der Verfassunggebenden Generalsynode die Bestimmung des Verhältnisses der VELKD zur EKD, deren Grundordnung vom 11. bis 13. Juli 1948 ebenfalls in Eisenach beraten und verabschiedet werden sollte. In dieser Hinsicht klärten sich Vorbehalte und Befürchtungen insofern, als Meiser nach der 1. Tagung der EKD-Synode in Bethel vom 9. bis 13. Janaur 1949 feststellen konnte, „daß die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands als die stärkste Gruppe in der EKD ihr auch den stärksten Rückhalt gewährt und daß die Einheit der EKD durch sie nicht gesprengt, sondern überhaupt erst gewährleistet wird" (Lutherische Generalsynode 1949, 92). Die VELKD beteiligte sich in den Jahren von 1969-1976 intensiv an den Diskussionen und Arbeiten zur Reform der Grundordnung der EKD. Die Generalsynode hat der neuen Grundordnung, die die Synode der EKD am 7. November 1974 beschlossen hatte, vorbehaltlich deren tatsächlichen Inkrafttretens durch Kirchengesetz vom 10. Oktober 1975 zugestimmt. Die Grundordnung konnte nicht in Kraft treten, nachdem ihr nicht alle Gliedkirchen zugestimmt hatten. 5.

Organe/Struktur

Organe der VELKD sind: die Bischofskonferenz und der Leitende Bischof, die Generalsynode, die Kirchenleitung. Der Leitende Bischof wird von der Generalsynode aufgrund eines Wahlvorschlags des Bischofswahlausschusses, der durch die Bischofskonferenz an die Synode weiterzuleiten ist, gewählt. Seine Amtszeit beträgt drei Jahre. Wiederwahl ist zulässig. Der Leitende Bischof ist der „erste Geistliche" der VELKD, er hat das Recht, auf allen Kanzeln der VELKD zu predigen, kann Hirtenbriefe erlassen und führt die Bischöfe der Gliedkirchen in ihr Amt ein. Er ist Vorsitzender der Kirchenleitung und der Bischofskonferenz. Nach der Satzung des DNK ist er zugleich auch dessen Vorsitzender. Zum ersten Leitenden Bischof wurde auf der 1. Tagung der 1. Generalsynode der bayerische Landesbischof Hans Meiser für eine damals noch sechsjährige Amtszeit gewählt. Der Bischofskonferenz gehören die Bischöfe der Gliedkirchen an. Aufgrund ihrer Größe entsenden Bayern und Hannover jeweils zwei weitere ordinierte Inhaber eines kirchenleitenden Amtes, Sachsen ein weiteres Mitglied in die Bischofskonferenz. Für die Nordelbische Kirche gehören die drei Bischöfe der Bischofskonferenz an. Die Bischofskonferenz wirkt bei der Gesetzgebung ebenso wie bei der Aufnahme von Kirchen, Kirchengebieten und Gemeinden in die VELKD mit. Sie kann entweder für sich oder gemeinsam mit der Generalsynode Kundgebungen erlassen. Sie kann den Gliedkirchen Empfehlungen geben, die das gottesdienstliche Leben und das geistliche Amt betreffen. Die Generalsynode ist das gesetzgebende Organ; ihr steht das Haushaltsrecht zu. Ihr gehören nach der Verfassungsänderung von 1995 62 Mitglieder an, von denen 54 (davon 18 ordinierte Theologen) von den gliedkirchlichen Synoden gewählt werden, acht weitere Mitglieder werden durch den Leitenden Bischof berufen. Die Amtszeit der Generalsynode beträgt sechs Jahre. Die Kirchenleitung besteht aus dem Leitenden Bischof, seinem Stellvertreter, einem weiteren Mitglied der Bischofskonferenz, dem Präsidenten der Generalsynode und neun weiteren von der Generalsynode aus ihrer Mitte zu wählenden Mitgliedern. Die Kirchenleitung leitet die VELKD; ihr obliegen alle Aufgaben, die nicht anderen Organen zugeordnet sind. Ihre Amtszeit beträgt entsprechend der der Generalsynode sechs Jahre. Das Lutherische Kirchenamt ist nicht selbst Organ, sondern Amtsstelle, die den Organen zuarbeitet. Außerdem gibt es ein kirchliches Verfassungs- und Verwaltungsgericht sowie ein Spruch-

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kollegium für Lehrangelegenheiten. Nach den Bestimmungen des Disziplinargesetzes von 1965 (ursprünglich Amtszuchtgesetz) ist ein Disziplinarsenat als 2. Instanz in Disziplinarangelegenheiten für die VELKD und ihre Gliedkirchen errichtet worden. Für eine Reihe von Arbeitsgebieten bildet die Kirchenleitung Fachausschüsse, die zum Teil auch für das DNK tätig sind und durch Gutachten und Studien zur Arbeit der VELKD beitragen. 6. Arbeitsbereiche

und

Arbeitsergebnisse

Neben dem theologischen Konsens auf der Grundlage des gemeinsamen Bekenntnisses und neben den Organen bestimmt sich die Einheit der V E L K D vor allem durch die gemeinsamen Gottesdienstordnungen, die Lehrordnung und die Lebensordnung. Dazu kommen das Pfarrergesetz (1963, 1988 novelliert), das Disziplinargesetz (1965), das Kirchenbeamtengesetz (1968), eine Verfahrensregelung zur gemeinsamen Rezeption von Lehrgesprächsergebnissen (1989). Für den Katechumenat wurden erarbeitet: das Konfirmandenbuch, der Evangelische Erwachsenenkatechismus, der Gemeindekatechismus, der Kinderkatechismus. Das Handbuch Religiöse Gemeinschaften orientiert über Kirchen, Freikirchen, Sekten, Weltanschauungsgemeinschaften. Dem Dialog zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften dienen: Was man vom Judentum wissen muß und Was man vom Islam wissen muß, dazu die Studie Religionen, Religiosität, christlicher Glaube (gemeinsam mit der Arnoldshainer Konferenz). Zu den einzelnen Kasualien wurden Handreichungen erarbeitet. Eine eigene Reihe zur sache enthält u.a. Studien des Theologischen Ausschusses zur Volkskirche, zur Schöpfung, zur Zweireichelehre; außerdem Dokumentationen über Tagungen der Bischofskonferenz zur Einheit der Kirche, zum Gottesdienst, zur feministischen Theologie. In der Reihe der Texte aus der VELKD werden Arbeiten, die in verschiedenen Zusammenhängen entstanden sind, veröffentlicht, ebenso Stellungnahmen im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, mit dem Porvoo-Dokument oder ein Gutachten Ehe als Leitbild und zum filioque. In einer Vielzahl von Erklärungen und Stellungnahmen haben sich die Organe und Fachausschüsse der VELKD zu theologischen Fragen wie Amt und Ordination, Schriftauslegung, Bekenntnis ebenso geäußert wie zu Fragen des Gemeindeaufbaus, der Seelsorge und zu ökumenischen Angelegenheiten. Von 1958 - 1 9 7 1 erschienen in der Reihe missionierende Gemeinde insgesamt 22 Titel. Die amtlichen Veröffentlichungen erfolgten bis zum 31. Dezember 1953 im Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, seitdem im Amtsblatt der VELKD. das Theologische StudienseDie V E L K D unterhält eine Reihe von Einrichtungen: minar in Pullach (ursprünglich Predigerseminar, 1959); das Gemeindekolleg in Celle (1986); das Liturgiewissenschaftliche Institut bei der Theologischen Fakultät in Leipzig (1993); schließlich ein nicht ortsgebundenes Pastoralkolleg (1956). Die Tradition der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung, gegründet 1868 durch die AELK und 1941 zunächst abgebrochen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung, seit 1962 durch die Lutherischen Monatshefte fortgesetzt. Diese kooperieren seit 1998 mit Die Zeichen der Zeit und fusionieren mit diesen, den Evangelischen Kommentaren und der Reformierten Kirchenzeitung mit Wirkung vom 1. Oktober 2000 zu einer gemeinsamen evangelischen Monatszeitschrift, den Zeitzeichen. 1975 hat die V E L K D eine Einladung an römisch-katholische Christen zur Teilnahme am Abendmahl im lutherischen Gottesdienst in besonderen Fällen ausgesprochen. Die dafür gegebene Begründung ist faktisch die Erklärung der offenen Kommunion. Die Arnoldshainer Konferenz hat sich diese Einladung zu eigen gemacht. Sie wurde in einem gemeinsamen Wort des Rates der EKD, des Vorstands der Arnoldshainer Konferenz und der Kirchenleitung der V E L K D zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre vom 11. Oktober 1999 erneuert. Die römisch-katholische Kirche hat sie bisher konsequent zurückgewiesen. Zur Evangelischen Kirche der Union (EKU) und zur Arnoldshainer Konferenz bestehen geregelte Arbeitsbeziehungen. Mit der E K U hat sich die Zusammenarbeit besonders im Bereich der Agenden intensiviert. Die Leitungsgremien von VELKD und Arnoldshainer Konferenz kommen regelmäßig zu Arbeitsbesprechungen zusammen. V E L K D und Arnoldshainer Konferenz sind gemeinsam Träger der regelmäßig stattfin-

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denden Konsultationen zwischen Kirchenleitungen und Wissenschaftlicher Theologie sowie der Tagungen für Richter an kirchlichen Gerichten. Die ökumenische Arbeit gehört zu den ursprünglichen Aufgaben der VELKD und ergibt sich aus ihrer Vorgeschichte und der damit gegebenen Verankerung im Lutherischen Weltbund. Das entspricht auch dem Selbstverständnis einer Kirche, die gleichermaßen dem Bekenntnis und der Einheit der Kirche verpflichtet ist. Die Confessio Augustana ist in diesem Sinne zu interpretieren. Die VELKD folgt dem Konzept der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit", wie es in der —»Leuenberger Konkordie (1973) zuerst verwirklicht und vom Lutherischen Weltbund auf seiner 6. Vollversammlung in Daressalam (1977) rezipiert wurde. Die Generalsynode hat 1949 auf ihrer 1. Tagung den Gliedkirchen die unmittelbare Mitgliedschaft im ökumenischen Rat der Kirchen unter ausdrücklicher Nennung der Konfessionszugehörigkeit der Kirche und ihrer Vertreter empfohlen. 1950 wurden für das Lutherische Kirchenamt die Voraussetzungen für die tatsächliche Wahrnehmung des eigenständigen ökumenischen Mandats der VELKD geschaffen; gleichzeitig wurde der EKD gegenüber geltend gemacht, daß in der Arbeit des Kirchlichen Außenamtes dem „Charakter der EKD als eines Bundes bekenntnisbestimmter Kirchen bei allen Fragen der Diaspora und der Ökumene" Rechnung getragen werden müsse. Das ökumenische Mandat der VELKD wurde von der Kirchenleitung 1977 bestätigt und differenziert. Mit einer Reihe lutherischer Diaspora-Kirchen in Europa wurden Vereinbarungen geschlossen: Mit der Evangelisch-lutherischen Kirche in Zürich (1951), 1971 ausgeweitet auf Vaduz, St. Gallen und den Bund Evangelisch-Lutherischer Kirchen und Gemeinden in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein; mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien (1952); mit der EvangelischLutherischen Kirche in Irland (1962) und der Evangelisch-Lutherischen Synode deutscher Sprache im Vereinigten Königreich (1957; 1971, nach der Bildung der Evangelischen Synode, unter Fortführung der Beziehungen zur VELKD weitergeführt mit der EKD). Grundsätzlich nimmt die VELKD ihre Beziehungen zu lutherischen Kirchen weltweit in Gemeinschaft mit ihren Gliedkirchen, den Missionswerken, dem Lutherischen Weltbund und der EKD wahr. Besondere Beziehungen bestehen zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Brasilien, zu den lutherischen Kirchen im südlichen Afrika (1973: Einrichtung des Fonds für Gerechtigkeit und Versöhnung zur Unterstützung von Programmen zur Uberwindung der rassischen Spannungen, verbunden mit der Ablehnung des Anti-Rassismus-Programms des ÖRK), zur Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania, zur äthiopischen Mekane-Jesus-Kirche, zur Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche in Indien, den lutherischen Kirchen Indonesiens sowie in Nord- und Mittelamerika.

Die VELKD unterstützt in ihrer ökumenischen Arbeit vorrangig die Ausbildung für den Verkündigungsdienst und Bemühungen um die Herstellung der Einheit lutherischer Kirchen in einem Land bzw. einer Region. Vertreter der nordischen lutherischen Kirchen und weiterer lutherischer Kirchen in Europa nehmen an den Klausurtagungen der Bischofskonferenz der VELKD teil. Seit Ende der achtziger Jahre beteiligt sich die VELKD an den Hilfsmaßnahmen des Lutherischen Weltbundes und ihrer Gliedkirchen für die lutherischen Kirchen im Baltikum und in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Zur ökumenischen Arbeit gehören auch die interkonfessionellen Kontakte. Eigene Lehrgespräche hat die VELKD mit den Methodisten geführt mit dem Ergebnis der Herstellung von Kirchengemeinschaft, dem auch die anderen Gliedkirchen der EKD beigetreten sind. Gespräche mit den Mennoniten haben zu eucharistischer Gastbereitschaft geführt. Förmliche Lehrgespräche werden mit der römisch-katholischen Kirche und mit der altkatholischen Kirche geführt. Besonders intensiv hat die VELKD an der Vorbereitung und der Rezeption der Leuenberger Konkordie, durch die auch die Abendmahlsproblematik in der EKD endgültig gelöst wurde, mitgearbeitet und beteiligt sich an der Weiterarbeit. Sie tut das „in Bindung an die sie verpflichtenden Bekenntnisse" (Leuenberger Konkordie, Ziffer 30). Die Bekenntnisdifferenzierung wird durch die Leuenberger Konkordie nicht aufgehoben, sie hat aber ihre kirchentrennende Kraft verloren. Die Diaspora-Arbeit wird in direkten Beziehungen und mit dem Martin-Luther-Bund, der

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wie das Lutherische Einigungswerk Werk der V E L K D ist (beide seit 1 9 5 0 , ursprünglich auch die Leipziger Mission), w a h r g e n o m m e n . Die V E L K D hat teil an der Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Diese setzt das Bleiben in der jeweiligen Bekenntnistradition voraus und nutzt sie für die Gemeinschaft. Konfessionalität ermöglicht Identifikation in der Vielfalt. In diesem Sinne sind Existenz und Auftrag der V E L K D theologisch, ökumenisch und von der Gemeinde her definiert. Z u s a m m e n mit der E K D , der E K U und der Arnoldshainer Konferenz bringt die V E L K D das gesamtkirchliche H a n d e l n der evangelischen Kirchen in Deutschland zur Darstellung. Alle genannten Gliederungen tun das im R a h m e n der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten. Keine ist allein für alles verantwortlich. Gemeinsam bilden sie ein Ganzes. Deshalb nehmen sie in K o o p e r a t i o n und Arbeitsteilung aufeinander Bezug. Der Dienst des einzelnen ist zugleich auch Dienst für die Gesamtheit. Das konfessionelle Element k o m m t dabei konstruktiv zur Geltung, soweit es sich in eine Beziehung zur Kirche Jesu Christi setzt. Es kann für sich keine Exklusivität beanspruchen. Konfession hat ihren O r t in der Einheit der Kirche Jesu Christi. D a n n gehört sie allerdings auch unverwechselbar zur geschichtlichen Gestalt der Kirche, geht aber zugleich über sie hinaus, indem sie die Wahrheit bezeugt, die selbst nicht geschichtlich ist und alles Kirchesein vollendet. Quellen ABl VELKD. - Amtsbl. der Ev.-Luth. Kirche in Bayern, 1948-1953. - Hannelore Braun/Carsten Nicolaisen (Bearb.), Verantwortung f. die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen u. Mitschriften v. Landesbischof Hans Meiser 1933-1955, 1 1985 II 1993 (AKZG R. A 1.4). - Alfred Burgsmüller/ Rudolf Weth (Hg.), Die Barmer Theol. Erklärung. Einf. u. Dokumentation, Neukirchen-Vluyn 1983 = '1998. - Luth. Generalsynode, Ber. über die Tagungen der Verfassunggebenden Generalsynode 1948 u. über die Tagungen der Generalsynode: dies., Darst. u. Dokumente zur Gesch. der luth. Kirchen, Berlin/Hamburg 1956-1980 Hannover 1981ff. - Carsten Nicolaisen/Nora Andrea Schulze (Bearb.), Die Protokolle des Rates der EKD. I. 1945/46, mit einer Einl. v. Wolf-Dieter Hauschild, 1995 (AKZG R . A 5). - Ordnungen u. Kundgebungen der VELKD, hg. vom Luth. Kirchenamt, Berlin 1954. - Recht u. Verlautbarungen der VELKD, bearb. u. hg. v. Martin Lindow, Hannover 1989ff. [mit allen einschlägigen Texten]. - Kurt Dietrich Schmidt, Dokumente des Kirchenkampfes. II. Die Zeit des Reichskirchenausschusses 1935-1937, 2 Teilbde., 1964-1965 (AKZG R. A 13-14). Literatur Heinz Brunotte, Die Grundordnung der EKD. Ihre Entstehung u. ihre Probleme, Berlin 1954. - Paul Fleisch, Das Werden der VELKD u. ihrer Verfassung: ZEvKR 1 (1951) 15 - 5 5 . - Ders., Erlebte KG, Hannover 1952. - Ders., Für Kirche u. Bekenntnis. Gesch. der Allg. Ev.-Luth. Konferenz, Berlin 1956. - Siegfried Grundmann, Der Luth. Weltbund. Grundlagen, Herkunft, Aufbau, Köln 1957. - Wilfried Härle/Heinrich Leipold (Hg.), Lehrfreiheit u. Lehrbeanstandung. I. Theol. Texte; II. Kirchenrechtliche Dokumente, Gütersloh 1985 (Reader Theol.). - Wolf-Dieter Hauschild, Konfessionelles Selbstbewußtsein u. kirchl. Identitätsangst: Jürgen Jeziorowski (Hg.), Kirche im Dialog, Hannover 1988, 1 9 - 4 7 . - Ders., Art. VELKD: EKL 3 4 (1996) 1 1 2 0 - 1 1 2 5 . - Friedrich Hübner, Art. VELKD: R G G 3 6 (1962) 1 2 7 2 - 1 2 7 5 . - Ders., Hans Asmussen u. Hermann Sasse in Barmen auf der Bekenntnissynode 1934: Barmen u. das Luthertum, hg. v. Reinhard Rittner, Hannover 1984 (FuH 27) 3 6 - 7 1 . - Ludwig Ihmels, Art. Luth. Weltkonvent: RGG* 3 (1929) 1779. Wilhelm Kahle/Gottfried Klapper/Wilhelm Maurer/Martin Schmidt, Wege zur Einheit der Kirche im Luthertum, 1976 (LKGG 1). - Joachim Mehlhausen, Fünfzig Jahre Grundordnung der EKD. Erbe u. Auftrag: FS f. Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 1999, 1 5 9 - 1 7 7 . - Stephen Charles Neill, Art. Einigungsbestrebungen V: R G G 3 2 (1958) 3 9 4 - 3 9 8 . - Friedrich-Otto Scharbau, Art. VELKD: ESt 3 2 (1987) 3 7 0 6 - 3 7 1 5 . - Ders., Bekenntnis - Kirche - Gemeinschaft. Zur Frage des Verhältnisses v. Konfessionalität u. gesamtkirchl. Strukturen, Frankfurt a. M . 1999 (epdDokumentation Nr. 17/99). - Martin Schmidt, Art. Einigungsbestrebungen II: R G G 3 2 (1958) 3 8 1 386. - Kurt Schmidt-Clausen, Vom Luth. Weltkonvent zum Luth. Weltbund, 1976 (LKGG 2). Hugo Schnell, Johann Frank, Die VELKD: K J 1969 (1971) 317 - 4 0 8 . - Heinz Horst Schrey, Art. Einigungsbestrebungen IV: R G G 3 2 (1958) 3 9 0 - 3 9 4 . - Karl Heinz Stoll, Der Wahrheitsfrage verpflichtet: Jürgen Jeziorowski (Hg.), Kirche im Dialog, Hannover 1 9 8 8 , 9 - 1 8 . - Nathan Soederblom, Art. Einigungsbestrebungen III: R G G 1 2 (1928) 8 0 - 8 8 . - Erwin Wilckens, Die Kirchen in der D D R : K J 1969 (1971) 1 5 6 - 3 1 6 . F r i e d r i c h - O t t o Scharbau

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Vereinigte Staaten von Amerika 1. Einleitung 4 . Eine W e l t m a c h t

1.

2 . Kolonien in der atlantischen Welt 3. Ein kontinentaler 5 . Religionsstatistik (Quellen und Literatur S. 636)

Nationalstaat

Einleitung

Die Geschichte des Christentums in den Vereinigten Staaten von Amerika gewinnt ihre Gestalt durchgängig aus einem ständig wachsenden Zusammenströmen unterschiedlicher Bevölkerungselemente, das unausweichlich ebenso zu Auseinandersetzungen wie zu wechselseitiger Durchdringung unterschiedlicher Traditionen führt. Sie spiegelt damit in besonderem M a ß e die im Gang befindliche Globalisierung des Christentums. Der aus dem Unabhängigkeitskampf mit Großbritannien hervorgegangene neue amerikanische Nationalstaat hat seine geschichtlichen Wurzeln in der Frühgeschichte der atlantischen Welt, in drei Jahrhunderten, in denen die Völker Europas, Afrikas und Nordund Südamerikas in einer vielschichtig ineinander greifenden Entwicklung von Handel, Eroberung und Kolonisierung (in deren Verlauf die britische Besiedlung der nordamerikanischen Küste nur ein Schritt war) in einer bislang beispiellosen Weise zusammenrückten. Seine kirchliche Zuordnung und geistige Haltung wurde dabei überwiegend von einem der reformierten Tradition verpflichteten britischen Protestantismus bestimmt. Diese britische protestantische Tradition war allerdings in sich selbst uneinheitlich, stand neben einem außerordentlich vielfältigen Protestantismus kontinentaleuropäischer, in erster Linie deutscher Herkunft wie auch kleinen Bevölkerungsgruppen von Katholiken und Juden; sie teilte das Land zudem mit einem bedeutenden, zumeist versklavten Bevölkerungsanteil afrikanischer Herkunft und zahlreichen während der Kolonialzeit nur oberflächlich christianisierten Angehörigen der amerikanischen Ureinwohner (-»Amerikanische Religionen). Während des 19. J h . bis in die 20er Jahre des 20. J h . erlebte das amerikanische Christentum eine zunehmende Auffächerung mit teilweise erbitterten Gegensätzen. Sie ging teils auf eine Vielzahl neuer Bewegungen und Spaltungen (zumal über die Praxis der Rassensklaverei) unter den Protestanten britischer Herkunft zurück und teils auf Gebietserweiterungen mit der Einbeziehung einer meist katholischen Bevölkerung in Florida, Louisiana und im Südwesten, mehr aber noch auf eine massive Einwanderung aus einer wachsenden Zahl europäischer Völker (von denen viele größtenteils römischkatholisch, einzelne aber auch vorwiegend orthodox waren) sowie eine zunehmende Hinwendung von Afroamerikanern und Ureinwohnern zum Christentum. Zudem führte die Einwanderung eine wachsende Zahl von Juden ins Land und ließ während der zweiten Hälfte dieses Zeitraums vornehmlich im Westen eine bedeutende asiatische Minderheit heranwachsen. In der Zeit zwischen der Mitte der 1920er und der Mitte der 1960er Jahre schien das Christentum in den Vereinigten Staaten demgegenüber eine größere innere Festigkeit im Rahmen eines stärkeren kulturellen Konsenses gefunden zu haben. Die andauernde Vervielfältigung neuer protestantischer Gruppierungen wurde ausgeglichen durch eine wachsende Bedeutung denominationeller Zusammenschlüsse, ökumenischer Zusammenarbeit und eines sich herausbildenden (wenn auch keineswegs allgemeinen) Konsenses, der im Protestantismus, Katholizismus und Judentum gleichermaßen annehmbare Formen amerikanischer Religion sah. Nach der Mitte der 1960er Jahre traten jedoch die Grundzüge des voraufgegangenen Zeitraums erneut hervor. Die kulturelle Unruhe der 1960er Jahre kennzeichnet den Beginn einer nachhaltigen institutionellen Schwächung der vorherrschenden Denominationen des alten protestantischen Hauptstroms, die immer weniger in der Lage waren, die Mitte des amerikanischen Christentums vorzugeben. Für den Katholizismus in den Vereinigten Staaten begann eine Zeit zunehmenden öffentlichen Einflusses, aber auch wachsender innerer Auseinandersetzungen. Die Bürgerrechtsbewegung, die Mitte der 1960er Jahre die Beendigung der gesetzlich verfügten Rassentrennung in den Südstaaten erreichte, führte eine Zeit

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herauf, in der Afroamerikaner nachdrücklicher auf Gleichberechtigung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft bestanden, und die christlichen Kirchen zeigten sich empfänglicher für nichtchristliche Religionen. Vor allem aber öffnete 1965 ein deutlicher Kurswechsel in der Einwanderungsgesetzgebung die Vereinigten Staaten erneut für eine breite Zuwanderung, die jetzt in bislang ungekanntem Umfang nicht nur von Lateinamerika und der Karibik ausging, sondern auch von Afrika und Asien. Sie brachte eine zunehmende Präsenz religiöser Traditionen mit sich, die in Amerika zuvor zahlenmäßig unbedeutend gewesen waren, vor allem des -»Islam - eine folgenreiche Entwicklung, mit der die amerikanischen Kirchen sich nur erst ansatzweise auseinandergesetzt haben. Zugleich erwuchs daraus eine deutliche Zunahme der Unterschiede innerhalb des amerikanischen Christentums selbst. Hervorzuheben ist, daß in dieser langen und verwickelten Geschichte weder innerhalb des amerikanischen Christentums noch der amerikanischen Religion allgemein das bloße Gegebensein einer Pluralität automatisch oder unangefochten zu einer normativen Vorstellung von -»Pluralismus im Sinne einer weithin geteilten Bejahung religiöser Vielfalt oder einer allgemein geltenden Bestimmung ihrer annehmbaren Formen geführt hat. Vielmehr waren normative Vorstellungen von religiöser Pluralität, die unausweichlich bestimmte Formen religiöser Überzeugung und Praxis ein- und andere ausschließen, im amerikanischen Christentum stets ein zentraler Streitpunkt. In der frühen Geschichte der Vereinigten Staaten waren Protestanten, die sich dazu verstanden hatten, ein bestimmtes Maß an Lehrunterschieden und unterschiedlicher Bräuche im eigenen Lager als annehmbare Vielfalt innerhalb eines gemeinsamen Rahmens gelten zu lassen, selten bereit, auf der gleichen Grundlage römische Katholiken anzuerkennen. Christen des 20. Jh., die sich auf den dreigestaltigen Pluralismus von Katholiken, Protestanten und Juden eingestellt hatten, waren über die Voraussetzungen, unter denen der Islam in Amerika aufzunehmen sei, weniger sicher. Gleichzeitig hat es im Verlauf der amerikanischen Geschichte immer wieder christliche Bewegungen gegeben, die von einem vermeintlichen Übermaß an Pluralität und Individualismus ausgingen und eine erneuerte Bindung an gemeinsame Werte und eine allgemein verbindliche Ordnung forderten. Wiederholt ist dabei auch das Beispiel der frühen amerikanischen Puritaner als Vorbild einer gemeinsamen religiösen Ausrichtung heraufbeschworen worden, von dem die folgenden Generationen abgewichen seien. Und bis heute ist dabei stets die Frage offen geblieben, ob überhaupt eine — religiöse oder anderweitige — Näherbestimmung von Pluralismus oder eine Ausformulierung gemeinsamer Werte geeignet ist, das tiefgreifendste und noch ungelöste Problem des amerikanischen Lebens anzugehen, das Erbe der Rassensklaverei, eine Aufgabe, der sich amerikanische Christen nur gelegentlich gestellt haben. 2. Kolonien

in der atlantischen

Welt

2.1. Die Geschichte des Christentums in den Vereinigten Staaten von Amerika wurzelt in der voraufgehenden Geschichte der atlantischen Welt (d.h. eines eingespielten Systems durch den Atlantik vermittelter Wechselbeziehungen). Sie beginnt im 15. Jh. mit den Entdeckungsfahrten, die unter portugiesischer Führung längs der Westküste Afrikas zur Erkundung, Rekrutierung von Sklaven und Begründung von Handelsbeziehungen unternommen wurden (-»Portugal; -»Spanien). Nach der Kolumbusreise von 1492 wurde sie zu einer transatlantischen Welt, in der das Zusammenfließen afrikanischer, europäischer und indianischer Bevölkerungselemente den bestimmenden Hintergrund für alle weiteren Entwicklungen schuf. Das Christentum trat zunächst in die neue atlantische Welt mit Vorstellungen ein, die im Mittelmeerraum entstanden waren. Die Portugiesen sahen in ihren afrikanischen Unternehmungen anfangs eine Fortsetzung ihrer Auseinandersetzungen mit dem Islam in Nordafrika, während Kolumbus den spanischen Herrschern versicherte, die Reichtümer der Neuen Welt ermöglichten ihnen die Eroberung Jerusalems. Die im späten Mittelalter in der lateinischen Christenheit erneuerte und

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vornehmlich im Zusammenhang der Theorie des gerechten -»Krieges (und in Parallele zu ihr) gedeutete Einrichtung der -»Sklaverei wurde als wesentliches Mittel zur Organisation nichteuropäischer Arbeitskraft auf die atlantische Welt übertragen und bildete den vornehmlichen Rahmen für die Evangelisation nichteuropäischer Bevölkerungsgruppen (vgl. TRE 31,385,9—41). In den von den iberischen Mächten beherrschten Ländern setzte die Kirche sehr auf die Bruderschaft als Medium der Eingliederung von Nichteuropäern in die christliche Welt. Die Portugiesen suchten anfänglich, Afrikaner für das Priesteramt zu gewinnen und förderten 1520 im Kongo sogar die Weihe eines einheimischen Fürsten zum Bischof, und auf beiden Seiten des Atlantik wurden wiederholt Anstrengungen unternommen, den Zugang zur Geistlichkeit für Nichteuropäer zu öffnen. Tatsächlich aber wurden weit häufiger Rassenschranken aufgerichtet. Sie stellten sicher, daß wie die politische und wirtschaftliche Macht auch die institutionelle religiöse Leitung für lange Zeit fast ausschließlich in den Händen von Europäern lag, und haben damit die Entwicklung des Christentums in der atlantischen Welt nachhaltig bestimmt. Während seiner Frühzeit war das Christentum der atlantischen Welt römisch-katholisch. Doch schon seit dem späten 16. Jh. durchbrachen zunehmend protestantische Mächte das portugiesisch-spanische Monopol beiderseits des Atlantiks, und neben französischen Katholiken traten in Amerika auch -»Hugenotten auf den Plan. Ein hugenottischer Versuch einer Ansiedlung im heutigen South Carolina und in Florida während der 1560er Jahre veranlaßte Spanien 1563 zur Einrichtung seines ersten dauerhaften Stützpunktes auf dem Boden der heutigen Vereinigten Staaten in St. Augustine in Florida. Eine Reihe früherer, 1513 einsetzender spanischer Unternehmungen, die von den spanischen Kolonien auf den Karibischen Inseln ausgingen und zu denen auch der heroische, aber glücklose Missionsvorstoß des Dominikaners Louis Cancer de Barbastro von 1549 zählte, hatte dagegen noch keine beständige Basis schaffen können. Indessen gelang es spanischen Kräften, mit einer Reihe von Vorstößen aus Neuspanien nach Norden dauerhaft im heutigen New Mexiko Fuß zu fassen mit Santa Fe, das 1610 die Stellung einer Stadtgemeinde erhielt, als Hauptort. Von dieser Basis und später auch noch von anderen Stützpunkten aus, die sich von Texas bis zur kalifornischen Pazifikküste hinzogen, hat der spanische Katholizismus dem religiösen Leben des amerikanischen Südwestens eine andauernde Prägung gegeben. Die spanischen Erfolge hielten jedoch -»Frankreich, -»England, die -»Niederlande und selbst —»Schweden nicht davon ab, ihrerseits während des frühen 17. Jh. Kolonien in Nordamerika zu gründen. Bereits in den 1530er Jahren hatten französische Expeditionen den St. Lorenz-Strom erkundet, und es hatte auch Bemühungen gegeben, hier und anderwärts in -»Kanada dauerhafte Stützpunkte anzulegen; doch erst 1608 wurde Quebec gegründet. An dieser Gründung wie auch an der etwa gleichzeitigen Bildung einer französischen Niederlassung in Acadia (im heutigen Neuschottland) waren sowohl Hugenotten als auch römische Katholiken beteiligt. Der beständige Bodenverlust des Protestantismus im Frankreich des Kardinals Richelieu (1585-1642) brachte indessen mit sich, daß Neufrankreich alsbald zu einem gänzlich katholischen Unternehmen wurde und damit sowohl politisch als auch religiös mit den Kolonien britisch Nordamerikas rivalisierte. Zur gleichen Zeit, zumal seit der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685, wanderten französische Hugenotten aus Europa in die englischen Kolonien aus, insbesondere nach New York und South Carolina, wo sie jedoch ihre eigene religiöse Identität nicht lange bewahrten, sondern rasch vom vorherrschenden englischen Protestantismus assimiliert wurden. Die erste dauerhafte englische Niederlassung wurde 1607 in Jamestown in Virginia gegründet. Auch hier war der Gründung eines beständigen Stützpunktes eine Reihe von Fehlschlägen voraufgegangen. Jetzt aber folgten schnell andere erfolgreiche Niederlassungen. 1620 versuchten die Pilgerväter nach Virginia zu kommen, landeten statt dessen aber im heutigen Massachusetts in Neuengland und gründeten eine Niederlassung in Plymouth. Innerhalb eines Jahrzehntes entstand ebenfalls die bevölkerungsstärkere einflußreiche Massachusetts Bay Kolonie mit Boston als Hauptort, die von einem für das

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Christentum in Neuengland lange tonangebenden —• Puritanismus bestimmt war. Inzwischen waren die Niederländer längs der Flüsse Connecticut, Hudson und Delaware in Erscheinung getreten und gründeten Mitte der 1620er Jahre die Kolonie Neu-Niederlande. Allerdings konnten sie ebensowenig wie die Schweden, die 1638 eine kurzlebige kleine Kolonie am Delaware gegründet hatten, ihre Herrschaft auf Dauer behaupten. 1664 ging die Kolonie in englischen Besitz über, und ihr Mittelpunkt wurde in New York umbenannt. Dennoch hat die niederländische Zeit diesem Raum eine nachhaltige Prägung gegeben, wohl ebenso mit einer andauernden Wirkung des niederländischen Protestantismus wie mit der kaufmännisch kosmopolitischen Ausrichtung Neu Amsterdams. Darüber hinaus hat der niederländische Einfluß in der atlantischen Welt auch außerhalb dieses niederländischen Siedlungsbereichs das Leben der englischen Kolonien auf unterschiedliche und vielfältige Weise berührt. Das reicht von der Zuflucht, die die Niederlande den Pilgervätern bei ihrer Flucht aus England boten, über den Einfluß niederländischer Theologen auf den neuenglischen Puritanismus bis dahin, daß die, soweit bekannt, ersten in Virginia zum Verkauf kommenden afrikanischen Sklaven 1619 von einem niederländischen Sklavenhändler ins Land gebracht wurden. Von entscheidender Bedeutung war, daß die meisten der dreizehn Kolonien britisch Nordamerikas, die am Ende die Vereinigten Staaten bildeten, während der Jahrzehnte gegründet wurden, in denen das britische Christentum durch die Kämpfe im Gefolge der puritanischen Revolution erschüttert wurde (1640-1660; vgl. T R E 9,640,18-641,2). Das ständig sich verbreiternde Spektrum der Gruppen, die diese erbitterten Auseinandersetzungen auslösten, wurde nahezu in seinem gesamten Umfang früher oder später auch in die nordamerikanischen Kolonien hinübergetragen, und dort hatten die einzelnen Gruppen höchst unterschiedliche Geschichten. Einige konnten in bestimmten Kolonien eine beherrschende Stellung gewinnen und in einigen Fällen ihrer Form des Christentums staatskirchliche Geltung verschaffen, auch wenn eine zunehmende Vielfalt sowie nach 1689 zudem das englische Toleranzgesetz (Act of Toleration) überall Kompromisse erforderlich machte. Aus dem Wunsch nach einer Zuflucht vor dem protestantischen Sturm gründeten englische Katholiken 1634 die Kolonie Maryland, in der sie notgedrungen eine religiöse Duldung übten, die letztendlich die katholische Vormachtstellung untergrub. Z u m Ende des 17. Jh. hatte die Kolonie eine anglikanische Staatsreligion. Die -•Kirche von England, die im frühen Virginia eine staatskirchliche Stellung besaß, hatte einen starken puritanischen Einschlag. Das traf indessen weniger für den staatlich gestützten Anglikanismus in Maryland und den südlich anschließenden, in den 1660er Jahren gegründeten Kolonien North und South Carolina zu. Anderwärts bildeten die Anglikaner eine Minderheit. Die —»Presbyterianer englischer wie schottischer Herkunft, die in Nordamerika erst im frühen 18. Jh. zu einer klar umgrenzten und dauerhaften Organisation fanden, wurden in New Jersey und den angrenzenden Kolonien (und später im 18. Jh. auch im Hinterland der südlichen Kolonien) zur stärksten Gruppe, beherrschten aber in keiner der Kolonien das religiöse Leben. Die ihnen theologisch und im Kirchenverständnis am nächsten stehenden nicht separierten Kongregationalisten (-»Kongregationalismus) dagegen dominierten die Kolonien Massachusetts und Connecticut so vollständig, daß die kongregationalistischen Kirchen dort bis ins frühe 19. Jh. staatliche Privilegien genossen, längst nachdem anderwärts solche staatskirchlichen Regelungen ein Ende gefunden hatten. Eine herausragende Rolle spielten diese Kongregationalisten in der frühen Geschichte des East Jersey genannten Teils des heutigen Staates New Jersey, wo sie sich in den 1660er Jahren niedergelassen hatten. Die separierten Kongregationalisten beherrschten anfangs die Plymouth Kolonie; doch diese langsam wachsende Gemeinschaft wurde 1691 von der Massachusetts Bay Kolonie aufgesogen. —»Baptisten traten bereits in den 1630er Jahren unter der Führung von Roger Williams (1603/04-1683) in Providence in Erscheinung (vgl. T R E 5,192,7-17); doch sie teilten sich die entstehende (offiziell erst 1663 errichtete) Kolonie Rhode Island mit -»-Separatisten, -»Quäkern und anderen Radikalen, die aus den puritanischen Kolonien auswi-

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chen. Die Zahl der Baptisten (die sich theologisch immer mehr auseinander entwickelten und sich auch in der kirchlichen Ordnung unterschieden) wuchs stetig sowohl durch Zuwanderung, zumeist aus England, als auch durch wiederholte Wellen von Bekehrungen aus anderen protestantischen Gruppen, und schließlich verbreiteten sie sich über alle Kolonien. Während der Kolonialzeit gab es jedoch überall auch eine Minderheit. Eine besondere Geschichte hatte die Gesellschaft der Freunde (Quäker). Sie konnte in neuen Kolonien, zunächst in West Jersey, das in den 1670er Jahren Gestalt annahm, und dann ausgeprägter noch in Pennsylvanien (1681), eine beherrschende Stellung einnehmen und gaben ihnen - insbesondere im Fall Pennsylvaniens - eine kennzeichnende Prägung, die lange anhielt, auch nachdem die quäkerische Mehrheit durch Einwanderung ausgehöhlt worden war. Eine beträchtliche Anzahl von Quäkern begegnete auch in anderen Kolonien, insbesondere im oberen Süden. Es ist wichtig, die - allerdings häufig von Historikern der nordamerikanischen Religion nicht beachtete - Tatsache ins Gedächtnis zu rufen, daß die britische Besiedlung Nordamerikas nicht nur auf dem Hintergrund der puritanischen Revolution und des durch sie ausgelösten religiösen Umbruchs stattgefunden hat, sondern auch im Zusammenhang mit der Schaffung eines britischen atlantischen Weltreiches steht, in dem die Rassensklaverei und damit die Präsenz einer großen Zahl von Afrikanern eine wesentliche und grundlegende Gegebenheit war. 1660 hatten Virginia und Massachusetts, Englands größte nordamerikanische Kolonien, zusammen eine geringere Bevölkerungsstärke als seine einträgliche, mit Sklavenarbeit Zucker produzierende Inselkolonie Barbados. Ein Jahrhundert später bestand die Bevölkerung des gesamten britischen Atlantikreiches von Neuschottland bis zu den Leeward Islands einschließlich der dreizehn nordamerikanischen Kolonien, die die Vereinigten Staaten bilden sollten, zu einem Drittel aus Afrikanern. Insbesondere im Blick auf die Geschichte der Globalisierung des Christentums ist das von erstrangiger Bedeutung. Es ist allgemein üblich, die Darstellung der Geschichte der Missionsbewegungen, mit denen der Protestantismus zur Schaffung einer Weltchristenheit beigetragen hat, für den englischsprachigen Raum mit der in England am Ende des 18. Jh. einsetzenden Missionsbewegung beginnen zu lassen. Zu dieser Zeit war jedoch in der atlantischen Welt die Begegnung der Protestanten mit nichteuropäischen Bevölkerungselementen im vollen Gang, die als Vorgeschichte der späteren Missionsbewegung zu verstehen ist (-• Mission IV). Die Kirche von England übertrug die Zuständigkeit für die überseeischen Kolonien dem Bischof von London, und Henry Compton (1632-1713), der 1675-1713 dieses Amt innehatte, sah sich trotz Zögerns gehalten, die Frage anzugehen, wie man, so weit es die Religion betraf, mit den amerikanischen Ureinwohnern sowie dem beträchtlichen Bevölkerungsanteil von Sklaven afrikanischer Geburt oder Abstammung im britischen Atlantikreich umgehen sollte. Die dementsprechenden Bemühungen der 1701 von der Kirche von England eingerichteten Society for the Propagation ofthe Gospel in Foreign Parts blieben zwar größtenteils ohne Wirkung, waren aber dennoch bedeutsam und vorausweisend. 2.2. Der andauernde Einfluß der Kolonialzeit auf die nachfolgende religiöse Geschichte der Vereinigten Staaten wird besonders anschaulich, wenn man die nordamerikanischen Kolonien in drei größere Regionen einteilt: 2.2.1. Die mittleren Kolonien New York, New Jersey, Pennsylvanien und Delaware sind der Bereich, in dem das spätere Modell ethnischer und kultureller Vielfalt und religiöser Duldung sich bereits am stärksten abzeichnete. Es ist lange diskutiert worden, ob eine frühe Hinwendung zu religiöser -»Toleranz in den amerikanischen Kolonien als ein von Indifferenten gehandhabtes Instrument pragmatischer Anpassung oder als grundsätzliche Neuerung von Seiten der Frommen anzusehen ist. In den mittleren Kolonien finden sich Beispiele für beides, die den Gegebenheiten Rechnung tragende Anerkennung der Vielfalt in New York und das Eintreten der Quäker für Toleranz in Pennsylvanien. Auf jeden Fall war keine der mittleren Kolonien von einem durchset-

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zungsfähigen Geltungsanspruch einer bestimmten Religionsgemeinschaft beherrscht, und überall bestand eine beträchtliche Mannigfaltigkeit. Besonders bemerkenswert ist, daß Pennsylvanien im 18. Jh. eine beständig wachsende Zuwanderung von Deutschen begrüßte, die zur größten kontinentaleuropäischen Gruppierung in den britischen Kolonien Nordamerikas wurden. Wie die Engländer, die während der puritanischen Revolution nach Nordamerika kamen, brachten auch sie aus ihrer Heimat, insbesondere aus der Rheinpfalz (-»Pfalz), aus der viele von ihnen kamen, eine lebendige religiöse Vielfalt mit. Die Bandbreite reichte von Lutheranern und Reformierten bis zu pietistischen Gruppen wie den -»Brüdern (Church of the Brethren; Dunkers) und der Erneuerten -»Brüderunität (Church of the United Brethren; Moravians) und zu den Mennoniten (-•Menno Simons/Mennoniten). Zeitweise diente die radikalpietistische Ephrata-Gemeinschaft allgemein als kultureller Sammelpunkt für Pennsylvanien-Deutsche. 2.2.2. Deutlich anders stellten sich die Verhältnisse in Neuengland dar. Zwar umfaßte dieser Raum während der Kolonialzeit neben Massachusetts, Connecticut und New Hampshire auch die Kolonie Rhode Island, neben Pennsylvanien das zweite bedeutende Beispiel einer frühen Hinwendung zu einer grundsätzlichen Verankerung religiöser Freiheit; doch in erster Linie setzte der Puritanismus Neuenglands auf die Schaffung eines holy Commonwealth. Die führenden Puritaner der Kolonien an der Massachusetts Bay und am Connecticut waren nicht zur Aufrichtung allgemeiner religiöser Freiheit in die neue Welt gekommen. Ihnen ging es vielmehr um eine Gesellschafts- und Kirchenordnung als beispielhafte Umsetzung ihrer klar umrissenen Vorstellungen, von der sie hofften, sie könne eine Leitlinie für den Fortgang der Reformation in Britannien und auf dem europäischen Festland sein. Zu diesen Vorstellungen gehörte eine ungewöhnliche und unstabile Mischung einer kirchlichen Überzeugung von der Wichtigkeit staatlich gestützter religiöser Einheitlichkeit und Geschlossenheit mit einem eher sektentypischen Eintreten für eine kongregationalistische kirchliche Ordnung, deren innere Spannung deutlich in dem Versuch zutage tritt, zugleich die Kindertaufe (-»Taufe) zu üben und den Abendmahlszugang auf sorgfältig geprüfte visible saints zu beschränken. Wie sich schon früh am Beispiel von Roger Williams und Anne Hutchinson (1591-1643) mit ihren „antinomischen" Anhängern zeigt, hat der neuenglische Puritanismus beständig Abweichler aus den eigenen Reihen hervorgebracht. Das nachhaltige Vermächtnis der puritanischen Tradition in Amerika aber zeigt sich am deutlichsten in immer wiederkehrenden religiös fundierten Bemühungen, eine verbindliche öffentliche Moral und/oder soziale Gerechtigkeit festzulegen und zu erreichen, ein Ziel, das als gemeinsame religiöse Bestimmung der Nation verstanden wird. Immer wieder haben Kritiker des amerikanischen Lebensstils, beunruhigt von einem vermeintlichen Übermaß an aggressivem Individualismus, moralischer Lauheit und sozialer Ungerechtigkeit, den Geist und auch die Worte von John Winthrop (1588—1643), dem ersten Gouverneur der Massachusetts Bay Kolonie, beschworen, der seine Siedler dazu aufgerufen hat, nicht dem persönlichen Vorteil nachzustreben, sondern dem gemeinsamen Werk der Errichtung einer heiligen, für die ganze Welt sichtbaren „Stadt auf dem Berge". Der neuenglische Puritanismus, unter dessen Begründern sich eine Führungsgruppe akademisch gebildeter Geistlicher fand, wie es sie in der Frühgeschichte der mittleren Kolonien und des Südens nicht gab, hat zugleich nachhaltig die Geschichte der Theologie in Amerika gestaltet, zum Teil durch seinen frühen Einfluß auf das höhere amerikanische Bildungswesen, der in der Gründung der Kollegien (1636 und 1701) greifbar wird, aus denen schließlich die Universitäten -»Harvard und -»Yale wurden. 2.2.3. Die religiöse Geschichte der südlichen Kolonien - Virginia, Maryland, North Carolina, South Carolina und schließlich das 1733 begründete Georgia - ist zuweilen als bloße Variation der Geschichte der weiter nördlich gelegenen Kolonien verstanden worden. Gewiß war der puritanische Einschlag in den südlichen Kolonien deutlich, und sie zeigten ebenfalls eine bedeutende ethnische und religiöse Vielfalt, insbesondere wäh-

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rend des 18. Jh. in ihrem Hinterland. Doch der hervorstechende Zug im religiösen Leben des Südens war die Spaltung der Bevölkerung an einer Rassengrenze, die Schwarze und Weiße durch eine tiefe Kluft trennte, die einmal durch eine ausgeprägte Verschiedenheit des kulturellen Erbes und zum anderen durch die Praxis der Rassensklaverei aufgerissen wurde. Wie in der jüngeren Forschung betont worden ist, haben die Europäer nicht nur unterschiedliche Formen christlicher (und in geringem Maß auch jüdischer) Überzeugungen und Sitten nach Amerika gebracht, sondern auch eine Fülle okkulter und „magischer" Vorstellungen und Bräuche. Derartige Überlieferungen boten einen Berührungspunkt zu der afrikanischen Weise, übersinnliche Macht zu verstehen und mit ihr umzugehen, doch sie wurden anfänglich in ganz anderem Sinn, verbunden mit den verschiedenen Formen des Christentums aus Europa übertragen, die während der frühen Kolonialzeit unter den Schwarzen nur wenig Boden gewannen. Ob und wieweit die Afrikaner in der Lage waren, in der amerikanischen Umgebung ihre ererbten religiösen Überlieferungen beizubehalten, ist in der Forschung umstritten. Nach vorherrschender Meinung haben sie zum allermindesten einzelne überkommene religiöse Vorstellungen und Sitten bewahrt, wenn auch zweifellos abgewandelt durch die harten Lebensumstände der Sklaverei, die zwischen ihnen bestehenden ethnischen Unterschiede und vor allem das Herausreißen aus den Verwandtschaftsbeziehungen, mit denen die afrikanischen Religionen fest verwoben sind. Zur afrikanischen Sklavenbevölkerung zählten auch einzelne Muslime; doch die islamische Religionsübung war unter den Bedingungen der amerikanischen Sklaverei schwer aufrecht zu erhalten, und ihr Vorhandensein ist in den Quellen kaum zu fassen. Die Kirchen blieben derweil bei der lange vorherrschenden christlichen Anerkennung des Instituts der Sklaverei, traten aber - in diesen Fall für gewöhnlich nicht sehr eindringlich - für seine moralische Regulierung ein. Die Befürchtung, eine Taufe von Sklaven verlange deren Freilassung, hielt sich, obwohl koloniale und kirchliche Amtsträger wiederholt auf sie eingingen — insbesondere in der Erklärung des Bischofs von London von 1727, nach der das Christentum Bekehrte nicht von den Pflichten ihres gesellschaftlichen Standes entbindet; sie leistete dem Widerstand von Pflanzern gegen Missionsversuche unter ihren Sklaven Vorschub. Auch wenn die Afrikaner außerhalb des Südens (wo sie zeit- und stellenweise eine Bevölkerungsmehrheit stellten) weniger zahlreich waren und die Sklaverei wirtschaftlich in den meisten der mittleren Kolonien und in Neuengland weit weniger Gewicht hatte als im Süden, so war doch die Gegenwart von Schwarzen und die Rassensklaverei überall ein Teil des sozialen Umfeldes, innerhalb dessen das amerikanische Christentum Gestalt gewann. 2.3. Jedes dieser bestimmenden Momente der Gründungszeit - zunehmende religiöse und kulturelle Unterschiede, das puritanische Verlangen nach einem heiligen Gemeinwesen und das Gegenüber von Schwarzen und Weißen auf dem Hintergrund der Rassensklaverei - wurde während der späteren Kolonialzeit nicht nur durch eine Fülle wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen umgeformt, sondern auch durch das Ethos der —»Aufklärung und das Aufkommen des Evangelikaiismus (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen). Diese beiden transatlantischen Bewegungen haben je für sich und häufig nur zögernd und mittelbar die Übung religiöser Toleranz gefördert, puritanische Vorstellungen von gemeinsamer Zweckbestimmung und vom Gemeinwohl neu bestimmt sowie der Kritik an der Sklaverei und der Bekehrung von Afroamerikanern Auftrieb gegeben. Ihr jeweiliges Gewicht für diesen Wandlungsprozeß, aus dem schließlich die amerikanische Revolution hervorging, ist viel diskutiert worden. Der Behauptung, die Vereinigten Staaten seien eine allenthalben durch die Ideen von John Locke (1632-1704; -»-Deismus; -»Empirismus; -»Erkenntnis) - und allgemein der Tradition der Whigs - geprägte Nation der Aufklärung, ist entgegengehalten worden, der revolutionäre Geist sei in dem vor allem durch den anglikanischen und dann methodistischen Evangelisten George -»Whitefield entfachten Feuer der Großen Erweckung der 1730er und 1740er Jahre geschmiedet worden, dem ersten großen kulturellen

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Ereignis, das alle Kolonien britisch Amerikas verbunden hat. Darauf ist in den jüngsten Jahren wiederum entgegnet worden, daß schon der Begriff der „Großen Erweckung" (Great Awakening) eine Erfindung des 19. Jh. sei, die in der Rückschau eine tiefgreifende Erweckung in Neuengland mit stärker an der Oberfläche bleibenden Vorgängen anderwärts, insbesondere im Süden, vermenge. Andererseits ist die Vorstellung in Frage gestellt worden, daß unter der Aufklärung in religiöser Hinsicht vornehmlich ein rationalistischer -»Deismus oder Skeptizismus (-»Skepsis/Skeptizismus) zu verstehen sei. Deutlich ist, daß die entscheidende theoretische und politische Führung auf dem Weg zu vermehrter Toleranz und institutionell festgeschriebener religiöser Freiheit bei den zum Deismus neigenden Staatsmännern Thomas Jefferson (1743-1826, Präsident 1801-1809) und James Madison (1751-1836, Präsident 1809-1817) lag. Das von Jefferson verfaßte und 1786 unter Madisons Leitung angenommene Gesetz über Religionsfreiheit (Act for Religious Freedom) in Virginia erklärte, daß die Freiheit der religiösen Überzeugung ein natürliches Recht sei, und beendete die staatliche Unterstützung aller Religionsgemeinschaften. Es schuf das Präzedenz für die Behandlung der Religionsfrage unter der neuen Bundesverfassung in dem 1791 ratifizierten Ersten Zusatzgesetz (First Amendment), demzufolge der Kongreß der Vereinigten Staaten kein Gesetz erlassen darf, das eine Staatsreligion vorsieht oder die freie Religionsübung unterbindet (—»Staatskirche/Staatsreligion 2.8.2.). Dieses Fortschreiten zu religiöser Freiheit erhielt indessen auch von Dissentern allenthalben in den Kolonien Unterstützung, in besonderem Maß von den Baptisten, die am Ende des 18. Jh. eine weit verbreitete und wachsende Gemeinschaft waren. Es wurde aber keineswegs allgemein begrüßt, auch nicht von den Evangelikaien. Deren zunehmend tolerantere Haltung beruhte auf der Bereitschaft, sich zumindest über einige Lehrunterschiede unter denen hinwegzusetzen, die im übrigen ein breites Maß an Rechtgläubigkeit und entschiedener Frömmigkeit gemeinsam hatten, und sie traten häufig nicht für die Beseitigung jeder staatlichen Unterstützung für die protestantischen Kirchen ein. Die Gegner Jeffersons und Madisons in Virginia waren nicht hartnäckige Verfechter der anglikanischen (jetzt epikopalistischen) Staatskirche, sondern Befürworter einer weiter greifenden staatlichen Privilegierung protestantischer Gemeinschaften, eine Vorstellung, die während der Revolutionszeit und in der Frühzeit des Bestehens der Vereinigten Staaten beachtlichen Anklang auch in einigen anderen Staaten fand. Vor allem in Neuengland beendete weder das Beispiel Virginias noch die Bundesverfassung die öffentliche Unterstützung für die überkommenen Staatskirchen. Doch im Blick auf langfristige Folgen für die Gesamtgeschichte des Christentums war für zukünftige Entwicklungen ausschlaggebend, daß sich die amerikanischen Kirchen mehr oder minder bereitwillig auf die Praxis der -»Religionsfreiheit einstellten. Daß Massachusetts, Connecticut und New Hampshire in der Lage waren, sich der eingeschlagenen Entwicklung zu widersetzen und, wenn auch in abgewandelter Form, die öffentliche Unterstützung der kongregationalistischen Kirchen bis ins frühe 19. Jh. beizubehalten, macht deutlich, daß die einflußreichsten Christen in diesen Staaten beharrlich der Idee einer religiös begründeten politischen Ordnung verbunden blieben. Es hat jedoch (wie die neuere Forschung zunehmend hervorhebt) im puritanischen Neuengland nie an inneren Spaltungen gefehlt, und die verschiedenen Strömungen der Aufklärung und des Evangelikaiismus verstärkten sie. Im 17. Jh. lag der theologische Schwerpunkt Neuenglands bei einer tief von der scholastischen Tradition durchdrungenen calvinistischen -»Orthodoxie. Im 18. Jh. rissen die moralisierenden arminianischen Strömungen der gemäßigten Aufklärung (—»Arminius, Jacobus/Arminianismus) und die Betonung der Erfahrung im Evangelikaiismus die bereits bestehenden Spaltungen zwischen der intellektualistischen und der voluntaristischen Seite der puritanischen Tradition Neuenglands weiter auf. Deutlich sichtbar wurde das zur Zeit der Erweckung an der Auseinandersetzung zwischen Charles Chauncy (1705-1787) und Jonathan -»Edwards. Mit Edwards hat die theologische Tradition Neuenglands einen erstrangigen Theologen her-

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vorgebracht, dessen tiefe Verwurzelung im religiösen Leben seines eigenen Landes nicht den Blick für seine weitreichende Anteilnahme an den geistigen Strömungen der atlantischen Welt insgesamt verstellen darf. Ebenso wie der geistreiche Deismus Benjamin Franklins (1706-1790) war Edwards' eigenständige Ausformung des evangelikalen Calvinismus eng mit zeitgenössischen Strömungen des europäischen Denkens verbunden, zumal hinsichtlich der zunehmenden Betonung der Stellung der Affekte im sittlichen Leben. Edwards' provinziellere Erben, insbesondere Samuel Hopkins (1721-1803) und Joseph Bellamy (1719—1790), setzten diese „New Divinity" fort, die bis weit ins 19. Jh. produktiv war und eine bedeutende Stellung in der Theologie Neuenglands behauptete. Edwards' Spekulationen darüber, daß die lebhaften Erweckungen seiner Zeit das Heraufkommen des — in Neuengland beginnenden — Tausendjährigen Reiches ankündigten, sind zuweilen als Vorwegnahme und zum Teil auch Förderung des Chiliasmus der Revolutionszeit angesehen worden, in der die Geburt der neuen Nation als Beginn eines neuen Zeitalters erschien (-»Chiliasmus). Der revolutionäre Optimismus griff jedoch auch auf das Fortschrittsdenken der Aufklärung zurück, und nicht alle zeitgenössischen Formen des Chiliasmus richteten sich auf politische Ereignisse. 1774 kamen die unter dem Einfluß der Französischen Propheten stehenden Shakers (vgl. T R E 2 8 , 3 5 , 3 4 - 4 1 ) aus England nach New York. Für sie kündigte sich das neue Zeitalter durch die Wiederkunft Christi in der Person von Ann Lee (1736-1784) an. In manchen Einzelzügen, wohl am deutlichsten mit ihrer Übung der Ehelosigkeit, nahmen sie eine Sonderstellung ein, zeigten aber doch die zunehmende Tendenz des radikalen Evangelikaiismus auf, eine religiöse Führungsstellung für Frauen zu beanspruchen. Indessen wurde der allgemeine politische Optimismus der Revolutionszeit getrübt von dem gedämpfteren Ethos des klassischen Republikanertums und seine Mahnung, die neue politische Ordnung könne allein durch die anhaltende Tugend ihrer Bürger gesichert werden, sowie von orthodoxer protestantischer Besorgnis gegenüber dem Einbruch von Deismus und Skeptizismus. 2.4. Das Zusammentreffen des Einflusses von rationalistischem Moralismus und evangelikalem Enthusiasmus zeigt sich auch in der verstärkten zeitgenössischen Wendung gegen die Sklaverei. Während der Zeit vor der Revolution waren die Quäker die einzige größere christliche Gruppe, die sie unumwunden in Frage stellte. Nun aber erhoben sich zahlreiche und vernehmliche Stimmen gegen die Sklaverei auch in einer Reihe anderer Gruppen, darunter Kongregationalisten, Presbyterianer, Baptisten und -»Methodisten (die 1770 in britisch Nordamerika in Erscheinung traten und sehr schnell zunahmen). Der transatlantische Sklavenhandel wurde von den meisten der neuen Staaten eingeschränkt oder abgeschafft, und in der Bundesverfassung war vorgesehen, daß der Kongreß ihn nach zwanzig Jahren allgemein für ungesetzlich erklären könne (was auch geschah). Die nördlichen Staaten unternahmen auch Schritte zu Beendigung der Sklaverei selbst; doch die Durchführung der Sklavenbefreiung ging in den meisten Fällen nur ganz allmählich vonstatten und forderte bis zum vollständigen Abschluß zuweilen Jahrzehnte. In den südlichen Staaten war die Sklaverei fest verwurzelt und blieb legal. Indessen zeigten evangelikale Bemühungen, Sklaven zum Christentum zu bekehren und zu befreien, einen wachsenden, wenn auch immer noch bescheidenen Erfolg. Schon während der Erweckungen der 1730er und 1740er Jahre hatten unterschiedliche evangelikale Gruppen, als erstes die Brüdergemeinde auf den Jungferninseln, neue Missionsanstrengungen unter den Sklaven begonnen. In britisch Nordamerika ermutigte George Whitefield sie nachhaltig, nicht nur durch eigene Bekehrungen von Schwarzen während seiner publizistisch weit bekannt gemachten Predigtreisen, sondern auch durch seinen Einfluß auf zahlreiche andere Evangelikaie, die während der mittleren Jahrzehnte des 18. J h . diese Arbeit aufnahmen. Während der Revolutionszeit und noch lange danach waren die Baptisten und Methodisten am erfolgreichsten. Die Erfolge der Evangelikaien unter Afroamerikanern mochten zum Teil auf einem Gleichklang zwischen ihrer Beto-

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nung einer eindringlich erfahrenen und öffentlich geäußerten Frömmigkeit und afrikanischen Traditionen von Trance und Besessenheit beruhen; er entsprang aber - vor allem bei Baptisten und Methodisten - auch aus ihrer Bereitschaft, schwarze Erweckungs- und Erbauungsprediger einzusetzen, von denen einzelne schwarze Gemeinden organisierten und manche schließlich auch ordiniert wurden. Das kennzeichnet eine bedeutsame, wenn auch noch sehr begrenzte Öffnung in der Mauer, die Farbige von förmlich anerkannten Führungspositionen in den christlichen Kirchen der atlantischen Welt ferngehalten hatte. Im Zusammenhang der Frage nach der Rolle der amerikanischen Kirchen bei der Globalisierung des Christentums verdient auch das aufkommende Interesse Aufmerksamkeit, befreite Sklaven aus Amerika zur Aufnahme von Missionsarbeit in Afrika einzusetzen. 1774 wurde unter der Leitung von Samuel Hopkins ein Versuch unternommen, einzelne schwarze Christen dafür zu gewinnen und auszubilden. Er wurde von den Umwälzungen des Revolutionskrieges unterbrochen und schlug fehl, schuf aber ein Präzedenz nicht nur für spätere Bemühungen, Ansiedlungen christlicher Schwarzer in Afrika zu gründen, sondern auch für die amerikanische äußere Mission ganz allgemein. Aber auch während dieser Zeit haben einzelne afroamerikanische Christen ihren Glauben erfolgreich in der atlantischen Welt verbreitet. Eine Kerngruppe früher schwarzer Prediger (vor allem die baptistischen ehemaligen Sklaven David George [1742-1810] und George Liele [1752-1825]), die die Freiheit der Schwarzen bei den Briten besser aufgehoben sahen als bei den Amerikanern, verließen beim Abzug der Briten das Land und gründeten schwarze Gemeinden in Jamaika, Neuschottland und schließlich in Sierra Leone. Bemerkenswert ist auch der Weg von John Marrant (1755-1791), einem Schwarzen aus South Carolina, der 1786 in England von der Countess of Huntingtons Connection ordiniert wurde und zeitweise in Neuschottland gepredigt hat. Einige seiner Anhänger gründeten schließlich einen Ableger auch dieser Gemeinschaft in Sierra Leone. 3. Ein kontinentaler

Nationalstaat

3.1. Politische und religiöse

Rahmenbedingungen

Die Geschichte des Christentums während der Zeit zwischen der Ausarbeitung der Verfassung (1787) und dem Ersten Weltkrieg vollzieht sich im Rahmen eines Nationalstaats, der sich von einer unstabilen Reihe von Ansiedlungen vornehmlich längs der Atlantikküste zu einer vom Atlantik bis zum Pazifik reichenden transkontinentalen Großmacht entwickelt. Christliche Gruppen waren unausweichlich gefordert, Ordnungen und Instrumentarien auszubilden und zu handhaben, die den Anforderungen eines ständig sich erweiternden, am Ende das gesamte Gebiet Nordamerikas zwischen den heutigen Grenzen zu Kanada und -»Mexiko sowie Hawaii, Alaska, Puerto Rico und die Jungferninseln umfassenden Raums genügten. Ebenso unausweichlich wurden sie in die sozialen und politischen Auseinandersetzungen einbezogen, die diese Expansion begleiteten, insbesondere in die heftigen Diskussionen über die Ausweitung der Sklaverei auf die neu erworbenen Territorien, die in den blutigen Bürgerkrieg von 1861 —1865 mündeten. Die Bevölkerung dieses werdenden Nationalstaats wandelte sich tiefgreifend nicht nur durch einen gewaltigen natürlichen Zuwachs der kolonialen Bevölkerung, sondern auch durch die Einbeziehung neuer, zumeist indianischer Völker und vor allem durch eine außerordentlich große und zunehmend vielgestaltigere Einwanderung mit enormen Auswirkungen für das Erscheinungsbild des amerikanischen Christentums. Die drei beständigen Themen der atlantischen Zeit - der Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt, das Streben nach einem heiligen Gemeinwesen und das Problem der Kluft zwischen Schwarzen und Weißen — setzten sich als deren Erbe in die kontinentale Zeit fort und nahmen dabei neue und wechselnde Formen an. Das Interesse der Christen in den Vereinigten Staaten an der überseeischen Mission hatte sich zuerst in tastenden Versuchen gezeigt, schwarze Christen nach Afrika zu entsenden. Jetzt erweiterte es Zug um Zug

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seinen Gesichtskreis und traf sich am Ende des Zeitraums mit dem heranwachsenden internationalen Interessenhorizont des Nationalstaates. Die Aufgabe des Umgangs mit einer religiösen Vielfalt vor allem durch den Gewinn einer verbindlichen Vorstellung eines annehmbaren religiösen Pluralismus wurde während dieser Zeit infolge einer breiten Zunahme christlicher religiöser Gruppen (wie auch eines kleineren, aber dennoch beachtlichen Anwachsens des Kreises außerchristlicher religiöser Traditionen) schwieriger. Die zunehmende Bandbreite der religiösen Vielfalt hatte ihren Grund zu einem erheblichen Teil in dem sich vollziehenden Bevölkerungswandel, vor allem in der Flut europäischer Zuwanderer. Deren Gesamtzahl ist beeindruckend. Sie wuchs von rund 150.000 während der 1820er Jahre auf den Höhepunkt von rund 8.750.000 während des ersten Jahrzehnts des 20. Jh. Die 1850er Jahre waren mit über zweieinhalb Millionen Einwanderern das Jahrzehnt, in dem das Verhältnis der Zahl der Einwanderer zu der der ansässigen Bevölkerung den höchsten Wert erreichte. Die für den voraufgehenden Zeitraum so wichtige Einfuhr afrikanischer Sklaven war seit 1808 gesetzlich verboten und erfolgte nur mehr heimlich und in kleinerer Zahl. Das führte zu einem Rückgang des Fortwirkens überkommener afrikanischer Bräuche und anscheinend auch zum Verschwinden des Islam unter Schwarzen. Zugleich aber brachte eine Einwanderung aus Asien, in erster Linie, aber nicht ausschließlich aus China und Japan, in einem allerdings sehr geringen Umfang gelebte asiatische Traditionen wie den -»Hinduismus, -»Buddhismus und Konfuzianismus (-»Chinesische Religionen) in die Vereinigten Staaten, während sich unter den zu dieser Zeit zumeist christlichen Einwanderern aus dem Mittleren Osten auch eine kleine Zahl von Muslimen fand. Die Ausdehnung nach Westen bezog zudem viele Volksgruppen der amerikanischen Ureinwohner in das Gebiet der Vereinigten Staaten ein, auch wenn sie größtenteils auf die Reservate beschränkt blieben und lange als Ausländer behandelt wurden. Unter den Europäern bildeten die englischsprachigen Zuwanderer immer noch die größte Sprachgruppe, die aber scharf in englische, schottische und schottisch-irische Protestanten einerseits und irische römische Katholiken andererseits zerfielen. Deutsche bildeten (wie schon während der Kolonialzeit) die zweitstärkste Sprachgruppe, zeigten aber religiös eine noch größere Vielfalt; zu ihnen zählten nicht nur Protestanten und Katholiken, sondern auch eine beträchtliche Anzahl von Juden. Andere Sprachgruppen (unter denen die Italiener die größte stellten) waren religiös im allgemeinen geschlossener, unterschieden sich dabei aber normalerweise stärker von der älteren europäisch-amerikanischen Bevölkerung. Zu den osteuropäischen Einwanderern der letzten Jahrzehnte dieses Zeitraums zählte auch eine beachtliche Minderheit orthodoxer Christen. Insgesamt gestaltete die europäische Zuwanderung während dieser Zeit das Erscheinungsbild amerikanischer religiöser Vielfalt neu. Der Protestantismus behielt in den Vereinigten Staaten die Kennzeichen seines vornehmlich britischen Ursprungs bei; doch zu der starken deutschen Minderheit kam, insbesondere im Mittleren Westen, eine Reihe skandinavischer, größtenteils lutherischer Gruppen. Die Juden, die in einer zuweilen sehr scharfen Trennung in eine kleine Gemeinschaft von Abkömmlingen der zumeist sephardischen jüdischen Bevölkerungsgruppe aus der Zeit der atlantischen Welt und die weit größeren Gruppen der deutschen und osteuropäischen Juden zerfielen, wurden zu einer wahrnehmbaren und einflußreichen Glaubensgemeinschaft außerhalb des vorherrschenden Christentums. Die größte einzelne Veränderung war allerdings wohl das Entstehen einer sehr beträchtlichen und innerlich vielfältigen römisch-katholischen Bevölkerungsgruppe. 3.2. Die Kömisch-katholische

Kirche

Bereits in der Mitte des 19. Jh. bildeten die römischen Katholiken, auch wenn ihre Zahl insgesamt noch weit hinter der der Protestanten zurückstand, die größte Einzelkirche in den Vereinigten Staaten, die zahlenmäßig selbst die größten protestantischen Einzeldenominationen übertraf. Ihre Führung lag zwar während der frühen Jahrzehnte dieses Zeitraums überwiegend in anglo-amerikanischen und französischen Händen (ins-

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besondere spielten die Sulpizianer eine bedeutende Rolle), doch dürften unter den Laien bereits die Iren die Mehrheit gestellt haben. Durch die viereinhalb Millionen Zuwanderer, die zwischen 1820 und 1920 aus Irland in die Vereinigten Staaten kamen, gewann die irische Präsenz auf jeder Ebene innerhalb der amerikanischen katholischen Kirche ausschlaggebende Bedeutung, insbesondere in der Zeit vor dem Bürgerkrieg und anhaltend in den Staaten längs der Ostküste. Da sie schon in Irland größtenteils das Gälische aufgeben hatten, befanden sich die englischsprachigen Iren in einer guten Ausgangsposition zur Übernahme einer führenden Rolle unter den Katholiken in den Vereinigten Staaten. Sie gewannen nicht nur eine beherrschende Stellung in der Leitung der Kirche, sondern prägten sie auch durch ihren eigenen Frömmigkeitsstil, der weniger traditionell irisch war als vielmehr ein Niederschlag der katholischen Reformen des 19. Jh. Eine große Anzahl während der gleichen Zeit zuwandernder deutscher Katholiken stellte allerdings die irische Führungsstellung in Frage, insbesondere im Mittleren Westen. Bayerische Benediktiner gründeten eine Reihe bedeutender Klöster, insbesondere St. John's Abbey in Minnesota, das im folgenden Jahrhundert eine wichtige Rolle für die Umsetzung der liturgischen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils (—»Vatikanum I und II) spielen sollte. Mit dem Fortgang des Jahrhunderts entzweiten sich deutsche und irische Katholiken regelmäßig über zahlreiche Fragen, darunter über die Öffnung vieler irischer Bischöfe für die Abstinenzbewegung (-»Abstinenz/Abstinenzbewegungen) und die vermeintlich mangelnde Eignung irischer Priester zur Betreuung deutscher Katholiken. Während der frühen 1890er Jahre versuchte eine Gruppe deutscher Katholiken ohne Erfolg den Vatikan dazu zu bewegen, die Römisch-katholische Kirche in Amerika auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit neu zu organisieren. Unterdessen hatte während des späten 19. und frühen 20. Jh. die Veränderung der Herkunftsländer der Einwanderer beachtliche Gruppen von Kirchenmitgliedern auch anderer ethnischer Herkunft entstehen lassen, deren bedeutendste die italienische und die polnische waren. Sie unterschieden sich nicht nur von den Iren und Deutschen, sondern auch untereinander. Die Italiener pflegten eine familien- und gemeinschaftsbezogene, aber den kirchlichen Institutionen gegenüber leicht distanzierte -»• Volksfrömmigkeit, während die Polen sich eher an der Pfarrgemeinde ausrichteten und den Institutionen gegenüber loyal waren, ein Unterschied, der zuweilen mit dem unterschiedlichen Verhältnis von Nationalismus und Katholizismus in beiden Ländern in Verbindung gebracht wird. Zugleich erweiterte die kontinentale Expansion der Vereinigten Staaten die ethnische Mischung des amerikanischen Katholizismus um Mitgliedsgruppen, die längst zuvor schon unter französischem (und spanischem) Einfluß in Louisiana und unter spanischem Einfluß in Florida und im Südwesten herangewachsen waren. Schwarze Katholiken, die vor dem Bürgerkrieg gehäuft in katholischen Schwerpunkten der Sklavenhaltung wie Maryland, Kentucky und Louisiana begegneten, verließen nach Beendigung der Sklaverei in den 1860er Jahren in großer Zahl die Kirche. Die in den frühen 1870er Jahren beginnende Tätigkeit der Missionare von Mill Hill (Josephiten) und die Gründung der Society ofthe Blessed Sacrament for Indians and Colored People durch Katherine Drexel (1858-1955) 1891 kennzeichnete einen Versuch, diese Entwicklung umzukehren, so wie die von Daniel Rudd (1854-1932) während der späten 1880er und frühen 1890er Jahre organisierten Colored Catholic Congresses das Aufkommen einer selbstbewußten schwarzen katholischen Minderheit anzeigten. Abgesehen von dem Sonderfall der beiden mulattischen Brüder Healy, die in den 1850er und 1860er Jahren im Ausland geweiht wurden und von denen Francis Patrick Healy (1834-1910) 1874 Präsident des Georgetown College Washington, D.C., und James Augustine Healy (1830-1900) 1875 Bischof in Portland (Maine) wurde, erhielt vor 1886 kein Afroamerikaner die Priesterweihe, und auch in den unmittelbar anschließenden Jahrzehnten wurden nur wenige geweiht.

Vereinigte Staaten von Amerika 3.3. Religiös

vielgestaltiger

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Protestantismus

Während der römische Katholizismus die Stellung der größten religiösen Minderheit in einem vorherrschend protestantischen Land gewann, wurde die Welt des amerikanischen Protestantismus immer vielfältiger und gespaltener, zum Teil infolge der Zuwanderung, doch mehr noch infolge wiederholter Wellen von Neuerungen und Auseinandersetzungen, von denen die eingesessene protestantische Bevölkerung erfaßt wurde. Die neuere Forschung hat zunehmend herausgearbeitet, wie tiefgreifend das amerikanische Christentum während der ersten nationalstaatlichen Zeit durch eine Explosion volkstümlicher Bewegungen umgestaltet worden ist, die zum Teil von dem demokratischen Ethos der Jeffersonschen und Jacksonschen politischen Bewegung, aber auch durch weiterwirkende chiliastische Traditionen und durch okkultistische Praktiken geprägt waren. Die vorherrschende (wenn auch keineswegs allgemeine) Tendenz innerhalb solcher Gruppen führte ungeachtet einer großen Spannungsbreite ihrer theologischen Akzentsetzungen beständig fort von der in der Zeit vor der Revolution so starken reformierten Orthodoxie. In den 1790er Jahren und dem ersten Jahrzehnt des 19. Jh. entstand eine Reihe von Bewegungen, die alle bestehenden Denominationen als menschliche Erfindungen ablehnten, zur Rückkehr zum Neuen Testament aufriefen und einfach den Namen „Christen" führten. Die größeren von ihnen vereinigten sich 1832 und wurden unter der Führung von Alexander Campbell (1788-1866) als Disciples of Christ zu einer bedeutenden Kraft im Grenzland des Südens und im Ohio-Tal. Die Universalisten, deren Anfänge in die 1770er Jahre fallen, expandierten Anfang des 19. Jh. unter der Leitung von Hosea Ballou (1771-1852). Beide Gruppen verbanden ein revivalistisches evangelikales Ethos mit einem kräftigen Einschlag von religiösem -»Rationalismus. In der revivalistischen Erregung der „Zweiten großen Erweckung" (Second Great Awakening) zu Beginn des 19. Jh. gewann eine andere, in der Revolutionszeit wurzelnde Gruppe, die United Society of Believers in Christ's Second Coming (die Shakers), sowohl in Neuengland als auch im Gebiet westlich der Appalachen eine wachsende Anhängerschaft. Ihre zölibatären, klosterähnlichen, von Männern wie Frauen geleiteten Niederlassungen gaben einer Reihe unterschiedlicher Gruppen den Anstoß zu kommunitarischen Experimenten und unterstrichen den wachsenden Einfluß, den Frauen allgemein in evangelikalen Kreisen gewannen. Ebenso nahm ihre Aufnahme spiritualistischer Praktiken während der 1830er Jahre die breitere, während der späten 1840er Jahre von den Schwestern Fox ausgelöste spiritistische Bewegung vorweg. Auf diesem Nährboden erwuchs auch die Church of Jesus Christ of Latter Day Saints (Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage, die -»Mormonen), die in der jüngeren Forschung zuweilen nicht als christliche Bewegung, sondern als neue Religion angesehen wird. Joseph Smith (1805-1844), der Mitte der 1820er Jahre behauptete, der Engel Moroni habe ihm goldene Tafeln gezeigt und ihm geholfen, sie mit Hilfe eines besonderen Sehersteins zu lesen, veröffentliche 1830 das Buch Mormon. Sein wachsender Anhängerkreis gründete Niederlassungen im Westen, wo ein sich steigernder Konflikt mit ihren Nachbarn dazu führte, daß Smith 1844 in Nauvoo in Illinois gelyncht wurde. Der größte Teil seiner Anhänger machte sich in den späten 1840er Jahren unter Brigham Young (1801-1877) auf in das Gebiet des heutigen Utah, wo sie eine heilige Gemeinschaft zu errichten suchten, ein patriarchalisches neues Israel, in dem die Mehrehe eine verbreitete Sitte wurde. Unterdessen sammelte William Miller (1782-1849) mit seinen Ankündigungen der Wiederkunft Christi für 1843 oder 1844 eine beträchtliche Anhängerschaft, und auch nach der „Großen Enttäuschung" verblieb ein harter Kern, aus dem - nach zunehmenden Austausch mit den Siebenten-Tags-Baptisten - die feste Gemeinschaft hervorging, die schließlich als —•Adventisten (Siebenten-Tags-Adventisten) bekannt wurde. Unter der Leitung von Ellen G. (Harmon) White (1827-1915) entwickelte sie ausgeprägte Vorstellungen von rechter Ernährung und Gesundheit.

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Allerdings war es keine dieser Gruppen, die während der frühen nationalstaatlichen Zeit die größte Anhängerschaft innerhalb des amerikanischen protestantischen Lebens gewann und damit zahlenmäßig einen Schwerpunkt des amerikanischen protestantischen Lebens bildete. Diesen Erfolg errangen auf dem freien Markt der Religionen in den Vereinigten Staaten des 19. Jh. die Baptisten und die Methodisten. Trotz gegensätzlicher Organisationsformen - die eine dezentral auf den örtlichen Gemeinden beruhend, die andere zentralistisch — war diesen beiden Bewegungen gemein, daß sie es verstanden, unter Abkehr von älteren Traditionen einer akademisch geschulten Geistlichkeit ein ganzes Heer von Erbauungs- und Erweckungspredigern aufzubieten, deren handfeste evangelikale Verkündigung weithin allen Gesellschaftsschichten zugänglich war. Zugleich verblieben sie im Vergleich zu Gruppen wie den Shakers, Mormonen oder Adventisten mit ihren unterschiedlichen theologischen Akzentsetzungen in breitem Umfang in Einklang mit der reformierten Theologie der Presbyterianer und Kongregationalisten. Diese wiederum neigten jetzt, wie im Leben und Denken von Nathaniel William Taylor (1786-1858), Lyman Beecher (1775-1863) und Charles Finney (1792-1875) deutlich wird, dazu, in der Lehre größeres Gewicht auf das menschliche Wirken zu legen und einige der revivalistischen Methoden aufzunehmen, die von den „volkstümlicheren" Gruppen zum Zuge gebracht worden sind. Das ermöglichte es den Baptisten und Methodisten, im Laufe der Zeit weitgehend „respektabel" zu werden und sich mit Kongregationalisten, Presbyterianern und Episkopalisten in einem „protestantischen Establishment" zusammenzufinden. Letztendlich nahmen auch die Disciples of Christ daran teil. So fanden diese Gruppen im Laufe des 19. Jh. zu einer „protestantischen Hauptströmung" zusammen, die tiefer und breiter war als jede ihrer sektiererischen Nebenströmungen; doch es war zugleich eine Strömung mit vielen Turbulenzen und neuen Spaltungen. Im frühen 19. Jh. kreisten einige um Lehrfragen oder um die Praxis der Kirche, so bei den methodistischen Auseinandersetzungen um die Beteiligung der Laien an der Kirchenleitung, die 1830 zur Gründung der Methodist Protestant Church führten, oder den baptistischen Diskussionen zwischen Gruppen, die Missionsgesellschaften unterstützen, und anderen, die es nicht taten. Um die Jahrhundertmitte jedoch wurzelten die tiefgreifendsten und anhaltendsten Spaltungen im Gegenüber von Schwarzen und Weißen im Schatten der Sklaverei. 3.4. Die

Sklavenfrage

Die während der Revolutionszeit und unmittelbar danach verbreitete Erwartung, die Sklaverei werde zwangsläufig hinfällig werden, schwand mit dem Ausgreifen der landwirtschaftlichen Organisationsform der Pflanzung von ihrer südöstlichen Ausgangsbasis weiter nach Westen. Als Missouri 1820 als neuer Sklaven-Staat zugelassen wurde, begann der Kampf um die Übertragung der Einrichtung in den Westen jenseits des Mississippi, und er gewann an Heftigkeit mit dem Gewinn neuer Territorien im Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko 1845-1846. Die größeren protestantischen Kirchen waren allgemein nicht in der Lage, in der Sklavenfrage einen gesicherten ethischen Konsens zu erreichen oder die sich aus ihr ergebenden Streitigkeiten wirksam zu unterbinden. Die Protestanten des Südens pochten zunehmend stärker auf die biblische und ethische Zulässigkeit der Sklaverei. Die Meinung der nördlichen Protestanten war geteilt. Die während der 1830er Jahre in Erscheinung tretende, aus dem breiten Nährboden des evangelikalen Radikalismus erwachsende radikal abolitionistische Bewegung verfügte zwar, zumal zu Beginn, nur über eine begrenzte Anhängerschaft, verhinderte aber auf lange Sicht ein völliges Nachgeben gegenüber einer Befürwortung der Sklaverei. Die größten und bedeutendsten protestantischen Kirchen spalteten sich längst, bevor die Konföderation der Südstaaten 1861 mit Waffengewalt eine Spaltung des Landes versuchte. Die 1837 erfolgende Spaltung der Presbyterianer in eine New und eine Old School betraf zwar eine Reihe von Fragen der Lehre und kirchlichen Ordnung; doch die Frage nach der Zulässigkeit der Sklaverei wirkte dabei untergründig mit. Der her-

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ausragendste Theologe der Old School, Charles Hodge (1797-1878) vom Princeton Theological Seminary (-»Princeton), widersetzte sich beharrlich allen Bemühungen um eine Festlegung darauf, die Sklaverei sei notwendigerweise mit dem Christentum unvereinbar. Bei der Abspaltung der Methodist Episcopal Church, South von der Methodist Episcopal Church 1844 und der Bildung der Southern Baptist Convention 1845 ging es ausdrücklich um Versuche aus dem Norden, Einschränkungen gegenüber Sklavenhaltern durchzusetzen, die Dienst als Bischöfe oder in der äußeren Mission taten. Während des Bürgerkrieges riefen Presbyterianer, Methodisten und Baptisten auf beiden Seiten Gott jeweils für ihre Sache an und waren überzeugt, die Zukunft einer vom evangelikalen Protestantismus durchdrungenen Gesellschaftsordnung werde durch einen Sieg der jeweils anderen Seite gefährdet. Die nördlichen und südlichen Methodisten vereinigten sich erst 1939 wieder, die Presbyterianer erst während der 1970er Jahre, und die Baptisten fanden nie zur Einheit zurück. 3.5. Die Kirchen der

Afroamerikaner

Der evangelikale Protestantismus begann während dieses Zeitraums, insbesondere nach 1830, unter den freien wie unfreien Afroamerikanern beträchtlich an Boden zu gewinnen; doch das sich dabei entfaltende schwarze Christentum hatte in manchen Ausdrucksformen seine eigene Prägung, war in seiner Sicht des amerikanischen Experimentes unabhängig und zuweilen den weißen Protestanten, die es anfänglich gefördert hatten, tiefgehend entfremdet. Bereits im frühen 19. Jh. lösten einzelne afroamerikanische Methodisten, die schon während der 1790er Jahre begonnen hatten, gesonderte Gemeinden aufzubauen, die Verbindung mit der Methodist Episcopal Church ganz und bildeten unabhängige Denominationen. Deren bedeutendste waren die von Richard Allen (1760-1831) geleitete African Methodist Episcopal Church (1816) mit Zentren in Philadelphia und Baltimore sowie die African Methodist Episcopal Zion Church (frühe 1820er Jahre) mit Zentrum in New York. Die erste, die African Methodist Episcopal Church war ganz allgemein während des 19. Jh. die vornehmliche Organisation für das schwarze Amerika. Während der Zeit nach dem Bürgerkrieg entstand im Süden unter ehemaligen Sklaven eine dritte Denomination, die Colored Methodist Episcopal Church (später Christian Methodist Episcopal Church). Die Baptisten wirkten zwar schon in den 1830er Jahren durch regionale Vereinigungen und Zusammenschlüsse, doch die schwarzen Baptisten fanden erst 1895 mit der Gründung der National Baptist Convention zu einer eigenen Denomination. 1915 zog ein Schisma in dieser Gemeinschaft die Bildung zweier ähnlich benannter Kirchen nach sich, der größeren National Baptist Convention of the U.S.A., Incorporated, und der National Baptist Convention of America. Am Ende des Zeitraums bildeten diese fünf Denominationen so etwas wie ein schwarzes protestantisches Establishment. Indessen begegneten Afroamerikaner auch in vielen vorwiegend weißen protestantischen Kirchen, gewöhnlich als kleine Minderheit, stellten im Fall der Methodist Episcopal Church aber auch eine sehr große Mitgliedergruppe. Der Grund für die Bildung schwarzer Denominationen als unabhängige Gemeinschaften wurde zwar in den Städten der Staaten des Nordens und des oberen Südens gelegt, doch die große Mehrheit der Afroamerikaner lebte während dieses Zeitraums im ländlichen Süden. Während der letzten Jahrzehnte des Bestands der Sklaverei brachten Persönlichkeiten wie Charles Colcock Jones (1804-1863) unter den Presbyterianern und William Capers (1790-1855) unter den Methodisten als bewußte Parallelen zur Arbeit der äußeren Mission mit Erfolg systematische „Pflanzungsmissionen" in Gang, Versuche, „Afrika vor Ort" zu christianisieren. Die kräftigste Entwicklung eines afroamerikanischen Protestantismus vollzog sich allerdings nicht unter den Augen solcher Geistlicher, die an der Sklavenhalterordnung partizipierten, sondern in privaten, selbst geleiteten Zusammenkünften der Sklaven. In ihnen entstanden die Spirituals. Während viele amerikanische Protestanten in ihrem

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Land ein neues Israel im verheißenen Land sahen, sangen die Sklaven von Gottes Volk in der ägyptischen Knechtschaft, und die Hoffnung auf einen Exodus wurde zu einem zentralen Motiv afroamerikanischer Frömmigkeit. Ebenfalls zentrale Bedeutung hatte eine Identifikation mit dem Leiden Christi. Die Befreiung der Sklaven in den Stürmen des Krieges schien zunächst den Traum vom Exodus zu erfüllen, doch das verheißene Land verwirklichte sich im Süden der Nachkriegszeit für Schwarze nicht. Die Hoffnung auf einen Exodus und der Glaube, daß Afroamerikaner eine christusgleiche Sendung erlösenden Leidens hätten, blieben. 3.6. Evangelikaiismus, tum

Fundatnentalismus,

Heiligungsbewegung

und

Pfingstkirchen-

Im späten 19. und frühen 20. Jh. wurden schwarze wie weiße Protestanten von einer neuen Welle eines radikalen Evangelikaiismus erfaßt, die neue Auseinandersetzungen entflammte, neue Spaltungen verursachte und der Vielfalt im Erscheinungsbild des amerikanischen Protestantismus weiteren Auftrieb gab. Als die Disciples of Christ näher an den evangelikalen Hauptstrom heranrückten, gingen „christliche" Gemeinden, die beharrlicher den frühen Ansätzen der Bewegung verbunden blieben, allmählich dazu über, sich als Churches of Christ zu verselbständigen. Diese Gruppe war am stärksten im Südwesten vertreten und entwickelte sich im 20. Jh. zu einer Gemeinschaft, die in den Kreis der größten protestantischen Denominationen in den Vereinigten Staaten gehört. Der Chiliasmus ließ erneut neue Gruppen und Entwicklungsrichtungen aufkommen. Sowohl ein Widerhall älterer Bewegungen als auch innovative Gedanken begegnen in den Lehren der von Charles Taze Rüssel (1852-1916) gegründeten -»Zeugen Jehovas. Sie kritisierten orthodoxe Lehren wie das Trinitätsdogma und widersetzten sich staatlichen Geltungsansprüchen (z. B. in der Frage der Wehrpflicht); doch ihr hervorstechendstes Merkmal war eine Wiederbelebung des Chiliasmus. Rüssel lehrte, die Wiederkunft Christi habe sich 1872 ereignet, und das endgültige Ende träte 1914 ein. Einen breiteren Anklang fanden die Lehren des irischen Leiters der Plymouthbrüder John Nelson Darby (1800-1882), der einen großen Teil seiner späteren Wirksamkeit auf die Verbreitung einer heilsgeschichtlichen prämillennaristischen Theologie in den Vereinigten Staaten verwendete. Z u einer Zeit, als das Vordringen der wissenschaftlichen Bibelkritik (-»Bibelwissenschaft) immer spürbarer wurde und den bislang bei den amerikanischen Evangelikaien vorherrschenden sozialen Optimismus des Postmillennarismus untergrub, ging Darbys Lehre von einer Irrtumslosigkeit der Bibel aus. Sie fand beträchtliche Resonanz zumal bei calvinistischen Presbyterianern und Baptisten in den nördlichen Staaten und stellte einen der kennzeichnendsten Züge der späteren fundamentalistischen Bewegung bereit. Noch einflußreicher waren die unterschiedlichen Strömungen der Heiligungsbewegung, die zugleich auch weit mehr Spaltungen und Denominationsbildungen hervorbrachte. Sie hatte einen reformierten und einen methodistischen Flügel, die um die Jahrhundertmitte jeweils von Charles Finney und der Methodistin Phoebe Palmer (1807-1874) geleitet wurden. Ihre Vorstellungen und Praktiken entfalteten eine breite Wirkung, die sowohl die schwarzen als auch die weißen Kirchen ergriff. Das Wesleysche Heiligungsverständnis mit seiner deutlicheren Betonung der Erfahrung eines „zweiten Segens" und des Erreichens einer Art von Vollkommenheit brachte mehr Schismen hervor als die stärker calvinistisch bestimmte Richtung. 1843 gründeten Perfektionisten, zu deren Verständnis von -»Heiligung auch ein Eintreten gegen die Sklaverei gehörte, die Wesleyan Methodist Church, während ein anderer Kreis desillusionierter nördlicher Methodisten 1860 die Free Methodist Church ins Leben rief. Zu den größten Spaltungen kam es indessen erst gegen Ende des Jahrhunderts. Sie fanden ihre Anhängerschaft in großem Umfang ebenso unter Baptisten und Angehörigen anderer Gruppen wie unter Methodisten und brachten eine Fülle neuer Denominationen hervor, die ihrerseits wieder ein fruchtbarer Boden für neue Spaltungen und Zusammenschlüsse waren. Z u den grö-

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ßeren Neubildungen gehören die um 1880 entstandene Church of God (Anderson, Indiana), deren N a m e wie in der älteren Bewegung den Anspruch anzeigt, mehr als eine nur menschlich begründete Denomination zu sein, und die Church of the Nazarene, deren Ursprünge in den 1890er Jahren lagen, die eine dauerhafte Gestalt aber erst 1908 erhielt. Einige der neuen Gruppen verbanden die Ausrichtung auf die Heiligung mit besonderen missionarischen Akzenten. Die -»Heilsarmee, die 1880 aus Britannien in die Vereinigten Staaten kam, stellte die städtische Evangelisation und —»Diakonie in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, während die 1887 gebildete Christian and Missionary Alliance das Anliegen der Heiligung besonders nachdrücklich mit der Aufgabe der äußeren Mission verband. Heiligungskirchen entstanden unter Schwarzen wie Weißen. Die bekannteste ist die Church of God in Christ, die in den 1890er Jahren von den Baptisten Charles Harrison Mason (1866-1961) und Charles Price Jones (1865-1949) aus Mississippi gegründet wurde. Insbesondere nach der Azuza-Street-Erweckung in Los Angeles 1906 wurden viele Gruppen der Heiligungsbewegung von der Pfingstbewegung (-»-Pfingstkirchen/Charismatische Bewegung) mitgerissen, darunter die Church of God in Christ, die im 20. Jh. alle anderen schwarzen Kirchen mit Ausnahme der National Baptist Convention of the U.S.A. zahlenmäßig übertreffen sollte. Die von dem schwarzen Prediger William J. Seymour (1870-1922) geleiteten Azuza-Street-Versammlungen lassen auch den in der Heiligungs- und Pfingstbewegung wie in früheren radikal evangelikalen Bewegungen lebendigen Antrieb erkennen, die Rassenschranken zu durchbrechen. Allerdings hatten auch hier die Bemühungen eines Brückenschlags zwischen den Rassen nur begrenzten Erfolg, da die Pfingstkirchen ihrerseits zu einer Trennung nach Rassen neigten. Zugleich wurde die Pfingstbewegung insgesamt durch Lehrauseinandersetzungen gespalten, den Streit um die Geschlossenheit des Gnadenwerks („finished w o r k " ; vgl. T R E 26,402,22—25), der die Bewegung längs der älteren reformiert-wesleyschen Scheidelinie auseinanderfallen ließ, und die Oneness-Bewegung, die die Trinitätslehre und die überkommene Ordnung der Taufe in Frage stellte (vgl. T R E 26,402,26-33). Die 1914 gegründeten Assemblies of God wurden schließlich zur größten weißen Denomination der Pfingstbewegung. Auch die zunächst während der 1880er Jahre als Heiligungsgemeinschaft gegründete Church of God (Cleveland, Tennessee) wuchs im 20. Jh. zu einer der größten Pfingstkirchen heran. Die 1898 gegründete Pentecostal Holiness Church nahm in der Folgezeit in mehreren Zusammenschlüssen verschiedene Gruppen in sich auf, deren Pfingstlertum in der wesleyschen Tradition wurzelte. Die Pentecostal Assemblies of the World entstanden bereits 1906 oder 1907 und wurden 1918 zum organisatorischen Zentrum der Oneness-Pfingstbewegung ausgestaltet. Nach einer verwickelten Geschichte fehlgeschlagener Versuche, eine gemischtrassige Mitgliedschaft beizubehalten, wurde die Kirche dauerhaft zu einer vorwiegend schwarzen Gemeinschaft. Die größte OnenessDenomination, die United Pentecostal Church, entstand erst 1945 aus einem Zusammenschluß vorwiegend weißer Oneness-Gruppen. 3.7. Unitarismus, Transzendentalismus, und theologische Entwicklungen

Oxford-Bewegung

und andere

kirchliche

So vielfältig die von den Strömungen des radikalen Evangelikaiismus innerhalb des amerikanischen Protestantismus gezogenen Trennungslinien auch waren, so haben sie jedoch keineswegs allein seine fortschreitende Auffächerung während dieses Zeitraums bestimmt. Sie vollzog sich auch an ganz anderen Aufbruchlinien, die sich an manchen Stellen mit evangelikalen Leitvorstellungen trafen, an anderen aber scharf davon abhoben. Der aufgeklärte religiöse Rationalismus, der sich im amerikanischen Christentum des frühen 19. Jh. allgemein auf dem Rückzug befand, faßte mitten im puritanischen Neuengland dauerhaft Fuß; denn hier gewann der Unitarismus ( - • Unitarier) manche Gemeinde der anerkannten kongregationalistischen Kirchen für sich und wurde zur vorherrschenden Richtung in Harvard. Die 1825 gebildete American Unitarian

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Association bezeichnet den Anfang seiner Existenz als selbständige Denomination. Unter der Leitung von William Ellery Channing (1780—1842) aus Boston wurde der Unitarismus zwar nie zu einer weit ausgreifenden populären Bewegung, zog aber viele Angehörige der geistigen Führungsschicht im Neuengland des frühen 19. Jh. an - als bekanntesten Ralph Waldo Emerson (1803—1882) — und wirkte dadurch mittelbar auf die Lebenseinstellung von Millionen. Emerson, der seinen Weg als unitarischer Geistlicher begann, dann aber zum herausragenden Wortführer des Transzendentalismus wurde, veranschaulicht auch, wie die -»Romantik auf der Linie des Unitarismus den älteren Rationalismus verdrängte. Auf der einen Seite konnte romantische Empfindsamkeit zu einer Offenheit für religiöse Traditionen führen, die altehrwürdiger und gemeinschaftsorientierter waren als die für den amerikanischen Evangelikaiismus kennzeichnenden. Unter den Transzendentalisten begegnen Konvertiten zum römischen Katholizismus, von denen vor allem Orestes Brownson (1803—1876) und Isaac Hecker (1819-1888) zu nennen sind, während sich im Protestantismus Neuenglands allgemein eine vielgestaltige Rombegeisterung entfaltete, die ebenfalls zu einzelnen Konversionen führte. In der episkopalistischen Kirche, insbesondere am General Theological Seminary in New York, entwickelte sich während der 1840er Jahre eine starke Sympathie für die Oxford-Bewegung in der Kirche von England (—> Anglokatholizismus), und über den gesamten Zeitraum zog sich eine Auseinandersetzung zwischen einem hochkirchlichen und einem evangelikalen Flügel hin. Eine Verbindung von Romantik und Traditionalismus zeigte sich auch in der bedeutenden theologischen Bewegung, die Mitte des 19. Jh. unter Leitung von John Williamson Nevin (1803—1886) und dem deutschschweizer Einwanderer Philip -> Schaff am Seminar der deutschen reformierten Kirche in Mercersburg, Pennsylvania, entstand. Die in den 1880er Jahren unter Schaffs Leitung während seiner Tätigkeit am —*Union Theological Seminary in New York begründete American Society of Church History läßt ebenfalls seine ausgeprägt positive Sicht der christlichen Vergangenheit erkennen. Unterdessen wandten sich die Lutheraner in den Vereinigten Staaten, stärker unter dem Einfluß eines von Einwanderern getragenen Traditionalismus als dem der Romantik, von einem „amerikanischen Luthertum", wie es Samuel Simon Schmucker (1799-1873) verkörperte, hin zu einer erneuten Betonung der deutschen Sprache und der lutherischen Orthodoxie. Die 1847 entstandene, von Carl F.W. Walther (1811-1887) geleitete Missouri-Synode (vgl. T R E 21,608,35-48) ist immer noch ein Bollwerk des theologischen Konservativismus, und das Gleiche gilt für die 1857 von niederländischen Einwanderern in Michigan gegründete Christian Reformed Church. Auf der anderen Seite verkörperte eine andere von Einwanderern getragene Gruppe, die Evangelical Church Union of the West, die später zur Bildung der Evangelical Synod of North America beitrug, stärker irenische Bestrebungen im deutschen Protestantismus und verband pietistische Züge aus der lutherischen wie aus der reformierten Tradition miteinander. Aus ihren Reihen sollten im 20. Jh. zwei der herausragendsten amerikanischen Theologen, die Brüder Reinhold und H. Richard —>Niebuhr hervorgehen. 3.8. New-Age-Frömmigkeit,

Theosophie

und fernöstliche

Einflüsse

Wie die Romantik zeitweise einen Traditionalismus förderte, so führte sie in anderen Fällen wie im Beispiel des Transzendentalismus von historischen Formen des Christentums fort zu einer eklektischen Aufnahmebereitschaft, die unter vielem anderen auch eine Aufgeschlossenheit für die (damals wenig bekannte) Welt der asiatischen Religionen zeigte. Sie nahm eine anhaltende und zunehmend gewichtige Entwicklungslinie amerikanischer Religion vorweg, die teils als ganzheitliche, teils als New Age-Frömmigkeit bezeichnet wird und in optimistischer Weise die Möglichkeiten eines Gewinns leiblichen und geistigen Wohlbefindens durch innere Einstellung auf einen harmonischen Kosmos betont. Sie steht in einer vielschichtigen Beziehung zur älteren Welt des radikalen Evangelikalismus, aus der sie ebenso schöpft wie sie von ihr abrückt. Die 1875 von der

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russischen Einwanderin Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891) in New York gegründete und nach ihrem Tod 1891 von Annie Wood Besant (1847-1933) geleitete Theosophic Society wurde durch ihre umfangreichen Entlehnungen aus dem Buddhismus und insbesondere aus dem Hinduismus gekennzeichnet, ließ aber ebenso auch die Vorstellungen und Praktiken eines frühen -»Okkultismus und -»Spiritismus anklingen (-»Theosophie). Die 1879 gegründete Church of Christ (Science) ging in ihrer Lehre, Organisation und Praxis erkennbar neue Wege; doch ihre Gründerin Mary Baker Eddy (1821 — 1910) war eng mit älteren Traditionen geistlichen Heilens im Protestantismus Neuenglands vertraut, und ihre Lehre vom Vater-Mutter-Gott spiegelt in mancher Hinsicht die zweigeschlechtliche Gottheit des Shakertums. Wie der radikale Evangelikaiismus brachte auch die ganzheitliche Frömmigkeit zahlreiche Abweichler und Abspaltungen hervor. Es entstand eine abgewandelte Form der -» Christian Science, die ihre feste Form in der 1889 von Charles Fillmore (1854-1948) und Myrtle Fillmore (1845-1931) in Kansas City gegründeten Unity School of Christianity erhielt. Ein andere Linie führt auf die Denkwelt Emanuel -»-Swedenborgs zurück, die ganz unabhängig von ihrer Institutionalisierung in den amerikanischen Zweigen der in London entstandenen Church of the New Jerusalem in weitem Umfang sowohl auf den Transzendentalismus als auch auf volkstümlichere spiritistische und Heilungsbewegungen eingewirkt hat. Die eigenwilligen religiösen Vorstellungen von Henry James, Sr. (1811-1882) waren in hohem Maß von Swedenborg beeinflußt und prägten ihrerseits wieder seinen Sohn William -»James, dessen eigenes religiöses Denken den breiten Strom ganzheitlicher Frömmigkeit auf mancherlei Weise schöpferisch fortbildete. Unterdessen wurde die öffentliche Wahrnehmung asiatischer Religionen in den Vereinigten Staaten erheblich durch das 1893 in Chicago abgehaltene -»Weltparlament der Religionen gefördert. Das Eintreffen zweier ständiger Missionspriester des buddhistischen Jodo-shü, der Schule des reinen Landes, in San Francisco 1899 kennzeichnet eine Formierung buddhistischen Lebens unter Einwanderern aus Japan und schuf dafür eine beständige Organisation, die in den 1940er Jahren den Namen Buddhist Churches of America erhielt. 3.9. Liberaler

Protestantismus

und die amerikanische

Gesellschaft

Die liberale Theologie, die sich während der letzten Jahrzehnte des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jh. innerhalb des protestantischen Hauptstroms entfaltete, erwuchs im Austausch mit Entwicklungen im europäischen protestantischen Denken vor allem in Deutschland aus älteren Traditionen der puritanischen und evangelikalen Orthodoxie. Auch hier setzte die breite Wirkung der Romantik Anstöße frei, die sowohl auf den Wiedergewinn eines gemeinschaftsorientierten Traditionalismus als auch auf die Betonung eines praktisch eingestellten Harmonismus wiesen. Bereits in der Mitte des 19. Jh. hob der in der theologischen Tradition Neuenglands stehende Horace Bushnell (1802-1876) Gottes Immanenz und den dichterischen Charakter der religiösen -»Sprache hervor und legte damit den Grund für spätere Entwicklungen. Die von Newman Smyth (1843-1925) im frühen 20. Jh. verfochtene Behauptung, das Zeitalter des Protestantismus sei vorüber und die Zukunft liege bei einer Wiedervereinigung mit einem in Bälde durch den —»Modernismus umgebildeten Katholizismus, gibt, wenn auch in untypischer Weise, die Stoßrichtung auf eine erneute, allerdings nur auf einer immanentistischen Annahme über die Entwicklung der Tradition beruhende Betonung des Korporatismus und Traditionalismus zu erkennen. Gleichzeitig brachte die Zuversicht des bekanntesten Verkünders des -»Social Gospel, Washington Gladden (1836-1918), der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital könne durch Versöhnung und Kooperation gelöst werden, in sozialpolitischer Form die ganzheitliche Tendenz zur Sprache. Diese Akzentsetzungen spiegeln einerseits eine zunehmende Betonung der Lehre Jesu als der Norm christlicher -»Sozialethik und andererseits die optimistische Metaphysik eines philosophischen Idealismus. Indessen riefen Widerstände gegen solche Vorstellungen erneut - teilweise heftige — Auseinandersetzungen wach und trugen zur weiteren Auf-

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fächerung des amerikanischen Protestantismus bei. In einzelnen Denominationen suchten Konservative die Liberalen aus dem Amt und aus den theologischen Ausbildungsstätten zu drängen oder, wie im Fall der General Assembly der Presbyterian Church (USA) von 1910, ihre Kirche förmlich auf die Verfechtung eines Fünf-Punkte-Programms - Irrtumslosigkeit der Bibel, Jungfrauengeburt, die Satisfaktionstheorie in der Versöhnungslehre, leibliche Auferstehung und die Historizität der Wunder Jesu - festzulegen. Zur gleichen Zeit, insbesondere nach 1900, wurden in Kreisen der Modernisten selbst, zuweilen unter dem steigenden Einfluß des philosophischen -»Pragmatismus, Rückfragen nach der Angemessenheit des älteren philosophischen Idealismus laut. Bei aller Auffächerung verschwand der im frühen puritanischen Neuengland so bedeutsame Antrieb, einen Konsens zu erarbeiten und ein heiliges Gemeinwesen aufzubauen, keineswegs ganz. Es ist geltend gemacht worden, daß sich seit der Revolutionszeit eine weithin akzeptierte, unabhängige Civil Religion (-*Zivilreligion) ausbildete, die die Vorstellung einer göttlichen Sendung Amerikas gedanklich und rituell zum Ausdruck brachte, ohne sich dabei auf eine spezifische religiöse Sprache festzulegen. Doch das übertreibt einmal die anfängliche Differenzierung einer derartigen nationalreligiösen Überzeugung von einem weit gefaßten Christentum und unterbewertet zugleich das Maß, in dem religiöse Ausformulierungen einer nationalen Zielvorgabe im 19. Jh. politisch in Frage gestellt wurden. Es trifft weithin - wenn auch natürlich mit mancherlei Ausnahmen und Komplikationen zumal im Blick auf die Rassenfrage - zu, daß im amerikanischen Zweiparteiensystem eine Partei (nacheinander die Föderalisten, Whigs und Republikaner) den Ton eher auf kollektive Ordnung, gemeinsame Moral und Vorrechte legte, während die andere (anfänglich die Jeffersonschen Republikaner, dann die Demokraten) Vielfalt, Freiheit und Gleichheit betonte. Das informelle protestantische Establishment neigte während dieses Zeitraums im allgemeinen dazu, sich zur Umsetzung seiner religiösen Ziele der ersten Partei zu bedienen. Der Widerstand gegen den steigenden Einfluß der römischen Katholiken, die sich im allgemeinen mit der Demokratischen Partei verbanden, war ein Hauptthema des politisch organisierten Protestantismus insbesondere in den nördlichen Staaten, auf die sich die Einwanderung konzentrierte. Während der späten 1840er und frühen 1850er Jahre, als die Whig-Partei dabei war, sich über der Sklavenfrage aufzulösen, schien es zeitweise, als könnte die Know Nothing-Bewegung mit ihrer Konzentration auf Nativismus und Antikatholizismus ihre Nachfolge antreten. Am Ende taten das jedoch die Republikaner, die das Gewicht in erster Linie darauf legten, die Ausbreitung der Sklaverei einzudämmen. Die sich daraus ergebende regionale Polarisierung in der Sklavenfrage spaltete die Protestanten politisch, da die weißen Protestanten des Südens die loyalsten Anhänger der Demokraten wurden, während im Norden die ältere religiöse Polarisierung andauerte, bei der sich die Republikanische Partei gelegentlich selbst als Gegnerin von „Rum, Romanismus und Rebellion" empfahl. Hervorgehoben worden ist zuweilen die Bedeutung der freiwilligen Vereinsbildung als eines Mittels, durch das der Hauptstrom des amerikanischen Protestantismus nach dem Fortfall der staatlichen Unterstützung mit beachtlichem Erfolg versucht hat, einen Konsens zu schaffen und gemeinsame Ziele zu erreichen. Gewiß haben Protestanten während dieses Zeitraums Vereinigungen mit fast allen erdenklichen Zielsetzungen gebildet, und solche Vereinigungen haben zweifellos allgemein eine entscheidende Bedeutung für die Förderung der Teilnahme von Laien an der christlichen Arbeit gehabt. Viele von ihnen, darunter zahlreiche Vereinigungen für Innere Mission, die American Bible Society (1816) und die American Tract Society (1823), die normalerweise von Kongregationalisten und Presbyterianern geleitet wurden, sahen jedoch ihre Aufgabe zumeist in der weiten Verbreitung eines modernen Evangelikaiismus und griffen in der Regel keine strittigen sozialen Fragen auf. Die American Missionary Association wurde 1846 zu einem guten Teil deshalb gegründet, weil die ältere American Home Missionary Society (1826) der Sklavenfrage aus dem Weg zu gehen suchte. Solche Vereinigungen

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wichen zudem im Fortgang des Jahrhunderts vielfach denominational gebundenen, zunehmend bürokratisch verfestigten Organisationen. Unterdessen tendierten Bewegungen mit dem Ziel religiös begründeter sozialer Reformen im Zug ihrer Entwicklung dazu, von der Strategie reiner Überzeugungsarbeit abzugehen und statt dessen politische Unterstützung für eine Inanspruchnahme staatlicher Machtmittel zu suchen. Die American Anti-Slavery Society (1833) unter der Leitung von William Lloyd Garrison (1805-1879) war militant, aber unpolitisch, während die American and Foreign Anti-Slavery Society (1840) politische Mittel bejahte und dazu beitrug, der Sklavenfrage Zugang zur politischen Entscheidungsebene zu erzwingen, auf der es schließlich 1860 zur ausschlaggebenden Auseinandersetzung kam. Die Abstinenzbewegung schritt im wesentlichen auf ähnliche Weise von Bemühungen, einzelne zu überzeugen, fort zu Versuchen, politische Unterstützung für ein staatliches Eingreifen zu mobilisieren. Die Anti-Saloon League (1893), die ihren Rückhalt insbesondere in den methodistischen Kirchen sowohl des Nordens wie des Südens hatte, war eine auf ein einziges Thema konzentrierte PressureGroup, deren außerordentlich effektiver Einsatz wesentlich dazu beigetragen hat, die Vereinigten Staaten 1919 zur Annahme des 18. Zusatzgesetzes zur Verfassung zu bewegen, das die Herstellung und den Konsum alkoholischer Getränke untersagte. Doch auch die auf eine breitere Thematik ausgerichteten und stärker politisch orientierten Gruppierungen unter diesen freiwilligen Vereinigungen zählten selten viele römische Katholiken zu ihren Mitgliedern, und ihre Programme galten normalerweise als spezifisch protestantische Anstrengungen im Kampf gegen Indifferenz oder Widerstand von katholischer Seite. Einen gewissen Zusammenhalt und ein Gespür für gemeinsame Zielsetzungen erreichte der amerikanische Protestantismus während dieses Zeitraums auch infolge einer zunehmend selbstbewußten Betonung der zentralen Stellung der -»Frau im Christentum, und auch hier spielte der Gegensatz zum römischen Katholizismus häufig eine wesentliche Rolle. Zweifellos war die Frage der Beteiligung der Frauen am kirchlichen Leben und ihrer Stellung in einem weiteren gesellschaftlichen Rahmen aber auch Ursache für weitere Spaltungen. Die Auseinandersetzungen betrafen das öffentliche Gebet von Frauen in Erweckungsversammlungen, ihre wachsende Rolle als Reisepredigerinnen und ihr zunehmendes Bestehen auf einem Zugang zum geistlichen -»Amt. Die Trennungslinie zwischen gemäßigten und radikaleren Evangelikaien deckte sich häufig mit der Scheidemarke zwischen den Befürwortern einer umfangreicheren Tätigkeit von Frauen und ihren Gegnern. Die 1848 auf der Women's Rights Convention in Seneca Falls, New York, unter der Leitung von Elizabeth Cady Stanton (1815-1902) ins Leben gerufene Bewegung für die Rechte der Frauen war häufig ebenso umstritten wie die radikale abolitionistische Bewegung von William Lloyd Garrison, aus der sie hervorgegangen ist. Als Stanton, die als gemäßigte Evangelikaie begonnen hatte, dann aber wie Garrison die Überzeugung gewann, daß die überkommene Religion ein reaktionäres Potential in sich birgt, während der 1890er Jahre eine scharfe Kritik an der Behandlung von Frauen im Alten Testament veröffentlichte, wurde sie größtenteils — auch von feministischen Weggefährtinnen - abgelehnt. Dennoch gab es unter amerikanischen Protestanten die weithin akzeptierte Überzeugung, daß die Hebung der Stellung der Frauen ein entscheidender Maßstab für religiösen Fortschritt und ein zentraler Vorzug des amerikanischen Protestantismus sei. Anfänglich beschränkte zumindest für gemäßigte Evangelikaie ein vorherrschendes Ethos der Häuslichkeit mit scharfer Trennung der Wirkungskreise von Mann und Frau die Tätigkeit der Frauen auf ihr Heim und die Kirche. Im Fortgang verlor diese Einstellung jedoch zunehmend an Boden. Im Werdegang von Frances Willard (1839-1898), der Leiterin der 1874 gebildeten Women's Christian Temperance Union, gab der Gedanke, das Heim in die Welt hineinzunehmen und dabei männliches Laster durch weibliche Tugend zu zähmen, Spielraum für ein kämpferischeres Auftreten. Innerhalb der schwarzen Kirchen brachte der Methodismus eine Reihe einflußreicher Predigerinnen hervor, während bei den Baptisten Nannie Burroughs (1879—1961) die

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Women's Convention, eine Unterorganisation der National Baptist Convention, zu einer gewichtigen Kraft im schwarzen kirchlichen Leben machte. Auch Protestanten, die über die Näherbestimmung der angemessenen Rolle der Frauen in Kirche und Gesellschaft uneins waren, konnten der Auffassung zustimmen, daß der Katholizismus ein Hindernis für die in Gang befindliche Hebung der Stellung der Frauen sei. Das zölibatäre Priestertum (-•Zölibat) und die bedeutende Rolle von Nonnen erschienen im Antikatholizismus als reaktionärer Angriff sowohl auf die Häuslichkeit als auch auf ein angemessenes öffentliches Wirken von Frauen. 3.10. Öffnung des römischen

Katholizismus

zur amerikanischen

Gesellschaft

Einerseits mit der vorherrschenden protestantischen Tendenz konfrontiert, öffentliche Moral in einem antikatholischen Sinn zu definieren, und andererseits mit einer schroffen päpstlichen Ablehnung der von den Vereinigten Staaten verkörperten Art des nicht katholischen, liberalen kapitalistischen Nationalstaats, waren die amerikanischen Katholiken in keiner guten Lage, ihre eigene Auffassung von öffentlicher Ordnung zur Geltung zu bringen. Im wesentlichen reagierten sie auf ihre Situation, zu der auch die Integration von immer neuen Wellen von normalerweise armen, der Arbeiterschicht angehörigen Einwanderern gehörte, mit dem Aufbau einer geschlossenen Welt eigener Einrichtungen, die nicht nur Kirchen, sondern auch Schulen, Krankenhäuser und karitative Vereinigungen umfaßte. Eine verhältnismäßig rasche Einbürgerung und ein - für weiße Männer - leichter Zugang zum Wahlrecht bedeuteten, daß sie sich schnell politisch bemerkbar machten, allerdings in erster Linie über die Demokratische Partei, und so in der Lage waren, insbesondere auf lokaler Ebene ihre Interessen zu vertreten. Zugleich neigten amerikanische Katholiken gelegentlich auch zu einer Angleichung an ihre protestantische Umgebung, so im „Trusteeism" des frühen 19. Jh., bei dem Laien an einigen Orten sich der bischöflichen Autorität widersetzten und ihre Gemeinden nach einem im Grunde kongregationalistischen Muster selbst zu verwalten suchten. Entgegen der unter amerikanischen Protestanten wie europäischen Katholiken vorherrschenden Meinung, Katholizismus und Vereinigte Staaten paßten nicht zueinander, behaupteten einige wenige Katholiken überdies, der römische Katholizismus bilde tatsächlich die einzige gesunde Grundlage für amerikanische Institutionen und diese wiederum bildeten eine ideale Umgebung für die Entfaltung katholischen Lebens. Anfänglich wurden diese Vorstellungen in erster Linie von im Lande geborenen Konvertiten aus dem Protestantismus vertreten, ganz besonders von Orestes Brownson, der behauptete, die amerikanische Rechts- und Gesellschaftsordnung beruhe auf naturrechtlichen Grundlagen, die ein subjektivistischer Protestantismus aufgegeben, der Katholizismus aber bewahrt habe, und von Isaac Hecker, dem Gründer der Kongregation der Paulisten, der überzeugt war, die Trennung von Kirche und Staat erleichtere das Wirken des heiligen Geistes unter den Gläubigen. Als diese Ideen im späten 19. Jh. von führenden Katholiken wie John Joseph Keane (1839—1918), John Ireland (1838-1918) und in geringerem Umfang von Kardinal James Gibbons (1834-1921) als Teil eines weitergreifenden Bemühens um einen Abbau der Isolierung des Katholizismus im öffentlichen Leben Amerikas aufgenommen wurden, erregten sie den Argwohn des Vatikans, und 1899 verurteile -»Leo XIII. in Testern benevolentiae etwas unbestimmt, aber dennoch wirksam den „Amerikanismus". 1907, als -»-Pius X . in Pascendi gregis den Modernismus verurteilte, befand sich der liberale Flügel des amerikanischen Katholizismus sichtlich auf dem Rückzug. 3.11. Wachstum

der internationalen

Rolle in Mission und

Politik

Im Verlauf des 19. Jh. richteten die amerikanischen Protestanten ihre Aufmerksamkeit und ihre Kräfte zunehmend auf die äußere Mission (-»Mission VI). Bereits im frühen 19. Jh. war das American Board of Commissioners of Foreign Mission (ABCFM), das 1810 unter der Leitung von Kongregationalisten aus Neuengland gegründet wurde, zeitweilig aber auch die Missionsanstrengungen der niederländisch reformierten und deutsch

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reformierten Kirche sowie der New School Presbyterian Church lenkte, neben der American Bible Society die finanziell am besten ausgestattete freiwillige protestantische Vereinigung in den Vereinigten Staaten der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Es war damit aber nur eine kleine Vorwegnahme dessen, was die Missionen des Hauptstroms des amerikanischen Protestantismus auf ihrem Höhepunkt, dem halben Jahrhundert nach 1880, sein sollten. Mit etwa 90 tätigen Missionsgesellschaften entsandten die Amerikaner 1900 doppelt so viele Missionare wie das festländische Europa, und 1910 hatten sie auch die Briten überflügelt. Auch auf diesem Gebiet gab es selbstverständlich Auseinandersetzungen und Spaltungen. Amerikanische Missionstheoretiker stritten über das Verhältnis von „Christianisierung und Zivilisierung", die Bewegung organisierte sich immer mehr in einem denominationellen Rahmen, und gegen Ende des Zeitraums stellten Gruppen wie die über das Moody Bible Institute und andere Ausbildungsstätten tätigen Prämillennaristen zunehmend die Arbeit der vom Modernismus berührten Kirchen des protestantischen Hauptstroms in Frage. Zugleich aber war die Missionsbewegung ein wirksames Medium, gemeinsamen Zielsetzungen und Überlegungen über die nationale Bestimmung Amerikas Ausdruck zu geben. Frauen hatten von Anfang große Bedeutung für die Unterstützung der Missionsunternehmen aus der Heimat und traten im Verlauf des 19. Jh. zunehmend auch als hervorragende Mitarbeiterinnen auf den Missionsfeldern selbst in Erscheinung. Die Überzeugung, daß der Protestantismus die Stellung der Frauen spürbar gehoben habe, lebte in der äußeren Mission ebenso wie in der heimatlichen Reformbewegung. Die Kongregationalisten, die das ABCFM auf den Weg gebracht hatten, schöpften aus der chiliastischen Erwartung, die J . Edwards in Neuengland genährt hatte und die sowohl in der Revolutionsbewegung als auch bei den ersten Missionsbemühungen von Samuel Hopkins in der Überzeugung zutage trat, Amerika könne durch seinen Einsatz einen besonderen Platz bei einem neuen Werk des Geistes einnehmen. Der herrschende Optimismus zeigte sich zum Ende des Jahrhunderts auch in dem Wahlspruch des 1888 gegründeten und von John R . Mott (1865—1955) und Robert Speer (1867-1947) geleiteten Student Volunteer Movement for Foreign Missions, der zur „Evangelisierung der Welt in dieser Generation" aufrief. Diese Erwartungen und Anstrengungen wurden durch ihre Verflechtung mit der steigenden Weltmachtgeltung des amerikanischen Nationalstaates und seiner tiefen Verstrickung in das weltweite Leitbild einer an Rassenzugehörigkeit gebundenen Herrschaft zugleich ermöglicht und verkompliziert. Gegen Ende dieses Zeitraums hatten die Vereinigten Staaten nicht nur ihre heutigen Grenzen auf dem amerikanischen Kontinent abgesteckt, sondern sich auch eine wachsende politische, militärische, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Präsenz weit über den nordamerikanischen Kontinent hinaus gesichert. Der Krieg mit Spanien (1898) festigte nicht nur auf neue Art ihre Machtstellung in der Karibik, in der sie Puerto Rico in Besitz nahmen; er ließ sie infolge der Besetzung der Philippinen auch zu einer Macht im asiatischen Raum werden. Ihre zentrale Stellung in einer entstehenden Weltordnung zeigte sich auch am Bau des 1914 vollendeten Panamakanals, der die atlantische und die pazifische Welt miteinander in engere Berührung brachte. Der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg und ihre führende Beteiligung bei der Gestaltung des anschließenden Friedens war ein weiterer Schritt in dieser Entwicklung. 3.12. Die Frage des

Rassismus

Die amerikanischen Missionen wuchsen und blühten in dem Maß, wie dies von der amerikanischen Weltmachtstellung galt. Zugleich waren sie, und das von Anfang an, wenn auch zuweilen widerwillig, tief in das für die internationale Ordnung zentrale Leitbild einer auf Rassenzugehörigkeit beruhenden Herrschaftsordnung verstrickt. Bereits im frühen 19. Jh. war das amerikanische Missionsinteresse an Afrika durch eine enge Verbindung mit Bestrebungen kompromittiert, die Vereinigten Staaten von ihrer freien schwarzen Bevölkerung zu befreien. Samuel J . Mills, Jr. (1783-1818), einer der

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bedeutenden frühen Wegbereiter der amerikanischen Missionsbemühungen, starb 1818 bei der Rückkehr aus Westafrika, wo er sich im Interesse der kurz zuvor gegründeten American Colonization Society (ACS) aufgehalten hatte, um einen Plan zu Gründung einer Missionskolonie amerikanischer Schwarzer voranzutreiben. Die Arbeit der ACS schöpfte aus dem selben Missionsimpuls, der Samuel Hopkins bewegte und die Unterstützung einzelner Afroamerikaner fand, insbesondere des afroindianischen Reeders Paul Cuffe (1759-1817), der hoffte, sowohl das Christentum in Afrika zu fördern als auch eine Heimat für befreite Sklaven zu schaffen. Diese Pläne waren zwar sichtlich auch von der Absicht getragen, die Sache der Sklavereigegner zu fördern, erhielten aber eine problematische Unterstützung von südlichen Sklavenhaltern, denen daran lag, eine Bedrohung der Sklavengesellschaft auszuschalten, die man von einem wachsenden Bevölkerungsanteil befreiter Schwarzer meinte erwarten zu müssen, und sie beruhten letztlich auf der Voraussetzung, daß die Vereinigten Staaten ein „Land des weißen Mannes" waren und bleiben sollten. Dennoch erhielt die ACS anhaltende Unterstützung aus dem Hauptstrom des Protestantismus der Zeit vor dem Bürgerkrieg auch ungeachtet ihrer heftigen Ablehnung durch die meisten schwarzen Kirchenführer und lautstarker Anprangerung durch die Abolitionisten. Selbst Abraham Lincoln war lange der Auffassung, ehemalige Sklaven sollten außerhalb der Vereinigten Staaten angesiedelt werden. Daß es in der Wiederaufbauzeit nach dem Bürgerkrieg nicht gelang, in den ehemaligen Sklavenstaaten eine neue gemischtrassische Ordnung zu schaffen, führte am Ende des Jahrhunderts zur Bildung eines Systems strikter Rassentrennung und -hierarchie, das Gestalt annahm, als die europäischen Mächte dabei waren, ihre Stellung in Afrika zu konsolidieren und ihre Herrschaft in Asien voranzutreiben. Die Schwierigkeit des protestantischen Hauptstroms, die Vorstellung einer amerikanischen Sendung von ihrer Verflechtung mit der einer auf Rassenzugehörigkeit beruhenden Herrschaftsordnung zu lösen, ließen seine wachsende Rolle bei der Globalisierung des Christentums zweideutig erscheinen. Einzelne afroamerikanische christliche Führer, insbesondere der Bischof der African Methodist Episcopal Church und bedeutende schwarze Nationalist Henry McNeal Turner (1834-1915), prangerten die Vereinigten Staaten als unverbesserlich rassistisch an, drängten Afroamerikaner zur Identifikation mit Afrika und legten, indem sie noch einmal das Exodusthema anstimmten, wirtschaftlich bessergestellten Schwarzen die Auswanderung dorthin nahe. Andere schufen sich eine eigene chiliastische Tradition und hofften auf eine von Gott herbeizuführende Wende der weltweit herrschenden Rassenordnung. Als Josiah Strong (1847-1916) in den 1880er Jahren mit darwinistischem Unterton davon sprach, den Angelsachsen sei als den Traditionsträgern des Protestantismus und des sozialen und politischen Liberalismus bestimmt, die Zukunft zu beherrschen, erwiderte der junge schwarze Theologe Theophilus Gould Steward (1843—1924), die biblische Prophetie zeige, daß das Zeitalter der Europäer bald ein Ende finden und an seiner Stelle eine von farbigen Christen beherrschte Weltordnung entstehen werde. 3.13. Folgen des Engagements

im Ersten

Weltkrieg

Die Beteiligung der Vereinigten Staaten am Ersten Weltkrieg ließ deutlich die Verwicklungen hervortreten, die sich aus der wachsenden weltpolitischen Rolle Amerikas ergaben. Christen wie der sozialliberale Evangelikaie William Jennings Bryan (1860—1925), der dreimal Anwärter auf eine Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei war und Amerikas Rolle in der Welt darin sah, ein moralisches Beispiel zu geben, lehnten den Aufruf zum Krieg ebenso ab wie sie sich zuvor imperialistischen Ambitionen wiedersetzt hatten. Andere wie der angesehene Führer der Social GospelBewegung Walter Rauschenbusch (1861-1918), der dem Krieg mit Spanien zugestimmt hatte, konnten den Krieg gegen Deutschland nicht gutheißen. Als er aber einmal erklärt war, unterstützten ihn die meisten Amerikaner nach Kräften; doch versuchten einzelne zugleich, sich der durch ihn ausgelösten Woge eines gesteigerten Nationalismus zu wider-

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setzen. Afroamerikaner waren sich bewußt, daß der aufrichtige Presbyterianer Woodrow Wilson (1856-1924), der Amerika in den Kampf führte, um „die Welt für die Demokratie sicher zu machen", auch ein aus dem Süden stammender Befürworter der Rassentrennung war, der darauf bestand, daß von der Bundesregierung in Washington, D.C. die Regeln einer strikten Rassenhierarchie eingehalten wurden. Wilsons Mitpresbyterianer, der bekannte schwarze Pastor Francis Grimke ( 1 8 5 0 - 1 9 3 7 ) , unterstützte zwar den Krieg und begrüßte den Sieg der Alliierten, war aber dennoch der Meinung, daß sie zum Teil dafür gekämpft hätten, die Welt für die Vorherrschaft der Weißen sicher zu erhalten, und sah das durch ihre kühle Haltung gegenüber Japan belegt, das ihm wie vielen anderen Afroamerikanern als Vorkämpfer der dunkleren Rassen erschien. Grimke wie Steward hofften fest auf das bevorstehende Heraufkommen einer neuen weltumspannenden, von Rassenungerechtigkeit gereinigten Christenheit. 4. Eine Weltmacht Auch wenn die Vereinigten Staaten nicht dem Völkerbund (—»Vereinte Nationen/ Völkerbund) beitraten, bezeichnete ihre Beteiligung am Ersten Weltkrieg und an der Versailler Konferenz eine neue Stufe ihres internationalen Engagements, das sich in den folgenden Jahrzehnten noch außerordentlich steigerte. Das amerikanische Christentum wurde von dieser Globalisierung nachhaltig betroffen. Vorstellungen von einer amerikanischen Sendung und Bestimmung richteten sich mehr und mehr auf die Stellung der Vereinigten Staaten innerhalb der internationalen wirtschaftlichen sozialen und politischen Ordnung, und der Einsatz amerikanischer Militärmacht in Übersee hat die amerikanischen Christen abwechselnd geeint und tief entzweit. Zugleich ist der Rückgang der Missionsanstrengungen der älteren Denominationen des protestantischen Establishments nach 1930 durch die wachsende Missionstätigkeit eines breiten Spektrums anderer amerikanischer christlicher, insbesondere konservativ evangelikaler und pfingstlerischer Gruppen und von Gemeinschaften amerikanischen Ursprungs wie den Mormonen, den Siebenten-Tags-Adventisten und den Zeugen Jehovas mehr als ausgeglichen worden. So wie Amerikaner in immer größerem M a ß in die Welt hinausgingen, kam auch die Welt in steigendem M a ß in die Vereinigten Staaten. Nach einer vierzigjährigen Pause zwischen 1924 und 1965 hat eine massive neue Einwanderungswelle das Erscheinungsbild des amerikanischen Christentums weiter verändert und die Bandbreite religiöser Vielfalt vergrößert. Die Herausforderung des religiösen Pluralismus geht nicht mehr vornehmlich von Menschen europäischer Herkunft und überwiegend christlichen (und daneben auch jüdischen) Glaubens aus, sondern von einem weltweiten Gemenge von Rassen und Religionen mit einem zunehmend gewichtigeren nichteuropäischen und nichtchristlichen Anteil. Auf christlicher Seite stellen Latinos den größten Strom von Einwanderern und machen sich im Bereich sowohl des Katholizismus als auch des Protestantismus der Vereinigten Staaten bemerkbar. Ihr Auftreten als Teil eines umfangreicheren Zustroms nicht nur spanisch sprechender Einwanderer aus Lateinamerika und der Karibik, zu denen auch Menschen afrikanischer Abstammung gehören, kennzeichnet eine erneute Verbindung des amerikanischen Christentums mit der atlantischen Welt, aus der es ursprünglich hervorgegangen ist. Zugleich hat die Einwanderung von Muslimen in die Vereinigten Staaten und die Intensivierung der amerikanischen Berührungen mit der islamischen Welt das amerikanische Christentum enger mit der jahrhundertelangen Geschichte der christlich-islamischen Wechselbeziehungen im Mittelmeerraum verbunden. Sowohl die latino-atlantische Einwanderung als auch die erneute Auseinandersetzung mit dem Islam haben in den Vereinigten Staaten spürbare Auswirkungen auf die fortbestehende Kluft zwischen Schwarzen und Weißen, die wie die Näherbestimmung des religiösen Pluralismus und die Ausformulierung gemeinsamer Ziele und Werte auch in diesem Zeitraum noch ein zentrales Problem des amerikanischen Christentums geblieben ist.

618 4.1. Von protestantischer

Vereinigte Staaten von Amerika Hegemonie

zur Anerkennung

dreier

Glaubensformen

Die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg war von heftigen sozialen Kämpfen mit ausgedehnten Streiks und Rassenunruhen gekennzeichnet. Ältere Gegensätze innerhalb des protestantischen Hauptstroms hatten sich während des Krieges vertieft und kamen jetzt in erbitterten Auseinandersetzungen insbesondere zwischen Presbyterianern und Baptisten zum Ausbruch. Die gegen Kriegsende gegründete World''s Christian Fundamentals Association mobilisierte eine breite Anhängerschaft von antimodernistischen Evangelikaien zum Widerstand gegen den Einbruch des Modernismus in die Kirchen und der Evolutionstheorie in die Schulen. Die Bewegung, die sich selbst als Verteidigerin der grundlegenden Überzeugungen betrachtete, auf denen das christliche Amerika ruhte, erhielt 1920 mit dem von Curtis Lee Laws (1868—1946) geprägten Begriff —>Fundamentalismus einen Namen. Ein verzweifelter protestantischer Gegenschlag gegen die Kräfte des Wandels war das Wiederauftreten des Ku Klux Klan. Ursprünglich nach dem Bürgerkrieg im Süden als terroristische Vereinigung zum Sturz der gemischtrassischen Regierungen der Wiederaufbauzeit entstanden, trat er 1915 erneut mit einem erweiterten Programm in Erscheinung, das neben der alten Feindseligkeit gegen Schwarze eine Wendung gegen Katholiken und Juden enthielt, und gewann jetzt über den Süden hinaus auch im Mittleren Westen eine starke Anhängerschaft. Der seit 1916 in New York wirkende Jamaikaner und frühe Panafrikaner Marcus Garvey (1887-1940) schien Amerika in gewisser Hinsicht dem Klan und seinen Verbündeten zu überlassen. Unter Aufnahme vieler der von Henry McNeal Turner angeschlagenen Themen rief auch er mit beträchtlichem Zuspruch von Seiten schwarzer Christen die Afroamerikaner auf, sich lieber mit Afrika als mit den Vereinigten Staaten zu identifizieren und ihr Möglichstes zu tun, sich dem Kolonialismus zu widersetzen und für die Schaffung eines machtvollen schwarzen Reiches einzutreten. Der Garveyismus wurde schnell zur größten Massenbewegung der afroamerikanischen Geschichte und war ohne Zweifel eine kräftige Infragestellung der Führungsrolle des älteren weißen Protestantismus. Unterdessen verfocht der in Harvard gebildete Pragmatiker und säkulare Zionist Horace Kallen (1882-1974), der Sohn eines eingewanderten Rabbis, nachdrücklich und wirksam die Meinung, im gegenwärtigen kulturellen Entscheidungskampf werde die authentische amerikanische Tradition nicht von einer „Kultur Klux Klan", sondern von einem „kulturellen Pluralismus" verkörpert, und Menschen, denen es bestimmt sei, zugleich Amerikaner und Juden zu sein, seien nicht anormal, sondern vielmehr normative Bürger und die wahren Träger der amerikanischen Tradition. Gegenüber solchen Herausforderungen konnten die Kräfte des protestantischen Hauptstroms, zumal soweit sie zu einem einigermaßen einheitlichen Handeln fähig waren, noch bestimmend auf eine ihren Überzeugungen entsprechende Gestaltung des öffentlichen Lebens hinwirken. Das wurde deutlich am Sieg der Prohibition, zeigte sich eher mittelbar an der Einführung des Frauenwahlrechts durch das Neunzehnte Zusatzgesetz zur Verfassung von 1920 und trat wohl am eindringlichsten zutage in der gesetzlichen Festlegung der Einwanderungsquoten von 1924. Sie beschränkte den jährlichen Neuzugang an Einwanderern auf 2 % der Angehörigen der jeweiligen Nationalität, die nach dem Stand der Volkszählung von 1890 bereits in den Vereinigten Staaten ansässig waren - ein Stichdatum aus der Zeit vor der Aushöhlung der nordeuropäischen protestantischen Mehrheit durch eine Flut von Einwanderern aus Süd- und Osteuropa. Als der römische Katholik Alfred Smith (1873-1944) 1928 gegen starke Widerstände schließlich zum demokratischen Präsidentschaftskandidaten nominiert wurde, erlitt er bei der Wahl eine empfindliche Niederlage. Unterdessen war Marcus Garvey 1925 wegen Betruges im Zusammenhang mit der für seine Heim-nach-Afrika-Kampagne gegründeten Schiffahrtslinie Black Star zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden und wurde zwei Jahre später ausgewiesen. Dennoch konnte der Protestantismus sich nach 1925 in den Vereinigten Staaten nicht mehr so ausschließlich wie früher als die Religion der ame-

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rikanischen Nation betrachten, und die innerprotestantische Vielfalt konnte nicht mehr als Maßstab einer allgemein annehmbaren Vielfalt gelten. Was sich statt dessen herausbildete, war aber auch nicht ganz der kulturelle Pluralismus von Horace Kallen; es kam vielmehr einem Modell näher, das ein anderer jüdischer Gesellschaftskritiker, Will Herberg (1906-1977), in den 1950er Jahren besonders eindrücklich umrissen hat. Danach haben Protestantismus, Katholizismus und Judentum als in Amerika annehmbare Glaubensformen Geltung gewonnen und bilden dabei einen „dreifachen Schmelztiegel", in dem die von den Einwanderern eingebrachte religiöse Vielfalt auf einen einfachen Nenner zurückgeführt wird. Zweifellos war die Geltung dieser drei Glaubensformen nicht so gleichgewichtig und unbestritten, und ethnische Prägungen gingen nicht so vollständig in der Religion auf, wie Herberg annahm. Dennoch mußte nach der Mitte der 1920er Jahre der alte protestantische Hauptstrom hinnehmen, daß Katholizismus und Judentum einen festen Platz im amerikanischen Leben behaupteten, und die Formel „Protestant - Katholik - Jude" wurde zu einer griffigen Umschreibung der amerikanischen religiösen Vielfalt, bis die Ereignisse der 1960er Jahre sie hinfällig werden ließen. Eine Grundbedingung dafür war die während dieses Zeitraums bestehende Einwanderungsbeschränkung und die sich daraus ergebende verhältnismäßige Stabilität der ethnischen und religiösen Gewichtsverteilung innerhalb der amerikanischen Bevölkerung. 4.2. Entwicklung

innerhalb

des

Protestantismus

Auch innerhalb des Protestantismus bestand offenbar eine größere Stabilität, und es gab einen breiteren Konsens als im voraufgehenden Zeitraum, und auch hier begünstigte der Rückgang der Einwanderung Annäherungs- und Angleichungsprozesse. Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Fundamentalisten und Modernisten flauten nach 1925 ab, und die Entstehung einer amerikanischen Form von Neuorthodoxie, die allerdings in ihrem Grundansatz dem älteren Modernismus verpflichtet blieb, erweckte den etwas irreführenden Eindruck, sie seien mehr oder minder dauerhaft überwunden. Die Brüder Niebuhr, die wesentlich dazu beigetragen haben, die Evangelical Synod aus ihrer Bindung an die deutsche Sprache zu lösen und in engere Beziehung zum amerikanischen öffentliche Leben zu bringen, sind ein Beispiel für die Bewegungsrichtung des Emigrantenprotestantismus hin zum amerikanischen protestantischen Hauptstrom. Sie lehrten an zwei historischen Zentren des anglo-protestantischen Denkens Amerikas - Reinhold Niebuhr am Union Theological Seminary in New York, an das er 1933 auch Paul Tillich vermittelte, und H. Richard Niebuhr in Yale. Während Richard seine Wirkung in der akademischen Theologie entfaltete, wurde Reinhold zu einem der führenden öffentlichkeitswirksamen Intellektuellen in den Vereinigten Staaten der 1940er und 1950er Jahre. Teilweise unter dem Einfluß marxistischer Vorstellungen, wandte er sich von dem Harmonismus der älteren Social Gospel-Bewegung ab zu einem Verständnis des Klassenkampfes als eines Kampfes für Gerechtigkeit, in dem zuweilen auch Gewalt erforderlich sei. Als sich seine Aufmerksamkeit vom Problem der Ordnung der Industriegesellschaft stärker auf den Aufstieg des Faschismus, den Zweiten Weltkrieg und dann den Kalten Krieg verlagerte, verlor sein „christlicher Realismus" einiges, doch keineswegs alles von seiner früheren Radikalität und wurde zunehmend zum Eintreten für die wachsende weltweite Rolle Amerikas bei der Verteidigung der pluralistischen Demokratie. Konsensbemühen statt Spaltung war offenbar auch die vorherrschende Kraft unter den Gemeinschaften des protestantischen Hauptstroms. Es begann eine Reihe von Zusammenschlüssen, die im Verlauf des 20. Jh. viele Spaltungen des 19. Jh. rückgängig machten (-»Unionen, Kirchliche IV/2). Zuweilen vereinten diese Zusammenschlüsse nicht nur Kirchen mit einem wesentlich gemeinsamem Ursprung, sondern griffen auch über ethnische Trennungslinien hinaus. 1934 vereinigte sich die Evangelical Synod mit der German Reformed Church zur Evangelical and Reformed Church. 1931 hatten sich die auf die Puritaner zurückgehenden kongregationalistischen Kirchen mit kleineren Gruppen, deren Ursprünge in der „christlichen" Bewegung des

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frühen 19. Jh. liegen, zur Christian Congregational Church zusammengeschlossen. 1957 vereinten sich diese größtenteils reformierten Gemeinschaften, von denen die eine deutschen und die andere englischen Ursprungs war, zur United Church of Christ. Methodisten, die 1939 bei einer regionalen Wiedervereinigung auch die Methodist Protestants einbezogen hatten, erweiterten 1968 bei der Bildung der United Methodist Church diesen Zusammenschluß um die Evangelical United Brethren, die ihrerseits wieder eine Vereinigung zweier kleinerer Gruppen deutschen Ursprungs waren. Die am stärksten schottisch geprägte Gemeinschaft unter den größeren presbyterianischen Denominationen in den Vereinigten Staaten, die 1858 gegründete United Presbyterian Church, war lange die wichtigste Trägerin der Traditionen der Covenanters und der Seceders. 1958 vereinigte sie sich mit dem Hauptzweig der nördlichen Presbyterianer, der Presbyterian Church, U.S.A., zur United Presbyterian Church, U.S.A. Diese wiederum schloß sich Mitte der 1980er Jahre mit dem größten südlichen Zweig der presbyterianischen Tradition, der Presbyterian Church in the United Staates, zur Presbyterian Church (U.S.A.) zusammen. In einer ein Jahrhundert lang sich hinziehenden Reihe von Unionen überwanden auch die Lutheraner eine Geschichte ethnischer wie regionaler Differenzierung und schlössen sich schließlich 1988 in der Lutheran Church in America zusammen. Aus einer Vereinigung von drei unabhängigen lutherischen Gemeinschaften entstand 1918 die American Lutheran Church. Am stärksten in den östlichen Staaten vertreten und liberaler als andere lutherische Gemeinschaften, war sie die erste lutherische Denomination, die dem informellen protestantischen Establishment zugerechnet werden konnte. 1962 verband sie sich mit der Augustana Lutheran Church schwedischen Ursprungs und zwei anderen Gemeinschaften dänischer bzw. finnischer Herkunft zur Lutheran Church in America. Zwei Jahre zuvor hatte die American Lutheran Church eine Reihe anderer, vornehmlich in den Staaten des Mittleren Westens verbreiteter lutherischer Gemeinschaften deutschen, norwegischen und dänischen Ursprungs zu einer gemeinsamen Denomination vereinigt. Die Lutheran Church in America und American Lutheran Church verbanden sich zur Evangelical Lutheran Church in America unter Einschluß einer kleinen Sondergruppe aus der Missouri-Synode, die selbst ihre Unabhängigkeit und ihre Bindung an ihren konservativen lutherischen Ursprung wahrte. Zahlenmäßig viel kleiner ist die 1961 vollzogene Vereinigung zweier liberaler, aus der anticalvinistischen Bewegung der frühen nationalstaatlichen Zeit hervorgegangener Gemeinschaften zur Unitarian Universalist Association (-»Unitarier). Während des gesamten Zeitraums gab es innerhalb des protestantischen Hauptstroms ebenfalls Bestrebungen zur Bildung noch umfassenderer Vereinigungen. Nach dem Vorbild freiwilliger interdenominationeller Zusammenschlüsse, insbesondere der -»Evangelischen Allianz, hat dieser weitergreifende protestantische Ökumenismus teilweise die Form von Kirchenbünden zur Förderung der Zusammenarbeit unabhängiger Gemeinschaften angenommen. Der 1908 gegründete Federal Council of Churches of Christ in America vereinte über 30 protestantische Kirchen unter einem Programm, das den Anliegen des Social Gospel beträchtliches Gewicht zumaß. Mit weiteren Gruppen verschmolzen und 1950 als National Council of the Churches of Christ in the United States of America neu organisiert, greift diese Arbeitsgemeinschaft über den protestantischen Hauptstrom hinaus und schließt schon seit den frühen 1960er Jahre eine Reihe östlicher orthodoxer Kirchen ein, deren Programme sich zuweilen deutlich von denen des Hauptstrom-Protestantismus unterschieden. Das Bestreben konservativer protestantischer Kräfte, ein Gegengewicht gegen diese eher liberalen Vereinigungen zu schaffen, führte 1941 zur Bildung des American Council of Churches, einer kleinen, betont fundamentalistischen Vereinigung, und 1942 zur Entstehung der bedeutenderen, größeren und umfassenderen National Association of Evangelicals. Einzelne Protestanten strebten danach, über Kirchenbünde hinauszukommen und eine protestantische Kirche zu bilden, die zum allermindesten die Kerndenominationen des alten protestantischen Establishments umfaßt. Als 1960 der führende Presbyterianer Eugen Carson Blake (1906-1985) und der episkopalistische Bischof James Pike (1913-1969) Episkopalisten, Presbyterianer, Methodisten und die United Church of Christ zu gemeinsamen Gesprächen über die Bildung einer „Reformed and Catholic Church in the U.S.A." einluden, schien es, als könnten solche Hoffnungen Gestalt annehmen. Die anschließenden Beratungen über eine Union, die später als Church of Christ Uniting bezeichnet wurde, führten jedoch nicht zu dem erhofften Ergebnis und werden wahrscheinlich auch in naher Zukunft nicht dazu führen. Sie haben jedoch eine zunehmende Öffnung für eine Abendmahlsgemeinschaft und die gegenseitige Anerkennung von Amtshandlungen in einer wachsenden Zahl von Denominationen des protestantischen Hauptstroms gefördert.

4.3.

Katholizismus

Zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (—•Vatikanum I und II) und seiner Aufbruchstimmung erhielt der amerikanische Katholizismus von vielen Protestanten bereitwilliger die ihm seit der Mitte der 1920er Jahre eher widerwillig erwiesene Anerkennung

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seiner neuen Stellung im amerikanischen Leben. Die Beschränkung der Einwanderung befreite seine Kräfte allmählich von der fordernden Aufgabe der Integration immer neuer Wellen normalerweise armer Zuwanderer. Zur gleichen Zeit erarbeiteten sich Katholiken zunehmend einen Weg in den Mittelstand — und darüber hinaus - , und mit dem umfangreichen Ausbau des amerikanischen höheren Bildungswesens nach dem Zeiten Weltkrieg begannen sie in größerer Zahl auch nicht-katholische Colleges und Universitäten zu besuchen. Ohne Zweifel aber blieb der Katholizismus in Amerika zumeist noch auf die Welt seiner eigenen Institutionen beschränkt und wurde von außen wiederholt als Fremdkörper in einer demokratischen Gesellschaft angefochten. Ein lebendiger Neuthomismus diente als Träger für den älteren amerikanistischen Anspruch, gegenüber einem protestantischen und säkularen Subjektivismus und Relativismus könne nur der Katholizismus eine sichere geistige Grundlage für amerikanische öffentliche Institutionen und die Verfolgung des Gemeinwohls bieten, gerade so wie protestantische und andere dem Pragmatismus verpflichtete Denker die Katholiken zuweilen als antidemokratisch, im Mittelalter verhaftet und autoritär angriffen. Katholiken beklagten, daß die Vereinigten Staaten es unterließen, dem mexikanischen Katholizismus während der 1920er Jahre gegenüber einem schroff kirchenfeindlichen Regime beizustehen, und hatten in den 1930er Jahren ihrerseits wieder scharfe Kritik von Liberalen und Linksstehenden für ihre Unterstützung des Francoregimes in Spanien hinzunehmen. Katholischer Widerstand gegen die zunehmende Praxis der Geburtenkontrolle hielt einige der um die Rolle der Geschlechter kreisenden Auseinandersetzungen der voraufgehenden Zeit wach, doch eine relative Ruhe auf Seiten der Protestanten und feministischer Bewegungen ließen diese Fragen weit weniger brisant werden als früher. Zur gleichen Zeit traf sich die während der Zeit der Weltwirtschaftskrise weit verbreitete Kritik am liberalen Kapitalismus teilweise mit Aussagen der katholischen Soziallehre, die bereits in Rerum Novarum angesprochen und von —»Pius XI. 1931 in Quadragesimo Anno erneut aufgenommen worden sind, und die Entfaltung des eklektischen New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt (1882-1945) kam in mancher Hinsicht korporatistischen und wohlfahrtsstaatlichen Vorstellungen entgegen, wie sie seit dem Ende des Ersten Weltkriegs von dem katholischen Gesellschaftstheoretiker John A. Ryan (1869-1945) und der National Catholic Weifare Conference vertreten wurden. Katholiken stellten auch zwei Drittel der Mitglieder der Gewerkschaften, die sich während der Zeit des New Deal eine neue Stellung im amerikanischen Leben sicherten. Zugleich gewannen sie infolge ihrer engen Beziehungen zu der jetzt regierenden demokratischen Partei größere Einflußmöglichkeiten und einen höheren Anteil an der Besetzung wichtiger Stellen als unter jeder früheren Regierung. Mit Dorothy Day (1897-1980) und dem Catholic Worker Movement brachte der amerikanische Katholizismus eine in seiner bisherigen Geschichte beispiellose kraftvolle, nicht gewalttätige radikale Bewegung hervor, und mit einer wachsenden Zahl schwarzer Mitglieder wurde er auch im Kampf gegen Rassendiskriminierung aktiver. Das Wirken von Charles E. Coughlin (1891-1979), einem Rundfunkgeistlichen, dessen Eintreten für die Sozialenzykliken in einen populistischen Antisemitismus einmündete, und von Senator Joseph McCarthy (1908—1957), dem höchst umstrittenen aggressiven politischen Kommunistengegner der 1950er Jahre, gab auf ganz andere Art den zunehmend weiterreichenden Einfluß des Katholizismus im öffentlichen Leben Amerikas zu erkennen. Schließlich durchbrachen die Wahl des römischen Katholiken John F. Kennedy (1917—1963) zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 1960, seine in diesem Amt gewonnene große Popularität und sein tragischer Tod eine starke symbolische Schranke und bestätigten auf neue Weise die anerkannte Stellung des Katholizismus in Amerika. Von ausschlaggebender Bedeutung war das Zusammenfallen der Präsidentschaft Kennedys mit dem Zusammentreten des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die von dem amerikanischen Jesuiten John Courtney Murray (1904-1967) entworfene und von den meisten amerikanischen Kardinälen befürwortete Konzilserklärung über die Religionsfreiheit (1965) erfüllte den Traum der Amerikanisten

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und beendete die lange Verlegenheit, daß die Römisch-katholische Kirche die Trennung von Kirche und Staat in den Vereinigten Staaten zwar als praktische Realität, aber nicht als normative Praxis gelten ließ. 4.4.

Judentum

Das amerikanische Judentum durchlief während dieser Jahrzehnte eine Phase innerer Konsolidierung und einer fortschreitenden Sicherung seiner Stellung im amerikanischen Leben. Der zunächst scharfe Widerstreit zwischen Reform- und orthodoxen Juden hatte einen weiteren Hintergrund in einem Gegensatz zwischen deutschen, eher liberalen und assimilationsbereiten, großenteils mittelständischen Juden, die während des früheren 19. J h . einwanderten, und osteuropäischen, eher radikalen und zionistischen und in stärkerem M a ß der Abeiterschicht angehörigen jüdischen Einwanderern des späten 19. und frühen 20. J h . Er wurde jetzt sowohl durch eine aufstiegsorientierte soziale Mobilität der jüdischen Bevölkerung insgesamt als auch durch die wachsende Stärke einer konservativen Bewegung gemildert, die, wie der romantische Traditionalismus des 19. Jh. oder die zeitgenössische Neuorthodoxie im Protestantismus, zugleich traditionsgebunden und fortschrittlich sein wollte. Der Holocaust und die Gründung des Staates Israel gewannen selbst den zurückhaltendsten Reformflügel für eine zionistische Position, die jetzt zu einem zentralen Bezugspunkt für die Vertiefung des Zusammengehörigkeitsbewußtseins der amerikanischen Juden wurde. Der Anstieg des -»Antisemitismus in den 1930er Jahren, der von so unterschiedlichen Seiten wie Henry Ford ( 1 8 6 3 - 1 9 4 7 ) und dem katholischen Priester Coughlin gefördert wurde, war Anzeichen eines bestehenden Widerstandes gegen eine Anerkennung von Juden als vollen Partnern beim amerikanischen Experiment; doch engere, zum Teil durch die „Goodwill-Bewegung" vermittelte Beziehungen zum protestantischen Establishment ließen eine Tendenz erkennen, das Judentum als anerkanntes Element in den Pluralismus des amerikanischen religiösen Lebens einzubeziehen. Da die Juden in ihrem Wahlverhalten weithin von einer älteren Bindung an die Republikaner zu einer unverhältnismäßig starken Unterstützung der Demokraten übergegangen waren, hatten auch sie Teil an der regierenden Koalition des N e w Deal. Das aktive Eintreten der Regierung Harry S. Trumans ( 1 8 8 4 - 1 9 7 2 ) für die Bildung des Staates Israel festigte diese Bindung weiter. 4.5. Orthodoxes

Christentum

ö s t l i c h e orthodoxe Christen waren nicht in die den amerikanischen religiösen Pluralismus umschreibende Kurzformel „Protestant - Katholik - J u d e " einbezogen und blieben während dieses Zeitraums fast unsichtbar. Doch auch für sie war es eine Zeit der Konsolidierung. Ungeachtet älterer Ansätze, vor allem infolge der russisch-orthodoxen Mission in Alaska im frühen 19. J h . und der anschließenden Errichtung eines Bistums für die Westküste mit Sitz in San Francisco, geht die Präsenz der östlichen Orthodoxie in den Vereinigen Staaten in erster Linie auf dieselbe osteuropäische Einwanderung insbesondere der Zeit zwischen 1900 und 1914 zurück, die auch das Erscheinungsbild des Judentums verändert hat. Anfänglich übte die russische Kirche eine generelle Jurisdiktion über alle Orthodoxen in den Vereinigten Staaten aus; doch die Revolution von 1917 teilte die russische Orthodoxie in Amerika in konkurrierende Zweige, und wie andere Einwandergruppen begründeten auch die Orthodoxen in Amerika Ableger ihrer jeweiligen Heimatkirchen. Dazu zählten die albanische, bulgarische, griechische, rumänische, serbische und ukrainische Kirche. In einigen Fällen kam es unter ihnen zu weiteren Spaltungen über innere politische Gegensätze oder verwickelte Jurisdiktionsbeziehungen zu anderen Gemeinschaften. Das Ergebnis war, insbesondere vor 1930, eine beträchtliche Instabilität. Als größte der orthodoxen Gemeinschaften bildeten die Griechen einen wichtigen Ansatzpunkt für eine Konsolidierung. Das 1930 gegründete griechische Erzbistum für Nord- und Südamerika ist immer noch die größte orthodoxe Gemeinschaft. Die zweitgrößte, die Orthodox Church of America, wurde erst 1970 als autokephale Kirche

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anerkannt, doch infolge ihres Widerstandes gegen die Autorität Moskaus war sie lange die autonomste der wesentlichen orthodoxen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten. Das St. Vladimir's Seminary in New York und Denker wie George Florovsky (1893-1979), John Meyendorff (1926-1992) und Alexander Schmemann (1921-1983) haben der Orthodoxie eine spätestens seit den 1960er Jahren spürbare geistige Präsenz innerhalb des amerikanischen Christentums verschafft. Zugleich erhielten die orthodoxen Kirchen beträchtlichen Zugang von unierten Katholiken, denen die leitenden amerikanischen katholischen Geistlichen häufig ihre eigenen Riten verweigerten. Insbesondere verließen verheiratete Geistliche, deren Status in ihrer Heimat von Rom anerkannt war, die Römisch-katholische Kirche. Ein weiteres Zeichen der Konsolidierung war die 1960 erfolgte Einrichtung eines von einer großen Zahl von Kirchen getragenen Konsultativorgans, der Standing Conference of Canonical Orthodox Bishops in the United States. Seit 1961 sind die griechische, rumänische, russische, serbische, syrische und ukrainische orthodoxe Kirche sowie die armenische und die polnisch-katholische Kirche aktive Mitglieder des National Council of Churcbes und bringen darin ihre Sichtweise ein. 4.6.

Christliche

Minderheiten

außereuropäischen

Ursprungs

Die dreigliedrige Kurzformel Protestant - Katholik - J u d e für einen normativen Pluralismus der amerikanischen Religion w a r tatsächlich eine, wenn auch unvollständige Anerkennung der religiösen Vielfalt allein unter den Amerikanern europäischer H e r kunft. Ein Teil der neuerlich in Amerika heranwachsenden o r t h o d o x e n Glaubensgemeinschaften wie etwa die syrisch-libanesische Antiochenische Kirche w a r jedoch nicht europäischen Ursprungs, und ebensowenig waren es die unierten Katholiken des östlichen Ritus aus dem Mittleren Osten, insbesondere die libanesischen - » M a r o n i t e n und syrischen Melkiten ( - » O r t h o d o x e Kirchen 4 . 4 . 1 . u. 4 . 5 . 3 . ) . Festzuhalten ist, daß die erste Einwanderungswelle aus dem Mittleren Osten in die Vereinigten Staaten während des späten 19. und frühen 20. Jh. vorwiegend christlich und nicht muslimisch war. Zu dieser Zeit kamen auch Angehörige östlicher christlicher Kirchen ins Land, die nicht in Kirchengemeinschaft mit dem Patriarchen in Konstantinopel standen. Von ihnen wuchs die armenische Kirche (-»Orthodoxe Kirchen 4.2.5.), die bereits 1898 ein Bistum in den Vereinigten Staaten errichtete, während dieses Zeitraums zur größten monophysitischen Gemeinschaft in Amerika heran. Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg gab es in den Vereinigten Staaten eine kleine Gemeinschaft von Angehörigen der Kirche des Osten oder Assyrischen (nestorianischen) Kirche, und während des Zweiten Weltkrieges verlegte ihr exiliertes Oberhaupt seinen Sitz dorthin. Christen fanden sich während dieses Zeitraums auch unter ostasiatischen Einwanderern. Zu den Japanern, die von den 1880er Jahren bis 1925 nach Amerika kamen, zählte eine beträchtliche Anzahl von Christen, und weitere japanische Einwanderer wurden in den Vereinigten Staaten für das Christentum gewonnen. Wie andere japanische Amerikaner wurden auch japanisch-amerikanische Christen während des Zweiten Weltkrieges interniert. Einwanderer aus der Karibik trugen, wenn auch bei weitem noch nicht in so großer Zahl wie nach 1965, auf höchst unterschiedliche Weise zum Erscheinungsbild das afroamerikanischen Christentums bei. Ein Einwanderer von den Bahamas, Berlin Martin Nottage (1889-1966), war größtenteils für die Entstehung einer kleinen afroamerikanischen Gemeinschaft unter den Plymouth Brethren verantwortlich. George Alexander McGuire (1866-1934) aus Antigua, ein ehemaliger Pastor der Brüdergemeine und späterer episkopalistischer Priester, baute in den 1920er Jahren die African Orthodox Church auf, wozu er sich die Bischofsweihe von der westsyrischen Kirche von Antiochien erteilen ließ. Vor allem an der Ostküste angesiedelte, zumeist, aber nicht ausschließlich römisch-katholische Puertoricaner und Kubaner schlössen sich mit mexikanischen Amerikanern im Südwesten zu einer recht großen spanisch sprechenden Gemeinschaft zusammen, die allerdings während dieses Zeitraums verhältnismäßig unauffällig blieb. Alles das sollte sich nach 1965 ändern, als eine erneute Einwanderung das amerikanische Christentum und die amerikanische Religion überhaupt von ihren vorwiegend europäischen Wurzeln abrücken ließ. 4 . 7 . Wandlungen

im afroamerikanischen

Protestantismus

Ausschlaggebend für die Gestaltung des Umfeldes, in dem n a c h 1 9 6 5 ein weniger europäisches A m e r i k a heranwuchs, w a r die veränderte Stellung der Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten. Die Gründe für diese Veränderung w a r e n insbesondere die inneramerikanische A b w a n d e r u n g von Afroamerikanern nach Westen und N o r d e n und die Auflösung des Systems einer strikten Rassentrennung, das E n d e des 19. J h . in den

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Südstaaten aufgerichtet worden war. Diese Entwicklungen trugen zu einer Mitte der 1960er Jahre mit unübersehbarer Unterstützung führender religiöser Kräfte sich vollziehenden Wende in der nationalen Gesetzgebung bei, die größtenteils die bestehenden rechtlichen (wenn auch kaum die sozialen, wirtschaftlichen und politischen) Rassenschranken beseitigte. Dieses Fortschreiten zu einer Rassenintegration, mit der sich eine neue Stufe der nationalen Einheit abzuzeichnen schien, zeigte allerdings auch das Ende einer Periode des Konsenses und der Konsolidierung an und den Beginn einer Zeit, in der eine größer gewordene Vielfalt erneut zu einem zentralen Faktor des amerikanischen religiösen Lebens wurde. Das afroamerikanische protestantische Establishment konnte während dieser Jahre seinen Vorrang innerhalb des schwarzen Amerika in mancher Hinsicht wirkungsvoller behaupten als sein weißes Gegenüber seine Stellung im religiösen Leben der Nation insgesamt halten konnte. Mit der Bildung des National Fraternal Council of Negro Churches 1933 schufen sich die schwarzen Kirchen ein neues Instrument für ihre gemeinsamen Bemühungen. Zweifellos machte die schwarze Binnenwanderung vielfach ältere Rahmenbedingungen hinfällig. Die verschiedenen methodistischen Denominationen (die erfolglos ihre Verhandlungen über einen möglichen Zusammenschluß fortsetzten) fuhren weit weniger gut als die Baptisten, die jetzt zur unbestrittenen zentralen Kraft im afroamerikanischen religiösen Leben wurden. Adam Powell, Jr. (1908-1972), der Pastor der Abyssinian Baptist Church in Harlem und lange Jahre eines der beiden afroamerikanischen Mitglieder des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten war, ist ein Beispiel für den schwarzen baptistischen Einfluß im öffentlichen Leben Amerikas. Ein weiteres Beispiel ist Martin Luther -»King, der als Pastor an der Dexter Avenue Baptist Church in Montgomery, Alabama, und während seiner Zeit als Leiter der Southern Christian Leadership Conference als Assistenzpastor an der Ebenezer Baptist Church in Atlanta wirkte und zum international anerkannten Führer der Bürgerrechtsbewegung wurde. Die lange Tätigkeit des ehemaligen Jazzpianisten und späteren Gospel-Song-Komponisten Thomas A. Dorsey (1899-1993) an der Pilgrim Baptist Church in Chicago zeigt, daß Baptisten wesentlich auch an der Entwicklung der schwarzen geistlichen Musik beteiligt waren, obwohl die stärksten Anstöße auf diesem Gebiet von den Heiligungs- und Pfingstkirchen ausgingen, die im Fortgang des Jahrhunderts immer wichtiger wurden. Herausgefordert wurden die älteren Kirchen des schwarzen protestantischen Establishments einerseits auch von neuen religiösen Bewegungen wie der Feace Mission von Father Divine, (George Baker, 1879—1965), einem ganzheitlichen Lehrer, der von seinen Anhängern als eine Inkarnation Gottes angesehen wurde, und andererseits durch ein wachsendes schwarzes Interesse am Katholizismus und in weit geringerem Maß auch an der Orthodoxie. Die 1920 erfolgte, von der Societas Verbi Divini betriebene Gründung eines (bald in Bay Saint Louis, Mississippi angesiedelten) Seminars zur Ausbildung schwarzer Priester bezeichnete einen neuen Schritt in dem lang hinausgezögerten Prozeß der Heranbildung einer afroamerikanischen katholischen Priesterschaft, während die Abwanderung von Schwarzen in den städtischen Norden und Westen und ihre damit verbundenen Eingliederung in ein neues politisches Umfeld ihren geographischen und sozialen Abstand von den Kraftzentren katholischen Lebens verringerte. Aus der Garvey-Bewegung entstand die African Orthodox Church, während die in Jamaika beheimatete Rastafarian-Bewegung den äthiopischen Kaiser Haile Selassi (1892-1975) als göttlich betrachtete. Nichtchristliche Traditionen begannen auch auf manche Afroamerikaner anziehend zu wirken. Die 1896 von William Saunders Crowdy (1847-1908) gegründete Church of God and Saints of Christ sah in den Schwarzen Nachfahren der verlorenen Stämme Israels und vermengte jüdische Bräuche mit Lehren der Heiligungs-Bewegung. Die von Wentworth A. Matthew (1892-1973) in den 1920er Jahre ins Leben gerufene Commandment Keepers Congregation of the Living God sah in den Afroamerikanern äthiopische Hebräer, die zu ihrer alten Zugehörigkeit zum Judentum zurückfinden müßten. Der Moorish Science Temple, der 1913 von dem Schwarzen Timothy Drew (1886-1929) gegründet wurde, der den Namen Noble Drew Ali annahm, lehrte, die Afroamerikaner seien in Wirklichkeit Marokkaner, und der eigentümliche Heilige Koran der Bewegung war eine eklektische Vermengung von ganzheitlicher Frömmigkeit, Freimaurersymbolik sowie Elementen östlicher Religionen und des Islam. Die in den 1930er Jahren gegründete Nation of Islam, die ihre dauerhafte Gestalt von Elijah Muhammad (1897-1975) erhielt, verband ebenfalls die Behauptung, der Islam sei die wahre Religion der Schwarzen, mit einer eigentümlichen Theologie, die auf einen dämonischen Ursprung der Weißen und eine bevorstehende Rassenapokalypse abhob. Unterdessen begannen während dieser Zeit muslimische Einwanderer und Missionare wie auch Vertreter des —•Baha'ismus Anhänger unter den Schwarzen zu gewinnen.

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Schwarze, die sich solchen Gruppen anschlössen, waren zu dieser Zeit eine kleine Minderheit, sie hatten aber Anteil an einem weiter reichenden Verhaltensmuster einer zunehmenden afroamerikanischen Identifikation mit Farbigen überall auf der Welt. Schwarze Amerikaner beobachteten den Aufstieg Japans, eines mächtigen, nicht von Weißen beherrschten modernen Staates, vielfach mit Beifall. Längst bevor der gewaltlose Widerstand zur festen Strategie der Bürgerrechtsbewegung wurde, bestand auch ein beträchtliches afroamerikanisches Interesse an Mahatma Gandhi (1869-1948). Zu den führenden Afroamerikanern, die ihn während der 1930er Jahre in Indien aufsuchten, gehörten Benjamin Mays (1895-1984), Howard Thurman (1900-1981) und Sue Bailey Thurman (1903—1996). Howard Thurmans eklektischer Mystizismus und seine Tätigkeit als Pastor an der Church of all Peoples in San Francisco, einer rassenübergreifenden und interreligiösen Gemeinde, ist ein weiteres Anzeichen dieser Tendenz zur Globalisierung. Das gilt auch für Benjamin Mays' bemerkenswerte Beteiligung an der internationalen protestantischen Ökumene im C V J M , dem Federal Council und dem Weltkirchenrat. In diesem protestantisch-ökumenischen Umfeld war, zumal durch den Anstoß der Missionsbewegung, die Bekämpfung rassistischer Ungerechtigkeit ein zunehmend gewichtiges Anliegen. Zugleich fanden die Afroamerikaner auch in den Vereinigten Staaten, selbst in den Südstaaten, in wachsendem Umfang Verbündete in ihrem Kampf zur Beseitigung des Vermächtnisses von Sklaverei und Rassentrennung. Die Southern Tenant Farmers Union der 1930er und 1940er Jahre, die von säkularen und kirchlichen Radikalen aus den gesamten Vereinigten Staaten unterstützt, an der Basis aber von schwarzen kirchlichen Kräften geleitet wurde, war in mancher Hinsicht eine Vorwegnahme der späteren Bürgerrechtsbewegung. Im Kalten Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg gab die Besorgnis, Rassendiskriminierung im eigenen Land untergrabe den auswärtigen Kampf gegen den Kommunismus, Reformbestrebungen weiteren Antrieb. Das Wirken von Martin Luther King verkörpert zugleich den Höhepunkt wie die Frustration dieser Tendenzen. Mit Persönlichkeiten wie Mays und Thurman befand sich King in seiner theologischen Ausrichtung eher in Einklang mit dem Immanentismus des älteren Modernismus als mit der Neuorthodoxie, und obwohl seine Taktik der direkten Aktion provokativ war, lag sie doch mehr auf der Linie des Ausgleichs des Social Gospel als auf der des christlichen Realismus Reinhold Niebuhrs. Sein Eintreten für die Gandhische Gewaltlosigkeit insbesondere gegenüber einer wachsenden Kritik von Malcolm X (Malcolm Little, später El-Hajj Malik El-Shabazz; 1925-1965), dem zeitweiligen Sprecher der Nation of Islam, verband taktische Überlegungen mit einem tiefen Bekenntnis zur versöhnenden und gemeinschaftsstiftenden Kraft Gottes. 4.8. Die Krisen der 1960er Jahre

und ihre

Wirkungen

Zwei jeweils 1964 und 1965 vom Kongreß verabschiedete Gesetze kennzeichnen das von der Bürgerrechtsbewegung erreichte Ziel einer Beendigung der gesetzlich sanktionierten öffentlichen Rassentrennung und der faktischen Verweigerung des Wahlrechts für die meisten Schwarzen in den Südstaaten. Die jüngere Forschung hat die Schlüsselrolle des afroamerikanischen Christentums dafür unterschiedlich gewichtet. Es ist hervorgehoben worden, daß die Bewegung entschieden religiös war, ihren institutionellen Rückhalt in den schwarzen Kirchen hatte, von schwarzen Predigern geleitet wurde und ein vor allem an seiner Musik ablesbares schwarzes christliches Ethos verkündete. Andere Stimmen haben auf die nur zögerliche Unterstützung durch viele örtliche schwarze Kirchen und auf den offenen Widerstand gegen King von Seiten mancher leitender Vertreter des schwarzen protestantischen Establishments, vor allem des einflußreichen Joseph H. Jackson (1900—1990) von der National Baptist Convention, U.S.A. hingewiesen. Sie haben behauptet, daß die Speerspitze der Bewegung stets bei säkularen Radikalen lag, die in den schwarzen Kirchen ein wichtiges Rekrutierungspotential fanden, aber letztendlich nicht durch ein christliches Ethos oder die Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit gebunden waren, wie sich am Ausbruch der Black Power-Bewegung zeige, die Elemente

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des älteren schwarzen Nationalismus mit dem von Persönlichkeiten wie Frantz Fanon (1925-1961) zur Sprache gebrachten radikalen Antikolonialismus verband. In der Schwarzen Theologie, die vor allem mit den Schriften von James H. Cone (geb. 1938) verbunden ist, versuchte das afroamerikanische Christentum die Kritik von Seiten der Black Power-Bewegung aufzunehmen und schließlich ein Bündnis mit anderen „Befreiungstheologien" zustande zu bringen, die in Afrika, Lateinamerika und Asien sowie unter afroamerikanischen Frauen entstanden waren, die sich als „womanists" bezeichneten, um sich von den weißen Feministinnen zu unterscheiden. Cone schöpfte stärker aus J.-P. -»Sartre und der kontinentaleuropäischen Neuorthodoxie als aus dem älteren Liberalismus, und seine Theologie hob nicht auf kosmische Harmonie, sondern auf andauernden Konflikt ab. Die Kirchen des protestantischen Establishments, die beispiellose Schritte zur Unterstützung Kings und der Bürgerrechtsbewegung unternommen hatten, waren geschockt vom Ausbruch der Black Power-Bewegung in ihrem eigenen Lager, der nicht nur in der Schwarzen Theologie zutage trat, sondern auch in der Bildung separatistischer schwarzer Gruppierungen in vielen Denominationen und vor allem in der Black Manifesto-Bewegung der späten 1960er Jahre, die von den Kirchen eine Leistung erheblicher Reparationen für den Rassismus der Vergangenheit forderten. Diese kritische Zuspitzung des Gegenübers von Schwarzen und Weißen in den Vereinigten Staaten innerhalb und außerhalb der Kirchen fiel mit einer Krise der Ausformulierung der nationalen Ziele Amerikas und der Definition amerikanischer Vielfalt zusammen und verstärkte sie erheblich. In den frühen 1960er Jahren hat der Soziologe Robert N. Bellah (geb. 1927) das Denkmodell einer amerikanischen Civil Religion vorgestellt. Er wollte damit nicht nur einen unabhängigen Bereich öffentlicher Religion in deutlicher Unterscheidung von den Kirchen beschreiben, sondern auch für das eigene Recht einer nicht von der christlichen Tradition vorgegebenen religiösen Besinnung auf die Bestimmung Amerikas eintreten. In der Folgezeit versuchte er deutlich zu machen, daß eine solche Besinnung zutiefst kritisch sein könne. Es gab jedoch im geistigen Klima der 1960er Jahre einen verbreiteten Widerspruch gegen jede religiös begründete Vergewisserung einer besonderen Sendung Amerikas. Vor allem auf dem radikalsten Flügel der wachsenden Opposition gegen den Vietnamkrieg wurde der Weltmachtanspruch der Vereinigten Staaten zunehmend als Hauptbollwerk einer rassischen und sozialen Unterdrückung angegriffen, die von der amerikanischen Religion allzu sehr legitimiert worden sei. Diese Kritik wurde zunehmend auch innerhalb der Kirchen laut, in denen auf dem Boden des protestantischen Hauptstroms der Realismus Niebuhrs in wachsendem Umfang sowohl von einem linksgerichteten Pazifismus als auch von einer Erneuerung der Theorie des gerechten Krieges in Frage gestellt wurde. Zugleich traten im amerikanischen Katholizismus die Brüder Daniel (geb. 1921) und Phillip Berrigan (geb. 1924) als aktive Kriegsgegner auf, deren illegale Protestaktionen zu ihrer Verurteilung und Inhaftierung führten. Eine wachsende Ökologiebewegung griff sowohl die industrielle Zivilisation als auch die religiösen Traditionen des Westens an, denen sie ihre Begünstigung anlastete. Eine im Verlauf den 20. Jh. in literarischen und liberalen religiösen Kreisen langsam herangewachsene Begeisterung für den Zen-Buddhismus entfaltete sich jetzt inner- und außerhalb der Kirchen zu einem weitergreifenden Interesse an asiatischer Religiosität. Der Trappist Thomas Merton (1915-1968), dessen Schriften die Wendung der Nachkriegszeit zur Tradition verkörpert hatten, trat jetzt als Wortführer eines breiter werdenden Dialogs mit dem Osten auf, der zum Bild eines neuen, für Frieden, Rassengerechtigkeit und die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils eintretenden Katholizismus gehörte. In der akademischen Theologie vollzog sich unterdessen eine scharfe Abkehr von der Neuorthodoxie zu einer Wiederbelebung modernistischer Anstöße, die schnell über die optimistische Säkularisationstheologie des frühen Harvey Cox (geb. 1929) fortschritt zu einer stärker verunsichernden Kritik der westlichen religiösen Tradition überhaupt. Die gesamtkul-

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turelle Weiterwirkung dieser Entwicklung wurde deutlich, als die viel gelesene Zeitschrift Time im April 1966 auf ihrem Titelblatt die ganz unterschiedlichen jüdischen und protestantischen Theologen Thomas Altizer (geb. 1927), William Hamilton (geb. 1924), Paul Van Buren (1924-1998) und Richard Rubenstein (geb. 1924) unter der Frage: „Ist Gott tot?" als Exponenten einer aktuellen Strömung zusammenordnete. Neben gemäßigterer Kritik erhoben sich solche radikalen Fragen jetzt auch aus der neu erstarkenden feministischen Bewegung, die sich über die gesamte Breite des amerikanischen religiösen Lebens hinweg immer kräftiger zu Wort meldete. Die Art, in der feministisches Denken innerhalb der Kirchen einsetzen und dann sich völlig aus ihrem Raum hinaus bewegen konnte, wird am Weg der ehemaligen katholischen Laientheologin Mary Daly (geb. 1928) deutlich. Die steigende Selbstvergewisserung einer oppositionellen Identität bei schwarzen Amerikanern trug zu einer entsprechenden Abkehr von Assimilationstendenzen unter amerikanischen Juden bei. Diese sahen andererseits ihr früheres politisches Zusammengehen mit Afroamerikanern durch eine Bevorzugungspolitik, radikale schwarze Kritik an Israel und einen wachsenden Einfluß des Islam belastet. Eine 1965 erfolgte, in ihrer Tragweite allerdings zunächst noch nicht durchschaute Änderung des amerikanischen Einwanderungsrechts, die das Quotensystem von 1924 beseitigte, setzte in aller Stille einen tiefgreifenden Wandel der rassischen, ethnischen und religiösen Zusammensetzung der Bevölkerung in Gang. Zugleich mit diesen Entwicklungen erfuhren die Kerndenominationen des älteren Protestantismus, die seit der Entstehung der Nation so einflußreichen, wenn auch nicht unverändert bleibenden Träger der reformierten Tradition, eine bislang beispiellose Krise und einen noch nicht erlebten Rückgang. Sie waren so immer weniger in der Lage, die Mitte des amerikanischen religiösen Lebens zu bestimmen oder dem amerikanischen Protestantismus insgesamt ihre Prägung zu geben. Ihre Mitgliederzahl nahm absolut und im Vergleich zu anderen protestantischen Gruppen ab. 1985 zählten Kirchen wie die Episcopal Church, die United Church of Christ und die United Methodist Church 15 bis 20 Prozent weniger Mitglieder als 1965. Diese Verluste sind in der Folgezeit nicht ausgeglichen worden. Derweil wuchsen die konservativ evangelikalen und mehr noch die Heiligungs- und Pfingstkirchen ständig und zuweilen sensationell weiter. 1965 war die Southern Baptist Convention mit knapp elf Millionen Mitgliedern geringfügig kleiner als die Methodisten; doch zwei Jahrzehnte später zählte sie mit 14,5 Millionen 50 % mehr Mitglieder als die schrumpfende United Methodist Church und war unbestritten die größte protestantische Denomination in den Vereinigen Staaten. Die Assemblies ofGod meldeten für den gleichen Zeitraum fast eine Vervierfachung ihrer Mitgliederzahl und übertrafen so mit nahezu zwei Millionen Mitgliedern kleinere Kirchen des Hauptstroms wie die Disciples of Christ und die United Church of Christ. Eine rapide Zunahme hielt auch bei Gruppen wie den Siebenten-Tags-Adventisten und den Mormonen an; die letzten beanspruchten Mitte der 1980er Jahre eine Mitgliederstärke von 3,5 Millionen. Diese sehr rasch wachsenden Gemeinschaften haben den Protestantismus des Hauptstroms nicht nur zahlenmäßig überflügelt, sie stellen vielmehr auch das politische Potential für einen alternativen Versuch der Gestaltung des amerikanischen öffentlichen Lebens. Die Kirchen des alten protestantischen Establishments haben sich weithin Bestrebungen zu eigen gemacht, die in den 1960er Jahren aufgekommen sind, wenn auch in unterschiedlichem Maß und bei kirchlichen Amtsträgern und Geistlichen mit größerer Begeisterung als unter den Laien und in einigen Fällen auch gegen ernsthafte und andauernde innere Widerstände. Eine vernehmbare Infragestellung eines amerikanischen Militäreinsatzes in Übersee dauerte ebenso an wie das Eintreten für eine stärkere kirchliche und gesellschaftliche Integration von Schwarzen und anderen Minderheiten. Die theologische Ausbildung ist im allgemeinen von einem bedeutenden Einfluß der feministischen Theologie und Frauen im Lehramt gekennzeichnet, und Frauen stellen einen beständig wachsenden Anteil der ordinierten Geistlichkeit. Gewandelte Einstellungen

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zu Sexualität und Geschlecht haben zu vermehrter Akzeptanz von Homosexualität geführt; doch war die Ordination von Homosexuellen, insbesondere bei den Presbyterianern, heftig umstritten. Eine tolerante Offenheit für nichtchristliche Formen religiöser Überzeugung und Sitte und ein dementsprechendes Desinteresse an der Aufrechterhaltung einer überkommenen, auf Bekehrung gerichteten Missionspraxis sind Bestandteile eines zunehmend eklektischen Ethos. Konservative Evangelikaie, Pfingstler und andere Protestanten außerhalb des alten Hauptstroms haben in diesen Fragen, wenn auch mit manchen Ausnahmen und Abwandlungen, im allgemeinen entgegengesetzt Stellung bezogen und sehen im Vermächtnis der 1960er Jahre eine tiefgreifende Bedrohung der religiösen und sozialen Wohlfahrt Amerikas. Sie stellten jetzt die Hauptträger der äußeren Mission, und manche von ihnen haben in Amerika selbst einen ausgedehnten Feldzug gegen eine Entwicklung in Gang gesetzt, die ihnen als Einbruch eines „säkularen Humanismus" erscheint, der besonders deutlich in den öffentlichen Schulen zutage tritt, seit 1962 eine Entscheidung des obersten Gerichtshofes das Schulgebet untersagt und damit die Aushöhlung der faktisch bestimmenden Rolle des Protestantismus in öffentlichen Schulwesen in die Wege geleitet hat. In den letzten Jahrzehnten haben sie auch vorübergehend erfolgreiche Vorstöße für die Berücksichtigung einer „Schöpfungswissenschaft" neben der Evolutionslehre im Schulunterricht unterstützt. Obwohl sie vom Feminismus schwerlich unberührt geblieben sind und es ihnen auch nicht an Frauen in führenden Ämtern fehlte, hatten sie doch entscheidende Bedeutung für das Scheitern des Zusatzgesetzes zur Verfassung, das die Gleichberechtigung der Geschlechter festschreiben sollte, und sie haben sich heftig gegen die Praxis der Abtreibung gestellt und sich um eine Aufhebung der sie legalisierenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 1973 bemüht. Sie neigten zu stärkerer Unterstützung eines amerikanischen Machteinsatzes im Ausland sowie eines marktwirtschaftlichen Kapitalismus in eigenen Land. Obwohl zu ihren Reihen die Teile des amerikanischen Protestantismus zählen, die in der Vergangenheit besonders aktiv für die Rassentrennung eingetreten sind, haben sie sich auf unterschiedliche Weise theoretisch wie praktisch dem Grundsatz der Integration genähert. Die 1978 erfolgte Aufhebung des Ausschlusses von Schwarzen von dem sonst allen jungen Männern offenstehenden Priesteramt bei den Mormonen ist nur ein Beispiel für eine viel umfassendere Entwicklung. Die Entschlossenheit konservativer Protestanten, ihren institutionellen Rückhalt fest im Griff zu halten, zeigt sich besonders augenfällig in der Southern Baptist Convention, in der fundamentalistische und konservative Evangelikaie während des letzten Viertels des 20. Jh. ihren Einfluß gefestigt und die meisten Liberalen aus allen Machtstellungen entfernt haben. Die Fähigkeit konservativerer Protestanten, ihre Programme in den letzten Jahrzehnten landesweit zur Geltung zu bringen, wurde entscheidend von politischen Umorientierungen mitbestimmt, die aus den Ereignissen der 1960er Jahre erwuchsen. Die Protestanten des Nordens waren von jeher vornehmlich mit der Republikanischen Partei verbunden, und diese Verbundenheit hält, wenn auch abgeschwächt, selbst bei den älteren Denominationen des Hauptstroms an. Die Beendigung der Rassentrennung im Süden führte der Demokratischen Partei wahlberechtigt gewordene schwarze Neuwähler zu, während gleichzeitig viele Weiße, insbesondere evangelikale Protestanten, zur Republikanischen Partei wechselten. Die Präsidentschaftskandidatur des zwar liberalen, aber „wiedergeborenen" südlichen Baptisten Jimmy Carter (geb. 1924) ermöglichte den Demokraten im Jahr 1976, das in den Medien als „Jahr des Evangelikaien" gefeiert wurde, einige dieser Abgesprungenen zurückzugewinnen, doch das war eine vorübergehende Erscheinung. Erstmals seit der Zeit vor dem Bürgerkrieg wendeten im Norden wie im Süden evangelikale Protestanten ihre Sympathien mit überwältigender Mehrheit gleichermaßen der Republikanischen Partei zu und wurden in ihr bald zu einer starken Kraft. Die von Jerry Falwell (geb. 1933), einem Prediger der Baptist Bibel Fellowship, geleitete kleine fundamentalistische Splittergruppe Moral Majority trat im Wahlkampf

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von 1980, aus dem Ronald Reagan (geb. 1911) als Präsident hervorging, deutlich in Erscheinung, obwohl sie organisatorisch tatsächlich weniger stark war als erwartet. An der Basis viel stärker war die Christian Coalition, die 1989 von Marion (Pat) Robertson (geb. 1930) gegründet wurde, einem baptistischen Pastor, Teilnehmer an Fernsehtalkshows und Charismatiker, der sich 1988 erfolglos um eine Nominierung als republikanischer Präsidentschaftskandidat bemüht hatte. Besonders bemerkenswert ist hier die steigende Mobilisierung der Pfingstler, die zu einem zunehmend bedeutenderen Teil der sog. Christlichen Rechten wurden. Doch auch die gemeinsame Parteienorientierung und eine wachsende Mobilisierung der Basis haben es den Evangelikaien nicht ermöglicht, ihren Traum eines moralisch erneuerten Amerika ohne Verbündete mit anderem Traditionshintergrund weiterzuverfolgen. Unter Abkehr von ihrem historischen Antikatholizismus haben sie sich in Fragen wie der Abtreibung um ein Bündnis mit konservativen Katholiken bemüht, eine Zusammenarbeit, die durch das Aufkommen einer bedeutenden charismatischen Bewegung im amerikanischen Katholizismus erleichtert wurde. Mit ihrem intensiven, zuweilen auch apokalyptischen Eintreten für Israel haben sie Verbindungen zu politisch konservativen Juden geknüpft. Dennoch hatten die konservativen Protestanten bei so zentralen Zielen wie der Eindämmung der Abtreibung und der Verteidigung der Stellung religiösen Gedankenguts und religiöser Praxis in öffentlichen Schulen nur einen begrenzten Erfolg. 4.9. Wandlungen

des religiösen

Klimas

seit den 1960er

Jahren

Ein gespaltener amerikanischer Protestantismus ist nicht mehr geneigt, seine Einheit aus einem gemeinsamen Gegensatz zum römischen Katholizismus zu gewinnen oder von dieser Grundlage aus die öffentliche Ordnung zu gestalten, und ein zerfallendes protestantisches Establishment ist nicht mehr in der Lage, Katholiken als nur nachgeordnete Partner in einem dreigliedrigen Establishment von Protestanten, Katholiken und Juden zu behandeln. Der Katholizismus ist jetzt auf neue Weise in die Mitte des amerikanischen Lebens eingerückt und hat eine bislang beispiellose, wenn auch nicht ungefährdete Rolle im öffentlichen Raum übernommen. Auf vielfache Weise beschließt er in sich selbst alle Konflikte und Schwierigkeiten, die sich im Protestantismus auf getrennte Gemeinschaften verteilen. Der amerikanische Katholizismus war zwar in der Vergangenheit sicher nicht so monolithisch geschlossen, wie Außenstehende zuweilen angenommen haben; doch in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde er, während die Achtung vor kirchlicher Autorität und der h e r k ö m m liche Patriotismus abnahmen, auf neue Art zu einem Schauplatz öffentlicher Diskussion. Die amerikanischen Katholiken reagierten mit heftiger Kritik und massiver Nichtbeachtung auf die Enzyklika Humanae Vitae - » P a u l s VI. von 1968, die das schon lange bestehende Verbot der meisten Methoden der Geburtenregelung erneut bestätigte. John F. Kennedy hatte sich 1960 unter anderem als dekorierter Kriegsteilnehmer für die Präsidentschaft beworben; sein Bruder Robert ( 1 9 2 5 - 1 9 6 8 ) aber bemühte sich wie auch ein weiterer Katholik, Eugene M c C a r t h y (geb. 1916), 1968 aus einer Opposition zum Vietnamkrieg heraus um eine Präsidentschaftskandidatur. Die katholische amerikanische Wählerschaft tendierte im Verlauf der letzten Jahrzehnte des 2 0 . J h . zunehmend zu einem gespaltenen Wahlverhalten, das sich im großen und ganzen zu gleichen Teilen den großen Parteien zuwandte, und schon kleine Verschiebungen konnten dabei große Folgen für die Wahl haben. W ä h r e n d die evangelikalen Protestanten konservative Katholiken für ihre neue „moralische M e h r heit" zu gewinnen suchten und die liberalen bei ihrem Widerstand gegen die Unterstützung der antisandinistischen Kräfte in N i c a r a g u a durch die Vereinigten Staaten in großem M a ß auf die lateinamerikanische Befreiungstheologie zurückgriffen, waren die Katholiken in den politischen Auseinandersetzungen und „ K u l t u r k ä m p f e n " der 1980er J a h r e und auch danach noch sichtlich auf beiden Seiten präsent. Zugleich suchten die amerikanischen katholischen Bischöfe häufig eine Mittelstellung einzunehmen. Sie zeigten sich eher konservativ bei den T h e m e n der Fortpflanzung, Sexualität und des Verhältnisses der Geschlechter und eher liberal in Fragen einer gerechten Wirtschaftsordnung und internationaler Beziehungen. Als die katholische Bischofskonferenz in den Vereinigten Staaten 1983 ihren sorgfältig abgewogenen und vieldiskutierten Hirtenbrief The Challenge of Peace über Atomwaffen herausbrachte, schienen die katholischen Bischöfe mit der wohlüberlegten Ausformulierung eines gemeinsamen ethischen M a ß s t a b s die Rolle des alten

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protestantischen Establishments übernommen zu haben; als jedoch der Erzbischof von New York, J o h n O ' C o n n o r ( 1 9 2 0 - 2 0 0 0 ) , 1984 die katholische demokratische Kandidatin für die Vizepräsidentschaft Geraldine F e r r a r o rügte, weil sie die kirchliche Haltung zur Abtreibung nicht aktiv unterstützte, weckte er alte Befürchtungen über die Rolle des Katholizismus in der amerikanischen Politik. O b w o h l das Bestehen einer lebhaften feministischen Bewegung innerhalb des römischen Katholizismus sein Erscheinungsbild deutlich verändert hat, gibt die Haltung der Kirche zur Abtreibung und ihre Weigerung, Frauen die Priesterweihe zu erteilen, immer noch einem um die Frage nach der Stellung der F r a u kreisenden Antikatholizismus Nahrung. Die Schwierigkeit, eine Stellung in der Mitte zu behaupten, zeigte sich deutlich auch bei der 2 0 0 2 über das Problem des sexuellen Mißbrauchs durch Geistliche aufgebrochenen Krise, als die Bischöfe sich in einem Kreuzfeuer zwischen liberaler Kritik an sexuellen Übergriffen und M a c h t m i ß b r a u c h und konservativen Klagen über das V o r k o m m e n von H o m o s e x u a l i t ä t in der Geistlichkeit fanden. Forderungen nach einer stärkeren Beteiligung von Laien bei solchen Fragen, in denen bis auf den „Trusteeismus" des frühen 19. J h . zurückreichende Tendenzen zur Aufwertung der Ortsgemeinden anklangen, stellten Bestrebungen des Vatikan nach einer stärkeren hierarchischen Kontrolle der amerikanischen Kirche in Frage. Die Einwanderung ist zwar dem Katholizismus, der inzwischen mehr als ein Fünftel der Bevölkerung umfaßt, bei der Behauptung seiner zahlenmäßigen Stärke zugute gekommen; doch ein jahrzehntelanger R ü c k g a n g der Zahl der Anwärter für das Priesteramt und des Nachwuchses für die Orden werfen Fragen nach der langfristigen institutionellen Stärke des römischen Katholizismus in den Vereinigten Staaten auf.

Im Wettstreit der religiösen Gruppen um die Gestaltung der öffentlichen Ordnung in Amerika stehen die afroamerikanischen Christen im politischen Spektrum der „Christlichen Rechten" des konservativen weißen Protestantismus diametral gegenüber, auch wenn die gemeinsame Verbundenheit mit Traditionen des früheren amerikanischen Evangelikanismus eine wesentliche Berührungsfläche schafft. Da die Schwarzen ebenso überwiegend der Demokratischen Partei verbunden sind, wie die weißen Evangelikaien und Pfingstler heute den Republikanern nahestehen, und nachdem die schwarze Bevölkerung des Südens nach 1965 das Wahlrecht erhalten hat, wurde viel von der Energie, die die schwarzen Kirchen früher der Bürgerrechtsbewegung gewidmet haben, den politischen Auseinandersetzungen um die Wahlen zugeleitet. Die Bemühungen des früheren Bürgerrechtlers und baptistischen Geistlichen Jesse Jackson (geb. 1941) um die demokratische Präsidentschaftskandidatur 1984 und 1988 sind nur eines der augenfälligsten Beispiele einer umfassenderen Entwicklung. Jacksons erfolgreiche Mobilisierung der schwarzen Wählerschaft ist ein Anzeichen der anhaltenden Stärke des älteren schwarzen protestantischen Establishments. Gleiches gilt für seinen Versuch, auf der Grundlage eines weitgehend linksgerichteten politischen Programms eine umfassende „Regenbogenkoalition" zusammenzubringen in der Absicht, die wachsende amerikanische Vielfalt für eine Zukunftsschau amerikanischen Gemeinwohls in Dienst zu nehmen, die sich mit der von Martin Luther King deckte. Doch die zunehmende Vielfalt hat wie die Stärke des weißen so auch die des schwarzen protestantischen Hauptstrom in einer Weise in Frage gestellt, die es zuweilen schwer machte, religiös begründete Bewegungen innerhalb der schwarzen Gemeinschaft ins Leben zu rufen und über sie hinausgreifende Koalitionen zusammenzubringen. Innerhalb des immer vielfältiger werdenden Bereichs des schwarzen Christentums genießen die Baptisten nicht mehr die deutliche Vorrangstellung, die sie während des 20. Jh. gehabt haben. Vor allem die Heiligungs- und Pfingstkirchen sind sehr schnell gewachsen. Die Leiter schwarzer Kirchen dieses Flügels sind stärker als die der älteren Kirchen bereit, Bündnisse mit Konservativen in Angelegenheiten wie der Frage nach der Inanspruchnahme öffentlicher Mittel in Form von Schulstipendien für den Besuch religiös gebundener privater Schulen einzugehen. Übertritte von Schwarzen zum Katholizismus haben zwar nach der Mitte der 1970er Jahre nachgelassen, doch in der Folgezeit hat die Einwanderung die Zahl der afroamerikanischen Katholiken anwachsen lassen. Außerhalb der Kirchen ist die bedeutsamste Entwicklung im afroamerikanischen religiösen Leben die wachsende und zunehmend vielfältigere Präsenz des Islam. Nach dem Tod von Elijah Muhammad 1975 gab die Nation of Islam unter der Leitung seines

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Sohnes Wallace Deen Muhammad (der sich später Warithuddin Muhammad nannte) die meisten Sonderlehren auf, wandte sich einem stärker orthodoxen sunnitischen Islam zu, nahm schließlich den Namen American Muslim Mission an und löste sich 1987 als eigene Gemeinschaft ganz auf. Diese Entwicklung steht in Einklang mit der herrschenden Tendenz afroamerikanischer Muslime, sich in zunehmendem Maß der wachsenden islamischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten anzuschließen statt Sonderformen des Islam fortzuführen, die früher im 20. Jh. unter nordamerikanischen Schwarzen entstanden waren. Die wichtigste gegenläufige Bewegung war eine Erneuerung der Nation of Islam, die Louis Farrakhan (Louis Eugene Wolcott, geb. 1933) zur Weiterführung der Lehren von Elijah Muhammad in die Wege geleitet hatte, nachdem die alte Nation sie aufgegeben hatte, und selbst sie rückte gegen Ende des Jahrhunderts näher an den islamischen Hauptstrom heran. Farrakhans aktive Unterstützung von Jesse Jackson 1984 trug zur Mobilisierung der Afroamerikaner bei, war aber Jacksons Beziehungen zu den Juden abträglich. Bei der Organisation des Million Man March auf Washington, D.C. 1995 gewann er ebenfalls sowohl beträchtliche Unterstützung von der Basis und zog sich heftige Kritik zu, diese zum Teil aufgrund des starren Traditionalismus der Nation of Islam in Fragen der Sexualität und des Verhältnisses der Geschlechter. Während der 1970er Jahre erklärte Sydney Ahlstrom, die puritanische Epoche, ein vierhundertjähriger Zeitabschnitt anglo-amerikanischer Geschichte, die mit der tridentinischen Ära in der Geschichte des römischen Katholizismus zusammenfiel, sei in den 1960er Jahren zu Ende gegangen. Diese These verdient wie auch Ahlstroms damit zusammenhängende Behauptung, die Geschichte der afroamerikanischen Religion werde paradigmatische Bedeutung für eine neu ansetzende Deutung der andauernden Geschichte des amerikanischen Christentums gewinnen, immer noch Beachtung. Doch was immer in den 1960er Jahren zu Ende gegangen ist, dieses Ende hat weder zu einem Triumph der -»-Säkularisierung noch zu einem Niedergang der Religion in einem allgemeinen Sinn geführt. Die jüngere Forschung hat behauptet, die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften sei durch die amerikanische Geschichte hindurch, auch bis in ausgehende 20. Jh., mehr oder minder stetig fortgeschritten. Zunehmend sind auch die Kontinuitäten zwischen der jüngeren und der älteren Geschichte des Protestantismus in Amerika hervorgehoben worden. Die Behauptung, die Angehörigen des protestantischen Hauptstroms seien in jüngerer Zeit mehr oder minder von einer Neigung zur New Age-Frömmigkeit und einem selbstgemachten Eklektizismus berührt, sind durch einen Verweis auf die durchgängige, vom Transzendentalismus über Persönlichkeiten des frühen 20. Jh. wie Glenn Clark (1882-1956), E. Stanley Jones (1884-1973) und Norman Vincent Peale (1898-1993) verlaufende Line des Harmonismus eingeschränkt worden. Auch die derzeitige hervorstechende Rolle von Frauen in den Denominationen des alten protestantischen Establishments hat deutliche Wurzeln im Evangelikanismus des 19. Jh. Der im späten 20. Jh. einsetzende Rückgang der älteren, „respektableren" Gemeinschaften und das rapide Wachstum neuerer Denominationen ist mit Entwicklungen während der frühen nationalstaatlichen Periode verglichen worden, als Episkopalisten, Kongregationalisten und Presbyterianer erstmals von anderen, insbesondere den Baptisten und Methodisten, in den Schatten gestellt wurden. Die jüngere Geschichte des Katholizismus in den Vereinigten Staaten läßt ebenfalls manches ältere Thema anklingen, und wenn nachkonziliare „Cafeteria-Katholiken" eher liberalen Protestanten als traditionellen Katholiken zu gleichen scheinen, dann muß daran erinnert werden, daß eine lehramtskonforme Normierung der Praxis katholischen Lebens stets eher ein Ziel der Hierarchie als gängige Gewohnheit der Laien gewesen ist. Obwohl die Verwendung explizit christlicher Redeweise im öffentlichen Raum in den letzten Jahrzehnten scharfe Kritik wachgerufen hat, ist sie kaum verschwunden, sondern scheint eher zugenommen zu haben. Für das amerikanische Christentum dürfte sich auf die Dauer die Wendung zu einer zunehmenden Globalisierung als der tiefgreifendste Wandel herausstellen, der sich in den 1960er Jahren ankündigte; eine entscheidende Abkehr von einer Epoche, während

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der das Christentum eng seiner europäischen Herkunft verhaftet geblieben ist. Doch auch hier hat der Neuaufbruch Wurzeln in alten Ansätzen, vor allem in solchen, die sich mit der Geschichte des afroamerikanischen Christentums in den Vereinigen Staaten verbinden. 4.10.

Globalisierung

Die wachsende Beteiligung der amerikanischen Kirchen an der Entstehung eines tatsächlich weltumspannenden Christentums wird an ihrem ständig zunehmenden Einsatz in der internationalen Mission sichtbar. Zwar zeigen die Kirchen des alten protestantischen Hauptstroms mittlerweile nicht mehr die gleiche weltweite Missionspräsenz wie früher, doch ihre Mitglieder sind immer noch in aller Stille als Mitarbeiter vieler staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen in Übersee tätig. Die amerikanischen Katholiken sind durch die Arbeit zahlreicher Orden und durch die 1911 von den amerikanischen katholischen Bischöfen gegründete Maryknoll Catholic Foreign Missionary Society of America laufend mit dem katholischen Leben außerhalb der Vereinigten Staaten verbunden. Am augenfälligsten war im 20. Jh. jedoch die wachsende überseeische Präsenz eben der protestantischen Bewegungen und Kirchen, die in den Vereinigten Staaten am schnellsten wachsen. Billy Graham (geb. 1918), der um die Jahrhundertmitte als bekanntester Evangelist seit dem Tod von Dwight D. Moody (1837-1899) zu wirken begann und fünfzig Jahre lang eine außerordentlich einflußreiche Stellung unter den amerikanischen Evangelisten einnahm, trug seine Erweckungs-„Kreuzzüge" weit über die Grenzen nicht nur der Vereinigten Staaten, sondern des englischsprachigen Evangelikanismus überhaupt hinaus. Auch war er am Zustandekommen einer Reihe von internationalen Konferenzen beteiligt, die der weltweiten Evangelisation neuen Auftrieb geben sollten. Neben solchen konservativ evangelikalen Anstrengungen stand ein wachsender Missionseinsatz von Heiligungs- und Pfingstkirchen sowie von Gruppen wie den Siebenten-Tags-Adventisten, den Zeugen Jehovas und den Mormonen. Galten diese letzten Gruppen in der Vergangenheit häufig als ausgesprochen amerikanische Erscheinungen, so sind sie heute tatsächlich internationale Gemeinschaften. Die Mitgliedsstärke der Mormonen hat sich von 1950 bis 2000 verzehnfacht, und während um die Jahrhundertmitte die überwiegende Mehrheit von ihnen Amerikaner waren, lebten zum Ende des 20. Jh. die meisten außerhalb der Vereinigten Staaten, und viele sprechen nicht Englisch. Im allgemeinen haben sich diese Missionsunternehmen aus voller Uberzeugung das Ziel der Bekehrung zu eigen gemacht, von dem die älteren Missionen des Hauptstroms weithin abgerückt waren, und häufig sind sie ebenso beharrlich dem Thema der sozialen Gerechtigkeit ausgewichen, auf das die älteren Missionen zunehmend stärkeres Gewicht legten. Doch gab es, zuweilen unter dem Druck einheimischer Leiter, auch Ansätze zu einer ausgeglicheneren Zielsetzung. Bemerkenswert ist, daß es auf der Berliner Konferenz von 1968, einem frühen, unter amerikanischer Leitung stehenden Versuch einer Neubelebung der evangelikalen Missionstätigkeit, schwarze Delegierte waren, die die Teilnehmer dazu herausforderten, den sozialreformerischen Geist des frühen Evangelikanismus nicht nur zu beschwören, sondern ihm auch nachzustreben. Innerhalb der Vereinigten Staaten selbst ist Globalisierung in erster Linie als Aspekt der Einwanderung zu erfassen. Seit 1965 ist die legale Einwanderung steil angestiegen und hat den sehr hohen Stand der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg erreicht und gelegentlich sogar überschritten. Gleichzeitig gab es eine sehr bedeutende illegale Einwanderung. 2000 waren mehr als 31 Millionen Menschen aus der Gesamtbevölkerung der Vereinigten Staaten von 281 Millionen, mehr als ein Zehntel, Geburtsausländer. Das bedeutete einen Anstieg von 11,3 Millionen gegenüber 1990. Auch die Herkunft der Einwanderer hat sich dramatisch verändert. 1900 kamen 85 % der grob 10 Millionen in Amerika lebenden Geburtsausländer aus Europa. 1990 stellten die Europäer weniger als ein Viertel der Geburtsausländer in den Vereinigten Staaten. Während der frühen 1990er Jahre kamen auf einen Zuwanderer aus Europa zwei aus Asien (im weitesten

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Sinne) und fast vier aus anderen amerikanischen Ländern. Von diesen stammte der größte Anteil aus Mexiko; doch auch die Karibik war stark vertreten, und ein beträchtlicher Teil stammte aus Mittel- und Südamerika. Die Zahl afrikanischer Einwanderer ist beträchtlich geringer; sie beträgt grob ein Fünftel der europäischen, ist aber beispiellos seit dem Ende des Sklavenhandels. In Kalifornien, wo sich in mancher Hinsicht die größeren politischen und kulturellen Entwicklungen innerhalb der Vereinigten Staaten zuerst deutlich abzeichnen, ist der Zeitpunkt nahe, zu dem der allein von europäischen Vorfahren abstammende Bevölkerungsanteil nicht mehr die Mehrheit stellt. Für das Christentum in Amerika hat diese Einwanderung zwei deutliche Folgen, die zwar zusammenhängen und zuweilen eng ineinander greifen, aber dennoch zu unterscheiden sind. Zuweilen in ihrer Tragweite nicht hinreichend gewürdigt wird die Tatsache, daß diese Einwanderung das Erscheinungsbild des Christentums in den Vereinigten Staaten in einer Weise umgestaltet, die von seiner europäischen Vergangenheit fort- und zu einer globalen Z u k u n f t hinführt, in der sich die Zahl der Christen zunehmend aus Farbigen rekrutiert. Die lateinamerikanische Einwanderung leistet den augenfälligsten Beitrag zu dieser Umgestaltung und betrifft nicht nur den römischen Katholizismus, sondern zunehmend auch den Protestantismus, ganz besonders den konservativen Evangelikanismus und die Pfingstgemeinschaften. Einwanderer aus Kuba, die Santeria, und aus Haiti, die Voodoo in die Vereinigten Staaten gebracht haben, haben damit das Spektrum amerikanischer Religion über das Christentum hinaus um Ausdrucksformen erweitert, die ihren Ursprung in religiösen Traditionen Afrikas haben. Aufgrund einer langen Wechselwirkung mit katholischen Vorstellungen und Bräuchen haben diese Traditionen zugleich auch die Welt des amerikanischen Katholizismus angereichert und vielgestaltiger werden lassen. Viele Christen finden sich auch unter den asiatischen Einwanderern in die Vereinigten Staaten. Vietnamesische Katholiken sind wie die katholischen Latinos Träger von Formen der Volksfrömmigkeit, insbesondere der Marienverehrung (—•Maria/Marienfrömmigkeit), die unter europäisch-amerikanischen Katholiken seit den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils in den Hintergrund getreten sind. Koreanische Einwanderer in die Vereinigten Staaten sind überwiegend Christen mit einem besonders großen Anteil von Presbyterianern. Die Vereinigungskirche von Sun Myung M o o n (geb. 1920), die hinsichtlich ihrer Abkehr von der christlichen Tradition wie der Feindseligkeit, auf die sie gestoßen ist, mit den Mormonen verglichen worden ist, hat nur eine geringe Zahl amerikanischer Anhänger und ist untypisch für den koreanischen Beitrag zum amerikanischen Christentum. Diese Einwanderung hat ein Zusammengehen von Farbigen innerhalb des amerikanischen Christentums ermöglicht, wie es Afroamerikaner immer wieder erhofft haben, das aber tatsächlich stets hinter den gestellten Erwartungen zurückgeblieben ist. Asiatische Amerikaner und Afroamerikaner inner- und außerhalb der Kirchen stehen zueinander in einem noch ungeklärten Verhältnis. Vertreter der Latinos behaupten zuweilen, daß die Lateinamerikaner von den die Vereinigten Staaten belastenden Rassenvorurteilen frei seien und daß sie die Nation von den Problemen der Beziehung von Schwarz und Weiß freimachen werden; doch hinter diesen Anspruch steht ein guter Teil Romantisierung des lateinamerikanischen Umgangs mit der Rassenfrage. Afroamerikaner und Westinder haben eine lange Geschichte sowohl von Konflikten als auch der Zusammenarbeit, und beides wird in religiösen Institutionen ausgetragen. In den Reihen der farbigen Christen in Amerika ist der Prozeß der Ausbildung eines normativen Konzepts von Pluralismus noch nicht abgelaufen. Gleichzeitig vergegenwärtigt die Einwanderung in den Vereinigten Staaten in einem bislang beispiellosen Umfang und noch nicht gekannter Lebendigkeit das breite Spektrum menschlichen religiösen Lebens außerhalb des Christentums oder Judentums. Konfuzianismus und Taoismus sind ein wachsender Bestandteil der neuen religiösen Landschaft, aber der Hinduismus, Buddhismus und ganz besonders der Islam sind ihre bedeutendsten Elemente. Zu alle diesen Religionsgemeinschaften zählen sowohl Einwan-

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derer und ihre Abkömmlinge als auch in Amerika gewonnene Konvertiten. Zugleich finden ihre Vorstellungen und Bräuche ein wachsendes Interesse mancher Christen, während für andere ihre zunehmende Präsenz alarmierend ist. Daß man mit diesen neuen religiösen Nachbarn rechnen muß, wird aber sicher große Bedeutung für die zukünftige Gestaltfindung des Christentums in den Vereinigten Staaten haben. Vor allem trifft das für die Begegnung mit dem Islam zu. Die wachsende Präsenz des Islam in Amerika, die sich zeitgleich mit einem verstärkten Engagement der Vereinigten Staaten in der überseeischen islamischen Welt entfaltet, ruft für alle amerikanischen Christen ähnliche Fragen wach, wie sie früher die Präsenz des Katholizismus für die amerikanischen Protestanten aufgeworfen hatte. Man fürchtete im Katholizismus eine internationale Macht mit universalen Bestrebungen, deren amerikanische Anhänger in ihrer Loyalität gegenüber der amerikanischen Demokratie und der praktizierten Religionsfreiheit unzuverlässig erschienen. Ähnliche Befürchtungen haften sich an den Islam und an amerikanische Muslime. Der Katholizismus wurde als reaktionär in seiner Einstellung gegenüber Frauen angegriffen. Das gilt auch für den Islam. In den Kriegen gegen Mexiko und Spanien im 19. Jh. kämpften die Vereinigten Staaten gegen katholische Mächte, während sie im Golf- und Afghanistankrieg islamischen Gegnern gegenüberstanden. Es ist leicht vorzustellen, daß, wie einst die amerikanischen Protestanten den Katholiken gegenüber eine schwer umschreibbare Einheit bildeten und gemeinsame Ziele verfolgten, amerikanische Christen — und Juden - aus einem gemeinsamen Widerstand dem Islam gegenüber versuchen könnten, einen tragfähigen Konsens zu finden. Zugleich besteht die Erwartung, daß die Muslime enger mit dem amerikanischen Leben vertraut werden und sich, wie die Katholiken, auf vielfältige Weise seinen Institutionen und Gepflogenheiten angleichen und daher die islamische Präsenz zunehmend zu einer festen Gegebenheit dieses Lebens wird, was sie teilweise auch schon ist. Dabei hängt sehr viel von der Entwicklung der Einwanderung und der Art eines sich herausbildenden amerikanisch-islamischen Führungskreises in den Vereinigten Staaten und in der internationalen islamischen Welt ab. Wie bei den frühen katholischen Amerikanisten gibt es im Islam innerhalb der Vereinigten Staaten Stimmen, die eine Übereinstimmung amerikanischer Institutionen und Gepflogenheiten mit dem Koran und der islamischen Tradition behaupten. Diese Entwicklung scheint jedoch, wie die sich erst entfaltende Geschichte des amerikanischen Islam überhaupt, noch in den Anfängen zu stecken. Im angebrochenen neuen Jahrhundert wird die Gestaltung des Verhältnisses eines zunehmend globalisierten Christentums zu der wachsenden Präsenz der gleichfalls globalen Religion des Islam die Grenzen eines annehmbaren religiösen Pluralismus ausloten und die Definition des gemeinsamen Wohls und der nationalen Bestimmung der Vereinigten Staaten nachhaltig mitgestalten. Sie könnte spürbar auch das Gegenüber von Schwarz und Weiß in Amerika berühren. Ein tiefgreifender Unterschied zwischen der geschichtlichen Stellung des Katholizismus in Amerika und der sich entfaltenden Rolle des Islam liegt gerade hier. Wie der römische Katholizismus ist auch der Islam von Afroamerikanern zuweilen als eine universale Gemeinschaft angenommen worden, die über die im Protestantismus festgeschriebenen Rassengrenzen hinausgreift. Doch die Behauptung einer islamischen Identität enthielt für sie auch ein oppositionelles Potential, das weitergriff als das für den Katholizismus typische. Daß die Nation of Islam der schwarzen Entfremdung in den Vereinigten Staaten einen so kraftvollen Ausdruck geben konnte, beruhte zum Teil gerade auf ihrer Abweisung des Christentums als einer „Religion des weißen Mannes", ein Potential, an dem auch andere Formen des Islam Anteil haben. Afroamerikanische Christen haben diese kritische Einstellung heftig diskutiert und teilweise angenommen. Doch ist der Anspruch des Islam, freier von Rassismus zu sein als das Christentum, auch in Frage gestellt worden. Bei der zukünftigen Begegnung des globalen Christentums mit dem globalen Islam in den Vereinigten Staaten wird ihr Umgang mit der Phänomen der Rasse ausschlaggebende Bedeutung haben.

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5.

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Religionsstatistik

Zuverlässige und standardisierte Zahlenangaben über die Mitgliedschaft der verschiedenen christlichen Denominationen und anderer Religionsgemeinschaften sind nur sehr schwer, wenn nicht unmöglich zu erhalten. Das United States Census Bureau bezieht in seine zehnjährlichen Erhebungen zur Bevölkerungsstatistik die Religionszugehörigkeit nicht ein. Der National Council of Churches of Christ in the United States of America bringt laufend ein Yearbook of American and Canadian Churches heraus, das Zahlenangaben für die meisten, wenn nicht alle christlichen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten enthält. Sie beruhen auf den eigenen Angaben der jeweiligen Gemeinschaften. Manche von ihnen aktualisieren ihre Angaben regelmäßig, andere nicht. Manche machen Angaben anhand genau geführter Unterlagen, andere liefern grobe Schätzwerte. Manche beziehen ihre Angaben auf eine „inklusive" Mitgliedschaft, einen weitgefaßten Mitgliederkreis, der wesentlich größer ist als die Zahl der zu voller Abendmahlsgemeinschaft berechtigten oder konfirmierten Mitglieder, andere beschränken sich auf eine unspezifizierte Zahlenangabe. Unabhängige Untersuchungen für einzelne Kirchen oder Gruppen von Kirchen kommen zuweilen zu Zahlen, die sich von den eigenen Angaben der jeweiligen Gemeinschaften unterscheiden. Weit auseinandergehende Werte ergeben sich daraus, daß Zahlen sich entweder auf eine Mitgliedschaft in bestimmten Religionsgemeinschaften oder auf bestimmte ethnische Gruppen beziehen können, denen jeweils bestimmte Religionsgemeinschaften zugeordnet werden. Bei Untersuchungen, die nicht auf Mitgliederverzeichnissen, sondern auf Umfrageerhebungen beruhen, bleiben stets die Repräsentativität der Stichprobe, die Sachgerechtheit der Fragestellung und die Interpretation der Daten diskutierbar. Uneinigkeit über die Größe von Gemeinschaften entsteht auch, wenn im öffentlichen Rangstreit von Betroffenen bestimmte Zahlenangaben als übertrieben hoch oder ungebührlich niedrig bezeichnet werden.

Deutlich ist, daß die Zugehörigkeit zu christlichen Kirchen in den Vereinigten Staaten sehr hoch ist. Die Volkszählung von 2000 hat eine Gesamtbevölkerung von 281,4 Millionen ausgewiesen. Die vergleichbar aktuellen Zahlen des Yearbook nennen eine weitgefaßte Kirchenmitgliedschaft von 152,1 Millionen. Neuere Umfragen zur religiösen Selbstzuordnung kommen zu dem Ergebnis, daß etwa 7 5 - 8 0 % der Bevölkerung der Vereinigten Staaten sich als Christen verstehen. Die größte einzelne christliche Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten ist die Römisch-katholische Kirche mit einer inklusiven Mitgliedschaft von 62 Millionen. Schon diese Zahl alleine verdeutlicht die derzeitige zentrale Stellung des Katholizismus im amerikanischen religiösen Leben. In jüngeren Umfragen zur religiösen Selbstzuordnung gibt gewöhnlich etwa ein Viertel aller Amerikaner an, römisch-katholisch zu sein. Rund 55 % der Amerikaner verstehen sich selbst als Protestanten; doch sie verteilen sich auf zahlreiche Traditionen und Denominationen. Es gibt beträchtliche Unterschiede zwischen den eigenen Angaben der Denominationen über ihre Mitgliedschaft und den in Umfragen zur religiösen Selbstzuordnung ermittelten Zahlen. So stimmen etwa die Eigenangaben von Pfingstgemeinschaften nicht mit Umfrageergebnissen überein. Das gewonnene Bild hängt auch davon ab, ob verwandte Denominationen in Denominationsfamilien zusammengefaßt oder jeweils einzeln gezählt werden. Eine jüngere Untersuchung ergibt für einzelne Denominationsfamilien folgende Zahlen: Baptisten 33,8 Millionen, Methodisten/Wesleyaner 14,1 Millionen, Lutheraner 9,6 Millionen, Presbyterianer 5,6 Millionen, Pfingstgemeinden/charismatische Gemeinden 4,4 Millionen, Episkopalisten/Anglikaner 3,5 Millionen, Mormonen 2,7 Millionen, Churches of Christ 2,6 Millionen, Kongregationalisten/United Church of Christ 1,4 Millionen, Zeugen Jehovas 1,3 Millionen und Assemblies of God 1,1 Millionen. Diesen Schätzungen können die im Yearbook veröffentlichen Zahlen zur Seite gestellt werden. Die größte protestantische Gemeinschaft ist die Southern Baptist Convention mit 16 Millionen. Die zweitgrößte Gemeinschaft, die United Methodist Church, nennt eine Mitgliedschaft von 8,3 Millionen, doch nach der Auffassung mancher Beobachter ist das eine übertrieben zurückhaltende Angabe, welche die Anhängerschaft der Denomination um fast 3 Millionen zu niedrig ansetzt. Die National Baptist Convention, U.S.A. beanspruchte während der 1990er Jahre etwa die gleiche Mitgliedsstärke wie die United Methodists, doch die dabei genannte Zahl von 8,3 Millionen ist in Frage gestellt worden, und bis

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zu einer neuen Zählung wird die Convention im Yearbook nicht aufgeführt. Drei Denominationen zählen je rund 5 Millionen Mitglieder. Die Church of God in Christ beansprucht seit den frühen 1990er Jahren eine Mitgliederzahl von 5,5 Millionen, doch nach anderen Angaben sind es weniger als 5 Millionen. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (Mormonen) gibt eine inklusive Mitgliedschaft von 5,2 Millionen an, während die Evangelical Lutheran Church in America 5,1 Millionen nennt. In die Größenordnung von 3 bis 4 Millionen fallen die Presbyterian Church (U.S.A.) und die National Baptist Convention of America, welche eine weitgefaßte Mitgliedschaft von 3,5 Millionen beanspruchen; für letztere ist dies in Frage gestellt worden. Die übrigen Gemeinschaften, die mit unterschiedlicher Zuverlässigkeit angeben, eine Million oder mehr Mitglieder zu zählen, sind: Assemblies of God 2,6 Millionen, Lutheran Church - Missouri Synod 2,6 Millionen, African Methodist Episcopal Church 2,5 Millionen, National Missionary Baptist Convention of America 2,5 Millionen, Progressive National Baptist Convention 2,5 Millionen, Episcopal Church 2,3 Millionen, Churches of Christ 1,5 Millionen, Pentecostal Assemblies of the World 1,5 Millionen, American Baptist Churches in the U.S.A. 1,4 Millionen, United Church of Christ 1,4 Millionen, African Methodist Episcopal Zion Church 1,3 Millionen, Baptist Bible Fellowship International 1,2 Millionen, Christian Churches und Churches of Christ 1,1 Millionen und Zeugen Jehovas eine Million. Außerdem gibt es zahlreiche Denominationen, für die weniger als eine Million Mitglieder genannt werden. Die beiden größten orthodoxen Gemeinschaften, die Greek Orthodox Archdiocese of North America und die Orthodox Church in America beanspruchen eine inklusive Mitgliedschaft von 1,5 Millionen bzw. einer Million, doch eine neuere Untersuchung rechnet mit nur 440.000 bzw. 150.000 Mitgliedern. Jüngere Umfragen zeigen, daß rund 1% der amerikanischen Bevölkerung sich als orthodox versteht. Umstrittener sind Angaben zur Mitgliederzahl für den Bereich außerhalb der christlichen Kirchen, zum Teil wegen ihrer hochgradigen Abhängigkeit von Umfrageergebnissen und wegen Meinungsverschiedenheiten darüber, ob die jeweiligen Umfragen die zeitlich jüngsten und wirtschaftlich marginalen Einwanderergruppen angemessen berücksichtigen. Sehr kontrovers wird die Frage erörtert, ob der Islam das Judentum als Amerikas zweitgrößte Religionsgemeinschaft überflügelt hat. Aktuelle Schätzungen des jüdischen Bevölkerungsanteils reichen von 5,5 bis 7,7 Millionen, wobei der höhere Ansatz alle Personen jüdischer Herkunft einschließt. Von ihnen identifizieren sich 2,4 bis 3 Millionen ausdrücklich mit dem Judentum. Schätzungen des muslimischen Anteils an der Bevölkerung der Vereinigten Staaten reichen von 500.000 bis zu 6 bis 8 Millionen, wobei der plausibelste Ansatz bei 2 bis 4 Millionen liegt. Die Zahl der Buddhisten wird auf 1,4 bis rund 2,3 Millionen geschätzt, und für Hindus wird mit einer Größenordnung zwischen 850.000 und 1,1 Millionen gerechnet. Quellen und

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David W. Wills

Vereinswesen/Kirchliche Vereine I. Kirchengeschichtlich II. Praktisch-theologisch

S. 654

I. Kirchengeschichtlich 1. Grundlagen 2. Historische Entwicklung 3. Typologie des kirchlichen Vereinswesens 4. Katholisches Vereinswesen 5. Verbandsprotestantismus und verfaßte Kirche (Literatur 5. 653)

1.

Grundlagen

1.1. Begriff und

Strukturmerkmale

Das kirchliche Vereinswesen in Deutschland unterliegt denselben sozialen Prinzipien und strukturellen Entwicklungen wie das allgemeine Vereinswesen, wobei das Merkmal Konfession dem kirchlichen Vereinswesen eine besondere Prägung verleiht. Definiert wird der neuzeitliche Verein als freiwilliger Zusammenschluß ursprünglich getrennter Kräfte zur Verwirklichung eines gemeinsamen Zwecks (Hardtwig, Verein 789 f.). Mit den Elementen Freiwilligkeit und Zweckbindung sind bereits die wesentlichen Unterschiede des nachaufklärerischen Vereinswesens zu vormodernen Formen gesellschaftlicher Vereinigungen markiert: die Zugehörigkeit zu Gilden, Bruderschaften und Orden (-•Bruderschaften/Schwesterschaften/Kommunitäten), welche standesmäßigen Bedingungen und materiellen Zwängen unterlag, entbehrt des Charakters der Freiwilligkeit, zu dem auch die Möglichkeit zeitlich begrenzter Mitgliedschaft gehört. Diese älteren Formen gesellschaftlicher Vereinigungen tendieren zur Erfassung der gesamten Lebenswirklichkeit ihrer Glieder in Bürgerschaft, Beruf und Familie. Im Ancien Régime gibt es keine deutliche Trennung von Öffentlichem und Privatem. Dagegen ist der moderne Verein in der Sphäre des Privaten anzusiedeln, die er gleichsam erschließt. Vorläufer der Gesellschaften des sich formierenden Bürgertums sind die pietistischen Konventikel; sie haben bereits das Freiwilligkeitsprinzip als konstituierendes Element, ihnen fehlt allerdings noch ein festes organisatorisches Gerüst. Der Begriff Verein als Bezeichnung für den formalen, zweckgerichteten Zusammenschluß von Personen und Körperschaften hat sich vor allem aufgrund der Verwendung im rechtlichen Bereich durchgesetzt. Zugleich trugen und tragen Vereine eine Vielzahl unterschiedlicher Bezeichnungen, die ihrerseits zeitbedingten Begriffsveränderungen unterlagen: Assoziation, Gesellschaft, Vereinigung, Sozietät, Korporation, Genossenschaft, Bund, Verband, Gruppe, Initiative, Bewegung u.a.m. Zu den äußeren Strukturmerkmalen neuzeitlicher Vereine gehört die gemeinsame Beschlußbildung, die aus dem vormodernen Einigungsprinzip übernommen und im Zuge der Ausbreitung des Demokratiegedankens durch das Mehrheitsprinzip näher bestimmt wurde. Weitere konstitutive Merkmale sind die bündischen Tagungsformen (Mitgliederversammlungen, Jahresfeste etc.) sowie die Einsetzung und Kontrolle gemeinsamer Exekutivorgane (Vorstand, Ausschüsse etc.). Die rechtlichen Grundlagen für die Gründung und die Tätigkeit von Vereinen entwickelten sich im gesamten Verlauf des 19. Jh. Der absolutistische Staat kannte keine körperschaftlichen Rechte für Privatgesellschaften. Neu gegründete Vereine mußten in jedem einzelnen Fall um eine öffentlich-rechtliche Konzession nachsuchen. Mit dem preußischen Allgemeinen Landrecht (II, 6, § lf.) von 1794 begann in Deutschland die

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Vereinswesen/Kirchliche Vereine I

neuzeitliche Vereinsgesetzgebung. Danach galt als Verein die Verbindung mehrerer Mitglieder des Staates zu gemeinsamen Zwecken. Verboten wurden solche Gesellschaften, deren Zwecke der gemeinsamen Ruhe, Sicherheit und Ordnung zuwiderliefen. Indem sich der Staat auf eine negative Definition möglicher Vereinszwecke beschränkte, begünstigte er die Ausweitung der Rechte der Untertanen hin zur Schaffung und Ausformung des privaten Raumes. Nachdem sich auf dieser Grundlage vor allem in der Zeit des -»-Vormärz zahlreiche Vereine gründeten, brachte die Revolution von 1848 kurzzeitig völlige Vereinsfreiheit. Die anschließende Zurückdrängung der Vereine aus dem politischen Raum hatte keinen nachhaltigen Einfluß auf die Zahl der Vereinsgründungen in den allgemeinen gesellschaftlichen Betätigungsfeldern. Die im Bürgerlichen Gesetzbuch (§§ 2 1 - 7 9 ) zusammengefaßten vereinsrechtlichen Bestimmungen von 1908 sind das Ergebnis der juristischen Erfahrungen aus einer rasant verlaufenden Entwicklung mit mehreren Vereinsgründungswellen. Seither erlangt eine Personenvereinigung den Status einer juristischen Person durch Eintragung in das beim Amtsgericht geführte Vereinsregister (ieingetragener Verein). Dem geht eine Prüfung der formalen Voraussetzungen (Benennung eines mindestens vierköpfigen Vorstands, Satzung mit Definition des Zwecks, der Organe, der Beschlußwege und der Bestimmungen für eine eventuelle Auflösung) durch die staatliche Verwaltung voraus. Im Vereinswesen artikuliert sich der Wille der bürgerlichen Gesellschaft zur Mitgestaltung des Öffentlichen, was bis zum Ende des Absolutismus allein Sache der Obrigkeit gewesen war (-»Bürgertum). Am konsequentesten wird dieser öffentliche Gestaltungswille vertreten durch den politischen Verein, die —»Partei, die im engeren Bereich der staatlichen Aufgaben agiert. Kulturelle, sozialfürsorgerische und konfessionelle Vereine entfalten ihre Tätigkeit überwiegend in dem Bereich des öffentlichen Raums, der lange Zeit abseits des obrigkeitlichen Handelns lag. Die sich durch die Beschränkung der staatlichen Aufgaben ergebenden Freiräume nutzen die stadtbürgerlichen Mittelschichten zur Durchsetzung ihrer Ziele und Interessen, wobei die Vereinsstruktur zugleich der Erprobung und Einübung demokratischer Verfahrensformen und der Durchsetzung bürgerlicher Emanzipations- und Partizipationsansprüche dient. Die überragende Bedeutung des Vereinswesens für die Formierung des Bürgertums im 19. Jh. führt zu dem Urteil, daß das „Vereinsprinzip zum Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft" geworden ist (Tenfelde 58). Die Verfolgung eines gemeinsamen idealen Zwecks im Verein ermöglicht die Durchbrechung der Standesgrenzen. Sie werden, wie in den gebildeten Salons, zuerst zwischen Bürgertum, Klerus und Adel überwunden. Eine Öffnung gegenüber unterbürgerlichen Schichten erfolgt mit deutlicher zeitlicher Verzögerung in den großen Volksvereinen, die erstmals im Vormärz in Erscheinung treten. So bleiben die Handwerker und -»Arbeiter zumeist unter sich. Unter ihnen vollzieht sich Vereinsbildung überwiegend im Rahmen des Gedankens der Selbsthilfe in Assoziationen und Genossenschaften, der im Kontext der sozialen Frage aufkommt. Als ein Spezifikum konfessioneller Vereine kann die vergleichsweise große Bereitschaft zur Integration eines breiten gesellschaftlichen Spektrums gelten. Im kirchlichen Raum korrespondiert der von patriarchalem Geist gesteuerte Wille zur „Hebung der unteren Klassen" mit dem Integrationswillen der kirchlich geprägten klein- und unterbürgerlichen Schichten, denen im Verein eine sektorale bürgerliche Existenz angeboten wird. Eine Vereinsbildung unter Arbeitern unter bewußtem Ausschluß des Bürgertums, wie es in der proletarischen Arbeiterbewegung vorkam, war im Bereich der evangelischen Kirche keine Option. 1.2. Verein und protestantische

Milieubildung

Für die Kirchen beider Konfessionen markiert die Entstehung einer breiten kirchlichen Vereinsbewegung den entscheidenden Schritt zur Verbürgerlichung des kirchlichen Lebens. Der Verein besitzt nicht die distanzierenden Amts- und Anstaltsstrukturen des staatlich beherrschten Kirchenapparats und macht die Kirche somit volkstümlicher (Nip-

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perdey, Verein 4). Zugleich bezeugt die Ü b e r n a h m e des O r g a n i s a t i o n s m o d e l l s Verein durch die traditionelle soziale M a c h t Kirche den Siegeszug des Vereinswesens auf eindrückliche Weise. Dennoch ist die äußerlich zutreffende T h e s e von der Verbürgerlichung der Kirche an wesentlicher Stelle einzuschränken: dieser Begriff trifft wohl die Sozialgestalt der Kirche, nicht aber ihr Selbstverständnis (Kaiser, F o r m i e r u n g 268). D a nicht die Kirche selbst Vereine gründet, sondern einzelne ihrer Glieder als Christen und Bürger, entstehen der Kirche in den konfessionellen Vereinen gesellschaftlich w i r k s a m e Vorfeldorganisationen, die institutionell voll in der Gesellschaft stehen, sich zugleich aber von ihren Zielen und ihrem inneren Leben als Teil der Kirche definieren. A m kirchlichen Verein bricht sich daher d a s theologische Selbstverständnis der Kirche, zugleich Teil der Gesellschaft als auch deren Gegenüber zu sein. N i c h t jeder Z u s a m m e n s c h l u ß von Christen ist sogleich ein kirchlicher Verein. In der Begriffsverbindung „Kirchliche Vereine" verweist d a s Attribut kirchlich bereits auf ein b e s t i m m t e s Verständnis christlich-religöser Assoziationen: d a n a c h sind sie Teil b z w . Ers c h e i n u n g s f o r m - im theologischen S p r a c h g e b r a u c h auch: L e b e n s ä u ß e r u n g - von Kirche. D i e Anerkennung seitens der Amtskirche, die vielen protestantischen Vereinen insbesondere durch die lutherische Kirche zuerst versagt blieb, ist d a z u nicht d a s entscheidende Kriterium, sondern die T a t s a c h e , d a ß sich ein Verein als eine weitere E r s c h e i n u n g s f o r m kirchlichen Lebens neben der verfaßten Kirche versteht. Als kirchlich k a n n ein Vereinsziel gelten, wenn es den amtskirchlichen A u f t r a g unterstützen oder ergänzen will. Soziologisch betrachtet sind kirchliche Vereine zugleich G r u n d l a g e als auch A u s d r u c k konfessioneller Milieubildung. D a b e i ist der Milieubegriff in der F o r s c h u n g lange fast ausschließlich auf den Katholizismus angewendet w o r d e n . Dahinter steht die Vorstellung, d a ß ein geschlossenes soziales Milieu eigentlich nur innerhalb einer gesellschaftlichen Minderheit entstehen könne, wohingegen - wenigstens in den protestantisch geprägten Staaten wie -»Preußen - die Z u g e h ö r i g k e i t der Protestanten zu diversen, durch M e n t a l i t ä t , Sozialverhalten und politischer Einstellung geprägten G r u p p e n festzustellen ist. D o c h ein erweiterter Milieubegriff, der d a s Konstituens der gesellschaftlichen M i noritätensituation mit g e m e i n s a m e n sozialmoralischen S t a n d a r d s überschreitet, läßt sich auch auf den deutschen Protestantismus anwenden. Dieses weitere Verständnis von M i lieu als einem gesellschaftlichen L a g e r n i m m t gemeinschaftsbildende Aspekte w a h r , die soziale und kulturelle Unterschiede ü b e r f o r m e n und hinter sich lassen. Ungeachtet aller Binnendifferenzierungen verbindet die in protestantischen Vereinen organisierten Bevölk e r u n g s g r u p p e n ein hoher G r a d an M o r a l i t ä t im gesellschaftlichen Verhalten, ein starker Impuls zu gemeinnützigem, die eigene soziale Schicht überschreitendem H a n d e l n , eine selbstbewußt-kritische H a l t u n g zur Amtskirche s o w i e - mit A u s n a h m e der wenigen dezidiert lutherischen Vereine - d a s Bemühen u m Ü b e r w i n d u n g der konfessionellen Unterschiede innerhalb des Protestantismus. D i e Amtskirche unterstützte später z w a r die protestantische Milieubildung, w a r aber nie deren treibende K r a f t . Der genuine O r t des konfessionellen Milieus ist auch im Protestantismus der Verein, an dessen Spitze, wenigstens a n f a n g s , überwiegend N i c h t - T h e o l o g e n stehen. Bereits für die ersten konfessionellen Vereine, die sich in E n g l a n d bilden, gilt, d a ß sie mehr als eine bloße O r g a n i s a t i o n s f o r m sind; der Verein ist vielmehr L e b e n s r a u m für seine Mitglieder oder stellt gar eine Subkultur mit eigenen Regeln und Gemeinschaftsritualen d a r (Greschat 147). Ausgehend von der Erkenntnis der milieubildenden K r a f t der Vereine und Verbände im Protestantismus und deren Rolle für die konfessionelle E n t w i c k l u n g in D e u t s c h l a n d hat sich f ü r diesen Bereich - parallel zum schon länger eingeführten Begriff im Katholizismus - der Begriff des Verbandsprotestantismus durchgesetzt. 2. Historische

Entwicklung

Das neuzeitliche kirchliche Vereinswesen unterscheidet sich nach den oben genannten Strukturmerkmalen wesentlich von den vormodernen Zusammenschlüssen, auch wenn es teilweise auf deren Formen aufbaut; so sind besonders in der Frömmigkeitspraxis deutliche Kontinuitäten zwi-

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sehen älteren Bruderschaften und neueren katholischen Vereinen oder zwischen pietistischen Konventikeln und erwecklichen protestantischen Vereinen feststellbar. Als weitere Vorläufer konfessioneller Vereine sind die religiösen Geheimgesellschaften (—»Rosenkreutzer; -»Freimaurer) und -•Freikirchen (Herrnhuter Brüdergemeine [ - • Brüderuni tät/Brüdergemeine]); englische Nonkonformisten und Methodisten ( - » Methodistische Kirchen) zu nennen. Die neuzeitliche Vereinsentwicklung läßt sich nach den jeweils veränderten gesellschaftspolitischen Bedingungen, die vielfach neue Wellen von Vereinsgründungen mit sich brachten, in acht Phasen einteilen (vgl. Kaiser, Formierung 266).

2.1. Entstehung

(1780-1815)

Die aufgrund ihrer zeitgenössischen Bedeutung und ihrer Vorbildwirkung wichtigste protestantische Vereinigung, die den Beginn der neueren Vereinsbewegung in Deutschland markiert, ist die 1780 gegründete Deutsche Christentumsgesellschaft (—»Basel, Christentumsgesellschaft). Ursprünglich von dem Augsburger Theologen Johann August Urlsperger (1728-1806) in apologetischer, antirationalistischer Absicht zur „Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit" gegründet, sammelte die Christentumsgesellschaft von Basel aus die der herrschenden Theologie kritisch gegenüberstehenden Kräfte des deutschsprachigen Südwestens am Übergang von Altpietismus zur Erweckungsbewegung (—»Erweckung/Erweckungsbewegungen). Bald konzentrierten sich die Mitglieder auf eine Vielfalt praktischer Zwecke, für die nach dem Vorbild englischer Initiativen - vermittelt durch den 1801 nach London berufenen Sekretär der Christentumsgesellschaft Karl Friedrich Adolf Steinkopf (1773-1859) - Tochtervereine entstanden. Diese deckten bereits ein breites Spektrum der späteren evangelischen Vereinsbewegung ab: Traktatgesellschaft (1802), Bibelgesellschaft (1804), die Basler Mission (1815), Diasporahilfe für Protestanten in Österreich sowie die Praktizierung der Armenund -»Krankenpflege mit ihrem Zentrum im badischen Beuggen, wo Christian Heinrich Zeller (1779-1860) 1820 mit der Armenschullehrer-Anstalt eine erste Ausbildungsstätte für christliche Sozialpädagogen gründete. Der entscheidende Katalysator für die Entfaltung des Vereinswesens in Deutschland und damit auch die Gründung von kirchlich-religiösen Vereinen war der gesellschaftliche Reformdruck, der sich vor der -»Französischen Revolution bemerkbar machte und in napoleonischer Zeit massiv zunahm. Der Zusammenbruch der alten ständischen Gesellschaft und der staatlichen Ordnung stellte auch die staatskirchlichen Strukturen in Frage und aktivierte das fromme und sozial engagierte Bürgertum. Wie die Gründungen im Umfeld der Baseler Christentumsgesellschaft verstanden sich auch die anderen kirchlichen Vereine und Initiativen in bewußter Distanz zu den verkrusteten Formen eines Staatskirchentums, das sich gegenüber den neuen geistlichen und sozialen Herausforderungen hilflos zeigte. 2.2. Entfaltung

(1830-1848)

Die sozialen Probleme verstärkten sich aufgrund der Folgen der Befreiungskriege noch, vor allem aber führte die Bauernbefreiung in Verbindung mit einem starken Bevölkerungswachstum zur Verarmung großer Teile der Landbevölkerung. Die neugewonnene Mobilität transportierte die soziale Not zunehmend in die Städte. Als Reaktion auf diese wirtschaftlichen, sittlichen und geistlichen Herausforderungen kam es seit Ende der 1820er Jahre zu einer Vielzahl von Neugründungen christlicher Vereine. Da die traditionellen Formen des Armenwesens vor der Massenarmut des Pauperismus versagten, sollten Armen- und Krankenpflegevereine das Potential privater Wohltätigkeit zur Unterstützung der kommunalen Strukturen aktivieren. Daß dies nicht nur den Erfordernissen politischer Notwendigkeit, sondern auch den Geboten christlicher Nächstenliebe (-»Nächster) entsprach, war breiter gesellschaftlicher Konsens; insofern waren die Grenzen zwischen christlichen und allgemeinen bürgerlichen Vereinen der Sozialfürsorge in der ersten Hälfte des 19. Jh. fließend. Auch in den Vereinen, die ihre wohltätige Zielsetzung bewußt als Ausdruck christlicher Liebestätigkeit verstanden, lag ein weites Mo-

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tivationsspektrum vor: Die Aktivitäten eines Johannes Falk (1768—1826), der sich in Weimar mit seinem Verein der Freunde in der Not seit 1813 um verwaiste und verwahrloste Kinder kümmerte, oder eines H.E. Freiherrn von -»Kottwitz, der in Schlesien und Berlin Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchführte, machen deutlich, daß ein philantropisch-aufgeklärtes Christentum ebenso zur sozialen Tat führen konnte wie die erweckliche Frömmigkeit, die etwa den Grafen Adalbert von der Recke-Volmerstein (1791-1878) zur Gründung des ersten Rettungshauses (1819) zur leiblichen und seelischen Rettung von Kindern im westfälischen Overdyck veranlaßte oder Amalie Sieveking (1794-1859) antrieb, 1832 in Hamburg einen Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege ins Leben zu rufen. An der Spitze vieler Vereine dieser Zeit standen charismatische Einzelpersönlichkeiten, denen es gelang, das städtische Bildungs- und Besitzbürgertum für ihre Sache zu gewinnen. Im Umfeld der Erweckungsbewegung traten erstmals in größerem Umfang auch Frauen öffentlich in fürsorgerischer Tätigkeit in Erscheinung. Auf Anregung der englischen Quäkerin Elisabeth Fry (1780-1845) gründete Theodor Fliedner die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft (1826), die Ziele der Gefängnisreform mit der Fürsorge für Strafentlassene verband. Ab 1836 baute er mit seiner Frau Friederike Fliedner in Kaiserswerth ein Krankenhaus und eine Ausbildungsstätte für evangelische Pflegerinnnen auf, die bald zum Zentrum einer breiten Bewegung zur Gründung von Diakonissen-Mutterhäusern wurde (-»Fliedner, Theodor und Friederike). Parallel zur karitativen Arbeit in den Bereichen Erziehungsfürsorge, Armenpflege, Krankenpflege und Straffälligenhilfe entwickelten sich die missionarischen Vereine, die von der sich ausbreitenden Erweckungsbewegung Zulauf erhielten. Neben die Gesellschaften zur Äußeren Mission und die Vereine zur Verbreitung von Bibeln und Traktaten traten in dieser zweiten Phase der Vereinsentwicklung nun auch Jünglingsvereine {Hilfsverein für Jünglinge, Bremen 1834), die Geselligkeit auf gleichgesinnter, frommer Grundlage mit sozialer Hilfe für gleichaltrige junge Handwerker und Arbeiter verbanden und zur Keimzelle der evangelischen Jugendverbände (-»-Jugend 3.) wurden. Die karitativen und missionarischen Vereine agierten vorwiegend auf lokaler und regionaler Ebene. Im Gegensatz dazu stand der Evangelische Verein der Gustav-AdolfStiftung zur Unterstützung evangelischer Christen in der Diaspora, der auf eine Initiative von 1832 zurückging und ab 1841 seine Tätigkeit in ganz Deutschland aufnahm (-»Diaspora werke). Mit lokalen Zweigvereinen, Hauptvereinen in Ländern und Provinzen sowie einem Zentralvorstand in Leipzig war der Gustav-Adolf-Verein hierarchisch straff gegliedert. Die enorme Popularität gerade in kleinbürgerlichen Kreisen und der protestantischen Unterschicht resultierte nicht zuletzt aus der Verbindung idealistischer Bildungsziele - gefördert wurde insbesondere die Anstellung evangelischer Lehrer - mit den Effekten einer negativen Integration: der Gustav-Adolf-Verein stärkte das protestantische Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber dem durch wiederbelebte Frömmigkeit und —»Ultramontanismus zunehmend selbstbewußt auftretenden Katholizismus. 2.3. Aktivierung

(1848-1850)

Als Verband von Vereinen war der Gustav-Adolf-Verein den anderen kirchlichen Vereinen organisatorisch deutlich voraus. Ein Zusammenschluß gleichartiger Vereine erfolgte in der Regel erst in der dritten Entwicklungsphase während der Revolutionszeit. Die 1848 gewährte Vereinigungsfreiheit und die Politisierung der Bevölkerung ließ die Vereinsgründungen schlagartig ansteigen. Das betraf in erster Linie die im engeren Sinn politischen Vereine und Parteien, die im konfessionellen Spektrum zur Bildung des politischen Katholizismus führten, während die Gründung einer protestantischen Partei weder 1848 noch später erfolgreich war. Allerdings standen die protestantischen Vereinsaktivitäten dieser Jahre ebenfalls unter politischen Vorzeichen: Nicht nur der Frühsozialismus (-»Sozialismus), sondern auch der -»Liberalismus wurde von konservativen Protestanten als kirchenfeindlich und antichristlich angesehen, zugleich meinte man aber

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Vereinswesen/Kirchliche Vereine I

in der Revolution auch die Folge kirchlichen Versagens vor den sozialen Herausforderungen der Zeit zu erkennen. Dieser weit verbreiteten Auffassung verlieh der Hamburger Theologe J.H. -»Wiehern auf dem Wittenberger Kirchentag 1848 Stimme und Programm. Die Wittenberger Versammlung war für das protestantische Vereinswesen in doppelter Hinsicht bedeutsam: Sie stärkte den Sinn für eine die Landesgrenzen überschreitende kirchliche Einheit - auch wenn der erhoffte Kirchenbund nicht zustande kam, sondern es bei den bis 1872 regelmäßig stattfindenden freien - * Kirchentagen blieb. Vor allem aber gelang es Wichern, mit seinem Programm der -»Inneren Mission ein einheitliches, karitative und missionarische Aktivitäten zusammenschließendes Globalkonzept zur Besserung der sozialen und religiösen Lage der unterbürgerlichen Schichten im Bewußtsein des deutschen Protestantismus durchzusetzen, das Potentiale einer kirchlichen Sozialreform in sich trug. Der auf seine Initiative hin gegründete Central-Ausschuß für Innere Mission (1849) organisierte und koordinierte die vielfältige Vereinswelt der Inneren Mission, die in der Folge zum weitverzweigtesten und bedeutendsten Sektor im protestantischen Vereinswesen aufstieg. Die überregionale Kooperation der Vereine ging einher mit einem gesamtkirchlichen Verständnis jenseits aller lutherisch-refomierten Konfessionsgegensätze. Dogmatische Unterschiede traten zurück hinter die Gemeinsamkeiten erwecklicher Frömmigkeit oder wurden überlagert durch die praktischen Organisationsbedürfnisse der überregionalen Arbeit; im liberalen Protestantismus spielten sie ohnehin keine Rolle. So wurden die Vereine zum entscheidenden Motor der kirchlichen Einheitsbestrebungen. Die Partikularinteressen der - staatlich kontrollierten - Landeskirchen verhinderten in der Restaurationszeit eine formelle kirchliche Einheit, die im Bereich des Vereinsprotestantismus längst praktiziert wurde. Auf Skepsis und Ablehnung stießen konfessionsübergreifende Vereine deshalb im Umfeld des -*Neuluthertums, was die Ausbreitung in lutherischen Landeskirchen behinderte und verschiedentlich zur Gründung lutherischer Parallelorganisationen (z. B. des Diasporahilfsvereins Gotteskasten ab 1853) führte. 2.4. Konsolidierung

(1860-1890)

Die vierte Phase protestantischer Vereinsbildung ist vor allem durch eine Konsolidierung und Verbreiterung des bestehenden Vereinsspektrums gekennzeichnet. Die männlichen Jugendvereine nehmen einen starken Aufschwung, und ihr Spektrum differenziert sich durch das Hinzutreten verschiedener missionarisch ausgerichteter Gruppen mit jeweils eigener Kultur: Bibelkreise ab 1883, Christlicher Verein Junger Männer ab 1883, Jugendbund für entschiedenes Christentum ab 1894; erste Jungfrauenvereine entstehen ab 1857. Die Innere Mission wendet sich neuen Arbeitsfeldern zu, für die entsprechende Anstalten und Vereine entstehen: Herbergen zur Heimat ab 1854, Pflege geistig Behinderter ab 1857, Arbeiterkolonien ab 1882, Blaues Kreuz (->Abstinenz/Abstinenzbewegungen) ab 1885, Seemannsmission ab 1885, Deutsch-evangelischer Verein zur Förderung der Sittlichkeit 1887. Zugleich wird die Binnenstruktur der Inneren Mission durch die Gründung von Fachverbänden gestärkt: Kaiserswerther Generalkonferenz 1861, Konferenz der theologischen Berufsarbeiter der Inneren Mission 1870, Brüderbausvorsteherkonferenz 1876.

In dieser Phase bilden sich auch protestantische Vereine zur Förderung von Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur. Anders als die Wissenschaftsvereine, die sich mit dem Angebot religiöser Grundlagenforschung an die Gebildeten wandten (Verein für Reformationsgeschichte 1883), zielten die Kultur- und Bildungsvereine auf die geistige und geistliche Hebung breiter Bevölkerungsgruppen durch die künstlerische Ausgestaltung der Kirchen und des Gottesdienstes (Verein für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche 1851; Paramentenverein 1858; Evangelischer Kirchengesangsverein für Deutschland 1883) und die Förderung christlicher Bildung (Christlicher Zeitschriftenverein 1880; Verein für christliche Volksbildung 1882). Zu dieser Gruppe zählen auch die Kirchbauvereine, die sich neben der bloßen Bereitstellung von Gottesdienstraum auch architektonische Impulse zum Ziel setzten (Berliner Kapellenverein 1885; Evangelischer Kirchenbauverein zu Berlin 1890).

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Ein neues Entwicklungselement ist die Entstehung kirchenpolitischer Vereinigungen, die sich exakt am Parteienspektrum der Zeit orientierten: Bereits 1863 bildete sich auf dem linken Flügel der liberale -»-Protestantenverein, es folgte 1873 die aus Nationalliberalen und gemäßigten Konservativen bestehende Mittelpartei (Evangelische Vereinigung), und 1876 formierte sich der rechts-konservative Flügel zur Positiven Union. A. —»Stoecker, der bedeutendste Exponent der Positiven, überschritt die Grenze von der Kirchenpolitik zur Parteipolitik und gründete 1878 die gegen die -»Sozialdemokratie gerichtete Christlich-soziale (Arbeiterpartei. Auch wenn die Gründung einer protestantischen Partei über ein Nischendasein nicht hinauskam, markiert Stoeckers Vorstoß doch die zunehmende Politisierung des konfessionellen Vereinswesens, die sich in der nachfolgenden fünften Entwicklungsphase breit auswirkte. 2.5. Politisierung

(1890-1914)

Das Ende der Bismarckzeit brachte auch die Friedensgesetze zur Beilegung des -»Kulturkampfes, die innerhalb des kulturprotestantischen Lagers als Benachteiligung der Evangelischen angesehen wurden. Daraufhin bildete sich 1886 der -*Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen, der das Ziel einer inneren Reichseinigung im protestantischen Geist mit streng antiultramontanistischer und antisozialistischer Ausrichtung weiterverfolgte. Anfangs ein Zusammenschluß überwiegend von Professoren und Pastoren, wuchs der Evangelische Bund durch Übernahme alldeutscher Positionen seit der Jahrhundertwende zum mitgliederstärksten Verband im Protestantismus heran (1913: 510.000 Mitglieder). Sehr populär war in den Zeiten des Kolonialismus auch die Arbeit der überseeischen Missionen, deren Zahl sich im Verlauf des 19. Jh. kontinuierlich vermehrte; sie gründeten 1885 zur Koordination der Äußeren Mission den Deutschen Evangelischen Missions-Ausschuß. Der verstärkte Wille des Protestantismus zur Gestaltung der öffentlichen Meinung zeigt sich nicht zuletzt in der Entstehung von Presseverbänden, die sich 1910 zum Evangelischen Preßverband für Deutschland zusammenschlössen (—»Publizistik/Presse). Auf das gesellschaftspolitische Ziel einer -»Sozialreform auf konfessioneller Grundlage ausgerichtet war der —»Evangelisch-soziale Kongreß, der sich 1890 vor dem Hintergrund des Endes der Sozialistengesetze und der kaiserlichen Februarerlasse zur Sozialpolitik bildete. Er verband anfangs ein breites Spektrum von Kathedersozialisten, liberalen Theologen und konservativen Vertretern der Inneren Mission, doch nach dem raschen Ende des „neuen Kurses" kaiserlicher Sozialpolitik trat der rechte Flügel um Stoecker aus und gründete 1897 die Freie Kirchlich-soziale Konferenz. Ein Instrument solcher christlich-nationaler Sozialreform, das die Unterstützung von beiden Flügeln des Sozialprotestantismus wie auch des Evangelischen Bundes fand, waren die Evangelischen Arbeitervereine, die seit den 1880er Jahren entstanden und sich 1890 zu einem Gesamtverband zusammenschlössen. In den Bereich der vom Hof wegen ihrer sozialen Wirkung geförderten Vereine gehört weiterhin der Evangelisch-kirchliche Hilfsverein (1888), der die Anstellung von Geistlichen und die Arbeit der Stadtmissionen förderte und aus dem der Evangelische Kirchbauverein für Berlin (1890) hervorging, sowie die Evangelische Frauenhilfe (1899) als Zusammenschluß der gemeindlichen Frauenkreise (—»Frauenarbeit, Kirchliche). Als protestantischer Flügel der bürgerlichen -»Frauenbewegung bildete sich im selben Jahr 1899 der Deutsch-evangelische Frauenbund. Die wilhelminische Zeit brachte schließlich auch die Gründung von Standesorganisationen kirchlicher Berufe voran: die seit 1890 entstehenden Pfarrervereine schlössen sich 1904 zu einem Reichsverband zusammen, für die weiblichen Sozialberufe entstand 1902 der Verband der Berufsarbeiterinnen der Inneren Mission und 1913 gründeten die in Brüderschaften organisierten Diakone den Deutschen Diakonenverband. Neben der Politisierung des Vereinswesens stellt sich somit die Sammlung bestehender Einzelvereine zu reichsweiten Verbänden als das besondere Kennzeichen dieser Entwicklungsphase dar.

646 2.6. Polarisierung

Vereinswesen/Kirchliche Vereine I (1918-1933)

In struktureller Hinsicht setzte sich die Tendenz zur Verbandsbildung nach dem 1. Weltkrieg fort, nun aber weitaus konsequenter und zumeist aufgrund äußerer Ursachen. Da der demokratische Staat die Beteiligung gesellschaftlicher Organisationen am öffentlichen Handeln vorsah und politisch organisieren mußte, erwartete er kompetente Verhandlungspartner, die von den hinter ihnen stehenden Gruppen mit einem eindeutigen Vertretungsmandat ausgestattet waren. In allen Bereichen, in denen Vereinsarbeit durch staatliche Gelder unterstützt wurde, kam es somit zur Gründung von Spitzenverbänden auf Länder- und Reichsebene. Das gilt insbesondere für den Bereich der Jugend- und Wohlfahrtspflege, wo sich die Innere Mission zu einem Organisationskomplex mit über hundert Fachverbänden in elf Fachgruppen entwickelte, welche die Bereiche der sozialen, volksmissionarischen, pädagogischen und kulturellen Arbeit fast vollständig abdeckte und somit die kirchliche Vereinsarbeit mit Abstand beherrschte. Die Verbandsbildung war mit weitreichenden Satzungsreformen verbunden, die das traditionelle Honoratiorenregiment beseitigten und an den Spitzen der Verbände zu einem spürbaren Professionalisierungsschub beitrugen. Auf inhaltlichem Gebiet brachte der Weltkrieg und die Revolution ein massives Anwachsen der bürgerlichen Sittlichkeitsbewegung, die ihr Schwergewicht in den konfessionellen Vereinen hatte. Zum Kampf gegen Unmoral, -»Prostitution und Geschlechtskrankheiten, der sich sowohl gegen die sexuellen Begleiterscheinungen der Militarisierung der Gesellschaft als auch gegen die Liberalisierung der öffentlichen Moral in der Republik wandte, schloß sich 1919 ein weites Spektrum von Vereinen zur Volksgemeinschaft zur Wahrung von Anstand und guter Sitte (seit 1925: Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung) zusammen. In Abgrenzung von Bestrebungen zur Einführung des Frauenwahlrechts löste sich 1918 der Deutsch-Evangelische Frauenbund aus der bürgerlichen Frauenbewegung, und im selben Jahr schlössen sich die durchaus heterogenen konfessionellen Frauenverbände zur Vereinigung Evangelischer Frauenverbände Deutschlands zusammen. Und die Trennung von Kirche und Staat bewirkte eine Belebung der volksmissionarischen Aktivitäten in einer Vielzahl von Initiativen und Vereinen, die sich 1925 zum Deutschen Evangelischen Verband für -*Volksmission zusammenschlössen. Die für die Erhaltung eines protestantischen -»Schulwesens streitenden Vereine bildeten seit 1926 die Evangelische Schulvereinigung. In der politisch und sozial polarisierenden Atmosphäre der Weimarer Republik hatten die konfessionellen Vereine insgesamt großen Zulauf; das galt insbesondere für die Jugendverbände, die durch die -»Jugendbewegung einen belebenden Expansionsschub erhielten und zunehmend militärische Formen adaptierten. 2.7. Restauration

(1945-1963)

Die nationalsozialistische Herrschaft brachte eine weitgehende Zerschlagung der bestehenden Vereinsstrukturen in mehreren Etappen: bereits 1933 wurde die politische Betätigung von Vereinen unterbunden, was die Auflösung der sozialpolitisch aktiven Verbände (Evangelisch-sozialer Kongreß, Evangelische Arbeitervereine etc.) zur Folge hatte. Zur Sicherung ihres Fortbestehens vollzogen viele konfessionelle Vereine unter Druck eine Gleichschaltung in Satzungsfragen (Durchsetzung des „Führerprinzips") und durch Eingliederung in übergeordnete NS-Organisationen (z. B. Unterstellung der evangelischen Schwesternschaften unter die Reichsfachschaft deutscher Schwestern; Eingliederung der Evangelischen Jugend in die Hitlerjugend). Durch ihre Politik der „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" erhöhte die Partei seit 1935 den Druck auf die kirchlichen Vereine, die aufgrund des Kirchenkampfs ohnehin in innere Krisen geraten waren und vielfach ihre Arbeit noch vor dem Krieg auf ein Minimum reduzierten. Andere Vereine beschränkten, um einem Betätigungsverbot zu entgehen, ihre Ziele auf innerkirchliche Aktivitäten. Auch organisatorisch erfolgte weithin eine Anbindung an

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die verfaßte Kirche, die nicht selten zu einer vollständigen Eingliederung und der Gründung entsprechender landeskirchlicher Ämter (für Innere Mission, für Volksmission etc.) führte. Diese Verkirchlichung des Vereinswesens war allerdings nicht nur eine Folge staatlicher Bedrohung, sondern auch eine Begleiterscheinung reichskirchlicher Ambitionen; das gilt insbesondere für die Entstehung der Jugend-, Frauen- und Männerwerke der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) im Jahr 1933. Theologisch fundiert wurde die Verkirchlichung des protestantischen Vereinswesens durch das im Kirchenkampf entstandene umfassendere Kirchenverständnis. Deshalb hielt die Tendenz zur Verkirchlichung auch nach dem Krieg an. Das galt nicht nur für Ostdeutschland, wo eine freie Vereinstätigkeit außerhalb des schützenden Dachs der Kirche unterbunden blieb, sondern auch für Westdeutschland, wo solche äußeren Gründe wegfielen. Christliche Gewerkschaften und Evangelische Arbeitervereine lebten hier nicht wieder auf, dafür wurde die Ausbreitung kirchlicher Sozialpfarrämter intensiviert. Von den Großverbänden der Vorkriegszeit rekonstituierten sich der Evangelische Bund und der Gustav-Adolf-Verein als kirchliche Werke unter dem Dach der -»Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Neben die Innere Mission trat 1945 das Evangelische Hilfswerk als Teil der verfaßten Kirche; bei der Fusion beider Organisationen zum Diakonischen Werk wurde allerdings auf Bundes- und zumeist auch auf landeskirchlicher Ebene die Vereinsform beibehalten. Den Frauen- und Jugendorganisationen gelang eine weitgehende Wiederherstellung ihrer verbandlichen Strukturen, und sie nahmen in den fünfziger Jahren auch noch einmal einen bemerkenswerten Aufschwung an Mitgliederzahlen. Auf den Deutschen Evangelischen Kirchentagen (seit 1949) und in den neu gegründeten Evangelischen Akademien (-»Akademien, Kirchliche) fand das protestantische Vereinswesen eine erneuerte, offenere Form der Präsentation und Selbstvergewisserung. 2.8. Desintegration

(seit 1969)

Diese Restaurationsphase in den ideellen Bahnen der Weimarer Republik entsprach der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung der Adenauerzeit und endete auch mit ihr. Seit Mitte der sechziger Jahre und unterstützt durch den politischen und sozialen Wandel infolge des Regierungswechsels 1969 begann ein schleichender Verfall des Vereinswesens in der Bundesrepublik, der bis heute angehalten hat. Das Ende der formierten Gesellschaft beinhaltete auch die weitgehende Auflösung des in den Vereinen lebendigen kirchlichen Milieus. Vor allem machte sich ein massiver Schub zur weiteren Individualisierung der Gesellschaft bemerkbar, die eine längerfristige Bindung an einen Verein verhindert. Auf weltanschaulich und religiös orientierte Vereine wirkte sich diese Entwicklung anders als etwa auf Sportvereine - besonders nachhaltig aus. Infolge des Mitgliederschwundes stellt die Vereinsform vielfach nur noch den rechtlichen Rahmen für Angebotsaktivitäten an Nichtmitglieder dar. Hatte Ende des 18. Jh. die gesellschaftliche Individualisierung den Übergang von der Vereinigung als Lebensgemeinschaft zum Verein als Zweckbündnis ausgelöst, so brachte die Radikalisierung der Individualisierungsbestrebungen noch kurzfristigere und unverbindlichere Formen gesellschaftlicher Aktivität wie Bürgerinitiativen und Arbeitsgemeinschaften hervor. Informelle Aktionskreise können rasch auf aktuelle Herausforderungen reagieren, so daß sich eine Vielzahl loser kirchlicher Gruppen insbesondere in den Bereichen Friedensarbeit, -»Ökumene, -»Ökologie und Gewaltfreiheit bildete, unter denen es mit der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (1953) und den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (1948) auch Gruppierungen mit klassischer Vereinsstruktur gibt. 3. Typologie

des kirchlichen

Vereinswesens

Angesichts der Definition des Vereins als Zusammenschluß zur Verwirklichung eines gemeinsamen Zwecks sollte eine Typologie zuerst bei den Vereinszwecken ansetzen.

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Den Versuch einer typologischen Einteilung konfessioneller Vereine hat J . - C . Kaiser (Verbände 194) unternommen und dabei acht Typen unterschieden: missionarische, karitative, kirchenpolitische, wissenschaftliche, sozialreformerische und berufsbezogene Vereine sowie Bildungsvereine und' Vereine z u r Organisation der ,,Njrjj.rsrix)de" /Frauen- und Jugendverbände). Dabei baut er zum Teil auf U. Krey (Vereine 13) auf, die bei ihrer Untersuchung des gesamten vormärzlicfien Vereinsspektrums in Westfalen eine funktionale Abgrenzung nach den Merkmalen Sozialfürsorge, Konfession, Beruf, Politik und Kultur vornimmt. Versieht m a n diese Funktionsmerkmale jeweils mit konfessionellem Vorzeichen, ergeben sich als Typen die sozialkaritativen Vereine, die missionarischen Vereine, die konfessionellen Berufsverbände, die kirchen- und gesellschaftspolitischen Vereinigungen sowie die konfessionellen Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsvereine. D a Frauen und Jugendliche in den meisten Vereinen allenfalls eine nachgeordnete Rolle spielten, wurden durch oder für sie spezielle Vereine gegründet, so daß die Typisierung nach Vereinszwecken nicht ausreicht, sondern um den sechsten Typus des geschlechts- und altersspezifischen Vereins (Organisation der „ N a t u r s t ä n d e " ) ergänzt werden muß. Die von Kaiser zusätzlich berücksichtigten Vereine für Sozialreform, die nur zwischen 1890 und 1933 von Bedeutung waren, lassen sich unter den gesellschaftspolitischen Typus fassen.

Nicht immer korrespondieren mit den nach Zwecken differenzierten Typen bestimmte Entwicklungsphasen von Erstgründungen oder Hauptaktivität. Eine Schwierigkeit besteht auch darin, daß sich manche Vereine durch einen ganzheitlichen Ansatz gezielt einer Differenzierung nach Spezialzwecken entziehen: So betonte die Innere Mission stets, daß sie aufs Ganze gesehen immer karitative und missionarische Zwecke zugleich verfolgte. Nicht in dieses Schema passen daher die Stadtmissionsvereine, die die verschiedenen Arbeiten der Inneren Mission auf die sozialen Randgruppen der Großstadtbevölkerung anwendeten. Gleichwohl lassen sich die meisten Vereine der Inneren Mission einem Typus zuordnen, da sie in ihrem Vereinszweck aus pragmatischen Gründen begrenzt blieben. Eine andere Art protestantischer Organisationen, die sich der sektoralen Einordnung in das Vereinsspektrum entziehen, sind die (landeskirchlichen) Gemeinschaften, denn als exklusive gemeindeförmige Gebilde mit ganzheitlichem Anspruch auf die Lebenswelt ihrer Mitglieder sprengen auch sie die Definition des begrenzten Vereinszwecks. Im folgenden soll das protestantische Vereinsspektrum anhand einer Auswahl gegenwärtig aktiver Organisationen typologisch entfaltet werden: 3.1. Sozialkaritative Vereine und Verbände: Aufgrund seiner Einbindung in das sozialstaatliche System ist dieser Bereich durch einen besonders hohen Organisationsgrad gekennzeichnet. Lokale Vereine und regionale Zusammenschlüsse diakonischer Einrichtungen werden durch bundesweite Fachverbände vertreten, die das gesamte Spektrum vom Heil- und Pflegesektor (Deutscher Evangelischer Krankenhausverband; Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe-, Deutscher Evangelischer Verband für Altenarbeit) über die Familien- und Jugendarbeit (Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung; Evangelischer Erziehungsverband; Christliches Jugenddorfwerk) bis zur Hilfe in besonderen sozialen Lagen (Evangelische Konferenz für Straffälligenhilfe; Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe; Verband der Deutschen Evangelischen Bahnhofsmission) abdecken. Als Dachverband der Fach- und Landesverbände der Diakonie fungiert das Diakonische Werk der EKD, dem über die Diakonische Arbeitsgemeinschaft evangelischer Kirchen auch die Freikirchen angeschlossen sind. 3.2. Missionarische Vereine und Verbände: Neben Organisationen für den missionarischen und seelsorgerlichen Dienst an besonderen Bevölkerungsgruppen (Verband der evangelischen Binnenschiffergemeinden in Deutschland; Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Evangelische Gehörlosenseelsorge; Studentenmission in Deutschland) bestehen solche, die bestimmte Medien missionarisch nutzen (Deutsche Bibelgesellschaft; Deutsche Zeltmission). Übergeordnete Zusammenschlüsse sind u.a. das Evangelische Missionswerk in Deutschland und der Evangelische Gnadauer Gemeinschaftsverband, die sich wiederum mit anderen zur Arbeitsgemeinschaft Missionarischer Dienste vereinigt haben.

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3.3. Berufsverbände und geistliche Gemeinschaften: Während einige kirchliche Mitarbeiterorganisationen berufspolitische Ziele betonen (Bundesverband Evangelischer Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen; Verband evangelischer Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker), stehen bei anderen geistliche Aspekte im Vordergrund (Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissen-Mutterhäuser, Evangelische Michaelsbruderschaft; Der Johanniterorden); eine Mittelstellung nehmen der Verband der Vereine evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland und der Verband Evangelischer Diakonen- und Diakoninnengemeinschaften in Deutschland ein. Christliche Zusammenschlüsse in nicht-kirchlichen Berufen (z. B. Arbeitsgemeinschaft Christlicher Ärzte) sind in der evangelischen Kirche kaum ausgeprägt. 3.4. Kirchen- und gesellschaftspolitische Vereinigungen: Dieser Bereich ist von großer Vielfalt geprägt und wenig strukturiert. Eine Vielzahl unterschiedlich großer Organisationen existiert in den Bereichen Entwicklung (Evangelischer Entwicklungsdienst; Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt) und Versöhnungsarbeit (Gesellschaften für Christlich-]üdische Zusammenarbeit; Aktion Sühnezeichen Friedensdienste). Nicht selten stehen sich Vereine gegenüber mit gegensätzlichen Zielen zu Fragen der Kirchenpolitik (Bund der Religiösen Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands; Deutsche Evangelische Allianz), der Sozial- und Wirtschaftspolitik (Bundesverband Evangelischer Arbeitnehmerorganisationen; Arbeitskreis Evangelischer Unternehmer in Deutschland) oder des Einsatzes militärischer Mittel (Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer, Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung). 3.5. Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsvereine: Neben den Zusammenschlüssen evangelischer Bildungseinrichtungen (Arbeitsgemeinschaft Evangelischer Schulbünde; Evangelische Akademien in Deutschland; Arbeitskreis Evangelischer Heimvolkshochschulen) sind die Verbände im Publizistik-Sektor zu nennen (Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik; Deutscher Verband Evangelischer Büchereien). Im Wissenschaftsbereich haben sich die Institutionen zum Evangelisch-Theologischen Fakultätentag und die Professoren zur Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vereinigt; andere Vereine fördern spezielle Forschung (Luther-Gesellschaft; Verein für Reformationsgeschichte; Vereine für Regionalkirchengeschichte). Der mitgliederstärkste Verband auf dem Gebiet der christlichen Kunst und Kultur ist der Evangelische Posaunendienst in Deutschland. 3.6. Frauen-, Männer- und Jugendverbände: Im Gegensatz zur schwach ausgeprägten Männerarbeit der EKD differenziert sich die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland in starke Mitgliederverbände (Deutscher Evangelischer Frauenbund; Evangelische Frauenhilfe in Deutschland); andere Vereinigungen existieren außerhalb des Frauenwerks (Weltgebetstag der Frauen). Zum Dachverband Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in der Bundesrepublik Deutschland gehören neben den landeskirchlichen und freikirchlichen Jugendwerken: CVJM-Gesamtverband für Deutschland, Deutscher Jugendverband „Entschieden für Christus" (EC), Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder, Arbeitsgemeinschaft MBK Missionarisch-biblische Dienste unter Jugendlichen und Berufstätigen, Arbeitsgemeinschaft Evangelische Schülerinnenund Schülerarbeit, Ring Missionarischer Jugendbewegungen. 4. Katholisches

Vereinswesen

Wie die protestantischen Vereine unterliegt auch der Verbandskatholizismus den strukturellen Entwicklungen des allgemeinen Vereinswesens. Die Ausführungen über die Typologie gelten also genauso, jene zu den historischen Entwicklungsphasen in großen Teilen auch für die katholischen Vereine, so daß hier in erster Linie auf die Unterschiede zum Verbandsprotestantismus einzugehen ist.

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-•Rationalismus und -»Säkularisation stellten für die katholische Kirche in Deutschland einen besonders schweren Rückschlag dar, der erst allmählich durch die an der römischen Weltkirche orientierte religiöse Erneuerung im Vormärz aufgefangen wurde. Die ersten von katholischen Laien gegründeten Vereine entstanden deshalb erst vergleichsweise spät in den 1840er Jahren: die karitativen Elisabeth- und Vinzenzvereine (1840/45) transportierten sozialfürsorgerische Impulse in das Bürgertum, die zuvor bereits in den neuen karitativen Orden (Barmherzige Schwestern: Vinzentinerinnen, Borrotnäerinnen etc.) lebendig geworden waren. Die Borromäusvereine (1844) dienten der Verbreitung guter Lektüre. Auch der erste Gesellenverein wurde noch vor der Revolution 1846 durch A. —•Kolping in Elberfeld gegründet, doch größere Verbreitung erlangten die Kolpingvereine erst ab 1851. Der spätere Beginn der katholischen Vereinsbewegung markiert auch einen wesentlichen Unterschied zum Protestantismus hinsichtlich der Motivation zur Vereinsgründung und dem Verhältnis zwischen Vereinen und Amtskirche: Während viele evangelische Vereine in den protestantischen Staaten als kritische Reaktion auf soziale und volkskirchliche Defizite des Staatskirchentums entstanden, bildete sich der Verbandskatholizismus aus einer Position der gesellschaftspolitischen Defensive zur Unterstützung der Amtskirche. Da sich der Katholizismus durch die Gebietsverschiebungen in Folge des Wiener Kongresses zuerst in Preußen und später im Reich in einer Minderheitenposition befand, bildete er stärker ein eigenes konfessionelles Milieu als Rückzugsraum und Operationsbasis aus, wozu die Gründung von Vereinen maßgeblich beitrug. Deshalb wurden die Vereinsgründungen vom Episkopat nachhaltig unterstützt und die Massenorganisationen als populäre pressure groups für die politische Forderung nach konfessioneller Parität eingesetzt. Dieser Vorgang ist zuerst während der Revolution von 1848 zu beobachten, als sich überall im Land nach dem amtierenden Papst benannte Piusvereine bildeten und noch im selben Jahr im Katholischen Verein Deutschlands zusammenschlössen; ein bleibendes Ergebnis seiner Tätigkeit sind die seither stattfindenden Deutschen -* Katholikentage als Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands. Während des Kulturkampfes entstand mit dem Verein der deutschen Katholiken (1872—1876) eine weitere informelle Gesamtvertretung des Verbandskatholizismus, die bald wieder zwangsweise aufgelöst wurde. Erst der Volksverein für das katholische Deutschland (1890) wurde zu einer erfolgreichen Sammlungsbewegung mit bis zu 800.000 Mitgliedern, die vor allem mit Sozialreformmodellen, bei der Bekämpfung der Sozialdemokratie und im Volksbildungsbereich hervortrat. Die vor allem vom Mainzer Bischof W.E. von —• Ketteier beförderte Integration des Vereinswesens und seiner sozialen Funktion in den kirchlichen Organismus setzte an der Basis an. Die zuerst im Kolpingverein praktizierte Doppelspitze von geistlichem Präses und Laiensenior wurde zum Vorbild für viele Vereine und sorgte für eine enge Verzahnung bereits auf Gemeindeebene. So gelang es dem katholischen Vereinswesen zumindest in Ansätzen, die Gläubigen durch eine möglichst weitgehende Integration in einen innerkirchlichen Binnenraum vor den Folgen der Industrialisierung und der politischen Repression abzuschirmen. Dazu diente vor allem die frühe und - ungeachtet innerkonfessioneller Konflikte in Einzelfragen - durchgängige Aufnahme christlich-sozialen Gedankengutes im deutschen Katholizismus. Bereits 1862 waren im Münsterland erste Christlichsoziale Bauernvereine entstanden, und neben die Gesellenvereine traten nun Katholische Arbeitervereine, die sich gezielt den Nöten des Industrieproletariats zuwandten und 1870 im Rheinland eine Mitgliederzahl von 10.000 erreichten. Das christlich-soziale Spektrum wurde 1880 durch den Verband Arbeiterwohl erweitert, der sich an die Industriellen wandte und dessen Generalsekretär Franz Hitze (1851-1921) bald zum sozialpolitischen Sprecher des deutschen Katholizismus avancierte, sowie ab 1889 durch die im Grundsatz überkonfessionellen, aber katholisch dominierten Christlichen Gewerkschaften. Mit der Novemberrevolution änderte sich die Situation des Verbandskatholizismus umgekehrt proportional zu der des Protestantismus. Aus ihrer aufgezwungenen Defen-

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sivhaltung befreit und mit der nun politisch maßgeblichen Zentrumspartei an ihrer Seite standen die katholischen Vereine mit beiden Beinen in der Republik. Der 1897 in Freiburg gegründete Deutsche Caritasverband, der die bis dahin unverbundenen karitativen Vereine zusammenfaßte, spielte eine führende Rolle in der Wohlfahrtspolitik. Die Jugendund Frauenorganisationen wuchsen in der weltanschaulich polarisierten Gesellschaft zu Großverbänden heran. Theologisch wurden die Vereinsaktivitäten unter dem Begriff der -»Katholischen Aktion als „Teilnahme am Apostolat der Hierarchie" durch eine päpstliche Enzyklika von 1922 neu definiert. Doch auch das Reichskonkordat von 1933 (-•Konkordate) schützte den Verbandskatholizismus nicht vor seiner Zerschlagung durch den nationalsozialistischen Staat. Nach dem Zweiten Weltkrieg schufen sich die weitgehend reorganisierten Verbände 1952 im Zentralkomitee der deutschen Katholiken eine neue Gesamtvertretung - ein Verbandstypus, den der Protestantismus nie hervorbrachte. Kirchenrechtlich gelten die katholischen Vereine, von denen hier die Rede ist, als freie Zusammenschlüsse katholischer Christen. Um als kirchliche Vereinigung zu gelten, muß ihr Zweck einen Aspekt der kirchlichen Sendung betreffen und eine satzungsmäßige Verbindung mit der kirchlichen Autorität bestehen. Daneben unterscheidet das katholische Kirchenrecht noch die kanonischen Vereine, die institutionell enger mit der Kirche verbunden und deren Satzungen kirchenrechtlich approbiert sind, sowie die kanonischen Lebensverbände, die nur von der kirchlichen Autorität errichtet werden und deren Mitglieder ihr Leben einer am Evangelium orientierten Lebensform verbindlich unterstellen. Nach katholisch-theologischem Verständnis gründet das kirchliche Vereinswesen im Charisma und ist Ausdruck des Laienapostolats, dessen Bedeutung im Zweiten Vatikanum (->Vatikanum I und II) noch einmal deutlich gestärkt wurde. Neben dem kirchlichen —»Amt (ordo) und ergänzend dazu gilt es als eine besondere Gabe an die Kirche zur Verwirklichung bestimmter kirchlicher Zielsetzungen in gemeinschaftlicher Verbundenheit. 5. Verbandsprotestantismus

und verfaßte

Kirche

Seit der Entstehung unabhängiger konfessioneller Vereine war das Nebeneinander von freiem Verbandsprotestantismus und verfaßter Kirche stets problematisch. Es bleibt fraglich, ob freie Vereine einen theologisch legitimierten und amtskirchlich anerkannten Platz in der Kirche haben oder bloß als zeitgebundene Erscheinungen religiösen Lebens faktisch Platz greifen. Die Konflikte begannen im 19. J h . mit der vor allem v o m Neuluthertum vorgetragenen Grundsatzkritik an der angeblich zersetzenden Wirkung der Vereine auf das kirchliche A m t . N a c h d e m die Ausbreitung der Vereine nach 1 8 6 0 kräftig zunahm und eine unmittelbar schädliche Wirkung nicht erkennbar w a r , zeigten besonders die lutherischen Kirchen, wie ein Arrangement und eine amtskirchliche Domestizierung der Vereine möglich w a r , nämlich durch die Plazierung von Konsistorialvertretern in die Vereinsvorstände. N a c h der Jahrhundertwende begann die umgekehrte Phase der aktiven Einflußnahme der Verbände auf die Amtskirche, zuerst durch die Berufung einzelner Verbandsvertreter in die Synoden und nach dem Z u s a m m e n b r u c h des Staatskirchentums durch die Mitarbeit an der Neuordnung der Kirchen. Bereits 1916 hatten sich die großen protestantischen Verbände (Innere Mission, Äußere Mission, Gustav-Adolf-Verein, Evangelischer Bund etc.) zur Konferenz deutscher evangelischer Arbeitsorganisationen zusammengeschlossen. Gemeinsam versuchten sie nun, das kirchliche Vereinswesen in den neuen —•Kirchenverfassungen konstitutiv zu verankern. Das gelang zwar nicht in erhoffter Weise, doch eine begrenzte Vertretung der Vereine in den Synoden wurde festgeschrieben; in der Folgezeit verlor die Konferenz an Bedeutung. Ein erneuter Zusammenschluß des freien Verbandsprotestantismus - wiederum im Z u s a m m e n hang mit Kirchenverfassungsfragen - erfolgte erst wieder 1934: In der Arbeitsgemeinschaft der missionarischen und diakonischen Werke und Verbände kämpften die Verbände gegen ihre Eingliederung in die deutschchristlich beherrschte D E K ; es w a r zugleich der Versuch, sich aus den Konflikten des Kirchenkampfs heraus zu halten, die besonders für die Einrichtungen der Inneren Mission existenzbedrohend waren. Diese indifferente Haltung und die Unkontrollierbarkeit der Bekenntnislage in den Verbänden überhaupt wurden nach 1945 zum Hauptangriffspunkt durch

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Vereinswesen/Kirchliche Vereine I

die Bekennende Kirche, die darin eine Folge der Vereinsform und damit der Entfernung von der Gemeinde sah. Daß der strukturelle Konflikt zwischen Verbänden und verfaßter Kirche in den vergangenen Jahrzehnten immer weniger spürbar ist, muß nicht zuletzt als Folge der nachlassenden Bedeutung des Vereinswesens in Deutschland interpretiert werden. Seit 1971 besteht als „partnerschaftliches Gegenüber zu den Organen der E K D " (AWEK 1999, 377) die Konferenz Kirchlicher Werke und Verbände, der überwiegend nur formale Bedeutung zukommt. Eine starke Gesamtvertretung des Verbandsprotestantismus wird anscheinend nicht mehr benötigt, seit mit dem Einbau der kirchlichen Werke und Verbände in die Kirchenverfassungen die kompensatorische Funktion entfiel, die kirchliche Vereine in Zeiten begrenzter synodaler Mitbestimmungsrechte im Raum der Kirche erfüllten. Die Fragestellung verweist letztlich auf die Rolle der - » L a i e n in der Kirche. Diese ist in der katholischen Kirche im Sinne der Hierarchie kirchenrechtlich und theologisch eindeutig gelöst, auch wenn die W a h r n e h m u n g des Laienapostolats in der Praxis nicht ohne Kompetenzkonflikte bleibt. In der evangelischen Kirche fehlt es hingegen an einer befriedigenden und erst recht a n einer allgemein anerkannten ekklesiologischen oder praktisch-theologischen Grundlage zur Beteiligung von N i c h t - T h e o l o g e n am christlichen Auftrag. Kirchliche Vereine sind als Gegenstand praktischer T h e o l o g i e heute k a u m präsent (vgl. auch u. II). Und ältere Verhältnisbestimmungen bleiben fragwürdig, solange sie in einem ekklesiologischen Kurzschluß von der Gemeinde der Glaubenden die Strukturen der sichtbarer Kirchengemeinde ableiten, neben denen andere F o r m e n kirchlichen Lebens keinen Platz mehr haben. So hat E. Beyreuther (234) dem konfessionellen Verein lediglich den Status als „lebendige Notgemeinde im Zeitalter des Staatskirchentums" zugestehen wollen und damit deutlich gemacht, daß die meisten Vereinszwecke letztlich besser durch sich diakonisch und missionarisch verstehende Parochialgemeinden wahrgenommen werden sollten. Auch H.C. von Hase (225) unterscheidet zwischen dem Verein als berechtigte und notwendige Rechtsform und dem Verein als in ihrer Berechtigung fragliche geistliche Lebensform in der Kirche. Diese Positionen sind bereits formuliert in Auseinandersetzung mit der radikaleren Vereinskritik der 1920er Jahre, die einerseits vom jungkonservativen Lager unter der kämpferischen Alternative „Vereinskirche oder Volkskirche" (Leopold Cordier, nach: Kupisch 245) gespeist wurde, und andererseits durch die -»Dialektische Theologie, die in der Verfolgung von christlich begründeten Spezialzwecken in der weltlichen Öffentlichkeit eine Ablenkung der Kirche von ihrem Verkündigungsauftrag sah. Wo also die freie Vereinstätigkeit nicht gleich als schädlich für die Kirche angesehen wurde, gestand man ihr überwiegend nur eine bedingte Berechtigung als zeitbedingter, befristeter Notbehelf zu. Danach wären die Vereine lediglich Ausdruck eines kirchlichen Defizits und nur solange legitim, bis die verfaßte Kirche die von ihnen behandelten Dinge - soweit sie wesentlich kirchlich sind - selbst übernähme. Das andere Extrem vertrat R. -»Rothe, der im Rahmen seiner Theorie eines neuzeitlichen Christentums den Verein als die historisch notwendige und zeitgemäße Form der Idee von Gemeinde bzw. Kirche sah, die allein den aufgeklärten Christen den adäquaten Rahmen für eine Frömmigkeit des christlichen Bewußtseins bieten könne (vgl. T R E 8,657,36ff.; 16,169,25ff.). Reduziert m a n die Diskussion über die praktisch-theologische Bedeutung des k o n fessionellen Vereinswesens auf die kirchlichen Auswirkungen der Vereinstätigkeit, s o können n o c h immer die Feststellungen M a r t i n Schians (1635ff.) weithin Geltung beanspruchen: Organistorisch konnten die Vereine Fragen angehen, die die landeskirchlich und konfessionell zerklüfteten Amtskirchen nicht zu lösen imstande waren. A u c h gegenwärtig, so ist hinzuzufügen, können sie auf gesellschaftliche Probleme meist früher reagieren als die Amtskirchen. Grundsätzlich fördert der Verein - soweit er nicht selbst behördenartige Strukturen a n g e n o m m e n hat - die Selbsttätigkeit, Freiwilligkeit und Initiative, die Freiheit, Flexibilität und die Gemeinschaft der in ihnen verbundenen Christen, während die Amtskirche vielfach n o c h i m m e r durch hierarchische Strukturen und erstarrte Traditionen gelähmt ist. Im Verein liegt allerdings umgekehrt auch die G e f a h r der Zersplitterung der Kräfte, der innerkirchlichen Konkurrenz, der mangelnden K o n trolle und der Überbetonung der Eigenart. Eine Begründung des kirchlichen Vereinswesens kann sich auch heute noch auf W i chern berufen, der im Hinblick auf die Innere Mission ausgeführt hat, was für alle freie

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Vereinstätigkeit gilt: mit dem Hinweis auf die Berufung aller Glaubenden zum allgemeinen Priestertum tritt W i c h e r n der Ansicht entgegen, d a ß durch die Vereinsorganisation die Kirchlichkeit der Inneren Mission in Frage gestellt sei. Ihre Tätigkeit ist keineswegs v o m kirchlichen A m t abgeleitet; insofern ist sie auch nicht bloß als ein kirchlicher N o t s t a n d zu dulden, sondern genuiner und vollwertiger Ausdruck christlichen Glaubens. Deshalb sind Amt(skirche) und „freie Liebestätigkeit" gleichberechtigte Bestandteile der einen Kirche, und auch dem Amtsträger steht, wie jedem anderen Christen, die freie christliche Betätigung zu (Wichern I, 3 1 6 - 3 2 3 ) . Statt eines Aufgehens der freien Vereinstätigkeit in der verfaßten Kirche zielt W i c h e r n auf eine gegliederte Organisationsstruktur der Vereine neben dem kirchlichen A m t , die auf jeder Ebene v o m Stadtverein über den Landesverein zum Gesamtverein in Kooperation mit der Amtskirche steht, die für diese Z u s a m m e n a r b e i t ihrerseits Instrumente schafft. In dieser in ihrem Wesen gleichberechtigten Kooperation sieht er die „freie Einigung des allgemeinen Priestertums mit dem A m t e " (ebd. 3 4 5 ) . Dabei gründet sein Beharren auf der Selbständigkeit freier christlicher Tätigkeit neben vielen praktischen Erwägungen in den besonderen Gaben ( - » C h a r i s m a ) , die von den N i c h t - T h e o l o g e n in die Vereine eingebracht werden und die nicht ohne Verlust in die verfaßte Kirche zu integrieren sind. M i t W i c h e r n sollte daher die Diversität des kirchlichen Vereinswesens als Vorteil begriffen werden: kirchliche Vereine sind in besonderer Weise lebenslagenorientiert. Die in ihnen vorhandene Möglichkeit zur Ausprägung eigener authentischer Religiosität, die der verfaßten Kirche häufig bedrohlich erscheint, ist gerade eine Chance, Gruppen das Evangelium nahe zu bringen und sie langfristig kirchlich einzubinden, die von der bürgerlichen Kerngemeinde nicht erreicht werden. Literatur AdrBKD. - AWEK. - Winfried Aymans, Kirchl. Vereinigungen. Ein Komm, zu den vereinigungsrechtlichen Bestimmungen des CIC, Paderborn 1988. - Otto Baumgarten, Art. Vereinswesen, Ev. (T. 1 u. 2): R G G 1 5 (1913) 1 6 2 9 - 1 6 3 5 . - Erich Beyreuther, Der christl. Verein - lebendige Notgemeinde im Zeitalter des Staatskirchentums: IMis 50 (1960) 2 3 4 - 2 4 1 . - Karl Buchheim, Der dt. Verbandskatholizismus. Eine Skizze seiner Gesch.: Die Kirche in der Gesellschaft. Der dt. Katholizismus u. seine Organisationen im 19. u. 20. Jh., hg. v. Bernd Hanssler, Paderborn 1961, 3 0 - 8 3 . - Werner Conze, Der Verein als Lebensform des 19. Jh.: IMis 50 (1960) 2 2 6 - 234. - Hans Werner Dannowski, Die Kirchengemeinde u. ihre örtlichen kirchl. Partner: HPTh(G) 3 (1983) 6 1 3 - 6 2 0 . - Martin Greschat, Das Zeitalter der Industrialisierung. Das Christentum vor der Moderne, 1980 (CG 11). - Wolfgang Hardtwig, Art. Verein: G G B 6 (1990) 7 8 9 - 8 2 9 . - Ders., Vereinswesen in Deutschland 1 6 2 0 - 1 8 7 0 . Sozialgesch, der Idee freier Vereinigungen anhand der Begriffe Gesellschaft, Verein, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft, Stuttgart 1987. - Hans Christoph v. Hase, Der Verein als Lebensform in der Kirche: IMis 50 (1960) 225. - Heinz Hürten, Kath. Verbände: Der soziale u. politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1 8 0 3 - 1 9 6 3 , hg. v. Anton Rauscher, München u.a., II 1982,215 - 277. - Ders., Kurze Gesch. des dt. Katholizismus 1 8 0 0 - 1 9 6 0 , Mainz 1986. - Jochen-Christoph Kaiser, Der Verbandsprotestantismus als Problem der neueren Forschung: J H F 13 (1988) 4 6 - 5 1 . - Ders., Sozialer Protestantismus im 20. Jh. Beitr. zur Gesch. der Inneren Mission 1 9 1 4 - 1 9 4 5 , München 1989. - Ders., Konfessionelle Verbände im 19. Jh. Versuch einer Typologie: Kirche in Staat u. Gesellschaft im 19. Jh. Referate u. Fachvortr. des 6. Int. Kirchenarchivtags Rom 1991, 1992 (VAAEK 17) 1 8 7 - 2 0 9 . - Ders., Die Formierung des protestantischen Milieus. Konfessionelle Vergesellschaftung im 19. Jh.: Religion im Kaiserreich. Milieus - Mentalitäten - Krisen, hg. v. Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann, Gütersloh 1996 (Rel. Kulturen der Moderne 2) 2 5 7 - 289. - Ursula Krey, Vereine in Westfalen 1 8 4 0 - 1 8 5 5 . Strukturwandel, soziale Spannungen, kulturelle Entfaltung, Paderborn 1993 (Forschungen zur Regionalgesch. 10). - Karl Kupisch, Recht u. Unrecht der theol. Kritik am Verein seit 1919: IMis 50 (1960) 2 4 2 - 252. — Hans-Walter Krumwiede, Die Unionswirkung der freien ev. Vereine u. Werke als soziales Phänomen des 19. Jh.: Um ev. Einheit. Beitr. zum Unionsproblem, hg. v. Karl Herbert, Herborn 1967, 1 4 7 - 1 8 4 . - Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur im späten 18. u. frühen 19. Jh.: Geschichtswiss. u. Vereinswesen im 19. Jh., hg. v. Hartmut Boockmann u.a., 1972 (VMPIG 1) 1 - 4 4 . - Ders., Dt. Gesch. 1 8 0 0 - 1 8 6 6 . Bürgerwelt u. starker Staat, München 1983. - Ders., Religion im Umbruch. Deutschland 1 8 7 0 - 1 9 1 8 , München 1988. - Kurt Nowak, Gesch. des Christentums in Deutschland. Religion, Politik u. Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte

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des 20. J h . , München 1995. - Martin Schian, Art. Vereinswesen, Ev. (T. 3): R G G 1 5 (1913) 1 6 3 5 1637. - Gury Schneider-Ludorff, Magdalene v. Tiling. Ordnungstheol. u. Geschlechterbeziehungen, 2 0 0 1 ( A K Z G B 35). - Klaus Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens während der Industriellen Revolution in Deutschland ( 1 8 5 0 - 1 8 7 3 ) : Vereinswesen u. bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, hg. v. O t t o Dann, 1984 ( H A T . B N F 9) 5 5 - 1 1 4 . - Verbandskatholizismus? Verbände, Organisationen u. Gruppen im dt. Katholizismus, hg. v. Heinrich Krauss u.a., Kevelaer 1968. - Johann Hinrich Wichern, SW, hg. v. Peter Meinhold u.a., 10 Bde., B e r l i n / H a m b u r g 1 9 5 8 - 1 9 8 8 .

Michael Häusler

II. Praktisch-theologisch (Literatur S. 656)

Die heutige - * Praktische Theologie thematisiert den Verein als eine Rechts- und Gesellungsform in der Kirche eher selten. Die gesellschaftlichen Umstrukturierungen der Nachkriegszeit, die Modernisierungs- und Individualisierungsschübe mit ihren Folgen für die Kirchen (Bedeutungsverlust, siehe Mitgliedschaftsuntersuchungen der -»•Evangelischen Kirche in Deutschland [EKD]) waren so gravierend, daß in der Gemeindetheologie und -Soziologie zwar die Gruppen und ihre Bedeutung inzwischen gewürdigt werden, das weiterbestehende Vereinswesen jedoch unberücksichtigt blieb. Das mag auch daran liegen, daß die freie Verbindung von Menschen zur Erreichung dauernder gemeinschaftlicher Zwecke nicht mehr primär die Organisationsform des Vereins wählt, sondern sich die neuen Sozialitäten eher als Initiativen und Gruppen, besonders als Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen, konstituieren und nur gegebenenfalls die Rechtsform des Vereins wählen. Die kirchliche Reorganisation nach der Zeit des -»•Nationalsozialismus setzte zwei Tendenzen fort, die bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik begonnen hatten. Zum einen die Umstrukturierung der großen Stadtgemeinden zu kleineren, überschaubaren Gemeinden, die sich am Vereinsideal orientierten. So teilte der Dresdner Pfarrer Emil Sülze bereits 1881 seine Gemeinde in Bezirke ein, deren Mitglieder sich wie in Vereinen „kennen und lieben und ihre Liebe durch die Tat, vor allem durch ernste seelsorgerische Arbeit beweisen" (Sülze 196). Gegen dieses romantisch beeinflußte Konzept der Gemeinde als Gemeinschaft stellte die -»Dialektische Theologie die Verkündigung des -»Wortes Gottes in den Mittelpunkt, also die Gemeinde des Wortes, betonte allerdings mit der dritten Barmer These (vgl. T R E 24,56,12ff.) dann doch in der Bezeichnung der -»Kirche als „Gemeinde von Brüdern" das genossenschaftliche Element, ein Gedanke, den -»Bonhoeffer in der Tegeler Zelle noch einmal verschärfte, indem er Kirche exklusiv als „Kirche für andere" definierte. In der Adenauer-Zeit wurde jedoch mit dem Programm einer flächendeckenden Volkskirche aus kleinen lebendigen, überschaubaren Gemeinden noch einmal das Konzept einer christlichen Parallelgesellschaft befördert, das heute allerdings unübersehbar in die Krise geraten ist. Z u m andern ist die Verkirchlichung des freien Verbandsprotestantismus und damit der kirchlichen Vereine, wesentlich befördert durch die Kirchenpolitik im Dritten Reich, ein unumkehrbarer Prozeß. Das früher gespannte Verhältnis zwischen dem freien kirchlichen Vereinswesen und der verfaßten Kirche hat sich gerade auch im diakonischen Bereich dergestalt gelöst, daß das Diakonische Werk zwar den Charakter eines freien Werks der E K D in Vereinsform hat, aber doch fest in kirchlicher Hand ist. Das gilt auch für die Schüler-, Jugend- und Frauenarbeit. Heutiges Vereinswesen wird vor allem mit dem Bereich von Sport und kultureller Geselligkeit identifiziert, das protestantische Milieu spielt darin kaum noch eine Rolle. Neue Gruppen und Vereine bildeten sich dort, wo neue gesellschaftliche Herausforderungen auftauchten, wie in der Friedens- und Umweltarbeit, die von den Kirchen

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nur zögernd angenommen wurden. In anderen Bereichen genügte in der Regel die Bildung von übergemeindlichen Pfarrämtern, um der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung kirchlicher Aufgaben zu entsprechen. Man könnte sagen, daß mit der Demokratisierung der Gemeindestrukturen in den 1970er Jahren, besonders der Leitung der Gemeinde durch den demokratisch gewählten Kirchenvorstand, sich etwas von dem allgemeinen Priestertum (-»Priester/Priestertum II) verwirklicht hat, das im 19. Jh. nur in Gestalt freier Vereinstätigkeit sich umsetzen konnte. Damals brauchte die freie Liebestätigkeit der Christen den Verein, um sich zu verwirklichen. Heute kann sie das im Rahmen der demokratisierten -»Volkskirche und der Diakonischen Werke tun, zumal die Dienste und Werke als authentische Gestalt von Kirche, als zweite Säule lebensbegleitender Kirche anerkannt sind. Auch die -»Spiritualität als andere Grundform des Christseins kann selbsttätig in den Gemeinden mit und ohne Anleitung der Pfarrer gelebt werden und braucht keine besonderen Vereinsformen. Vor allem haben die Gruppenbildungen in der Gemeinde die Vereinsbildungen neben der Gemeinde ersetzt. Die heutige sog. „lebendige Gemeinde" bietet für verschiedene Alters- und Interessengruppen, Vereinigungen und Hauskreise ein vielfältiges Handlungssystem und Interaktionsnetz. Geht bei dieser Vielfältigkeit die Eindeutigkeit verloren, kann es allerdings vermehrt zu Gruppenbildungen außerhalb der Gemeinde kommen. Gerade selbstorganisierte Gruppen sind für eine zeitgemäße Ausprägung des christlichen Glaubens eine wichtige Sozialform und haben den emanzipatorischen Ansatz der Vereine im 19. Jh. fortgesetzt. Die Kirchengemeinde als kirchlicher Ortsverein (so zuerst Ernst -»Lange) hebt sich im Vergleich mit den Basisorganisationen anderer gesellschaftlicher Großinstitutionen wie Gewerkschaften, Verbänden und Parteien, hinsichtlich der Mitgliederaktivität und der Partizipationsmöglichkeiten deutlich ab. Zu fragen wäre daher, ob der Gebrauch des Begriffs Verein für kirchliche Aktivität vor Ort etwas völlig Fremdes damit in Verbindung bringt oder etwas mit anderen gesellschaftlichen Aktivitäten Vergleichbares ausdrückt, nämlich die Selbsttätigkeit der Laien, sprich: des Menschen als eines politischen und religiösen Wesens. H.-J. Benedict definierte, ausgehend von der Funktion des Gottesdienstes als zentralem Heilsdrama der gnädigen Zuwendung Gottes, die Gemeinde als „kulturellen Verein". In ihren vielfältigen kulturellen Aktivitäten von der Kinder- und Jugendarbeit über Hobbygruppen für Erwachsene bis hin zu sozialen gemeinwesenbezogenen Aktivitäten kommt das religiöse Anliegen in abgestufter Form zum Ausdruck. Kennzeichen der Gemeinde als kirchlicher Kulturverein ist ihre universale Ausrichtung, die den partikularen Zweck einer christlich-religiösen Beheimatung übersteigt und sich immer wieder für alle Menschen - und besonders für Randgruppen — öffnet. Im Zeitalter des religiösen Marktes befindet sich die christliche Gemeinde als Kultverein in Konkurrenz mit anderen Sinnangeboten. Sie kann das Besondere ihres Gemeindeseins, Teil des Volkes Gottes in der Welt zu sein und in der Nachfolge Jesu das Ja zum Leben zu leben, gerade dann umsetzen, wenn sie die Fragen nach Hoffnung, Sinn und Glück jenseits der erlebnisorientierten Befriedigungen wachhält. Daß Gott sich auch in Gruppen und Aktivitäten neben der Kirche offenbart, hat die ökumenische Bewegung schon früh erkannt. Im konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Ende der 1980er Jahre wurden deswegen auch die Gruppen und Basisbewegungen an den Beratungen und Konferenzen beteiligt. Freie Kirchlichkeit in Gestalt kirchlicher Vereine erwies sich vor allem in der von R.v. -»Thadden-Trieglaff gegründeten Kirchentagsbewegung (-»Kirchentage) als Erfolgsmodell. Der alle zwei Jahre stattfindende Deutsche Evangelische Kirchentag hat sich seit dem Ende der 1970er Jahre zur größten Laienvereinsbewegung und zur evangelischen „Zeitansage" entwickelt. Sinkende Kirchensteuereinnahmen führen zur Suche nach anderen Finanzierungsquellen bei kirchlichen Zentralaufgaben und zum Rückgriff auf Vereinsgründungen.

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Vereinswesen/Kirchliche Vereine II

Kirchliche Bauerhaltungsmaßnahmen kommen ohne zusätzliche Sponsoren nicht mehr aus. Die Renovierung von Orgeln, Glocken und Türmen ist oft nur noch zu leisten, wenn entsprechende Bau- und Fördervereine notwendige Millionenbeträge sammeln. Auch die Finanzierung einzelner besonderer Pfarrstellen und anderer Mitarbeiter benutzt das Instrument des Fördervereins. Schließlich werden für besondere gesellschaftliche Konfliktkonstellationen (Drogenprävention, zivile Konfliktregelung, rechte Gewaltszene) Fördervereine gegründet, die aber wenig Mitgliederaktivität aufweisen. Eine neue Gestalt der freien Vereinstätigkeit in der Zivilgesellschaft sind die intermediären Projekte im sozialen Feld, die zwischen Staat (Leistungsregelung durch Gesetze und Bürokratie), dem Markt, dessen Logik durch Geld und Wettbewerb bestimmt wird, und Gemeinschaften/informellen Netzen, in denen sich Menschen auf der Basis von Freundschaften, Solidarität und moralischer Bindung unterstützen, angesiedelt sind. Zwischen diesen Eckpunkten eines sog. „Wohlfahrtsdreiecks" läßt sich das Spektrum verschiedenster Initiativen, Kooperativen, Selbsthilfegruppen eintragen. Kleine, meist lokal operierende Organisationen mit kooperativen, hierarchiearmen Arbeits- und Angebotsstrukturen, hervorgegangen aus den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, haben sich in den 80er Jahren professionalisiert und in den 90er Jahren noch einmal einen Schub durch die neue Sozialkultur erhalten. Beschäftigungsprojekte wie Stadtteilcafes und Textilwerkstätten, Wohnungslosen-Initiativen (Hinz & Kunzt in Hamburg), Selbsthilfegruppen verwaister Eltern und Flüchtlingsgruppen (Kirchenasyl) haben sich aus spontanen Impulsen der Barmherzigkeit institutionalisiert und in Vereinsstrukturen organisiert. Die neue Sozialkultur ist Nothilfe für die Armen, wenn andere Sicherungssysteme versagen, Lernfeld für Christinnen und Christen, die bislang Hilfe delegiert haben und so die Handlungsfähigkeit des Glaubens neu entdecken, und schließlich Teil einer den Sozialstaat ergänzenden Zivilgesellschaft. Dieses intermediäre Spektrum bildet sich auch zwischen Kirchengemeinden, Kirchenkreisen, Diakonischen Werken/Komplexanstalten und staatlicher Bürokratie, wenn vor Ort in der Kirchengemeinde eine Notlage „entdeckt" wird, aber mit gemeindlichen Mitteln allein nicht beantwortet werden kann. Die intermediären Vereinsprojekte lassen so die Umrisse einer neuen sozial und politisch aktiven Zivilgesellschaft erkennen, in der das Handeln aus christlicher Motivation nicht mehr einen Vorrang vor anderen Motivationen beansprucht, sondern in menschenrechtlicher Perspektive die Kooperation mit anderen zivilgesellschaftlichen Kräften advokatorisch für die und mit den Schwachen und Benachteiligten nützt. Die Besonderheit kirchlich-diakonischer Sozialkultur in Vereinen zeigt sich u.a. in der Begleitung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch -»Beratung und Seelsorge sowohl auf Gemeindeebene wie auf der der Diakonischen Werke, sie führt zu Orten der Begegnung und des Austauschs. Literatur Hans-Jürgen Benedict, Kleinbürgerliche Politisierung. Zur Partizipationsform des Vereinslebens u. der Verbandstätigkeit: Hans-Eckehard Bahr (Hg.), Politisierung des Alltags. Gesellschaftliche Bedingungen des Friedens, Darmstadt 1972, 7 0 - 9 1 . - Ders., Die Gemeinde Jesu Christi als kultureller Verein?: P T H 77 (1988) 3 9 4 - 4 0 5 . — Ders., Diakonie zw. soziale Bewegung u. sozialer Dienstleistung: Albert Krölls (Hg.), Neue Steuerungsmodelle, Hamburg 1996, 8 0 - 1 0 1 . - Adalbert Evers/Thomas Olk (Hg.), Wohlfahrtspluralismus. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft, Opladen 1996. - Hubert Frankemölle (Hg.), Kirche v. unten. Alternative Gemeinden, München 1981. - Herbert Haslinger (Hg.), Hb. prakt. Theol., Mainz, II 2000, bes. 276 - 2 8 5 . 4 1 0 - 4 1 9 . - Herz u. Mund u. Tat u. Leben. Grundlagen, Aufgaben u. Zukunftsperspektiven der Diakonie. Eine ev. Denkschr., im Auftrag des Rates der EKD hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1998. - Herbert Lindner, Kirche am Ort, Stuttgart 1994 NA 2000. - Wolfgang Lück, Praxis Kirchengemeinde, Stuttgart 1978. - Michael Opielka, Die solidarische Gesellschaft, Opladen 1997. - Rudolf Roosen, Die Kirchengemeinde - Sozialsystem im Wandel, 1997 (ArPrTh 9). - Emil Sülze, Die ev. Gemeinde, Gotha 1891. - Rainer Volz, Die Kirche - ein „Verein" wie jeder andere?: Joachim Matthes (Hg.), Kirchenmitgliedschaft im Wandel, Gütersloh 1990, 249 - 2 6 3 .

Hans-Jürgen Benedict

Vereinte Nationen/Völkerbund

65 7

Vereinte Nationen/Völkerbund 1. Der Völkerbund 1 9 1 9 - 1 9 4 6 Literatur S. 662)

1. Der Völkerbund

2. Die Vereinten Nationen 1945 bis zur Gegenwart

(Quellen/

1919-1946

1.1. Entstehung, Anliegen und

Scheitern

Pläne zur Gründung eines kollektiven Systems der internationalen Friedenssicherung gab es bereits während des Ersten Weltkrieges. Unter ihnen wurde der aus dem März 1918 stammende britische Phillimore-Bericht besonders bekannt, da dieser dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson (1856-1924) als Grundlage seiner Konzeption vom Völkerbund (engl. League of Nations; frz. Société des Nations) — eindrucksvoll entfaltet in den sogenannten 14 Punkten vom 8. Januar 1918 vor dem amerikanischen Senat - diente. Im Januar 1919 setzte dann die Pariser Friedenskonferenz eine Völkerbundkommission ein, deren vorgelegter britisch-amerikanischer Entwurf am 28. April 1919 von den 32 Siegerstaaten des Ersten Weltkrieges in einer überarbeiteten Fassung einstimmig als Völkerbundsatzung angenommen wurde. Die Präambel formulierte als wichtigstes Ziel des Völkerbundes die „Förderung der Zusammenarbeit unter den Nationen und [die] Gewährleistung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit". Als Hauptorgane wurden die am 15. November 1920 erstmals tagende Bundesversammlung, der Rat und das ständige Sekretariat mit Sitz in -»Genf bestimmt, denen verschiedene Hilfsorgane, wie beispielsweise das „Hochkommissariat des Völkerbundes für die russischen Flüchtlinge" oder die Internationale Arbeitsorganisation zur Seite standen. Dem Ausbruch und Verlauf des Zweiten Weltkrieges vermochte der Völkerbund jedoch nichts entgegenzusetzen, so daß mit seiner offiziellen Auflösung durch den Beschluß der Bundesversammlung (18. April 1946) auch die supranationalen Ideale der Zwischenkriegszeit an ihr Ende gekommen waren. Die vielfältigen Ursachen für das Versagen des Völkerbundes sind trotz der Öffnung des Völkerbundarchives (1969) noch nicht zusammenhängend aufgearbeitet worden. Neben den fehlenden Exekutivmöglichkeiten, der engen Verknüpfung mit den Pariser Friedensverträgen und den nationalstaatlichen Interessen spielte vor allem die nie realisierte universale Mitgliedschaft eine wichtige Rolle. Die überwiegend durch die Siegermächte geprägte Organisation zählte zu keinem Zeitpunkt mehr als 57 Mitglieder. Hinzu kam, daß die USA nie dem Völkerbund beitraten und die Sowjetunion erst dann Mitglied wurde (1934), als Deutschland und Japan den Völkerbund schon verlassen hatten. 1.2. Unterstützung durch die

Ökumene

Vor allem protestantische Theologen aus den USA, der Schweiz und Schweden machten sich nach dem Ersten Weltkrieg zu Fürsprechern einer internationalen Friedensorganisation, von der sie hofften, daß sie das Fundament einer neuen Weltordnung mit christlicher Ausrichtung legen würde. Diese solle demokratisch sein und zwischenstaatliche Konflikte ausgleichend lösen, formulierte dazu am 12. Dezember 1918 in Anlehnung an die 14 Punkte Wilsons der einflußreiche Bundesrat der christlichen Kirchen in den USA durch sein Exekutivkommitee. Er begann in der Folgezeit mit einer Vielzahl unterstützender Aktionen für den Völkerbund, die auch nach der endgültigen Ablehnung der Völkerbundakte durch den amerikanischen Senat im März 1920 nicht nachließen. Zugleich brachte die Gründung des Völkerbundes einen entscheidenden Motivationsschub für die Vision eines christlichen Internationalismus, wie sie zuversichtlich und leidenschaftlich von den ersten Wegbereitern der Ökumenischen Bewegung (ökumenischer Rat der Kirchen; —»Ökumene) vertreten wurde. N. ->Söderblom, Erzbischof von Uppsala, prägte hier neue Begriffe wie „evangelische Katholizität" oder „ökumenischer Kirchenrat" und entwickelte analog zur Völkerbundsidee ein föderatives Konzept zur

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Vereinte Nationen/Völkerbund

Schaffung einer Internationalen der christlichen Kirchen. Mit großen Hoffnungen auf Impulse für die eigene ökumenische Arbeit verlegten der Weltbund der Christlichen Vereine junger Männer (CVJM) und der Christlichen Vereine junger Frauen (CVJF), der Weltbund christlicher Studenten und die Forschungsabteilung des 1930 entstandenen Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum ihre Zentralen an den Sitz des Völkerbundes nach Genf. 2. Die Vereinten 2.1. Gründung

Nationen und

1945 bis zur

Gegenwart

Selbstverständnis

Vor dem Hintergrund des gescheiterten Völkerbundes unterzeichneten am 14. August 1941 der amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt (1882-1945) und der britische Premierminister Winston Churchill (1874-1965) die Atlantik-Charta, die Grundzüge einer neuen Nachkriegsordnung skizzierte und sich für die Schaffung einer Weltorganisation zur Friedenssicherung aussprach. Ihr schloß sich die am 1. Januar 1942 in Washington abgegebene Erklärung der Vereinten Nationen an, in der sich unter der Führung der USA, der Sowjetunion, Großbritanniens und Chinas 26 weitere gegen Deutschland und die Achsenmächte verbündete Staaten zu einem gemeinsamen Kriegsbündnis zusammengefunden hatten. Nach der Moskauer Außenministerkonferenz stellte dann eine vom 21. August bis 7. Oktober 1944 tagende Expertenkonferenz mit amerikanischen, sowjetischen, britischen und chinesischen Vertretern in Dumbarton Oaks (Washington D.C.) den ersten Satzungsentwurf für die zu gründenden Vereinten Nationen (engl. United Nations Organisation [UNO]; frz. Organization des Nations Unis [ONU]) vor. Die endgültige Fassung dieser Satzung wurde schließlich als Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) zusammen mit dem Statut des Internationalen Gerichtshofes auf einer Tagung in San Francisco (24. April bis 26. Juni 1945) von den Delegierten aus 50 Staaten am 25. Juni 1945 einstimmig angenommen und trat am 24. Oktober 1945 in Kraft. Im Gegensatz zur Völkerbundsatzung wurde die C h a r t a der Vereinten Nationen nicht an weitere Friedensverträge gekoppelt und stellte somit einen zeitlich nicht begrenzten völkerrechtlichen Vertrag ( - » V ö l k e r r e c h t ) dar. Ihr Selbstverständnis k o m m t bereits in der mit der Wendung „ W i r , die Völker der Vereinten Nationen - fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren . . . " beginnenden Präambel zum Ausdruck und wird im Kapitel 1 unter Zielen und Grundsätzen weiter entfaltet. Dazu zählt der Artikel 1 U N - C h a r t a : 1. die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit, 2. die „freundschaftlichen, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der V ö l k e r " beruhenden Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln, 3. die Herbeiführung internationaler Z u s a m m e n a r b e i t und „die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechtes, der Sprache oder der Religion" sowie 4. „ein Mittelpunkt zu sein" für die Verwirklichung der gemeinsamen Ziele. D a r a n anknüpfend werden sieben weitere Handelsgrundsätze im Artikel 2 U N - C h a r t a dargestellt, u.a. das Prinzip der „souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder", die Einhaltung von „Treu und G l a u b e n " , das Gebot der friedlichen Konfliktregelung, der internationale Verzicht auf die „ A n d r o h u n g oder Anwendung von G e w a l t " sowie das Verbot des ,,Eingreifen[s] in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates g e h ö r e n " . Dieses klassische Grundprinzip der Vereinten Nationen erfuhr jedoch seit den 1990er Jahren mit der Zun a h m e gewaltsamer innerstaatlicher Konflikte - wie beispielsweise im ehemaligen Jugoslawien und in Somalia - eine immer engere Auslegung, so daß mittlerweile M a ß n a h m e n zum Schutz von Menschen-, Minderheiten- und Volksgruppenrechten als ein internationales, und nicht mehr nur als ein innerstaatliches Anliegen betrachtet werden.

2.2. Die Allgemeine

Erklärung

der Menschenrechte

1948

Neben der internationalen Friedenssicherung entwickelte sich der Schutz der -»Menschenrechte zu einem weiteren Arbeitsschwerpunkt der UNO. Bereits im Frühjahr 1945, als die Charta der Vereinten Nationen angenommen wurde, drängten verschiedene kirchliche Gruppen und Vereinigungen, hauptsächlich in den USA, öffentlich auf die Ausarbeitung ausführlicher Bestimmungen zum Schutz von Menschenrechten. Neben der

Vereinte Nationen/Völkerbund

659

von amerikanischen Katholiken 1947 vorgelegten Menschenrechtserklärung A Declaration of Human Rights. A Statement just drafted by a Commitee appointed by the National Catbolic Weifare Conference spielten hierbei die Beiträge der 1946 entstandenen Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten (KKIA; engl. CCIA) (-•Ökumene 3.2.4.) eine wichtige Rolle. Ihr erster Direktor, der lutherische Theologe Frederick Nolde (1899 - 1 9 7 2 ) aus den USA, trug den Vereinten Nationen dieses Anliegen im Namen von 42 nichtstaatlichen Organisationen vor, woraufhin die Vollversammlung den Wirtschafts- und Sozialrat der UNO mit der Vorbereitung einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beauftragte. Deren endgültige Fassung wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung mit Resolution 217 A (III) angenommen und stellte, obwohl sie lediglich deklaratorischen und keinen rechtsverbindlichen Charakter besaß, zum ersten Mal in der internationalen Staatengemeinschaft mehrheitlich anerkannte Normen für die Menschenrechte auf. Ergänzt wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Dezember 1966 durch zwei Folgedokumente sowie 1976 durch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche und kulturelle Rechte und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. 2.3. Hauptorgane

der Vereinten

Nationen

Nach Artikel 7 Absatz 1 UN-Charta besteht die Kernorganisation der UNO aus sechs Hauptorganen: der Generalversammlung, dem Sicherheitsrat, dem Wirtschaftsund Sozialrat, dem Treuhandrat, dem Internationalen Gerichtshof und dem Sekretariat. Diese können „je nach Bedarf" dauerhafte oder zeitlich befristete Neben- oder Hilfsorgane einsetzen (Art. 7 Abs. 2). Die Generalversammlung tritt dreimal im Jahr zusammen und fungiert als Plenum der Vereinten Nationen, in dem jedes Mitglied ohne Rangunterschiede eine Stimme hat. Sie besitzt vor allem politische Leitfunktion; ihre nach außen gerichteten Kompetenzen sind allerdings beschränkt und die von ihr abgegebenen Deklarationen oder Erklärungen völkerrechtlich nicht verbindlich. Befaßt sich der Sicherheitsrat mit einem internationalen Konflikt, darf die Generalversammlung dazu keine Empfehlung geben, es sei denn, auf ausdrücklichen Wunsch des Sicherheitsrates (Art. 12 Abs. 1 UN-Charta). Nach Forderungen von Dritte-Welt-Staaten wurden einige Sonderorgane der Generalversammlung geschaffen, die eng mit dem Wirtschafts- und Sozialrat zusammenarbeiten. Dazu gehören das Kinderhilfswerk (UNICEF), die Welthandelskonferenz (UNCTAD), das Entwicklungsprogramm (UNDP) und das Umweltprogramm (UNEP). Dem Sicherheitsrat, dessen Hauptaufgabe in der „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" besteht, gehören Vertreter aus 15 Mitgliedstaaten an, darunter fünf Ständige und zehn Nichtständige Mitglieder. Nach Art. 23 Abs. 1 UNCharta zählen die Volksrepublik China, Frankreich, Rußland, Großbritannien und die USA zu den Ständigen Mitgliedern; die Nichtständigen Mitglieder werden alle zwei Jahre nach verbindlichen regionalen Verteilungskriterien von der Generalversammlung gewählt. Beschlüsse des Sicherheitsrates bedürfen der Zustimmung von mindestens neun Mitgliedern, allerdings müssen bei Beschlüssen, bei denen es nicht um Verfahrensfragen geht, alle fünf Ständigen Mitglieder zustimmen (faktisches Vetorecht). Da der Sicherheitsrat völkerrechtlich als Organ im Namen der Organisation und nicht der einzelnen Mitgliedstaaten handelt, besitzt er umfangreiche Befugnisse und Vollmachten zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und bei zu ergreifenden Maßnahmen bei Friedensbrüchen, Friedensbedrohungen oder Angriffshandlungen (Kapitel VI und VII UN-Charta). Viele in der UN-Charta vorgesehenen Friedenssicherungsmechanismen konnten allerdings während der Zeit des Ost-West-Konfliktes nicht angewendet werden, so daß sich erst seit Beginn der 1990er Jahre zahlreiche neue Verfahren herausgebildet haben. Zu den schon früher gebräuchlichen Instrumentarien der Waffenstillstandssicherung und Konfliktdämpfung ist der Einsatz von UN-Friedenstruppen zum Schutz humanitärer Hilfsaktionen für Bürgerkriegsflüchtlinge und zur Absicherung von Schutzzonen für vom

660

Vereinte Nationen/Völkerbund

Völkermord bedrohte ethnische Minderheiten getreten. Diese als friedenserhaltende oder friedenssichernde Operationen (peacekeeping Operations) bezeichneten Aktionen reichen von der Entsendung militärisch unbewaffneter Beobachter („Blaumützen") bis zum Einsatz leichtbewaffneter militärischer Einheiten als Friedenstruppe („Blauhelme"). Der Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), dem 54 von der Generalversammlung gewählte Mitglieder angehören, besitzt selbst keine Exekutivbefugnisse, weshalb seine Empfehlungen für die Mitgliedstaaten auch keine rechtliche Verbindlichkeit haben. Er kann jedoch „über internationale Angelegenheiten auf den Gebieten der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Kultur, der Erziehung, der Gesundheit und verwandten Gebieten Untersuchungen durchführen oder bewirken sowie Berichte abfassen oder veranlassen" (Art. 62 UN-Charta). Ebenso kann er Empfehlungen zur Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten abgeben (ebd.). Der vor dem Hintergrund des Mandatssystems des Völkerbundes entstandene Treuhandrat hat mit der Unabhängigkeit des letzten verbliebenen Treuhandgebietes, der Inselrepublik Palau, 1994 seine UNO-Aufgaben faktisch beendet (->Kolonialismus). Über seine formelle Auflösung ist noch keine Entscheidung getroffen worden. Der Internationale Gerichtshof, dessen Vorläufer beim Völkerbund der Ständige Gerichtshof war, hat seinen Sitz in Den Haag und ist für die Klärung zwischenstaatlicher Rechtsstreitigkeiten und internationaler politischer Streitfälle zuständig. Allerdings hat das aus 15 unabhängigen Richtern bestehende Gericht in den vergangenen 50 Jahren seine Entscheidungen kaum durchsetzen können. Dem Sekretariat der Vereinten Nationen gehören der Generalsekretär und sein Stab an. Der Generalsekretär wird auf Empfehlung des Sicherheitsrates für jeweils fünf Jahre von der Generalversammlung gewählt. Seit dem 1. Januar 1997 hat der Ghanaer Kofi Annan dieses Amt inne, seine Vorgänger waren: der Ägypter Boutros Boutros-Ghali ( 1 9 9 2 - 1 9 9 6 ) , der Peruaner Javier Perez de Cuellar ( 1 9 8 2 - 1 9 9 1 ) , der Österreicher Kurt Waldheim ( 1 9 7 2 - 1 9 8 1 ) , der Birmane Sithu U Thant ( 1 9 6 1 - 1 9 7 1 ) , der Schwede Dag Hammarskjöld ( 1 9 5 3 - 1 9 6 1 ) und der Norweger Trygve Lie ( 1 9 4 6 1952). Hauptsitz der Vereinten Nationen ist seit dem 14. Dezember 1946 New York, wo in der Regel auch die Hauptorgane zusammentreten; es können jedoch auch andere Tagungsorte vereinbart werden. In Genf hat die U N O mittlerweile im früheren Völkerbundgebäude einen europäischen zweiten Sitz eingerichtet.

2.4. Zwischenstaatliche

Organisationen

Eine Vielzahl unterschiedlichster zwischenstaatlicher Organisationen ist durch besondere vertragliche Regelungen mit der U N O verbunden. Diese Sonderorganisationen (Art. 57 und 63 UNCharta) sind eigenständige völkerrechtliche Subjekte und besitzen eine eigene Satzung, eigene Organe und einen eigenen Haushalt. Ihre Mitgliederschaft ist nicht von der Zugehörigkeit zu den Vereinten Nationen abhängig. Zu diesen Sonderorganisationen gehören: die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Internationale Währungsfonds (IMF), die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank, IBRD), die Internationale Finanz-Corporation (IFC), die Internationale Entwicklungsorganisation (IDA), die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO), der Weltpostverein (UPU), die Internationale Fernmeldeunion (ITU), die Weltorganisation für Meteorologie (WMO), die Internationale Seeschiffahrtsorganisation (IMO), die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) und die Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (UNIDO).

2.5. Schwerpunkte

kirchlichen

Engagements

Analog zu ihren heterogenen Organisationsformen nehmen auch die Kirchen sehr vielfältige Partizipationsmöglichkeiten in Anspruch, um die Arbeit der Vereinten Nationen zu unterstützen. Als Nichtmitglied der Vereinten Nationen hat der Heilige Stuhl ( - * Vatikan) - wie beispielsweise die Schweiz - den offiziellen Beobachterstatus zuerkannt bekommen. Unter dem Gedanken des christlichen Universalismus hat der Vatikan wiederholt die Stärkung der internationalen Völkergemeinschaft begrüßt und unterstützt (vgl. etwa die am 11. April 1963 veröffentlichte Enzyklika Pacetn in Terris von Papst -•Johannes XXIII.), seine Vertreter arbeiten in zahlreichen Organen, Sonderorganisa-

Vereinte Nationen/Völkerbund

661

tionen und Ausschüssen der UNO mit. Papst Johannes Paul II. (seit 1978 amtierend) richtete zweimal direkt das Wort an die Generalversammlung der Vereinten Nationen: am 2. Oktober 1979 und zum 50. Jahrestag der Allgemeinen Menschenrechtserklärung am 15. Oktober 1995. Von Anfang an hat auch der im Aufbau begriffene Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) durch seine 1946 gegründete Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten die Arbeit der Vereinten Nationen begleitet und vor allem den frühen Debatten um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte - und hier insbesondere zu den Bestimmungen über die -»Religionsfreiheit (Art. 18) - wesentliche Impulse gegeben. Seit ihrer Akkreditierung vom 1. Januar 1947 als eine der ersten Nichtstaatlichen Organisationen (Non-Governmental Organization [NGO]) bei der UNO erhielt die KKIA als anerkannte Vertreterin der protestantischen Kirchen zahlreiche zusätzliche Einfluß- und Informationsmöglichkeiten bei den Organen und Sonderorganisationen der Vereinten Nationen. Schon in der Frühzeit der UNO bestanden enge Verbindungen zum Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC), zur Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), zur Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), zur Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) und zum Kinderhilfswerk (UNICEF). Zur besseren Koordination und Kontaktpflege unterhielt die KKIA dazu eigene Büros in New York, Genf, London und Paris, von denen heute allerdings neben der Hauptabteilung in Genf nur noch das 1969 umbenannte CCIA/WCC United Nations Headquarter Liaison Office in New York existiert. Einen weiteren frühen Arbeitsschwerpunkt des ökumenischen UN-Engagements bildete die internationale Flüchtlingsarbeit. Besorgt durch die Lage der palästinensischen Flüchtlinge, hatte die KKIA 1949 vor der UN-Generalversammlung eine umfassendere, nicht nur auf Europa begrenzte Definition des Flüchtlingsproblems angeregt. Nach der Gründung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) 1951 erreichte die KKIA zusammen mit der Abteilung für zwischenkirchliche Hilfe und dem Lutherischen Weltdienst (-»Lutherischer Weltbund), daß die UN-Flüchtlingsarbeit mehr finanzielle Mittel erhielt und die internationalen Schutznormen verbessert wurden. Die in dieser Zeit gewachsene enge Zusammenarbeit des ÖRK mit dem UNCHR besteht bis heute fort und wurde durch weitere Beziehungen - wie beispielsweise mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - vertieft. Durch den seit Mitte der 1950er Jahre erfolgten Prozeß der Entkolonialisierung und den Eintritt zahlreicher neuer, vornehmlich afrikanischer und asiatischer Staaten in die UNO rückten in der Folgezeit immer stärker die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Dritten Welt in den Vordergrund. Das brachte auch bei den Kirchen Aktzentverschiebungen. Zu den Aufgaben im Bereich Menschenrechte, Abrüstung, Flüchtlinge und den Bemühungen um internationale Rechtstaatlichkeit traten nun deutlich an die „Gruppe der 7 7 " — eine Art Gewerkschaft der Entwicklungsländer in der UNO - angelehnte Inhalte und Verweise auf entwicklungspolitsche Defizite in der Dritten Welt, die unter den Schlagworten -»Rassismus, -»Kolonialismus, „New Economic World Order" und der sog. Option für die Armen (-»Armut VII) ebenfalls Eingang in unterschiedlichste Programmeinheiten der Ökumene fanden. Ebenso haben sich der den Vereinten Nationen 1987 vorgelegte Brundtland-Bericht, der für den Übergang zu einer global umweltverträglichen wirtschaftlichen und sozial „dauerhaften" Entwicklung plädiert, und die daraus folgenden Diskussionen und Zusammenkünfte auf die Aktivitäten der Kirchen ausgewirkt. Ein profilierteres Selbstverständnis als eine diesen Prozeß aktiv mitgestaltende Nichtstaatliche Organisation kennzeichnet seitdem das UN-Engagement der Ökumene. Allerdings findet der Beitrag der Kirchen in den meisten wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Darstellungen zur Geschichte der Vereinten Nationen keine Erwähnung, ebenso wie eine angemessene zeitgeschichtliche Aufarbeitung des mittlerweile 50jährigen UNO-Engagements in den Kirchen ein Forschungsdefizit bleibt.

662

Vereinte N a t i o n e n / V ö l k e r b u n d

Quellen Die Dokumente der Organe der Vereinten Nationen werden zusammen mit den offiziellen Tagungsprotokollen (Official Records) als Anhänge und Beilagen von den Vereinten Nationen veröffentlicht. Seit dem 1. Juli 1975 werden alle Resolutionen und Beschlüsse der Generalversammlung, des Sicherheitsrates und des Wirtschafts- und Sozialrates (ECOSOC) sowie eine Reihe jährlicher Berichte einzelner Haupt- und Nebenorgane ins Deutsche übersetzt und von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) in Bonn herausgegeben. Charta der Vereinten Nationen. Komm., hg. v. Bruno Simma, München 1991 [enth. auch die Satzung des Völkerbundes]. - Hartmut Krüger, Die Charta der Vereinten Nationen u. der Status des Int. Gerichtshofes, Stuttgart 1975. - United Nations Chronicle, ed. by United Nations, Department of Public Information, New York 1 (1964) ff.; u.d.T.: UN Monthly Chronicle 1 (1964) - 19 (1982) H. 5; u.d.T.: UN Chronicle 19 (1982)-33 (1996) H. 2. - Der Völkerbund. Entstehung u. 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Vergebung der Sünden I

663

Vergebung der Sünden I. II. III. IV. V.

Altes Testament Judentum Neues Testament . . . . Systematisch-theologisch Praktisch-theologisch . .

S. 665 S.668 S. 678 S. 686

I. Altes Testament 1. Terminologie und Metaphorik logische Deutung (Literatur S. 664)

1. Terminologie

und

2. Kultische Sündenvergebung

3. Propheten

4. T h e o -

Metaphorik

Sünden vergeben entspricht mehreren Verben: slb (Jer 31,34; Ps 25,11 u.ö.); ns' (Ps 25,18; 32,1 u.ö.); 'br Hifil (II Sam 12,13; Mi 7,18; Ex 34,7 u.ö.); kpr Piel (Dtn 21,8; Ps 65,4 u.ö.); Nifal (Lev 4,20 u.ö.); Nitpael (Dtn 21,8); nqh Piel (Ex 34,7; Ps 19,13 u.ö.), und zahlreichen metaphorischen Wendungen: Sünden fortwerfen (ins Meer, Mi 7,19), zudecken (ksh Piel, Ps 32,1), wegwischen (Ps 51,3.11), waschen (Ps 51,4), reinigen (thr, Ps 51,4), entfernen (Ps 103,12), wohlwollend behandeln (rsh Nifal, Jes 40,2), nicht anrechnen (Ps 32,2), sich nicht mehr erinnern (Ps 25,7); ferner der Sünde entreißen (nsl Hifil, Ps 51,16), von ihr erlösen (pdh, Ps 130,8), vor ihr das Gesicht verhüllen (Ps 51,11), umkehren und sich des angedrohten Bösen gereuen lassen (Jer 18,8; Joel 2,14; Jon 3,10 u.ö.). Oft bedeuten gnädig sein (hnn, Ps 51,3; vgl. Ex 34,6 'el hannün) und sich erbarmen (rhm Piel, Ps 103,12f.; vgl. Ex 36,6 'el rhm\ hüs, Jon 4,10) dasselbe wie vergeben. Vergebung kann auch ohne spezifisches Vokabular ausgedrückt werden: J H W H erträgt die unvermeidliche Sünde (Gen 8,21); er hebt sich über sie hinweg, weil er heilig ist (Hos 11,9); er gibt dem Sünder Leben (Ez 18,21 f.)- J H W H trägt den Beinamen 'el nöse' (vergebender Gott, Mi 7,19). 2. Kultische

Sündenvergebung

Die vergebende Funktion des Kultes ist die -»-Sühne. Diese ist alt (vgl. I Sam 26,1) und voll entfaltet in der -»Priesterschrift (und bei -»Ezechiel) im 6. bis 5. Jh. Nach der Priesterschrift entsprechen verschiedenen Kategorien von -»Sünden verschiedene kultische Vergebungsriten: Sündopfer (hattä't; -»Opfer) vergibt hauptsächlich Verbotsübertretungen (Lev 4), Schuldopfer ('äsäm) vor allem Profanierungen von Heiligem (Lev 5 , 1 1 - 1 6 ) , wobei die Vergebungsriten nach Art und Schwere der Sünden spezialisiert sind. Der große Versöhnungstag (-»Feste/Feiertage II.5.) vergibt alljährlich die unentdeckten, noch nicht vergebenen Sünden. Kultische Vergebung tilgt nicht nur versehentliche, sondern auch absichtliche Sünden (Lev 5 , 2 0 - 2 6 ) . Sie vergibt kollektive und individuelle Sünden. Geheime persönliche Sünden müssen zur Vergebung bekannt werden (Lev 5,5; Num 5 , 5 - 7 ; vgl. Ps 38,19; 65,3f.). Nur eine Kategorie von Sünden kann nicht vergeben werden, die Sünde „mit erhobener Hand" (Num 15,30f.). Dieser Ausdruck bedeutet nicht „absichtlich", sondern „freventlich", d. h. öffentlich, herausfordernd, wie Ex 14,8 und Num 33,3 zeigen. Nach Jos 7 , 1 6 - 2 5 ist eine Sünde ebenfalls unvergebbar, wenn sie von den Schuldigen nicht freiwillig bekannt und dann durch Orakel entdeckt wird. Kultische Vergebung gewährt durch objektiven Vollzug der von J H W H als Zeichen seines Vergebungswillens eingesetzten Riten Vergebungsgewißheit. Nach Lev 17,11 ist das äußere liturgische Zeichen der gewährten Vergebung das Blut, das dem (Brandopfer-) Altar (Lev 4,25.30.34) appliziert oder gegen den Vorhang des Allerheiligsten (Lev 4,6.17) oder im Allerheiligsten vor der kapporazt auf der Lade (-»Sühne) gesprengt wird (Lev 16,14f.). Der Bock für '"zä'zel (Sündenbock) ist ein zusätzlicher Ritus der Vergebung am Versöhnungstag, der die Entfernung der Sünde aus der Welt der Menschen symbo-

664

Vergebung der Sünden I

lisiert (Lev 16,8-10.20-22). Die kultische Vergebung der Sünden ist in der Kulttheologie der Priesterschrift zentral. Sie ist parallel zur kultischen Reinigung von Befleckungen konzipiert, die durch ähnliche Riten gereinigt werden wie die Vergebung von Sünden. Vergebung von Sünden und Reinigung von Befleckung ermöglichen die Wohnung JHWHs inmitten seines Volkes (Ex 25,8). 3.

Propheten

Vor dem Exil schließen die Propheten in der Gerichtsverkündigung JHWHs Vergebung aus (Am 8,1 f.; Jes 6,9f.; Jer 15,1 u.ö.). Die Tragweite dieser Gerichtsworte ist umstritten. Sie bedeuten vielleicht weniger die unabänderliche Verwerfung Israels als einen letzten dramatischen Umkehraufruf. Exilisch und nachexilisch wird JHWHs Vergebungsverheißung ein wichtiges Thema (Jes 40,lt.; 55,6-11; 61,1 f.; Jer 31,34; Ez 11,1621; 36,21-36 u.ö.). Bußliturgien mit Vergebungsbitten werden zur beliebten Gattung in prophetischen Büchern (Jes 63,7-64,11; Joel 1 f.; vgl. Thr 1 - 5 ; Neh 9; Ps 44; 106; Dan 9,4-19). 4. Theologische

Deutung

JHWH allein vergibt Sünden (Ps 130,3). Er vergibt der Gemeinschaft, Israel (Ex 32,14), Jerusalem (Jes 54,5-8), Ninive, d.h. anderen Völkern (Jon 3,10 u.ö.), einer Generation (vgl. Ex 34,6f.) und einzelnen (Psalmen). Die unverdiente Vergebung ist spezifisches Kennzeichen für die Heiligkeit Gottes, die ihn als Gott von den Menschen unterscheidet (Hos 11,9). Vergebung ist Neuschaffung (Ps 51,12-14; Ez 11,19; 36,26f.). Sie gibt Leben (Gen 20,7; Ez 18,21-23; 31,10f.) anstatt des verhängten Todes. Nach Gen 8,21; Hos 11,9 ist Vergebung auf Seiten der Sünder unverdient und beruht nur auf Gottes Vergebungswillen, während nach Ex 34,6f.; Am 4 , 6 - 1 3 ; Jer 18,8; Ez 18,21-23; 33,10f.; Jon 3 u.ö. Umkehr der Sünder, spätestens in der vierten nachfolgenden Generation (Ex 34), unbedingte Voraussetzung ist. Fürbitte von Gerechten und Propheten erwirkt Vergebung (Gen 20,7; Ex 32,7 -14.30—34; Am 7,1 - 6), aber die Größe der Sünde kann solche Fürbitte ausschließen (Jer 15,1; Ez 14,12—20). Nach Ex 34,6f. par. 20,5f. = Dtn 5,9; Num 14,14 vergibt JHWH den Schuldigen, um ihnen und drei folgenden Generationen Zeit für Umkehr zu lassen (Prinzip der Aussetzung von Strafe auf Bewährung bzw. Umkehr hin!). Wenn diese nicht erfolgt, kann JHWH nicht mehr vergeben, weil er durch Gewährenlassen der Bösen mit diesen mitschuldig würde (Interpretation von Ex 34,6f. im Judentum und bei Kirchenvätern; vgl. Radaq; —>Augustin; -»•Theodoret von Kyrrhos u.a.). Vielleicht um solche Mitverantwortung JHWHs am bösen Tun der Sünder auszuschließen, bekräftigt Dtn 7,10 das Gegenteil, JHWH bestrafe die sündige Generation sofort, ohne nachfolgenden Generationen Raum für Umkehr zu lassen. Vergebung ist Aufhebung von —»Strafe (Ex 32,14; Hos 11,9; Am 7,3.6); besonders in Ezechiels Terminologie ist sie Leben statt Tod (Ez 18,21-23). Aber Haftung, d. h. Pflicht zur Reparation oder Kompensation, bleibt, wie die unabdingbare Reparations- und Kompensationspflicht beim vergebenden 'äsätn-Opfer zeigt (Lev 5,11 — 16; Num 5 , 5 - 7 ; vgl. Ex 32,34f.; II Sam 12,14). Literatur Rudolf Bultmann, Art. d^fy/a: T h W N T 1 (1933) 5 0 6 - 5 0 9 . - David Daube, Sin, Ignorance and Forgiveness in the Bible, London 1960. - David N. Freedman/B.E. Willoughby, Art. näsä': ThWAT 5 (1986) 6 2 6 - 6 4 3 . - Gillis Gerleman, Schuld u. Sühne. Erwägungen zu 2 Samuel 12: Beitr. zur atl. Theol. FS Walter Zimmerli, Göttingen 1977, 1 3 2 - 1 3 9 . - Ch. Göbel, „Denn bei dir ist die Vergebung . . . " . slh im AT: ThV 8 (1977) 2 1 - 3 3 . - Antonius H . J . Gunneweg, Schuld ohne Vergebung?: EvTh 36 (1976) 2 - 1 4 . - Jutta Hausmann, Art. sälah: ThWAT 5 (1986) 8 5 9 - 8 6 7 . Frank-Lothar Hossfeld, Versöhnung u. Sühne: BK 41 (1986) 5 4 - 6 0 . - Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, 1982 (WMANT 55). - William Johnstone, Guilt and Atonement. The Theme of 1 and 2 Chronicles: A Word in Season. Essays in Honour of William McKane, 1986 (JSOT.S 42) 1 1 3 - 1 3 8 . - D.F. O'Kennedy/J. P. J. Olivier, Die konsep vergifnis in die OT: N G T T 37 (1996)

Vergebung der Sünden II

665

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Adrian Schenker

II. Judentum 1. Begriff der Vergebung 2. Vergebung durch Gott/Vergebung durch Menschen und Sühne 4. Vergebung als imitatio dei (Literatur S. 668)

1. Begriff der

3. Vergebung

Vergebung

In terminologischer Hinsicht sowie den damit verbundenen jeweiligen Vorstellungen knüpft die nachbiblische jüdische Tradition unmittelbar an den biblischen Sprachgebrauch an, in dem die Begriffe für „vergeben/Vergebung" oft komplementär sowohl zu Begriffen des „Sich-erbarmens" als auch des „Sühnens" verwendet werden, mitunter aber auch in einer gewissen Spannung zu ihnen stehen (s.o. 1.1.). Stärker indessen als im biblischen ist im nachbiblischen Sprachgebrauch der Begriff der Vergebung/Verzeihung (mhl/mehtläh, slh/selthäh etc.) mit dem der -»Sühne und -»Umkehr (tesüväh) nicht nur aufs engste verbunden, sondern sachlich von ihnen nicht zu trennen; denn Sühne als dialogisches Geschehen umfaßt sowohl den Akt der „Wiedergutmachung" einer —»Sünde/eines Vergehens, die der schuldig Gewordene gegenüber dem zu leisten hat, an dem er schuldig geworden ist, als auch die Anerkennung und Annahme dieser Wiedergutmachungsleistung als hinreichend seitens des durch die Sünde/das Vergehen Betroffenen/Geschädigten (-»Sühne III.l.). Wie der Akt der „Wiedergutmachung" eine zu erbringende Leistung des schuldig Gewordenen gegenüber dem meint, an dem er schuldig geworden ist, so drückt Vergebung/Verzeihung als Antwort darauf das Entgegenkommen seitens des Betroffenen/Geschädigten aus. Da Sünde/Vergehen ausschließlich als einzelne und vollendete Tat (bYoma 86b), niemals jedoch als Zustand oder Befindlichkeit des Menschen angesehen werden (vgl. BerR IX,7; XXI,7), gelten auch Sühne(leistung) ebenso wie Vergebung als Antwort darauf allenthalben als Akte, die nur für den einzelnen Fall „wirken" und Bedeutung haben, für den sie erbracht bzw. gewährt werden. 2. Vergebung

durch Gott/Vergebung

durch

Menschen

Entsprechend der Zweiteilung der -»Sünden (III.2.) in 1) Sünden gegen Gott und 2) Vergehen gegen (Mit-)Menschen (mYoma VIII,9) und der daraus resultierenden Zweiteilung der Sühneakte in 1) Sühne(leistung) gegenüber Gott (Sühne im engeren Sinne) und 2) Sühne(leistung) gegenüber Menschen (Schadensersatz/Wiedergutmachung), bezeichnet auch Vergebung/Verzeihung als Anerkennung und Annahme eines Sühneaktes als hinreichende Wiedergutmachungsleistung sowohl ein Handeln Gottes als auch das

666

Vergebung der Sünden II

eines Menschen. Vergebung/Verzeihung kann dabei jedoch immer nur gewähren, wer Opfer der sündigen Tat geworden ist (yYoma VIII,9/45c): Wie Gott nur gegen ihn begangene Sünden vergeben kann, nicht jedoch Vergehen gegen Menschen, so kann ein Mensch allein das Unrecht vergeben/verzeihen, das er selbst erlitten hat, nicht jedoch Sünden gegen Gott oder Unrecht, das einem anderen Menschen angetan worden ist. Weil jedes Vergehen gegen einen Menschen letztlich immer auch eine Sünde gegen Gott bedeutet, da es Gottes Gebot ist, das im Vergehen gegen einen Mitmenschen übertreten wird (vgl. Bachya ben Asher, Kad ha-qemah, s.v. gezeläh und hillül ha-Sem), bedarf der, der einem Mitmenschen Unrecht zugefügt hat, neben der Verzeihung seitens des Geschädigten auch der Vergebung durch Gott; die Vergebung durch Gott kann er aber erst und nur dann erfahren, wenn ihm zuvor vom geschädigten Mitmenschen vergeben worden ist: „Übertretungen des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag; Übertretungen eines Menschen gegen seinen Mitmenschen sühnt der Versöhnungstag nicht, bevor man dessen Verzeihung erlangt hat ('ad se-yerasseh et häverö)" (mYoma VIII,9; -»Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Teshuvah 11,9; -»Schulchan Aruk, Orah Hayim §605,1; vgl. b R H 17b; Sifra Ahare mot VIII; M t 5,23). Der Vergebung gegen Gott begangener Sünden dient der Gottesdienst am Yom haKippurim („Versöhnungstag"; vgl. Lev 16,30), der an die Stelle des vom Hohenpriester geleiteten Opferdienstes (-»Opfer) im -»Tempel getreten ist (vgl. Eschelbacher), wie es am Ende des mittelalterlichen Piyyut Selihät Ari'el btheyötö 'al mekhötiö heißt: „Geblieben sind uns seither die Umkehr (tesüväh) und der Versöhnungstag" (vgl. Münk). Geblieben ist die Gabe der Vergebung, die die Umkehr des Sünders voraussetzt: „Umkehr, Gebet und gute Taten wenden das Schicksal", heißt es daher im Mussafgebet zu Neujahr und Versöhnungstag; und bereits die Mischna warnt: „Wenn jemand sagt: Ich will sündigen und umkehren, ich will sündigen und umkehren, dann wird ihm keine Möglichkeit zur Umkehr gegeben. Wenn jemand sagt: Ich will sündigen, und der Versöhnungstag wird mich entsühnen, dann entsühnt der Versöhnungstag nicht" (mYoma V,9). 3. Vergebung und

Sühne

Daß Gott nicht nur ein „barmherziger und gnädiger", sondern auch ein „vergebender G o t t " ist, der „seinen Kindern" vergibt, wo sie -»Strafe verdient hätten (bBer 7a; vgl. Greenberg), gehört zu den Grundüberzeugungen jüdischen Glaubens, wie sie in der Konzeption der dreizehn middot („Gnadeneigenschaften") ihren Ausdruck gefunden haben (Ex 3 4 , 6 - 7 ; tSota IV,1; vgl. bBer 48b; Bachya ben Asher, Kad ha-qemah, s.v. kappäräh). Der Gedanke einer „unverdienten Gnade" ist indessen fremd; denn Vergebung setzt stets eine erbrachte Sühne-/Wiedergutmachungsleistung seitens des schuldig Gewordenen unabdingbar voraus (Prov 28,13; bTaan 16a; yTaan II,65b). Dem Versöhnungstag gehen daher die zehn Tage der Umkehr (yämlm nörä'tm) vorauf (bRH 1 7 b - 1 8 a ; Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Teshuvah 111,4; Schulchan Aruk, Orah Hayim §602). Vergebung erfährt nur, wer zuvor gesühnt hat (bHag 5a; bBer 12b; PesR XLIV/185a). Art, Form und Umfang der Sühne haben dabei der begangenen Sünde/ dem begangenen Unrecht zu entsprechen (bYoma 85bff; -»Sühne III.2.3.). Wer aber gesühnt hat, „selbst wenn er sein ganzes Leben gesündigt hat und erst einen Tag vor seinem Tod umgekehrt ist", darf auf Gottes Vergebung hoffen (Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Teshuvah 11,1; vgl. 1,4). O b und inwieweit zum Akt der Sühne ein verbales Sündenbekenntnis (widdui) gehört, ist in der Tradition indessen umstritten: während es nach bQid 49b genügt, daß „er [der Sünder] Gedanken der Umkehr in seinem Herzen hege" (vgl. Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Ishut VIII,5; Soloveitchik 110-112.159f.), insistiert die Mehrheit darauf, daß es ohne ein ausgesprochenes verbales Sündenbekenntnis keine Umkehr und ohne Umkehr keine Vergebung gibt (Lev 5,5; 16,21; Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Teshuvah 1,1). Entsprechend wird Lev 16,6 in bYoma 36b als „Sühnung durch

Vergebung der Sünden II

667

Worte" erklärt. Dabei ist mit dem Bekenntnis der Sünden jenes gemeint, das dem Hohenpriester am Jom Kippur vorgeschrieben ist (bYoma 36b), an Büß- und Fasttagen rezitiert, vom Proselyten verlangt (vgl. das Gebet Asenaths XIII-XIV) und vom Sterbenden gesprochen wird (Evel Zutarti 1,11). In der Sache gleicht es dem Geständnis, das ein Verurteilter vor seiner Bestrafung abzulegen hat (bSan VI,2; vgl. bSan 43 b; Philo, Exsecr VIII). Was gegenüber Gott gilt, gilt auch gegenüber dem Mitmenschen, dem Unrecht zugefügt worden ist. Bevor Vergebung möglich ist, muß Wiedergutmachung geleistet werden, und zwar als ein nach dem Grundsatz ausgleichender Gerechtigkeit dem Geschädigten zu „zahlendes Sühngeld" (kesef kippürim: Ex 30,15f.; Num 31,50; bHag I I a ) , dessen Art, Form und Umfang sich wiederum nach dem begangenen Unrecht richtet: Wer ein Haus gebaut und darin einen gestohlenen Stein eingebaut hat, muß sein Haus wieder einreißen und den gestohlenen Stein zurückgeben (bBQ 66b). Wie zum Akt der Sühne das verbale Sündenbekenntnis gehört, so ist ein gegenüber einem Mitmenschen begangenes Unrecht erst dann hinreichend gesühnt, wenn der, der das Unrecht begangen hat, nicht nur das geforderte „Sühngeld" gezahlt, also die Wiedergutmachungsleistung erbracht, sondern darüber hinaus gegenüber dem Geschädigten expressis verbis die Bitte um Vergebung ausgesprochen hat (bBQ 92a; Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Hovel u-mazziq V,9; Schulchan Aruk, Hoshen Mishpat §422). Wer indessen nach erbrachter Wiedergutmachungsleistung und ausgesprochener Bitte um Vergebung die Vergebung verweigert, begeht seinerseits wiederum ein Unrecht, für das er/sie Sühne zu leisten hat (Tan Huqqat XIX). Während die Tradition darüber uneins ist, ob Gotteslästerung bzw. -leugnung eine vergebbare Sünde ist (bRH 18a; Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Teshuvah 1,4; vgl. Schechter, Kap. 18) oder nicht (yBQ VIII,10/6c; ARN A XXXIX), besteht jedoch kein Zweifel darüber, daß Vergebung im Falle von Mord ausgeschlossen ist. Köfer lanefes, „Sühngeld" für ein (getötetes) Menschenleben ist nicht nur nicht akzeptabel (vgl. Num 35,31), sondern schlechterdings auch nicht möglich: Wie ein Getöteter kein Sühngeld mehr in Empfang nehmen kann, kann er - auch auf die Bitte um Vergebung hin — keine Vergebung mehr gewähren (vgl. Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Teshuvah 11,11). Die Rabbinen hatten daher einst entschieden, daß Mord allein durch den Tod des Mörders gesühnt ist (bSan 10a; bKet 35b.37b; bYoma 86a). Angesprochen ist damit zugleich ein Problem, das im Rückblick auf die jüdische Geschichte, im Rückblick auf die zahlreichen Verfolgungen und Martyrien, nicht zuletzt im Kontext der Schoa, von erheblicher Tragweite und Bedeutung ist. Da Vergebung stets nur von dem gewährt werden kann, dem Unrecht geschehen ist, muß in diesem Falle auch die ausgesprochene Bitte um Vergebung ohne Antwort bleiben (Blumenthal; Dorff). 4. Vergebung als imitatio dei Als „vergebender Gott" hat Gott durch sein Erbarmen und seine Gnade gegenüber den Menschen die Möglichkeit der Sühne und Umkehr und damit die Voraussetzung der Vergebung geschaffen (bPes 54a; PesR XXV,158b; XXVI,167a): wenn immer die Sünden und die guten Taten eines Menschen gegeneinander aufgewogen werden, läßt er die Waage sich immer nach der Seite der Barmherzigkeit hin neigen (vgl. tSan XIII,3; b R H 17a) und streckt dem reumütigen Sünder die Hand entgegen (bPes 119a). Ebenso soll auch der Mensch, der von der Vergebung Gottes lebt, ein „vergebender" (möhel) sein. Die Rabbinen sprachen nachgerade von einer moralischen Pflicht zur Vergebung (bShab 151b; vgl. bMeg 28a): „Verboten ist dem Menschen, grausam (akhzärt) und nicht versöhnungsbereit (15' yitpayyes) zu sein ... Wenn jemand von dem, der ihm Unrecht getan hat, gebeten wird zu verzeihen, soll er verzeihen mit ganzem Herzen und bereiter Seele" (Mose ben Maimon, Mishneh Torah, Hil. Teshuvah 11,10), denn nur wer selber bereit ist zu vergeben/zu verzeihen, wird auch Vergebung/Verzeihung erfahren (bYoma 23a; vgl. Mt 6,12). Mehr noch, wie einst Abraham (Gen 20,17; vgl. bBQ 92a)

668

Vergebung der Sünden III

soll der Mensch nicht nur bereit sein, dem zu verzeihen, der ihm Unrecht getan hat, sondern seinerseits Gott um Vergebung für den bitten, der ihm Unrecht getan hat (bShab 133b; vgl. M t 5,44). W i e jedoch Gottes Vergebung nicht eingefordert (bGit 36b; vgl. b M e g 28a), sondern nur erbeten werden kann (vgl. die 6. Berakhah des Shemoneh Esreh), so kann auch Verzeihung seitens des Mitmenschen nur erbeten, nicht aber erzwungen werden. Ziel der Vergebung ist die -*Versöhnung/Aussöhnung (hitpayyesut), die Wiederherstellung der Integrität (ternimüt, vgl. N u m 28,3) der durch Sünde/Vergehen ge- bzw. zerstörten Beziehung zwischen Mensch und G o t t oder Mensch und Mensch (bRH 17a; bAr 15b; vgl. bHag 15a), die der vorherigen Wiedergutmachungsleistung und vollzogenen Umkehr (tesüväh) ebenso bedarf wie der gewährten Vergebung. Literatur Israel Abrahams, Studies in Pharisaism and the Gospels, 2 Bde., Cambridge 1917-1924 = 21967 (LBS), bes. I, 139-167. - Bachya ben Asher, Encyclopedia of Torah Thoughts, transl. by Chaim Dov Chavel, New York 1980. - Joseph M. Baumgarten, Messianic Forgiveness of Sin in CD 14:19 (4Q266 10 i 12-13): The Provo Int. Conference on the Dead Sea Scrolls, hg. v. Donald Parry/Eugene Ulrich, 1999 (StTDJ 30) 537-544. - David R. Blumenthal, Repentance and Forgiveness: CrossCur 48 (1998) 7 5 - 8 2 . - Hermann Cohen, Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919 Frankfurt 2 1929 Nachdr. Wiesbaden 1988, bes. 242-275. - Elliot N. Dorff, Individual and Communal Forgiveness (Jewish Forgiveness of Catholic Church for Past Wrongs): Autonomy and Judaism, ed. Daniel H. Frank, Albany, N.Y. 1992, 193-218. - Max Eschelbacher, Jom Hakippurim: Jüd. Fest/Jiid. Brauch, hg. Friedrich Thieberger, Berlin 1936 Königstein a.Ts. 1985, 152-163. - Amitai Etzioni/David E. Carney (Hg.), Repentance and Forgiveness. A Comparative Perspective, Lanham, Md. 1997. - Simon Greenberg, Some Reflections on God's Forbearance, Forgiveness, and Related Concepts: Perspectives on Jews and Judaism. FS Wolfe Kolman, hg. v. Arthur A. Chiel, New York 1978, 155-163. - Kurt Hruby, Gesetz u. Gnade in der rabbinischen Überlieferung: ders., Aufs, zum nachbibl. Judentum u. zum jüd. Erbe der frühen Kirche, hg. v. Peter v. der Osten-Sacken/Thomas Willi, 1996 (ANTZ 5) 7 1 - 9 9 . - Johann Maier, Schuld u. Versöhnung im Judentum: Schuld u. Versöhnung in verschiedenen Religionen, hg. v. Bernhard Mensen, 1986 (VAVK) 2 1 - 3 7 . - Elie Münk, Die Welt der Gebete. Komm, zu den Werktags-, Sabbat-, u. Festtagsgebeten nebst Übers., 2 Bde, Frankfurt a.M., 1933 2 1936 Nachdr. Basel 1975, bes. II, 240291. - Chaim Nussbaum, The Essence of Teshuvah. A Path to Repentance, Northvale, N.Y. 1993, bes. Kap. 7 - 9 . - Diane Perlman, Atonement as Tikkun (Forgiveness and Atonement in Jewish Ritual): Tikkun 13 (1998) 3 2 - 6 9 . - Jacob J. Petuchowski, Erlösung - Sünde - Vergebung. Eine dialogische Erkundung christl.-jüd. Konvergenzen: Welches Judentum steht welchem Christentum gegenüber?, hg. v. Hans Hermann Henrix/Werner Licharz, Frankfurt a.M. 1985, 9 - 1 8 . - Solomon Schechter, Aspects of Rabbinic Theology, New York 1909, 293-343. - Joseph B. Soloveitchik, Halakhic Man, Philadelphia, Penn. 1983, bes. 110ff.l59ff. - Ephraim E. Urbach, The Sages - Their Concepts and Beliefs, 2 Bde, Jerusalem 1975, bes. I, 462ff.508ff. Stefan Schreiner

III. Neues Testament 1. Methodische und hermeneutische Aspekte 2. Das terminologische, biblisch vorgegebene Wortfeld und seine Entwicklung 3. Die älteste Jesustradition (Logienquelle) 4. Die paulinische und deuteropaulinische Literatur 5. Das Markusevangelium 6. Das Matthäusevangelium 7. Die lukanische Literatur (Lukasevangelium, Apostelgeschichte) 8. Die johanneische Literatur (Johannesevangelium, Johannesbriefe) 9. Sonstige Stellen 10. Zusammenfassende theologische Deutung (Literatur S.677) 1. Methodische

und hermeneutische

Aspekte

Vor jeder Interpretation thematisch relevanter Bibelstellen erscheint es angebracht, an einige sprachliche und theologiegeschichtliche Voraussetzungen zu erinnern: 1.1. Die Wendung „Vergebung der Sünden" gehört nicht erst heute, sondern schon im Neuen Testament zur theologischen Fachsprache. Was dieser theologische Abstraktbegriff meint, vermag

669

Vergebung der Sünden III

weniger die substantivische Wendung als das Verbum zu erläutern, da sich hier die tote Metaphorik noch revitalisieren läßt (s.u. 2.). Ob dies auch für den Abstraktbegriff „-»Sünde/Sünden" zutrifft, der vor dem Neuen Testament seit langem als Vokabel eingeführt war, bleibt zu fragen. 1.2. Die neutestamentlichen Schriften nehmen in unterschiedlichem Maße an der semantischen Akzentuierung beim Substantiv ä(j>emír¡fíi (fortlassen, wegschicken, verlassen, entlassen, gewähren lassen, unbehelligt lassen, erlassen, vergeben) von der konkreten zur metaphorischen Bedeutung und zur abstrakten theologischen Bedeutung teil; hier geht es nur um die beiden Wörter als Termini für die Sündenvergebung, wobei jedoch versucht werden soll, den Ansatzpunkt einer metaphorischen Interpretation anzugeben. 1.3. Das auffällige Faktum, daß Substantiv und Verbum nicht zur theologischen Sprache des -»Paulus gehören, die Sache aber durchaus bei ihm thematisiert wird, lenkt den Blick auf das zugehörige Wortfeld, zu dem Verben wie „wegnehmen, bedecken, verhüllen, abwischen, versöhnen, tilgen, bezahlen, abtragen" u. a. gehören. Vor allem der Komplex „Sünde und Befreiung/Erlösung von der Sünde/den Sünden", mithin die spezifisch neutestamentliche Soteriologie wäre hier zu bedenken (-»Heil und Erlösung). Täte man dies, so würde deutlich, daß der Apostel Paulus zur Sache viel zu sagen hat, da der Begriff „Sünde" sich allein 46mal im -»Römerbrief und zudem elfmal in den sonstigen Briefen des Paulus findet und Paulus den Sühnetod Jesu Christi als Befreiung des Menschen aus der Macht der Sünde deutet (-»Sühne; -»Versöhnung). 1.4. Einleitend ist daran zu erinnern, daß alle neutestamentlichen Theologen gruppenzentrisch formulieren, d.h. zum einen aufgrund der jüdisch-christlichen Kontinuität in der ältesten Tradition eine wesentlich jüdische, theozentrische Perspektive betonen, zum anderen aufgrund der neuen Identität, gewonnen durch den —»Glauben an das irdische Wirken Jesu sowie an seinen Tod und seine Auferweckung (-»Auferstehung), zu christozentrischen Aussagen gelangen. Wo die Grenze dieses Prozesses anzusetzen ist, ist in der Literatur umstritten (s.u. 3. und 5.). 1.5. Abschließend sei ein fundamentales hermeneutisches Problem genannt, das zwar nicht im Neuen Testament und Frühjudentum, sondern erst im 20. Jh. aufgebrochen ist. Es ist die Frage nach den letzten Grenzen zwischenmenschlicher Vergebungsbereitschaft (vgl. M t 1 8 , 2 3 - 3 5 ; 18,21f.: „Da trat Petrus heran und sprach zu Jesus: ,Herr, wie oft darf mein Bruder gegen mich sündigen und ich muß ihm vergeben? Bis zu siebenmal?' Jesus sagt zu ihm: ,Nicht bis zu siebenmal, sage ich dir, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.'") und der Vergebungsbereitschaft bzw. -möglichkeit Gottes im Verhältnis zum sündigen Menschen, soll die Vergebung nicht zu einer billigen Gnade verkommen. Das Wort aus der matthäischen „Lehre auf dem Berg" (vgl. 5 , l f . ; 7,28f.), demzufolge ich mich mit dem Bruder versöhnen muß, ehe ich meine Opfergabe zum Altar bringen kann, wird ausdrücklich in der rabbinischen Literatur bestätigt: „Wenn jemand sagt: ,Ich werde sündigen, und der Versöhnungstag wird mir Sühne bringen', dann bringt ihm der Versöhnungstag keine Sühne. . . . Der Versöhnungstag bringt Sühne nur für die Sünden, die man Gott gegenüber begangen hat. Wenn man aber gegen einen Mitmenschen gesündigt hat, bringt der Versöhnungstag erst dann die Sühne, wenn man zuerst die Verzeihung von dem Mitmenschen erlangt hat" (mYora 8,9; s.o. H.2.). Wenn Vergebung ein interpersonales Geschehen zwischen Opfer und Täter ist, wie steht es dann um die fast gänzliche Vernichtung des europäischen Judentums? Gedanken zu dieser letztlich nicht lösbaren Frage seien mit dem jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas angedeutet: „Die jüdische Weisheit lehrt, daß der, der das ganze Universum erschaffen hat und trägt, das Verbrechen, das der Mensch am Menschen begeht, nicht tragen, nicht vergeben kann. . . . Die Schuld gegenüber Gott untersteht der göttlichen Vergebung, die Schuld aber, die den Menschen beleidigt, untersteht Gott nicht. . . . Das Böse ist kein mystisches Prinzip, das sich durch einen Ritus auslöschen läßt, es ist eine Beleidigung, die der Mensch dem Menschen antut. Niemand, nicht einmal Gott, kann sich an die Stelle des Opfers setzen. Die Welt, in der die Vergebung allmächtig ist, wird unmenschlich" (Emmanuel Levinas, Eine Religion für Erwachsene: ders., Schwierige Freiheit, Frankfurt 1992, 2 1 - 3 7 , hier 32f.). Auch wenn damit nicht die lebensgeschichtliche Dimension neutestamentlicher Theologen angesprochen ist, vermag dieser Hinweis das Beharren auf dem konkreten lebensgeschichtlichen Ansatz biblischer Texte und das Recht der verschiedenen Theologen im Neuen Testament auf eine eigene Deutung, aber noch mehr das Recht der Opfer bewußt zu machen.

2. Das terminologische,

biblisch vorgegebene

Wortfeld und seine

Entwicklung

Wie durchgehend ist auch beim T h e m a „Vergebung der S ü n d e n " die neutestamentliche Semantik durch und durch von den heiligen Schriften Israels in der griechischen Übersetzung, in der später von den Christen so genannten Septuaginta (—»Bibelüber-

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Vergebung der Sünden III

Setzungen 1.2.1.), abhängig. Daß sowohl die Verwendung des Verbums im konkreten wie im übertragenen Sinn davon geprägt ist, aber auch das Substantiv als religiöser Fachterminus, belegen die folgenden Zitate: In der Antrittspredigt Jesu in Nazaret in Lk 4 , 1 6 - 3 0 wird Jes 61,1 f. und 58,6 L X X eingespielt, wobei zweimal das Substantiv &4>eaiBultmann die Geschichte Israels als Weissagung, allerdings (gegen von J . Ch.K. Hofmann) als eine Geschichte ihres Scheiterns, die gerade in ihrem Scheitern Verheißung der eschatologischen Verwirklichung von Bund, Königsherrschaft Gottes und Gottesvolk sei. Ähnlich denkt auch F. Baumgärtel (s.u. H.3.), der freilich die „Droh- und Heilsweissagungen" im Alten Testament als mannigfach gebrochene Entfaltungen der von ihm „Grundverheißung" genannten Selbstvorstellung „Ich bin der Herr, dein G o t t " verstehen will, die allein in Jesus Christus wahr geworden sei. F. Hesse hat schließlich den Inhalt der Verheißung mit der Rechtfertigung verbunden und so die „Existenz einer Verheißung über das vorchristliche Israel" überhaupt bestritten (Hesse 288). 2.2. Gegen diese einseitig aus dem Neuen Testament gewonnene Definition haben sich in der damaligen hermeneutischen Debatte neben C. Westermann besonders von G. von -»Rad und W. Zimmerli gewandt. Da beide vor allem an der Geschichte als Produkt der Verheißung und deshalb auch an den Erfüllungen innerhalb des Alten Testaments interessiert sind, kommt es bei ihnen zu einer unreflektierten Identifikation von Verheißung mit Weissagung. So kann von Rad beide Begriffe ganz unterminologisch promiscue gebrauchen (vgl. von Rad, Theologie II, 408 mit 409); und Zimmerli verwendet Verheißung als Oberbegriff für jede Art von Zukunftsaussage, so

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Verheißung I

daß selbst prophetische Unheilsansagen als „dunkle Verheißungsrede" erscheinen (Zimmerli 19.46.84f.). Bei H. Weippert ist Verheißung schließlich eine rein formale Kategorie für alle möglichen zukunftsbezogenen Redeweisen überhaupt geworden und keineswegs auf Gottesreden beschränkt; das Schema Verheißung - Erfüllung fungiert geradezu als „Erzählgenre" zur Herstellung geschichtlicher Abläufe und deren Deutung (Weippert 117.121). 2.3. Neben diesem formalen und jenem eher dogmatischen Gebrauch läßt sich seit H. —»Gunkel eine formgeschichtlich präzisere, auf Heilsworte beschränkte Verwendung beobachten. Er hält (neben den -»Visionen) die „Zukunftsoffenbarungen" oder „Weissagungen" für das eigentlich prophetische Genre und nennt sie, „jenachdem sie Heil oder Unheil enthalten, ,Verheißungen' oder ,Drohungen'" (Gunkel, Propheten 124). K.Koch setzt bei dieser Präzisierung an, beschränkt die Verheißung aber auf den nach dem Lagehinweis folgenden Teil der „Heilsprofezeiung" (Koch 261). Westermann schließlich unterscheidet bei den Heilsworten zwischen „Heilszusage" (vgl. J. Begrichs „Heilsorakel"), welche die Gegenwart betrifft, „Heilsschilderung", die den Zustand künftigen Heils ausmalt, und „Heilsankündigung", die künftiges Heil ansagt (Westermann, Heilswort 360ff.; vgl. dazu aber die Kritik von Elliger 159.257.344). Allein die imperfektische Heilsankündigung - mag sie nun für sich stehen oder mit der perfektisch formulierten Heilszusage verbunden sein - nennt er zugleich „Verheißung" (Westermann, Heilsworte 31; vgl. die Definition von „prophetic announcement of salvation" bei Sweeney 531). Während Koch die verheißenden Gottesreden in den Väterüberlieferungen „Gottessegen" nennt und sie als Gliedgattung innerhalb der Sage versteht (Koch 147f.), verwenden Gunkel und Westermann Verheißung für prophetische Heilsworte wie für die Väterverheißungen. 2.4. Allen Bemühungen um eine genauere Bestimmung zum Trotz ist Verheißung ein schillernder Begriff geblieben. Das liegt nicht zuletzt an der Vielfalt der Phänomene, für die er verwendet wird. Er kann Gottes- oder Prophetenrede, er kann den Vorgang der Rede wie deren verschiedenartige Inhalte bezeichnen. Verheißungen gelten einzelnen - den Ahnvätern und H a g a r , Führergestalten wie Mose (Ex 32,10) und dem König (II Sam 7 , 8 - 1 6 ; I Reg 1 1 , 3 1 - 3 9 ; 2 0 , 1 3 . 2 8 ; 22,11; II Reg 1 9 , 3 2 - 3 4 ; 2 0 , 5 - 6 ; Jer 3 4 , 4 - 5 ) , aber auch einzelnen Frommen - , vornehmlich seit dem Exil dem Volk und in nachexilischer Zeit Gruppen innerhalb Israels (z.B. den Rekabitern Jer 3 5 , 1 8 - 1 9 ; „meinen Knechten" Jes 6 5 , 8 - 1 0 ; M a l 3 , 2 0 u . a . ) , unter Umständen sogar Nichtisraeliten (Jes 19,19—25; Zeph 3 , 9 - 1 0 ) . Entsprechend vielgestaltig sind die Inhalte. Doch kann hier lediglich eine grobe Auflistung der wichtigsten aus den prophetischen Heilsworten ohne Rücksicht auf diachrone Verhältnisse und mögliche traditionsgeschichtliche Zusammenhänge gegeben werden. 1.) Sammlung und Rückkehr des Volkes: Jes l l . l l f . ; 27,12f.; 35; 4 3 , 1 - 7 ; 4 3 , 1 4 - 2 1 ; 6 0 , 4 - 7 ; Jer 3,18; 16,14f.; 23,3f.; 2 4 , 5 - 7 ; 29,10-14; 30,3.10f.; 3 1 , 7 - 1 4 ; 32,36-41; Ez 11,17; 20,40-44; 28,25f.; 36,7-14.24; 37,21; 39,25-29; Hos 2,16f.; ll,10f.; Am 9,14; Mi 4,6f.; 7 , l l f . ; Zeph 2,7; 3,19f.; Sach 8 , 7 - 8 ; 9 , l l f . ; 1 0 , 8 - 1 2 u.a.; 2.) Besitz des Landes und Wohnen in ihm: Jes 60,21; 65,9; Jer 30,3; 32,41; Ez 11,18; 20,42; 37,14; Hos 2,16f.; Am 9,14f. u.a.; 3.) Mehrung des Volkes: Jes 49,18-21; 60,21 f.; 65,9; Jer 33; Ez 36; Hos 2 , 1 - 3 u.a.; 4.) 'Wiederaufbau der Städte Judas, besonders Jerusalems: Jes 4 4 , 2 4 - 2 8 ; 5 4 , l l f . ; 61,4; Jer 31,38-40; 33,10f.; Ez 36,10; Mi 7,11; Sach 1,16 u.a.; 5.) Wiedervereinigung von Juda und Ephraim: Jes 11,13; Jer 3,18; 3 1 , 1 - 6 ; Ez 37,15-28; Hos 2 , 1 - 3 ; 6.) Herrscher aus dem Hause Davids: Jes 9 , 1 - 6 ; 10,33-11,9; 16,5; 3 2 , 1 - 5 ; Jer 23,5f.; 30,8f.21; 33,14-18.20f.23 - 2 6 ; Ez 17,22f.; 34,23f.; 37,24f.; Hos 2,2; 3,5; Am 9 , l l f . ; Mi 5 , 1 - 5 ; Hag 2 , 2 0 - 2 3 ; Sach 3,8; 6 , 9 - 1 5 ; 9,9f.; 7.) Tempelbau: Ez 20,40f.; 40 - 4 3 ; Sach 1,16 u.a.; 8.) Jahwe als König auf dem Zion: Jes 24,23; 33,22; 5 2 , 7 - 1 2 ; Jer 3,17; Ob 21; Mi 4,7 u.a.; 9.) Jerusalem als Zentrum der Gottesherrschaft: Jes 60; 62; Jer 3 , 1 4 - 1 8 ; Sach 14,16-19 u.a.; 10.) Weltweite Abrüstung und universaler Völkerfrieden: Jes 2 , 2 - 4 ; Hos 2,20; Mi 4 , 1 - 4 ; Ez 39,9f. u.a.; 11.) Teilhabe der Völker am Heil: Jes 2 , 2 - 4 ; 19,24; 4 5 , 2 2 - 24; 5 5 , 3 - 5 ; 60,3; 66,18-22; Zeph 2,11; 3,9f.; Sach 2 , 1 1 - 1 6 ; 8,20-22; Mal 1,11; 12.) Segen und paradiesische Fruchtbarkeit: Jes 30,23-25; 51,3; Ez 36,29f.; 47; Joel 4,18; Am 9 , 1 3 - 1 5 ; Sach 14,8; 13.) Neuer Mensch (neuer Bund, neues Herz usw.): Jes 11,9; Jer 24,6f.; 30,22; 31,31ff.; 32,36-41; 3 3 , 6 - 9 ; Ez ll,19f.; 16,59-63; 34,25; 36,20-27; 37,26; Sach 13,1 u.a.; 14.) Gabe des Geistes Gottes: Jes 44,3; Ez 36,27; 39,29; Joel 3,1 f.; 15.) Beseitigung von Krankheit und Gebrechen: Jes 29,18; 35,57; 65,20-23; vgl. Sach 8,4; Totenerweckung: Dan 12,2; Jes 26,19?; Überwindung von Tod und Leid: Jes 25,8; 16.) Friede zwischen Mensch und Tier: Jes 11,6-8; 65,25; 17.) Neuer Himmel und neue Erde: Jes 65,17-25; 66,22; vgl. die Umgestaltungen in Sach 14,6; Jes 60,19f.

Verheißung I

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2.5. Als Ergebnis kann festgehalten werden: Verheißung stellt außerhalb der Prophetie keine Gattung im Gunkelschen Sinne dar, sondern ist in den Väterüberlieferungen lediglich ein literarisches Motiv, eingeordnet in übergreifende Formen und Gattungen. Um Verheißung von anderen zukunftsbezogenen Redeweisen (wie Wunsch, Bitte, Befehl usw.) abzugrenzen, empfiehlt es sich, sie auf Heil ankündigende Gottes- oder Prophetenrede in 1. Person Singular Imperfekt oder ivaw-Perfekt zu beschränken. 3. Die Verheißungen

an die

Erzväter

3.1. Blickt man auf den Bestand der Verheißungen im ganzen (vgl. Clines und die allerdings fehlerhaften Auflistungen bei Westermann, Verheißungen), zeigt sich, daß sie — abgesehen von Gen 17 (P), der Geburtsankündigung in Gen 18 und der Verbindung von Sohn, Mehrung und Land in Gen 15 — nicht zur Substanz der von ihnen gestalteten Überlieferungen gehören, sondern redaktionell vorangestellt (12,l-4a.6—8), eingeschoben (16,10; 21,13.18b; 28,13-15; 31,3; 4 6 , 2 - 4 ) und angefügt sind (13,14-17; 22,15-18) oder als Rahmen fungieren (26,2-5.24; aber auch 2 8 , 1 0 - 1 9 und 35,9-13). Die Gottesreden betreffen in der Hauptsache das Land und die Mehrung der Nachkommen, kombinieren jedoch allermeist mehrere Verheißungen. Dabei setzen sich die zwar stets als Gottes- oder Botenrede, nicht aber in der 1. Person formulierten Ankündigungen der Geburt eines Sohnes (15,4; 16,11; 18,10.14) und die Zusagen göttlichen Beistandes auf dem Wege (28,15; 31,3) dadurch ab, daß sie ihre alsbaldige Erfüllung schon im Blick haben, während Land, Mehrung, großes Volk und die Wirkungen des Segens für eine ferne Z u k u n f t in Aussicht gestellt werden. Die Verheißungen sind ungleich verteilt, aber durchaus nicht zufällig so, daß sie sich allein im Sohn Abrahams und Vater Jakobs überschneiden. So hat das Thema Sohn nur die Abrahamüberlieferung gestaltend durchdrungen (15,2f.; 16,11; 17; 18,10—14; 21,1-7). Auch wird der Segen nur hier (12,2f.) und bei Isaak (26,3) verheißen, während Jakob ausdrücklich gesegnet wird (27; 32,27.30). Umgekehrt bindet die Zusage führenden Geleits nur die Isaak- (26,3.24) und Jakobüberlieferung zusammen (28,15; 31,3; vgl. 32,10-13; 46,3). Die Verteilung der verschiedenen Verheißungen und manche Formulierungsdifferenzen stehen bei aller Stereotypie des Ausdrucks im Dienst planvoller Leseabläufe und sind deshalb nicht ohne weiteres traditionsgeschichtlich auswertbar. So sind 12,1-3; 12,7 und 13,14-17 dadurch eng aufeinander bezogen, daß die Landverheißung stets als Verheißung „dieses Landes" begegnet und deshalb nicht schon in Haran, sondern erst im Lande (12,7) ergehen kann, das zu durchziehen und damit in Besitz zu nehmen Abraham in 13,17 aufgefordert wird, nachdem sich Lot von ihm getrennt hat und Gott es ihn hat „sehen lassen" (vgl. 13,14f. mit 12,1b). Auf die genealogische Nebenlinie Ismael wenden 21,13.18 mit Bedacht nur die Verheißung eines großen Volkes aus 12,2, nicht jedoch die des Segens und des Landes. Die angesichts der Situation von 26,1 komplexen Formulierungen in 2 6 , 2 - 3 a . b a übertragen Abrahams Landverheißung und Segen auf Isaak (vgl. 26,2b mit 12,1b). Schließlich fassen 28,13 f. Landgabe, Mehrung und Segen von 12,2f.7; 13,14-17 in einer Gottesrede zusammen, wobei das Motiv der vier Himmelsrichtungen und der Relativsatz bei der Land-Verheißung auf den neuen Kontext hin formuliert worden sind, auf eine ausdrückliche Verheißung des Segens jedoch nach Gen 27 verzichtet wurde. Ganz im Dienste der Übertragung der fundamentalen Verheißung von Abraham über Isaak auf Jakob stehen auch die Gottesbezeichnungen in 12,1; 26,24; 28,13. Darüber hinaus bilden die großen Gottesreden 12,1—3 und 46,3f. über das Stichwort „großes Volk" eine äußere, 13,14—17 und 28,13 f. über die gemeinsamen Motive eine innere Klammer. Die Verbindung von Verheißung und Befehlen zu Aufbruch oder Bleibe markiert im Rhythmus von Mesopotamien - Kanaan (12,1 - 3; 31,3) und Kanaan - Ägypten samt Rückkehr (26,2f.; 46,3f.) das nachhaltige Interesse an Kanaan als Verheißungs-

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land und deutet die gesamte Vätergeschickte als Weg, den Gott mit seinen Verheißungen gebahnt und mit seinen Weisungen veranlaßt hat. 3.2. Während J. Wellhausen und Gunkel den größten Teil der Verheißungen als redaktionelle Zusätze aus der späten Königszeit oder gar erst aus der Zeit des Exils beurteilen, würdigen W. Staerk und K. Galling sie als propria der einzelnen Quellenschriften bzw. als literarisches Ferment zur Verbindung der verschiedenen Traditionen schon durch den ersten Gesamtgestalter, den von Rad aufgrund seiner These vom kleinen geschichtlichen Credo bereits in der salomonischen Zeit ansetzt. A. -»Alt meinte, hinter die zweifellos jüngeren literarischen Bezeugungen dadurch gelangen zu können, daß er sie als Kundgaben des von ihm jeweils vermuteten Vätergottes weit vor des Mose Tagen deutete. Dabei schrieb er wegen der von ihm angenommenen natürlichen Interessenlage der den Numina und ihren Offenbarungsempfängern verbundenen Gruppen das Thema Kulturland erst einem palästinischen, das Thema Nachkommenschaft jedoch schon einem vorpalästinischen Stadium der Vätergottreligion zu und meinte, in der Zusage eines Sohnes in der unlokalisierten „Sage" Gen 15 auf nomadisches Urgestein gestoßen zu sein (Alt 66f.). Dieser überlieferungsgeschichtliche und soziologische Ansatz hat zu weiteren Differenzierungen eingeladen, in deren Gefolge nicht nur die Verheißung eines Sohnes (Westermann, Verheißungen; Albertz 58f.), zahlreicher Nachkommenschaft und Volkwerdung (Maag 129; Seebaß, Verheißungen 198ff.) sowie göttlichen Geleits (Preuß; Westermann, Verheißungen; de Pury; Albertz 61f.), sondern auch die Verheißung „neuen Lebensraumes" in Verbindung mit dem Imperativ zur „Transmigration" (Maag 123ff.260ff.; Westermann, Verheißungen 128; Ruprecht 173), ja, sogar des Kulturlandbesitzes um Bethel (Seebaß, Erzvater 23; de Pury 1 7 5 - 1 8 1 ; Scharbert, Urgestein 361 ff.) auf nomadisches Erbe zurückgeführt wurden, so daß Maag die Religion der Nomaden geradezu als „Religion der Verheißung" charakterisieren konnte (Maag 156).

Nichts von alledem hat kritischer Prüfung standgehalten - weder die dabei stets vorausgesetzten Hypothesen vom Gott der Väter (Diebner; Köckert, Vätergott; u.a.) und von der nomadischen Herkunft Israels außerhalb des Landes (s. die Literatur bei Köckert, Gott 153-157) noch die zu den Väterverheißungen (Hoftijzer; Rendtorff; Van Seters, Abraham; Blum, Vätergeschichte; Köckert, Vätergott; Levin u.a.). Eine ursprüngliche, selbständige Verheißungserzählung eines Sohnes hat es nie gegeben. Die sog. Sohnesverheißungen sind nichts anderes als literarische Umbildungen von Geburtsnotizen in Geburtsankündigungen für oder von besonderen Personen (Gen 15,4; 16,11; 18; Jdc 13; II Sam 7,12.14; I Reg 13,2; II Reg 4,16; Jes 7,14; I Chr 22,9). Die Zusage des Geleits bezieht sich stets auf Ortsveränderungen im unmittelbaren Kontext, die literarischer, nicht nomadischer Natur sind. Transmigrationen sind für das altvorderorientalische Randnomadentum nicht bezeugt und verdanken ihre Existenz lediglich der inspirierten Interpretation eines Films von Sven Hedin durch V. Maag. Damit fällt auch die daraus abgeleitete Verheißung neuen Lebensraumes. Die Verbindung von Imperativ und Verheißung unterstellt Aufbruch (12,1; 46,3), Bleibe (26,2f.) oder Rückkehr (31,3.13; 32,10) göttlicher Planung und Leitung und steht im Dienste einer bestimmten Geschichtstheologie. Für die überlieferungsgeschichtliche Rekonstruktion einer ursprünglichen Nachkommenschaftsverheißung an Ismael fehlt die Basis, weil 16,10 als literarische Kombination von 22,17 und 32,13 abhängig ist und 21,18b nur von 21,13 vorbereitet wird, der seinerseits 12,2f. mit den dort bereits demokratisierten königsideologischen Topoi voraussetzt. Gegen eine kleinräumige Deutung der Verheißung des Landes in 28,13.14b auf die Nutzung des unmittelbaren Gebietes um Bethel sprechen die kontextbezogene Formulierung des Relativsatzes und die Parallelen 13,15; Dtn 1,36, in denen der Relativsatz gleichfalls jeweils den literarischen (!) Kontext berücksichtigt, so daß daraus keine historischen Schlüsse gezogen werden können. Unabhängig von jenen Ausflügen in die nomadische Vorzeit hat man in einem Grundbestand der Verheißungen häufig die Lichter gesehen, die insbesondere das theologische Profil eines in die frühe Königszeit datierten —>Jahwisten hervortreten lassen, unbeschadet der Annahme sekundärer Weiterbildungen, wozu die Formulierung als Eid und die Bindung ans Gesetz gehören (W. H. Schmidt; Seebaß; Emerton; L. Schmidt; Berge). Noch im Rahmen des (wenn auch stark modifizierten) Quellenmodells liegen die Entwürfe, die mit einer Spätansetzung des , Jahwisten" auch die Verheißungen in der exilischen

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Zeit beheimaten; dabei spielt die deuteronomische Theologie als Nährboden (H.H. Schmid; bei Van Seters kennt der Jahwist sogar DtrG [-»Deuteronomium/Deuteronomistisches Geschichtswerk/Deuteronomistische Schule II.2.2.3.]) oder als Kontrapunkt (Levin) die entscheidende Rolle. Aus dem Schatten des Quellenmodells treten jene Untersuchungen, welche die Verheißungen als Mittel der Verknüpfung verschiedener Überlieferungskomplexe würdigen (Rendtorff; Blum; Köckert; Carr; K. Schmid). 3.3. Die Literargeschichte der Verheißungen ist mit jener der Väterüberlieferungen verknüpft. 3.3.1. Den älteren Überlieferungen aus der Königszeit waren Verheißungen fremd. Die aus dem Nordreich stammende Jakob-Esau-Laban-Erzählung wird von Gotteserscheinung, Gelübde und Rückkehrbefehl zusammengehalten (28,10-13.16-19.20-22; 31,13). Die judäische Abraham-Lot-Erzählung kennt lediglich die Ankündigung einer wunderbaren Geburt (ob in der Gestalt von 18,10-14, steht wegen V. 14a und seinen Seitenstücken in Jer 32,17.27; Sach 8,6 dahin) als himmlisches Gastgeschenk im Kontrast zum schimpflichen Ursprung Moabs und Ammons in 19,30-38. Das entspricht der Traditionsgeschichte bei den Themen Land und Segen: Der Vorstellung der Landgabe und ihrer Verheißung geht die kriegsrechtliche Deutung des Landbesitzes ebenso voraus (Köckert, Jahwe 47ff.), wie die Segensverheißung aus dem Segensspruch als Wirkwort erwächst. Erst als die Gaben ernstlich gefährdet waren, deren selbstverständlichen Besitzes man sich dankbar erfreute, bedurfte es ausdrücklicher göttlicher Vergewisserung. 3.3.2. Ein älterer Grundstock verheißender Gottesreden wäre nach dem Fall —>Samarias 720 v.Chr. durchaus vorstellbar (Blum, Vätergeschichte 289ff., rechnet dazu 13,14-17 und 28,13f.; Carr dagegen beheimatet in seiner „Proto Genesis" alle Verheißungen, die man anderwärts J zuschreibt). Jedoch sprechen die literarischen Bezüge und Abhängigkeiten bei 1 2 , l - 4 a . 6 - 8 ; 13,14-17; 26,2-3a.ba; 28,13f.; 46,3f. eher für die Zeit des Exils und danach (Köckert; Blum, Studien 214), in der die Frage umging, ob Israel überhaupt noch ein „Volk" (Jer 31,35—37; 33,23—26) und nicht eher ein Fluchdenn ein Segenswort unter den Völkern sei (Jer 24,9; 25,18; 26,6 u.ö.). 3.3.3. Hiervon unterscheiden sich 22,15—18; 26,3b/?-4.24. Nach der bestandenen Probe von 2 2 , 1 - 1 4 läßt Gott Abraham bezeichnenderweise nur des Segens und der Mehrung seiner Nachkommen durch einen Eid versichern, weil sie durch die Probe aufs Äußerste gefährdet waren, und bindet beides an des Erzvaters vorausgegangene Gehorsamstat, um deretwillen die Verheißungen dann an Isaak übergehen. Vielleicht gehören auch 26,5 und 18,17-19 hierher, die Abraham als Torafrommen zeichnen und die Erfüllung der Verheißung an die Beachtung des Gesetzes binden, zu welchem Zwecke Abraham wie weiland Mose ein ausdrückliches Lehramt innezuhaben scheint. 3.3.4. Ob diese und verwandte Texte wie 15; 28,15; 31,3; 32,10-13; 50,24f. auf eine Bearbeitung in deuteronomistischem Geiste zurückgeführt werden können (Blum, Vätergeschichte; Carr: „semi-Deuteronomistic"), ist strittig (zuletzt K. Schmid), da die Vergleichstexte zu den jüngsten Überlieferungsbildungen im Deuteronomistischen Geschichtswerk und bei Jeremia gehören und überdies Anliegen vertreten, die der deuteronomistischen Theologie entgegenstehen. Strittig ist auch, ob die zu einem göttlichen Eid verstärkten und stets als Rückverweis stilisierten Landverheißungen an die Väter mit ausdrücklicher Nennung der Vätertrias (24,7; 50,24f.; Ex 32,13; 33,1; Lev 26,42; Num 32,11; Dtn 34,4; vgl. Gen 1,8; 6,10; 9,5; 30,20), die zweifellos den gesamten Pentateuch als Horizont haben (Belege s. Kottsieper 987ff.), mit denen ohne Väternamen zusammengehören (Lohfink, Väter; Blum, Pentateuch), oder ob jene Belege ohne Väternamen traditionsgeschichtlich zu sondern und allein auf die Exodus-Väter zu beziehen sind (Römer, Väter), so daß die Verheißungen als Eid mit der Vätertrias zu einer nachpriesterlichen Redaktionsschicht des Pentateuch gehören würden (Römer, Väter 554— 568; Schmitt, Josephsgeschichte 394).

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3.3.5. Die —•Priesterschrift setzt ganz eigene Akzente (Köckert, Leben 34—44). Sie stellt in Gen 17 die gesamte Väter- und Volksgeschichte unter das Leitwort „—>Bund", der in der Zusage exklusiver und unverbrüchlicher Gottesnähe für Abraham und seinen Samen gipfelt. Die Verheißung der Mehrung (17,2.6; 48,4; vgl. 28,3; 35,9.11) greift mit prh und rbh den in 9,1 erneuerten Schöpfungssegen von 1,28 auf, dessen Erfüllung 47,27; E x 1,7 ausdrücklich feststellen. Kontextgemäß erscheint Abraham in Gen 17,4.6 als „Vater von V ö l k e r n " , J a k o b dagegen in 35,11 nur als Vater eines Volkes. Dabei ist der qehal 'ammim/göyim in 28,3b; 35,11; 48,4 in Verbindung mit der Ankündigung von Königen in 17,6; 35,11 vielleicht auf das aus Nord- und Südreich bestehende Israel zu beziehen (mit Verweis auf Ez 37,22: Blum, Vätergeschichte 457). Anders als die Verheißung der Mehrung erscheint das in 17,8 verheißene Land beim jeweiligen Sohn (28,4; 35,12) stets im Rückverweis auf die bereits vollzogene Übereignung des Landes zu bleibender Nutzung. Schließlich überträgt E x 6,4 den Vollzug der Landgabe auf die Vätertrias insgesamt. Die Priesterschrift hat also die vorgegebene Landverheißung als schon an den Verheißungsempfängern erfüllt verstanden (Köckert, Land 154ff.; L. Schmidt, Studien 257f.). 3.3.6. Eine nachdeuteronomistische und nach-priesterliche Entstehungszeit wird zunehmend für die Verheißungen aus 3.3.3. und 3.3.4., vor allem aber für das literarisch einheitliche (Köckert, Vätergott 223 - 2 2 7 ) Verheißungskompendium Gen 15 (Ha; R ö m e r , Genesis 26; K. Schmid 1 7 2 - 1 8 6 ) und neuerdings auch für Gen 12* (Ska) erwogen. Gen 15 bündelt die Verheißungen aus Gen 12f., setzt mit der Rückkehr „hierher" (V. 16) Jerusalem aus 14,18 voraus, hat in V. 1 3 - 2 1 die gesamte Geschichte Israels von der Landgabe bis zum Landverlust (Genesis bis 2. Könige) und mit der Stilisierung Abrahams auch die Prophetie im Blick und scheint nicht nur durch Einzelformulierungen (vgl. Ur Kasdim 15,7 mit 11,27 u.a.), sondern auch in der Korrektur von 17,17 durch 15,6 P zu kennen. Da der programmatische Einsatz 1 2 , 1 - 4 a in Wortwahl und Topik keineswegs als vorexilisch gelten kann (Köckert, Vätergott 2 4 8 - 2 9 9 ) und einerseits mit der Konzeption von Volk-Sippe-Land an P in 10,5.20.31 erinnert, andererseits aber mit der Motivation des Aufbruchs nach Kanaan das literarisch nur mit M ü h e auflösbare Stück 1 1 , 2 7 - 3 2 korrigiert, erscheint eine Erwägung nach-priesterlicher Herkunft nicht als völlig abwegig. Doch ist eine Rückführung der mit 12,1—3 zusammenhängenden Verheißungen (3.3.1.) erst auf die Pentateuchredaktion nicht mit der Literargeschichte der Verheißungen zu vermitteln, so daß von einer einigermaßen konsensfähigen Rekonstruktion des Weges der Verheißung durch die Geschichte des alten Israel noch nicht gesprochen werden kann. Literatur Rainer Albertz, Religionsgesch. Israels in atl. Zeit, 1992 (GAT 8 / 1 - 2 ) . - Albrecht Alt, Der Gott der Väter, 1929 (BWANT 111/12) = ders., KS zur Gesch. des Volkes Israel, München, I 1953, 1 - 7 8 . - Friedrich Baumgärtel, Verheißung. Zur Frage des ev. Verständnisses des AT, Gütersloh 1952. - Joachim Begrich, Stud. zu Deuterojesaja, 1963 (TB 20). - Kare Berge, Die Zeit des Jahwisten. Ein Beitr. zur Datierung jahwistischer Vätertexte, 1990 (BZAW 186). - Erhard Blum, Die Komposition der Vätergesch., 1984 (WMANT 57). - Ders., Stud. zur Komposition des Pentateuch, 1990 (BZAW 189). - Ders., Art. rb: ThWAT 7 (1993) 3 0 0 - 3 1 5 . - Rudolf Bultmann, Weissagung u. Erfüllung: ders., GV, II 1952, 1 6 2 - 1 8 6 . - David M. Carr, Reading the Fractures of Genesis. Hist. and Literary Approaches, Louisville, Ky. 1996. - David J.A. Clines, The Theme of the Pentateuch, 1978 z 1997 (JSOT.S 10). - Bernd J. Diebner, Die Götter des Vaters. Eine Kritik der „Vätergott"-Hypothese Albrecht Alts: DBAT 9 (1975) 2 1 - 5 1 . - Karl Elliger, Deuterojesaja, 1978 (BK X I / 1 ) . - John A. Emerton, The Origin of the Promises to the Patriarchs in the Older Sources of the Book of Genesis: VT 32 (1982) 1 4 - 3 2 . - Irmtraut Fischer, Die Erzeitern Israels. Feministischtheol. Stud. zu Genesis 1 2 - 36, 1994 (BZAW 222). - Norbert Füglister, Psalm 105 u. die Väterverheißung: Die Väter Israels (s.u.) 4 1 - 6 0 . - Kurt Galling, Die Erwählungstraditionen Israels, 1928 (BZAW 48). - Hermann Gunkel, Die israelit. Lit.: Die Kultur der Gegenwart, T. I, Abt. VII, Berlin 1906, 5 1 - 1 0 2 . - Ders., Genesis übers, u. erkl., 1910 (HKAT I / l 3 ) . - Ders., Die Propheten, Göttingen 1917. - John Ha, Genesis 15. A Theol. Compendium of Pentateuchal History, 1989

Verheißung I

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704

Verheißung II

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Matthias Köckert

II. Neues Testament 1. Theologisch-hermeneutische Hinführung zur Thematik 2. snayyeXia im Neuen Testament 3. Verheißung als Grundthema einer Biblischen Theologie (Literatur S. 707)

1. Theologisch-hermeneutische

Hinführung

zur

Thematik

Ist im Neuen Testament von Verheißung die Rede, so impliziert das essentiell die Frage nach dem Verhältnis von Altem und Neuem Testament. Es ist jedoch trotz eines gewissen Wahrheitsmoments zu undifferenziert, dieses Verhältnis als das von alttestamentlicher Verheißung und neutestamentlicher Erfüllung zu definieren. Allein die inneralttestamentliche Sequenz von Verheißung und Erfüllung indiziert einen erheblich komplizierteren Prozeß. Wegen der unterschiedlich verwendeten Begriffe Verheißung und Weissagung sei Verheißung hier als christologisch-eschatologische Heilszusage Gottes verstanden, deren Erfüllung unumstößlich erfolgt, weil sie Verheißung Gottes ist, nämlich die Verheißung des in und durch Christus verwirklichten Heils, das Ewigkeitscharakter hat. Verheißung meint freilich im Neuen Testament nicht nur den Akt der Heilsverheißung, sondern auch das Verheißungsgut. Die ausgesprochene oder unausgesprochene Voraussetzung der Sequenz „Verheißung - Erfüllung" ist das Geschehen in der -*Zeit, Zeit entweder im vordergründig chronologischen Sinn oder im existentialen Sinn von Zeitlichkeit als fundamentaler Seinsform jedes menschlichen Daseins. Mit Zeit und Zeitlichkeit kommen aber notwendig Geschichte und, wiederum als Existential, Geschichtlichkeit in den Blick. Geschichtliches Denken in biblischen Büchern hat deshalb theologische Relevanz, weil Gottes Handeln in beiden Testamenten sein geschichtliches Handeln am -»Menschen bzw. am Volk -•Israel und der -»Kirche ist. Somit wird in biblischer Sicht die Geschichte als theologische Kategorie zum Ort der Präsenz Gottes. Der sich in Wort und Tat offenbarende Gott ist in seinem Wesen der sich geschichtlich erweisende Gott. Ein Denken hingegen, das von einem abstrakt gefaßten Gott ausginge und dann diesem das Prädikat „geschichtlich" hinzufügte, machte Gott zum verfügbaren Produkt menschlichen Verstandes und verfehlte, indem es die Wirklichkeit Gottes verfehlte, notwendig ein der biblischen Verkündigung entsprechendes Verständnis von Verheißung und Erfüllung. Auch der mit der Verheißung mitzudenkende Gedanke des Heils wäre also ohne die Denkvoraussetzung von Zeit und Geschichte und zugleich von Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit seiner Substanz beraubt. Damit wird ein weiterer hermeneutischer Aspekt deutlich: Menschliches Dasein ist auf Zukunft aus. Wer keine Zukunft mehr erwartet, verzweifelt am Sinn des -»Lebens. Verbürgt ihm aber Gott seine Heilszukunft und macht er ihn so zum Menschen der unumstößlichen -»Hoffnung, so leuchtet bereits das zukünftige Heil in die heillose Dunkelheit der Gegenwart hinein. Gottes Zukunftsverheißung besitzt also für den Glaubenden bereits die Dimension der Gegenwart. Was soeben über die Verheißung gesagt wurde, koinzidiert mit der Aussagetendenz anderer zentraler neutestamentlicher Termini, die alle den einen theologischen Aspekt der neutestamentlichen -»Theologie zum Ausdruck bringen: Neutestamentliche Theologie ist —>Eschatologie. Seit der -»Dialektischen Theologie hat sich die Erkenntnis

Verheißung II

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durchgesetzt, daß Theologie, will sie wirklich Theologie sein, Eschatologie sein muß. So ist auch christliche Existenz eschatologische Existenz, „neue Kreatur" (Gal 6,15; II Kor 5,17). In diesem Sinne ist für -»Paulus bereits das gegenwärtige Dasein des Gerechtfertigten die eschatologische Erfüllung der alttestamentlichen Verheißung. Schaut man aber aus der Perspektive des Apostels nach vorn auf die dem Glaubenden gegebene Verheißung, so ist die in seiner Gegenwart sich vollziehende -> Rechtfertigung die eschatologische Antizipation des Endgerichts, also des eigentlichen Eschatons. Ist nun die Rechtfertigung die Mitte der paulinischen Verkündigung und Theologie, so ist die Gerechtigkeit Gottes (->Gerechtigkeit) sowohl die Antizipation des Verheißungsguts als auch das in der Glaubensgegenwart sich ereignende endgültige Offenbarwerden des göttlichen Verheißens (Rom 3,21). Chronologische Zeit und Chronologie überwindende Zeit konstituieren somit in ihrem eigentümlichen gegenseitigen Bezug das Eschaton als „Zeit" des Heils. Ähnliches läßt sich für die johanneische Theologie zeigen, zumindest für die Sicht des Endredaktors des ->Johannesevangeliums. Der analoge Fall ist mit Jesu Verheißung der Gottesherrschaft (-»Herrschaft Gottes/Reich Gottes) gegeben, auch im Spiegel der jeweiligen Theologien der Evangelisten: nur als die zukünftige ist sie gegenwärtig. Die Eschatologie des gesamten Neuen Testaments ist also vom Ineinander der Gegenwart und Zukunft her zu interpretieren: die Verheißung der Zukunft qualifiziert die Gegenwart; nur als so qualifizierte ist sie Zeit des Heils. Der Tatbestand, daß der theologische Gedanke der Verheißung auch unausgesprochen über seine explizite thematische Behandlung hinaus die neutestamentlichen Schriften durchzieht, könnte das Thema „Verheißung im Neuen Testament" zu einer Gesamtdarlegung der neutestamentlichen Theologie ausweiten. Um eine solche Ausuferung zu vermeiden, werden im folgenden nur diejenigen Aussagen des Neuen Testaments berücksichtigt werden, in denen expressis verbis von der Verheißung die Rede ist.

2. enayyeXia im Neuen

Testament

Das griechische Wort für Verheißung im Neuen Testament ist enayyeXia, das in der Septuaginta kaum begegnet. Thematisch wird es bei Paulus vor allem in Gal 3 f. und in Rom 4 und 9 entfaltet. Konstitutiv ist es auch für die theologische Argumentation im —»Hebräerbrief. In der —>Apostelgeschichte findet es sich mehrfach, jedoch ohne daß es für die theologische Konzeption bestimmend wird. Im —>Galaterbrief ist enayyeXia für die theologische Beweisführung gegen die Judaisten von fundamentaler Bedeutung (3,14-4,28). Die Verheißung an -»Abraham ist der eigentliche Inhalt der Schrift. enayyeXia steht in Gal 3f. im Wortfeld der wesentlichen Termini der Rechtfertigungstheologie: Als Verheißung des Heils für alle Völker ist sie mit dem Evangelium (eoayyeXiov) identisch (Söding, Verheißung und Erfüllung 153), denn in vorevangelischer Zeit wurde Abraham von Gott die Verheißung als Evangelium für alle Völker zugesprochen (3,8: npoeotjyyeXbaro [!]; vgl. Gen 18,18 u.ö.). Ihm wurde wegen seines -»-Glaubens (nioTiq, trotz 3,23!) die Gerechtigkeit (öiKaioaövrj) zuteil (3,6; obiectivus). vgl. Gen 15,6). Er empfing die Verheißung des Geistes (Gal 3,14; genetivus Dem Abraham galten die Verheißungen des göttlichen Erbes (3,18: KXrjpovofiia). Der eigentliche Erbe ist jedoch Christus (3,16), aber wegen unseres In-Christus-Seins sind wir die Miterben. Die enayyeXia ist hier fast synonym mit SiadrjKr] (3,15—17) verstanden, diese aber mehr im Sinne von „Testament" (anders 4 , 2 1 - 3 1 ) . Heilsrelevant ist also im Alten Testament die Verheißung Gottes an Abraham, nicht aber das -»Gesetz des -•Mose: Abraham, nicht Mose! Das Alte Testament-für Paulus die „-»Schrift" {ypa^ff) - ist also wesenhaft das Buch der Verheißung(en) an Christus und an die „in Christus"; das verheißene Heil ist die in Christus geschehene Erfüllung für alle Völker. Eine Heilsprärogative Israels vor diesen kennt der Galaterbrief nicht. Auch eine noch ausstehende Verheißung auf die Wiederkunft Jesu liegt außerhalb der Argumentation des Galaterbriefes. Nur implizit ist mit dem Begriff der Rechtfertigung der Tag des Jüngsten -»Gerichts ausgesagt.

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Verheißung II

Dieser theologische „Sach"-Verhalt spiegelt sich auch in der theologischen Überschrift des -*Römerbriefes (l,16f.). Paulus verkündet die schon dem Abraham gegebene Verheißung (4,13f.20), nämlich das als Süvafiig Oeoß verstandene Evangelium, das die Präsenz des zum Heil mächtigen Gottes ist. „Macht Gottes" ist inhaltlich gleichwertig mit „mächtiger Gott", da Gottes Macht nur begrifflich, nicht aber in re vom mächtigen Gott unterschieden werden kann. Verheißung und Evangelium als actio Dei sind somit mit dem Deus agens identisch, mit Gott als dem das Heil Wirkenden. Ist aber der mächtige Gott in seiner rechtfertigenden Gerechtigkeit der gerechtmachende Gott (öiKaioavvrj OEOÜ), SO ist, wie schon angedeutet, im Begriff der Gerechtigkeit der Blick auch auf das futurische Eschaton, das kommende Weltgericht, gerichtet. Die Sequenz „Evangelium als Verheißung an Abraham — Erfüllung dieser Verheißung in Jesus Christus und seinem Evangelium — neutestamentliches Evangelium als Verheißung des futurischen Eschatons" zeigt die chronologische und zugleich auch die die Chronologie transzendierende Dimension der paulinischen Theologie. Wie im Galaterbrief wird Abraham zur bestimmenden Gestalt des Alten Testaments. Ihm wird die Verheißung als dem gegeben, der durch seinen Glauben mit der Heilszeit in Christus „gleichzeitig" wird (Rom 4,13f.20). Den an Christus Glaubenden gilt aber die an Abraham gegebene Verheißung in dem Sinne, daß für sie die futurische Heilszeit des Endgerichts proleptisch zur Heilsgegenwart wird (Rom 4,23f.). So ist es nur konsequent, wenn Paulus in Rom 9 - 1 1 die Israel-Frage (-•Israel) thematisiert und hierfür, nun im chronologischen Horizont, die Geschichte Israels von Abraham bis zum Endgericht unter dem Gesichtspunkt der Verheißung theologisch reflektiert. Dabei verschlingen sich inneralttestamentliche Verheißungen (9,6-16) mit solchen auf Christus hin bis zur Verheißung des eschatologisch-futurischen Heils für Israel (11,26). Im -+Epheserbrief 2,12 ist Israel als alttestamentlicher Empfänger der Verheißung verstanden; doch in Christus endet diese Prärogative (Hans Hübner: H N T 12 [1997] 181-183). Den eschatologischen Charakter der inayyekia im Hebräerbrief hat vor allem E. Käsemann herausgearbeitet, dabei aber zu stark ihre futurische Bedeutung betont. Die neuere Forschung hat differenzierter geurteilt. K. Backhaus hat zutreffend zwischen Verheißungswort und Verheißungsgegenstand einerseits und zwischen „bereits irdischimmanenter Verheißung" und „noch ausstehender transzendent-eschatologischer Verheißung" andererseits unterschieden (Backhaus, Bund 151). Ebenfalls zutreffend interpretiert E. Gräßer enayyeXia in Hebr 4,1 als Begriff, „der das Heil in der Spannung zwischen gegenwärtig proklamiertem Verheißungsakt und eschatologischer Vollendung . . . festhält" (Gräßer I, 201). Hebr 4,1 steht im Kontext der Auslegung von Ps 94,7-11 L X X (vgl. Hebr 3 , 7 - 1 1 ) , der Warnung an das alttestamentliche Israel, die jetzt den Christen gilt. Diesen wird nun das verheißende Evangelium zuteil wie einst den Israeliten (4,2). Über den Umweg der Paränese wird das zugleich alt- und neutestamentliche Evangelium zur identischen Verheißung des Alten und Neuen —»Bundes. Wie bei Paulus finden sich inneralttestamentliche Verheißungen neben der allein an die Christen ergangenen Verheißung, spielt Abraham eine konstitutive Rolle, steht inayysMa im Wortfeld zentraler soteriologischer Begriffe und ist Gott das Subjekt der Verheißung(en). Mit Backhaus (Bund 150): Dieser Begriff ist ein Signum für die theozentrisebe Interpretation der Heilsgeschichte im Hebräerbrief, die von daher nicht unmittelbar politisch oder territorial ausgewertet werden kann (Backhaus, Land 188). H. Hegermanns Vermutung, von jüdisch-alexandrinischen Kontexten her würden die Kategorien von Raum und Zeit theologisch hinterfragt, dürfte vom Ineinander chronologischer und Chronologie transzendierender Denkstrukturen her gerechtfertigt sein (Hegermann 108). 3. Verheißung als Grundthema

einer Biblischen

Theologie

Der neutestamentliche Tatbestand zeigt, daß gerade der Umgang des Paulus und des Verfassers des Hebräerbriefes mit der Verheißungs-Thematik das Problem einer Biblischen Theologie (im Sinne von gesamtbiblischer Theologie) angeht, in der es um die

Verheißung II

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Frage nach Kontinuität und Diskontinuität vom Alten zum Neuen Testament geht (s.o. 1.2.1.)- An zwei Extrempositionen sei zunächst die theologische Bandbreite aufgezeigt, innerhalb deren über Verheißung reflektiert wird, und zwar im Blick auf das Verhältnis der beiden Testamente, also als Kernfrage Biblischer Theologie. Der Alttestamentler Friedrich Baumgärtel (1888-1981; s. o. 1.2.1.) denkt vom Neuen Testament her, wenn er den Sinn von Verheißung herausstellt. Er unterscheidet scharf zwischen Weissagung (eines bestimmten Einzelgeschehens) und Verheißung. Die alt- und neutestamentlichen Weissagungen sind aber für den christlichen Glauben belanglos. Entscheidend ist nur die alttestamentliche Grundverheißung auf Christus hin (Baumgärtel 143): „Das hermeneutische Prinzip kann nur das sein, mit welchem das Neue Testament das alttestamentliche Wort als Gotteswort begreift: Verheißung in Christus. Nur mit dem scopus Verheißung in Christus kann die Relevanz der alttestamentlichen Aussage für den christlichen Glauben erfaßt und dargestellt werden." Ähnlich: „Das Neue Testament versteht das alttestamentliche Wort als Zeugnis von der Verheißung Gottes, die über dem alten Bund liegt und in der Verheißung in Christus wahr geworden ist" (ebd. 85). Nach Baumgärtel ist also lediglich diese Auswahl aus dem Zeugnis des Alten Testaments für den Christen theologisch bedeutsam. Die gegenüber Baumgärtel kontradiktorische Position vertritt Erich Zenger (71 f.), der z.B. die messianische Verheißung von Ps 72 so interpretiert, daß sie nicht mit dem irdischen Kommen Jesu ihre Erfüllung gefunden habe; vielmehr sei Jesus „eine weitere ,messianische' Verheißung — für uns Christen der designierte Messias". Denn „die in diesem Psalm erflehte ,messianische' Wirklichkeit steht noch aus". Indem sich Zenger gegen „unsere einseitig vom Neuen Testament entworfene Messianologie/Christologie" ausspricht, sieht er nicht die alttestamentliche Verheißung im Christusereignis des Neuen Testaments erfüllt, sondern relativiert dieses Geschehen als Übergangsphase: die messianische Erfüllung für Israel und eben auch (!) für Christen steht noch aus. Das Neue Testament ist also vom Alten Testament (in der problematischen Diktion Zengers: Erstes Testament) her zu lesen und zu interpretieren, da sonst eine „offenbarungspositivistische Verkürzung der gesamtbiblischen Botschaft der einen, zweigeteilten christlichen Bibel" gegeben wäre (ebd. 71f.). Das bloße Referat dieser Auffassung impliziert bereits das theologische Nein zu ihr. Verheißung im neutestamentlichen Sinne ist hier durch ihre Relativierung negiert. Die Frage, ob nicht durch neutestamentliche Aussagen eine Kritik alttestamentlicher Aussagen gegeben sein könnte, sieht Zenger nicht. Mit dem zuletzt Gesagten ist aber die Grundproblematik der neutestamentlichen Aussagen über die Verheißung im unverzichtbaren Blick auf das Alte Testament gegeben, was zuweilen auch zu Aporien führt: Das im Neuen Testament weitgehend als Verheißungsschrift verstandene Alte Testament enthält sowohl Einzelverheißungen als auch im Literalsinn nicht als Verheißungen intendierte Aussagen, die sich im Originalsinn gerade nicht in die Grundaussage des Neuen Testaments fügen, die aber, sofern sie im Neuen Testament rezipiert werden, in ihrem Rezeptionssinn der Intention der alttestamentlichen Autoren widersprechen. Dieses Faktum kann nicht in einem sacrificiutn intellectus beseitigt werden, indem man die innertestamentarischen Differenzen verschweigt. Trotz einiger Defizienzen dürfte R. -*Bultmann (Bultmann, Bedeutung; ders., Weissagung [von ihm als Verheißung verstanden] - keinesfalls trifft für diese Aufsätze der immer wieder erhobene Vorwurf des Antijudaismus zu, wie K. de Valerio nachgewiesen hat) richtige Aspekte herausgestellt haben, wenn er auf das im Alten wie im Neuen Testament gleiche Daseinsverständnis verweist und die eschatologischen Begriffe der Königsherrschaft Gottes und des Gottesvolkes betont. Problematisch ist freilich seine Auffassung, die alttestamentlich-jüdische Geschichte, die er als Weissagung begreift, stelle Geschichte „in ihrem inneren Widerspruch, in ihrem Scheitern" dar. Literatur S. auch die Lit. zum Art. -»Bund. Knut Backhaus, Der Neue Bund im Alten. Die Diatheke-Deutung des Hebräerbriefs im Rahmen der frühchristl. Theologiegesch., 1996 (NTA.NF29). - Ders., Das Land der Verheißung. Die Heimat der Glaubenden im Hebräerbrief: NTS 47 (2001) 171-188. - Friedrich Baumgärtel, Verheißung. Zur Frage des ev. Verständnisses des AT, Gütersloh 1952. - Klaus Berger, Abraham in den paulinisehen Hauptbriefen: MThZ 17 (1966) 4 7 - 8 9 . - Rudolf Bultmann, Die Bedeutung des AT für denchristl.Glauben: G u V I , 3 1 3 - 3 3 6 . - D e r s . , Weissagungu.Erfüllung: GuVII, 162-186,-Brevard

Verheißung III

708

S. Childs, Biblical Theology of the Old and New Testaments. Theol. Reflection on the Christian Bible, Minneapolis, Minn. 1993. - Hans-Joachim Eckstein, Verheißung u. Gesetz. Eine exegetische Unters, zu Galater 2 , 1 5 - 47, 1996 ( W U N T 86). - Erich Gräßer, An die Hebräer, 1 9 9 0 - 1 9 9 7 (EKK 17/1-3). - Harald Hegermann, Der Brief an die Hebräer, 1988 (ThHK 16) 1 0 7 - 1 1 1 (Exkurs 4: Die Eschatologie des Hebräerbriefes). - Hans Hübner, Gottes Ich u. Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulus in Römer 9 - 1 1 , 1984 ( F R L A N T 136). - Ders., Bibl. Theol. des NT, 3 Bde., Göttingen 1 9 9 0 - 1 9 9 5 . - Ders., Art. ypatfrrj, ypäm: E W N T 2 1 (1992) 6 2 8 - 6 3 8 . - Ders., Art. nXtjpooj KXX. ebd. 3 (1992) 2 5 6 - 262. - Ernst Käsemann, Das wandernde Gottesvolk, 1939 H957 ( F R L A N T 37). - Manfred Oeming, Gesamtbibl. Theologien der Gegenwart. Das Verhältnis von A T u. N T in der hermeneutischen Diskussion seit Gerhard v. Rad, Stuttgart 1985 2 1987, bes. 8 1 - 8 7 . - Christian Rose, Verheißung u. Erfüllung. Zum Verständnis von eitayyeXia im Hebräerbrief: B Z NF 33 (1989) 6 0 - 8 0 . 1 7 8 - 1 9 1 . - Alexander Sand, Art. enayyeXia KXX.: E W N T 2 2 (1992) 3 4 - 4 0 . - Gerhard Sass, Leben aus den Verheißungen. Traditionsgesch. u. bibl.-theol. Unters, zur Rede v. Gottes Verheißungen im Frühjudentum u. beim Apostel Paulus, 1995 ( F R L A N T 164). - Franz Josef Schierse, Verheißung u. Heilsvollendung. Zur theol. Grundfrage des Hebräerbriefes, 1955 (MThS.H 9). Julius Schniewind/Gerhard Friedrich, Art. enayyeXXco KTX.: T h W N T 2 (1935) 5 7 3 - 5 8 3 . - Thomas Söding, Erfüllte Zeit: J b . f. Politische Theol. 3 (1999) 3 5 - 5 0 . - Ders., Art. Verheißung. 2. N T : L T h K 3 10 (2001) 6 7 1 - 6 7 2 . - Ders., Verheißung u. Erfüllung im Lichte paulinischer Theol.: N T S 47 (2001) 1 4 6 - 1 7 0 . - Karolina de Valerio, A T u. Judentum im Frühwerk Rudolf Bultmanns, 1994 ( B Z N W 71). - Nikolaus Walter, Zur theol. Problematik des christologischen „Schriftbeweises" im N T : N T S 41 (1995) 3 3 8 - 3 5 7 . - Peter Stuhlmacher, Bibl. Theol. des NT, 2 Bde., Göttingen 1 9 9 2 - 1 9 9 9 . - Erich Zenger, „So betete David für seinen Sohn Salomo u. für den König Messias". Überlegungen zur holistischen u. kanonische Lektüre des 72. Psalms: Der Messias, 1993 (JBTh 8) 25 - 7 2 .

Hans Hübner

III. Systematisch-theologisch 1. Begriff 2. Konstituierende Relationen dogmatik (Literatur S. 710)

3. Theologiegeschichtlich

4. Gegenwarts-

1. Begriff „Verheißung" (enayyeXia, promissio) wurde durch -»Luthers Bibelübersetzung verbreitet. Verheißung bedeutet zunächst eine „Zusage, die eine Wirklichkeit ankündigt, die noch nicht da ist" (Moltmann 75), entsprechend Weissagung und Versprechen. Umgangssprachlich setzt Verheißung meist Gott als Subjekt voraus, Versprechen den Menschen (wie Wahrsagen). Verheißung impliziert eine weitere Dimension als der auf mögliche Einzelereignisse gerichtete Begriff Weissagung. Verheißung — im Gegensatz zu Drohung - signalisiert einen positiven Bezug auf Erwartung und Sehnsucht der Menschen (s.o. 1.1. u. I.2.). 2. Konstituierende

Relationen

Im Zusammenhang der konstituierenden Relationen der theologischen Bedeutung von Verheißung korrespondiert der Verheißung, die im treuen Erbarmen des dreieinen Gottes („wer") gründet (Hebr 10,23; 11,11), der Glaubende („wem"; Rom 1,16), der Glaube als Gottes-, Heils- und Weltgewißheit. Er erweist sich als das Fundament der Hoffnung (Hebr 11,1), die durch den Glauben das Verheißene („was"; Segen: Gen 12,3; Rom 4,17; Heilung: Jes 35,5 f.; Mt 11,5; Heil: Act 4,12) vergegenwärtigt („wann") und zugleich noch wartet, worauf sie zielt („wohin"): die Vollendung der Liebe des dreieinen Gottes (I Kor 13,12; I Joh 4,16), die in Leben, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi sich erschlossen hat (Lk 24,46) und jetzt zugesagt wird im verkündigten Evangelium, das damit als Erfüllung von Verheißung selbst Verheißung ist (Rom 10,17), in der Taufe (Rom 6,4) und im -*• Abendmahl (I Kor 12,26; „wie"), und die dem Glaubenden durch den heiligen —»Geist, dem „Angeld" der Hoffnung (Joel 3,1; Act 2 , 1 - 1 3 ; Rom 8,9-11; „wodurch") offenbar wird. Antwortend auf das Verheißungswort erwartet die gottes-

Verheißung III

709

dienstliche Gemeinde und die -»Kirche („wo"; M t 28,20) die Vollendung des Reiches Gottes (—»Herrschaft Gottes/Reich Gottes; Apk 21,1) und bekennt sie (Hebr 10,23) durch Anfechtungen hindurch in Wort (Rom 10,9) und Tat (Mt 25,35 - 4 0 ) in und mit der ganzen Schöpfung (Ez 37; I Kor 15,28; Apk 19,6). 3.

Theologiegeschichtlich

Im biblisch-theologischen Begründungszusammenhang der geschichtstheologischen Kategorie „Verheißung und Erfüllung" entdeckten die Reformatoren den promissionalen Charakter der Selbsterschließung des dreieinen Gottes in seinem Wort als -»-Gesetz und Evangelium; dabei gibt es Verheißung „nur im Zusammenhang mit Geschichte" (Ebeling III, 256). Nach Luther beziehen sich in der Verkündigung der „Sache der Theologie" (WA 42/2,328,lf.) Verheißung und Glaube aufeinander (WA 56,45,15f.). Im Zuspruch der Verheißung ( = Evangelium, in dem Christus gegenwärtig wirkt als Geber und Gabe) des dreieinen Gottes als verbum externum et efficax (WA 40/1,589,8 — 10) erschließt sich das Christusgeschehen pro nobis; im Glauben (fiducia) erfüllt sich schon der promissionale Charakter des verbum audibile et visibile durch den heiligen Geist; denn „im Glauben selbst ist Christus gegenwärtig" (WA 40/2,228,34-229,1), Heilsgewißheit schenkend in der Spannung des simul peccator et iustus auf die endgültige Vollendung hin durch Gericht und Gnade (vgl. Ebeling; Bayer). Bei -»Melanchthon (vgl. Bizer, Theologie) korrepondieren ebenfalls Gottes Verheißungswort und der annehmende und erkennende Glaube (Loci H/1,106,22—24); assensus und notitia neben fiducia (CR 21,745f.) im Verkündigungsgeschehen von Gesetz und Evangelium. —»Calvin erkennt die Verheißungsstruktur der -»Offenbarung in der einen Erwählungs- und Bundesgeschichte des barmherzigen und treuen Gottes (Inst. 111,13,4); er unterscheidet zwischen der Verheißung des Gesetzes und des Evangeliums (ebd. 11,5,10-12; 7,2—4). Auch bei ihm entsprechen Verheißung und der geistgewirkte, mehr kognitiv verstandene Glaube (ebd. III/2,7,29f.). Die promissionale Struktur von Wort und Glaube trat in der nachreformatorischen Zeit in den Hintergrund (vgl. die orthodoxe, föderale, aufklärerische, heilsgeschichtliche Theologie, F. D. E. -»Schleiermachers Glaubenslehre § 12, den -»Kulturprotestantismus). Mit der Wiederentdeckung der futurisch-eschatologischen Dimension der Botschaft Jesu vom Reich Gottes (J. -»Weiß; A. -»Schweitzer) betonten nach der „Theologie der Krise" und der „-»Dialektischen Theologie" J. Moltmann und G. Sauter (Hintergrund: biblisch-theologische Verheißungsgeschichte; vgl. Bloch), aber auch H.-J. Kraus, O. Weber u.a. in der reformierten Tradition und G. Ebeling, W. Pannenberg, E. Schlink u . a . in der lutherischen Tradition die Verheißungsstruktur der Offenbarung als Selbsterschließung Gottes im eschatologischen Begründungshorizont. 4.

Gegenwartsdogmatik

J. Moltmann versteht das Heilsgeschehen in Jesus Christus selbst als Verheißung; sie „eröffnet im Widerspruch zur vorhandenen Wirklichkeit ihren eigenen Prozeß" sub contrario, und zwar als promissio und missio (mit Calvin und K. —»Barth). Dem „Noch nicht" wird so eine ontologisch höhere Qualität eigen als dem „Schon" im eschatologischen Begründungszusammenhang (vgl. Bloch). W. Pannenbergs Verheißungsverständnis hebt gegenüber Moltmann die „Notwendigkeit anthropologischen Ausweises für die Themen der Eschatologie" hervor (Pannenberg III, 584; vgl. auch Stock und weiter in der römisch-katholischen Tradition K. —»Rahner und Mysterium salutis u.a.). „Die Verheißung verkündigt, daß und wie der Heilsbedürftigkeit der Menschen die Z u k u n f t Gottes entgegenkommt" (Pannenberg III, 587) als proleptische Erfüllung des Eschaton im „Schon" der Heilstat Jesu Christi und seinem gegenwärtigen Vollzug als Zeugnis des Evangeliums (Martyria), als Anamnese und Epiklese gottesdienstlichen Lebens (Leiturgia) und als dienende Liebe (Diakonia), ausgerichtet auf die Vollendung des Reiches Gottes, wie sie die individuelle und allgemeine Eschatologie bekennt und bedenkt.

710

Verheißung III

Die Verortung des Verheißungsgeschehens, das anamnetisch und epikletisch die Z u kunft des dreieinen Gottes in der Erlösungs- und Versöhnungstat Jesu Christi vorausereignet im Gottesdienst, entspricht der reformatorischen Entdeckung v o m wirkkräftigen Verheißungswort (Bayer). Sie wird heute wirkungsgeschichtlich fruchtbar bei der Strukturanalyse dogmatischer Aussagen (Schlink; Ritsehl; Mildenberger u. a.), beim hermeneutischen Verstehen des Wortgeschehens als Gesetz und Evangelium (Ebeling u.a.), bei sprachanalytischen Untersuchungen zur performativen Sprechakt-Theorie (Bayer; W o n n e b e r g e r / H e c h t u . a . ) , bei kombinatorischen Erkenntnissen zur G r a m m a t i k des spiritus permissiortis (Dalferth). Verheißung erfährt von daher (theologia experimentalis et eminens practica) ihre dogmatische, homiletische, liturgische, katechetische, poimenische und individual- und sozialethische Relevanz. Literatur Vgl. auch o. die Lit. zu I und II sowie die einschlägigen Abschnitte in neueren Dogmatiken. Art. Verheiszung: D W b 12/1 (1956) 5 5 8 - 5 6 0 . - Karl Barth, KD, I 2 1938, 9 4 7 - 9 5 4 . - Oswald Bayer, Promissio. Gesch. der reformatorischen Wende in Luthers Theol., 1971 (FKDG 24) Darmstadt 2 1989. - Ders., Theol., 1994 (HST 1) 4 3 8 - 4 5 2 . - Friedrich Beißer, Hoffnung u. Vollendung, 1993 (HST 15). - Christoph Bizer, Verheißung als religionspädagogische Kategorie: WPKG 68 (1979) 3 4 7 - 3 5 8 . - Ernst Bizer, Theol. der Verheißung. Stud. zur Theol. des jungen Melanchthon 1 5 1 9 - 1 5 2 4 , Neukirchen-Vluyn 1964. - Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 2 Bde., Berlin 1954-1955 Frankfurt a.M. 1959. - Rudolf Bultmann, Weissagung u. Erfüllung: ZThK 47 (1950) 3 6 0 - 3 8 3 . Johannes Calvin, Institutio christianae religionis I-IV, Genf 3 1559. - Ingolf U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, Tübingen 1994. - Gerhard Ebeling, Dogmatik des christl. Glaubens, Tübingen, III '1982,256 - 2 6 1 . 3 1 0 - 314.442 - 471. - Wilfried Härle, Dogmatik, 1995 2 2000 (GLB) 1 2 4 1 2 7 . 2 0 1 - 2 0 3 . 5 6 0 - 5 6 3 . - Ernst Hoffmann, Art. Verheißung: T B L N T 4 (1977) 1 2 6 9 - 1 2 7 3 . - Eberhard Jüngel, Die Welt als Möglichkeit u. Wirklichkeit. Zum ontologischen Ansatz der Rechtfertigungslehre: E v T h 2 9 (1969) 417 - 4 4 1 . - B e r t o l d Klappert, Promissio u. Bund. Gesetz u. Evangelium bei Luther u. Barth, 1976 (FSÖTh 34). - Hans-Joachim Kraus, Syst. Theol. im Kontext bibl. Gesch. u. Eschatologie, Neukirchen-Vluyn 1975, §§ 1 3 3 - 1 3 7 . - Martin Luther, Römerbriefvorl. 1515/16: WA 5 6 , 1 - 5 2 8 . - Ders., De servo arbitrio 1525: WA 18,600-787. - Ders., Das schöne confitemini 1530: WA 31/1, 6 5 - 1 8 2 . - Philipp Melanchthon, Loci communes, Wittenberg 1521. - Friedrich Mildenberger, Bibl. Dogmatik, Stuttgart/Berlin/Köln, 1 1 9 9 1 , 1 8 9 - 2 2 5 . - Jürgen Moltmann, Theol. der Hoffnung, München 1964 " 1 9 8 5 . - MySal 5 (1976). - Manfred Oeming, Art. Verheißung u. Erfüllung: EKL 3 4 (1996) 1 1 5 2 - 1 1 5 4 . - Wolfhart Pannenberg, Syst. Theol., Göttingen, III 1993, 1 5 6 - 1 6 3 . 4 6 9 - 5 8 8 . - Albrecht Peters, Gesetz u. Evangelium, 1981 (HST 2). - Gerhard v. Rad, Verheißung: EvTh 13 (1953) 4 0 6 - 4 1 3 . - Ders., Theol, des AT, München, II 1965, 3 8 0 - 4 1 2 . - Karl Rahner, Theol. Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen: ders., Sehr, zur Theol., Einsiedeln, IV 1960, 4 0 1 - 4 2 8 . - Dietrich Ritsehl, Zur Logik der Theol. Kurze Darst. der Zusammenhänge theol. Grundgedanken, München 1984 = 2 1988. - Gerhard Saß, Leben aus den Verheißungen, 1995 (FRLANT 164). - Gerhard Sauter, Zukunft u. Verheißung, Zürich 1965 = 2 1973. Edmund Schlink, Gesetz u. Paraklese: Ernst Kinder/Klaus Haendler (Hg.), Gesetz u. Evangelium, 1968 = 2 1986 (WdF 142) 2 3 9 - 2 5 9 . - Ders., ö k u m . Dogmatik, Göttingen 1983 2 1985, 1 - 1 0 . 4 1 - 5 1 . 2 1 8 - 2 5 1 . 3 7 1 - 3 8 1 . 4 4 4 - 4 5 6 . - Julius Schniewind, Art. inayyiklw. T h W N T 2 (1935) 5 7 3 - 5 8 3 . - Martin Seils, Glaube, 1996 (HST 13). - Konrad Stock, Anthropologie der Verheißung, 1980 (BEvTh 86). - Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Neukirchen-Vluyn, I «1972, 3 1 6 - 3 4 0 . - Reinhard Wonneberger/Hans Peter Hecht, Verheißung u. Versprechen. Eine theol. u. sprachanalytische Klärung, Göttingen 1986. - Walter Zimmerli, Verheißung u. Erfüllung: EvTh 12 (1952/ 53) 3 4 - 5 9 . Michael Plathow

Verheißung IV

711

IV. Judentum 1. Z w e i t e r Tempel und R a b b i n a t 2 . Auseinandersetzung mit dem Christentum E n t w i c k l u n g e n . Z i o n i s m u s und Staat Israel (Literatur S. 7 1 3 )

1. Zweiter

Tempel

und

3 . Neuere

Rabbinat

Biblische Verheißungen (vor allem die -»Erwählung Israels und der Besitz des Landes, in dem sich am Ende ganz Israel sammelt, die Gegenwart Gottes im -» Tempel, die Dauer des Königtums -»-Davids und daraus entfaltet die Erwartung eines -»Messias; s. auch o. I) werden in nachbiblischer Zeit in vielfacher Weise aufgegriffen und weitergeführt (z.B. Jub 17f.; äthHen 9 0 , 2 8 - 3 8 ; PsSal 17,21ff.; IV Esr 1 2 , 3 1 - 3 4 ; syrBar 29f.). Die Spannung zwischen erfahrener Gegenwart und biblischen Verheißungen ist wesentliche Basis der -»Apokalyptik, die ihnen durch die Naherwartung entsprechende Dringlichkeit verleiht. Texte von —»Qumran stellen gerne biblische Verheißungen in Florilegien zusammen und kommentieren sie knapp (z.B. 4Q171, Pescher zu Ps 37; 4Q174; 4Q246 11,4-9 messianisches Friedensreich; 4Q251 zu Gen 49,10), geben ihnen damit neue Aktualität; einen Teil der Verheißungen sehen sie schon in der eigenen Gemeinde verwirklicht, der Rest wird sich bald erfüllen. Wie in anderen Texten gelten die Verheißungen nicht mehr dem ganzen Volk; ihre Erfüllung wird den Gerechten, einem Rest Israels bzw. der je eigenen Gruppe vorbehalten. Ihre Verwirklichung ist an den -»Bund und die Erfüllung der Tora (-»Gesetz) gebunden (so etwa 11Q19 59,16ff. die Dauer der davidischen Dynastie). Mit der Katastrophe des Jahres 70 verlagern sich die Hoffnungen auf Erfüllung weithin auf eine kommende Welt, da man an der irdischen Wirklichkeit verzweifelt; man harrt der verheißenen Stadt (IV Esr 7,26) und verläßt die irdische Welt mit Freude, um die Welt zu empfangen, die Gott verheißen hat (14,13; vgl. syrBar 51,3 „die Welt ohne Tod, die ihnen verheißen ist"; 57,2 „das verheißene künftige Leben"). Die prophetischen Verheißungen der Befreiung Israels vom Joch fremder Herren und die Erwartung eines neuen Tempels 70 Jahre nach seiner Zerstörung trugen wesentlich zum Bar Kokhba-Aufstand ( 1 3 2 - 1 3 5 n.Chr.; -»Simon ben Kosiba) bei. Im Wiederaufbau des jüdischen Gemeinwesens nach diesem Einschnitt sahen die Rabbinen es als wesentlich, akute Erwartungen auf baldige Erfüllung der biblischen Verheißungen und vor allem eigenes Mitwirken an ihrer Realisierung zu unterbinden, ohne auf lange Sicht die Hoffnungen Israels aufzugeben. Der Glaube an die Andauer der göttlichen Erwählung Israels und Gottes Verheißungen blieb zentral; jede Berechnung des Zeitpunktes ihrer Erfüllung blieb aber (zumindest theoretisch) schon wegen der Gefahr, die das Verstreichen errechneter Termine für den Glauben darstellte, verpönt (bSan 97b: „Sie könnten sagen: Das Ende ist gekommen und er [der Messias] ist nicht gekommen; er wird nicht mehr kommen"). Zentraler Inhalt der Verheißung war auch für die Rabbinen die endzeitliche Erlösung: das Ende der Unterdrückung unter Rom, dem „vierten Reich", die Sammlung des zerstreuten Israel in seinem Land durch den Messias, die Erneuerung des Tempels und die —•Herrschaft Gottes in einem Friedensreich ohne -»Sünde, dazu die -»Auferstehung und die Vergeltung im Jenseits. Viel diskutiert wird die Frage, ob menschliches Verhalten - die Erfüllung der Gebote, Umkehr - das Kommen der Erlösung mit beeinflußt oder nicht. Schon aus pastoralen Gründen betont man die Wichtigkeit des Festhaltens an der Tora, hält aber daran fest, daß Gott im Prinzip seine Verheißungen unbedingt erfüllen wird, ob Israel Buße tut oder nicht (yTaan 1,1,63d; bSan 9 7 b - 9 8 a ) . In dieser Dialektik spielt die Opferung Isaaks (Gen 22) eine zentrale Rolle: Die Aqeda war die grundlegende Antwort Israels auf Gottes Wort; ihretwillen ist Israel aus der Knechtschaft Ägyptens gerettet worden und darf auch auf die Erfüllung der Verheißungen am Ende der Zeiten hoffen, wie immer letzthin sein Verhalten ist, ohne Einschränkung auf einen „heiligen Rest" (mSan X , l : „ganz Israel hat Anteil an der kommenden Welt").

712 2. Auseinandersetzung

Verheißung IV mit dem

Christentum

Vielleicht ebenso wichtig wie die Katastrophe des Jahres 70 ist die Herausforderung, die dem jüdischen Glauben an die göttlichen Verheißungen von christlicher Seite geboten wurde. Z w a r gelten nach Rom 9,4 Israel weiterhin die Verheißungen; doch haben nach christlichem Denken diese sich weithin schon in Jesus erfüllt oder werden - wie die Landverheißung - spirituell umgedeutet. Zugleich sagt man den Juden, daß sie als Strafe für die Nichtannahme Jesu nichts mehr zu erwarten haben. Christliche Auseinandersetzungen mit Juden basieren, beginnend mit dem Dialog ->Justin des Märtyrers mit Tryphon, Aphrahat und anderen, stets auf dieser Annahme; sie bestimmt auch die Zwangsdisputationen des Mittelalters ab 1240, deren Grundthema stets ist, daß der Messias schon gekommen ist. Z w a r kennen auch schon die Rabbinen Auslegungen, nach denen gewisse Prophetentexte sich nicht auf eine ferne Zukunft beziehen, sondern schon zur Zeit Hiskias erfüllt wurden (bSan 99a: „Israel wird keinen Messias haben, denn sie haben ihn schon in den Tagen Hiskias genossen"; als Allgemeinaussage wird dieser Satz sofort widerlegt), doch betrifft das nur einzelne Texte. Zentral bleibt in der Diskussion die Berechnung der 70 Jahrwochen von Dan 9, christlich ein Hauptargument dafür, daß Jesus genau zur vorhergesagten Zeit als Messias aufgetreten ist. Rabbinisch spielt der Text keine zu große Rolle — direkte Diskussion christlicher Positionen kommt in -> Talmud und —>Midrasch bewußt kaum vor - , um so wichtiger ist seine Auslegung in jüdischen Kommentaren zu Daniel ab -»Saadja Gaon, in den Disputationen des Mittelalters und vielen anderen Texten, von denen viele einen Termin in naher Zukunft zu berechnen suchen. Als typisch mag die Position Saadjas in seinem Hauptwerk, dem Sefer Emunot weDeot, gelten. Saadja (Emunot VIII,1-9) erwähnt, daß es Leute gibt, die sich Juden nennen, und doch behaupten, alle biblischen Verheißungen bezögen sich auf die Zeit des Zweiten Tempels und keine Erfüllung stehe mehr aus; ein Teil sei damals erfüllt worden, ein weiterer wegen der Sünde nie erfüllt worden und auch nicht mehr zu erwarten. Doch diese Behauptung einer nur bedingten Verheißung der Erlösung sei falsch - wo eine Bedingung existierte, habe dies Mose explizit gesagt; die Verheißungen der Erlösung aber seien unbedingte und absolute Zusagen. Auch aus der Geschichte könne man ableiten, daß in der Zeit des Zweiten Tempels sich keine der endzeitlichen Verheißungen tatsächlich in vollem Sinn verwirklicht habe (etwa die volle Heimkehr der Exilierten, der Bau der Mauern -»Jerusalems durch Nichtjuden, die Unterwerfung aller Völker unter die Juden, der Bau des Tempels nach dem Plan Ezechiels, das Aufhören von Steuern, der vollkommene Friede auch in der Natur usw.). Dieselben Argumente könne man auch gegen die Christen vorbringen, wobei Saadja besonders auf die Deutung der 70 Jahrwochen von Dan 9 eingeht. Die Gewißheit der kommenden Erlösung beruht auf Gottes Gerechtigkeit und Treue, dessen „Wort in Ewigkeit bleibt" (Jes 40,8), sowie auf der schon erfolgten Erfüllung früherer Verheißungen, wie der Errettung aus Ägypten. Daher kann man auch voll Zuversicht und ohne Verzweiflung der Erfüllung der noch ausstehenden Verheißungen harren (vgl. Ps 31,25). Alle mittelalterlichen Darstellungen jüdischen Glaubens widmen der Erfüllung der biblischen Verheißungen viel Raum, ebenso findet man aber auch verstreut in den Bibelkommentaren immer wieder entsprechende Aussagen. So deutet etwa Raschi (-•Salomo ben Isaak) die Aussage „Ich bin der H e r r " (Ex 6,2; Lev 19,25) als „getreu in meiner Verheißung" bzw. „getreu, meine Verheißung zu halten". Auch Nachmanides ( - • M o s e ben Nachman) bezieht die Selbstvorstellung Gottes in Ex 6,2 auf seine Verheißungen; zu Lev 26,40 sieht er einen Hinweis auf die beiden Völker, die stets das jüdische Volk verfolgen, aber auch die Verheißung der kommenden Erlösung weit hinaus über das in den Visionen Daniels Gesagte. Gegen christliche Deutungen der biblischen Verheißungen wendet sich in seinen Kommentaren u . a . auch David Kimchi (ca. 1160—1235) (dazu Frank E. Talmage, David Kimhi. T h e M a n and the Commentaries,

Verheißung IV

713

1975 [HJM 1] 135-162). Viel mehr als die direkt polemischen Schriften festigt die Bibelauslegung das traditionell jüdische Verständnis der Verheißungen. 3. Neuere Entwicklungen.

Zionismus

und Staat Israel

Wohl mehr als die bisher genannten Texte hält bis heute die Liturgie die Hoffnung auf die Erfüllung der Verheißungen wach. Im Achtzehngebet und vielen anderen Texten des Morgengebets betet man täglich um den Wiederaufbau Jerusalems, das Kommen des Messias, die Einsammlung der Zerstreuten usw.; dieselben Themen werden in den dreizehn Glaubensartikeln - ebenfalls Teil des Morgengebets - genannt; auch in anderen Teilen des Gebetbuchs kehren sie ständig wieder. Dazu kommen viele Texte zu den Festen des Jahres. Vor allem der Pesachseder mit seinem Gedenken des Auszugs ist zugleich Bitte um die kommende Erlösung; einleitend zum Midrasch zu Dtn 2 6 , 5 - 8 heißt es darin: „Gepriesen sei, der Israel seine Verheißung bewahrt". Diese Gewißheit bestimmt die gesamte Liturgie. Die Erneuerung des Judentums im 19. Jh. mit der Hoffnung auf bald völlige Emanzipation ließ allerdings vielen Reformern die Erwartung der Heimkehr nach Israel und der Erneuerung des Tempels als antiquiert und unpassend für ein Volk erscheinen, das die volle Integration in seinen europäischen Heimatländern erstrebte. So spiritualisierten Reformrabbiner viele biblische Verheißungen und tilgten aus dem Gebetbuch Vorstellungen wie die Erwartung eines persönlichen Messias, der Heimkehr Israels ins Gelobte Land, der Erneuerung des Tempels und der endzeitlichen Auferstehung. Die völlige Einfügung in eine Existenz in der -»Diaspora schien eine bestimmte Zeit die alten Hoffnungen abzulösen. Auch die Texte der Pesach-Haggada wurden in vielen Reformkreisen mehr oder weniger radikal diesseitig-politisch umformuliert. In den letzten Jahrzehnten wurden allerdings, gerade unter dem Eindruck des Staates Israel, viele solche Entwicklungen wieder rückgängig gemacht oder zumindest entschärft. Der zunehmende Erfolg der zionistischen Bewegung (-»Zionismus) und die Gründung des Staates Israel wurde und wird in religiös-zionistischen Kreisen vielfach als Aufstrahlen göttlicher Verheißungen betrachtet, an deren Verwirklichung der jüdische Mensch aktiv mitwirken muß, ob sein Tun nun religiös motiviert oder rein profan bestimmt ist. Vor allem R. Abraham I. Kook (1865-1935), seit 1921 erster aschkenasischer Oberrabbiner im Mandatspalästina, bezeichnete die jüdische Einwanderung nach Palästina als atchalta di-ge'ulla, den „Anfang der Erlösung"; ähnlich formulierte 1949 das aschkenasische Oberrabbinat Jerusalems ein Gebet für „den Staat Israel, den Beginn des Aufblühens unserer Erlösung". In dieser Deutung ist der Zionismus der Beginn der endzeitlichen Heimführung aus der Diaspora, der Staat Israel im Ansatz die Verwirklichung der Erneuerung der Landverheißung, für manche Gruppen auch Anstoß, auch auf die Verwirklichung anderer Verheißungen (Erneuerung des Tempels) hinzuarbeiten. Die biblischen Landverheißungen dienen in diesem Kontext immer wieder (besonders in der Bewegung des Gusch Emunim in geistiger Nachfolge von R. Kook) auch zur politischen Legitimation nicht nur jüdischer Siedlung in Palästina an sich, sondern auch für die Ausdehnung der Grenzen des Landes im Sinn eines „größeren Israel". Ob in dieser politischen Version oder in antizionistischen Versionen akuten Messianismus oder mehr im Hintergrund religiösen Bewußtseins, biblische Verheißungen prägen auch heute noch jüdische Religiosität. Literatur Willehad P. Eckert/Nathan P. Levinson/Martin Stöhr (Hg.), Jüd. Volk - gelobtes Land. Die bibl. Landverheißungen als Problem des jüd. Selbstverständnisses u. der christl. Theol., 1970 (ACJD 3 ) . - Eric L. Friedland, „Elija der Prophet möge bald mit dem Messias kommen". Messianismus in der Pesach-Haggada des fortschrittlichen Judentums: JBTh 8 (1993) 2 5 1 - 2 7 2 . - Hermann Levin Goldschmidt, Jüdisches Ja zur bibl. Verheißung: Cheschbon 2 (1980) 2 4 - 3 0 . - Alon Goshen-Gottstein, The Promise to the Patriarchs in Rabbinic Literature: Alviero Niccacci (Hg.), Divine Promises to the Fathers in the Three Monotheistic Religions, 1995 (SBFA 40) 6 0 - 9 7 . - Betsy Halpern-Amaru,

714

Verkündigung I

Rewriting the Bible. Land and Covenant in Postbiblical Jewish Literature, Valley Forge, Pa. 1994. - Waldemar Molinski (Hg.), Unwiderrufliche Verheißung. Die rel. Bedeutung des Staates Israel, Recklinghausen 1968. - Aviezer Ravitzky, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, Chicago 1996. - Günter Stemberger, Die Messiasfrage in den christl.-jüd. Disputationen des M A : J B T h 8 (1993) 2 3 9 - 2 5 0 . - Zeev Weiss/Ehud Netzer, Promise and Redemption. A Synagogue Mosaic from Sepphoris, Jerusalem 1996. - R . J . Z w i Werblowsky, Die Landverheißung oder über die Universalisierbarkeit partikularer Aussagen: Z i o n - O r t der Begegnung. FS Laurentius Klein, hg. v. Ferdinand H a h n u.a., 1993 (BBB 90) 3 2 9 - 3 3 3 . - Johannes Z i m m e r m a n n , Messianische Texte aus Q u m r a n , 1998 ( W U N T 11/104).

Günter Stemberger

Verheißung und Erfüllung -»Bibel, —>Schriftauslegung, -»Verheißung Verkündigung I. Dogmatisch II. Praktisch-theologisch

S. 717

I. Dogmatisch 1. Verkündigung - W o r t und Sache 2. Der O r t der Verkündigung kündigung 4. Die Zeit der Verkündigung (Literatur S. 7 2 0 )

3. Der Grund der Ver-

1. Verkündigung - Wort und Sache Verkündigung ist eine Handlung, die etwas kund gibt, eine Botschaft bringt und bekannt macht. Wer verkündigt, ist ein Bote, der Neues ansagt. So bestimmt das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm den Gebrauch dieses Wortes (DWb 12/1 [1956] 695-699) und weist zugleich auf dessen engen Bezug zum Evangelium (-»Gesetz und Evangelium) hin. Denn es ist, nach -»Luther, „unser Evangelium, durch welches Christus aller Welt verkündet ist" (ebd. 697). Christliche Verkündigung ist Verkündigung Jesu Christi (vgl. Barmer Theologische Erklärung [1934], These I). Und „der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Wort und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk" (These VI). Diese Einsicht ist grundlegend, denn sie behauptet den wesentlichen Zusammenhang zwischen dem „Wort Gottes" im Sinne des Heils- und Offenbarungsgeschehens und den vielfältigen Formen seiner Vergegenwärtigung im Leben der Kirche (vgl. die Auslegung beider Thesen in ihrem Zusammenhang durch den Theologischen Ausschuß der -»Evangelischen Kirche der Union: Hüffmeier). 2. Der Ort der

Verkündigung

2.1. Von der so definierten Verkündigung -»Jesu Christi her wird das Feld der -»Wirklichkeit von Ich und Du und Wir und Ihr und Es wahrgenommen. -»Mensch und Mitmensch, -»Gesellschaft und -»Staat, Ökonomie und natürliche -»Lebenswelt zeigen sich in ihren vielfältigen Beziehungen, Vernetzungen und Beschränkungen im Lichte der Glaubensgewißheit, wie sie in jener Verkündigung zum Ausdruck kommt. Diese ist insofern erfahrungskonstruktiv. 2.2. In ihrem Licht zeigt sich die Wirklichkeit daher grundlegend bezogen auf —»Gott als auf die ursprüngliche Macht, die diese Wirklichkeit zur Offenheit der Beziehung bestimmt, in der das Dasein ein wechselseitiges Füreinander-Sein ist: Mensch und Mitmensch, Menschheit und -»Natur. Die offene Sozialität der -»Liebe ist das Leben von Mensch und —»Welt in ihrer Zeit. So bestimmt Gott die Welt.

Verkündigung I

715

2.3. Im Licht der Verkündigung Jesu Christi zeigt sich die uns erfahrbare Wirklichkeit jedoch zugleich in ihrer entfremdeten Gestalt. Der Mensch verspielt den offenen Bezug zum anderen Menschen, zur Welt der Natur, er isoliert sich selbst und schwankt in der selbstbereiteten Isolation zwischen Selbstüberschätzung und Selbstunterschätzung. Er verliert die anderen, die Welt. Er vertreibt die Zeit. Der -»Krieg wird zum „Vater aller Dinge" (Heraklit, um 500 v. Chr.). Das ist das Unheil, die -»Sünde, der -»Tod. 3. Der Grund der

Verkündigung

3.1. In dieser Wirklichkeit der Todeswelt ist Jesus von Nazareth als der Christus Gottes gegenwärtig versöhnend und befreiend wirksam. Den Gott der Väter spricht er als seinen Vater an. Von ihm her bewegt er sich in der Freiheit der Liebe beziehungsreich im Horizont von -»Gesetz, -»Propheten und Schriften und wendet sich den Menschen und der Welt in ihrer isolierenden Asozialität zu: Er predigt und spricht von Gott, der die Menschen bedingungslos annimmt und darin für sie in der Liebe da ist. Er tritt im -»Gespräch lebendig für diese umfassende Liebe des Vaters ein und vollzieht sie in provozierendem Handeln. Er hilft Menschen in ihrer Not des -»Leibes und der -»Seele. Und er läßt diese beziehungsreiche neue Sozialität in Gemeinschaft stiftendem Verhalten Wirklichkeit werden. Dafür steht seine offene Tischgemeinschaft. Damit durchbricht er in seinem versprechenden Wort und seiner versprechenden Tat die Macht der asozialen Todeswelt und eröffnet Gottes neue Freiheit zum beziehungsreichen Leben. Das geschieht ohne Illusion. Denn Jesu Christus widerspricht den Zwängen der asozialen Todeswelt, die er klar anspricht und aufklärt. Sein Versprechen ist kritisch. Das geschieht ohne Resignation, denn Jesus Christus öffnet in seinem Zuspruch die Gefängnisse der Asozialität zu neuem, beziehungsreichen Leben. Das geschieht in offener -»Hoffnung, denn das Versprechen Jesu Christi wird zum Anspruch an diejenigen, die es hören, ihm zu vertrauen und aus solchem -»Vertrauen in neuen, erfüllten Beziehungen mit Mensch und Welt zu leben. Die Verkündigung Jesu Christi ist performativ. Sie vollzieht die Wende vom Tod zum Leben, von Asozialität zu offener sozialer Beziehung. Darin wird sie zur Krisis (-»Krise): Sie wirbt um Vertrauen zu neuem Leben. Sie erreicht Menschen so, daß sie ihnen Vertrauen abgewinnt und zu neuem Leben befreit. Darin öffnet sich die Welt zum Reich Gottes (—»Herrschaft Gottes/Reich Gottes). Sie erreicht Menschen so, daß sie sich dieser Verkündigung auch verweigern. Damit binden sie sich an die Todeswelt der Verkehrung. Doch trifft sie in dieser Lage nicht das festlegende Urteil, sondern der erneute Ruf in die Offenheit des beziehungsreichen Lebens. Das ist eine Provokation, weil es eine Revolution ist. Jesus Christus gewinnt Menschen in die Wende zum neuen Leben. Jesus Christus trifft Menschen, die seine Verkündigung mit Macht bestreiten. Dem begegnet Jesus Christus in konkretem Widerstand, der sich als Widerspruch und provokatives Verhalten äußert. Dem begegnet er in der Ergebung, die auf die Macht der Zwänge verzichtet. Er wird von der römischen Besatzungsmacht gekreuzigt. 3.2. Mit seinem Tode ist die Verkündigung Jesu Christi nicht am Ende, sondern am Anfang. Menschen, denen er aus dem Tode begegnet, bezeugen ihn als Lebendigen, der Zukunft hat: Er steht für Sozialität gegen Asozialität, für offene Beziehung gegen abschließende Isolation, er setzt die Macht der Liebe an die Stelle der Macht als Gewalt, er gibt Leben in der Welt des Todes, die er durchschritten hat. Damit stiftet Jesus Christus -»Frieden in der Welt des Krieges und vollzieht die Wende vom Tod zum Leben im Horizont der Hoffnung. Jesus Christus ruft Menschen zum Vertrauen auf diese Zeitenwende. Jesus Christus ruft Menschen zum Leben aus solchem Vertrauen: in menschliches Wort und Tun, die diese Wende verkündigen. 3.3. Die Verkündigung Jesu Christi ist performativ. Sie vollzieht die Wende der Welt von der Isolation zur Relation. Sie setzt den Menschen in das rechte Verhältnis zu Gott und von ihm her zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Welt. Wo dies geschieht,

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Verkündigung I

wird Jesus Christus durch den Heiligen -»Geist wirksam, der Menschen in allen Widersprüchen der Welt zum Leben der neuen Beziehung begeistert und befreit. Wo Menschen sich ihm verweigern, gilt auch ihnen der Ruf dieser Verkündigung, damit auch sie, begeistert, die Wende vom Tod zum Leben vollziehen. 4. Die Zeit der

Verkündigung

4.1. Seit der -»Auferstehung Jesu Christi wird er von Menschen verkündigt. Die Verkündigung Jesu Christi wandelt sich zum Zeugnis von seinem Wirken, das Menschen, die ihm vertrauen, im Heiligen Geist ablegen. Dieses Zeugnis ist zunächst narrativ: es erzählt von Jesu Christi Wort und Tat, Tod und Leben. Dieses Zeugnis ist in solchem Erzählen zugleich performativ. In ihm vollzieht sich der Zuspruch Gottes, der sich dem Menschen durch Jesus Christus im Heiligen Geist so verspricht, daß sich im Vertrauen auf diesen Zuspruch die Wende zum neuen Leben vollzieht. Auch die -»-Predigt von Jesus Christus verbindet Widerspruch gegen die Todeswelt mit dem Zuspruch von neuem, beziehungsreichem Leben und dem Anspruch auf das Sich-Einleben in den Reichtum offener Lebensbeziehungen. 4.2. Die Verkündigung Jesu Christi durch seine Zeugen steht in einem Beziehungsfeld, das auf der einen Seite durch Jesus Christus selbst und das ursprüngliche Zeugnis von ihm, wie es das Neue Testament in seiner Vielfalt und Einheit versammelt, bestimmt wird. Auf der anderen Seite aber bezieht sie sich auf die Welt von heute, die sie klar anspricht, aufklärt und kritisiert und der sie das Versprechen Jesu Christi so zumutet, daß es durch den Heiligen Geist die Hörer zu neuem Leben ermutigt, das sich aus dem Vertrauen auf dieses Versprechen eröffnet. 4.3. Konkret vollzieht sich dies im Studium der Schrift (—»Schriftauslegung), in dem Jesus Christus zur Sprache kommt. Es geschieht im kritischen Bemühen um die -»Wirkungsgeschichte dieser Verkündigung in der Zeit. Es bewährt sich im offenen Umgang mit Mensch und Welt in der Gegenwart, der sich bemüht, von dem Zeugnis her in der Verkündigung der Zeit und der „Zeitung" so gerecht zu werden, daß Z u k u n f t sich erschließt. Das Kriterium solcher Verkündigung ist die Frage nach dem, „was Christum treibet" (Luther, WA.DB 7,384). 4.4. Solche Verkündigung ist zunächst im menschlichen Wort konkret und gewinnt auch in ihm stets ihre Klarheit und Wahrheit. Von solcher Verkündigung her spricht auch die Wirklichkeit der Welt von Gottes beziehungsreichem Leben und Frieden. So können (und sollten auch) neben Worten ein -»Bild, musikalische Töne (-»Musik und Religion), gemeinsames Handeln, soziale Lebenspraxis zum Vollzug von Verkündigung werden. Die Tischgemeinschaft des Herrenmahls (-»Abendmahl) aber empfängt und verkündigt Jesus Christus, bis daß er kommt. 4.5. Wer verkündigt, der steht in vielfältigen Spannungen und Widersprüchen, die in dem begeisterten Versprechen Jesu Christi so zu durchstehen sind, daß sie sich zu neuer lebendiger Beziehung öffnen. 4.6. Verkündigung Jesu Christi ist dabei kritisch und kreativ. Sie lädt Menschen zum Vertrauen auf offenes Leben ein. Sie eröffnet -»Glauben, den Glauben von Menschen, die sich Gott und der Welt neu öffnen, den Glauben der -»Kirche Jesu Christi, die durch die Verkündigung in Wort und Sakrament gegründet und begleitet wird. 4.7. Der Weg der Kirche, der Glaubenden, derer, die verkündigen, ist nicht ohne Widerspruch von Gelingen und Mißlingen, Schuld und Vergebung, Verfehlung und Erneuerung. Er will gegangen werden vom Zuspruch der Verkündigung her, in der sich uns Gott in Jesus Christus durch den Heiligen Geist verspricht. Dafür steht der Sendungsruf Jesu Christi: „Gehet hin und lehret alle Völker . . . und siehe, ich bin bei euch

Verkündigung II

717

alle Tage bis an der Welt Ende" (Mt 28,19f.). Und in seinem Horizont weist -»Paulus in dieses neue Leben ein: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi"(I Kor 3,23). (Literatur

s. u. S. 720)

Hermann Dembowski

II. Praktisch-theologisch 1. Zur Begrifflichkeit

1. Zur

2. Zur Inanspruchnahme

3. Praxisprobleme

(Literatur S. 720)

Begrifflichkeit

Für die -»Praktische Theologie ist Verkündigung (s.a. -»Homiletik, -»Publizistik, -»Rhetorik, -»Sprache) in dreifacher Weise konstitutiv: 1) homiletisch als Terminus für das Praxisgeschehen der Mitteilung des Evangeliums, insbesondere in der Form der —»Predigt; 2) praktologisch als Leitbegriff des christlichen bzw. kirchlichen Handelns und Lebens überhaupt, so daß Homiletik zugleich das praktisch-theologische Paradigma bildet; 3) enzyklopädisch als tragende Kategorie der christlichen -»Theologie überhaupt, im Sinne der öffentlichen Proklamation der Verheißung Gottes für seine Welt durch sein Wort im Geist (s.o. I). 2. Zwr

Inanspruchnahme

2.1. Verkündigung

als homiletische

Kategorie:

Verkündigung

und Predigt

Predigt als Rede - wie der -»Gottesdienst überhaupt - „zur öffentlichen Reizung des Glaubens und zum Christentum" (-»Luther, WA 19,75), insbesondere als Kanzelrede, wurde im Zuge der Rückbesinnung auf das -»Wort Gottes als Thema der Theologie zur grundlegenden pastoralen Aufgabe (K. -»Barth), was aber eine Klärung des Verhältnisses der Predigt zu den anderen Mitteilungsformen des Evangeliums (vom —»Gespräch bis hin zur -»Diakonie) erforderte. Hier bot sich der Begriff der Verkündigung an, in Anknüpfung an die vielen biblischen Bezeichnungen der Ausrichtung der öffentlichen Botschaft an Gottes Statt (II Kor 5,20), gerne zusammenfaßt im Begriff des Kerygma mit der Konsequenz einer kerygmatischen Theologie. So bezeichnete H. Schreiner seine Homiletik (1936) als Lehre von der Verkündigung mit der These: „Die Verkündigung umfaßt einen Sachverhalt, der über den Bereich der Predigt hinausgreift" (Schreiner 135). Ähnlich R. Müller-Schwefe (1965), der auch schon die Probleme der -»Publizistik und der -»Medien in Blick nahm. Diese Fragestellungen hat insbesondere W.R. Petkewitz aktuell weiterverfolgt. 2.2. Verkündigung

als praktologische

Kategorie:

Wort und Dienst

Im Zuge der -»Dialektischen Theologie wurde das kerygmatische Paradigma wirksam. So wurden die Teildisziplinen im Begriff der Verkündigung verankert. Seelsorge wurde von H. -»Asmussen und E. -»Thurneysen als Verkündigung an den Einzelnen aufgefaßt; Unterricht wurde im Sinne der evangelischen Unterweisung Dienst an der Verkündigung, zum Teil als Kirche in der Schule (vgl. Rang), verstanden (vgl. T R E 28,711) und noch in der Konzeption des hermeneutischen -»Religionsunterrichts bei M. Stallmann (vgl. T R E 28,712) als Vorbereitung zum Verständnis der Verkündigung in der Kirche gedeutet (vgl. grundsätzlich zur religionspädagogischen Kritik am Verkündigungskonzept Dross). Auch die katholische -»Religionspädagogik folgte dem kerygmatischen Paradigma (J. A. -*Jungmann; G. Weber u.a; vgl. T R E 28,717). Die Aufgaben der Diakonie wurden als Tatzeugnis, die der -»Liturgie als Lobpreis bzw. als Verkündigungshandlung (Vorschlag von O. Weber als Bezeichnung für die -»Kasualien) aufgefaßt. Diskutiert wurde auch, ob das -»Kirchenlied und die —»Kirchenmusik Verkündigung sind oder „nur" Antwort auf Verkündigung. Das praktische Handeln in

718

Verkündigung II

Christentum und Kirche wurde entsprechend der These VI der Barmer Theologischen Erklärung als Vollzug des Auftrags verstanden, in dem -»Jesus Christus als Herr der Kirche selbst zu Wort kommt. Das eine Wort Gottes - Botschaft für alle (vgl. Hüffmeier) bildete die Basis für Kirchenkampf und kerygmatische Theologie. Dieses Paradigma, das Exegese und Dogmatik prinzipiell verknüpfte (vgl. den programmatischen Titel der 1955 begründeten Zeitschrift Kerygma und Dogma) und die Bibel als maßgeblich herausstellte, ließ sich in der Praxis jedoch nicht vollständig realisieren, sobald eine nähere Differenzierung der Handlungsformen bzw. Sprechakte, dogmatisch vorbereitet schon durch die Unterscheidung von -»Gesetz und Evangelium, aus Gründen der praktischen Konkretisierung in Zeitansage, Ortsbestimmung (-»Situation), Adresse, Milieu und Mentalität nötig wurde (vgl. schon den Begriff der „Orthotomie", d . h . „der rechten Austeilung und Anwendung des göttlichen Wortes in Bezug auf die Eigentümlichkeit der Zustände und Anlässe": Nitzsch, Praktische Theologie III, 168). Inwieweit sind nicht auch Gespräch (z.B. in der Dialogpredigt [Heidland] und in der seelsorglichen -»Beratung), sowie -»Erzählung und -»Bildung gleichgewichtige Formen der praktischen Mit-teilung des Evangeliums? Mit Recht konnte an die fünffache Differenzierung des Evangeliums in den -»Schmalkaldischen Artikel erinnert werden, wo neben Predigt, —»Taufe, Altarsakrament, Kraft der Schlüssel auch mutuum colloquium et consolatio fratrum gleichberechtigt herausgestellt werden (BSLK 449,28). Für den katholischen Theologen R. Zerfaß ist sogar das Gespräch der Prototyp der christlichen Verkündigung, nicht die Predigt (Zerfaß 684). Insbesondere der Begriff der -»Kommunikation bezeichnete ein neues Paradigma (Klaus; Bastian, Kommunikation; Bäumler [vgl. auch T R E 19,384-402]; Winkler u.a.). M . Josuttis entwickelte den Begriff der „Praxis des Evangeliums", E. —»Lange den der „Kommunikation des Evangeliums" (Kritik daran bei Grözinger 139). Letzterer wurde bis in die Aufgabenstellungen der Gemeindepädagogik hinein grundlegend (Adam/Lachmann 27). 2.3. Enzyklopädische

Kategorie: Gottes Ruf und menschliche

Antwort

D. Stollberg verwendete in seiner -»Seelsorgelehre die Unterscheidung von spezifischem und generellem Proprium, wobei - jedenfalls in seiner ersten Fassung dieser Begriffe (Stollberg, Seelsorge 148) - eben einerseits die spezifische Handlungssorte und andererseits das generell Christliche herausgestellt werden sollte (anders Stollberg, Wahrnehmen 20; vgl. Winkler 4 - 5 4 ) . Die Verknüpfung beider Propria ist in der Tat ein fundamentales Problem theologischer -»Enzyklopädie, was die Mitwirkung der Praktischen Theologie an der Wesensbestimmung des Christseins erfordert. Denn die Wahrheit steht immer wieder auf dem Spiel der dramatischen Entscheidung zwischen -»Leben und —»Tod, -»Segen und Fluch, -»Krieg und -»Frieden. In diesem Sinne hat Luther die Theologie als theologia practica bezeichnet (WA.TR 1,72 Nr. 153). Der Inhalt zeigt sich in jeweiliger Form; deshalb hat theologische -»Ästhetik als Wahrnehmungskunde im Blick auf darstellende Mitteilung und mitteilende Darstellung (-»Schleiermacher) in einer enzyklopädischen Bestimmung der Einheit von Theologie ihren Ort. Der performative Sinn von Verkündigung, konzentriert in der Absolution, der Lossprechung als -»Vergebung der Sünden, hat zugleich immer futurischen Sinn: Es wird verkündigt, indem angekündigt wird, was wir von Gott zu erwarten haben. Treffend wird im evangelischen Gottesdienst, jedenfalls seit dem 20. Jh., davon der Begriff der Abkündigung für kirchliche Mitteilungen unterschieden. Auf katholischer Seite hat dementsprechend der Terminus „Vermeidungen" den der „Verkündigungen" für die Mitteilungen an die Gemeinde abgelöst. Der Begriff Verkündigung hat so den Grundcharakter der in KapprjaÍQ. (vgl. Joh 18,20) erfolgenden Eröffnung der als Geheimnis in Gottes Verfügbarkeit bleibenden frohen Botschaft, wie das in dem Fest von -»Weihnachten paradigmatisch sowohl in Lk 1 wie 2 zutage tritt. Ältere Lexika nennen unter Verkündigung nur die Szene der Verkündigung der kommenden Geburt Jesu an Maria (z. B. Art. Verkündigung Mariä: Perthes' Handlexikon für evangelische Theologen, Gotha, III 1891, 598).

Verkündigung II 3.

719

Praxisprobleme

3.1. Theologia

publica/Medienreligion

Verkündigung als öffentliche Mitteilung des Evangeliums hat stets das Problem der Medialität bei sich, weil das verbum externum reformatorisch konstitutiv ist. Was sich in der -»Reformation in den Printmedien vollzog, wird in der Informationsgesellschaft in digitaler Kommunikation umfassend aktuell. So konnte Verkündigung auch pointiert als Information verstanden werden (Bahr; Bastian, Verfremdung). Publizistische Gesamtpläne und Gesamtkonzepte im Bereich der -»-Evangelischen Kirche in Deutschland (Mandat und Markt, 1997), Pastoralinstruktionen des Papstes (Communio et Progressio, 1971; Aetatis novae, 1992) kennzeichnen die Entwicklung, die sich schon in der Diskussion um die Rundfunkhomiletik abzeichnete (vgl. neben Petkewitz u.a. Altmannspergers historische Analyse und Hobers Studie als Beitrag „auf der Suche nach einer Theorie medialer Verkündigung" [Hober 203]). Mit Recht wurde die Frage nach „Religion in den Medien — Medienreligion" unter dem Titel Die kanalisierte Botschaft (Janowski) thematisiert. Die Frage liegt nahe: Wird das Evangelium verkabelt? Die Entwicklung mit rapidem Interesse an den Möglichkeiten des Internets ist im vollen Gange. 3.2. Mission,

Evangelisation

Der Sitz im Leben der Verkündigung war die -»Mission. Aber die Missionspredigt rief bald das Problem der Differenzierung zur Gemeindepredigt hervor (—»Lehre). Die -»Innere Mission reagierte im 19. Jh. auf die Problematik, inwieweit die kirchliche Verkündigung noch die Massen erreiche. Im Zusammenhang mit dem Thema Gemeindeaufbau ist der alte Begriff der -»Evangelisation immer wieder wirksam geworden. Besonders auch in katholischer Theologie ist die Verpflichtung zur Evangelisierung vielfach Schrittmacher praktisch-theologischer Bewegungen (Mette). H. J. Margull hat „Evangelisation als ökumenisches Problem" in seiner Theologie der missionarischen Verkündigung grundlegend dargestellt und abschließend programmatisch formuliert: „Missionarische Verkündigung ist Hoffnung in Aktion" (Marguli 295). Die Zusammenhänge mit -»Werbung und -»Öffentlichkeitsarbeit werden zunehmend bewußt. Die Schnittstelle Mensch (Beuscher) wird zu einem religiösen Thema zwischen Technologie und Anthropologie. 3.3.

Diakonie

Die Glaubwürdigkeit des christlichen Glaubens wurde seit Beginn der Mission nicht zuletzt durch die diakonische Existenz der Gemeinde in ihrer sozialen Umwelt dargetan. Ein besonders wichtiger Hinweis für den Zusammenhang von Predigt und diakonischer Tat, von verbaler und nonverbaler Verkündigung, ist der Sinngehalt des neutestamentlichen Stichworts der öiaxovia, die eben als „Dienst der -»Versöhnung" (II Kor 5,18) die ganze Praxis des Evangeliums in Wort und Tat umfaßt. 3.4. Predigt als Namen- und Amenrede

im Kontext von Liturgie und

Hymnologie

Bei allen Veränderungen des gesellschaftlichen Kontextes der Predigt bleibt die gottesdienstliche persönliche Auslegung des Bibelwortes in einzelner freier Rede unverzichtbares Element christlicher Praxis. R. Bohren hat die Predigt zutreffend als „Namenrede" (Bohren 90) beschrieben. Denn in der Möglichkeit, sich auf Gottes Namen zu berufen und ihn in seinem Namen anzurufen, gründet alle christliche Kommunikation. Evangelisation beruht auf —»Vokation. Die Predigt wird seelsorgerlich und vielseitig sein müssen, entscheidend aber ist immer wieder die Frage nach dem Zusammenhang von Wort und Geist in der namentlichen Inanspruchnahme der Verheißung. Die Bekräftigung der Predigt, liturgisch angezeigt durch das -»Amen, in dem der hebräische Sinngehalt von Glauben bejaht wird durch die Gemeinde, nicht nur den Prediger allein, ermöglicht es, Namen und Amen als das A und O der Predigt zu verstehen: Wahrhaftig, hier wird

720

Verkündigung II

der Name Gottes verkündigt, d.h. zugesagt und zugemutet. Predigt ist parakletischer Vollzug, Verkündigung als Klartext. 3.5. Kunst, Bild und Wort,

Kirchenbau

Die ästhetische Wendung der Theologie, auch unter dem Stichwort Pastoralästhetik (Fürst) beschreibbar, verlangt, die Kunst der -»Sprache mit der Gunst des Wortes zu verbinden. Die Künstlerinnen und Künstler sind das sprachliche bzw. ästhetische Gewissen der Verkündigung, weil sie die Freiheit in der „Rettung durch Phantasie" (Kaschnitz) zu wahren versuchen. Sie sind sich der Ohnmacht der Wörter in der Kraft des Wortes beispielhaft bewußt. Insbesondere entdeckt die Poesie die Bild- und Bildungskraft der Sprache, zentral erkennbar in den Erörterungen über die Bedeutsamkeit der Metaphern als grenzüberschreitender Sprachbilder. -»Symbol und —»Mythos, Gleichnis und -•Vision präludieren dementsprechend sprachlich die Ankunft der -»Gerechtigkeit Gottes für unsere Zukunft. Die Kunst der Architektur dient dem -»Kirchenbau als gestalthaftem Zeichen der Verkündigung. 3.6. Lehre, Nachfolge, Auferbauung, Teilhabe, Bildung, Sprachereignis theologische Vollzugs-Kontinua der Verkündigung

als

praktisch-

Der Rekurs auf Verkündigung hat nur Sinn, wenn er die lebendige Vielfalt der Mitteilungsformen im Blick hat, anstatt einer sakrosankten Sprachregelung zu verfallen. Grundbegriffe einer solchem Morphologie hat zuerst E. Schlink entwickelt und dabei den doxologischen Zielpunkt aller theologischer Perspektiven herausgearbeitet. Im Anschluß an K. Marti gesagt, Literatur als Lob der Sprache (Marti 154.161) steht in naher Beziehung zur liturgischen Sprache des Lobs (vgl. T R E 21,298,30-42), allerdings oft gerade paradox. 3.7. „Kein Zauberspruch",

aber Verantwortung

für Wort und

Antwort

M.L. Kaschnitz hat in dem Gedicht Kein Zauberspruch (Kaschnitz 61) den Verzicht der Poesie auf „Zauberspruch" sowie „Geste" erklärt. Demgegenüber sieht sie als Möglichkeit: „Worte einmal aufgeschrieben, / Will ich meinem / Text einfügen // Etwa diese / Aus Aquino / Weil das Böse ist / Ist Gott." Die Realität der Boshaftigkeit wird hier beispielhaft nicht geleugnet, der Ausweg, in das Verstummen zu verfallen, nicht beschritten, auf -»Magie wird verzichtet; aus der Kraft der geistlichen -»Tradition ergeben sich Einfügungsmöglichkeiten in kreative Wahrnehmungsrede im Kontext unserer Zeit und Welt als Sprache für Glaube, Liebe und Hoffnung. Verkündigung kann so Erinnerungswort für die Kraft des Geistes als der Wahrheit des Buchstabens und zugleich gegen die Sünde des Geredes werden. Es wäre gut, wenn Verkündigung die dramatische Stoßkraft behielte oder gewönne, die im säkularen Sprachgebrauch des Wohnens und Arbeitens das Wort Kündigung besitzt. Verkündigung bewahrt uns vor der Kündigung der Wohngemeinschaft mit dem Wort Gottes, wie es in Jesus Christus irdisch und human und göttlich geistesgegenwärtig sich offenbart hat und kundtut. Literatur S.a. die Lit. in den Art. -»Homiletik, -»Publizistik, -»Rhetorik, -»Sprache. Gottfried Adam/Rainer Lachmann (Hg.), Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 1987. - Dieter Altmannsperger, Der Rundfunk als Kanzel?, Neukirchen-Vluyn 1992 (Hist.-theol. Stud. zum 19. u. 20. Jh. 4). - Hans-Eckehard Bahr, Verkündigung als Information. Zur öffentlichen Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft, Hamburg 1968. - Karl Barth, Not u. Verheißung der christl. Verkündigung: ders., Das Wort Gottes u. die Theol., München 1925, 9 9 - 1 2 4 . - Christof Bäumler, Kommunikative Gemeindepraxis, München 1984. - Hans-Dieter Bastian, Verfremdung u. Verkündigung, 1965 (TEH 127). - Ders., Kommunikation, Stuttgart/Berlin 1972. Johannes Berewinkel, Art. Verkündigung: Ev. Lexikon f. Theol. u. Gemeinde 3 (1994) 2081 f. Bernd Beuscher (Hg.), Schnittstelle Mensch, Heidelberg 1994. - Bild u. Verkündigung. FS Hanna

Verkündigung II

721

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722

Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche

Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche 1. Begriffliche Klärung 2 . Spektrum kungen (Quellen/Literatur S. 7 2 6 )

1. Begriffliche

3. F u n k t i o n

4 . R e c h t l i c h e Grundlagen

5. Wir-

Klärung

Das Deutsche 'Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm beschreibt Verlautbarung als „bekennung zweier contrahenten zu dem inhalt des contracts vor dem richter". „Verlautbaren" bedeutet „laut machen": „das wort, welches in der älteren literatur selten zu sein scheint, entstammt vielleicht der gerichtssprache, mundartlich findet es sich in gebrauch „bei gerichtlichen vorfallen: das testament ist verlautbart, öffentlich bekannt gemacht; einen contract verlautbaren, gerichtlich bekannt machen lassen" (DWb 12/1 [1956] 750f.). „Verlautbaren" kann sowohl transitiv als auch intransitiv gebraucht werden, auch in der Zusammenstellung „verlauten lassen". Kirchliche Verlautbarungen meinen im allgemeinen Sprachgebrauch sowie in der Berichterstattung in den Medien einen Sammelbegriff für Aussagen aus dem Raum der Kirchen mit offiziellem Charakter. Als Oberbegriff charakterisieren sie alles, womit Kirchen durch einzelne (leitende) Amtsträger (z.B. Bischöfe, Bischöfinnen, aber auch Pfarrer, nichtordinierte Mitglieder von -> Synoden) sowie Gremien (z. B. Synoden, Kammern, Kommissionen) an die Öffentlichkeit treten, was Wort- und Schriftgestalt annimmt und in religiösen wie gesellschaftspolitischen Fragen auf Verständigung, Einverständnis und Plausibilität zielt. 2. Spektrum 2.1. Evangelische

Kirche

Die prominenteste Form der Verlautbarung ist die Denkschrift. Daneben gehören zu dieser Sammelbezeichnung u.a. Studie, Beitrag, Wort, Erklärung, Handreichung, Thesenreihe, Kundgebung, Beschluß, Entschließung, Hirtenbrief, -*•Katechismus, Leitlinien, Kommunique und Kanzelabkündigung. Diese Formen haben sich in besonderer Weise als Instrumente kirchlichen Handelns in der demokratischen Gesellschaft nach der Gründung der -»Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 1948 bzw. eines vorläufigen Rates der EKD wenige Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelt und als Beiträge der Kirche in der Zivilgesellschaft bewährt. Dies gilt auch für die Zeit, in der nach der Trennung von der EKD der -»Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (1969-1991) als eigenständiger Zusammenschluß der Landeskirchen auf dem Gebiet der DDR existierte. Einen neuen Typ unter den Verlautbarungen stellt das Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage (1997) des Rates der EKD und der katholischen Deutschen Bischofskonferenz dar, das unter dem Titel Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit veröffentlicht wurde. Dieses Wort wurde durch einen zweieinhalbjährigen Konsultationsprozeß vorbereitet, der auf der Basis eines Impulspapiers eine öffentliche Diskussion erlaubte und im Rahmen dieses Prozesses deren Ergebnisse auch einarbeitete. Analog initiierte die EKD in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Evangelischer Freikirchen 1999 einen Konsultationsprozeß zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur. Während die Denkschriften in einem Verlag publiziert werden, unterhalten die Landeskirchen wie die kirchlichen Zusammenschlüsse eigene Dokumentationsreihen wie etwa die EKD-Texte oder die Texte aus der VELKD. 2.2. Römisch-katholische

Kirche

Als bedeutendste Verlautbarung kann auf weltkirchlicher Ebene die Enzyklika angesehen werden, auf nationaler Ebene der Hirtenbrief. Darüber hinaus gibt es u.a.: Erklärung, Apostolisches Schreiben, Leitlinien, Instruktion, Richtlinien, Predigten (-•Predigt) und Ansprachen des Papstes, der Bischöfe und Kardinäle, Charta, Stellung-

Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche

723

nähme, Katechismus und Arbeitshilfe. Zum Repertoire gehören neben Verlautbarungen auch Verleisharungen (Grote 18) wie „Einflußnahme, Hindern und Gewährenlassen, Schweigen und Überhören, Zuwendung und Abwendung, Mimik, Gestik und Symbolik", denn: „Verlautbarungen allein ergeben nie das ganze Bild" (ebd.). Veröffentlicht werden Verlautbarungen der -»Römisch-katholischen Kirche vorwiegend in der vatikanischen Tageszeitung UOsservatore Romano. Giornale quotidiano politico religioso, zu der es auch eine Wochenausgabe in deutscher Sprache gibt. Ferner werden Verlautbarungen mit Gesetzeskraft im Amtsblatt, den Acta Apostolicae Sedis. Commentarium officiale publiziert. Darüber hinaus haben die Kurienbehörden mitunter eigene Publikationsorgane. In Deutschland werden die Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls sowie Erklärungen der deutschen Bischöfe im allgemeinen und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz im besonderen in eigenständigen Dokumentationsreihen vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegeben. 2.2.1. Enzyklika. Enzykliken (epistula encyclica, weiterzugebende Botschaft) sind erstmals von -»Benedikt XIV. eingesetzte gedruckte Rundschreiben des Papstes, die sich an die Kirche als Ganzes bzw. an Teile (Episkopat, Gläubige) richten, mitunter auch an alle Menschen guten Willens. Sie greifen Fragen des Glaubens und der Moral auf. Sie bilden die Hauptquelle der Verkündigung der Kirche und dienen dem Papst als Mittel, sein Lehramt auszuüben. Sie werden in lateinischer Sprache veröffentlicht. Amtliche Übersetzungen gibt es auch in anderen Sprachen. Die ersten zwei oder drei Worte einer Enzyklika markieren das Thema bzw. Motto der Enzyklika. 2.2.2. Hirtenbrief. Der Hirtenbrief, auch Pastorale genannt, stellt eine Sonderform bischöflicher Verkündigung dar (Lumen Gentium 25; c. 375 § 1 CIC). Er steht in der Tradition der apostolischen Briefe und der Schreiben an die Gemeinden in der nachapostolischen Zeit. In ihm werden pastorale wie gesellschaftspolitische Fragen, aber auch Themen kirchlicher Lehre angeschnitten. 2.3.

Ökumene

Aus ökumenischen Dialogen entstehen u.a. Gemeinsame Erklärungen Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre sowie Gemeinsame Berichte. 3.

wie etwa die Worte und

Funktion

-»Öffentlichkeit gehört zum Wesen der -»Kirche. Durch -»Gottesdienst und —»Seelsorge, -»Mission, -»Diakonie und -»Publizistik wirkt sie in ihr und sieht sie als Adressaten. Der umfassende Verkündigungsauftrag sowie das universale Heilsangebot (Mt 28,18ff.) bringen den Anspruch des Evangeliums auf öffentliche und weltweite Geltung zum Ausdruck. Weiterhin leben eine pluralistische Gesellschaft und ein auf Partizipation angelegtes Gemeinwesen davon, daß u. a. auch die Kirchen auf den öffentlichen Prozeß der Meinungsbildung durch das Wahrnehmen ihres Verkündigungs- und Sendungsauftrags einwirken. Aus beidem leitet sich der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche ab. Öffentliche Verkündigung durch Kommunikation beschreibt auch einen Bildungsauftrag. Christliche Überzeugungen müssen vermittelt werden. Der kirchliche Öffentlichkeitsauftrag wird durch die Predigt wahrgenommen, aber auch durch jede Form kirchlicher Verlautbarung (s.o. 2.). Kirchliches Handeln geschieht im Rahmen des Öffentlichkeitsauftrags vor allem durch Amtsträger und kirchliche Organe. Zugleich hat aber auch jedes einzelne Glied der Kirche Anteil an der Erfüllung des kirchlichen Auftrags der Verkündigung des Evangeliums. Kirchliche Verlautbarungen verstehen sich als Hilfe zur Urteilsbildung des einzelnen in religiösen, ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen. Sie stellen einen gesellschaftsdiakonischen Beitrag dar.

724

Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche

4. Rechtliche 4.1.

Grundlagert

Allgemein

Geradezu als Synonym für „kirchliche Verlautbarungen" wird der Begriff Beschlüsse gebraucht. Zu unterscheiden sind drei Gruppen (Robbers): 1) Beschlüsse mit rechtlicher Verbindlichkeit in dem Sinne, daß der Adressat ihnen nicht zuwider handeln darf (u. a. Verfassungen, Kirchenordnungen, Kirchengesetze, Satzungen, Weisungen, Rechtsakte, Erlasse, Wahlen und kirchengerichtliche Entscheidungen); 2) Beschlüsse, die rechtlich nicht unverbindlich sind, denen aber zuwidergehandelt werden darf, wenn es Gründe dafür gibt(u.a. Bitten, Anregungen, Wünsche und Empfehlungen); 3) Beschlüsse, die keine rechtliche Verbindlichkeit nach sich ziehen (u.a. Entschließungen, Worte, Kundgebungen, Bitten, Anregungen und Wünsche). Beschlüsse werden in der Regel von Landessynoden bzw. auf Bundesebene von der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Synode der -»Evangelischen Kirche der Union (EKU) und der Generalsynode der -»Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) gefaßt. Synoden sind kirchenleitende Organe. Ihre Beschlüsse haben auch dann Leitungs- und Orientierungsfunktion, wenn sie nicht in kirchenrechtlichem Sinne verbindlich sind. Für Stellungnahmen zu politischen Themen gilt, daß sie nicht als Kirchengesetz ergehen können. Die Verbindlichkeit und Autorität einer kirchlichen Verlautbarung hat in ihrer Schrift- und Sachgemäßheit ihre Wurzeln. Kirchliche Verlautbarungen erhalten, je nachdem, welche Klassifizierung verwendet wird, ihr spezifisches Gewicht. Kundgebungen bilden beispielsweise in der EKD-Synode die stärkste Form des Beschlusses. In der Regel fassen sie die Ergebnisse der Beratungen zum Schwerpunktthema zusammen und haben besonderen Signalcharakter. Dieser kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß zwei Drittel der anwesenden Synodalen für die Annahme gestimmt haben müssen (Geschäftsordnung der Synode der EKD, §9a Absatz 2). K.-A. Odin hat für früher verbreitete kirchliche Worte herausgearbeitet, was heute auch für Kundgebungen gesagt werden kann: „Sie gehören zu der Sprachweise der Kirche ,von oben', als Autorität, nicht als gleichrangige Gesprächspartnerin, die, statt Glaubensgehorsam zu fordern, überzeugende Gründe vorbringen muß. Das kirchliche ,Wort' ist nicht Diskussionsbeitrag, sondern Kundmachung. Es ist durch Bibelwort und kirchlichen Verkündigungsauftrag ihrer Gültigkeit versicherte Weisung, Ermahnung der Gemeinden und auch der Öffentlichkeit bis hin zur Regierung" (Odin 13). Gegenüber Entschließungen oder Beschlüssen bilden Kundgebungen die ungleich stärkere Form der Verlautbarung, nicht zuletzt auch deshalb, weil erstere mit einfacher Mehrheit gefaßt werden. Ein besonderes Gewicht kann Synodalbeschlüssen noch dadurch zukommen, daß ihre Verlesung im Gottesdienst angeordnet wird. Generell werden Verlautbarungen in den Amtsblättern der Landeskirchen bzw. der gliedkirchlichen Zusammenschlüsse veröffentlicht. 4.2.

Spezifisch

4.2.1. Evangelische Kirche in Deutschland. In Artikel 20 Absatz 1 der Grundordnung der EKD heißt es: „In Erfüllung ihrer Aufgaben kann die Evangelische Kirche in Deutschland Ansprachen und Kundgebungen erlassen". In Artikel 23 wird in Absatz 2 ausgeführt: „Sie [die Synode der EKD] beschließt nach Maßgabe des Artikels 26 Absatz 3, erläßt Kundgebungen, bespricht die Arbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland, erörtert Fragen des kirchlichen Lebens und gibt dem Rat Richtlinien". Ebenso kann nach Artikel 29 Absatz 1 der Rat der EKD „Kundgebungen erlassen, wenn die Synode nicht versammelt ist". 4.2.2. Evangelische Kirche der Union. Nach Artikel 10 Absatz 3 der Ordnung der EKU hat die Synode „das Recht, sich in Ansprachen an die Gemeinden und die Öffentlichkeit zu wenden". Dieses Recht steht im Rahmen des Artikels 15 Absatz 3 auch

Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche

725

dem Rat zu. Beide Organe wenden sich in der Regel an die Gliedkirchen der EKU oder auch der Arnoldshainer Konferenz (AKf), genauer: an deren Organe, nicht aber unmittelbar an die Gemeinden. 4.2.3. Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands. Die Verfassung der VELKD räumt ihrer Bischofskonferenz nach Artikel 9 Absatz 2 das Recht ein, Kundgebungen und Empfehlungen für sich alleine oder im Zusammenwirken mit der Generalsynode zu erlassen. Gleiches gilt für die Generalsynode (s. Artikel 15 Absatz 1). Nach Artikel 6 Absatz 2 kann die Kirchenleitung im Einvernehmen mit der Bischofskonferenz „Grundsätze aufstellen, die von den Gliedkirchen in Gesetzgebung und Verwaltung beachtet werden sollen (Richtlinien)". In Artikel 12 Absatz 1 räumt die Verfassung dem Leitenden Bischof das Recht ein, Hirtenbriefe zu erlassen. Die Generalsynode faßt Entschließungen und Beschlüsse, ohne daß dies ausdrücklich in der Verfassung Erwähnung findet. 4.2.4. Beispiele aus Landeskirchen. In der Evangelisch-lutherischen Landeskirche -»Hannovers werden in der Kirchen Verfassung öffentliche Verlautbarungen an zwei Stellen erwähnt: Nach Artikel 63 Absatz 1 kann sich der Landesbischof bzw. die Landesbischöfin mit Kundgebungen, die im öffentlichen Gottesdienst zu verlesen sind, an die Gemeinden wenden. Nach Artikel 47 Absatz 2 kann sich auch die Landessynode mit Kundgebungen an die Gemeinden wenden und anordnen, daß sie im Gottesdienst verlesen werden. Außerdem kann die Landessynode Anregungen an die übrigen landeskirchlichen Stellen sowie Entschließungen an Behörden, Körperschaften und Vereine richten. Kundgebungen werden hier als kircheninterne Verlautbarungen verstanden, die sich an die Gemeinden richten. Durch das Verlesen erlangen sie aber einen gewissen Grad an Öffentlichkeit und können so zum Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung werden. Die Entschließungen der Landessynode sind demgegenüber ausdrücklich an außerkirchliche Adressaten gerichtet. Nach Artikel 78 vertritt der Landessuperintendent bzw. die Landessuperintendentin die Landeskirche im kirchlichen und öffentlichen Leben des Sprengeis. Der Landesbischof bzw. die Landesbischöfin haben nach Artikel 64 Absatz 2 u.a. die Aufgabe, die Stellungnahme der Kirche zu den Fragen und Aufgaben der Zeit in der Öffentlichkeit zum Ausdruck zu bringen. In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in -»Bayern hat der Landesbischof das Recht, sich mit Kundgebungen an die Gemeinden zu wenden und kann anordnen, daß diese im Gottesdienst verlesen werden (Kirchenverfassung Artikel 59 Absatz 2). Die Landessynode hat zwar auch das Recht, Kundgebungen zu erlassen, doch kann sie die Verlesung im Gottesdienst nicht anordnen (Artikel 42 Absatz 1). 5.

Wirkungen

In einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft ist das Interesse groß, was gesellschaftlich relevante Gruppen, darunter insbesondere die Kirchen, zu sagen haben. Die Medien in ihren unterschiedlichen Formen (u. a. Zeitung, - » H ö r f u n k , -»Fernsehen, Internet) mit vielfältigen Anbietern und Angeboten stellen auch den Kirchen ein Forum zur Präsentation ihrer Positionen zur Verfügung. Für die Kirchen gilt: In der modernen Mediengesellschaft werden Positionen am wirksamsten durch Personen vermittelt, in der Regel durch die leitenden Geistlichen. Für die evangelische Kirche, zunehmend aber auch für die Römisch-katholische Kirche gilt zugleich: Das Nebeneinander der vielen Stimmen, die für Kirche sprechen - sie ist eine Folge des Wunsches nach exklusiven Äußerungen — kann im Falle gegensätzlicher Aussagen zu einem Profilverlust führen. Und es kann statt zu einer Klärung zur Verwirrung darüber kommen, was in der Kirche gilt. Da kirchliche Verlautbarungen ein weit gefaßtes Spektrum beschreiben, entsteht zudem die Frage, welches Gewicht dem einzelnen Absender zukommt und wie verbindlich das Gesagte ist. Kirchliche Stellungnahmen finden nicht in jedem Fall die ungeteilte Zustimmung der Kirchenglieder.

726

Vermigli

Entscheidend für das Gewicht kirchlicher Verlautbarungen ist nicht nur die notwendig vorausgegangene Konsensbildung, sondern oft auch das Interesse der Medien an Meinungen, die vom sog. offiziellen Kurs abweichen. Immer wieder wird gefordert, daß sich die Kirchen zu zentralen Fragen gesellschaftlichen Lebens äußern, sich aber keinesfalls in der Kommentierung tagesaktueller politischer Fragen verlieren sollten. Die Kirchen haben den Auftrag, nicht nur auf gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren, sondern selbst auch Diskussionsprozesse anzustoßen und Veränderungen im Denken und Handeln der Menschen zu fordern und herbeizuführen. Die Unterscheidung, was zentral ist und was tagesaktuell, läßt sich im Einzelfall durch die Rezipienten nicht immer klar bestimmen. Kritisch wird gegen die bestehende kirchliche Verlautbarungspraxis eingewandt, daß durch die Vielzahl oft zeitgleich erscheinender Denkschriften, Studien etc. die Möglichkeiten der Wahrnehmung und Aufnahme begrenzt sind, d.h. aus kirchlicher Sicht gewichtige Beiträge in der schnellebigen und lediglich an Schlagzeilen orientierten Medienwelt untergehen. Sinnvoll ist - soweit im Einzelfall möglich - , eine Urteilsbildung vor der Beantwortung von Anfragen herzustellen. Überdies bedarf es auch eines gewissen Maßes an innerkirchlicher Loyalität und des Bewußtseins, für das Ganze der Kirche Verantwortung zu tragen. In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sind in diesem Zusammenhang Leitlinien zu politischen Stellungnahmen aus dem kirchlichen Bereich (verabschiedet am 26.10.1987; abgedruckt in Rechtsammlung 500, in unmittelbarem Anschluß an das Pfarrergesetz) erarbeitet worden. Diese Leitlinien wollen, allerdings ohne rechtlich bindend zu sein, als Handreichung dienen für den Umgang mit dem Problem kirchlicher Äußerungen in der Öffentlichkeit. Zugleich wollen sie den Blick für die Verantwortlichkeit kirchlichen Redens und das Bemühen um Klarheit und Gemeinsamkeit kirchlicher Stellungnahmen zum Ausdruck bringen. Ein Patentrezept für das richtige kirchliche Verhalten in der (medialen) Öffentlichkeit gibt es nicht, zumal der Rezeptionsprozeß kirchlicher Verlautbarungen grundsätzlich nicht kalkulierbar ist und in der Regel erst die Wirkungsgeschichte von Verlautbarungen zeigt, was Autorität erlangt und als kirchliche Stimme Gewicht bekommt. Quellen Vgl. auch die Rechtssammlungen des Landeskirchen. Kundgebungen. Worte, Erklärungen u. Dokumente der EKD, 3 Bde., Hannover 1959-1996. Kundgebungen, Worte, Erklärungen u. Dokumente des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR, 2 Bde., Hannover 1 9 9 5 - 1 9 9 6 . - Das Recht der EKU, Neuwied 1994. - Recht u. Verlautbarungen der VELKD, hg. v. Martin Lindow, 1989 ff. - VApS. - Das Verfassungsrecht der EKD, hg. v. Kirchenamt der EKD, Hannover 1974 NA 1985 u. 1988. Literatur Thomas Barth, Elemente u. Typen landeskirchl. Leitung, Tübingen 1995 (Lit.). - Heiner Grote, Was verlautbart Rom wie? Eine Dokumentenkunde f. die Praxis, Göttingen 1995. - Karl-Alfred Odin (Hg.), Die Denkschr. der EKD, Neukirchen-Vluyn 1966. - Gerhard Robbers, Zur Verbindlichkeit v. Beschlüssen kirchenleitender Organe in der ev. Kirche: ZEvKR 33 (1989) 1 - 2 1 (Lit.).

Udo Hahn

Vermahnung ->Paränese Vermigli, Pietro Martire 1. Leben

2. Werk

(1499-1562) 3. Nachwirkungen

(Quellen/Literatur S.729)

1. Leben Vermigli wurde am 8. September 1499 in Florenz als Sohn des wohlhabenden Schuhmachers Stefano di Antonio Vermigli und dessen Frau Maria Fumantino geboren. Im Jahre 1514 trat er in das Augustiner-Chorherren-Kloster San Bartolomeo bei Fiesole

Vermigli

ITI

ein und nahm vier Jahre später den Namen des Märtyrers Peter von Verona an. Im Jahre 1518 wechselte Vermigli in das Kloster San Giovanni di Verdara, wo er eine reichhaltige Bibliothek vorfand und Griechisch lernte, um -»Aristoteles und die Kirchenväter im Urtext lesen zu können. Zugleich studierte er an der Universität Philosophie bei ausgewiesenen Aristoteles-Kennern wie Giambattista Gonfaloniere, Branda Porro und vor allem Marcantonio de Passeri (1491 — 1563) (Genua), dem Lehrer Jacobo Zabarellas (1533-1589). Nach eingehendem Studium der Schriften des -»Thomas von Aquino und des Augustinismus —»Gregor von Riminis erlangte er das Doktorat und wurde 1525 zum Priester geweiht. Seit 1526 predigte und unterrichtete Vermigli in verschiedenen Klöstern der Augustiner-Chorherren. In dieser Zeit lernte er als Vikar an San Giovanni in Monte bei Bologna von einem jüdischen Arzt Hebräisch. In den drei Jahren als Prior eines Klosters bei Spoleto 1533 bis 1536 tat er sich durch energische Reformtätigkeit hervor. Während eines Aufenthaltes in Rom von Mai 1536 bis April 1537 kam er in Kontakt mit Gasparo —»Contarini und hat möglicherweise an den bekannten, 1537 Papst -»Paul III. übergebenen Reformvorschlägen mitgewirkt. Von 1537 bis 1540 war Vermigli Prior des großen Klosters San Pietro ad Aram in Neapel, wo er freundschaftlichen Kontakt zu dem spanischen Reformer Juan de Valdés (um 1500-1541) fand. Seine öffentlichen Vorlesungen über den ersten Korintherbrief im Jahre 1540 endeten, als er wegen der Ablehnung einer Begründung der Fegfeuer-Vorstellung aus I Kor 3 , l l f f . Predigtverbot erhielt. Reformorientierte Freunde in Rom bewirkten jedoch, daß er 1541 zum Prior von San Frediano bei Lucca gewählt wurde. Hier arbeitete er mit humanistisch orientierten Lehrern wie Girolamo —»Zanchi und dem Hebraisten Immanuel Tremellio (1510/20-1580), die später mit ihm ins Exil gingen, zusammen und las über die paulinischen Briefe und die Psalmen. Als im Sommer 1542 die -»Inquisition in Italien etabliert und auch er selbst vor das Ordenskapitel nach Genua zitiert wurde, verließ er Lucca. Über Pisa, wo er das -»Abendmahl nach evangelischer Weise feierte, und Florenz, wo sich ihm der Generalvikar des Kapuzinerordens, Bernardino -»Ochino, anschloß, floh er nach -»Zürich. Nach wenigen Tagen dort und einem Monat Aufenthalt in Basel nahm er am 5. Oktober das Angebot Martin —»Bucers an, die alttestamentliche Professur an der Akademie in —»Straßburg zu versehen. Angesichts der Niederlage der Protestanten im -»Schmalkaldischen Krieg brach Vermigli Ende 1547 erneut auf, um dem Ruf Erzbischof Thomas -»Cranmers als Regius Professor of Divinity in -»Oxford zu folgen. Hier erregten nicht nur seine Heirat mit Catherine Dampmartin, sondern auch seine Abendmahlslehre Anstoß, so daß es 1549 zu einer Disputation kam, an der auch König Eduard VI. (reg. 1547-1553) Anteil nahm. Auf Bitten Cranmers verfaßte Vermigli eine umfassende Widerlegung der von Bischof Stephen Gardiner (ca. 1483—1555) propagierten römisch-katholischen Abendmahlslehre, beteiligte sich an der Kommission zur Reform des anglikanischen Kirchenrechts und trug zum —»Book of Common Prayer von 1552 bei. Nach dem frühen Tod des Königs kehrte er Ende 1553 nach Straßburg zurück, wo er wegen seiner calvinistischen Prädestinations- (-»Prädestination) und Abendmahlslehre unter wachsenden Druck der lutherisch gesinnten Kreise um Johannes - » M a r b a c h geriet. So machte er sich 1556 ein weiteres Mal auf den Weg, um in Zürich bis zu seinem Tod am 12. November 1562 die alttestamentliche Professur zu versehen. Ein Jahr vor seinem Tod nahm er noch am Religionsgespräch von Poissy (-»Religionsgespräche IV.4.) teil — auf Veranlassung Theodor -»Bezas, der die herausragende kontroverstheologische Kompetenz des mit scholastischer Argumentation vertrauten ehemaligen Mönchs zu nutzen suchte.

2. Werk Das literarische Œuvre Vermiglis besteht im wesentlichen aus Kommentaren zu biblischen Büchern, kontroverstheologischen Erörterungen einzelner Themen, insbeson-

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Vermigli

dere der Abendmahlslehre, Trostschriften bzw. theologischen Briefen sowie den Loci communes. Sein theologisches Profil ist bestimmt durch thomistische Scholastik, augustinisches Erbe und den christlichen -»Humanismus eines -»Erasmus und eines Juan de Valdés. Zwar ist umstritten, ob das scholastische Erbe dominiert oder ob dem Humanismus der prägende Einfluß zukommt, jedoch wird man hier keinen Gegensatz konstruieren dürfen und - ähnlich wie bei dem in den Jahren 1542 bis 1547 engstens mit ihm zusammenarbeitenden Martin Bucer - auch die frühe Aufnahme humanistischer Anliegen und Ziele hoch veranschlagen müssen. Die kontroverstheologischen Abhandlungen waren in erster Linie gegen römischkatholische Positionen gerichtet. Neben einer Streitschrift gegen seinen Vorgänger in Oxford, Richard Smith (1500-1563), über den -»Zölibat und die Mönchsgelübde (-»Gelübde) hat sich Vermigli in England vor allem der Widerlegung der traditionellen Abendmahlslehre gewidmet. Die Entwicklung der Abendmahlslehre (-»Abendmahl III/3.) ist in vieler Hinsicht repräsentativ für die Gesamtentwicklung seiner Theologie. In den Jahren seines ersten Straßburger Aufenthaltes hat Vermigli noch eine spiritualisierende, augustinisch-humanistische Auffassung vertreten, die auch in reformkatholischen Kreisen verbreitet war und die sich mit Bucers Ausgleichsbemühungen mit dem Luthertum ohne Schwierigkeiten vertrug. In den Oxforder Jahren näherte er sich der Zürcher Auffassung so weit an, daß er die von ihm während seines zweiten Straßburger Aufenthaltes geforderte Zustimmung zur -»Wittenberger Konkordie nicht mehr leisten konnte. Anders als Heinrich -»Bullinger hat er jedoch in der Prädestinationslehre (—»Prädestination V) die strenge Position einer doppelten Prädestination vertreten und darin möglicherweise auch Johannes -»Calvin beeinflußt. In der Rechtfertigungslehre betont er den forensischen Aspekt und das sola fide, kombiniert dies aber mit einem Interesse an der iustitia inhaerens, so daß er in die Nähe zu den reformkatholischen Auffassungen einer doppelten —»Rechtfertigung gerät. Charakteristisch für die Rechtfertigungslehre wie für die Theologie insgesamt ist die außerordentlich starke Systematik und methodische Durchdringung des Stoffes, der hohe Stellenwert kontroverstheologischer Argumentation sowie das ethische Interesse. 3.

Nachwirkungen

Vermiglis Ansehen im frühen reformierten Protestantismus beruhte auf seinen umfangreichen, großenteils erst postum herausgegebenen und mehrfach nachgedruckten Kommentaren zu biblischen, später vor allem alttestamentlichen Büchern: nach dem ersten Korintherbrief (1551) sowie dem Römerbrief (1558) zum Richterbuch (1561), zu den Samuel- (1564) und Königsbüchern (1566), zur Genesis (1569) und den Klageliedern (1629). Charakteristisch für sie war die häufige Einfügung von loci, kurzen oder auch viele Seiten umfassenden systematischen Abhandlungen zu Themen, die in den ausgelegten Bibeltexten angesprochen wurden. In diesen erörterte Vermigli nach streng durchgeführter Methode und in systematischer Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Positionen fast alle Themen der Theologie. Auf Anregung Theodor Bezas hat der Pfarrer der französischen Gemeinde in London, Robert Le Maçon (gest. 1611), 1576 eine Zusammenstellung dieser loci als Loci communes, orientiert am Aufbau der Institutio Calvins, zum Druck gebracht. Der über tausend Seiten starke Foliant erfuhr bis in die Mitte des 17. Jh. insgesamt vierzehn Ausgaben und wurde neben Calvins Institutio und Bullingers Dekaden die in der Theologenausbildung einflußreichste reformierte Dogmatik im 16. und 17. Jh. Vermiglis streng durchgeführte Methode hat wesentlich zur Wiederaufnahme der Scholastik in der calvinistischen -»Orthodoxie beigetragen und wahrscheinlich auch Beza beeinflußt. Seine kontroverstheologische Kompetenz hat ihn zu einem bevorzugten Lehrer in der Zeit der Konfessionalisierung gemacht. Die eingehende Erörterung konkreter Fragen ethischer Praxis in den Kommentaren und den in sie eingeschobenen loci wurde in der Ethik des frühen Calvinismus in hohem Maße vorbildlich. Die Präsenz Zürcher Theologie in der Lehre der anglikanischen Kirche ist

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nicht zuletzt Vermiglis Werk. Die den Loci communes seit 1580 angefügte Abhandlung über die Prädestination sowie die ebenfalls mitabgedruckten theologischen Briefe Vermiglis haben wesentlich dazu beigetragen, die Prädestinationslehre als konfessionelle Unterscheidungslehre des reformierten Protestantismus zu profilieren. Quellen 1. Bibliographie: John Patrick Donnelly/Robert M . Kingdon, A Bibliography of the Works of Peter M a r t y r Vermigli. With a Register of Vermigli's Correspondence by Marvin W. Anderson, 1990 (SCES 13). 2. Werke (in Auswahl): Loci communes. Ex variis ipsius aucthoris libris in unum volumen collecti, et quatuor classes distribua, hg. v. Robert Le Maçon, London 1576; Zurich 1580; Basel 1580-1582; London 1583; London 1583 [engl. Übers.]; Zürich 1587; Heidelberg 1603 u.ö.; Genf 1623 u.ö.; Amsterdam/Frankfurt a.M. 1656. - Robert M . Kingdon, The Political Thought of Peter Martyr Vermigli. Selected Texts and Comm., 1980 (THR 178). - Auszüge in engl. Übers.: T h e Peter M a r t y r Library, Kirksville, M o . 1994ff. [bisher 6 Bde.], Literatur Marvin W. Anderson, Peter Martyr Vermigli, a Reformer in Exile (1542-1562). A Chronology of Biblical Writings in England and Europe, 1975 (BHRef 10). - D e r s . , Royal Idolatry. Peter Martyr and the Reformed Tradition: ARG 69 (1978) 157-201. - Ders., Peter Martyr Vermigli. Protestant Humanist: Peter Martyr Vermigli and Italian Reform (s.u.) 6 5 - 8 4 . - Emidio Campi, Petrus Martyr Vermigli (1499-1562). Europ. Wirkungsfelder eines ital. Reformators: Zwing. 27 (2000) 48 - 65. - Salvatore Corda, Veritas Sacramenti. A Study in Vermigli's Doctrine of the Lord's Supper, 1975 (ZBRG 6). - Mariano Di Gangi, Peter Martyr Vermigli, 1499-1562. Renaissance M a n , Reformation Master, L a n h a m / N e w York/London 1993. - John Patrick Donnelly, Calvinism and Scholasticism in Vermigli's Doctrine of M a n and Grace, 1976 (SMRT 18) (Lit.). - Ders., Calvinist Thomism: Viator 7 (1976) 4 4 1 - 4 5 5 . - Ders., Italian Influence on the Development of Calvinist Scholasticism: SCJ 7 (1976) 81-101. - Ders., Three Disputed Vermigli Tracts: Essays Presented to Myron P. Gilmore, hg. v. Sergio Bertelli/Gloria Ramakus, Florenz 1978, 3 7 - 4 6 . - Frank A. James III, Peter Martyr Vermigli and Predestination. The Augustinian Inheritance of an Italian Reformer, 1998 ( O T M ) (Lit.). - Ders., Peter Martyr Vermigli. At the Crossroads of Late Medieval Scholasticism, Christian Humanism and Resurgent Augustinianism: Protestant Scholasticism. Essays in Reassessment, hg. v. Carl R. Trueman/R. Scott Clark, Carlisle, Cumbria 1 9 9 9 , 6 2 - 7 8 . - Robert M . Kingdon, Peter M a r t y r Vermigli and the Marks of the True Church: Continuity and Discontinuity in Church History. Essays Presented to George Huntston Williams, hg. v. Frank Forrester Church/George Huntston Wilhams, Leiden 1979,198-214. - Ders., The Political Thought of Peter Martyr Vermigli: Peter Martyr Vermigli and Italian Reform (s.u.) 121-139. - Joseph C. McLelland, The Reformed Doctrine of Predestination according to Peter Martyr: SJTh 8 (1955) 2 5 7 - 2 6 5 . - Ders., The Visible Words of God. An Exposition of the Sacramental Theology of Peter Martyr Vermigli, A.D. 1 5 0 0 1562, Edinburgh 1957. - Ders., Calvinism Perfecting Thomism? Peter Martyr Vermigli's Question: SJTh 31 (1978) 571-578. - Ders., Peter Martyr Vermigli. Scholastic or Humanist?: Peter Martyr Vermigli and Italian Reform (s.u.) 141-151. - Philip M . J. McNair, Peter Martyr in Italy. An Anatomy of Apostasy, Oxford 1967. - Ders., Peter Martyr in England: Peter Martyr Vermigli and Italian Reform (s.u.) 85-105. - M.A. Overell, Peter M a r t y r in England 1547-1553. An Alternative View: SCJ 15 (1984) 8 7 - 1 0 4 . - Benjamin F. Paist, Peter Martyr and the Colloquy of Poissy: PTR 20 (1922) 212-231.418 - 4 4 7 . 6 1 6 - 646. - Peter Martyr Vermigli and Italian Reform, hg. v. Joseph C. McLelland, Waterloo, Ont. 1980. - Petrus Martyr Vermigli in Zürich (1556-1562). Humanismus, Republikanismus, Reformation. Inter. Symposium 5 . - 7 . Juli 1999, hg. v. Emidio Campi/Frank A. James III, Genf 2002. - Charles Schmidt, Peter Martyr Vermigli. Leben u. ausgew. Sehr., Elberfeld 1858. - Josias Simler, Oratio de vita et obitu viri optimi, praestantissimi Theologi Petri Martyris Vermilii, Zürich 1563. - Klaus Sturm, Die Theol. Peter Martyr Vermiglis während seines ersten Aufenthalts in Straßburg 1542-1547. Ein Reformkatholik unter den Vätern der ref. Kirche, 1971 (BGLRK 31).

Christoph Strohm

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Vermittlungstheologie

Vermittlungstheologie 1. Begriff und Programm 2. Elemente der Vermittlungstheologie digung (Quellen/Literatur S . 7 3 5 )

1. Begriff und

3. Einzelthemen

4. Wür-

Programm

Der Begriff ist nicht eindeutig und daher die Zugehörigkeit der Theologen zu dieser Gruppierung schwer zu bestimmen. Es handelt sich im strengen Sinne keinesfalls um eine Schule, die sich die Pflege der Theorien eines Lehrers zur Aufgabe gemacht hätte. Daher muß auch die Zuordnung der Theologen zumindest an den Rändern unscharf bleiben. Der Begriff ist wohl im Interesse der Selbstabgrenzung durch A. -»Ritsehl geprägt worden, der als die drei „Ausgänge" der Schleiermacherschen Theologie (-»Schleiermacher) den neupietistischen -»Konfessionalismus, D.F. -»Strauß und eben die Vermittlungstheologie (im Sinne der kirchenpolitischen Unionisten) nennt (Ritsehl 68 — 107). Diese Sichtweise der Theologiegeschichte wurde vom Ritschlianer Ferdinand Kattenbusch (1851-1935) popularisiert, der mit dem Dreierschema von konfessioneller, liberaler und Vermittlungstheologie arbeitet, die ihm zufolge von Ritsehl überholt worden seien (Kattenbusch 23f.70f.). Eine solche Darstellung verführt dazu, die „Vermittlungstheologie" viel zu monolithisch aufzufassen. Einen relativen sicheren Ausgangspunkt zur Bestimmung liegt im Programm zu den Theologischen Studien und Kritiken vor, das 1827 von Friedrich Lücke (1791-1855) formuliert wurde. In der Tat wollen die Vermittlungstheologen Impulse der Schleiermacherschen Theologie weiter verfolgen, ohne doch einfach die Lehre eines „Meisters" zu tradieren. Die Herausgeber machen sich die „wahren Vermittlungen" (Schleiermacher [350] selber spricht von einem „ewigen Vertrag" in seinem 2. Sendschreiben an Lücke!) von „Glaube und Wissen" zur Aufgabe, wobei mit Glaube auf das „einfache biblische Christentum" (Evangelium) und mit Wissen auf die „freye Wissenschaft", die autonomen „Gesetze der Wahrheit" (Vernunft) abgehoben wird (vgl. Ankündigung der ThStKr 421). Demnach sollen sich Glaube und Wissen „befreunden und ineinander durchdringen". Diese Vermittlungstheologie wird abgegrenzt sowohl von der „Knechtschaft des Buchstabens und aller falschen Autorität" (d.h. dem wiedererstarkenden Konfessionalismus: C. -»Harms; -»Hengstenberg) als auch von der „Gesetzlosigkeit des schwärmerischen Geistes" (d.h. die -»Erweckungsbewegung: -»Tholuck; -»Neander). Demnach ist dieses theologische Programm von vornherein positionell verfaßt, weil es durch diverse Abgrenzungen — gegenüber dem älteren -»Rationalismus und -»Supranaturalismus, lutherischen Konfessionalismus und der Erlanger Theologie, der Erweckungsbewegung, spekulativen Theologie und dem späteren Ritschlianismus - selbst bedingt bleibt. Es fällt auf, daß die erwünschten „wahren Vermittlungen" keine greifbare und handhabbare Methodik begründen. Das trägt erheblich zur Uneindeutigkeit der Vermittlungstheologie bei. Inspiriert von Schleiermacherschen Impulsen zeigt sich daher zugleich eine erhebliche Verkirchlichung Schleiermachers im Rückgriff auf das oben genannte „biblische Christentum" (und Bekenntnis). Die Programmatik läßt darauf schließen, daß die beschworene „Vermittlung" nicht im Sinne -»Hegels als Durchgang durch die jeweiligen Extreme der Bestimmungen verstanden wird, sondern eher im aristotelischen Sinne als eine (dritte) Mittelposition {ßEaözrjq) zwischen den genannten Extremen, von denen man sich abgrenzt. Insofern werden auch „-»Glaube" (Christentum, gegebene Lehren) und „-»Wissenschaft" (historische und philologische Methode) weitgehend als vorgegebene Größen behandelt, die anschließend in eine „vermittelnde" Beziehung gebracht und ausgeglichen, „versöhnt" werden sollen. „Vermittlung ist die wissenschaftlich vollzogene Zurückführung relativer Gegensätze auf ihre ursprüngliche Einheit, wodurch eine innere Versöhnung derselben und ein höherer Standpunct gewonnen wird, in dem

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sie aufgehoben sind" (Ulimann, Partei 41; Hervorh. durch Vf.; vgl. auch die Pisteologie -»Dorners!). Folglich handelt es sich nur um äußere Reflexion: Auf das positiv-gegebene Christentum werden die endlichen Verstandesformen angewendet. Genau deshalb wird die Spekulation (—•Schelling, Hegel) auch nur durch diesen Ansatz gebrochen aufgenommen (etwa bei R. -»Rothe, Hans Lassen Martensen [1808-1884] und Dorner). Wenn man diesen Kontext beachtet, lassen sich mit guten Gründen als Vermittlungstheologen in der Zeit etwa von 1830 bis 1860/ 70 bezeichnen: einmal die direkten Schleiermacher-Schüler wie Friedrich Lücke, Alexander Schweizer (1808—1888), C.I. -»Nitzsch, August D. Chr. Twesten (1789-1876), Carl Ulimann (1796-1865), und zum anderen einige selbständige Gestalten (K.B. -»Hundeshagen, Daniel Schenkel [18131885], H.L. Martensen, Karl Theodor Albert Liebner [1806-1871], R. Rothe und I.A. Dorner). Aus diesem Grund ist auch J. -»Müller eher zur Erweckungstheologie zu rechnen, zumal bei ihm der Vermittlungsbegriff als falsche Anpassung an den Zeitgeist dezidiert negativ besetzt ist (vgl. Graf, Theonomie 88f.). 2. Elemente der

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Außer der schon erörterten Programmatik und jenseits der individuellen Differenzen lassen sich gemeinsame Optionen dieser „Mittelpartei" nennen, die insbesondere kirchenpolitisch greifbar sind. Die Verkirchlichung und Konfessionalisierung (auf reformierter Seite durch Hundeshagen und Schweizer) der Schleiermacherschen Theologie schlagen sich in einem neuen Interesse an -»Bibel, Bekenntnis und Dogmen nieder. So gehen die Vermittlungstheologen in der Verteidigung und Plausibilisierung des trinitarischen und christologischen Dogmas über Schleiermachers distanzierte Haltung hinaus. Denn wenn auch die —»Religion dem Gefühl zugeordnet bleibt, so muß ihr doch die göttliche —»Offenbarung durch die Bibel vermittelt und daher unter Einbeziehung auch kognitiver und volitiver Elemente korrespondieren (vgl. Nitzsch, System). Dabei wird aber entgegen F. Delbrücks umgekehrter Behauptung (1827) durchgängig das Schriftprinzip dem Bekenntnis (-»Apostolisches Glaubensbekenntnis) übergeordnet (vgl. Röhls 449). Das Interesse am trinitarischen Dogma und vornehmlich an der immanenten -»Trinität im Gegensatz zu Schleiermachers Modalismus verdankt sich der Verschiebung in der Abgrenzung vom „-»Pantheismus" (gemeint ist meist Hegel), sofern nicht Elemente der spekulativen Theologie wirksam bleiben (Rothe; Martensen). In der Rückkehr zu einer theistischen Gottesvorstellung unter dem Terminus der „Persönlichkeit" werden zugleich die Wirkungen Gottes in der Welt (ökonomische Trinität) auf das innere Leben Gottes selber (immanente Trinität) zurückgeführt (s.u. 3.1.) Indem sie durchaus mit Schleiermacher an der unaufgebbaren, geschichtlichen Person Jesu in der Christologie festhalten wollen, grenzen sich die Vermittlungstheologen von D.F. Straußens Gattungschristologie vehement ab (s.u. 3.2.). In der neuen Lehre vom protestantischen Prinzip, das näherhin in ein Formal- (Schriftprinzip) und Materialprinzip (-»Rechtfertigung aus Glauben) ausdifferenziert wird, sehen sie die angemessene Ausformung eines nichtkonfessionalistischen Christentums. Deshalb wirken viele Vermittlungstheologen als Verteidiger der kirchenpolitischen Union in —»Preußen und —»Baden (s.u. 3.3.; vgl. -»Unionen, Kirchliche). Damit nehmen sie ebenfalls die Intention Schleiermachers auf und fördern die Konsensunion in den Lehren zwischen Lutheranern und Reformierten. „Unter den Bedingungen sich polar verhärtender Kirchenparteien galt Unionsfrömmigkeit als die sachgemäße Lebensgestalt eines Protestantismus, auf dessen antinomistischen, antihierarchischen und antikonfessionalistischen Charakter zu bestehen" die Vermittlungstheologen „als kulturpraktische Notwendigkeit ihrer Zeit empfanden" (Drehsen, Vermittlung 292). Als Ausnahmen sind hier die jeweils konfessionell differenten Standpunkte für die reformierte Theologie bei Schweizer bzw. für das lutherische Staatskirchentum bei Martensen (s.u. 3.4.) zu nennen.

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Aus einem entsprechenden Interesse heraus verwandten sich Rothe (programmatisch) und Schenkel (organisatorisch) in besonderem M a ß e für die Gründung des —• Protestantenvereins in Eisenach 1865. Dieser Verein und seine Zweigvereine sind als ein entscheidender Träger des liberalen, bildungsbürgerlichen „Kulturprotestantismus" einzustufen (Lepp 91 — 107). In dem Versöhnungsversuch „zwischen kirchlichem Christentum und kultureller Modernisierung" (Lepp 58—90, hier 61) angesichts der zunehmenden Entfremdung von Bildungsbürgertum und Kirche kehren die liberaltheologischen Bemühungen Schleiermachers getreulich wieder. Rothe verlangt „von Kirche und Bürgertum, von Religion und Kultur ein beiderseitiges Aufeinanderzugehen"; er verknüpft „in seinem Konzept eine Reform der Kirche mit einer religiös-sittlichen Durchdringung der zeitgenössischen Kultur" (Lepp 63; vgl. Schenkel, Christentum II). In den Vereinsstatuten ist das kulturprotestantische Credo als die „Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesammten Culturentwicklung unserer Zeit" formuliert (von Rothe oder Schenkel?, zitiert bei Lepp 67.107; Hervorhebung durch Verfasser). Die Protestantentage von 1865 bis 1888 dienten dabei als Forum zur Selbstverständigung und Positionsbestimmung. 3. 3.1.

Einzelthemen Gotteslehre

Mit der Erneuerung des Grundgedankens von der immanenten Trinität gehen die Vermittlungstheologen aus soteriologischem Interesse über Schleiermacher hinaus, da dessen Formeln vom „Sein Gottes" in Christus und Kirche zwingend in Gott selber begründet werden müssen, wenn sie nicht nur menschlicherseits projiziert sein sollen. So trage Nitzsch zufolge der unmittelbare Glaube als Erlösungsbewußtsein durch Christus „den Anfang unerläßlicher Spekulation in sich" (Nitzsch, System 4 170). Denn der christliche Glaube ist so verfaßt, „daß wir uns in unserm geistlichen Sein und Werden" insgesamt von einer „in ihrer vollständigen Entwicklung dreifachen göttlichen Urhebung, dem Vater, Sohn und dem heiligen Geiste, abhängig fühlen, welche dennoch eine einige nach dem Wesen ist" (ebd. 165). In der folgenden Debatte zwischen K.H. Sack, Lücke und Nitzsch geht es vornehmlich um die exegetische Absicherung (Lücke, Fragen; Nitzsch, Dreieinigkeit 313—331) dieses als notwendig angesehenen Rückschlusses von der Offenbarungs- auf die Wesenstrinität. Das entscheidende Argument liefert Twesten, wenn er feststellt: „Wie aber Gott sich offenbart, so ist er auch, indem er sonst nicht offenbart wäre." (Twesten, Vorlesungen II, 182ff., hier 203; vgl. Nitzsch, Dreieinigkeit 301.306). Daraus resultiert die bis und auch von Dorner selbst verfochtene These vom „Selbstbewußtsein Gottes" mit drei innergöttlichen Momenten: Das göttliche Wesen stelle sich dem menschlichen Selbstbewußtsein analog „der Betrachtung unter drei innern Relationen dar, als zeugend das Ebenbild seiner selbst, - der Vater: in dem ewigen Gedanken seiner selbst, - dem Aoyo?, dem Sohn: - und in diesem anschauend oder aus ihm zurückkehrend in sich selbst, - der Geist" (Twesten, Vorlesungen 205). Demnach ist auch im Gegensatz zu Schleiermacher die Trinitätslehre nicht erst im Anhang der Dogmatik zu verorten, sondern als „Implikat der Verfaßtheit des christlichen Erlösungsbewußtseins zu explizieren" (Axt-Piscalar 9 4 - 1 2 0 , hier 103; vgl. 199). Allerdings entgeht dieses Bemühen nicht dem schlagenden Einwand Lückes, der die ursprüngliche Schleiermachersche Position verteidigt: „Aber gesetzt, die Persönlichkeit Gottes sey nach der Art der menschlichen so zu begreifen, wie komme ich dazu, das Setzen des Unterschiedes von Subject und Object die ewige Zeugung des Sohnes durch den Vater, die Aufhebung aber desselben den heiligen Geist zu nennen?" (Lücke, Fragen 104) Dies ist dahingehend zu vergrundsätzlichen, daß die nach dem menschlichen Modell des Selbstbewußtseins gebildeten innergöttlichen Momente gar keine ,,wahre[n] Realitäten" (ebd. 105; vgl. 111) darstellen, wie es vom kirchlichen Dogma gefordert wird. Wenn sich Lücke freilich selber emphatisch zur „Persönlichkeit" Gottes bekennt, muß

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er sich mit Recht vorhalten lassen, d a ß dies Schleiermachers eigener Gotteslehre nicht entspricht (Weiße, Vertheidigung 348ff.). Diese Anregungen werden von T h . Liebner und I.A. Dorner aufgegriffen. W ä h r e n d aber Liebners christologisches Prinzip den Akzent auf die Liebe als Selbstmitteilung Gottes setzt, so d a ß sich Vater und Sohn allererst im Akt reziproker Hingabe konstituieren sollen (Liebner, D o g m a t i k l , 110 ff., hier 112.119.139; vgl. Axt-Piscalar 121-136), verwirft D o r n e r dessen Kenosislehre und schärft das M o m e n t der Selbstbehauptung auch in der göttlichen Persönlichkeit ein. Dorners additive Konstruktion einer physischen, logischen und ethischen Trinität zielt auf die funktionale Bedeutung der ethischen Trinität als Liebe f ü r die theonome Begründung des menschlich-sittlichen Subjekts. Auf diese Weise werden Trinitätslehre und protestantisches Prinzip von Dorner plausibel verklammert (Dorner, System I, 428f.). Wenn aber die Vaterhypostase mit der göttlichen Notwendigkeit (-»Gesetz) und der Sohn mit der -»Freiheit, der Geist mit der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit besetzt wird, so bleibt diese Trinität binitarisch unterbestimmt (ebd. 365 ff.395 —447; vgl. Axt-Piscalar 169-204). Dorners Bezeichnung der Hypostasen mit immanenttrinitarischen „Seinsweisen" (Dorner, System I, 399.431) verstärkt noch den modalistischen Eindruck seiner Konstruktion und setzt so Lückes Verdacht ins Recht. Die Vermittlungstheologen vermögen nicht einleuchtend darzulegen, „wie aus als unpersönlich behaupteten Selbstvermittlungsmomenten der absoluten Persönlichkeit drei als real unterschiedene Personen der Heilsökonomie erklärt werden sollen" (Axt-Piscalar 149). 3.2.

Christologie

D.F. Strauß' Evangelienkritik und Konzeption einer Gattungschristologie lösen die Ablehnung der Vermittlungstheologen aus, die mit Schleiermacher an der historischen Persönlichkeit Jesu festhalten. C. Ulimann bestreitet den korrekten Sinn von Strauß' Mythosverständnis und exponiert dagegen die These, d a ß es sich bei den Evangelien um wirkliche Geschichte, wenn auch mit sagenhaften Elementen, handelt (vgl. Ulimann, Historisch oder mythisch? 4 1 - 8 8 ) . Die historische Entstehung der Kirche ist nur auf die geschichtliche W i r k u n g Jesu Christi, des Stifters, zurückzuführen entgegen der Beh a u p t u n g von Strauß, d a ß der Christus eine kirchliche Projektion sei. Insofern hält Ullmann auch die -»Auferstehung Jesu f ü r eine geschichtliche Tatsache und bestreitet der Gattungschristologie ü b e r h a u p t den christologischen Charakter, weil sie nicht mehr auf die Person Jesu Christi bezogen sei. M i t Schleiermacher geht Ullmann von einer supranaturalen, urbildlichen Persönlichkeit Jesu aus, die geschichtliche Wirksamkeit entfaltet. Auch Dorners Neologismus des „Central-Individuums" zielt auf diesen Sachverhalt (vgl. Dorner, Entwicklungsgeschichte [1839] II/2, 1207-1276), in dem Individualität und Universalität zugleich (der Vollbegriff der Menschheit) in —»Jesus Christus zusammengedacht werden sollen. Das allgemeine Vermittlungsproblem, wie Göttliches und Menschliches zusammengebracht werden k ö n n e n , wird hier im „Centrai-Individuum" gleichsam vorstellungshaft (und nur äußerlich) vergegenständlicht. Im Unterschied z u m o r t h o d o x e n christologischen D o g m a denkt D o r n e r aber die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in der Person Jesu Christi als ein „ W e r d e n " und stufenweisen Prozeß. Diesen Ansatz f ü h r t Dorner auch in seinem „System der christlichen Glaubenslehre" durch, so d a ß die Einheit der gottmenschlichen Person Jesu Christi als Resultat der Einigung des Göttlichen und Menschlichen in Christus verstanden werden soll. Z w a r bleibt der göttliche Logos k r a f t seiner Gottheit unveränderlich, vereinigt sich aber in einem Prozeß mit der menschlichen Seite („Menschensohn") in der Person Jesu Christi. Insofern kann Dorner bei der Ämterlehre auch an der objektiven Versöhnung durch Christus (Sühne und Genugtuung) festhalten (Dorner, System I, 6 4 2 - 6 6 8 . 7 1 8 - 7 3 2 ; I I / l , 403—442; vgl. Röhls 8 5 3 - 8 5 8 ) , was zugleich den nur äußerlich vollzogenen Vermittlungsprozeß von „Centrai-Individuum" und übriger Menschheit indiziert.

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Dagegen polarisierte die recht einseitige Stilisierung Jesu durch Schenkel zum freiheitlichen Reformator und Agitator ganz im Sinne des kirchenfernen Bildungsbürgertums und löste eine entsprechend umfangreiche Kontroversliteratur aus (Schenkel, Charakterbild). 3.3.

Ekklesiologie

Schon in der Mitte des 19. Jh., verstärkt durch die Revolution 1848/49 und auch J.H. -»Wicherns Programm der „inneren Mission", nehmen einerseits die Bemühungen um die preußische Kirchenunion zu, die ausdrücklich (mit Ausnahme Twestens) als Bekenntnisunion konzipiert wird (Nitzschs Kürzeste Darstellung von 1845 und seine Dokumentensammlung des Urkundenbuches 1853); Dorner kann in diesem Sinne 1848 sogar eine deutsche Nationalkirche fordern. Nitzsch' Entwurf eines unionistischen Ordinationsformulars 1846 für Preußen ist als „Nitzschenum" berüchtigt geworden, aber erfolglos geblieben. Die Kirchenverfassung soll insgesamt entgegen der konservativen Verteidigung der Hierarchie und des Amtes dezidiert aufs „Gemeindeprincip" umgestellt werden. Die Gemeinde wird demnach als die eigentliche „Quelle der Kirchengewalt" (Schenkel) behauptet (Lepp 133-151). Andererseits verstärken sich die Interessen an einem undogmatischen Protestantismus (Rothe; Schenkel), der unterm Schlagwort von der „Culturmission" (Schenkel) innerhalb der allgemeinen Kultur zur Förderung des christlich-sittlichen Lebenswandels wirkt (Gründung des Protestantenvereins) (Lepp 283-294). Die schließlich projektierte deutsch-protestantische Nationalkirche transzendiert auch noch die Konsensunion. Angesichts der revolutionären Umbruchsituation und des drohenden Plausibilitätsverlustes des kirchlichen Christentums in der Moderne transformiert Nitzsch seine bisherige Position in den dreibändigen Grundriß seiner Praktischen Theologie (1847—1867) und wird so zum eigentlichen Begründer dieses Fachs in moderner Gestalt. Nitzsch plädiert getreu seinem vermittlungstheologischen Ansatz einmal für die Stärkung des Laienchristentums „in der verantwortlichen Freiheit zur Selbstgestaltung christlicher Persönlichkeiten durch religiöse Bildung" und zum anderen für eine professionelle pfarramtliche Berufspraxis „zur Ausgestaltung christlichen Gemeinschaftslebens" (Drehsen, Vermittlung 307). 3.4. Ethik Neben Rothes Theologische Ethik ist die auch im deutschsprachigen Raum einflußreiche Ethikkonzeption Martensens zu nennen, die ebenfalls von einer teleologischen Ausrichtung auf das eschatologisch verstandene Reich Gottes ausgeht (Martensen, Ethik I, 23.49ff.510ff.; II/2, 445). Inspiriert zunächst vom spekulativen Theologen K. - » D a u b (vgl. Martensen, Leben I, 131—141) verfolgt der politisch konservative, an einer romatischen Ständeideologie festhaltende Martensen dann mit seiner Ethik eine Vermittlung im Doppelsinne als kritische Scheidung und Vermittlung zugleich (Graf, Theonomie 204): nicht nur soll der christlich-religiöse Integrationsanspruch gesellschaftlicher Antagonismen der Gegenwart vermittelt werden, sondern die teleologische Ausrichtung ermöglicht auch die Distanzierung der als problematisch empfundenen Gegenwart (Kritik der -»Französischen Revolution, der -» Industrialisierung und Individualisierung) von der dogmatisch bestimmten zukünftigen Vollendung her (Martensen, Ethik II/2, 136ff.419ff.). In seiner scharfen Kritik an der gesellschaftlichen Gegenwart als dem Reich des „Antichristen" (-»Materialismus und -»Atheismus) tendiert Martensen allerdings zum ethischen Absolutismus, zu dem das dogmatischen Spezialwissen von der künftigen Vollendung im Reich Gottes dem Theologen einen freilich nur partikularen Rechtsgrund verleiht (vgl. Graf, Theonomie 193—230). Die Kirche wird von ihm zur ethischen Avantgarde uminterpretiert, sofern sie der Aufgabe nachkommt, religiöse Verbindlichkeit in

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der gegenwärtigen Gesellschaft einzuklagen. M a r t e n s e n verklärt den kirchlichen „Widerstand gegen eine liberalen Prinzipien verpflichteten T r a n s f o r m a t i o n der altständischen-politisch-sozialen Ordnung zur einzig legitimen Konsequenz des Anspruchs auf historische Kontinuität mit der R e f o r m a t i o n des 16. J a h r h u n d e r t s " (Graf, T h e o n o m i e 2 2 5 ) . Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß gerade durch die sozialkonservativen lutherischen T h e o l o g e n wie M a r t e n s e n Terminus und T h e m a der —»Sozialethik („Die sociale E t h i k " ist der Untertitel von M a r t e n s e n s Ethik I I / 2 ! ) eingeführt wurden. 4.

Würdigung

Das Bemühen, m o d e r n e Wissenschaft (historische Kritik) und traditionellen Glauben zu vermitteln und versöhnen, erweist sich als ein spezifisch und auch elitäres bildungsbürgerliches P r o g r a m m . Die Plausibilität dafür schwindet in der zweiten Hälfte des 19. Jh. in dem M a ß e , als einerseits die kirchliche O r t h o d o x i e kontrafaktisch einen m o dernen Traditionalismus auf der Basis von Bibel und Bekenntnis inszeniert und als zugleich andererseits die eigentlichen Adressaten - die Gebildeten - ihre Religion privatisieren, individualisieren und nicht zuletzt auch der Entkirchlichung anheimfallen (vgl. Lepp 1 8 9 - 2 1 9 . 4 0 7 - 4 2 5 ) . Quellen 5. die Quellenverz. zu den Art. I.A. —»Dorner, —•Kulturprotestantismus, -»Rothe, —»Schleiermacher, -»Spekulative Theologie. Die Ankündigung der ThStKr: Alf Christophersen, Friedrich Lücke (1791-1855), 2 Bde., 1999 ( T B T 94/1 u. 2) 4 2 1 - 4 2 4 . - Isaak August Dorner, Uber die Entwicklungsgesch. der Christologie: T Z T h (1835) H. 4, 8 1 - 2 0 4 ; (1836) H. 1, 4 9 - 1 0 6 . - Ders., Entwicklungsgesch. der Lehre v. der Person Christi v. den aeltesten Zeiten bis auf die neueste, 2 Bde., Stuttgart 1839 Berlin 2 1 8 5 1 - 1 8 5 6 . - Ders., Gesch. der prot. Theol., bes. in Deutschland . . . , München 1867. - Ders., Zur christologischen Frage der Gegenwart: J D T h 19 (1874) 5 2 9 - 6 1 4 . - Ders., System der christl. Glaubenslehre, 2 Bde., Berlin 1 8 7 9 - 1 8 8 1 2 1886. - Ders., GS aus dem Gebiet der syst. Theol., Exegese u. Gesch., Berlin 1883. - Ders., System der christl. Sittenlehre, Berlin 1885. - Ders./Hans Lassen Martensen, Briefwechsel zwischen H.L. Martensen u. I.A. Dorner 1 8 3 9 - 1 8 8 1 , 2 Bde., Berlin 1888. - DZCW. - Karl Bernhard Hundeshagen, Über den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen vom Staat u. staatsbürgerlicher Freiheit, Bern 1842. - Ders., Der dt. Protestantismus, seine Vergangenheit u. seine heutigen Lebensfragen, Frankfurt a.M. 1847. - Ders., Ueber die Natur u. die gesch. Entwicklung der Humanitätsidee, Heidelberg 1852. - Ders., Beitr. zur Kirchenverfassungsgesch. u. Kirchenpolitik, insbesondere des Protestantismus, Wiesbaden 1864. - J D T h . - Johann Peter Lange, Christi. Dogmatik, 3 Bde., Heidelberg 1 8 4 9 - 1 8 5 2 . - Theodor Albert Liebner, Christi. Dogmatik aus dem christologischen Princip darg., 1. Abt. Christologie, Göttingen, I 1849. - Ders., Christologisches: J D T h 3 (1858) 3 4 9 - 3 6 6 . - Friedrich Lücke, Grundriß der ntl. Hermeneutik u. ihrer Gesch., Göttingen 1817. - Ders., Commentar über die Sehr, des Evangelisten Johannes, 4 Bde., Bonn 1 8 2 0 - 1 8 5 2 2 1 8 3 3 - 1 8 5 2 . - Ders., Fragen u. Bedenken über die immanente Wesenstrinität: ThStKr 13 (1840) 6 3 - 1 1 2 . - Ders., Grundriss der ev. Dogmatik, Göttingen 1845. - Hans Lassen Martensen, Grundrids til Moralphilosophiens System, Kopenhagen 1841; dt.: Grundriß des Systems der Moralphil., Kiel 1845. - Ders., Den christelige Dogmatik, Kopenhagen 1849; dt.: Die christl. Dogmatik, Berlin 1856. - Ders., Glauben u. Wissen: J D T h 14 (1869) 3 8 9 - 4 6 3 . - Ders., Den christelige Ethik, Kopenhagen; I. Den almindelige Deel, 1871; II. Den specielle Deel, 1878; dt.: Die christl. Ethik. I. Allg. Theil, Gotha 1871; II. Specieller Theil in 2 Abth., Berlin 1879 Karlsruhe 3 1886. - Ders., Socialisme og christendom, Kopenhagen 1874; dt.: Socialismus u. Christenthum, Gotha 1875. - Ders., Af mit Levnet, Kopenhagen 1 8 8 2 - 1 8 8 3 ; dt.: Aus meinem Leben. Mittheilungen, 3 Abt., Karlsruhe 1 8 8 3 - 1 8 8 4 . - Carl Immanuel Nitzsch, Theol. Stud. Erstes Stück, Leipzig 1816. - Ders., System der christl Lehre, Bonn 1829 "1839 '1851. - Ders., Über die wesentliche Dreieinigkeit Gottes: ThStKr 14 (1841) 2 9 5 - 3 4 5 . - Ders., Verständigung über die christl. Kirchenverfassung: Monatsschr. f. die ev. Kirche der Rheinprovinz u. Westphalens 1 (1842) 2 6 - 5 2 . - Ders., Versuch einer Zusammenfassung unserer jetzigen Fragen: ebd. 3 (1844) 1 5 9 - 1 7 6 . - Ders., Kürzeste Darstellung der Union der luth. u. ref. Glaubenslehre: ebd. 4 (1845) 1 7 7 - 1 8 9 . - Ders., Praktische Theol., 3 Bde., Bonn 1 8 4 7 - 1 8 6 7 2 1 8 5 9 - 1 8 6 8 . - Ders.(Hg.), Urkundenbuch der ev. Union, Bonn 1853. - Ders., Ges. Abh., 2 Bde., Gotha 1 8 7 0 - 1 8 7 1 . - Richard Rothe, Die Anfänge der christl. Kirche u. ihrer Verfassung, Wittenberg 1837. - Ders., Theol. Ethik, 3 Bde., Wittenberg 1 8 4 5 - 1 8 4 8 ; 5 Bde., Wittenberg 2 1 8 6 7 - 1 8 7 1 . - Ders., Zur Dogmatik, Gotha 1863 3 1898. - Ders., Dogmatik, hg. v. Daniel Schenkel, 3 Bde., Heidelberg 1870. - Karl Heinrich Sack, Christi. Apologetik, Hamburg

736

Vermittlungstheologie

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Vernunft I

737

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Michael Murrmann-Kahl Vernunft I. Einleitung II. Philosophisch III. Systematisch-theologisch

S.738 Bd. X X X V , S. 1

I. Einleitung Wie die Lexeme „-»-Geist", „-»-Wahrheit" und „-»Wissenschaft" bezeichnet auch das Lexem „Vernunft" einen fundamentalen Sachverhalt, in dessen Verständnis philosophisches und theologisches Erkenntnisinteresse seit der Aneignung des Piatonismus (—»Plato/Platonismus) im Christentum der Spätantike (-»Antike und Christentum; -»Clemens von Alexandrien; -»Origenes/Origenismus; -» Augustin/Augustinismus) bzw. seit der Aneignung des Aristotelismus (-»Aristoteles/Aristotelismus) im Mittelalter (-»Thomas von Aquino; Johannes -»Duns Scotus) konvergieren. Von einer Konvergenz kann deshalb gesprochen werden, weil die Geschichte der systematischen Entfaltung des Vernunftbegriffs sowohl eine kosmo-theologische (onto-theologische) als auch eine erkenntnistheoretische Linie kennt. Nun weist der Doppel-Kanon der Heiligen -»Schrift - namentlich in den Schöpfungstexten (-»Schöpfer/Schöpfung) und in der Weisheitsliteratur (-»Weisheit/Weisheitsliteratur) - zwar eine genuine Entsprechung zum kosmotheologischen (onto-theologischen) Vernunftbegriff der -»Vorsokratiker auf; aber er enthält doch keine Analogie zu dem erkenntnistheoretischen Vernunftdiskurs, der mit Heraklit (um 540 v. Chr.) und Parmenides (um 540 v. Chr.) beginnt und über die kritische Frage nach den transzendentalen Bedingungen möglicher Erfahrung (R. -»Descartes; I. —»Kant; E. -»Husserl) in die gegenwärtige Situation eines „Wandels des Vernunftbegriffs" (Hans Poser) führt. Deshalb ist es wohl zu begreifen, daß das an der Gottebenbildlichkeit der Person haftende theologische Erkenntnisinteresse das philosophische Erkenntnisinteresse in den Epochen der Christentumsgeschichte weder zurückgewiesen noch unkritisch rezipiert hat; vielmehr hat es seit der -»Apologetik des 2. Jh. das Modell der Synthese gewählt, welches die philosophische Theorie der Abstraktion einschließlich ihrer logischen und apriorischen Implikationen um einer vernünftigen Darlegung der Glaubenslehre willen aufgreift, gleichzeitig aber das kosmo-theologische (onto-theologische) Prinzip der Vernunft als -»Gott durch die trinitarische Bestimmung der Gottheit Gottes (-»Trinität) und damit durch die Unterscheidung zwischen Gottes schöpferischer und der geschöpflichen Vernunft entscheidend korrigiert. Diese Synthese, die sich in zahlreichen Varianten bei Augustin, bei der dominikanischen und franziskanischen Scholastik bis hin zur Neuscholastik des neueren römischen Katholizismus (-»Scholastik/ Neuscholastik), aber auch in der lutherischen und der reformierten -»Orthodoxie des 17. und 18. Jh. und in den Theologien der —»Anglikanischen (Kirchen-)Gemeinschaft zeigen läßt, ordnet Vernunft und -»Offenbarung, —»Glaube und Denken im Verhältnis des Allgemeinen und des Besonderen einander zu und bringt mannigfache Methodenlehren hervor, die den wissenschaftstheoretischen Ort der Theologie (in der Relation zu -»Metaphysik, -»Religionsphilosophie und Erfahrungswissenschaften) zu bestimmen suchen.

738

Vernunft II

Die Geschichte des Vernunftdiskurses in der Neuzeit, die von der „Neufassung des Vernunftbegriffs in der Aufklärung" (s.u. II) über die Selbstkritik der Vernunft bei Immanuel Kant zur Ausbildung der großen, absolutheitstheoretischen Systeme des Deutschen —» Idealismus und zu ihrer Depotenzierung in der Institution der -»Philosophie reicht (s.u. II.), hat das Modell der kritischen Synthese von Vernunft und Offenbarung faktisch gesprengt, und zwar deshalb, weil und sofern die Theorie der Vernunft auch und gerade in ihren verschiedenen Rationalitätsformen einen umfassenden Verstehensund Gestaltungsanspruch erhebt, dem sich die Wahrheitsgewißheit des Glaubens nicht fügen kann. Auf diese Problemkonstellation hat die neuere protestantische Theologie (insbesondere auch K. -»Barth) in negativer Weise reagiert, indem sie die Besonderheit der Offenbarung der Allgemeinheit der Vernunft kritisch entgegensetzte. Aber die Figur der kritischen Entgegensetzung vermeidet nur unter der Bedingung die autoritative Setzung eines partikularen Lehrpositivismus, wenn sie das allgemeine Phänomen des vernünftigen In-der-Welt-Seins im Lichte des besonderen Wirklichkeitsverständnisses des Glaubens erhellt, wie dies doch wohl von den reformatorischen Theologien M . -»Luthers und J . —»Calvins, von F . D . E . -»Schleiermachers Konzept einer Phänomenologie des christlich-frommen Selbstbewußtseins und in der Gegenwart von der Idee der Theologie als Phänomenologie der endlichen Freiheit (Eilert Herms) intendiert ist (s.u. III.). Denn diese Verhältnisbestimmung von Besonderheit und Allgemeinheit vermag sich in Beziehung zu setzen zu anderweitigen Verhältnisbestimmungen von Besonderheit und Allgemeinheit und kommt damit auf neue Weise auf das Problem der Zuordnung von Denken und Sein, von subjektiver und objektiver Vernunft, von Erkenntnis und Erscheinendem zurück, das die Geschichte des abendländischen Vernunftdiskurses in Atem hält. Konrad Stock

II. Philosophisch 1. Die Neufassung des Vernunftbegriffs in der Aufklärung 2. Die Absolutsetzung der Vernunft im Deutschen Idealismus 3. Die Depotenzierung der absoluten Vernunft in der Moderne 4. Ausblick (Quellen/Literatur S. 763)

1. Die Neufassung

des Vernunftbegriffs

in der

Aufklärung

Zu den treibenden Kräften der europäischen -»Aufklärung gehören das Aufkommen der mathematisch-experimentellen Naturwissenschaft, die durch die Konfessionskriege erzwungene Neuorientierung der Natur-, Staats- und Völkerrechtslehre (-»Naturrecht; -»Völkerrecht) und der Drang nach einer undogmatischen, überkonfessionellen Fassung des Religionsbegriffs (vgl. Troeltsch, Aufsätze IV, 338ff.; Hirsch, Geschichte I; vgl. T R E 29,612ff.). Alle drei Faktoren haben ein verändertes Vernunftverständnis zur Voraussetzung, wie sie umgekehrt dessen Näherbestimmung nachhaltig beeinflußten. Der gemeinsame Nenner besteht im Bedürfnis der Überwindung eines auf vorgegebene Autoritäten gestützten und insofern unkritischen Denkens. Die Wege dieses Emanzipationsprozesses verliefen allerdings ganz unterschiedlich. Zwei Hauptrichtungen lassen sich idealtypisch feststellen: zum einen konzentrierte sich das Interesse auf die methodischen Möglichkeiten einer ausschließlich auf sich selbst gegründeten Vernunft, samt deren inneren Prämissen. Zum andern dominierte das Bestreben, die Vernunft ganz und gar auf die reale Wirklichkeit zu verpflichten, deren Erschließung sie dient. Im Hintergrund stand ein différentes Wissenschaftsideal: auf der einen Seite bildete die Mathematik das Leitbild von Rationalität, auf der anderen Seite die im Vordringen begriffene positive Wissenschaft. So führte das gemeinsame Ausgangsmotiv im Ergebnis zu diametral entgegengesetzten Theorieentwürfen, die sich wechselseitig mit voller Schärfe bekämpften. Erst gegen Ende der Epoche schälte sich ein Vermittlungsmodell heraus, dessen klassische Bedeutung nicht zuletzt aus der Synthesekraft resultiert, mit der die Wahrheitsmomente der beiden entgegengesetzten Wege zur Geltung gebracht wurden.

Vernunft II 1.1. Die rationalistische

739

Richtung

1.1.1. Descartes. Innerhalb der Geschichte der Theorie des Mentalen stellt die cartesianische Philosophie einen tiefen Einschnitt dar. Die scholastische Lehrtradition war weitgehend bestimmt durch die aristotelische Psychologie. Demzufolge galt die -»Seele als das Prinzip der Lebendigkeit allen natürlichen Lebens, das sich je nach der Stufe der einzelnen Lebensfunkionen und dem Rang der verschiedenen Klassen von Lebewesen unterschiedlich ausdifferenziert. -»Thomas von Aquino vertiefte diesen Seelenbegriff zu einem weitreichenden ontologischen Formprinzip. -»Descartes' neue These war die, daß die Funktion der Seele mit dem Unterschied lebendig/unlebendig gar nichts oder nur höchst indirekt zu tun hat (vgl. Williams 235ff.). Das Wesensmerkmal des Mentalen ist vielmehr Bewußtheit (vgl. Cramer, Aporien). Diese Einsicht liegt auch dem berühmten Cogito sunt-Argument zugrunde. Die innovative Bedeutung jenes psychologischen Neuansatzes wird nur verständlich, wenn man ihn in den Gesamtzusammenhang der Cartesianischen Philosophie einordnet. Descartes' gesamtes Werk ist erwachsen aus einer tiefen Krisenerfahrung bezüglich dessen, was die Wissenschaften bislang hervorgebracht hatten — einige Gebiete der Mathematik nicht ausgenommen. Hier soll der neue Vernunftbegriff Abhilfe schaffen. Die erkenntnistheoretische Maxime lautet: Nur das hat als unbezweifelbare Grundlage von Wissen Bestand, was sich einer strikt rationalen Methode verdankt. Den Maßstab dieser Methode bildet die klare und deutliche Erkenntnis des reinen Verstandes. An ihm muß sich sowohl das deduktive wie das induktive Verfahren herkömmlicher Art messen lassen. Klarheit und Deutlichkeit - das besagt: eingesehen in gegenwärtiger Verstandesevidenz und durchschaut in vollständiger logischer Ausdifferenzierung. Beide Merkmale werden zusammengefaßt im Begriff der rationalen Durchsichtigkeit (perspicuitas). Es liegt auf der Hand, daß diesem strengen Kriterium nur wenige Erkenntnisse zu genügen vermögen, eigentlich nur solche, welche die ersten, selbständigen und unbezüglichen Aufbauelemente des Wissens betreffen. Dazu gehört nun in besonderer Weise die in der Bewußtheit des Denkvollzugs implizierte Gewißheit der Existenz seines Akteurs und Trägers. Die cartesianische Vernunft ist somit durch drei Wesensmerkmale bestimmt: erstens die reflexive Bewußtheit der allen mentalen Vollzügen zugrunde liegenden denkenden -»Substanz, zweitens die vollkommene Klarheit, Deutlichkeit und Durchsichtigkeit jener reflexiven Verstandesintuition und drittens die methodische Letztbegründungsfunktion solcher Gewißheit für den Aufbau allen Wissens. Erst alle drei Eigenschaften zusammen charakterisieren das eigentümliche Profil des cartesianischen Cogito swm-Gedankens und damit den rationalistischen Vernunftbegriff, dem dieser essentiell zugehört. 1.1.2. Spinoza. -»Spinoza suchte die einheitstheoretischen Schwächen von Descartes' Neubau der -»Metaphysik zu überwinden. Der erste und grundlegende Schritt bestand in der Verabschiedung der Möglichkeit einer Vielheit von Substanzen. An deren Stelle trat eine einzige absolute Substanz, in der zugleich die All-Einheit der -»Welt mitgesetzt ist (vgl. Cramer, Gedanken). Dies hat zur Folge, daß auch Descartes' Unterscheidung zweier Klassen von Substanzen einheitstheoretisch korrigiert werden mußte. Cogitatio und extensio werden von Spinoza darum als Attribute -»Gottes verstanden. Auf dieser Basis entwickelt das zweite Buch der Ethica eine detaillierte Theorie des menschlichen Geistes. Das Attribut cogitatio bildet das innere Fundament des endlichen Verstandes, das Attribut extensio hingegen bildet das Fundament seiner Vorstellungen der Dinge als körperlicher Entitäten (vgl. Bartuschat 71ff.). Beide Fundierungsrelationen werden kunstvoll aufeinander bezogen. Den mentalen Niederschlag dieser Verschränkung entfaltet dann das fünfte Buch unter dem Begriff des amor Dei intellectualis (vgl. ebd. 326ff.). Erst in dieser Vereinigung der rationalen und affektiven Komponenten des Erkennens gelangt die Ewigkeitsdimension der menschlichen Vernunft zu angemessener Darstellung. Von kirchlich-orthodoxer Seite zunächst als schierer -»Atheismus verdammt, löste Spinozas religiös-spekulative Deutung der humanen Rationalität in der zweiten Hälfte des 18. Jh. unter deutschen Dichtern und Intellektuellen eine förmliche Begeisterungswelle aus.

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Vernunft II

1.1.3. Leibniz. Anders als Spinoza blieb —»Leibniz weit mehr den wissenschaftsmethodischen Zielen des rationalistischen Ansatzes verpflichtet (vgl. Broad). Dabei rückten allerdings zunehmend bewußtseinstheoretische Fragen in den Vordergrund. Diese Thematik gewann deshalb erhöhte Bedeutung, weil Leibniz sich genötigt sah, das rationalistische M o d e l l gegen die Einwände des empiristischen Gegenentwurfs zu verteidigen. Als Ausgangsbasis dient wie bei Descartes das formale Spektrum des Erkenntnisbegriffs. Demzufolge ist eine -»Erkenntnis „entweder dunkel oder klar, die klare wiederum verworren oder distinkt, die distinkte entweder adaequat oder inadaequat, die adaequate entweder symbolisch oder intuitiv" (Leibniz, Hauptschriften I, 22). Auf dieses Schema wird nun die Struktur von Bewußtsein appliziert, die Leibniz im Rahmen der sogenannten Monadenlehre entfaltet (vgl. Janke, Leibniz). Unter bewußtseinstheoretischem Aspekt sind Monaden durch drei Strukturmerkmale charakterisiert: Perzeption, Appetition und Apperzeption. Alle drei betreffen die Art ihrer Vorstellungstätigkeit. Als Perzeptionen werden solche inneren Zustände bezeichnet, die äußere Dinge darstellen. Appetitionen sind die mentalen Bestrebungen, von einer Perzeption zur anderen überzugehen. Die Apperzeption ist die reflexive Erkenntnis einer Monade bezüglich ihres inneren Zustands, also gleichbedeutend mit Selbstbewußtsein (vgl. Cramer, Einfachheit). Mittels Anwendung dieser Strukturbeschreibung auf jenen formalen Erkenntnisbegriff gelingt es Leibniz, die durch -•Aristoteles etablierte und von den Empiristen bekräftigte Annahme einer Passivität der wahrnehmenden Seele zu widerlegen. Er geht davon aus, daß es „in jedem Augenblicke in unserem Innern eine unendliche Menge von Perzeptionen gibt, die aber nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet sind, sondern lediglich Veränderungen in der Seele selbst darstellen, deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrücke entweder zu schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterscheidungsmerkmale aufweisen" (Leibniz, Abhandlungen, Vorwort). Der Unterschied von Passivität (im Falle der Sinnlichkeit) und Aktivität (im Falle des Verstandes) ist also nur scheinbarer Art. In Wahrheit sind jene Perzeptionen ebenso vom Geist hervorgebracht, nur gelangen sie als solche nicht unmittelbar zu Bewußtsein. Damit wird auch die logische Differenz von Sinnlichkeit und Verstand zu einem lediglich graduellen Gegensatz. „Der Unterschied zwischen zwei Zuständen der Seele besteht . . . nur in dem größeren oder geringeren Grad von Merklichkeit und Vollkommenheit der Vorstellungen" (ebd.). Rationalität besteht somit in der durch Reflexion erzeugten logischen Vollkommenheit von Vorstellungen. Leibniz hat daraus weitreichende Folgerungen für den Wahrheitsbegriff gezogen (vgl. U. Barth, Christologie 426ff.). Philosophiegeschichtlich wirksamer wurde das Vernunftmodell: Aus dem Universum der M o n a d e n ragen als „vernunftbegabte Geschöpfe im eigentlichen S i n n e " diejenigen Wesen hervor, die fähig sind, „reflexive Tätigkeiten auszuüben und den Gedanken des Ich, der Substanz, der Seele, des Geistes zu f a s s e n " (Leibniz, Hauptschriften II, 427). Leibniz hat die von Descartes vollzogene Verschränkung von Vernunft und Selbstbewußtsein zu einem bewußtseinstheoretischen Gesamtkonzept erweitert. Das metaphysische Fundament bildet bei beiden die Substanzontologie. 1.1.4. Wolff. Sämtliche philosophischen Disziplinen werden von Ch. —»Wolff nach mathematischem Vorbild einer deduktiven Darstellung unterzogen. D a m i t nimmt nicht nur die innere Kohärenz der einzelnen Sachgebiete zu, sondern Wolff ist darüber hinaus auch bestrebt, theoretische und praktische Philosophie (einschließlich Ö k o n o m i e [ - • W i r t s c h a f t ] ; Naturrecht; -»Politik) genauestens aufeinander abzustimmen. Dies k o m m t im Vergleich zu Leibniz insbesondere der —»Ethik zugute. Aus dem Gedanken des durchgängig bestimmten Weltzusammenhangs wird das allgemeine Gesetz der Natur als höchster Vollkommenheitsmaßstab entfaltet. Das vernünftige Leben des Individuums besteht in der Übereinstimmung mit der N a t u r außer und in ihm. Besonders hervorzuheben ist der Sachverhalt, daß das 18. Jh. dem Schriftsteller Wolff auch die Übersetzung der überkommenen lateinischen Begrifflichkeit und damit die Entstehung einer philosophischen Fachterminologie deutscher Sprache verdankt (vgl. Birkner). Die hallische Schulphilosophie realisiert damit auf breiter Ebene das Ziel, das bereits Meister -»Eckhart vor Augen hatte (vgl. Schmoldt 74ff.). In der Deutschen Metaphysik von 1720 übersetzt Wolff intellectus mit „Verstand" und bestimmt ihn als „das Vermögen, das Mögliche deutlich vorzustellen" (§ 277). Im Hintergrund steht der oben erläuterte rationalistische Erkenntnisbegriff und die vorstellungstheoretische Abgrenzung des Verstandes von der Einbildungskraft und den Sinnen. Ratio hingegen wird

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übersetzt mit „Vernunft" und definiert als „das Vermögen, den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen" (§368). Wolff sieht sich bemüßigt hinzuzufügen, daß diese Erklärung „den Gewohnheiten zu reden gemäß sey" (ebd.). Ausschlaggebend sind einerseits das metaphysische Interesse, die Einsicht in den Gesamtzusammenhang der Dinge als genuines Thema der Vernunft festzuschreiben, andererseits das logische Interesse, die formale Rationalität solcher Einsicht hervorzukehren. Letzteres wird bestätigt durch das Faktum, daß Wolff von Christian —•Thomasius für die Bezeichnung der Logik den Begriff „Vernunftlehre" (Wolff, Deutsche Logik 118) übernimmt, der seinerseits an Leibniz' Begriff der „Vernunftkunst" anschließt (vgl. H.W. Arndt 37.50). Neben der erkenntnistheoretischen und ethischen Linie der Begriffsgeschichte ist daher auch die logische Lehrtradition zu berücksichtigen. Insgesamt wird man hinsichtlich der Ubersetzung besagter Begriffe aus dem Lateinischen ins Deutsche feststellen dürfen, daß schematische Zuordnungen sich größtenteils als unsachgemäße Vereinfachungen herausstellen (vgl. Eucken 205ff.).

1.2. Die empiristische

Richtung

1.2.1. Bacon und Hobbes. Francis Bacon (1561 -1626; -»Empirismus) stellt den pragmatischen Aspekt der Vernunft in den Vordergrund: Wissen dient der Anhebung des allgemeinen Lebensniveaus, indem es -»Technik ermöglicht und damit die Natur beherrschbar macht. Wissenschaftliche Annahmen sind streng an der Realität zu überprüfen. Dazu bedarf es vor allem einer gegenüber der überkommenen Abstraktionstheorie verbesserten Methode der Induktion (vgl. Krohn; Whitney). Th. -»Hobbes betont demgegenüber den politischen Charakter der Vernunft: Erkenntnisse dienen der Gewinnung, Erhaltung und Steigerung von Macht. Dieser Dominanz des Nutzenaspekts korrespondiert eine streng nominalistische Auffassung des Logischen: Denken ist ein bloßes Rechnen mit Namen. Die Gültigkeit seiner kategorialen Elemente verdankt sich der Abstraktion aus der sinnlich-materiellen Welt. Die allgemeine Körperlehre bildet deshalb das Fundament der Philosophie und sämtlicher Wissenschaften (vgl. Weiß; Münkler). 1.2.2. Locke. Nach John Locke (1632-1704; -»Deismus 2.2.4.) untersteht alles Denken dem Prinzip —»Erfahrung. „Wer entscheiden will, ob ich die Wahrheit getroffen habe, den muß ich auf Erfahrung und Beobachtung verweisen; denn der beste Weg, die Wahrheit zu finden, besteht darin, die Dinge daraufhin zu prüfen, wie sie wirklich sind, nicht aber zu schliessen, sie seien so, wie wir es uns einbilden oder wie wir es uns vorzustellen von anderen gelernt haben" (vgl. Locke II, 11 § 15). Der Realitätsbezug der Erfahrung einschließlich ihrer sprachlichen Darstellung ist für Locke mentalistisch vermittelt (vgl. U. Barth, Christologie 414ff.), darf also nicht verwechselt werden mit einem semiotischen Verständnis von Empirismus. „Der Geist hat bei allem Denken und Folgern kein anderes unmittelbares Objekt als seine eigenen Ideen; er betrachtet nur sie und kann nur sie betrachten. Daher ist es offenbar, daß es unsere Erkenntnis lediglich mit unseren Ideen zu tun hat" (vgl. Locke IV, 1 § 1). Lockes Ideenbegriff (vgl. ebd. Intr. § 8) ist nicht platonistisch gemeint, sondern bezeichnet das, wofür bei Leibniz, in der deutschen Schulphilosophie oder dann bei -»Kant der Terminus repraesentatio bzw. „Vorstellung" steht (vgl. Kant, KrV A 320). Locke bestimmt den Bereich und die Grenzen des Wissens nun in der Weise, daß er beschreibt, wie uns Vorstellungen gegeben und wie sie von uns verarbeitet werden (vgl. L. Krüger). Was den ersten Punkt betrifft, so unterscheidet Locke zwei Wege, auf denen der menschliche Geist in den Besitz von Ideen gelangt, der eine ist sensation, der andere reflection. Durch den äußeren Sinn werden uns Vorstellungen äußerer Dinge gegeben, der innere Sinn hingegen bezieht sich auf Bewußtseinszustände oder mentale Tätigkeiten des eigenen Geistes. Sensation wie Reflexion liefern indes nur „einfache" Ideen. Für den Aufbau von Erkenntnis bedarf es darüber hinaus aber auch „komplexer" Ideen. Damit tritt die spezifische Funktion des Verstandes in den Blick. Komplexe Ideen entstehen nach Locke durch Verarbeitung einfacher Ideen. Dreierlei Mechanismen werden unterschieden: erstens das Verbinden einfacher Ideen (komplexe Ideen im engeren Sinne), zweitens das Zusammenstellen einfacher Ideen (Relationsideen) und drittens die Trennung in der Realität verbundener einfacher Ideen (Abstraktionsideen). Im Gegensatz zur Empfänglichkeit der Sensation und der Reflexion verhält sich der Verstand beim Verbinden, Zusammenstellen und Trennen von Ideen selbsttätig. Der menschliche Geist besitzt somit ebensowohl eine aktive wie eine passive Seite. Beide sind im Erkenntnisakt aufeinander bezogen. Einfache

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Ideen sind als solche wenig aussagekräftig, sie bedürfen darum logischer Bearbeitung. Umgekehrt ist der Verstand darauf angewiesen, daß ihm von Seiten der äußeren oder der inneren Wahrnehmung einfache Ideen als Stoff dargeboten werden. Er selber kann dieses Material weder hervorbringen noch vernichten, sondern nur strukturieren (vgl. Locke II, 12 § 1). Der Verstand selber perzipiert nicht, er operiert nur. Er schaut auch keine Idealbegriffe ( - » P l a t o ) oder Wesensbilder (Aristoteles). Seine Tätigkeit erschöpft sich vielmehr in einer rein ordnenden Funktion.

Mit dieser Konzeption ist Locke zum Schöpfer eines rein operativen Verstandesbegriffs geworden. Locke war allerdings der Auffassung, mit seiner Verstandeskonzeption auch die kategorialen Bestandteile des Denkens wie etwa den Begriff der Substanz, der Kraft oder der Kausalität sichergestellt zu haben (vgl. Klemmt). 1.2.3. Hume. Mit David —»Hume nimmt der englische Empirismus eine vernunftkritische Wendung (vgl. Hoerster). Erkenntnistheorie und Ethik sind gleichermaßen von ihr betroffen. Was erstere anbelangt, so nimmt Hume zunächst eine Einschränkung des mentalistischen Ansatzes vor: nur in der Mathematik hat es der menschliche Verstand mit Ideen zu tun, in allen anderen Fällen ist er über Sinneseindrücke auf die Tatsachen weit bezogen. Als weit gravierender erwies sich indes seine Kritik am Kausalitätsprinzip. Hume negiert nicht nur dessen Analytizität (im Sinne des rationalistischen Satzes vom Grund), sondern er bestreitet überhaupt jede Art von Vernunftapriorität. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung sei eine durch Gebrauch eingeübte Schlußweise. Ihre Geltung beruhe ausschließlich auf der Macht der Gewohnheit (vgl. Craig 86ff.). Diese These wurde für Kant zu einem wichtigen Ansporn, die objektive Gültigkeit der Kategorien auf apriorischem Weg zu beweisen. Auf dem Felde der Ethik wirkte sich der radikalisierte Empirismus in der Weise aus, daß die traditionelle Annahme, Handlungsnormen und Verhaltensmotive unterlägen primär rationalen Vorgaben, ebenfalls ins Wanken geriet. Schon Francis Hutcheson (1694-1746) hatte den -»Moral Sense als die eigentliche Quelle menschlicher Wertüberzeugungen ins Spiel gebracht (vgl. Leidhold). Hume schließt sich dieser Auffassung an. Die normative Rolle der praktischen Vernunft übernehmen moralische Gefühle. Ethische Billigung und Mißbilligung entspringen nicht rationalen Erwägungen, sondern sind im Kern emotionalen Ursprungs. Die stärkste Macht gegen den Egoismus bilden die nicht minder natürlichen Sympathieempfindungen. 1.3. Kants transzendentalphilosophische

Synthese

Philosophie ist nur noch möglich auf der Basis einer methodisch geleiteten Kritik ihrer Prinzipien, das heißt: in Gestalt einer Selbstkritik der Vernunft. Dies ist Kants Fazit aus seinen jahrzehntelangen Auseinandersetzungen sowohl mit dem rationalistischen wie mit dem empiristischen Flügel der europäischen Aufklärung. 1.3.1. Die Selbstkritik der Vernunft. Wenn Kant die Bereiche der theoretischen und der praktischen Vernunft immer strikt voneinander unterscheidet, dann tut er dies nicht in der Meinung, als gäbe es tatsächlich zwei verschiedene Arten von Vernunft. Letzteres würde voraussetzen, daß ein gemeinsamer Oberbegriff als Grundlage der Einteilung angegeben werden kann. Nun ist Kant aber der Auffassung, daß sich ein einheitlicher Grundbestand der Vernunft gerade nicht ausmachen läßt. Jene Unterscheidung verweist demnach nicht auf zwei Arten von Vernunft, sondern auf zwei Arten des Gebrauchs der Vernunft. Die übliche Redeweise von einer theoretischen und einer praktischen Vernunft ist darum immer nur im Sinne einer Abkürzung zu verstehen. Die verschiedenen Arten des Vernunftgebrauchs unterscheiden sich für Kant nach Maßgabe der jeweils von ihnen konstituierten Gesetzmäßigkeit. Im Falle des theoretischen Vernunftgebrauchs handelt es sich um die Gesetze der Erfahrungswelt, im Falle des praktischen um die Gesetze der sittlichen Welt.

1.3.2. Die Funktion der theoretischen Vernunft. Es ist eines der Hauptanliegen der ersten Kritik, Vernunft und Verstand strikt auseinanderzuhalten. Das Programm des Kritizismus steht und fällt geradezu mit der funktionalen Ausdifferenzierung beider Kognitionsinstanzen. Die funktionale Zuordnung von Vernunft und Verstand und die

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kritische Begrenzung ersterer bilden die konsequente Fortsetzung der als kopernikanische Wende bezeichneten neuen transzendentalen Fragestellung. Kant gibt Locke darin recht, daß der Verstand kein wie auch immer geartetes Intuitionsvermögen darstellt, sondern lediglich operationale Leistungen erbringt. Der Verstand „sieht" nichts, sondern verknüpft nur, was ihm von Seiten der Sinnlichkeit zugeführt wird. Kant widerspricht Locke aber insofern, als er die Tätigkeit des Verstandes nicht auf logische Verfahren einschränkt, sondern ihm auch reale Bestimmungsfunktion zuschreibt. Damit bringt er ein zentrales Motiv der rationalistischen Schule zur Geltung. Von dieser unterscheidet er sich wiederum insofern, als er den Verstandesbegriffen und dem reinen Denken, für sich allein genommen, keine Erkenntnisqualität zubilligt, weil es sich bei jenen um bloße Gedankenformen handelt (vgl. U. Barth, Christologie 433ff.). Kants Zwischenposition besteht somit darin, daß beide Vermögen, Sinnlichkeit und Verstand, als zwei gleichursprüngliche Kognitionsfunktionen in Ansatz gebracht werden, die allein durch ihr Zusammenwirken Erkenntnis hervorbringen können. Vermittelst der Anschauung werden sinnliche Einzelvorstellungen in unbestimmter Mannigfaltigkeit gegeben, durch das Denken werden sie zu Begriffen und Urteilen verknüpft. Beide Funktionen sind wesensverschieden, bilden also nicht wie bei Leibniz nur einen graduellen Unterschied. D a r a u s ergibt sich eine dreifache Begrenzung des Gesamtgebiets möglicher Erkenntnis. Die erste Restriktion nimmt die „Transzendentale Ästhetik" vor. Wenn der Rekurs auf sinnlich gegebene Vorstellungen eine notwendige Bedingung von Erkenntnis darstellt, dann hat es der empirische Verstandesgebrauch niemals mit dem An-sich-Sein der Dinge zu tun, sondern immer nur mit Erscheinungen (vgl. Prauss). Darin liegt des näheren, daß Erscheinungen auch den Strukturbedingungen unterliegen, die der Sinnlichkeit als solcher entspringen: gemäß der Form der äußeren Anschauung werden sie vorgestellt als im Raum befindliche, gemäß der Form der inneren Anschauung werden sie vorgestellt als in der Zeit befindliche. Aber auch von Seiten des Verstandes ergibt sich eine Restriktion. Das Hauptargument dafür enthält der erste Beweisschritt der „Transzendentalen Deduktion der Kategorien". Wenn die Objektivität von Erscheinungen allein dadurch gewährleistet wird, daß der Verstand eine Vorstellungsmannigfaltigkeit zur Einheit verknüpft, und wenn der Verstand diese Einheitsstiftung allein dadurch bewerkstelligen kann, daß er seine Verbindungsformen (Kategorien) zur Anwendung bringt, dann kann es nichts auf der Welt geben, das nicht die Züge der kategorialen Ordnung aufweist, die der Verstand ihr vorschreibt. Die Gesetze des Verstandes sind zugleich die Grundgesetze der Erscheinungswelt. Der Verstand selber hat als Synthesisvermögen sein letztes Fundament in der synthetischen Einheit des Selbstbewußtseins (vgl. Henrich, Identität; Cramer, Vorüberlegungen [1986]; ders., Satz [1987]). Eine dritte Restriktion erwächst schließlich aus der Art der konkreten Kooperation von Verstand und Sinnlichkeit. Sie wird im zweiten Beweisschritt der „Transzendentalen Deduktion" verhandelt. Die kategoriale Synthesis des Verstandes muß derjenigen Vorstellungssynthesis gemäß sein, die der konkreten Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit entspringt (vgl. Baum). Das bedeutet: strukturelle Aussagen über die Welt der Erscheinungen müssen grundsätzlich durch empirische Wahrnehmungsurteile exemplifizierbar sein. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, haben jene Sinn und Bedeutung (vgl. Strawson). Diesem Sinnkriterium werden sogar die apriorischen Konstruktionen der reinen Mathematik unterworfen - wobei Kant allerdings höchst komplexe Vermittlungsschritte im Auge hat. Bereits mit der „Transzendentalen Ä s t h e t i k " und der „Transzendentalen A n a l y t i k " ist die Vorentscheidung darüber gefallen, daß die drei großen Totalitätsideen der abendländischen Metaphysik, G o t t , Welt und Seele, nicht zum Bereich möglicher Erkenntnis gehören, weil sie erstens mit dem Anspruch auftreten, Dinge an sich zu bezeichnen, zweitens nicht den formalen Kriterien von Objektivität genügen und drittens sich der Exemplifikation durch die W a h r n e h m u n g entziehen, somit insgesamt den allgemeinen Bedingungen von E r f a h r u n g widerstreiten. Kant hat es aber nicht bei diesen allgemeinen Verwahrungen bewenden lassen, sondern darüber hinaus jene drei Ideen einer gesonderten Kritik unterzogen, die zugleich verständlich machen soll, w a r u m es zu ihrer Aufstellung überhaupt hat k o m m e n können. Dieses T h e m a bildet den Gegenstand der „Transzendentalen Dialektik". D a m i t rückt zugleich der engere Begriff von Vernunft in den Mittelpunkt der Betrachtung.

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Vernunft ist für Kant - im Unterschied zum Verstand als dem Vermögen zu urteilen - zunächst das Vermögen zu schließen. Aber in dieser logischen Funktion geht ihre Rolle nicht auf. Sie ist vielmehr auch das Vermögen, Prinzipien hervorzubringen. Kants Rekonstruktion jener drei metaphysischen Ideen als Ideen des Unbedingten erfolgt nun genau in der Weise, daß beide Bestimmungen der Vernunft miteinander kombiniert werden (vgl. U. Barth, Religion). Allen drei Ideen liegen regressive Kettenschlüsse zugrunde, bei denen von einem gegebenen Bedingten zurückgeschlossen wird auf eine letzte Bedingung der gesamten Reihe. Die Spezifikation der drei Totalitätsideen ergibt sich aus den drei Grundformen des Vernunftschlusses, dem kategorischen, dem hypothetischen und dem disjunktiven Schluß. Der erste führt auf den Begriff der Seele, der zweite auf den Begriff der Welt, der dritte auf den Begriff Gottes. Doch diese schlußlogische Rekonstruktion der drei Ideen des Unbedingten enthält einen gedanklichen Kardinalfehler (vgl. Bennet). Er besteht darin, daß eine logische Forderung mit einer metaphysischen Setzung verwechselt wird. Gewiß ist es eine genuine und legitime Intention der Vernunft, nach einem Grund zu fragen, der seinerseits keine weiteren Bedingungen mehr enthält. Aber eine solche letzte Bedingung ist dem Denken niemals gegeben, sondern immer nur aufgegeben. Das Grundgebrechen dogmatischer Metaphysik besteht somit in der Verdinglichung und Hypostasierung einer lediglich methodischen Idee.

Die genaue Identifizierung dieses Fehlers hat nach Kant aber auch einen positiven Nutzen. Denn sie führt auf die eigentliche Funktion der Vernunft innerhalb eines transzendentalphilosophischen Wissensbegriffs. Die theoretische Vernunft fügt dem empirischen Verstandesgebrauch keinerlei neue Wissensbestände hinzu, sondern entwirft lediglich hochstufige Einheitsgedanken, die dazu dienen, die Vielzahl unverbundener Verstandeserkenntnisse systematischen Leitgesichtspunkten zu unterwerfen. Die Einheitsideen der Vernunft haben keine gegenstandskonstitutive Bedeutung, sondern sind lediglich regulative Prinzipien, die den Aufbau von Wissen strukturieren. Sie haben zwar den formalen Status von Abschlußgedanken, dienen als solche aber nur heuristischen Zwecken. Der darin sich manifestierende Systemwille zielt — im Unterschied zur systematischen Gliederungsfunktion der Kategorientafel - auf die Idee eines offenen Systems. 1.3.3. Die Funktion der praktischen Vernunft. In der praktischen Philosophie schlägt Kant gerade den entgegengesetzten Weg zur theoretischen Philosophie ein. N u n geht es nicht mehr um eine Restriktion der Vernunft auf ihre funktionale Rolle, sondern umgekehrt darum, sie im Hinblick auf ihre ethische Begründungsleistung als suisuffizient zu erweisen. Vernünftig im strengen Sinne des Wortes ist für Kant nämlich eine Handlung oder Willenseinstellung nicht schon dann, wenn Rationalität überhaupt mit im Spiel ist. Es ist vielmehr trivial, darauf hinzuweisen, daß bereits zur absichtsgeleiteten Steuerung des sinnlichen Neigungspotentials praktische Überlegung erfordert wird, welche für die konkrete Zweck-Mittel-Rationalität a u f k o m m t und in hypothetischen Imperativen ihren sprachlichen Ausdruck findet. Dabei werden technisch-praktische Regeln aufgestellt oder Optimierungsratschläge erteilt, ohne jedoch die vorgegebenen Motive oder Zwecke in irgendeiner Form anzutasten (vgl. Patzig, Formen; Cramer, Imperative). Kants Frage war hingegen die, ob Vernunft auch unabhängig von solchen neigungsmäßigen Bestimmungsgründen für sich allein tätig werden kann (vgl. L.W. Beck). Sein ethisches Konzept ist getragen von der Idee einer Vernunft, die rein aus sich selbst heraus den Willen zu normieren und zu motivieren imstande ist. Kant gelangt zu dem Ergebnis, daß dies nur dann möglich ist, wenn die Vernünftigkeit des Willens und dessen Selbstbestimmung zusammenfallen. Was praktische Vernunft zur reinen praktischen Vernunft macht, ist die Setzung von unbedingter Allgemeinheit. Was sie als praktische ausweist, ist der Sachverhalt, daß sie jene strikte Allgemeinheit ausschließlich präskriptiv zur Geltung bringt. Für die vernünftige Selbstbestimmung des Willens mit Bezug auf vorgegebene Intentionen oder Maximen folgt daraus, daß diesen nur dann moralischer Wert zukommt, wenn sie bezüglich ihres materialen Gehaltes einen Universalisierungstest bestehen. Das in der praktischen Vernunft begründete Sittengesetz hat deswegen rein formalen Charakter, weil seine Verbindlichkeit allein auf dem M o m e n t präskriptiver Allgemeinheit beruht. Uber die bloße Form universaler Gesetzmäßigkeit hinaus besitzt die reine praktische Vernunft

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keinerlei weitere Normierungs- oder Motivationselemente. Kants Begriff des Sittengesetzes ist noch völlig frei von anthropologischen Näherbestimmungen und gilt dem Anspruch nach für Vernunftwesen überhaupt. Menschen sind aber endliche Vernunftwesen. Bei ihnen steht die Vernunft stets in Konkurrenz zu sinnlichen Triebfedern. Das heißt nicht, daß sie immer durch Neigungen bestimmt wären, wohl aber, daß sie durchgängig von ihnen affiziert werden. Kant zieht daraus die Konsequenz, d a ß das Sittengesetz für den endlichen Willen des Menschen generell imperativische Form aufweist, weil die Vernunft bezüglich des Neigungspotentials grundsätzlich nötigend auftritt (vgl. Paton).

Infolge seiner Endlichkeit verfügt der menschliche Wille auch über kein reines Selbstbewußtsein der in seiner Autonomie zur Geltung gelangenden praktischen Vernunft (vgl. Henrich, Deduktion). Der menschliche Wille kann sich seiner Freiheit niemals unmittelbar ansichtig werden, sondern immer nur so, daß er sich unter den kategorischen Imperativ stellt und in der Anerkennung seiner Verbindlichkeit die eigene Freiheit erfährt. Der kategorische Imperativ bildet die ratio cognoscendi der Freiheit, wie umgekehrt die Freiheit die ratio essendi des kategorischen Imperativs darstellt. In der Ethikvorlesung von 1780/81 hat Kant seine über Jahrzehnte gesuchte und schließlich auf den Begriff gebrachte Grundnorm einmal als ein Priticipiutn intellectuale internum (ed. Menzer 17) bezeichnet. Damit ist die Position des kantischen Moralprinzips innerhalb der ethischen Grundstellungen der Aufklärung in der Tat treffend umrissen. Durch seinen Vernunftcharakter unterscheidet es sich vom subjektiven Gefühlsethos der empiristischen Tradition. Durch seinen Innerlichkeitscharakter unterscheidet es sich vom objektiven Vollkommenheitsethos der rationalistischen Tradition. Die Ethik wurde für Kant auch zum theoretischen Fundament seines Verständnisses des moralischen Glaubens. Zu Beginn des Abschnitts war die Rede vom Bedürfnis nach einer undogmatischen Gestalt von -»Religion als Grundanliegen der Aufklärung. Man hätte dieses Motiv kaum prägnanter auf den Begriff bringen können als durch den Titel, den Kant für sein 1793 erschienenes Buch wählte: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 2. Die Absolutsetzung

der Vernunft im Deutschen

Idealismus

Die komplexesten Vernunfttheorien in der Geschichte der Philosophie hat der nachkantische -* Idealismus hervorgebracht. Vier Motive waren dafür ausschlaggebend. Erstens, die von Descartes aufgewiesene Selbstgewißheit des reinen Denkens, die dort als unbezweifelbares Fundament rationaler Erkenntnis diente, soll nun für die Wesensbestimmung der Vernunft selbst fruchtbar gemacht werden. Zweitens, die vom Rationalismus insgesamt entfaltete Tendenz einer Verbindung der Einzelwissenschaften zum System wirft die Frage nach einer dessen Reichweite angemessenen Fundierungsinstanz auf. Drittens, Kants Gedanke des Für-sich-selbst-Tätigwerdens der Vernunft in der Konstitution der Freiheit wird aus einheitstheoretischen Gesichtspunkten von der praktischen Vernunft auf die kognitive Vernunft ausgedehnt. Und schließlich ist, viertens, in Rechnung zu stellen, daß die drei Wortführer des Deutschen Idealismus von Hause aus protestantische Theologen waren. Sie wollten mit ihren philosophischen Entwürfen auch eine Theorie des Christentums vorlegen und in Gestalt des spekulativen Vernunftgedankens zugleich den christlichen Geist- und Logosbegriff zur Geltung bringen. Die paradigmatische Bedeutung der idealistischen Vernunfttheorien (insbesondere ->Fichtes und -> Hegels) besteht darin, daß Form und Gehalt des Philosophierens hier ein Höchstmaß an innerer Entsprechung gefunden haben - wie in ganz anderer Hinsicht sonst nur noch bei Plato. Es gibt keinen anderen Zugang zum Begriff der Vernunft als den Eintritt in ihren Vollzug und dessen gedankliche Selbstaufklärung. Weniger der Sachverhalt des Rückgangs auf die Idee des Absoluten als vielmehr dieses Methodenideal ist der eigentliche Grund für die Absolutsetzung der Vernunft. Reflexive Vernunft tendiert aus sich selbst zu philosophischer Letztbegründung.

2.1. Fichte Fichtes Grundlage der Wissenschaftslehre von 1794 ist der Sache nach eine Theorie der Vernunft (vgl. Metz). Gleichwohl bildet der Terminus selbst nicht den Leitbegriff der Erörterung - ebensowenig wie der des Selbstbewußtseins. Beide gehören zu den

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erst im System abzuleitenden Größen. An der Spitze steht vielmehr der Begriff des Ich. Er bezeichnet, formal betrachtet, eine reflexiv verfaßte Produktionsstruktur - nicht zu verwechseln mit der Selbstbeziehung der Reflexion oder dem Selbstverhältnis der intellektuellen Anschauung. Das höchste Prinzip lautet: „Das Ich sezt ursprünglich schlechthin sein eignes Seyn" (Fichte, GA 1/2, 261). Es hat darum den ontologischen Status einer „ T h a t h a n d l u n g " , aus der die Gewißheit der eigenen Existenz allererst resultiert (gegen Ryue). Das besagt: das Ich ist „zugleich das Handelnde . . . und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht w i r d " (ebd. 259), also Produzent und Produkt in einem. Die freie Tätigkeit des Sich-Setzens bildet den Kern alles Handelns des menschlichen Geistes. Sucht man diesen Ansatz - im Sinne seines Urhebers - von Kant her zu verstehen, wird man sagen müssen: Fichte will das von Kant entdeckte, aber noch unzureichend exponierte „Princip der Subjektivität" (ebd. III/2, 314f.) zu innerer Konsequenz bringen. In Fichtes Ich-Begriff haben sich die transzendentale Apperzeption der Kritik der reinen Vernunft und die Selbstbestimmung des Willens im Sinne der Kritik der praktischen Vernunft gleichsam miteinander verschränkt. Das bedeutet zweierlei: Die Spontaneität des „Ich denke" wird zu einem Unterfall praktischer Autonomie. Die in ihm begründete kategoriale Tätigkeit des Verstandes muß demzufolge aus dem „Setzen des Ich durch sich selbst" (ebd. 1/2, 259) deduziert werden. Umgekehrt wird die ausschließlich praktische Realität aller Handlungsbegriffe und Willensbestimmungen zum letzten Kriterium von Realität. Alles Reale ist „ein im Ich geseztes". Von einem vom Ich verschiedenen „Ding" kann man nur insofern sprechen, als „aus dem Ich Realität darauf übertragen werde" (ebd. 261 f.), woraus - wie noch zu zeigen ist - sich eine „Einschränkung der Realität im Ich" (ebd. 310) ergibt. Von hier aus erübrigt sich die häufig gestellte Frage, wie ein Ich eigentlich wissen könne, daß es auf sich selbst referiert, wenn es auf sich selbst referiert. Denn für das sich setzende Ich im Sinne Fichtes existieren zunächst gar keine andere Entitäten außer ihm. Jene Ich-Identität aber gründet ausschließlich in dessen reflexiver Produktionsstruktur. Fichtes Problem war darum auch nicht die Frage der Möglichkeit von Selbstbeziehung überhaupt, deren Beantwortung dann angeblich in Aporien geendet sei (so Henrich, Einsicht; Pothast; dagegen Janke, Fichte, 416; Stolzenberg, Begriff 151 f.224.287), sondern Fichtes ursprüngliche Einsicht ist die Entdeckung der im vernunfttheoretischen Freiheitsgedanken implizierten Unhintergehbarkeit des Bei-sich-Seins des Geistes, also in dem Sachverhalt, daß wir mental „nie aus uns herauskommen, nie von der Existenz eines Objekts ohne Subjekt reden k ö n n e n " - eine Art freiheitstheoretisch gewendeter Cartesianismus. Fichtes Beweisziel bestand demzufolge darin, für sämtliche Bereiche unseres Wirklichkeitsverständnisses aufzuzeigen, daß wir schlechterdings alles „nach den Gesetzen unsers Geistes denken" (Fichte, GA 1/2, 416). Methodisch ist dieser radikale Konstitutionsidealismus von Karl Leonhard Reinholds ( 1 7 5 8 - 1 8 2 3 ) Grundsatz-Philosophie bestimmt (vgl. Bondeli). Da sich aus einem einzigen Prinzip allein aber bekanntlich nichts folgern läßt, erweitert Fichte sein Fundament zu einem Prinzipiengefüge (vgl. Baumanns, Wissenschaftslehre; Bader; Mittmann; Stolzenberg, Satz; Hiltscher). Dem Sich-Setzen tritt das „Entgegensetzen" zur Seite, wobei „der Uebergang vom Setzen zum Entgegensetzen nur durch die Identität des Ich möglich" (Fichte, G A 1/2, 265) ist. Beide konträren Tätigkeiten werden miteinander vermittelt durch ein Wechselbestimmungsverhältnis, wodurch die Realität des Ich der „Quantitätsfähigkeit" (ebd. 270) unterworfen und damit zugleich jene Realitätsübertragung auf das Nicht-Ich ermöglicht wird: aus dem unbestimmten Inbegriff praktischer Realität entsteht das „ e t w a s " vom Status dinglicher Realität. Der dritte Grundsatz lautet: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen" (ebd. 271f.). Er — und nicht etwa der erste - bildet das eigentliche Prinzip des nachfolgenden Systems (vgl. Wildfeuer). In diesem Zusammenhang wird dann auch der Vernunftbegriff explizit erörtert. Das eine Teilmoment des dritten Grundsatzes, „Das Ich sezt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich", wird maßgebend für die Struktur der theoretischen Vernunft, das andere, „Das Ich sezt sich als bestimmend das Nicht-Ich" (Fichte, GA 1/2,385), für die praktische.

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Gleichwohl besteht keine Symmetrie zwischen beiden Formen der Vernunft. Die Erzeugungsstruktur des Ich hat nämlich zur Folge, „daß die Vernunft an sich blos praktisch sey, und daß sie erst in der Anwendung ihrer Gesetze auf ein sie einschränkendes NichtIch theoretisch werde" (ebd. 286). Das Nicht-Ich kommt in der praktischen Einstellung lediglich als kontingentes, vorläufiges Hemmnis der Expansionstätigkeit des Ich zu stehen, wodurch diese den Charakter des Strebens erhält (vgl. Baumanns, System 127ff.; Schräder 50ff.; Soller). Praktische Vernunft äußert sich im Gefühl eines Triebes, daß „alles mit dem Ich übereinstimmen, alle Realität durch das Ich schlechthin gesezt seyn solle" (Fichte, GA 1/2,399). Der theoretischen Vernunft hingegen obliegt die „Handlung des Fixirens oder Festsetzens" (ebd. 373) bezüglich der zwischen Bestimmung und Nichtbestimmung schwebenden Einbildungskraft, „wodurch eine Reflexion entsteht" (ebd. 361). Fichte hat mit dieser Erklärung den Anspruch verbunden, Kants Dichotomie von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch auf ein einheitliches Prinzipiengefüge zurückgeführt zu haben. Er war sich allerdings darüber im klaren, damit keinen Einheitsgedanken im strengen Sinne aufgestellt zu haben. Denn über die organische Synthese von Setzen und Entgegensetzen gelangt auch sein Einheitsmodell nicht hinaus. Der „lezte Grund alles Bewußtseyns ist eine Wechselwirkung des Ich mit sich selbst vermittelst eines von verschiednen Seiten zu betrachtenden Nicht-Ich. Dies ist der Zirkel, aus dem der endliche Geist nicht herausgehen k a n n " (ebd. 413). Ermöglichungsgrund dieser genetischen Beschreibung der verschiedenen Funktionsweisen des Ich ist die intellektuelle Anschauung, das sich Zusehen des Geistes bei seiner mentalen Aktivität. Dieser methodische Operator hat in der Folgezeit des Fichteschen Denkens dann auch systematisch zunehmend an Bedeutung gewonnen (vgl. Stolzenberg, Begriff 185ff.).

Im Gefolge des Atheismusstreits (vgl. T R E 11,159,48ff.) bildet die Verankerung des Freiheitsverständnisses in einer Theorie des Absoluten ein kontinuierliches Merkmal seines Letztbegründungsdenkens (vgl. Hirsch, Religionsphilosophie 63ff.; ders., Philosophie 222ff.). Dies hat auch einen Wechsel im Leitparadigma zur Folge. Statt des Ich rückt 1801/02 zunächst der Begriff des absoluten Wissens in den Vordergrund (vgl. U. Barth, Christologie 311ff.), im Jahre 1804 schließlich der Begriff der Vernunft. Fichtes späte Vernunfttheorie setzt ein mit einem ehrerbietigen Rekurs auf Kants Transzendentalismus (vgl. Fichte, SW X , 95ff.), um sogleich zu einer Fundamentalkritik auszuholen. Deren Mittelpunkt besteht in dem Einwand, daß Kants strikte Trennung unterschiedlicher Arten des Vernunftgebrauchs in letzter Konsequenz zur Etablierung dreier gedanklich nicht mehr auflösbarer Letztgegebenheiten führe: der empirischen Erfahrung, der moralischen Welt und der unerforschlichen Wurzel von sinnlicher und übersinnlicher Sphäre. Fichte bezeichnet sie als drei Absoluta (ebd. 102ff.). Die Frage der Einheit der Vernunft verbindet sich für ihn deshalb von vornherein mit dem Problem der Exposition einer absoluten Einheit, als deren Darstellung sich die Vernunft zu begreifen habe. Dieses doppelte Beweisziel schlägt sich unmittelbar in der Gliederung der Wissenschaftslehre nieder. Deren erster Teil, die „Wahrheitslehre" (ebd. 205), vollzieht den gedanklichen Aufstieg zur absoluten Einheit, der zweite, die „Phänomenologie" (ebd. 208), entfaltet deren Erscheinung am Ort und in Gestalt des endlichen Wissens (vgl. Janke, Bilde). Das Absolute ist für Fichte kein gegenständliches An-sich-Sein, sondern das in sich geschlossene lebendige Sein des Geistes selber. Man hat darum zu Recht von einer Art geist- oder freiheitstheoretischem Pantheismus gesprochen (vgl. Dierken, Geist 234ff.; ders., Atheismusstreit). „Wir, im unmittelbaren Leben selber" (Fichte, SW X , 206), sind das Absolute. Dieser Wechsel vom Ich zum Wir schlägt sich auch in der Fassung des Vernunftbegriffs nieder. Die Vernunft ist das „auf sich selber beruhende und in sich selber tragende Daseyn und Leben, wovon alles, was als daseyend und lebendig erscheint, nur die weitere Modification . . . und eigene Gestaltung ist" (ebd. VII, 23). Diese Modifikation besteht zunächst in einer formalen Spaltung der Vernunft in eine Fünffachheit möglicher Vernunftstandpunkte (vgl. ebd. X , 312ff.). Diese Spaltung ist durch den Umstand

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bedingt, daß die unmittelbare Erscheinung jener absoluten Einheit in Gestalt unbedingter Gewißheit nur durch deren Übergang in die Form der Reflexion zu einem qualitativen Wissen wird (vgl. Radermacher 124ff.; R . Barth 222ff.). Das Bewußtsein ist ebenso wie sein mögliches Objekt ein „Vernunft-Effekt" (Fichte, S W X , 311). Die Reflexion vermannigfaltigt nun zwar jenen Gehalt ins Unendliche, doch die Vielzahl ihrer Deutungsperspektiven ist strukturell begrenzt, so daß sich jene Reflexionsprodukte in unterschiedliche Weltansichten bündeln. Diese Ausdifferenzierung der Vernunft in ein System verschiedener Vernunftstandpunkte liegt auch der Religions- und Geschichtsphilosophie zugrunde (vgl. Schütte 77ff.; Meckenstock). Die andere Modifikation betrifft die Individuation der Geistsphäre. Die absolute Vernunft realisiert sich immer nur in individuellen Konzentrationspunkten, der Unendlichkeit der erscheinenden Einzelichs. Doch auch diese Ausdifferenzierung hebt die innere Einheit jener nicht auf. Denn das „Eine und in sich selber gleiche Leben der Vernunft wird . . . lediglich durch die irdische Ansicht und in derselben, zu verschiedenen individuellen Personen zerspaltet" (Fichte, S W VII, 24).

Die Vernunfttheorie der Wissenschaftslehre hat nichts mehr zu tun mit den abstrakten Schemata der empirischen Psychologie, denen auch Kants Apriorismus noch begrifflich verpflichtet war. Statt von Vernunftvermögen oder Vernunftgebrauch spricht Fichte darum lieber von „Vernunftleben" (ebd. 40) als dem Inbegriff menschlichen Bewußtseinslebens. Dieses Vernunftleben ist insofern unhintergehbar, als es keinen vermeintlich externen Ort gibt, der nicht von ihm gesetzt und insofern auch umgriffen wäre. Jedoch kann es sich nach seinem inneren Grund gedanklich durchsichtig werden. Die lebensweltliche Gestalt dieses Innewerdens ist für Fichte die Religion, allerdings nicht mehr als moralischer Glaube, sondern als affektive Gewißheit der Teilhabe am göttlichen Logos-Leben (vgl. U. Barth, Pantheismusstreit 120f¥.). Deren tiefsinnigste Darstellung erblickte er in der Symbolik des -»Johannesevangeliums (vgl. Fichte, SW VII, 98 ff.; V, 475ff.). Die begriffliche Form jener Durchsichtigkeit ist die Wissenschaftslehre, denn sie ist nichts anderes als „das unmittelbar in sich selber aufgegangene und von sich selbst durchdrungene Eine Vernunftleben" (ebd. X , 306). Im Begriff des Vernunftlebens und seiner Deutung als sich wissender Erscheinung des göttlichen A-se-esse und In-se-esse wiederholt sich der Freiheitsimpetus der frühen Ich-Philosophie auf höherer Ebene. 2.2. Schelling Die Stellung —»Schellings innerhalb des Deutschen Idealismus ist keineswegs einfach zu bestimmen. Auf der einen Seite bildet er ein nicht wegzudenkendes Glied in der Entwicklung „Von Kant zu Hegel" (vgl. Kroner I, 535ff.; II, lff.76ff.l71ff.), andererseits hat er Hegel fast ein Vierteljahrhundert überlebt. In die Öffentlichkeit trat Schelling als ein begeisterter Anhänger Fichtes, bestrebt, die Ichphilosophie als die strengste Form von Letztbegründung zu erweisen (vgl. Baumgartner). Ab 1797 wird er zum Protagonisten der gerade im Entstehen begriffenen romantischen -»Naturphilosophie. Daneben wird die Arbeit am ersten Projekt weitergeführt; dessen ausgearbeitete Version bietet dann auch Raum für eine Philosophie der Kunst. Dieses inhaltliche Nebeneinander mußte als solches nicht zu Widersprüchen führen, sondern beide Theoriebereiche konnten sich durchaus ergänzen: Während die Bewußtseinsphilosophie die Verfaßtheit der Gegenstandswelt auf apriorische Konstitutionsleistungen des Ich zurückführt, hat die Naturphilosophie die Aufgabe, die Entstehungsbedingungen von Leben, Vernunft und Subjektivität aus der Evolution von Materieprozessen zu erweisen. Die Geschichte der Natur und die Geschichte des Selbstbewußtseins sind als komplementäre Erklärungsmodelle angelegt. In ihnen gelangen zwei gleichursprüngliche Formen transzendentaler Genetisierung zur Anwendung (vgl. Heuser-Keßler; U. Barth, Evolutionstheorie). Doch unter prinzipientheoretischem Aspekt ergab sich ein Konflikt, der schließlich auf eine höhere Warte führen mußte, die es gestattete, beide Hemisphären zu übergreifen. Anders als Fichte (vgl. Gloy) hatte Schelling die Ich-Vernunft von Anbeginn als Gestalt des Absoluten verstanden. Dieser Rang konnte ihr nun nicht mehr zugebilligt werden. Das Ich verkörpert nur die subjektive Form von Subjekt-Objekt-Einheit, parallel dazu kommt die Natur als

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andere Gestalt dieser Synthese zu stehen. Das aber bedeutet, daß das wahre Absolute seinen Ort über jenem Gegensatz von Ich und Natur haben muß. Es ist genau diese Einsicht, die zur Ausbildung der sogenannten Identitätsphilosophie führt (vgl. Zeltner, Identitätssystem). Sie findet ihre programmatische Formulierung in der 1801 erschienenen Schrift Darstellung meines Systems der Philosophie. Die Folgezeit ist vorrangig dem Ausbau dieses Systemkonzepts gewidmet. Daneben rückt aber das Thema Religion in den Vordergrund. Treibendes Motiv ist das Problem der Besonderung, symbolisiert in der platonischen und biblischen Figur des „Abfalls". Dies führt - zusammen mit dem bereits zuvor dokumentierten Interesse an der Geschichte - zu einer wiederum neuen Fragestellung. Sie wird erstmals greifbar in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809. Damit beginnt werkbiographisch der Abschnitt, den man als Schellings Spätphilosophie bezeichnet (vgl. Tillich). Letztere liegt allerdings nur in Gestalt postum edierter Texte vor. Es handelt sich im wesentlichen um die Weltalter-Philosophie, die Philosophie der Mythologie und die Philosophie der Offenbarung. Für Schellings eigentümliche Fassung des Vernunftbegriffs sind von all den genannten Systemkonzeptionen vor allem die Identitätsphilosophie und die Spätphilosophie einschlägig. Die Identitätsphilosophie n i m m t nach dem Vorbild Spinozas ihren Standpunkt im Absoluten, dessen sie - darin bleibt Schelling den eigenen Anfängen treu - durch den intuitiven Akt der intellektuellen Anschauung inne wird (vgl. Korsch 43ff.). Die ursprungshafte Einheit des Absoluten wird als vollständige Indifferenz bezeichnet, insofern sie nicht nur keinerlei inhaltliche Differenzierungen, sondern noch nicht einmal die R e lation der Selbstidentität enthält. Letztere stellt sich erst deshalb ein (vgl. Taureck 57ff.), weil dem Absoluten neben dem C h a r a k t e r des absoluten Seins auch eine Idee von sich selbst im M o d u s reiner Selbsterkenntnis z u k o m m e n muß. D a m i t ist der Überschritt zur Vernunft gewonnen. Sie ist das ideale Abbild des Absoluten und besitzt darum wie dieses in ihrem Ursprung die Eigenschaft absoluter Indifferenz. „Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird" (Schelling IV, 114). Aber der absoluten Vernunft eignet wie dem Absoluten zugleich auch die Form der Selbsterkenntnis unter der Form absoluter Identität. Damit ist der Gesamtbereich möglichen Seins und möglicher Erkenntnis nicht nur vom Absoluten, sondern auch von der Vernunft umgriffen. Die Welt stellt sich dar als eine ideelle und reelle Offenbarung Gottes. Auch wenn diese sich dann immer weiter ausdifferenziert, bleibt der Zusammenhang aller Momente aufgrund der gemeinsamen Herkunft doch gewahrt. Das Einzelne ist trotz seiner Besonderheit in die unendliche Totalität eingebettet. Die Absolutheit der Vernunft verbürgt die Identität von subjektiver und objektiver Vernunft. Um dieser absoluten Vernunft gerecht zu werden, wird dem endlichen Subjekt eine vollständige Abstraktion von der Subjektivität seines epistemischen Zugriffs angemutet. „Dem, welcher diese Abstraktion macht, hört die Vernunft unmittelbar auf, etwas Subjektives zu seyn, wie sie von den meisten vorgestellt wird". Mit der Nachbemerkung ist insbesondere die Position des subjektiven Idealismus gemeint. Wem im Sinne der geforderten Abstraktion, die Schelling auch für die Naturphilosophie reklamiert, die Begrenztheit jenes Standpunkts aufgegangen ist, dem wird die Vernunft „zu dem wahren An-Sich, welches eben in den Indifferenzpunkt des Subjektiven und Objektiven fällt". Wahre Philosophie ist die „Erkenntniß der Dinge, wie sie an sich, d.h. wie sie in der Vernunft sind" (ebd. IV, 114f.). Damit wurde der Bruch mit Fichte - durch eine schon früher eingetretene Entfremdung ohnehin vorbereitet - geradezu unvermeidlich. Im Winter 1801/02 erfolgte er definitiv. Hegel schlug sich auf die Seite Schellings. Weitaus schwerer ist der Vernunftbegriff der Spätphilosophie zu durchschauen. A m ehesten wird er von der Fragestellung der Freiheitsschrift (vgl. ebd. VII, 417ff.) zugänglich. Denn hier stößt Schelling auf eine echte Grenze seiner bis dahin vertretenen Identitätsphilosophie (vgl. Tilliette; Höffe/Pieper; B a u m g a r t n e r / J a c o b s ) . Der Gesichtspunkt der I m m a n e n z aller Dinge in G o t t läßt sich unschwer auf die formale und die ethisch positiv qualifizierte Freiheit beziehen. W i e aber kann die Freiheit zum -»-Bösen, die essentiell z u m Menschsein gehört, in G o t t gegründet sein? Z u r B e a n t w o r t u n g dieser F r a g e m u ß eine doppelte Gottesbeziehung und eine Duplizität in G o t t selber vorausgesetzt werden. Die bereits in der Naturphilosophie angewandte Unterscheidung von Existenzgrund und Existenz wird auf das Wesen Gottes übertragen und freiheitstheoretisch fruchtbar g e m a c h t : ersterer, die dunkle N a t u r in G o t t , ist der Ermöglichungs-

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grund des menschlichen Partikularwillens und damit des Bösen. Schelling muß nun allerdings deutlich machen, warum und wie jene Natur in Gott übergeht in dessen Existenz als Wort und Geist. Damit wird das freiheitstheoretische Ausgangsdilemma überlagert von Fragen der Theogonie und Offenbarungsgeschichte. Zugleich bedarf das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit in Gott einer ontologischen Klärung. Beide Problemfelder zusammen bezeichnen den Einsatzpunkt der Spätphilosophie (vgl. Fuhrmanns). Für das Vernunftverständnis wird vor allem das zweite Problem bestimmend. Das onto-theologische T h e m a wird verallgemeinert zu der grundsätzlichen Frage der rationalen Erkennbarkeit von Seiendem. Die Vernunft als Ganze steht auf dem Prüfstand. Die Erörterung dieser Problematik wird von Schelling zu einer eigenständigen Disziplin erhoben und als „rationale" oder „negative Philosophie" bezeichnet. Auf deren Ergebnissen baut die „positive Philosophie" auf, die der materialen Entfaltung jener theogonischen Stoffe gewidmet ist. Die Aufgabe der ersteren hingegen besteht darin, den „Begriff des Seyenden" zu klären, d.h. auszumitteln, was zu ihm gehört, „daß es das Seyende ist" (Schelling XIII, 77). Zur Beantwortung dieser Frage greift Schelling insbesondere auf die aristotelische Theorie der Modalkategorien zurück. Als formale Momente jedes Seienden werden genannt das Sein-Können, dessen selbstloses Außer-sich-Sein und das aus beiden resultierende erfüllte Bei-sich-Sein (vgl. ebd. XI, 302f.; XIII, 77). Nun scheint auf den ersten Blick nur das erste dieser drei Momente den Status des Potentiellen zu besitzen; aber dieser Schein trügt. Auch die beiden anderen Momente sind Potentialitäten wie jenes; denn „den andern ist das Können gegeben von ihm" (ebd. XI, 387), sofern sie modaltheoretisch unter seiner Voraussetzung stehen. Darum bezeichnet Schelling jene Seinsmomente als Potenzen, nicht in dem noch inhaltlich gemeinten Sinne seiner früheren Verwendung dieses Ausdrucks, sondern nun in strikt modaltheoretischer Bedeutung. Der tiefere Grund des Hinweises auf die bloße Potentialität der drei Momente liegt in der methodischen Stellung und im Beweisziel der negativen Philosophie beschlossen. Diese hat den Rang einer „bloß die Möglichkeit untersuchenden Wissenschaft" (ebd.). Apriorisches Wissen befaßt sich allein mit der Analyse oder Konstruktion von Begriffen (vgl. Wild). Auch die aufgestellten Seinsmomente sind daher bloße Denkbestimmungen. Vernunft als solche führt immer nur zum Was, zur gedanklichen Möglichkeit eines Sachverhalts, niemals zu seinem Daß. Letzteres bleibt grundsätzlich dem Aposteriori, der Erfahrung (im weitesten Sinne) vorbehalten. Die Letztbegründungsintention der Ontologie hat den negativen Befund zum Ergebnis (daher auch der Name „negative" Philosophie), daß das gesuchte absolute Fundament, das Sein in seiner reinen Aktualität, der Vernunft grundsätzlich unzugänglich bleibt. Die erste Potenz, „das unmittelbar Seynkönnende", führt nur zur „Pforte in das Seyn" (Schelling XI, 391). Das „das-Seyende-seyende" (ebd. 313) bzw. das „Seyende selbst" (ebd. XIII, 70.148) liegt ihr immer schon voraus. Somit ergibt sich folgende Aporie: Einerseits macht das vorgängige aktuale Sein die ontologischen Denkbestimmungen erst zu tatsächlichen Seinsmomenten. „Jene Elemente werden erst das Seyende, indem es sie ist" (ebd. XI, 314). Andererseits ist es grundsätzlich außerlogischer Natur, eine „alles Denken übertreffende Wirklichkeit" (ebd.). Genau dieses absolute Sein dient der positiven Philosophie als Fundament der Beschreibung der mythologischen und offenbarungsgeschichtlichen Prozesse als eines abgestuften Werdens Gottes zu sich selbst, indem jenes absolute Sein sich zunehmend mit Bestimmtheit anreichert. Die Philosophie der Mythologie und die Philosophie der Offenbarung sind für Schelling Erfahrungswissenschaften im erläuterten Sinne. Hinsichtlich der Spannweite von Schellings Denken und seines Stellenwertes innerhalb der Gesamtentwicklung des Deutschen Idealismus sind aber vor allem die vernunfttheoretischen Folgerungen der negativen Philosophie bedeutsam, hinsichtlich derer sich Schelling in Kontinuität mit der Vernunftdialektik Kants wußte (vgl. Hutter; Peetz). Die ontologische Selbstaufklärung des Denkens endigt in einem „Umsturz der Vernunft". Die menschliche Vernunft ist eine „gebeugte Vernunft" (Schelling XIII, 152f.), weil sie das Absolute „nur als ein absolutes Außer-sich setzen" kann, damit aber zugleich „in diesem Setzen außer sich gesetzt" wird. Sie ist in ihrem Kern gerade nicht die reine Durchsichtigkeit, sondern „absolut ekstatisch" (ebd. 163). Schellings nunmehriger Begriff der Ekstase der Vernunft übernimmt die Funktion, die einst der intellektuellen Anschauung zukam (vgl. Beierwaltes, Identität 220). Sicherlich machen die Überlegungen, die zu diesem Ergebnis geführt haben, von Argumentationsmustern Gebrauch, die

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sich unschwer mit verwandten Denkfiguren des späten Fichte oder auch Hegels vergleichen lassen, so daß man hinsichtlich der inneren Stringenz, mit der die negative Philosophie jene Momente bündelt, von einer „Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings" (W. Schulz, Vollendung) sprechen kann. Bedeutsamer jedoch ist, daß Schelling mit dem hartnäckigen Verweis auf „das Andere der Vernunft" eine „Umorientierung der Philosophie vom Idealismus zum Realismus" (Iber 4.278) bzw. „Aufhebung des Idealismus" (Theunissen, Aufhebung; ders., Vernunft 42ff.53f.) vollzogen und damit der seit den 30er Jahren des 19. Jh. anhebenden Tendenz zum -•Positivismus in prinzipieller Form Ausdruck verliehen hat. Sofern diese Kritik der absoluten Vernunft ihr destruktives Potential ausschließlich aus der Unvordenklichkeit des reinen Daß des Seins bezieht, kann sie auch als eine Philosophie der Faktizität bezeichnet werden (vgl. Zeltner, Schelling 61). Schellings negative Philosophie war vor allem gegen Hegels Konzept logischer Universalvermittlung (vgl. Frank, Mangel) und dessen realphilosophische Folgen gerichtet. Zum Zwecke der Vertreibung des Hegelianismus wurde er auch im Jahre 1841 nach Berlin berufen. 2.3.

Hegel

Hegel entfaltet den Vernunftbegriff in einem engeren und in einem weiten Sinne. Jener bezeichnet eine der vielfältigen unter der Form des Bewußtseins erscheinenden Gestalten des Geistes. Ihm ist der erste Teil des dritten Hauptabschnitts der Phänomenologie des Geistes gewidmet (vgl. Hegel, Werke III, 178ff.). Er kehrt in lapidarer Kurzfassung innerhalb der kleinen Phänomenologie der Nürnberger Propädeutik (§ 4 0 - 4 2 ) und der Enzyklopädie3 (§438f.) wieder. Hegel knüpft an die herkömmliche idealistische Auffassung an: „Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein" (Hegel, Werke III, 179). Solche Gewißheit resultiert aus dem strukturellen Sachverhalt, daß in der Vernunft Bewußtsein und Selbstbewußtsein zur Deckung gelangen, Gegenstandsbestimmtheit und Denkbestimmung somit identisch sind. Hegel zeigt jedoch am Beispiel des Vorgehens der beobachtenden (ebd. 185ff.), der praktischen (ebd. 263ff.), der gesetzgebenden (ebd. 311ff.) und der gesetzprüfenden Vernunft (ebd. 316ff.), daß jener Anspruch zwar aus guten Gründen erhoben wird, aber durchweg scheitert (vgl. Fink 202ff.; Taylor 219ff.). Deshalb ist die vom Selbstbewußtsein herkommende Vernunft dazu bestimmt, in die höhere Form des substanziellen Geistes überzugehen (vgl. Düsing, Begriff). Auf dieser Ebene ist nun der weite Begriff angesiedelt. Hegel geht davon aus, daß die Verwirklichung des Geistes ein notwendiges Moment seiner Selbstexplikation bildet, sei es unter der Form des objektiven oder des absoluten Geistes. Der geistphilosophische Begriff der Vernunft steht für die innere Komplexität der Vermittlungsstruktur dessen, was dem Denken als Wirklichkeit gilt. Diese Begriffsfassung liegt auch jenen berühmtberüchtigten Thesen von der Vernünftigkeit des Wirklichen (vgl. Marcuse 96ff.; Riedel, Studien l l f f . ) , von der Vernunft in der Geschichte (vgl. Pöggeler, Idee 299ff.; ders., Komposition 40ff.; Taylor 509ff.) und von der Vernunft der Religion (vgl. Wagner; Graf/ Wagner; Jaeschke, Religionsphilosophie) zugrunde. M i t dem Stichwort Vermittlungsstruktur ist eine der Hauptschwierigkeiten des Hegeischen Vernunftbegriffs berührt. Denn infolge ihrer Vermittlungsfunktion tritt die Vernunft in einen unausweichlichen Konflikt mit der Differenzierungsfunktion des Verstandes. Beide Funktionen sind formal einander entgegengesetzt, aber gleichermaßen unentbehrlich für einen bewußten Welt- und Selbstumgang. Das Verhältnis von Vernunft und Verstand bildet darum das spekulative Grundproblem von Hegels Theorie der Vernunft und darf geradezu als sein philosophisches Lebensthema bezeichnet werden, das ihm durch seinen philosophiegeschichtlichen Standort aufgegeben war. „ E r s t durch Kant ist der Unterschied zwischen Verstand und Vernunft bestimmt hervorgehoben und in der A r t festgestellt w o r d e n " (Hegel, Werke VIII, 121). Kants Verhältnisbestimmung erschien ihm jedoch als unzureichend und im Ergebnis desaströs. Hegels epochale Selbsteinschätzung resultiert nicht zuletzt daraus, daß er der Uberzeugung w a r , daß weder Fichte noch Schelling, sondern er allein das von Kant hinterlassene Problem bewältigt habe. Z u dessen konstruktiver Auflösung

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bedurfte es allerdings eines mühevollen Durchgangs durch die gesamte zeitgenössische Debattenlage. Die ersten Ansätze reichen weit zurück und speisen sich aus den verschiedensten Quellen (vgl. H a e r i n g I, 59ff.; J a m m e / S c h n e i d e r ) . Sie finden ihren Niederschlag in den Manuskripten, die H . N o h l im J a h r e 1 9 0 7 unter d e m Titel Theologische Jugendschriften herausgegeben hat. Ihnen zufolge stellt sich das Bild folgendermaßen dar. Zunächst verfolgte Hegel das Projekt einer Theorie des Christentums im Sinne einer Staat und Gesellschaft fundierenden Volksreligion. Als theoretische Basis fungiert Kants Postulatenlehre und Ethikotheologie (vgl. Düsing, Rezeption). Doch schon während der Frankfurter Jahre (1797-1800) entsteht durch den Einfluß -»Hölderlins (vgl. Henrich, Einsicht 9ff.; Jamme) das Programm einer „Vereinigungsphilosophie". Religion wird nun verstanden als die Erhebung des endlichen Lebens zum unendlichen Leben. Letzteres ist reines Sein und uneingeschränkte Vereinigung, zugänglich nur dem religiösen Gefühl. Das vom Unendlichen erfüllte Lebensgefühl bezeichnet Hegel als Liebe. Jenes reine Sein ist jedoch zugleich die Quelle des vereinzelten Daseins. Darum kann Leben „eben nicht als Vereinigung, Beziehung allein, sondern muß zugleich als Entgegensetzung betrachtet werden" (Hegel, Jugendschriften N 348). Damit tritt die Reflexion ins Spiel, denn sie ist die eigentliche Kraft der „Entgegensetzung" (ebd. N 347). Der Gegensatz von Liebe und Reflexion bildet zu dieser Zeit das bewegende Zentrum von Hegels Philosophie (vgl. Düsing, Problem 50ff.; Timm 133ff.). Indem die Reflexion das Leben „als ruhende, bestehende, als feste Punkte . . . fixiert" (Hegel, Jugendschriften N 346), unterwirft sie es zugleich der „Einheit der Abstraktion". Darum gibt es innerhalb ihrer immer nur „negatives Einfaches" (ebd. N 302f.). Die Reflexionssphäre fällt zusammen mit dem „Gebiet der Beschränkungen" und steht als solche in diametralem Gegensatz zum Unendlichkeitsgefühl; „jede Reflexion hebt die Liebe auf" (ebd. N 302). Die sondernde, fixierende und abstrahierende M a c h t der Reflexion wird von Hegel später mit der Funktion des Verstandes gleichgesetzt. Letzterer wird auch schon in der Frühzeit als „die absolute Trennung, das T ö t e n " (ebd. N 3 1 1 ) apostrophiert. Gleichwohl sind beide nicht identisch. D e r Verstand verkörpert nur den einseitigen Gebrauch der Reflexion. Diese geht in solcher Verabsolutierung jedoch nicht auf, sondern v e r m a g sich sehr wohl mit jener Unendlichkeitsbeziehung als deren inneres G e g e n m o m e n t zu verbinden. Das religiöse Gefühl „ w i r d erst dadurch vervollständigt, daß Reflexion hinz u k o m m t , über ihm v e r w e i l t " (ebd. N 3 4 9 ) . Ähnliches scheint auch für die Erfüllungsgestalt der Liebe zu gelten. D a m i t deutet sich eine Funktion der Reflexion an, die mit der Idee der Vereinigung durchaus kompatibel ist (vgl. Dierken, Religion; Ringleben 434fr.). Diesem Kontext ist schließlich auch der Vernunftbegriff eingeordnet. Die Vernunft fällt nicht zusammen mit der entgegensetzenden Reflexion und schon gar nicht mit deren einseitiger Verabsolutierung in Gestalt des Verstandes, sondern sie „erkennt noch das Einseitige dieses Setzens" (Hegel, Jugendschriften N 311). Aufgabe der Philosophie ist es daher, „in allem Endlichen die Endlichkeit aufzuzeigen, und durch Vernunft die Vervollständigung desselben zu fordern" (ebd. N 348). Damit erwächst der Religion in gewisser Weise eine Rivalin, denn „auch diese Tätigkeit der Vernunft ist eine Erhebung zum Unendlichen". Dennoch handelt es sich nicht um ein echtes Konkurrenzverhältnis, weil die Anstrengung der Vernunft letztlich unerfüllt bleibt. Sie führt nur auf ein „Sein des Unendlichen als ein Sein durch Reflexion" (ebd. N 348). Religion verkörpert für Hegel zu dieser Zeit noch den höchsten Standpunkt bewußten Lebens, weil nur sie „Reflexion und Liebe vereint" (ebd. N 302). Sie ist die paradigmatische Gestalt von Geist, sofern sich das unendliche Leben des Geistes realisiert als „die lebendige Einigkeit des Mannigfaltigen im Gegensatz gegen dasselbe als seine Gestalt" (ebd. N 347). F ü r die künftige Ausarbeitung des Vernunftbegriffs als spekulativer Vermittlungsstruktur sind diese Überlegungen deshalb wegweisend, weil hier erstmals die logische Struktur einer höchsten Vereinigung angedeutet wird. W a h r e Vereinigung darf nicht — mit Fichte zu reden — als Synthesis post factum konstruiert werden. Sie darf nicht v o m Endlichen und dessen Gegensätzen ausgehen, sondern „die Vereinigung ist der M a ß s t a b , an welchem die Vergleichung geschieht, an welchem die Entgegengesetzten, als solche, als Unbefriedigte erscheinen" (ebd. N 3 8 2 ) . Eine echte Synthesis von Endlichem und Unendlichem m u ß als „Verbindung der Verbindung und der NichtVerbindung" (ebd.

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N 348) gedacht werden. Damit ist bereits die Formel vorgebildet (vgl. Metzke 158), mit der Hegel dann ein Jahr später der Reflexionsphilosophie öffentlich entgegentritt, wenn er darlegt, das wahre Absolute müsse als „Identität der Identität und der Nichtidentität" (Hegel, Werke II, 96) gedacht werden. 1801 geht die Vereinigungsfunktion, die in den letzten Partien der Jugendmanuskripte der Liebesreligion zukam, über auf das absolute Wissen. Diesem Wechsel liegt ein Wandel im Vernunftverständnis zugrunde. Er ereignete sich im Gefolge von Hegels Übersiedlung nach -»Jena und der dortigen Arbeitsgemeinschaft mit Schelling, dessen gerade konzipierte Identitätsphilosophie ihn nun in den Bann zog. Ansätze zur Neufassung des Vernunftbegriffs finden sich bereits in der programmatischen Selbstdarstellung, die 1801 unter dem Titel Differenz des Fichte'schert und Schelling'sehen Systems der Philosophie erschien. Kant und Fichte werden darin als Vertreter eines leeren Reflexionsstandpunkts kritisiert, von dem aus nie zu einer Erkenntnis des Absoluten zu gelangen sei. Demgegenüber erscheint Schellings spinozistischer Monismus als wegweisend. Doch werden auch leise Vorbehalte gegenüber Schelling erkennbar (vgl. Kimmerle; A. Arndt 161 f.). Weil die Reflexion das „Instrument des Philosophierens" darstellt, wodurch sie „als Vernunft" zum Tragen kommt, kann auf sie nicht völlig verzichtet werden. Hegel unterscheidet deshalb zwei Arten der Reflexion, eine „isolierte Reflexion" als das „Setzen Entgegengesetzter" und eine Reflexion „als Vernunft", der eine „Beziehung auf das Absolute" innewohnt (Hegel, Werke II, 25f.). Die Differenzierung zwischen einer für sich allein tätigen und einer mit dem Vereinigungsprinzip geeinten Reflexion entspricht noch dem Konzept der Jugendmanuskripte, sticht hingegen dadurch von ihm ab, daß nun die Vernunft das Medium der positiven Beziehung zum Absoluten verkörpert. „Nur insofern die Reflexion Beziehung aufs Absolute hat, ist sie Vernunft" (ebd. 30). Wegen dieses möglichen Bezugs erweist sich das Verhältnis der Vernunft zum Verstand als ambivalent. „Einmal erhebt sie den Verstand über ihn selbst, treibt ihn zu einem Ganzen nach seiner Art". Indem sie solchermaßen „den Verstand grenzenlos macht", befördert sie ihn durch diese „geheime Wirksamkeit" allerdings zugleich umgekehrt in den „Untergang". Die „Reflexion vernichtet insofern sich selbst" (ebd. 26). Ähnlich konnte auch der mittlere und späte Fichte von einer Selbstvernichtung des Begriffs sprechen. Anders als bei Fichte gelangt das Erkennen für Hegel damit jedoch nicht an sein Ende, sondern jenes Scheitern dient in Wahrheit nur der Inthronisation einer höheren Erkenntnisart. „Indem die Vernunft dies erkennt, hat sie den Verstand selbst aufgehoben". Die von der Vernunft vollbrachte höhere Vereinigung der „Negationen" (ebd. 27) des Verstandes ist allerdings nicht mehr begrifflicher, sondern vorprädikativer Art. Sie ist — und damit dokumentiert sich Hegel als überzeugter Schellingianer - das Resultat der intellektuellen Anschauung des Absoluten. „In der transzendentalen Anschauung ist alle Entgegensetzung aufgehoben". Die so gewonnene „Identität der Reflexion und der Anschauung" bezeichnet Hegel als „spekulative^] Wissen" (ebd. 43). Die ihm zugrunde liegende Synthese läßt sich streng genommen nicht konstruieren, denn die Notwendigkeit des Vollzugs der intellektuellen Anschauung hat lediglich den Status eines Postulats. Sie ist „das von der Vernunft Postulierte . . . zur Vervollständigung der Einseitigkeit des Werks der Reflexion" (ebd. 44). Immerhin fungiert nun das Spekulative als maßgebliche Vereinigungsinstanz.

Das Programm der Aufhebung des Verstandes durch die Vernunft entsprang freilich nicht allein erkenntnistheoretischen Fragestellungen, sondern auch zeitdiagnostischen, geschichtsphilosophischen und sozialtheoretischen Überlegungen. „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie" (ebd. 22). Die Problemskizzen und Systementwürfe der Folgezeit sind darum von dem Interesse bestimmt, eine strukturelle Form von Vermittlung zu eruieren, die geeignet war, allen Feldern der Philosophie, Logik, Metaphysik, Naturphilosophie und Geistphilosophie als Grundlage zu dienen (vgl. Haering II, 67ff.; Pöggeler, Idee llOff.; Düsing, Problem 75ff.; Baum/Meist; Jaeschke, Reflexion; Baum). Mit dem bloßen Postulat eines höheren Vereinigungspunktes in Gestalt der intellektuellen Anschauung war jene Aufgabe nicht mehr zu meistern. Vorrangig galt es, im Verhältnis der Vernunft zum Verstand selbst ein Vermittlungsmoment aufzudecken, und zwar ein solches, das der entgegensetzenden Kraft der Reflexion eine positive Seite abzugewinnen vermochte. Hegel bezeichnete dieses Moment später als Negation der Negation (vgl. Bonsiepen; Henrich, Formen).

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Die ersten Spuren dieser Denkfigur finden sich in der 1802 erschienenen Abhandlung Glauben und Wissen (vgl. A. Arndt 163). Sie ist Hegel anhand der Kritik von Kants Antinomienlehre aufgegangen (vgl. Hegel, Werke II, 320). In der Vernunftidee des Absoluten sind „Endliches und Unendliches eins" (ebd. 301). Durch die so verfaßte „absolute Identität" der Vernunft, im Unterschied zur „relativen Identität des Verstandes" (ebd. 317), wird die Endlichkeit nicht zur Gänze aufgehoben, es wird vielmehr „nur das, was an ihr Negation ist, negiert", damit aber wird zugleich „die wahre Affirmation gesetzt" (ebd. 301). Die vernunfttheoretische Durchführung dieser doppelten Negation erblickt Hegel im spekulativen Charakter des Vernunftschlusses. Dieses Modell, demzufolge das „Vernünftige" in der Synthesis des logischen Schließens zu suchen sei, weil hier die „absolute Identität als Mittelbegriff" (ebd. 307) fungiere, so daß „das Dritte das wahrhaft Erste" (ebd. 293) darstelle, bleibt für Hegels gesamte fernere Auffassung des Vernunftschlusses maßgebend (vgl. Theunissen, Lehre 308ff.). Dies hatte allerdings zugleich den Nebeneffekt, daß das Verhältnis der Vernunft zu den formalen Qualitäten des Logischen zu einem Dauerproblem seiner Philosophie wurde. Die vielfältigen Bemühungen der Jenenser J a h r e münden ein in die 1 8 0 7 erschienene Phänomenologie des Geistes. Deren epochaler R a n g wird auch dadurch nicht geschmälert, d a ß sich ihre Stellung innerhalb des Systems im Nachhinein nicht unwesentlich verschoben hat (vgl. Fulda, Problem). Die erst nach Abschluß der Gesamtniederschrift angefertigte Vorrede bietet zugleich den tiefsten Einblick in die systematische Reichweite des spekulativen Vernunftbegriffs. D a s Wesen der Vernunft ist „Vermittlung", ein „ A n derswerden, das z u r ü c k g e n o m m e n werden m u ß " . Hegel bezeichnet sie deshalb auch als „sich bewegende Sichselbstgleichheit" (Hegel, Werke III, 2 5 ) . Durch jene zwiefache N e g a t i o n stellt sich der Ausgang des Denkens wieder her, aber nicht mehr in seiner anfänglichen Unmittelbarkeit und Abstraktheit, sondern als das „in sich zurückgegangene G a n z e " (ebd. 19) bzw. als „ K o n k r e t e s " (ebd. 33). Vermittlung als Lebensvollzug der Vernunft ist das „reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein" (ebd. 29). Die der Vernunft eigentümliche „Reflexion in sich selbst" (ebd. 25) ist erst dann hinreichend zur Darstellung gebracht, wenn sie als „Reflexion im Anderssein in sich selbst" (ebd. 23) bestimmt wird. Vermöge dieser spekulativen Grundstruktur ist die Vernunft dann auch befähigt, ihre dialektische Systemfunktion wahrzunehmen und „in der Gestalt des streitend und sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige M o m e n t e zu e r k e n n e n " (ebd. 12). Es ist daher - wie Hegel kritisch hinzufügt - ein „Verkennen der Vernunft, wenn die Reflexion aus dem W a h r e n ausgeschlossen und nicht als positives M o m e n t des Absoluten erfaßt w i r d " (ebd. 2 5 ) . D e r Bruch mit der auf intellektuelle Anschauung gegründeten Identitätsphilosophie, für die Hegel zunächst große Sympathien aufbrachte, ist damit besiegelt. Die Vorrede gleicht streckenweise einer öffentlichen Hinrichtung Schellings. Den umfassendsten Reflexionshorizont bildet das sich wissende Z u - s i c h - K o m m e n des Geistes. Denn darin ist nicht nur die „ S u b s t a n z " zum „ S u b j e k t " geworden (ebd. III, 5 3 ) , das Absolute in sein Für-sich-Sein übergegangen, sondern dieser Sachverhalt wird von dem zum Subjekt gewordenen Absoluten auch selber gewußt. Geist in seiner Vollendung ist „für sich selbst für s i c h " (ebd. 28). Eine ähnliche Reduplikationsstruktur von Reflexivität hatte bereits der mittlere Fichte für das Selbstverhältnis des absoluten Wissens namhaft gemacht (vgl. U. Barth, Christologie 325f.). Das Besondere an Hegels Auffassung liegt darin, daß jenes Für-Sich des Für-sich-Seins nur als Resultat der vollständigen Entwicklung des Geistes möglich ist. Hiermit grenzt er sich gegen die Grundsatzphilosophie K.L. Reinholds und des frühen Fichte ab. Für das Theorieprogramm der Phänomenologie (vgl. Pöggeler, Komposition; Fulda, Materialien) bedeutet dies, daß die Erscheinung des Geistes, dessen Auftreten an die Form des Bewußtseins gebunden ist (vgl. Cramer, Bemerkungen), erst im Durchgang durch die Fülle seiner Gestalten eine seiner absoluten Vermittlungsstruktur angemessene Wissensform erlangt. Mit Erreichen des Ziels ist die Philosophie instand gesetzt, sich fortan im Medium des reinen Gedankens zu bewegen. Die Nachzeichnung dieser Bewegung überschreitet dann allerdings den Horizont der Phänomenologie, sie fällt in den Bereich der Wissenschaft der Logik (vgl. Henrich, Hegel [1971] 73 ff.95ff.; Rohs; Fulda, Dialektik). Letztere beschreibt also nicht mehr eine Abfolge von Bewußtseinsgestalten, sondern entwickelt ein genetisches System sämtlicher Gedankenformen oder Kategorien, deren

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Vernunft II

innere Abfolge sich nach dem Kriterium ihrer Eignung als mögliches Prädikat des Absoluten bemißt (vgl. R.-E. Schulz). Strukturell betrachtet arbeiten indes beide Systembereiche mit derselben Figur einer stetigen Anreicherung von Bestimmtheit. F ü r die Fassung des Vernunftbegriffs ist zweierlei festzuhalten. W a s zunächst die logische Grundlegung anbelangt, so haben jene Gedankenformen nicht wie bei Kant den Status von Verstandeskategorien, sondern es handelt sich vielmehr um Vernunftkategorien. Dies ist Hegels stärkster E i n w a n d gegen eine Durchführung der Subjektivitätstheorie in Gestalt der —• Transzendentalphilosophie. Wenn das System der Vernunftkategorien sodann die Naturphilosophie und die gesamte Geistphilosophie fundieren soll, so können sie diese Funktion nur erfüllen, wenn sie ihren O r t oberhalb des Gegensatzes von N a t u r und Geist, subjektivem und objektivem Geist haben und als reine F o r m e n möglicher Bestimmtheit fungieren. Gleichwohl k o m m e n sie in den Bestimmungen der N a t u r - und Geistsphäre direkt zur Anwendung. Beides zusammen besagt, d a ß die spekulative Vernunft sowohl als reale wie als ideale Logosstruktur zur Erscheinung gelangt. Dies ist gleichsam die Hegeische Variante des Identitätssystems. In jenem formalen Rahmen hat Hegel auch das Verhältnis von Vernunft und Verstand einer nochmaligen Bestimmung unterzogen. Die prägnantesten Ausführungen dazu (vgl. Nuzzo) finden sich in den Einleitungsparagraphen zur kleinen Logik der Enzyklopädie3 (§ 7 9 - 8 2 ; vgl. auch Rechtsphilosophie § 5 - 7 ) . Hegel unterscheidet drei Seiten „jedes Logisch-Reellen". Die erste Seite ist „die abstrakte oder verständige", die zweite „die dialektische oder negativ-vernünftige", die dritte „die spekulative oder positiv-vernünftige" (Hegel, Werke VIII, 168). Das erste Moment (§ 80) deckt sich weitgehend mit dem, was Hegel seit den Jugendmanuskripten als das endliche Wesen der Reflexion bestimmt hat. Das zweite Moment (§81), das dialektische, steht für das „eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Ubergehen in ihre entgegengesetzten". Hegel legt allen Nachdruck darauf, daß „das Endliche nicht bloß von außen her beschränkt wird, sondern durch seine eigene Natur sich aufhebt und durch sich selbst in sein Gegenteil übergeht" (ebd. VIII, 172f.). Das dritte Moment (§82), das spekulative, „faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative, das in ihrer Auflösung und in ihrem Übergehen enthalten ist" (ebd. VIII, 176). Das Spekulative ist somit dasjenige, welches „jene Gegensätze, bei denen der Verstand stehenbleibt (somit auch den des Subjektiven und Objektiven) als aufgehoben in sich enthält und eben damit sich als konkret und als Totalität erweist" (ebd. VIII, 178). Insbesondere der Aufweis des dritten Moments ist es, den sich Hegel als seine ureigenste Entdeckung zuschreibt, während Fichtes Grundsatzgefüge nur bis zum zweiten Moment gelangt sei (vgl. ebd. VII, 52f.55). Mit der Unterscheidung zwischen Negativ-Vernünftigem und Positiv-Vernünftigem ist die Aufklärung der über den Verstand hinausweisenden Dimension der Reflexion zu ihrem Abschluß gelangt. Die Vernunft ist „negativ", weil sie die fixen Bestimmungen des Verstandes wieder verflüssigt, sie ist „positiv", weil sie „ein Allgemeines" erzeugt, „das in sich konkret ist" (ebd. V, 16). Alle drei Reflexionsmomente zusammen bilden eine innere Einheit, die sich der Struktur des Geistes verdankt oder vielmehr deren Wesen ausmacht: „in ihrer Wahrheit ist die Vernunft Geist, der höher als beides, verständige Vernunft oder vernünftiger Verstand ist" (ebd. 17). Hegels vielzitiertes Diktum von der Aufhebung des Verstandes in die Vernunft w ä r e völlig mißverstanden, wollte m a n darin das Uberspringen empirischer oder formaler Rationalität erblicken. Vielmehr wird damit nur auf den Begriff gebracht, was auch der alltäglichen Erfahrung geläufig ist. Die Wirklichkeit ist zugegebenermaßen kompliziert, d a r u m ist hinreichende Differenzierung vonnöten. Die Wirklichkeit ist aber nicht nur kompliziert, sondern sie ist auch k o m p l e x . D a h e r bedarf es zugleich der Verschränkung jener Unterscheidungen. Der dabei in R e c h n u n g zu stellende Verweisungszusamm e n h a n g kann nun nicht kleiner sein als der G r a d möglicher Differenzierung. Vielmehr m u ß er - wie dieser - als prinzipiell ins Unendliche offen gedacht werden. D e r positive Begriff der Vernunft steht somit für die logische Struktur der durchgängigen Vernetzung sämtlicher Abstraktionshinsichten des Verstandes. E r entspringt einem holistischen Wirklichkeits- und Wissensverständnis, demzufolge das W a h r e i m m e r das Ganze ist. 3. Die Depotenzierung

der absoluten

Vernunft

in der

Moderne

Schelling suchte innerhalb der idealistischen E p o c h e eine antiidealistische Kehre einzuleiten, indem er das Andere der Vernunft als deren Prinzip reklamierte. Dieses Andere

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Vernunft II

war für ihn das reine Sein in seiner unvordenklichen Faktizität. Hinsichtlich der grundsätzlichen Infragestellung der Absolutheit der Vernunft befindet sich das nachidealistische Zeitalter mit Schelling im Einklang. Statt des reinen Seins werden jedoch andere, konkretere Relativierungsinstanzen benannt: Sprache, Geschichte, Evolution, Wissenschaft, Gesellschaft, Pluralismus, Kommunikation. So bietet die Moderne ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten, die Funktion der Vernunft in kontingente Bezugssysteme einzubinden. 3.1. Die sprachliche

Vernunft

Schon J . G . - » H a m a n n und -»Herder hatten an Kants Philosophie bemängelt, daß diese dem Medium -»Sprache zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe. Beide sind der Auffassung, daß die Selbstkritik der Vernunft ganz andere Ergebnisse gezeitigt hätte, wenn die konstitutive Funktion der Sprache für den Vollzug des Denkens hinreichend beachtet worden wäre. Beide verstehen ihre sprachphilosophische Opposition gegen den transzendentalen Kritizismus als „Metakritik" (Hamann III, 281; Herder, Metakritik 18). Einen Schritt weiter geht W. von -»Humboldt, indem er die cartesianischen Prämissen des rein bewußtseinstheoretischen Vernunftbegriffs problematisiert. Im geschichtlichen Prozeß der Sprachentwicklung sind Geistiges und Körperliches durchweg ineinander verwoben. Infolge der Eingebundenheit des Individuums in eine konkrete Sprachgemeinschaft ist jeder Vernunftakt von vornherein durch deren historisch gewachsene Weltsicht bestimmt. Humboldt stimmt mit Herder darin überein, daß es schon aus rein sprachmorphologischen Gründen keine kulturinvariante Gestalt der Vernunft geben kann (zu Fichtes Sprachdenken vgl. T R E l l , 1 6 9 f . ; zur Sprachlichkeit der Vernunft vgl. F.D.E. —»Schleiermachers Hermeneutik und Dialektik). Ernst Cassirer (1874—1945) nimmt diese Einsicht auf und zieht symboltheoretische Konsequenzen. -»Mythos, Kunst und Sprache verkörpern - mit steigender symbolischer Ideation - die drei Grundarten der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Sämtliche Deutungsleistungen der Vernunft vollziehen sich in kulturell vermittelten sinnlichen Repräsentationsformen. „Die Kritik der Vernunft wird damit zur Kritik der Kultur" (Cassirer I, 11). Besteht bei Cassirer noch eine innere Verbindung zwischen symbolischer Repräsentation und Geisttätigkeit, so fällt diese Beziehung in der reinen -»Semiotik - Ch. S. -»Peirce nimmt eine gewisse Mittelstellung ein (vgl. von Kempski) — ganz weg. Bei Charles Morris (1901-1979) kommen kognitive Instanzen nur noch auf der Ebene der Pragmatik, nämlich als Zeichenbenutzer vor. Der späte L. -»Wittgenstein und die von ihm ab den 1930er Jahren begründete ältere Schule der Ordinary-language-Philosophy erklären das Verstehen sprachlicher Ausdrücke aus der durch Einübung erworbenen Fähigkeit ihres Gebrauchs. Sinnzusammenhänge existieren in Sprachspielen, Rationalität ist im Kern Sprachkompetenz. Aus völlig anderen Motiven, aber mit ähnlichem Ergebnis wird der traditionelle Vernunftbegriff von der fundamentalontologischen Hermeneutik verabschiedet. M. -»Heidegger, der in Sein und Zeit die Welt- und Selbstauslegung des Daseins auf eine in der praktischen Einstellung gegebene Seinserschlossenheit zurückführt, rückt mit der Wendung zum Spätwerk die Sprache in das Zentrum der Seinsentbergung. Beide Formen des Sich-Ereignens von Wahrheit werden polemisch gegen die Seinsvergessenheit und Rechenhaftigkeit der neuzeitlichen Subjektivität aufgeboten. Hans-Georg Gadamer übernimmt in Wahrheit und Methode sowohl den transzendentalontologischen Verstehensbegriff wie die offenbarungslogische Fassung des Sprachereignisses. Die Sprache ist nicht nur universaler Deutungshorizont des Denkens, sondern darüber hinaus auch Subjekt ihres eigenen Uberlieferungsprozesses. 3.2. Die geschichtliche

Vernunft

Wie die Sprachabhängigkeit hatte Herder auch die Geschichtlichkeit der Vernunft betont, die sie immer in der Spannung von Universalität und Individualität auftreten läßt. In der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1774) und in den Ideen (1784ff.) wird dargelegt, daß sich die menschliche Vernunft nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur entwickelt, die sie aber zugleich mit hervorbringt. Diese Wechselwirkung ist für Herder Ausdruck eines metaphysischen Dynamismus, der sich gleichermaßen aus Spinozas All-Einheitsdenken und Leibniz' Theorie der lebendigen

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Kräfte nährt. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte schon Giovanni Battista Vico ( 1 6 6 8 - 1 7 4 4 ) das für die Moderne richtungsweisende Verständnis von Geschichte entfaltet, demzufolge das Gestalten und Verstehen von Geschichte sich wechselseitig bedingen. Wie kein anderer betonte dann Hegel die Geschichtlichkeit der Vernunft (vgl. Hegel, Werke X I I , 19ff.) und unterwarf darum den Gesamtverlauf der Weltgeschichte spekulativen Prinzipien.

Obwohl die Geschichtsschreibung des 19. Jh. die geschichtsphilosophische Konstruktion weitgehend verbannte, zeigte sich, daß das Verstehen von Geschichte nicht ohne strukturelle Annahmen über die soziokulturelle Wirklichkeit auskommt. In diesem Sinne hat Johann Gustav Droysen (1808—1884) seine Historik (1857) konzipiert (vgl. Rüsen). Demselben Ziel dient auch Wilhelm —»Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften (vgl. Lessing), worin die klassische Hermeneutik mit der Tradition der philosophischen Ethik zusammengeführt werden soll. Dilthey versteht die von ihm entworfene allgemeine Theorie der Geisteswissenschaften als eine „Kritik der historischen Vernunft". Deren Aufgabe besteht in der Prüfung „des Vermögens des Menschen, sich selber und die von ihm geschaffene Gesellschaft und Geschichte zu erkennen" (Dilthey, Einleitung 116). Heinrich Rickert ( 1 8 6 3 - 1 9 3 6 ; Rickert, Grenzen; vgl. Kuttig 199ff.; U. Barth, Christologie 204ff.) und E. -»Troeltsch (Historismus; vgl. Graf/Ruddies 141 ff.; U. Barth, Troeltsch 87ff.) haben indes gezeigt, daß der logische Gegensatz von induktiver Stoffbearbeitung und normativer Wertbeurteilung, hypothetischer Faktenrekonstruktion und kulturtheoretischer Einordnung auch durch eine selbstkritisch gewendete historische Vernunft nicht überbrückt werden kann. In einer weiteren Form ist die geschichtliche Bedingtheit der Vernunft sodann von der antibürgerlichen Ideologiekritik aufgewiesen worden. Für den von K. - » M a r x begründeten historischen Materialismus bilden sämtliche Formen des höheren Geisteslebens bloße Uberbauphänomene sozioökonomischer Konfliktkonstellationen (vgl. Tomberg; Einführung in die Gesellschaftstheorie 19ff.). Die moderne Wissenssoziologie hat die Einsicht, daß Erkenntnisprozesse immer auch unter sozialen Einflußkräften stehen, übernommen, jedoch von dem revolutionären Begleitprogramm abgekoppelt. Karl Mannheim spricht statt von Basis/Uberbau im Interesse einer wertfreien Ideologieforschung darum lieber von der „Seinsgebundenheit des Denkens" (Mannheim 73). In wiederum anderer Form wurde die Geschichtlichkeit der Vernunft schließlich in der ethnologischen Kulturanthropologie thematisch. Hier geht es um die methodische wie inhaltliche Frage, inwieweit die gesamte Interkulturalitätsforschung westlicher Provenienz von europäischen Rationalitätsstandards geleitet ist (vgl. Winch, Idea; ders., Understanding; Geertz 289ff.; Berg/Fuchs).

3.3. Die evolutionäre

Vernunft

Erkenntnistheoretische Konsequenzen aus -»Darwins Evolutionsmodell und Ernst Haeckels ( 1 8 3 4 - 1 9 1 9 ) biogenetischem Grundgesetz werden erstmals vom amerikanischen Pragmatismus (Ch.S. Peirce; W. -»James; John Dewey [1859-1952]) gezogen. Vernunft ist das Mittel des Menschen, im biologischen Überlebenskampf als Art erfolgreich zu bestehen. Letztes Kriterium für die Gültigkeit theoretischer Annahmen ist deren praktischer Nutzen. Neue Gesichtspunkte machte die -»Verhaltensforschung geltend. Konrad Lorenz (1903-1989) interpretiert die geistigen Kognitionsleistungen im Schema der Umweltanpassung (Lorenz, Lehre; vgl. U. Barth, Gehirn 105ff.). Aus diesen Wurzeln (vgl. Lorenz, Rückseite) erwuchs innerhalb der Lorenz-Schule eine evolutionäre Erkenntnistheorie als selbständige Disziplin (vgl. Vollmer; Riedl; Wuketits). Ihr offensiv vorgetragener Anspruch, durch den Aufweis der „stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft" (Riedl) alle bisherigen Vernunft-Begriffe relativiert zu haben, hat zu einer scharfen Kontroverse insbesondere mit den Verfechtern transzendentaler Begründungsmodelle geführt (vgl. Spaemann/Koslowski/Löw; Lütterfelds; Hammacher/Schottky/ Schräder; Pöltner). Im Zentrum der Diskussion steht die Triftigkeit der Unterscheidung von Genesis und Geltung. 3.4. Die szientifische

Vernunft

Als Vermittlung zwischen Letztbegründungsdenken und Erfahrungswissen hat sich der Neukantianismus (-»Kant/Neukantianismus) etabliert. Er hat den durch den mo-

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Vernunft II

dernen Positivismus eingeleiteten Primat der Fachwissenschaften uneingeschränkt anerkannt und verstand sich als grundlagenorientierte Metadisziplin derselben. Ihm zufolge fußt die Gesetzlichkeit von Mathematik und Naturwissenschaften in apriorischen Erzeugungsstrukturen des „reinen Denkens" (vgl. Cohen; Natorp). Logik und Kulturwissenschaften hingegen ruhen auf apriorischen Werten (vgl. Windelband, Präludien; Rickert, Gegenstand). Letzteres besagt, daß durch das „Vernunftreich der Werte" und deren unbedingte Anerkennung „eine übergreifende Vernunftordnung zur Herrschaft gelangt" (Windelband, Einleitung 254.394). Sowohl die Marburger wie die südwestdeutsche Schule des Neukantianismus war von der Überzeugung getragen, daß empirische Rationalität und apriorische Vernunft sich keineswegs wechselseitig ausschließen müssen.

Diese Harmonie erlischt indes mit dem Aufkommen des logischen Positivismus der Wiener Schule. Der Physikalismus bildet das neue philosophische Leitbild. Metaphysik wird unter generellen Sinnlosigkeitsverdacht gestellt. Auch wenn sich zentrale erkenntnistheoretische Prämissen dieses Ansatzes (Basissätze, strikter Induktionismus) recht bald als fragwürdig herausstellten, wurde das dahinterstehende Wissenschaftsideal davon kaum betroffen. Die Physik mit ihrem Verfahren der deduktiv-nomologischen Erklärung (vgl. Popper; Hempel) bildet den Maßstab rational kontrollierbarer Wissenschaftlichkeit. Mathematisch-experimentelle Rationalität wird zum Inbegriff szientifischer Vernunft — oder traditioneller formuliert: die Logik der Vernunft geht auf in der Funktion des Verstandes. Besonderen Einfluß im Bereich der Universitätsphilosophie vermochte dieser szientifische Vernunftbegriff schließlich dadurch zu gewinnen, daß er als allgemeine Wissenschaftstheorie (vgl. Stegmüller) den Rang eines akademischen Lehrfachs erhielt. Auch die Geisteswissenschaften mußten vor dem Gerichtshof des „kritischen Rationalism u s " antreten (vgl. Albert; vgl. T R E 28,128ff.).

3.5. Die sozioökonomische

Vernunft

In seinem Einfluß auf das Rationalitätsverständnis des 20. Jh. kaum zu überschätzen ist das Werk M. ->Webers (vgl. Käsler). Die innere Vielschichtigkeit dieser Kategorie machte sie weit über den fach wissenschaftlichen Rahmen der Soziologie hinaus zu einem Schlüsselbegriff der gedanklichen Selbstverständigung der Moderne (vgl. Schluchter). Nach anfänglichen Sympathien für Rickerts werttheoretische Kulturauffassung geht Weber ab 1906 zunehmend zu einem handlungstheoretischen Verständnis der historischen Sozialwissenschaft über, in der Wertbezogenheit nur noch als Unterfall sozialen Sinns auftaucht (vgl. Weber, GAufs. zur Wissenschaftslehre). In dieser neuen Gesamtkonzeption sind mindestens acht Bedeutungskomponenten des Rationalitätsbegriffs enthalten. Zunächst werden mehrere Typen von Handlungsorientierung unterschieden: affektives, traditionales, zweckrationales und wertrationales Handeln. Rationalität in seiner elementarsten Bedeutung ist also ein Moment der Handlungssphäre, exemplarisch verkörpert in den beiden Gestalten der Zweckrationalität (Mittelkalkulation) und der Wertrationalität (Überzeugungsmotivation). Jenen allgemeinen Handlungsbegriff macht Weber sodann zur Grundlage der Analyse verschiedener Handlungsgenera, insbesondere solcher, die sich durch außergewöhnliche Komplexität und soziale Relevanz auszeichnen, also an vorrangiger Stelle wirtschaftliches und herrschaftliches Handeln (vgl. Weber, Wirtschaft). Im Zentrum steht die Frage, wie sich Zweckrationalität in jenen beiden Feldern näher ausformt. Als Maximum formaler Rationalität erscheinen innerhalb der Wirtschaftssoziologie die reine Erwerbswirtschaft (Kapitalismus), innerhalb der Herrschaftssoziologie die konsequente Durchführung legaler Herrschaft (Bürokratie). Der Begriff Rationalität steht auf dieser Ebene also für die spezifische Funktionslogik sozialer Teilsysteme. Von hier ergibt sich auch der vierte Aspekt. Gesellschaft ist für Weber keine statische Größe, sondern weist eine strukturelle Entwicklung auf, die vor allem durch die innere Dynamik der verschiedenen Sozialsphären bestimmt ist. Das Stichwort dafür lautet Eigengesetzlichkeit. Alle Bereiche tendieren dahin, die ihnen zugrunde liegenden Wirkmechanismen immer konsequenter auszubilden. Gesamtgesellschaftliche Rationalisierung meint den Inbegriff derjenigen Transformationsprozesse, die aus der Steigerung der Funktionslogik der verschiedenen Teilsysteme resultieren.

Bereits bei der Einführung jener verschiedenen Formen von Handlungsorientierung fällt auf, daß Weber die religiöse Ethik nicht etwa als eine irrationale Größe einstuft,

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s o n d e r n als eine Gestalt von W e r t r a t i o n a l i t ä t , die in unterschiedlichem M a ß e mit t r a ditionalen E l e m e n t e n d u r c h s e t z t ist. Religion ist für W e b e r ein entscheidender F a k t o r im P r o z e ß der Rationalisierung der Sozialwelt (vgl. Drehsen). U n t e r diesem Blickwinkel steht R a t i o n a l i t ä t für das M a ß der O r g a n i s a t i o n der Sinn- und W e r t g r u n d l a g e n einer Gesellschaft. Für Weber zeichnet sich nun speziell die biblische Religion durch ein besonders hohes Rationalisierungspotential aus. Zwei Phasen ihrer Entwicklung stehen dabei im Vordergrund, zum einen die Entstehung des Monotheismus in der alttestamentlich-jüdischen Religion, zum anderen die Ausbildung der mentalen Grundlagen kapitalistischen Wirtschaftens durch den puritanischen Protestantismus. Die epochale Bedeutung des ersten Vorgangs besteht in der Überwindung des mythischen und magischen Naturverständnisses. Nach dieser Seite besagt der Begriff Rationalisierung soviel wie Entzauberung der Welt. Die Bedeutung des zweiten Vorgangs liegt in der Heraufkunft eines anfänglich noch religiös motivierten, dann aber von solchen Begründungsmustern abgelösten ökonomischen Verhaltens, das ganz der Eigenlogik erwerbswirtschaftlicher Betriebsführung hingegeben ist (vgl. U. Barth, Aspekte). Dieses Ereignis wird nun nach Weber begleitet von einer fortschreitenden Bürokratisierung institutioneller Organisationsformen. Die Uberlagerung beider letztgenannten Prozesse führt zu einer völlig neuen Gestalt der Sozialbeziehungen (vgl. Peukert). Rationalisierung in diesem Sinne bedeutet Versachlichung und Depersonalisierung der Lebensführung. Alle sieben Aspekte werden schließlich zu einer universalgeschichtlichen Gesamtperspektive verbunden (vgl. Weber, GAufs. zur Religionssoziologie I-III), die dem Vergleich der Weltkulturen und Hochreligionen als kritischer Leitgesichtspunkt dient (vgl. U. Barth, Darstellung). Auf dieser Ebene steht der Begriff der Rationalisierung für den Prozeß okzidentaler Modernisierung insgesamt. Eine grundlegende Infragestellung nicht nur der ö k o n o m i s c h e n R a t i o n a l i t ä t , sondern der neuzeitlichen Vernunft ü b e r h a u p t ging v o n der Dialektik der Aufklärung (1947) aus. Im Z u g e der A u f r e c h n u n g der inneren Folgelasten der A u f k l ä r u n g gelangen M a x H o r k h e i m e r ( 1 8 9 5 - 1 9 7 3 ) und T h e o d o r W. A d o r n o ( 1 9 0 3 - 1 9 6 9 ) zu einer T o t a l a b r e c h nung mit der M o d e r n e . D e r e n K r i s e n p h ä n o m e n e w e r d e n z u m Beleg für die repressiven A u s w i r k u n g e n einer rein instrumentellen, ausschließlich d e m Z w e c k der N a t u r b e h e r r schung dienenden Vernunft. D e m g e g e n ü b e r erscheint die N a t u r als F l u c h t p u n k t religiös heimatlos g e w o r d e n e r Erlösungshoffnungen. Dieser Vernunftbegriff w u r d e aber n o c h innerhalb der F r a n k f u r t e r Schule (Jürgen H a b e r m a s ) als U n t e r b e s t i m m u n g z u r ü c k g e wiesen und konstruktiv angereichert. Vor diesem Hintergrund entsteht in den 60er/70er Jahren eine breite sozialwissenschaftliche Debatte über die Struktur sozialer Modernisierungsprozesse (vgl. Flora; Zapf, Theorie [1975]; ders., Theorien [1979]; Wehler). Sie kehrt wenig später insbesondere im Hinblick auf die sog. Dritte Welt wieder. Es wird kritisch moniert, daß die rationale Organisation von Gesellschaften nicht gleichgesetzt werden darf mit kultureller Verwestlichung (vgl. Zapf, Modernisierung; Beck/Giddens/Lash). Heute stellt sich ökonomische Rationalisierung vorwiegend als Marktglobalisierung und Verdrängungswettbewerb dar. 3.6.

Die pluralistische

Vernunft

Die A n n a h m e einer pluralistischen Verfaßtheit der Vernunft bildet die zentrale T h e s e der Philosophie d e r - » P o s t m o d e r n e (vgl. Welsch, Vernunft [ 1 9 9 6 ] 165ff.). Sie selbst versteht sich als u n m i t t e l b a r e W e i t e r f ü h r u n g v o n H e i d e g g e r s D e s t r u k t i o n der neuzeitlichen Subjektivität und der Kulturkritik des m o d e r n e n -»-Strukturalismus. D e r Sache n a c h liegen aber a u c h enge B e r ü h r u n g e n m i t der Dialektik

der Aufklärung

v o r , und z w a r

hinsichtlich der g e m e i n s a m e n Ü b e r z e u g u n g v o m U n t e r d r ü c k u n g s c h a r a k t e r neuzeitlicher Vernunft. Im Unterschied zu Horkheimers und Adornos Idealisierung einer von allen Zwängen befreiten Natur geht es den französischen Denkern der Postmoderne aber nicht um eine Überwindung, sondern um eine Neubestimmung der Vernunft. Deren Herrschaftscharakter basiere auf der disziplinierenden Macht des Allgemeinen und dem Totalitarismus des Einheitsgedankens. Dagegen wird nun eingewandt, daß jede Hervorbringung von Allgemeinheit und Einheit notwendig auf deren Gegensatz rückbezogen sei und darin ihr dialektisches Gegenmoment besitze. Solange dieses nicht als solches begriffen werde, hafte der Vernunft selbst ein irrationaler Charakter an. Darum

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Vernunft II

gelte es, das Andere (Foucault, Wahnsinn; ders., Überwachen), die Differenz (Derrida, Schrift; ders., Grammatologie; Deleuze, Differenz), das Heterogene (Lyotard, Widerstreit; ders., Grabmal) als solches zu thematisieren. Erst dann verliere die einseitige Betonung des Einheits- und Allgemeinheitsgedankens ihren repressiven Charakter. Wird aber in diesem Sinne das Andere, Differente, Heterogene als Voraussetzung der Vernunft mitgedacht und in deren Begriff einbezogen, dann zerfällt diese unweigerlich in eine Vielheit divergierender Symbolisierungssysteme. Der pluralistische Charakter der Vernunft ist somit nurmehr Ausdruck ihrer immanenten Negativität. Dieser pluralistische A n s a t z f a n d Unterstützung aus der neueren Wissenschaftstheorie ( - • W i s s e n s c h a f t / W i s s e n s c h a f t s t h e o r i e ) . D e r e n W e n d e zur W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e erschütterte grundlegende G e w i ß h e i t e n des kritischen R a t i o n a l i s m u s Popperscher Prägung. T h . S. Kuhn (Struktur) konnte zeigen, daß der tatsächliche Entwicklungsverlauf der empirischen Wissenschaften, erstens, keinen logisch geordneten Prozeß stetig fortschreitender Rationalisierung darstellt, sondern durch fundamentale Abbrüche und Neuansätze gekennzeichnet ist. Diese epochalen Einschnitte verdanken sich, zweitens, nicht primär der Aufstellung neuer Theorien, sondern dem Auftauchen neuer Paradigmen. Die als repräsentativ erachteten Phänomenkonstellationen und Bezugsgrößen der Forschung verschieben sich und generieren ganz neue Fragestellungen, die ihrerseits dann in neue Erklärungsmodelle einmünden. Für die Pluralismusdebatte wurde Kuhns Entdeckung insofern folgenreich, als sich zeigte, daß es im Bereich der exakten Wissenschaften nicht nur eine Pluralität von Rationalitätstypen, sondern auch eine Pluralität von Rationalitätsparadigmen gibt, die letztlich inkommensurabel nebeneinander stehen. R. Rorty hat diesen Befund von anderer Seite verstärkt, indem er aus der Kontingenz unseres kognitiven Weltzugangs den skeptischen Schluß der völligen Inkommensurabilität kultureller Beschreibungssysteme gezogen hat. Schließlich ist n o c h auf den s e m a n t i s c h e n Interpretationismus der neueren analytischen P h i l o s o p h i e h i n z u w e i s e n . Er n i m m t seinen A u s g a n g v o n der Übersetzungstheorie Willard van O r m a n Q u i n e ' s u n d w u r d e weitergeführt v o n Hilary Putnam u n d D o n a l d D a v i d s o n . H i e r w i r d dargelegt, d a ß der intersprachliche Transfer v o n Bedeutungen eine grundlegende U n b e s t i m m t h e i t a u f w e i s t . D a s in einer Sprache G e m e i n t e läßt sich nur begrenzt in eine andere Sprache vermitteln. Vor allem im kategorialen Bereich zeigt sich die Partikularität und Kontingenz des eigenen Verstehens. Die ontologische Relativität der Sprache ist prinzipiell unhintergehbar. Die Wirklichkeit erschließt sich nur in einer Pluralität von Sprachwelten. Rationalität muß sich darum in der Form „interpretatorischer Vernunft" (Lenk) bewähren, wenn es nicht beim je eigenen Weltbild sein Bewenden haben soll. Hinsichtlich des sich dabei stellenden Kommensurabilitätsproblems sind Davidson und Putnam allerdings weit weniger pessimistisch als Rorty. Ihrer Auffassung nach gelingt es den Angehörigen verschiedener Sprachgemeinschaften in der Regel, über Referenz und Bedeutung wechselseitiges Einverständnis zu erzielen. Auch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht erweist sich die Vermittlung zwischen alternativen Theoriezugängen als unerläßlich. Die interpretative Vernunft fungiert somit als innere Gegenkraft zur pluralistischen Vernunft. 3.7. Die kommunikative

Vernunft

Unter f o r m a l e m A s p e k t betrachtet steht das M o d e l l der k o m m u n i k a t i v e n Vernunft auf der Grenze z w i s c h e n der U n i f o r m i t ä t der s z i e n t i f i s c h e n / ö k o n o m i s c h e n Vernunft und der H e t e r o g e n i t ä t der pluralistischen/geschichtlichen Vernunft. Sein prominenter A h n herr ist Plato. Es gelangte in der N e u z e i t erstmals w i e d e r bei Schleiermacher zur Geltung, u n d zwar im G e f o l g e seiner R e v i s i o n des d o g m a t i s c h e n Piatonverständnisses der metaphysischen Lehrtradition. Es bildet a u c h das g e h e i m e Z e n t r u m seiner systematischen B e m ü h u n g e n u m die H e r m e n e u t i k . In kritischer Abgrenzung gegen Kant und Fichte weist Schleiermacher darauf hin, daß der Begriff einer reinen Vernunft eine irreführende Fiktion darstellt. In Wahrheit tritt die humane Vernunft immer schon in der Differenz von gattungsmäßiger Allgemeinheit und individueller Besonderheit auf. Daraus folgt für ihn, daß jede Gestalt von Wissen, sei es theoretischer oder ethischer, formaler oder empirischer Art, allein auf dem Weg intersubjektiver Verständigungsprozesse erzeugt werden kann. Schleiermacher versteht die Dialektik, die oberste Formaldisziplin seines Systems, darum als eine Kunstlehre, welche die Grundsätze für eine kunstmäßige Gesprächsführung aufstellt, aus der dann gemeinsame Regeln der Erkenntnisproduktion hervorgehen sollen. Schleiermachers

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kommunikatives Vernunftmodell blieb zunächst ohne Resonanz. E. ->Husserl subsumierte es noch unter die Fehlentwicklungen der neueren Logik (vgl. Husserl 1, 29.40.47).

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. sind wieder ähnliche Programme formuliert worden. Der operative Ansatz der Erlangener Schule versteht sich als dialogisch-konstruktivistische Alternative zur üblichen Gestalt formaler Logik (vgl. Kamlah/Lorenzen). Karl-Otto Apels Theorie eines „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" (Apel II) überführt - unter Rückgriff auf die pragmatistische Einordnung der Semiotik durch Peirce- die herkömmliche Gestalt der Transzendentalphilosophie in eine transzendentale Sprachpragmatik. Beide Ansätze werden bei Jürgen Habermas miteinander verknüpft und unter Einbeziehung von John Austins Sprechakttheorie und Noam Chomskys Kompetenzbegriff zu einer universalen Diskurstheorie ausgebaut (vgl. Habermas, Bemerkungen; ders., Wahrheitstheorien). Im Unterschied zu Apel wird allerdings jede Gestalt philosophischer Letztbegründung, auch der transzendentale Idealismus, als „affirmative" (Habermas, Profile 29) Wirklichkeitsdeutung verworfen und mit offenbar gewollter Unscharfe als „fundamentalistisch" (Habermas, Theorie I, 9; II, 587) apostrophiert. Wichtiger jedoch ist, daß Habermas die Diskurstheorie von Anfang an mit einem an Hegel erinnernden Versöhnungsimpetus versieht, der das theoretische wie politische Pendant zu der an M a r x geschulten Konfliktdiagnose bilden soll. Von der „kommunikativen Vernunft" (ebd. I, 9) wird erwartet, daß sie die Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus zu lösen vermag (vgl. ders., Legitimationsprobleme 131 ff.) bzw. eine normative Antwort gibt auf die Frage, wie „komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden [können]" (ders., Gesellschaften 23ff.). Inhaltlich wird der gesamtgesellschaftliche Konsens im Umkreis dessen gesucht, was Kurt Sontheimer als Verfassungspatriotismus bezeichnet hat. Als wesentlich schwieriger erweist sich die Beschreibung der operationalen Bedingungen des gesuchten Konsenses. Die These, daß es „zur Struktur möglicher Rede [gehöre], daß wir im Vollzug der Sprechakte kontrafaktisch so tun, als sei die ideale Sprechsituation nicht bloß fiktiv, sondern wirklich" (Habermas, Wahrheitstheorien 258), setzt offenkundig bereits voraus, was allererst zu erklären wäre. Habermas' Gedanke des herrschaftsfreien Diskurses schwankt zwischen einer regulativen Idee und einem konstitutiven Prinzip (vgl. ders., Bemerkungen 140f.), ohne daß speziell für die Seite der Konstitution tatsächliche Argumente aufgeboten werden. Vermutlich ist dieses systematische Defizit kein Zufall, sondern Ausdruck der strukturellen Unmöglichkeit, individuelle Freiheit (des kommunikativen Verhaltens) in institutionelle Formen (des Diskurses) abzubilden (vgl. Rendtorff).

4. Ausblick Die Beschleunigung des gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesses in der Moderne hat auch vor dem Selbstverständnis der neuzeitlichen Vernunft nicht Halt gemacht. Der „Wandel des Vernunftbegriffs" (Poser) scheint eine neue Qualität angenommen zu haben. Gleichwohl wäre es kurzsichtig, von einem totalen Traditionsabbruch zu sprechen. 4.1. Angesichts der Tatsache, daß sich die Erklärungsanstrengungen der szientifischen Vernunft und die Orientierungsbedürfnisse der alltäglichen Handlungswelt immer stärker auseinanderleben, wurde schon vor geraumer Zeit eine „Rehabilitierung der praktischen Vernunft" (Riedel) angemahnt. Seither hat die Ethik als philosophische Disziplin einen gewaltigen Aufschwung erfahren. Eine Vielzahl von Spezialethiken ist entstanden, in denen Fachwissen und Normenreflexion sich eng durchdringen: Politische Ethik, Technikethik, Wirtschaftsethik, Medizinethik, Bioethik. Daneben erfuhr der Begriff der Handlungsrationalität eine formale Klärung: Vernünftig handelt, wer über gute Gründe für seine Entscheidungen verfügt. Doch auf beiden Feldern trieb die Erörterung über die Ausgangsproblematik hinaus. Die verschiedenen Bereichsethiken werfen schon innerhalb ihres eigenen Gebietes die Frage nach verbindlichen Maßstäben auf, deren Allgemeinheitsgrad den partikularer Konsensbildungen übersteigt. Und auch mit Bezug auf das Thema Handlungsrationalität hat sich gezeigt, daß der gemeinsame Besitz guter Gründe mehr besagt als lediglich das Pareto-Optimum der beteiligten Interessen. Beide Debatten haben das Thema „Universalisierung in der Ethik" (Wimmer; Singer; Hare)

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in den Vordergrund gerückt. D a m i t befinden wir uns aber u n m i t t e l b a r auf dem Boden der Fragestellungen der Kantischen Ethik. 4.2. Die E n t d e c k u n g der Sprachbedingtheit und Geschichtlichkeit der Vernunft hat den Blick d a f ü r geöffnet, d a ß Weltbilder in h o h e m M a ß e k u l t u r a b h ä n g i g sind und damit der Kontingenz der sie p r ä g e n d e n Symbolsysteme unterliegen. Die philosophische Beh a n d l u n g der Wissenschaftsgeschichte h a t zutage gefördert, d a ß T h e o r i e n nicht nur alternative Rationalitätstypen repräsentieren, s o n d e r n d a ß sie auch a n h a n d unterschiedlicher R a t i o n a l i t ä t s p a r a d i g m e n g e w o n n e n w e r d e n . In beiden Fällen wird die Frage der Übersetzbarkeit z u m K a r d i n a l p r o b l e m . Im interkulturellen Dialog entspringt sie der pragmatischen N o t w e n d i g k e i t von Verständigungsprozessen, im Falle des Theorienvergleichs der N o t w e n d i g k e i t von M o d e l l z u o r d n u n g e n als Folge der impliziten Voraussetzung, d a ß die miteinander verglichenen T h e o r i e n sich auf ein und dieselbe empirische Realität beziehen. Beide Fassungen des Übersetzungsproblems verweisen auf die tiefere A u f g a b e , „die eine Vernunft u n d die vielen R a t i o n a l i t ä t e n " (Apel/Kettner) so miteina n d e r ins Verhältnis zu setzen, d a ß dabei einerseits die übergreifende Intention der Vern u n f t zum Z u g e gelangt, o h n e d a ß andererseits die Verschiedenheit der Rationalitätsf o r m e n übersprungen w i r d . D a m i t sind wir in methodischer Hinsicht wieder bei Kants U n t e r o r d n u n g der M a n n i g f a l t i g k e i t möglicher Verstandesregeln unter die heuristische Einheit der V e r n u n f t angelangt. 4.3. Es ist k o n t r o v e r s , wie weit sich die strukturelle Differenz alternativer R a t i o n a litätsformen erstreckt, o b sie n u r die Ebene der Regelbildung betrifft o d e r o b sie auch deren kategoriale G r u n d l a g e n tangiert. N a c h der einen wie der anderen Auffassung aber erweist sich „ I n k o m m e n s u r a b i l i t ä t als P r o b l e m rationalen A r g u m e n t i e r e n s " (Lueken). D a m i t wiederholt sich eine ähnliche Situation, wie sie Hegels P r o g r a m m der A u f h e b u n g des Verstandes in die Vernunft z u g r u n d e lag. In beiden Fällen geht es u m die U b e r w i n d u n g a b s t r a k t e r Ausschlußverhältnisse d u r c h das Aufgebot übergreifender Perspektiven. Die regulative Einheit der Vernunft k a n n im Falle k o n t r ä r e r Rationalitätspotentiale diesen nicht äußerlich bleiben, s o n d e r n m u ß sich umsetzen in k o n k r e t e Vermittlungsleistungen. Solche Vermittlung w i r d heute allerdings nicht mehr mit d e m Endgültigkeitsgestus des Systems a u f t r e t e n k ö n n e n , s o n d e r n sich als unabschließbarer Prozeß der Übersetzung u n d Interpretation zu b e w ä h r e n h a b e n . Kompossibilität durch Übersetzung u n d Kohärenz im M e d i u m der Interpretation sind die beiden H a u p t f o r m e n , in denen die Tendenz der Vernunft auf Ü b e r e i n s t i m m u n g mit sich selbst empirische Gestalt gewinnt. 4.4. Den bislang weitreichendsten E n t w u r f in dieser R i c h t u n g h a t Wolfgang Welsch vorgelegt mit seinem Konzept einer „transversalen V e r n u n f t " . Deren A u f g a b e besteht in der Verflechtung u n d Vernetzung heterogener R a t i o n a l i t ä t s f o r m e n . Z u solchen Anschlußleistungen ist sie in der Lage a u f g r u n d ihrer spezifischen „ Ü b e r g a n g s f ä h i g k e i t " . Welsch betrachtet sein M o d e l l als eine den veränderten Bedingungen heutiger Theorielage angemessene W e i t e r f ü h r u n g v o n Kants Begriff der regulativen Vernunft. Doch mit dieser Selbsteinordnung sind unweigerlich einheitstheoretische N a c h f r a g e n h e r a u f b e s c h w o r e n , wie sie ähnlich schon Fichte gegenüber Kant vorbrachte. Welsch zeigt a n keiner Stelle, w o h e r die transversale Vernunft eigentlich ihre Übergangsfähigkeit bezieht. Dieser K o n s t i t u t i o n s z u s a m m e n h a n g läßt sich vermutlich n u r aus der Reflexionsstruktur erklären, die d e m D e n k e n als solchem zu eigen ist. Im selbstexplikativen Übergang von seiendem Wissen zu b e w u ß t e m Wissen w e r d e n nämlich nicht n u r Differenzierungsleistungen e r b r a c h t , s o n d e r n zugleich auch Einheitsperspektiven freigesetzt. Die Kompossibilität pluraler Interpretationswelten u n d deren wechselseitige Übersetzbarkeit erweisen sich somit als das P r o d u k t d e r im D u r c h g a n g d u r c h die Kohärenzintention der Reflexion ihre Einheit b e w ä h r e n d e n einen Vernunft.

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Anhang 1. Register 1.1. Bibelstellen 1.2. Namen/Orte/Sachen 2. Mitarbeiter 2.1. Autoren 2.2. Ubersetzer 2.3. Registerbearbeiter 3. Artikel- und Verweisstichwörter 4. Karte 5. Bildquellen 6. Corrigenda

1. Register 1.1.

Bibelstellen

(bearbeitet von Hannelore Hollstein) Es werden nur die Bibelstellen aufgeführt, zu denen sich im Text nähere Ausführungen finden. Zur Vororientierung wird zunächst der Artikel genannt, in dem die registrierte Bibelstelle vorkommt. Nach der Seitenangabe wird (durch Komma getrennt) in der Regel die Zeile genannt, in welcher eine Bibelstelle vorkommt bzw. ein Bibelzitat beginnt, in Einzelfällen die Zeile, in welcher Darlegungen über eine Bibelstelle einsetzen. 1 1-11

Tritojesaja Urgeschichte

1,1-2,3

Urgeschichte

1,14 1,28 1,28 1,31 2,2f. 2,4-4,26 2,5b.7 2,23 ff. 3,5 3,7 3,15 3,16 3,16-19 3,17-19 3,19.22.24 3,20 4,4 4,6ff. 4,7.13 4,llf.l4 4,17 4,20-22 4,22.23 f. 5,1-6,8 5,22 5,24 5,29 6,5-7 6,9-9,29

Urgeschichte Urgeschichte Verheißung Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Trauung Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Utopie Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Typologie Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Unsterblichkeit Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte

129,36 436,52; 437,3.29. 39; 441,17. 32.37; 443,36 437,24; 441,48; 442,46 442,37 443,1 702,5 441,53 442,38 437,25 439,23 51,7 439,36 439,35 439,25 439,27.40 474,13 439,24 439,30 439,43 211,46 439,48 439,35 439,49 439,51 439,52 439,54 437,26 442,21 381,25 440,1 440,21.37 437,26

6,11 f.13 6,12 6,13 7,11 8,11 9,1 9,1.7 9,2 9,3-6 9,8-17 9,13-16 9,20ff. 9,20-24 10,1-11,9 11,1-9

Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Typologie Verheißung Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Typologie Urgeschichte Urgeschichte

11,10-26 12,1 12,1-3

Urgeschichte Verheißung Verheißung

12,14a.6-8

Verheißung

12,2 f.

Verheißung

12,7 13,14-17

Verheißung Verheißung

14,18f. 15

Typologie Verheißung

15,2f. 15,4 15,7

Verheißung Verheißung Typologie

442,11 441,54 441,55 441,56 211,39 702,5 441,58 442,4 442,8 442,14 442,16 440,1 211,24 437,27 440,5.40; 441,8 437,27 700,38 699,31.46. 47.50; 702,31 699,12; 701,25; 702,26 699,25.37; 700,43; 708,43 699,32.34 699,13.32. 41.48; 701,23 211,26 699,11; 700,14; 701,37 699,24 700,31 219,14

770

Bibelstellen 15,16 15,17f. 17 17

Verheißung Verheißung Urgeschichte Verheißung

17,2.6 17,4.6 18 18,9-15 18,10-14 18,19

Verheißung Verheißung Verheißung Unterhaltung Verheißung Verheißung

19,30-38 20,3-7

Verheißung Traum

22 22,1-14

Typologie Verheißung

24,7 Verheißung 25,11 Trost 26,2-5.24 Verheißung

26,3.24 Verheißung 28,10Verheißung 13.1619.20-22 28,10-22 Traum 28,10-29 Traum 28,12-15 Traum 28,13f. Verheißung 28,15 Verheißung 31,10 31,10-13

Traum Traum

34,29.38 34,48 37,20 699,40.46 699,27; 701,37 34,4 34,5.45; 35,14; 37,20 219,12 34,36 143,50 34,9 8,29.45. 48; 9,11; 12,16 35,7 34,13

Traum Tyconius Traum Traum Typologie Trauer Verheißung Verheißung Typologie Typologie Urgeschichte Typologie Typologie Typologie Typologie Verheißung Trauer

34,15 205,37 38,24 34,49 213,40 9,11 712,45.47 702,13 218,12 218,14 442,42 221,42 221,44 219,14 217,20 698,26 8,37

Traum Traum

32,23 ff. Typologie 32,23 - 3 3 Traum 34,67 Trost 37,5-11 Traum 37,34 Trauer 37,41 40,8.16. 38 f. 41,8.24 41,25-32 41,32 46,1-5 49,9 50,10 6,2 6,4 12 14 16 16,18-30 16,33 f. 20,2 28,1-30 32,10 33,4

702,21 697,33 442,24 699,10; 702,1 702,4 702,6 699,10 397,43 701,13 697,29; 701,34 701,15 34,3; 35,13; 37,18 219,14 701,30; 711,46 701,44 146,13 699,14.39. 51; 700,38; 701,34 699,27.46 701,11

34,7 Lev

Num Dtn

Jos Jdc

39f. 4,20 10,6 17 17f. 19,18 19,25 19,27 19,28 26,4 f.9 f. 26,6 26,11 f. 26,40 12,6-8 6,5 13,1-6 14,1 f. 21,8 26,5-8 34,8 7,6 7,13 f. 14,5-8 16 16,1-3

16,4-30 I Sam 3 17,34-37 28 28,6 II Sam 1,12 l,19ff. 6 7,8-16 8,12-14 10,2f. 12,13 12,24 13,31ff. 19,2 20,2 I R e g 2,4 2,4 3,5-15 par. 18 II Reg 8,19 25,25 Jes 1,2 2,2-4 3,26 6 6-8 6,1.3 6,3 8,11.14 9,1-6 11,5 11,6-8 11,9

Vergebung der Sünden Urgeschichte Vergebung der Sünden Trauer Urgeschichte Urchristentum Urchristentum Verheißung Trauer Trauer Urgeschichte Urgeschichte Urgeschichte Verheißung Traum Trauer Traum Trauer Vergebung der Sünden Verheißung Trauer Trauer Traum Typologie Typologie Typologie Typologie Traum Typologie Unsterblichkeit Traum Trauer Trauer Unterhaltung Verheißung Typologie Trost Vergebung der Sünden Trost Trauer Trauer Treue Treue Verheißung Traum Unterhaltung Verheißung Trauer Tritojesaja Verheißung Trauer Trishagion Tritojesaja Tritojesaja Trishagion Tritojesaja Verheißung Treue Verheißung Verheißung

663,13 442,45 663,13 9,1 442,33 427,28 429,19 712,45 9,2.13 9,5 442,27 442,28 442,26 712,48 35,11.15 21,39 36,15 9,16 663,12.13 713,11 9,11 8,37 34,6 213,29 213,44 211,27; 213,31 211,23 34,50 213,27 381,16 35,18 9,7 9,8 398,8 698,27 214,16 143,46 663,12 144,1 8,36 8,32 57,28 57,27 697,31 34,47 398,9 697,30 13,18 129,38 698,49 8,38 122,42 128,3.6.7 127,51 122,49 127,50 698,43 57,29 698,56 698,51

771

Bibelstellen ll.llf. 11,13 14 19,8 19,19-25 24,23 25,8 29,8 29,18 30,23-25 32,12 40,1

Verheißung Verheißung Unsterblichkeit Trauer Verheißung Verheißung Verheißung Traum Verheißung Verheißung Trauer Trost

40,5 40,8 44,3 44,24-28 49,6 49,13 49,14ff. 49,18-21 51,12 52,9 56-59 56-66

Tritojesaja Verheißung Verheißung Verheißung Tritojesaja Trost Tritojesaja Verheißung Trost Trost Tritojesaja Tritojesaja

56,9-57,13 Tritojesaja 57,14-19 Tritojesaja 57,15-19 57,18 58-59 60

Tritojesaja Trost Tritojesaja Tritojesaja

60 60-61

Verheißung Tritojesaja

60-62

Tritojesaja

60,1

Tritojesaja

60,21 61

Verheißung Tritojesaja

61,2 61,2 62 62,1.2-5 62,6-7

Trost Tritojesaja Tritojesaja Tritojesaja Tritojesaja

62,10-12 Tritojesaja 63-66 Tritojesaja 63,1-6 Tritojesaja 63,7-64,11 Tritojesaja 63,10 Tritojesaja 63,17 Tritojesaja 65-66 Tritojesaja 65,1-7 Tritojesaja 65,4 Traum

698,35 698,42 381,16 8,28 698,30 698,46 698,55 35,7 698,54 698,50 9,4 144,24.38; 145,29 129,34 712,38 698,53 698,41 126,29 144,21 126,30 698,39 144,20 144,21 127,43 124,17.22. 27.32.37. 47; 125,21 128,12 127,44; 128,7.17. 23 128,2 144,22 128,22 125,45; 126,7.35. 47; 127,9. 13 698,47 127,11.18. 20.22.23 125,35.50; 127,42.44. 49; 128,1. 4.23.26. 44; 129,31 126,3; 127,25 698,38 126,42; 127,3 144,24 127,15 127,18 127,26 127,28; 129,11 127,32.36 128,39 128,42.49 128,48 129,1 129,18 129,20.36 129,21.23 35,1

Jer

Ez

Hos Joel

Am Mi

65,8-10 65,17-25 66,13 66,16.1824 6,26 9,16 16,7 16,7 23,25-32 24,9 31,19 31,31ff. 31,34 31,35-37 1 8,3 20,40 f. 24,17 24,17.23 6,3 13,14 1,8.13 2,13 2,15 3,1 3,lf. 5,16 8,8 8,10 1,8 3,5-7 7,19

Zeph 3,8 Sach 1,8 4,7 7,5 8,18f. 8,19 10,2 10,2 Ps 3,6 5 13 14,1 15,2-4 19(18),6 22,2 25,18 31,25 32,1 41,3 51,3.11 51,4 69,21 71,21 72 74

Verheißung Verheißung Trost Tritojesaja

698,30 698,56 144,22.40 129,31

Trauer Trauer Trauer Trost Traum Verheißung Trauer Typologie Vergebung der Sünden Verheißung Typologie Traum Verheißung Trauer Trauer Typologie Typologie Trauer Trauer Trauer Verheißung Traum Trauer Trauer Trauer Trauer Traum Vergebung der Sünden Typologie Traum Typologie Trauer Trauer Trauer Traum Trost Traum Trauer Trauer Undereyck Turfan- und Tun-huangTexte Typologie Trauer Vergebung der Sünden Verheißung Vergebung der Sünden Trishagion Vergebung der Sünden Vergebung der Sünden Trost Trost Verheißung Trauer

9,5 9,9 9,33 144,2 36,18 701,28 9,4 219,8 663,11 701,27 214,18 31,27 698,45 9,3 8,46 213,40 213,33 9,42 9,42 9,41 708,50 35,20 8,32 8,28 21,34 12,26 36,22 663,14 213,40 35,28 214,16 9,49 9,49 13,9 36,20 144,19 35,1 8,26; 9,8 25,51 270,25 201,47 214,8 26,15 663,11 712,41 663,15 122,43 663,15 663,15.16 144,29 144,29 707,18 8,26; 9,8

772

Hi

Prov Cant

Koh Thr

Est Dan

Bibelstellen 78(77),65 83 85(84),11 86,17 94,7-11 103,17 f. 119,50.52. 76.82 126,1 1,20 2,11-13 4,12-16 7,13f. 14,12 16,2 20,8 21,34 8,22-25 25,14 3 4,7 f. 6,11 8,10 3,9-21 5,2.6 8,1 1,2.9.16. 17.21 2 2,10 4,16 2 2,21 2,35 f. 3,31-4,34 5,ll£. 6,1-24 7,2 9 9,22.24 12,2

12,2 Esr 9,3 IV Esr 7,26 10,10 10,16 12,31-34 14,13 57,2 äth90,28-38 Hen Jub 17f. 44,3 I 10,24 Makk 12,9 II 7 Makk 7,9 9,22 15,11-16 5,22 IV Makk 17,11-15

Typologie Tritojesaja Typologie Trost Verheißung Treue Trost

213,39 129,12 214,13 144,30 706,35 57,25 144,31

Traum Trauer Trost Traum Traum Trauer Trost Traum Trost Trinität Verheißung Traum Typologie Typologie Typologie Unsterblichkeit Traum Traum Trost

36,34 9,1 144,6 35,12 35,5 21,19 144,7 36,33 144,8 95,28 697,20 35,9 214,3 214,17 211,21 386,42 36,27 35,53 144,18

Trauer

Verheißung Trauer Verheißung Trost Trost Verheißung Verheißung Verheißung Verheißung

8,26; 10,8.9 9,7; 12,23 13,19 35,34 410,22 205,17 35,34 35,45 211,37 35,39 712,37 35,41 383,16; 386,40 698,54 9,1 711,22 145,9 144,50 711,9 711,23 711,24 711,9

Verheißung Traum Verheißung

711,9 38,19 697,19

Trost Unsterblichkeit

145,27 383,33

Unsterblichkeit Unsterblichkeit Traum Unsterblichkeit

386,37 383,36 37,45 383,37

Unsterblichkeit

383,39

Trauer Trauer Traum Urban Tyconius Traum Traum Typologie Traum Verheißung Traum Unsterblichkeit

17,22 18,23 PsSal 17,21 ff. Sir 11,22-28 17,30 34(31), 1 - i 48,22-25 Weish 1,15 3,1 3,13 9,15 15,3 18,4 18,17-19 Mt 1,20 2,1-12 2,12 5,4

Mk

Lk

Unsterblichkeit Unsterblichkeit Verheißung Unsterblichkeit Unsterblichkeit Traum Tritojesaja Unsterblichkeit Unsterblichkeit Unsterblichkeit Unsterblichkeit Unsterblichkeit Unsterblichkeit Traum Traum Traum Traum Trauer

5,4 Trost 5,18f. Urchristentum 5,48 Utopie 6,9b-13 Vaterunser 6,10 Vaterunser 6,13b Vaterunser 9,35-10,42 Urchristentum 10,5 f. Urchristentum 11,25 Vaterunser 12,40 Typologie 12,42 Typologie 14,9 Trauer 19,4 ff. Trauung Valentin/ 19,17 Valentinianer Utopie 20,1-15 23,2 Undereyck 23,2f. Urchristentum 23,13-39 Urchristentum 23,23 Urchristentum Treue 24,45 25,22 Tyconius 25,35-40 Verheißung 26,37 Trauer 27,19 Traum Traum 27,53 Ubiquität 28 28,19 Trinität 28,20 Verheißung 4,3-20 Typologie par. 10,22 par. Trauer 10,39 Urchristentum Typologie 12,1-9 12,18 Unsterblichkeit 12,35-37 par. 13 par. 13,30 13,33 14,19 par. 16,10 2,25 2,38 6,25 7,31-34

383,40 383,41 711,9 386,35 383,23 36,28 125,47 383,31 383,26 383,25 383,24 383,28 383,30 38,1 40,22 40,27 40,23 15,36; 22,1 145,33 424,42 474,22 504,36 505,16 505,17 430,43 424,32 505,19 209,53 219,19 10,38 51,7 496,51 479,49 269,36 424,41 430,45 424,43 57,40 205,20 709,3 10,42 40,36 40,46 235,7 92,38 709,1 210,10

Typologie

10,40 413,11 210,11 383,50; 387,7 210,4

Unsterblichkeit Unsterblichkeit Unsterblichkeit Trauer Trauer Trost Trost Trauer Urchristentum

387,1 387,2 387,2 10,41 10,21.34 145,28 145,29 10,31 423,27;

773

Bibelstellen 10,29-37

Typologie

11,2-4 12,16-21 12,19-31 12,20 15,11-32

Vaterunser Unsterblichkeit Unsterblichkeit Traum Typologie

16,28 17,29-32 22,15-20 22,45 23,43 24,29 2 4 , 4 4 - 47 24,46 24,47 1,1.14

Traum Tyconius Vaterunser Trauer Unsterblichkeit Trauer Typologie Verheißung Urchristentum Trinität

1,14

Ubiquität

1,32 f. 1,51 3,14-16 3,16 4,5-42 4,20 5,28 f. 5,39 6,29 6,51-58 8,36 12,25 f. 14,16.26 15,26 16,6.20.22 16,26 20,19-23 21,24f. 1,8 2,14-41 2,17-21 4,8-12 6,1

Trinität Traum Typologie Typologie Urchristentum Ubiquität Unsterblichkeit Typologie Tyconius Urchristentum Trinität Unsterblichkeit Trinität Trinität Trauer Trinität Typologie Urchristentum Urchristentum Urchristentum Traum Urchristentum Urchristentum

6 , 1 - 7 , 6 0 Urchristentum 8,4-8 Urchristentum 8,5-40 Urchristentum 8,26-40 Urchristentum 9,1-31 Urchristentum Traum 9,10-16 Traum 9,22.26 9,26-31 Urchristentum 1 0 , 1 - 1 1 , 1 5 Urchristentum 11,25-30 11,27-30

Urchristentum Urchristentum

12,2 Urchristentum 12,9 Traum 13,1 - 1 4 , 2 8 Urchristentum 1 3 , 4 6 b - 4 7 Urchristentum 1 3 , 1 3 - 5 2 Urchristentum 14,22 Undereyck 1 4 , 4 4 - 4 8 Urchristentum

434,18 214,52; 215,1 504,25 387,4.29 387,5 41,2 214,52; 215,1 40,51 205,44 505,4 10,21 396,40 26,30 210,2 708,47 421,4.6 93,1; 94,50 224,50; 237,36 93,8 34,35 209,51 210,43 424,11 231,27 387,12 210,3 206,51 433,13 93,7 387,11 93,10 93,9 10,21.45 92,42 217,19 433,9 421,5.7 421,13 35,22 421,14 421,15; 424,6 424,1 421,17 424,7 421,18 415,14 41,4 41,8 415,40 421,20; 426,5.35 415,16 417,3.8.9. 11 413,8 41,10 415,17 421,8 421,22 269,21 425,27

15,1-5 15,1-29

Urchristentum Urchristentum

15,1-33 15,5

Urchristentum Urchristentum

15,5-21

Urchristentum

15,7-12 15,23-29 15,3518,22 16,9£. 17,19.10-15 17,28 18,2 18,9f. 18,11 18,12-17 18,20-22

Urchristentum Urchristentum Urchristentum

18,2321,26 19,8.10 20,1-6

Rom

Traum Urchristentum Unio mystica Urchristentum Traum Urchristentum Urchristentum Urchristentum Urchristentum Urchristentum Urchristentum

20,7-12 Unterhaltung 21,27Urchristentum 23,10 22,17-22 Traum 23,11Urchristentum 26,32 2 7 , 1 - 2 8 , 3 1 Urchristentum 1,16 f. Verheißung 1,20 Trinität 3,3 Treue 3,21 Verheißung Treue 3,26 4,13 f.20 Verheißung 4,23 f. Verheißung 5 Typologie 5,14 Typologie Typologie 5,15f. 5,21 Typologie 6,4 Verheißung 8,39 Ubiquität 9-11 Verheißung 9,2 Trauer 9,4 Verheißung Verheißung 9,6-16 10,9 Verheißung 10,17 Verheißung 11,26 Verheißung 11,36 Trinität Urchristentum 12,3-9 14,1 - 1 5 , 1 3 Urchristentum 14,2 14,8 f. 15,1 15,4

Urchristentum Unsterblichkeit Urchristentum Trost

424,52 421,23; 427,45 415,18 425,34; 426,36 416,27.28. 31.32.46; 417,5; 425,16 426,6 425,21 415,19 41,5.9 430,37 305,23 413,13 41,7 416,10.12 416,7 415,41; 417,3.14. 24 415,23 415,24 415,27.28. 29 398,11 415,30 41,8 415,31 415,32 706,2; 708,41 111,9 57,34 705,11 57,37 706,3.16 706,19 219,19 209,11 209,15 209,14 708,49 235,4 706,19 10,48 712,4 706,22 709,3 708,48 706,24 92,45 426,49 423,2.11; 427,38 423,7 389,39 423,9 145,27

Bibelstellen 15,14-29 15,14-32

Urchristentum Urchristentum

15,19.25.31 Urchristentum 16,5 Urchristentum Treue 1,9 4,10 Unterhaltung 5,2 Trauer 5,6-8 Typologie 8,1-6 8,1-11,1 9,6-10 10,1-13 10,3 £.

Urchristentum Urchristentum Typologie Typologie Typologie

10,6

Typologie

10,11 12,1-30 12,2

Typologie Urchristentum Urchristentum

12,3-6 12,26 13,12 13,13 15 15,3b-5 15,21 f. 15,28 15,35-49 15,50-58 15,53 f.

Trinität Verheißung Verheißung Tugend Unsterblichkeit Urchristentum Urchristentum Verheißung Unsterblichkeit Urchristentum Unsterblichkeit

16,5-7 16,8 16,12 1,3 ff. 1,17-2,11 3,3 3,6 3,7-11 3,13-16 3,17

Urchristentum Urchristentum Urchristentum Trost Urchristentum Typologie Trinität Typologie Typologie Trinität

5,1-4

Unsterblichkeit

5,17 5,19 7,6.13 7,8 ff.

Verheißung Trinität Trost Trauer

7,9 7,10

Trauer Trauer

10,l-13,10Urchristentum 11,24 Urchristentum 12,7 Traum 13,13 Trinität 1,6-9 Urchristentum 1,12.16 Urchristentum 1,13-17 Urchristentum 1,13-2,21 Urchristentum Urchristentum l,18f.

426,46 414,27; 415,8 423,48 423,7 57,31 398,12 10,33 209,50; 210,46 428,21.37 422,1 209,48 209,17 209,24; 219,20 209,21.40; 211,4 209,29 434,25 422,1; 430,28 92,37 708,49 708,46 186,7 387,18 429,42 419,44 709,4 387,20 429,40 383,55; 387,26 414,21 414,20 420,15 145,19 414,23 215,37 93,5 219,24 213,20 92,52; 93,5.6 383,55; 387,15 705,2 92,50 145,19 10,49; 11,4.5 11,2 15,12; 16,22 423,13 430,27 40,9 92,37 425,2 425,42; 427,6 421,39 414,11.31 414,34.39. 40.41.46.

1,21

Urchristentum

2,1 2,1-10

Urchristentum Urchristentum

2,3 2,3 f. 2,6-9 2,7-10 2,9

Urchristentum Urchristentum Urchristentum Urchristentum Urchristentum

2,11-21

Urchristentum

Verheißung Verheißung Turfan- und Tun-huangTexte 3,8 Verheißung 3,14-4,28 Verheißung 3,14 Verheißung 3,15-17 Verheißung Verheißung 3,16 Verheißung 3,18 3,23 Verheißung 3,26-28 Urchristentum 3,27 Trishagion 3,28 Urchristentum 3 f. 3,6 3,7-10

Eph Phil Kol I Thess

47 425,46; 427,11 425,49 414,15; 416,26.29. 30.47; 417,3.6.9. 24; 421,40; 424,45.49; 425,15 425,50 424,51 426,21 426,16 413,12; 420,25 422,11.39; 423,11 705,28.34 705,39 201,44 705,38 705,33 705,40 705,43 705,42 705,41 705,39 426,49 122,6 422,6; 423,32; 429,25 209,46 208,49; 209,9 425,2 427,2 186,3 705,2 206,37 706,24 208,50 93,17 208,42 224,52 208,51 428,21

4,21-5,1 4,24

Typologie Typologie

5,2-11 5,13-15 5,22 ff. 6,15 2,8-10 2,12 5,32 2,6-8 3,17 2,9 2,17 1,2-10

Urchristentum Urchristentum Tugend Verheißung Tyconius Verheißung Typologie Trinität Typologie Typologie Typologie Urchristentum

1,9 f.

Urchristentum

2,13-16 4,13

Urchristentum Urchristentum

4,13-18 4,13-18 2,16 f.

Unsterblichkeit Urchristentum Trost

421,47; 430,28 421,48 421,48; 429,38 387,19 429,39 145,22

Urchristentum Vaterunser Typologie Verheißung

434,21 505,19 219,25 706,33.35

II Thess I Tim 5,17 II Tim 4,18 Hebr 3 , 1 - 6 4,1

775

Namen/Orte/Sachen

1.2.

4,2 5,4 5,5 f. 8,5

Verheißung Typologie Typologie Typologie

9,9 9,24 10,1 10,23

Typologie Typologie Typologie Verheißung

11,1 11,11 13,14 4,9 2,19 3,20 f. 1,17

Verheißung Verheißung Trauer Trauer Trauer Typologie Urchristentum

706,38 217,24 210,5 208,51; 209,32 208,50 209,30.31 208,50.51 708,41; 709,2 708,41 708,43 26,35 10,23.35 11,7 209,33.40 433,12

I Joh 4,8 5,5 f. 5,7 Jud 8 Apk 2,24 5,5 11,8 18,7f.ll. 15.19 19,6 20,6 21,1 21,4 21,4 21,9

Trinität Urchristentum Unitarier Traum Urchristentum Typologie Typologie Trauer

102,16 433,13 332,15 41,14 427,39 214,42 208,50 209,25 10,35

Verheißung Tyconius Verheißung Trauer Trost Typologie

709,4 206,11 709,2 21,47 145,35 214,6

Namen/Orte!Sachen

(bearbeitet von David Trobisch) Das TRE-Register enthält alle Sachbegriffe, Personen- und Ortsnamen, zu denen sich an den angegebenen Stellen registrierwürdige Informationen finden. - Fettdruck von Registerwörtern und Seitenzahlen weisen auf einen eigenen Artikel hin. - Die Verweisung nennt zur Vororientierung durchgängig zuerst den Artikel, in dem das registrierte Wort vorkommt, danach Seite und Zeile. Mit f f . ist ein für das Registerwort relevanter längerer Zusammenhang gekennzeichnet. Auf systematische Zu- und Unterordnungen ist verzichtet; man findet daher systematische Unterbegriffe an ihrem alphabetischen Ort. - Sammelregistrierungen sind vorgenommen für Päpste-, Synoden; Universität. Die gesuchten Päpste, Synoden usw. findet man bei diesen Registerwörtern nach alphabetischer Ordnung. Abaelard, Petrus: Trinität 101,22; Tugend 186,44; Universalienstreit 342,18ff. 'Abdülhamld II.: Türkei 175,9; 177,47 'Abdülmecid: Türkei 177,25 Abendmahl: Vagantentum 494,12 Abraham bar Chijja: Trost 146,26 Abraham ben Meir Ibn Ezra: Traum 38,50 Absolute, Das: Vernunft 749,17 Acton, John: Ultramontanismus 253,20 Adalbero v. Luxemburg: Trier 76,7 Adorno, Theodor Wiesengrund: Unsterblichkeit 393,11; Vernunft 759,26 Adrianopel/Edirne: Türkei 172,49; Türkenkriege 182,32 Adventisten: Vereinigte Staaten v. Amerika 605,49 Ägypten: Trauer 4,23; Türkei 173,17 Äthiopien: Unionen 317,51 Ahlstrom, Sydney: Vereinigte Staaten v. Amerika 631,18 Aktion Sühnezeichen Friedensdienste: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 647,46 Albero v. Montreuil: Trier 76,38 Albert d.Gr.: Traum 38,41; 43,4; Trinität 103,6; Universalienstreit 343,33 Aleandro, Girolamo: Tridentinum 64,3 Aleppo: Unionen 316,2 Alexandrien: Valentin/Valentinianer 496,8 Alkuin: Unsterblichkeit 384,13 Allen, Richard: Vereinigte Staaten v. Amerika 607,23

Alt, Albrecht: Verheißung 700,8 Ambrosius v. Mailand: Trinität 97,1 American Bible Society: Vereinigte Staaten v. Amerika 612,47 American Unitarian Association: Vereinigte Staaten v. Amerika 609,52 Amphilochius v. Ikonium: Trinität 96,29 Anatolien: Türkei 171,38 Andreae, Jakob: Tübingen 160,8.15 Anglokatholizismus: Una-Sancta-Bewegung 266,3; Vereinigte Staaten v. Amerika 610,19 Anhalt: Unionen 324,32 Anna v. Österreich: Trappisten/Trappistinnen 1,40 Anscombe, Gertrude Elizabeth Margaret: Tugend 193,39 Anselm v. Canterbury: Trinität 100,49; Universalienstreit 341,40; Vergebung der Sünden 678,46 Antall, Jözsef: Ungarn 297,44 Anti-Slavery Society: Vereinigte Staaten v. Amerika 613,6 Antitrinitarier: Unitarier 332,28 Apel, Karl-Otto: Vernunft 761,6 Apian, Philipp: Tübingen 160,11 Apologetik: Vernunft 737,35 Aristoteles/Aristotelismus: Traum 31,8; Tugend 184,48; Unsterblichkeit 387,39.51 Arndt, Johann: Trauer 17,4; Undereyck 269,4; Unio mystica 304,32 Arnold v. Isenburg: Trier 77,20

778

Namen/Orte/Sachen

Epiphanius v. Salamis: Valentin/Valentinianer 495,27 Erasmus v. Rotterdam: Vaterunser 523,13 Erfahrung: Vernunft 741,27; 747,34; 750,31 Erkenntnis: Vernunft 740,7; 743,17ff. Ethik: Vernunft 740,45; 745,23; 761,42ff. Eton Codex: Typologie 213,13ff. Eugen v. Savoyen: Türkenkriege 183,9.14 Euhemeros: 466,15 f. Eustathius v. Antiochien: Trinität 95,43 Evagrius Ponticus: Traum 42,30 Evangelische Kirche in Deutschland: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 647,15; Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche 724,40 Fabri, Heinrich, Abt. v. Blaubeuren: Tübingen 158,15ff. Facio, Bartolomeo: Valla 501,27 Fairbairn, Patrick: Typologie 208,27; 216,29 Falk, Johannes: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 643,1 Fanon, Frantz: Vereinigte Staaten v. Amerika

626,1

Farrakhan, Louis: Vereinigte Staaten v. Amerika 631,9 Farsky, Karel: Trost 155,36 Febronius/Febronianismus: Unionen 320,39 Felici, Pericle: Vatikanum II 545,4 Ferdinand I., Kg. v. Böhmen u. Ungarn, Kaiser: Tridentinum 65,11; 69,40; Türkenkriege 182,2ff.; Ungarn 281,33; 285,9; Vergerio 691,8 Fezer, Karl: Tübingen 162,4 Fichte, Johann Gottlieb: Unsterblichkeit 390,22; Vernunft 745,50-748,29 Ficino, Marsilio: Tübingen 159,9 Filaret, Metropolit v. Kiew: Ukraine 249,33 Fillmore, Charles: Vereinigte Staaten v. Amerika 611,13 Fillmore, Myrtle: Vereinigte Staaten v. Amerika 611,13 Finney, Charles: Vereinigte Staaten v. Amerika 606,15; 608,40 Flacius Illyricus, Matthias: Typologie 215,46 Flatt, Johann Friedrich: Tübinger Schulen 166,26 Flatt, Karl Christian: Tübinger Schulen 166,28 Fliedner, Theodor: Uhlhorn 242,29 Florenz: Vermigli 726,46 Flusser, David: Vaterunser 512,41 Ford, Henry: Vereinigte Staaten v. Amerika 622,20 Francke, August Hermann: Unio mystica 305,40; Universität 364,18 Franklin, Benjamin: Vereinigte Staaten v. Amerika 601,3 Frankreich: Trappisten/Trappistinnen 1,7; Trauung 52,7; Unionen 322,9 Franz I., Kg. v. Frankreich: Tridentinum 63,4; 63,39ff.; Türkenkriege 182,20; Franz Joseph I., Kaiser: Ungarn 293,35 Französische Revolution: Trappisten/ Trappistinnen 1,47 Frazer, J a m e s George: Unsterblichkeit 382,3 Freiheit: Vernunft 745,14

Freud, Sigmund: Traum 31,40; 46,39; Vergebung der Sünden 679,50 Fridrichsen, Anton: Uppsala 407,34 Friedrich I. Barbarossa: Universität 355,1; Venedig 570,30 Friedrich III., Kaiser: Tübingen 158,24 Friedrich II., Kg. v. Württemberg: Tübingen 161,28 Friedrich I., Herzog v. Württemberg: Tübingen 164.27 Friedrich III., Kurfürst v. der Pfalz: Ursinus 446.28 Friedrich der Weise, Kurfürst v. Sachsen: Traum 44,13 Friedrich Wilhelm, Kurfürst v. Brandenburg: Undereyck 268,33 Friedrich Wilhelm III., Kg. v. Preußen: Unionen 326,9ff. Friedrich Wilhelm IV., Kg. v. Preußen: Unionen 326,34 Frings, Josef Kardinal: Vatikanum II 544,32; 545,10 Frischlin, Nikodemus: Tübingen 159,49 Fuchs, Leonhart: Tübingen 159,31 Gabler, Johann Philipp: Urchristentum 412,17 Gadamer, Hans-Georg: Vernunft 756,43 Galiläa: Urchristentum 424,8 Galizien: Ukraine 247,49 Geijer, Erik Gustav: Uppsala 406,35 Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben: Vernunft 751,34; 754,39 Genf (Stadt): Trinität 91,49 Gennadius: Tyconius 204,14 Genua: Valla 500,50 Georg II. Rakozy s. György Räkoczi II. Georg, Markgraf v. Brandenburg-Ansbach: Ungarn 284,24 Georg v. Podiebrad, Kg. v. Böhmen: Trost 154,6 George, David: Vereinigte Staaten v. Amerika 602,19 Gerhard, Johann: Typologie 215,47; Unio mystica 304,51; Vaterunser 522,34 Gerhoch v. Reichersberg: Trinität 101,52 Gersonidis: Traum 39,12 Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 647,46 Geza, Großfürst v. Ungarn: Ungarn 276,24 Gibbons, J a m e s : Vereinigte Staaten v. Amerika 614,40 Gilgamesch-Epos: Trauer 4,39 Gilleman, Gerard: Tugend 193,24 Gladden, Washington: Vereinigte Staaten v. Amerika 611,46 Gnosis/Gnostizismus: Valentin/Valentinianer 495,8 Görres, Joseph v.: Ultramontanismus 257,33 Goethe, Johann Wolfgang v.: Trier 84,42 Göttingen: Troeltsch 131,36; Uhlhorn 242,8 Gollwitzer, Helmut: Utopie 483,30 Goppelt, Leonhard: Typologie 217,29 Gothus, Laurentius Paulinus: Uppsala 404,22 Gott: Trinität 92,39ff.; Ubiquität 225,10ff.; Vernunft 737,39; 749,51 Gregor v. Nazianz: Trinität 96,28

Namen/Orte/Sachen Gregor v. Nyssa: Traum 41,50; Trinität 96,28 Gregor v. Tours: Venantius Fortunatus 566,16 Gregorios Palamas: Trinität 98,24 Griechenland: Trauer 5,24ff. Grimké, Francis: Vereinigte Staaten v. Amerika 617,6 Gropper, Johannes: Tridentinum 68,35 Grotius, Hugo: Tugend 189,30; Unionen 321,20ff.; Vaterunser 512,24 Grundsatz-Philosophie: Vernunft 746,38 Grynaeus, Simon: Tübingen 159,23 Guardini, Romano: Trauer 18,34 Guise, Charles: Tridentinum 71,5 Gunkel, Hermann: Urgeschichte 437,52 Gustafson, James: Tugend 194,45 Gustav II. Adolf, Kg. v. Schweden: Uppsala 404,33 György Rákoczi II., Fürst v. Siebenbürgen: Ungarn 289,29 Habermas, Jürgen: Vernunft 759,31; 761,9 Hackmann, Heinrich: Troeltsch 131,41 Haeckel, Ernst: Vernunft 757,35 Häring, Bernhard: Tugend 193,llff. Hafenreffer, Matthias: Tübingen 160,16 Hai Gaon: Traum 39,12 Hamann, Johann Georg: Vernunft 756,9 Handlungsrationalität: Vernunft 761,46 Harnack, Adolf v.: Typologie 217,31; Universität 369,11 Hauerwas, Stanley: Treue 61,42 Havel, Vaclav: Trost 154,48 Healy, Francis Patrick: Vereinigte Staaten v. Amerika 604,47 Healy, James Augustine: Vereinigte Staaten v. Amerika 604,48 Hecker, Isaac: Vereinigte Staaten v. Amerika 610.14 Hedwig Sophie, Landgräfin v. Hessen-Kassel: Undereyck 268,32 Heerbrand, Jacob: Tübingen 160,15 Hefele, Carl Josef: Vatikanum I 533,27 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich/ Hegelianismus: Trinität 113,12ff.; Tübingen 161,25; Vermittlungstheologie 730,43; Vernunft 751,17 - 7 5 5 , 5 2 Heidegger, Martin: Unsterblichkeit 393,26; Vernunft 756,38; 759,43 Heiler, Friedrich: Una-Sancta-Bewegung 266,49 Heim, Karl: Tübingen 163,48 Heinemann, Josef: Vaterunser 505,27 Heinrich II., Kaiser: Trier 76,7 Heinrich Fabri v. Blaubeuren: Tübingen 158.15 ff. Heinrich v. Finstingen: Trier 77,20 Heinroth, Oskar: Verhaltensforschung 695,24 Herakleon: Valentin/Valentinianer 495,24 Heraklit: Vernunft 737,29 Herberg, Will: Vereinigte Staaten v. Amerika 619,4 Herder, Johann Gottfried: Vatke 554,1; Vernunft 756,9.48 Heringa, Jodocus: Utrecht 486,51 Hermeneutik: Vernunft 756,38 Heß, Johannes: Ursinus 445,49 Hexen: Trier 81,48; 87,11

779

Heymericus de Campo: Universalienstreit 347,35 Hilgenfeld, Adolf: Tübinger Schulen 169,30 Hinduismus: Trauer 6,26 Hippolyt v. Rom: Valentin/Valentinianer 495,27 Hirscher, Johann Baptist: Tübinger Schulen 170,14 Hobbes, Thomas: Universalienstreit 350,42; Vernunft 741,19 Hodge, Charles: Vereinigte Staaten v. Amerika 607,1 Hölderlin, Friedrich: Tübingen 161,25; Vernunft 752,10 Hoffmann, Hermann: Tübingen 163,6 Hofmann, Johann Christian Konrad: Typologie 216,8 Hollaz, David: Unio mystica 305,19 Honecker, Martin: Utopie 482,22 Hoornbeek, Johannes: Utrecht 486,17 Hopkins, Samuel: Vereinigte Staaten v. Amerika 601,7 Horkheimer, M a x : Vernunft 759,25 Hrabanus Maurus: Unsterblichkeit 384,13 Hügel, Friedrich v.: Troeltsch 136,25 Humbert v. Silva Candida: Unionen 316,30 Humboldt, Wilhelm v.: Universität 368,3; Vernunft 756,15 Hume, David: Tugend 190,11; Unsterblichkeit 389,52; Vernunft 742,11 Hupfeld, Hermann: Urgeschichte 437,52 Husserl, Edmund: Universalienstreit 351,3; Vernunft 761,1 Hutcheson, Francis: Vernunft 742,25 Hutchinson, Anne: Vereinigte Staaten v. Amerika 598,29 Idealismus: Vernunft 745,31ff. Idee: Vernunft 741,44 Identität: Vernunft 753,3 Identitätsphilosophie: Vernunft 749,3; 754,35 Ihmels, Ludwig: Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands 584,7ff. Immanenz: Vernunft 749,51 Indien: Unionen 330,1; Unsterblichkeit 384,25 Investiturstreit: Urban II. 409,47 Ireland, John: Vereinigte Staaten v. Amerika 614,39 Irenäus v. Lyon: Trinität 94,33; Valentin/ Valentinianer 495,11; 497,41 Islam: Ursprungsmythen 456,1 Ismet lnönü: Türkei 178,45 Istanbul: Türkei 171,43 Istvän I., Kg. v. Ungarn: Ungarn 276,25 ff. Italien: Ursulinen 458,44 Jackson, Jesse: Vereinigte Staaten v. Amerika 630,31 Jackson, Joseph H.: Vereinigte Staaten v. Amerika 625,47 Jakob v. Eitz: Trier 81,37 Jambulos: Utopie 466,19 James, William: Vernunft 757,36 Janos Zapolya: Ungarn 281,35 Jansen, Cornelis/Jansenismus: Trappisten/ Trappistinnen 1,27 Japan: Unionen 330,42

780

Namen/Orte/Sachen

Jaricot, Pauline: Ultramontanismus 256,52 Jefferson, Thomas: Vereinigte Staaten v. Amerika 600,10 Jensen, Robert W.: Trinität 116,53ff. Jeremias, Joachim: Vaterunser 507,45 Jerusalem: Trauer 9,50; Traum 31,26; Trost 144.46 Jesus Christus: Treue 57,31; Trinität 92,39ff.; 94,18ff.; Typologie 209,12ff.; Ubiquität 228,16ff. Joachim v. Fiore: Trinität 101,53; Utopie 474,39 Johann I., Erzbischof: Trier 77,7 Johann II. v. Baden: Trier 86,24 Johann III. v. Metzenhausen: Trier 80,29 Johann IV. v. der Leyen: Trier 81,19 Johann v. Böhmen: Ungarn 279,41 Johann Philipp v. Schönborn: Unionen 320,6 Johannes v. Damaskus: Trishagion 123,15 Johannes v. Szapolyai: Ungarn 281,35 Johannesevangelium: Vernunft 748,24 Jones, Charles Colcock: Vereinigte Staaten v. Amerika 607,45 Jones, Charles Price: Vereinigte Staaten v. Amerika 609,12 Joseph II., Kaiser: Trost 154,15; 155,16; Ungarn 291,23 ff. Josephus Flavius: Unsterblichkeit 383,51 Jüngel, Eberhard: Vergebung der Sünden 680,39 Jung, Carl Gustav: Traum 31,45; 46,39 Justin der Märtyrer: Valentin/Valentinianer 497,30 Kabbala: Trauer 13,35 Kahler, Martin: Unio mystica 307,6 Kaftan, Julius: Troeltsch 132,37 Kahlenberg: Türkenkriege 183,3 Kanada: Vereinigte Staaten v. Amerika 595,35 Kant, Immanuel: Trauer 18,18; Tugend 190,41; Unsterblichkeit 390,13; Utopie 477,44; Vernunft 738,3; 7 4 2 , 3 4 - 7 4 5 , 2 8 . 3 7 ; 747,13; 750,48; 751,49; 753,12; 762,40 Kara Mustafa: Türkenkriege 183,1 Kardec, Allan: Umbanda 263,17 Karl I. Robert s. Karoly Robert Karl d.Gr., Kaiser: Trier 75,17; Ungarn 275,19 Karl III. (Karl IV., Kaiser): Ungarn 291,3 Karl V., Kaiser: Tridentinum 63,8ff.; Türkenkriege 181,30; 182,20 Karl I X . , Kg. v. Schweden: Uppsala 404,31; 405.47 Karl Eugen, Herzog v. Württemberg: Tübingen 161,17 Karlowitz: Türkei 177,9; Türkenkriege 183,10 Karoly Robert, Kg. v. Ungarn: Ungarn 279,37 Keane, John Joseph: Vereinigte Staaten v. Amerika 614,38 Kennedy, John E : Vereinigte Staaten v. Amerika 621,46 Kepler, Johannes: Traum 44,20 Kerullarios, Michael: Unionen 316,29 Kessler, Johannes: Vadian 489,40 Ketteier, Wilhelm Emanuel Freiherr v.: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 650,35 Kierkegaard, Seren Aabye: Trauer 18,34; Treue 58,40 Kiew: Ukraine 245,6

Kirche v. England: Vereinigte Staaten v. Amerika 596,32 Kis, Istvän Szegedi: Ungarn 287,8 Kittel, Gerhard: Tübingen 163,12 Kleinasien: Türkei 171,38 Koblenz: Trier 81,1 König, Johann Friedrich: Trinität 110,49 Köstlin, Karl Reinhold: Tübinger Schulen 169,5 Kolping, Adolph: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 650,10 Konrad III., Kg.: Trier 77,1 Konstantin d.Gr., Kaiser: Vatikan 529,32 Konstantin VII., byz. Kaiser: Ungarn 272,50 Konstantinopel: Trishagion 122,17; Türkei 171,43, Türkenkriege 181,10; Ungarn 276,9; Venedig 570,34 Kook, R . Abraham I.: Verheißung 713,30 Köper s. Capodistria Kostelnyk, Gavriil: Ukraine 248,7 Kottwitz, H. E. Freiherr v.: Vereinswesen/ Kirchliche Vereine 643,3 Kraus, Franz Xaver: Ultramontanismus 253,28 Kravcuk, Leonid: Ukraine 249,4 Kreuzzüge: Türkei 172,43; Urban II. 411,2 Kroatien: Unionen 315,1 Ku Klux Klan: Vereinigte Staaten v. Amerika 618,13 ff. Küfük Kaynarca: Türkei 175,6 Kuhn, Thomas S.: Vernunft 760,12 Kulturanthropologie: Vernunft 757,30 Kuno v. Falkenstein: Trier 78,21 Kurhessen: Unionen 325,13 Lampe, Friedrich Adolf: Utrecht 486,35 Lajos I., Nagy, Kg. v. Ungarn: Ungarn 279,37 Lange, Dietz: Utopie 482,37 Lateinamerika: Umbanda 263,9 La Trappe: Trappisten/Trappistinnen l,9ff.; 1,21 Laws, Curtis Lee: Vereinigte Staaten v. Amerika 618,11 Le Bouthillier, Armand-Jean: Trappisten/ Trappistinnen 1,15; 1,23 Lee, Ann: Vereinigte Staaten v. Amerika 601,19 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Universität 365,14; Vernunft 740,1 ff.; 756,54 Leipzig: Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands 583,29 Leopold I., Kaiser: Türkenkriege 182,47; Ungarn 289,23; Unionen 320,18 Libanon: Unionen 314,32 Liebe: Vernunft 752,13 Liele, George: Vereinigte Staaten v. Amerika 602,20 Lienart, Achille: Vatikanum II 545,10 Lightfoot, Joseph Barber: Vaterunser 513,15 Linden, Maria Gräfin v.: Tübingen 162,45 Lindsey, Theophilus: Unitarier 333,40 Litauen: Ukraine 245,15 Locke, John: Vereinigte Staaten v. Amerika 599,48; Vernunft 741,26; 743,3 Lodenstein, Jodocus van: Undereyck 268,17 Logstrup, Knud Ejler: Treue 61,32 Löhe, Wilhelm: Uhlhorn 242,30 Logik: Vernunft 761,5 Loos, Cornelius: Trier 87,10

Namen/Orte/Sachen Lorenz, Konrad: Verhaltensforschung 695,24; Vernunft 757,40 Lortz, Josef: Una-Sancta-Bewegung 266,40 Lothar v. Metternich: Trier 82,10 Lubac, Henri de: Typologie 218,7 Lücke, Friedrich: Uhlhorn 242,9; Vermittlungstheologie 730,20 Ludwig I. der Fromme, Kaiser: Trier 75,20 Ludwig v. Baden: Türkenkriege 183,7 Ludwig I. d.Gr. s. Lajos I., Nagy Ludwig, Herzog v. Württemberg: Tübingen 164,25 Lütcke, Karl-Heinrich: Trauung 52,28 Luther, Martin: Trauer 16,19; Traum 43,43; Trauung 51,38; Treue 58,20ff.; Tridentinum 63,5; Trier 80,13; Trinität 105,35ff.; Tugend 189,15; Typologie 215,26; Ubiquität 228,7ff.; Una-Sancta-Bewegung 266,39; Unsterblichkeit 389,9ff.; Unterhaltung 398,48; Vaterunser 520,31; Verantwortung 578,43; Vergebung der Sünden 687,3; Vergerio 691,21 Lyonnet, Stanislas: Vatikanum II 542,51 Maclntyre, Alasdair: Tugend 193,43 Macrobius: Traum 42,47 Madison, James: Vereinigte Staaten v. Amerika 600,11 Märklin, Christian: Tübinger Schulen 167,51; 168,25 Mailand: Ursulinen 458,44 Mainz: Trier 86,50; Unionen 320,5 Maistre, Joseph Marie de: Ultramontanismus 255,18 Malcolm X: Vereinigte Staaten v. Amerika 625,33 Manichäische Texte: Turfan- und Tun-huang-Texte 199,3 ff. Mannay, Charles: Trier 88,8 Mannheim, Karl: Utopie 480,35; Vernunft 757,27 Manning, Henry Edward: Ultramontanismus 259.33 Manzoni, Alessandro: Universalienstreit 350,49 Marburg (Stadt): Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands 584,44 Marcell v. Ancyra: Trinität 95,43 Marcion: Vaterunser 504,28; Vergebung der Sünden 678,43 Maria, Mutter Jesu: Trauer 14,52 Maria Theresia, Kaiserin: Ungarn 291,3 Marquardt, Friedrich-Wilhelm: Utopie 482,4; 483.34 Marrant, John: Vereinigte Staaten v. Amerika 602,23 Marsh, Herbert: Typologie 216,26 Martensen, Hans L.: Treue 59,18 Marx, Karl: Vernunft 757,22; 761,18 Masaryk, Tomas Garrigue: Trost 154,21 Mason, Charles Harrison: Vereinigte Staaten v. Amerika 609,12 Massarelli, Angelo: Tridentinum 65,14 Matthias I. Corvinus s. Matyas I. Corvinus Matyas I. Corvinus: Ungarn 280,4.15ff. Matyas Biro Devai: Ungarn 285,49

781

Max Emanuel, Kurfürst v. Bayern: Türkenkriege 183,7 Maximilian I., Kaiser: Türkenkriege 181,16 Maximilian II., Kaiser: Türkenkriege 182,30 McCarthy, Joseph: Vereinigte Staaten v. Amerika 621,42 Mechthild v. der Pfalz: Tübingen 158,8 Mehmed II. s. Mohammed II. Meilaender, Gilbert C.: Tugend 194,44 Meiser, Hans: Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands 585,3 ff. Mekka: Traum 31,26 Melanchthon, Philipp: Trauer 16,33; Traum 43,46; Tridentinum 68,27; Trinität 107,33ff.; Tübingen 159,10; Ubiquität 227,36ff.; 236,14; Ursinus 446,3 Melito v. Sardes: Typologie 210,25ff.; Valentin/Valentinianer 497,24 Mensch: Veda und Upanishaden 562,2ff. Mercier, Louis-Sébastien: Utopie 477,42 Merici, Angela: Ursulinen 458,26 Metaphysik: Vernunft 739,38 Methodisten: Vereinigte Staaten v. Amerika 601,33 Michelangelo Buonarroti: Vatikan 530,38 Miklôs, Imre: Ungarn 297,2 Mill Hill: Vereinigte Staaten v. Amerika 604,40 Mill, John Stuart: Utilitarismus 461,25 Miller, William: Vereinigte Staaten v. Amerika 605,45 Mills, Samuel J. Jr.: Vereinigte Staaten v. Amerika 615,52 Milton, John: Traum 44,29 Moares, Zéliot de: Umbanda 263,14 Modalkategorien: Vernunft 750,17 Moderne: Vernunft 756,5; 761,35 Möhler, Johann Adam: Tübinger Schulen 170,16 Mohammed II.: Türkei 173,4; Türkenkriege 181,19 Moibanus, Ambrosius: Ursinus 445,48 Moltmann, Jürgen: Trinität 116,52ff.; Vergebung der Sünden 680,32; Verheißung 709,38 Mommsen, Theodor: Tübinger Schulen 169,3; Universität 369,9 Monadenlehre: Vernunft 740,10 Monismus: Vernunft 753,14 Moody, Dwight D.: Vereinigte Staaten v. Amerika 632,18 Moore, George Edward: Utilitarismus 462,20 Moral Sense: Vernunft 742,26 Morelly, Abbé: Utopie 477,41 Mormonen: Vereinigte Staaten v. Amerika 605,35 Morone, Giovanni: Tridentinum 64,14; 71,12 Morris, Charles: Vernunft 756,31 Morse, Jedidiah: Unitarier 334,48 Morus, Thomas: Utopie 464,9ff.; 466,38ff.; 473,26; 475,20; 479,30 Mose ben Maimon: Traum 38,31; Trost 146,31 Mott, John R.: Vereinigte Staaten v. Amerika 615,27 Müller, Heinrich: Undereyck 269,4 Müntzer, Thomas: Traum 43,44

782

Namen/Orte/Sachen

Muhammad, Elijah: Vereinigte Staaten v. Amerika 630,55 Murray, John Courtney: Vereinigte Staaten v. Amerika 621,51 Musculus, Andreas: Ubiquität 238,43 Mustafa, Kemal: Türkei 178,23 ff. Mythos: Ursprungsmythen 450,21; Veda und Upanishaden 559,2 Nagy Lajos I.: Ungarn 279,37 Napoleon I. Bonaparte: Ultramontanismus 256,14; Ursulinen 458,46 Nassau: Unionen 325,23 Nation of Islam: Vereinigte Staaten v. Amerika 630,55 National Fraternal Council of Negro Churches: Vereinigte Staaten v. Amerika 624,14 Natur: Vernunft 759,29 Naturphilosophie: Vernunft 748,38 Nestorius: Trishagion 121,16 Neukantianismus: Vernunft 757,52 Nevin, John Williamson: Vereinigte Staaten v. Amerika 610,22 New York: Union Theological Seminary 309,3; Vereinigte Staaten v. Amerika 595,44; 630,1 Newman, John Henry: Ultramontanismus 259,40 Nicolai, Philipp: Unio mystica 303,47 Niebuhr, Helmut Richard: Vereinigte Staaten v. Amerika 610,41; 619,33 Niebuhr, Reinhold: Vereinigte Staaten v. Amerika 619,32 Niederlande: Utrecht 485,28 Nietzsche, Friedrich: Traum 44,43; Vaterunser 525,13; Vergebung der Sünden 679,50 Niklas v. Wyle: Traum 43,39 Nikolaus v. Hontheim: Unionen 320,39 Nikolaus v. Kues (Nicolaus de Cusa, Nicolaus Cusanus): Trier 86,21; 88,19; Trinität 101,42 Nissim Ibn Shahin: Trost 146,22 Nordamerika: Unionen 329,29 Nova Domo, Johannes de: Universalienstreit 347,35 Nürnberg: Tridentinum 63,19 O'Connell, Daniel: Ultramontanismus 260,2 O'Connor, John: Vereinigte Staaten v. Amerika 630,2 Ockham, Wilhelm v.: Universalienstreit 346,3 ff. Odo v. Chatillon: Urban II. 409,3 Oetinger, Friedrich Christoph: Unio mystica 306,11 Offenbarung: Vernunft 738,5 Olah, Miklos: Ungarn 285,9 Olearius, Gottfried: Vaterunser 523,9 Olevian, Kaspar: Trier 80,41; 86,46; Ursinus 446,26 Ontologie: Vernunft 750,32 Oosterzee, Jacobus van: Utrecht 487,15 Opfer: Veda und Upanishaden 557,51; 560,27ff. Origenes: Traum 41,49; Trinität 94,34; Typologie 211,16; Unsterblichkeit 384,3 Orthodox Church of America: Vereinigte Staaten v. Amerika 622,51 Orthodoxe Kirchen: Vereinigte Staaten v. Amerika 623,23

Osiander d . J . , Lukas: Tübingen 160,20; Ubiquität 239,8 Osman I.: Türkei 172,29 Osnabrück: Uhlhorn 242,7 Ottaviani, Alfredo Kardinal: Vatikanum II 542,10; 551,9 Otto I. d.Gr., Kaiser: Trier 75,32; Ungarn 276,2.11 Otto II., Kaiser: Ungarn 276,18 Otto III., Kaiser: Ungarn 276,49 Owen, Robert: Utopie 470,50 Päpste Alexander III.: Venedig 569,32; 570,30 Clemens VII.: Ungarn 283,11; Tridentinum 63,28 Eugen IV.: Valla 501,3 Gregor I. d.Gr.: Trauer 15,28; Tugend 186,27 Gregor VII.: Ultramontanismus 254,13; Urban II. 409,8 Gregor XIII.: Ursulinen 458,43 Gregor X V I . : Ultramontanismus 256,16; 260,18; Vatikanum I 532,23 Hadrian VI.: Tridentinum 63,28 Innocenz III.: Vatikan 529,51 Innocenz IV.: Vatikan 530,3 Johannes X X I I I . : Vatikanum II 541,8ff. Johannes Paul II.: Vatikanum II 547,39 Julius II.: Tridentinum 62,48; Vatikan 530,32; Venedig 572,9 Julius III.: Tridentinum 68,14 Leo IV.: Vatikan 529,46 Leo X . : Tridentinum 63,4 Leo XIII.: Trappisten/Trappistinnen 2,19; Vereinigte Staaten v. Amerika 614,42 Nikolaus III.: Vatikan 530,7 Nikolaus V.: Trier 86,18; Valla 501,36 Martin V.: Ungarn 279,52 Paul III.: Tridentinum 63,37; 65,47; Ursulinen 458,35; Vergerio 691,12; Vermigli 727,15 Paul V.: Venedig 572,40 Paul VI.: Vatikanum II 542,51; 546,7ff. Pius IV.: Tridentinum 69,39; 72,21 Pius V.: Tridentinum 72,28 Pius VII.: Venedig 573,10 Pius I X . : Ultramontanismus 256,17.20; 259,26; 260,18; Utrecht 485,48; Vatikanum I 532,32; 533,18; 536,16ff.35ff.50ff.; 537,22 Pius XI.: Vatikan 530,46; Vereinigte Staaten v. Amerika 621,26 Pius XII.: Vatikanum II 541,23 Sixtus IV.: Trier 86,28; Tübingen 158,6.14; Ungarn 280,4; Uppsala 403,27; Vatikan 530,27 Sixtus V.: Tridentinum 72,31 Urban II.: 4 0 9 - 4 1 1 Palmer, Phoebe: Vereinigte Staaten v. Amerika 608,40 Pannenberg, Wolfhart: Trinität 117,49ff. Pantheismus: Vernunft 747,45 Parker, Theodore: Unitarier 334,6 Parmenian v. Karthago: Tyconius 203,42 Parmenides: Vernunft 737,29 Particiaco, Giustiniano: Venedig 569,50 Päsmany, Peter: Ungarn 288,28ff.

Namen/Orte/Sachen Passarowitz: Türkei 177,9; Türkenkriege 183,15 Pauck, Wilhelm: Union Theological Seminary 310,5 Paulinus I., Patriarch v. Aquileia: Venedig 569,25 Paulus, Apostel: Traum 40,7; Treue 57,32; Tugend 186,1 Paulus, Heinrich Eberhardt Gottlob: Urchristentum 412,16 Peirce, Charles Sanders: Vernunft 756,30; 757,36; 761,8 Perény, Péter: Ungarn 285,20 Peter I. d.Gr.: Ukraine 245,46 Petrus, Apostel: Vatikan 529,32 Petrus Aureoli: Universalienstreit 348,13 Petrus Lombardus: Trinität 102,36; Tugend 186,44 Petrus Mogila: Ukraine 245,38 Pfänder, Alexander: Trillhaas 89,9 Pfaff, Matthäus: Unionen 324,8 Pfalz: Unionen 325,35 Pfingstkirchen/Charismatische Bewegung: Vereinigte Staaten v. Amerika 609,15 Philipp II., Kg. v. Spanien: Tridentinum 69,41; Türkenkriege 181,40 Philips, Gérard: Vatikanum II 546,23 Photius: Trinität 98,12 Picht, Georg: Utopie 482,18 Pieper, Josef: Tugend 193,28 Pietro Bembo: Vergerio 692,49 Pilgrim v. Passau: Ungarn 276,19 Planck, Karl Christian: Tübinger Schulen 169,13 Plato/Platonismus: Traum 29,14; Tugend 184,35; Unsterblichkeit 382,10; 387,39.41; Utopie 466,24; Vernunft 745,45; 760,44 Plotin: Universalienstreit 341,1 Plutarch: Unsterblichkeit 382,53 Poitiers: Venantius Fortunatus 566,34 Polen: Ukraine 245,21; Unionen 323,1 Polen-Litauen: Unionen 314,40 Polo, Marco: Turfan- und Tun-huang-Texte 198,47 Polytheismus: Veda und Upanishaden 558,11 Popper, Karl Raimund: Utilitarismus 462,50; Vernunft 760,10 Positivismus: Vernunft 751,9; 758,1 Postmoderne: Vernunft 759,42 Prag: Trost 153,39; 154,44 Pragmatismus: Vernunft 757,36 Prenninger, Martin: Tübingen 159,8 Presbyterianer: Vereinigte Staaten v. Amerika 596,36 Preußen: Trauung 52,9; Unionen 326,1; Vereinswesen/Kirchliche Vereine 641,26 Priestley, Joseph: Unitarier 333,37 Protestantenverein: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 645,3 Prusa/Bursa: Türkei 172,31 Ptolemäus, Gnostiker: Valentin/Valentinianer 495,20 Putnam, Hilary: Vernunft 760,26 Québec: Ursulinen 459,24 Quincey, Thomas De: Traum 44,43 Quine, Willard van Orman: Universalienstreit 351,22; Vernunft 760,26

783

Qumran: Trost 144,34; Vaux 556,2 Rad, Gerhard v.: Typologie 219,3; Verheißung 697.46 Rahlfs, Alfred: Troeltsch 131,41 Rahner, Karl: Trinität 115,20; Tugend 193,31; Unsterblichkeit 392,48; Vatikanum II 544,25 Raimund Montecuccioli, Fürst: Türkenkriege 182.47 Räkoczi II. György: Ungarn 289,29 Raków: Unitarier 332,44 Ramsey, Paul: Treue 60,54 ff. Ratbod, Erzbischof v. Trier: Trier 75,21 Rationalismus: Vernunft 745,35 Rationalität: Vernunft 758,36ff. Ratschow, Carl Heinz: Trinität 110,48 Ratzinger, Josef Kardinal: Vatikanum II 544,25 Rauschenbusch, Walter: Vereinigte Staaten v. Amerika 616,49 Reagan, Ronald: Vereinigte Staaten v. Amerika 629.1 Realismus: Vernunft 751,7 Realität: Vernunft 746,19 Reflexion: Vernunft 448,2; 752,17; 753,18; 754,27 Reichstag v. Speyer 1544: Tridentinum 64,19 Reimarus, Hermann Samuel: Trinität 112,17 Reinhold, Karl Leonhard: Vernunft 746,37; 754,47 Reischle, M a x : Tübingen 164,23 Religion: Vernunft 745,25; 748,21; 749,6; 752,43; 759.2 Reuchlin, Johannes: Tübingen 159,12 Rgveda: Veda und Upanishaden 557,10 Rheinhessen: Unionen 326,49 Richard v. St. Viktor: Trinität 102,8 Richelieu, Jean Armand Du Plessis de: Trappisten/Trappistinnen 1,36 Rickert, Heinrich: Vernunft 757,16; 758,30 Ricoeur, Paul: Vergebung der Sünden 682,2 Riesenfeld, Harald: Uppsala 407,37 Ritsehl, Albrecht: Trinität 115,12; Troeltsch 131,17; Tübingen 164,23; Tübinger Schulen 169,35; Tugend 192,8ff.; Unio mystica 307,3; Vergebung der Sünden 680,2; Vermittlungstheologie 730,10 Ritual: Veda und Upanishaden 559,42ff. Robertson, Marion (Pat): Vereinigte Staaten v. Amerika 629,3 Röell, Hermann Alexander: Utrecht 486,31 R o m : Trappisten/Trappistinnen 3,10; Valentin/Valentinianer 496,4; Valla 500,27; Vatikan 529,24 Romillon, Jean-Baptiste: Ursulinen 459,7 Romza, Theodor: Ukraine 248,46 Roosevelt, Franklin Delano: Vereinigte Staaten v. Amerika 621,28; Vereinte Nationen/ Völkerbund 658,10 Rorty, Richard: Vernunft 760,21 Roscellin v. Compiègne: Trinität 100,50; Universalienstreit 341,39 Rosenau, Hartmut: Trauer 22,30 Rosenberg, Alfred: Universität 372,36 Rottenburg: Tübingen 161,49

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Namen/Orte/Sachen

Royaards, Herman J.: Utrecht 487,9 Rudd, Daniel: Vereinigte Staaten v. Amerika 604,42 Rudolf II., Kaiser: Türkenkriege 182,37 Rufin v. Aquileia: Tyconius 203,44 Ruler, Arnold A. van: Utrecht 487,53 Rumänien: Unionen 315,41 Rupert v. Deutz: Trinität 101,47 Rüssel, Charles Taze: Vereinigte Staaten v. Amerika 608,22 Samaria: Urchristentum 424,8 Sanders, James A.: Typologie 220,3 Sanguineti, Sebastiano: Vatikanum I 533,26 Sankt Gallen: Vadian 489,27ff.; 490,31 Sannazaros, Jacopo: Utopie 468,23 Sartre, Jean-Paul: Vereinigte Staaten v. Amerika 626,9 Schaff, Philip: Vereinigte Staaten v. Amerika 610.23 Schamanismus: Türkei 173,49; Unsterblichkeit 394,33 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Tübingen 161,25; Vernunft 748,31-751,15; 753,8; 754,37; 755,54 Scherer-Boccard, Theodor: Ultramontanismus 253.24 Schlatter, Adolf: Tübingen 163,46 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Trinität 113,51 ff.; Troeltsch 131,23; Tugend 191,5ff.; Ubiquität 226,8; Unio mystica 306,20; Unionen 324,22; Unitarier 335,45; Unsterblichkeit 390,28; Unterhaltung 399,34; Vergebung der Sünden 679,42; Vernunft 756,23; 760,44 Schlesien: Trost 153,37 Schmid, Christian Friedrich: Tübinger Schulen 166,35 Schmucker, Simon: Vereinigte Staaten v. Amerika 610,30 Schnabel, Johann Gottfried: Utopie 478,13 Schönborn, Franz Georg v.: Trier 83,28 Scholastik: Vernunft 737,42 Schopenhauer, Arthur: Trauer 20,40 Schotanus, Meinhard: Utrecht 486,16 Schottland: Unionen 328,7; Unitarier 334,14 Schräder, Clemens: Vatikanum I 536,15 Schräder, Eberhard: Urgeschichte 437,52 Schubert, Gotthilf Heinrich: Traum 44,37 Schwarzenberg, Friedrich v. Kardinal: Vatikanum I 533,25 Schweden: Uppsala 403,22 Schweitzer, Albert: Vaterunser 507,25; Verantwortung 578,4 Seele: Veda und Upanishaden 563,31 ff.; Vernunft 739,4 Segesser, Philipp Anton v.: Ultramontanismus 253,26 Selbstbewußtsein: Vernunft 740,37; 751,25 Selim I.: Türkei 173,11; Türkenkriege 181,21 Semiotik: Vernunft 756,30 Semler, Johann Salomo: Trinität 112,17; Typologie 216,2 Seneca: Tugend 185,22 Seripando, Girolamo: Tridentinum 66,42 Servet, Michael: Trinität 91,48

Shaftesbury, Anthony Third Earl of: Tugend 190,1 Shakers: Vereinigte Staaten v. Amerika 601,17; 605.26 Shakespeare, William: Traum 44,12 Sichard, Johannes: Tübingen 159,31 Sigismund, Kg. v. Schweden u. Polen: Uppsala 404,8 Sigismund, Kg. v. Ungarn s. Zsigmond Simler, Georg: Tübingen 159,5 Simonetta, Ludovico: Tridentinum 64,3 Sinnlichkeit: Vernunft 743,5 Sinti und Roma: Vagantentum 494,33 Sirach/Sirachbuch: Tritojesaja 125,47 Sittengesetz: Vernunft 745,1 Smith, Joseph: Vereinigte Staaten v. Amerika 605,36 Smyth, Newman: Vereinigte Staaten v. Amerika 611,40 Söderblom, Nathan: Una-Sancta-Bewegung 266,48; Uppsala 407,5.18 ff.; Vereinte Nationen/Völkerbund 657,48 Sötern, Philipp Christoph v.: Trier 82,12 Sokrates: Unsterblichkeit 382,22 Sontheimer, Kurt: Vernunft 761,23 Sozzini/Sozinianer: Unitarier 333,1; Vergebung der Sünden 679,18 Spee v. Langenfeld, Friedrich: Trier 87,15 Speer, Robert: Vereinigte Staaten v. Amerika 615.27 Spener, Philipp Jakob: Traum 44,33 Spinoza, Baruch de/Spinozismus: Vernunft 739,37ff.; 749,16; 756,54 Spiritismus: Umbanda 263,16 Sprache: Vernunft 756,10; 760,31 Spranger, Eduard: Tübingen 163,14 Stählin, Wilhelm: Trillhaas 89,32 Stanton, Elizabeth Cady: Vereinigte Staaten v. Amerika 613,35 Stave, Erik: Uppsala 407,15 Stein, Johannes Heynlin v.: Tübingen 158,23 Steinbach, Wendelin: Tübingen 158,53 Steinkopf, Karl Friedrich Adolf: Vereinswesen/Kirchliche Vereine 642,21 Stephan I. s. Istvän I. Steudel, Johann Christian Friedrich: Tübinger Schulen 166,32 Stoa/Stoizismus/Neustoizismus: Tugend 185,9 Stöffler, Johannes: Tübingen 159,6 Stollberg, Dietrich: Verkündigung 718,28 Storr, Gottlob Christian: Tübingen 161,9; Tübinger Schulen 165,36; 166,24ff. Strabo, Walahfrid: Vadian 489,15 Straßburg: Vermigli 727,31 Strauß, David Friedrich: Tübingen 164,22; Tübinger Schulen 167,32; 168,16ff.; Vermittlungstheologie 730,12; 733,23 Strong, Josiah: Vereinigte Staaten v. Amerika 616,34 Strukturalismus: Vernunft 759,44 Stuttgart: Tübingen 158,3 Suarez, Francisco: Universalienstreit 350,28 Substanz: Vernunft 739,31 Substanzontologie: Vernunft 740,39 Süleyman I. der Prächtige: Türkei 173,11; Türkenkriege 181,46 ff.

Namen/Orte/Sachen Süleyman II.: Ungarn 282,1 Süskind, Friedrich Gottlieb: Tübinger Schulen 166,27 Summenhart, Konrad: Tübingen 159,3 Sunden, Hjalmar: Uppsala 407,54 Sundkler, Bengt: Uppsala 407,51 Swedenborg, Emanuel/Swedenborgianer: Vereinigte Staaten v. Amerika 611,15 Synoden: Basel-Ferrara-Florenz, 1431-1449: Ukraine 245,21 Chalkedon, ö k u m . Synode: Unionen 314,27 Dordrecht 1618/1619: Utrecht 486,15 Ephesus 431: Unionen 314,26 Konstantinopel 692: Trishagion 123,13 Konstanz 1414-1418: Tridentinum 64,41; Vatikan 530,18 Lateran V 1512-1517: Tridentinum 62,48 Tridentinum: 6 2 - 7 4 Vatikanum I und II: 5 3 2 - 5 5 2 Synesius v. Cyrene: Traum 42,34 Sztärai, Mihaly: Ungarn 287,7 Taylor, Edward: Typologie 220,32 Taylor, Nathaniel William: Vereinigte Staaten v. Amerika 606,14 Tempel: Trauer 10,2; Trost 145,37 Tertullian: Trinität 94,33; Valentin/ Valentinianer 495,27; 496,13 Thadden-Trieglaff, Reinold v.: Vereinswesen/ Kirchliche Vereine 655,48 Theoderich v. Wied: Trier 77,20 Theodosius I. d.Gr.: Tyconius 203,45 Theokrit: Utopie 468,30 Theosophic Society: Vereinigte Staaten v. Amerika 611,2 Thierry v. Chartres: Trinität 101,36 Tholuck, Friedrich August Gottreu: Typologie 216.7 Thomas v. Aquino/Thomismus/ Neuthomismus: Trauer 15,27; Treue 57,45; Trinität 103,5; Tugend 188,6ff.; Typologie 212,20; Ubiquität 225,20; Universalienstreit 344,13ff.; Universität 364,18; Unsterblichkeit 388,20ff. Thomasius, Christian: Vernunft 741,6 Thumm, Theodor: Ubiquität 239,7 Thurneysen, Eduard: Verkündigung 717,35 Tibet: Turfan- und Tun-huang-Texte 201,15 Tillich, Paul: Union Theological Seminary 310,4; Verantwortung 578,46; Vereinigte Staaten v. Amerika 619,33 Timur Leng: Türkei 173,1 Tinbergen, Nikolaas: Verhaltensforschung 695,24 Tocqueville, Alexis de: Ultramontanismus 256,5 Tod: Trauer 12,9ff.; 14,42 Transzendentalismus: Vernunft 747,31 Transzendentalphilosophie: Vernunft 755,8; 761.8 Trappisten/Trappistinnen: 1—3 Trauer: 4 - 2 7 Traum: 2 8 - 5 0 Trauung: 5 0 - 5 6 Treue: 5 7 - 6 2

785

Tridentinum: 62 - 74; Tugend 189,41; Ungarn 288,5; Unionen 319,47 Trient: Tridentinum 64,12 ff. Trier: 7 5 - 8 8 Trillhaas, Wolfgang: 8 9 - 9 1 Trinität: 91-121; Unio mystica 305,9; Unitarier 332,20; Unterhaltung 400,31 Trishagion: 121-124 Tritojesaja: 124-130 Troeltsch, Ernst: 130-143; Urchristentum 431,27; Vernunft 757,17 Tromp, Sebastian: Vatikanum II 545,22 Trost: 143-153 Truman, Harry S.: Vereinigte Staaten v. Amerika 622,29 Tschechien: 153-157 Tübingen, Universität: 157-165; Vergerio 692,44 Tübinger Schulen: 1 6 5 - 1 7 1 Türkei: 171-180 Türkenkriege: 181-183 Tugend: 184-197 Tun-huang: Turfan- und Tun-huang-Texte 197,27 Turfan- und Tun-huang-Texte: 1 9 7 - 203 Turner, Henry McNeal: Vereinigte Staaten v. Amerika 616,28 Turner, Victor: Unterhaltung 400,1 Tyconius: 203 - 208 Typologie: 208 - 2 2 4 Ubiquität: 2 2 4 - 2 4 1 Uhlhorn, Gerhard: 2 4 2 - 2 4 4 Ukraine: 245 - 2 5 3 Ulrich, Herzog v. Württemberg: Tübingen 159,20; 164,2 Ultramontanismus: 253-263 Umbanda: 263 - 2 6 5 Una-Sancta-Bewegung: 265 - 2 6 7 Undereyck, Theodor: 2 6 8 - 2 7 2 Ungarn: 272-303; Unionen 315,17 Unio mystica: 303 - 3 0 8 Union Theological Seminary: 3 0 9 - 311 Unionen, Kirchliche: 3 1 1 - 3 3 2 Unitarier: 3 3 2 - 3 3 9 United Church of Christ: Unionen 329,39; Vereinigte Staaten v. Amerika 620,3 Unity School of Christianity: Vereinigte Staaten v. Amerika 611,14 Universalienstreit: 3 4 0 - 3 5 4 Universität: 3 5 4 - 3 8 0 Berlin: Troeltsch 131,13; Universität 368,30 Bern: Tübinger Schulen 168,37 Bologna: Universität 355,11 Bonn: Troeltsch 132,6 Cambridge: Universität 355,14 Erlangen: Troeltsch 130,47 Franeker: Utrecht 486,29 Halle: Vatke 552,35 Harvard: Vereinigte Staaten v. Amerika 598,47 Heidelberg: Troeltsch 132,32; Unionen 322,4; Ursinus 446,25 Helmstedt: Vatke 552,34 Marburg: Tübinger Schulen 168,38 Oxford: Universität 355,14; Vermigli 727,34

786

Namen/Orte/Sachen

Paris: Tridentinum 63,3; Universität 355,12; Vaux 555,36 Tübingen: 1 5 7 - 1 6 5 Uppsala: 403 - 4 0 8 Utrecht: 485 - 488 Wittenberg: Ursinus 446,1 Yale: Universität 366,48; Vereinigte Staaten v. Amerika 598,47 Unnik, Willem Cornelis van: Utrecht 487,45 Unsterblichkeit: 3 8 1 - 3 9 7 Unterhaltung: 3 9 7 - 4 0 3 Upanishaden: s. Veda und Upanishaden Uppsala, Universität: 403 - 4 0 8 Urban II., Papst: 4 0 9 - 4 1 1 Urchristentum: 411—436 Urgeschichte: 4 3 6 - 4 4 5 Urlsperger, Johann August: Vereinswesen/ Kirchliche Vereine 642,13 Ursinus, Zacharias: 445 - 4 5 0 Ursprungsmythen: 4 5 0 - 4 5 8 Ursulinen: 4 5 8 - 4 6 0 Usque, Samuel: Trost 146,32 Utilitarismus: 4 6 0 - 4 6 3 Utopie/Utopisten: 4 6 4 - 4 8 5 Utrecht, Universität: 485 - 4 8 8 Vadian, Joachim: 4 8 9 - 4 9 2 Vagantentum: 4 9 2 - 4 9 4 Valentin/Valentinianer: 4 9 5 - 5 0 0 Valeton, Jean Josue Philippe: Utrecht 487,28 Valla, Laurentius: 5 0 0 - 504 Vaterunser: 5 0 4 - 529 Vatikan: 5 2 9 - 5 3 1 Vatikanum I und II: 5 3 2 - 5 5 2 ; Trappisten/ Trappistinnen 2,25 Vatke, Wilhelm: 5 5 2 - 5 5 5 Vaux, Roland de: 5 5 5 - 5 5 6 Veda und Upanishaden: 557—565 Venantius Fortunatas: 565—568 Venedig: 5 6 9 - 5 7 4 ; Türkenkriege 181,33; Valla 500,36; Vergerio 690,43 Verantwortung: 5 7 4 - 5 8 1 Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands: 5 8 1 - 5 9 2 Vereinigte Staaten von Amerika: 5 9 3 - 6 3 9 Vereinigungsphilosophie: Vernunft 752,11 Vereinswesen/Kirchliche Vereine: 6 3 9 - 6 5 6 Vereinte Nationen/Völkerbund: 6 5 7 - 6 6 2 Vergebung der Sünden: 663 - 6 9 0 Vergenhans, Johannes: Tübingen 158,21 Vergerio, Pietro Paolo d.J.: 6 9 0 - 6 9 4 Vergil: Utopie 468,29 Verhaltensforschung: 6 9 4 - 6 9 6 ; Vernunft 757,39 Verheißung: 6 9 7 - 7 1 4 Verkündigung: 7 1 4 - 7 2 1 Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche: 7 2 2 - 726 Vermigli, Pietro Martire: 7 2 6 - 7 2 9 Vermittlungsstruktur: Vernunft 751,42; 752,48 Vermittlungstheologie: 7 3 0 - 7 3 7 Vernunft: 7 3 7 - 7 6 8 Verstand: Vernunft 739,20; 743,3; 753,25ff.; 755,16 Veuillot, Louis: Ultramontanismus 255,24 Vico, Giovanni Battista: Vernunft 757,1 Vidier, William: Unitarier 333,46

Vischer, Theodor: Tübinger Schulen 168,23 Visionen: Traum 28,24 Vladimir (Bogojavlenski): Ukraine 246,36 Voetius, Gisbert: Undereyck 268,8; Utrecht 486.14 Vogelweide, Walther v. der: Vagantentum 493,6 Volkmar, Gustav: Tübinger Schulen 169,33 Vorsokratiker: Vernunft 737,27 Wahrheit: Vernunft 756,41 Walbaum, Rudolf: Unitarier 336,7 Waldeck-Pyrmont: Unionen 327,6 Walther, Carl F.W.: Vereinigte Staaten v. Amerika 610,32 Ware, Henry: Unitarier 334,41 Watt, Joachim v.: Vadian 489,4 Weber, M a x : Verantwortung 575,11; 576,10ff.; 578,10; Vernunft 758,27 Weiß, Bernhard: Troeltsch 132,5 Weiß, Johannes: Troeltsch 131,17.42 Weizsäcker, Karl: Tübinger Schulen 169,25 Weizsäcker, Viktor v.: Verantwortung 579,15 Wellhausen, Julius: Uppsala 407,14; Vatke 554,40; Verheißung 700,3 Wells, Herbert George: Utopie 471,14 Welsch, Wolfgang: Vernunft 762,35 Weltbild: Vernunft 762,4 Werner v. Falkenstein: Trier 78,30 Wert: Vernunft 758,5 Wesley, John: Unionen 329,5 Westermann, Claus: Verheißung 697,46 Wettstein, Johann Jakob: Vaterunser 512,24 Wetzel, Robert: Tübingen 163,7 White, Ellen G. (Harmon): Vereinigte Staaten v. Amerika 605,50 Whitefield, George: Vereinigte Staaten v. Amerika 599,51 Wichern, Johann Hinrich: Vereinswesen/ Kirchliche Vereine 644,3; Vermittlungstheologie 734,7 Wiedergeburt: Veda und Upanishaden 562,34ff. Wien (Stadt): Türkei 177,6; Unionen 320,5; Universität 365,16; Vadian 489,8; 490,17; Vergerio 691,8 Wilhelm I., Kg. v. Württemberg: Tübingen 161.37 Wilhelm II., Kg. v. England: Urban II. 410,3 Wilhelm v. Auxerre: Trinität 102,49 Willard, Frances: Vereinigte Staaten v. Amerika 613,48 Wille/Willensfreiheit: Vernunft 744,45; 745,9; 746.15 Williams, Roger: Vereinigte Staaten v. Amerika 598,29 Wilson, Woodrow: Vereinigte Staaten v. Amerika 617,1; Vereinte Nationen/ Völkerbund 657,9ff. Winthrop, John: Vereinigte Staaten v. Amerika 598.38 Wirklichkeit: Vernunft 755,44 Wiseman, Nicholas: Ultramontanismus 259,27 Wissen: Veda und Upanishaden 564,28; Vernunft 744,20; 753,6 Wissenssoziologie: Vernunft 757,25 Witsius, Herman: Utrecht 486,28 Wittgenstein, Ludwig: Vernunft 756,33

Mitarbeiter Wojtyla, Karol s. Päpste, Johannes Paul II. Wolf, Ernst: Trinität 116,31 Wolff, Christian: Universität 364,19; Vernunft 740,40 ff. Womens Christian Temperance Union: Vereinigte Staaten v. Amerika 613,49 Wrede, William: Troeltsch 131,41 Wright, Richard: Unitarier 333,46 Wurm, Theophil: Vereinigte EvangelischLutherische Kirche Deutschlands 587,8 Xinjiang: Turfan- und Tun-huang-Texte 197,26 Young, Brigham: Vereinigte Staaten v. Amerika 605,42

787

Zaire: Unionen 331,14 Z a m b i a : Unionen 331,10 Zeller, Eduard: Tübinger Schulen 167,31; 168,33 Zenger, Erich: Verheißung 707,17 Zerwick, M a x : Vatikanum II 542,50 Zeugen Jehovas: Vereinigte Staaten v. Amerika 608,22 Zimmerli, Walther: Verheißung 697,47 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf v.: Trinität 112,17 Zizioulas, John: Trinität 117,lff. Zsigmond (Sigismund), Kg. v. Ungarn: Ungarn 279,48 Zweckrationalität: Vernunft 758,43 Zwingli, Ulrich: Trauung 51,45; Vadian 489,32

2. Mitarbeiter 2.1.

Autoren

Dr. James S. Alexander, St. Andrews/Großbritannien (Tyconius) Prof. Dr. Svend Andersen, Aarhus/Dänemark (Treue) Dr. Marc-Aeilko Aris, Bonn (Universalienstreit) Prof. Dr. Hans-Christoph Askani, Paris/Frankreich (Vergebung der Sünden IV) Prof. Dr. Ulrich Barth, Halle a.d.S. (Vernunft II) Prof. Dr. Jörg Baur, Göttingen (Ubiquität) Prof. Dr. Alfons Becker, Mainz (Urban II., Papst) Prof. Dr. Jan Peter Beckmann, Hagen (Universalienstreit) Prof. Dr. Hans-Jürgen Benedict, Hamburg (Vereinswesen/Kirchliche Vereine II) Prof. Dr. Ulrich Berner, Bayreuth (Unsterblichkeit I) Dr. Michael Beyer, Leipzig (Unionen, Kirchliche I) Prof. Dr. Erhard Blum, Tübingen (Urgeschichte) D. Dr. Friedhelm Borggrefe, Ludwigshafen (Tschechien) Prof. Dr. Jacques Briend, Paris/Frankreich (Roland de Vaux) Prof. Dr. Christoph Bultmann, Erfurt (Vatke, Wilhelm) Prof. Dr. Victor Conzemius, Luzern/Schweiz (Ultramontanismus) Prof. Dr. Mariarosa Cortesi, Pavia/Italien (Valla, Laurentius) Prof. Dr. Richard Crouter, Northfield, Minn./USA (Union Theological Seminary [New York]) Prof. Dr. Corinna Dahlgrün, Bielefeld (Trillhaas, Wolfgang) Prof. Dr. Hermann Dembowski, Bonn (Verkündigung I) Prof. E. Rozanne Eider, Kalamazoo, Mich./USA (Trappisten/Trappistinnen) Dr. Michael Emmendörffer, Burgdorf-Ehlershausen (Trauer II) Prof. Dr. Rainer Flasche, Marburg (Umbanda) Prof. Dr. Hubert Frankemölle, Paderborn (Vergebung der Sünden III) Prof. Dr. Gunther Franz, Trier (Trier 1/2; II) PDoz. Dr. Marco Frenschkowski, Hofheim/Ts. (Traum I-V) Prof. Dr. Dr. Ferdinand R. Gahbauer OSB, Ettal (Unionen, Kirchliche II) Prof. Dr. Erwin Gatz, Vatikanstadt/Italien (Vatikan) Professor Judith W. George, Edinburgh/Großbritannien (Venantius Fortunatus) Prof. Dr. Dr. Peter Gerlitz, Bremen (Trauer I; Ursprungsmythen) Dr. Sheridan Gilley, Durham/Großbritannien (Ursulinen) Prof. Dr. Dieter Girgensohn, Göttingen (Venedig) Dr. Michael Häusler, Berlin (Vereinswesen/Kirchliche Vereine I)

788

Mitarbeiter

O K R Udo Hahn, Sehnde-Rethmar (Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche) Prof. The Rev. Stuart George Hall, St. Andrews/Großbritannien (Typologie) Dr. Bernd Harbeck-Pingel, Remscheid (Trauer V; Unio mystica) Prof. Dr. Matthias Heesch, Passau (Unsterblichkeit II) Èva Zs. Hein, Leipzig (Ungarn) Dr. Markus Hein, Leipzig (Ungarn) Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Heyer, Heidelberg (Ukraine) The Rev. Andrew M . Hill, Edinburgh/Großbritannien (Unitarier) Prof. Dr. Ludger Honnefelder, Bonn (Universalienstreit) Prof. Dr. Hans Hübner, Göttingen (Verheißung II) Prof. Dr. Otto J . de Jong, Amsterdam/Niederlande (Utrecht, Universität) Gabriel Jüssen, Bonn (Universalienstreit) Prof. Dr. Hans-Martin Kirn, Kampen/Niederlande (Trauer IV) Prof. Dr. Harm Klueting, Sibiu/Rumänien und Köln (Ursinus, Zacharias) Prof. Dr. Matthias Köckert, Berlin (Verheißung I) Prof. Dr. Ulrich Köpf, Tübingen (Tübingen, Universität; Tübinger Schulen) Eike Kohler, Bonn (Trost II; III) PDoz. Dr. Armin Kohnle, Heidelberg (Türkenkriege; Vadian, Joachim) Prof. Dr. Reinhard G. Kratz, Göttingen (Tritojesaja) Prof. Dr. Hartmut Kreß, Bonn (Verantwortung II) Prof. Dr. Dr. Peter Kuhn, Benediktbeuern (Trauer III) Dr. Katharina Kunter, Berlin (Vereinte Nationen/Völkerbund) Dr. Friederike Küster, Siegen (Utopie/Utopisten I) Dr. Stephan Lampenscherf, Siegen (Utilitarismus) Dr. Clemens Leonhard, Wien/Österreich (Vaterunser II) Prof. Dr. Andrew Louth, Durham/Großbritannien (Trishagion) Prof. Dr. Ulrich Luz, Bern/Schweiz (Vaterunser I) Prof. Dr. Christoph Markschies, Heidelberg (Valentin/Valentinianer) Dr. Ruth Meyer, Bonn (Universalienstreit) Dr. Hannes Möhle, Bonn (Universalienstreit) Dr. Rudolf Mohr, Düsseldorf (Undereyck, Theodor) Prof. Dr. Dr. Christoph Morgenthaler, Bern/Schweiz (Traum VI) Prof. Dr. Gerhard Müller D.D., Erlangen (Tridentinum) PDoz. Dr. Michael Murrmann-Kahl, Tutzing (Vermittlungstheologie) Prof. Dr. Torgny Nevéus, Uppsala/Schweden (Uppsala, Universität) Prof. Dr. Thomas Oberlies, Göttingen (Veda und Upanishaden) Dr. Hans Otte, Hannover (Uhlhorn, Gerhard) Dr. Friedrich Pfeiffer, Trier (Trier 1/1) Prof. Dr. Michael Plathow, Heidelberg (Verheißung III) Prof. Jean Porter, Notre Dame, Ind./USA (Tugend) Dr. Detlev Prößdorf, Köln (Trauung) Dr. Maurus Reinkowski, Bamberg (Türkei) Prof. Dr. Dr. h.c. Trutz Rendtorff, München (Troeltsch, Ernst) Prof. Dr. Dr. h.c. Adolf Martin Ritter, Heidelberg (Trinität I) PDoz. Dr. Michael Roth, Bonn (Utopie/Utopisten III) Prof. Dr. Dr. Richard Saage, Halle a.d.S. (Utopie/Utopisten II) Dr. Wolf-Friedrich Schäufele, Mainz (Unionen, Kirchliche III) Friedrich-Otto Scharbau, Hannover (Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands) Prof. Dr. Klaus Schatz SJ, Frankfurt a.M. (Vatikanum I und II) Prof. Dr. Adrian Schenker, Freiburg i.Ue./Schweiz (Vergebung der Sünden I) Prof. Dr. Georg Scherer, Essen (Unsterblichkeit III) Prof. Dr. Michael Schibilsky, München (Trauer VI)

Artikel- und Verweisstichwörter

789

Prof. Dr. Stefan Schreiner, Tübingen (Vergebung der Sünden II) Prof. Dr. Henning Schröer f (Verkündigung II) PDoz. Dr. Harald Schroeter-Wittke, Paderborn (Unterhaltung) Prof. Dr. Ernst Schubert, Göttingen (Vagantentum) Prof. Dr. Christoph Schwöbel, Neckargemünd (Trinität III; IV) Prof. Dr. Manfred Seitz, Bubenreuth (Vaterunser III) Dr. Joachim R. Söder, Bonn (Universalienstreit) Prof. Dr. Günter Stemberger, Wien/Österreich (Trost I; Verheißung IV) Dr. Martin Stiewe, Bielefeld (Unionen, Kirchliche IV/1) Prof. Dr. Hermann Stinglhammer, Vilshofen (Trinität II) Prof. Dr. Konrad Stock, Bonn/Köln (Vernunft I) Prof. Dr. Eckehart Stove, Duisburg (Vergerio, Pietro Paolo d.J.) Prof. Dr. Dietrich Stollberg, Marburg (Vergebung der Sünden V) Prof. Dr. Christoph Strohm, Bochum (Vermigli, Pietro Martire) Prof. Dr. Werner Sundermann, Berlin (Turfan- und Tun-huang-Texte) Dr. David M . Thompson, Cambridge/Großbritannien (Unionen, Kirchliche IV/2) Prof. Dr. Gerhard Voss, Niederaltaich (Una-Sancta-Bewegung) Prof. Dr. François Vouga, Bielefeld (Urchristentum) Prof. Dr. David W. Wills, Amherst, Mass./USA (Vereinigte Staaten von Amerika) David Wirmer, Bonn (Universalienstreit) Hector Wittwer M.A., Berlin (Verantwortung I) Prof. Dr. Eike Wolgast, Heidelberg (Universität) Prof. Dr. Franz M. Wuketits, Wien/Österreich (Verhaltensforschung) 2.2.

Übersetzer

Aus dem

Englischen:

Dr. Ulrike Oudée Dünkelsbühler, Hamburg (Ursulinen) Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Trishagion; Tyconius; Typologie; Unitarier; Venantius Fortunatus; Vereinigte Staaten von Amerika) Dr. Walter Schöpsdau, Bensheim (Trappisten/Trappistinnen; Tugend; Union Theological Seminary; Unionen, Kirchliche IV/2) Aus dem

Französischen:

Roman Vielhauer, Göttingen (Roland de Vaux) Aus dem

Italienischen:

Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Valla, Laurentius) Aus dem

Schwedischen:

Prof. Dr. Knut Schäferdiek, Bonn (Uppsala, Universität) 2.3.

Registerbearbeiter

Pfarrerin Hannelore Hollstein, Unna (Bibelstellen) Prof. Dr. David Trobisch, Bangor, Me./USA (Namen, Orte, Sachen) 3. Artikel- und Verweisstichwörter Trappisten/Trappistinnen (E.R. Eider) Trauer (P. Gerlitz/M. Emmendörffer/P. Kuhn/H.-M. Kirn/B. Harbeck-Pingel/ M . Schibilsky) Traum (M. Frenschkowski/Ch. Morgenthaler)

1 4 28

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Artikel- und Verweisstichwörter

Trauung (D. Prößdorf) Treue (S. Andersen) Treuga Dei -»Frieden Tridentinum (G. Müller) Trier (F. Pfeiffer/G. Franz) Trillhaas, Wolfgang (C. Dahlgrün) Trinität (A.M. Ritter/H. Stinglhammer/Ch. Schwöbel) Trinitatisfest —»Feste und Feiertage Trishagion (A. Louth) Tritojesaja (R.G. Kratz) Troeltsch, Ernst (T. Rendtorff) Trost (G. Stemberger/E. Kohler) Trüber, Primus -»Bibelübersetzungen, -+ Kirchensprache Tschechien (F. Borggrefe) Tschechoslowakei -»Böhmen und Mähren, -»Slowakei, -»Tschechien Tübingen, Universität (U. Köpf) Tübinger Schulen (U. Köpf) Türkei (M. Reinkowski) Türkenkriege (A. Kohnle) Tugend (J. Porter) Tugendkataloge -»Affekt, -»Formgeschichte/Formenkritik, -»Tugend Turfan- und Tun-huang-Texte (W. Sundermann) Tyconius (J.S. Alexander) Tyndale, William -»Bibelübersetzungen Typologie (St.G. Hall) Tyrannenmord -»Widerstand/Widerstandsrecht Tyrell, George -»Modernismus Ubiquität (J. Baur) Überlieferungskritik -»Traditionskritik/Traditionsgeschichte Ugarit -»Kanaan, -»Phönizien und Israel Uhlhorn, Gerhard (H. Otte) Ukraine (F. Heyer) Ullmann, Karl -»Vermittlungstheologie Ultramontanismus (V. Conzemius) Umbanda (R. Flasche) Umkehr -»Buße, -»Ethik, -»Jesaja, -»Propheten/Prophetie Umwelt -»Ökologie Una-Sancta-Bewegung (G. Voss) Undereyck, Theodor (R. Mohr) Unfehlbarkeit -»Papsttum, -»Vatikanum I und II Ungarn (E.Zs. Hein/M. Hein) Unio mystica (B. Harbeck-Pingel) Union Theological Seminary (New York) (R. Crouter) Unionen, Kirchliche (M. Beyer/F.R. Gahbauer/W.-F. Schäufele/M. Stiewe/ D.M. Thompson) Unitarier (A.M. Hill) United Church of Christ -»Unionen, Kirchliche United Nations Organisation (UNO) -»Vereinte Nationen/Völkerbund Universalienstreit (M.-A. Aris/J.P. Beckmann/L. Honnefelder/G. Jüssen/ R. Meyer/H. Möhle/J.R. Söder/D. Wirmer) Universalismus -»Heil und Erlösung, —»Wiederbringung aller Dinge Universität (E. Wolgast) Unsterblichkeit (U. Berner/M. Heesch/G. Scherer)

50 57 62 75 89 91 121 124 130 143 153 157 165 171 181 184 197 203 208 224 242 245 253 263 265 268 272 303 309 311 332

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Artikel- und Verweisstichwörter Unterhaltung (H. Schroeter-Wittke) Uppsala, Universität (T. Neveus) Urban II., Papst (A. Becker) Urchristentum (F. Vouga) Urgeschichte (E. Blum) Urlsperger, Johann August -»Basel, Christentumsgesellschaft Urlsperger, Samuel -»Diaspora Urmensch -»Adam, -»Gnosis/Gnostizismus Ursinus, Zacharias (H. Klueting) Ursprungsmythen (P. Gerlitz) Urstandslehre -»Mensch, -»Sünde Ursulinen (S. Gilley) Uruguay -»Lateinamerika Utilitarismus (S. Lampenscherf) Utopie/Utopisten (F. Kuster/R. Saage/M. Roth) Utraquisten -»Hus/Hussiten Utrecht, Universität (O.J. de Jong) Utrechter Union -»Altkatholizismus Vadian, Joachim (A. Kohnle) Vagantentum (E. Schubert) Valentin/Valentinianer (Ch. Markschies) Valla, Laurentius (M. Cortesi) Vandalen -»Afrika; -»Germanenmission, arianische Vaterunser (U. Luz/C. Leonhard/M. Seitz) Vatikan (E. Gatz) Vatikanum I und II (K. Schatz) Vatke, Wilhelm (Ch. Bultmann) Vaux, Roland de (J. Briend) Veda und Upanishaden (Th. Oberlies) Venantius Fortunatus (J.W. George) Venedig (D. Girgensohn) Venezuela —»Lateinamerika Verantwortung (H. Wittwer/H. Kreß) Verdienst —»Lohn; -»Werke, gute Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (F.-O. Scharbau) Vereinigte Staaten von Amerika (D.W. Wills) Vereinswesen/Kirchliche Vereine (M. Häusler/H.-J. Benedict) Vereinte Nationen/Völkerbund (K. Kunter) Vergebung der Sünden (A. Schenker/S. Schreiner/H. Frankemölle/ H.-Ch. Askani/D. Stollberg) Vergeltung -»Gericht Gottes, -»Rache Vergerio, Pietro Paolo d . J . (E. Stove) Verhaltensforschung (F. M . Wuketits) Verheißung (M. Köckert/H. H ü b n e r / M . Plathow/G. Stemberger) Verheißung und Erfüllung -»Bibel, -»Schriftauslegung, -»Verheißung Verkündigung (H. Dembowski/H. Schröer f ) Verlautbarungen in der Gegenwart, Kirchliche (U. Hahn) Vermahnung -»Paränese Vermigli, Pietro Martire (Ch. Strohm) Vermittlungstheologie (M. Murrmann-Kahl) Vernunft (K. Stock/U. Barth)

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445 450 458 460 464 485 489 492 495 500 504 529 532 552 555 557 565 569 574 . . . .

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Karten/Bildquellen/Corrigenda

4. Karten Kurfürstentum und Erzstift Trier: © G. Franz, Trier 2001 nach S. 80 Die historischen Landschaften Ungarns (aus: Jörg K. Hoensch, UngarnHandbuch, Hannover 1991, S. 11) 273 Ungarn zur Zeit der türkischen Besatzung (aus: Eine kleine Geschichte Ungarns, hg. v. Holger Fischer, Frankfurt a.M. 1999, S.55) 282 Römisch-katholische Kirche seit 1993: © É.Zs. Hein/M. Hein, Leipzig 2001 . . 299 Reformierte Kirche seit 1994: © É.Zs. Hein/M. Hein, Leipzig 2001 299 Evangelische (lutherische) Kirche seit 2001: © É.Zs. Hein/M. Hein, Leipzig 2001 300 Die Bildrechteinhaber der Karten auf S. 273 und 282 konnten nicht ermittelt werden. Sollten etwaige Ansprüche unerfüllt sein, bittet der Verlag um entsprechende Mitteilung. 5. Bildquellen Art. Typologie: Abb. 1, 2a, 2c und 3: © Stuart G. Hall, St. Andrews 2001 - Abb. 2b und 4: © Albertina Wien, Wien 2001 - Abb. 5: © Kunstsammlungen der Veste Coburg, Coburg 2001 - Abb. 6: © Reproduced by kind permission of the Principal, Fellows and Scholars of Jesus College, Oxford 2001 6. Corrigenda S. 50,38 lies Christoph Morgenthaler (Abschn.VI) statt Christoph Morgenthaler (Abschn. IV) S. 241,56 lies Tajceiva>avypa