Kant und der Frühidealismus: System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus. Band II 9783787317943, 9783787321100

Es steht außer Frage, daß das Werk Immanuel Kants Dreh- und Angelpunkt war für die Ausbildung der Philosophie des deutsc

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Kant und der Frühidealismus: System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus. Band II
 9783787317943, 9783787321100

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System der Vernunft Kant und der deutsche Idealismus Band 2

SYSTEM DER VERNUNFT KANT UND DER DEUTSCHE IDEALISMUS

Herausgegeben von Wilhelm G. Jacobs Hans-Dieter Klein Jürgen Stolzenberg Band 2

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

KANT UND DER FRÜHIDEALISMUS

Herausgegeben von Jürgen Stolzenberg

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Herausgegeben in Verbindung mit der Philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Internationalen Gesellschaft »System der Philosophie«, Kant-Gesellschaft, North American Kant-Society, Internationalen J. G. Fichte-Gesellschaft, Internationalen Schelling-Gesellschaft, Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Internationalen Hegel-Vereinigung, Internationalen Hegel-Gesellschaft, Internationalen Gesellschaft für Dialektische Philosophie – Societas Hegeliana

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-1794-3

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2007. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch, Kusel-Satz, Hamburg. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Jürgen Stolzenberg Kant und der Frühidealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. KANT UND DIE SYSTEMBILDUNG IM FRÜHIDEALISMUS Hans Friedrich Fulda Der Begriff der Freiheit – Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen Vernunft? . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Rüdiger Bubner Das Endliche und das Unendliche und der Übergang. Ein Motiv der Systembegründung im Frühidealismus . . . . . . . . .

45

Eckart Förster Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie. Teil 1 . . . . . . . . . .

59

II. FICHTE Daniel Breazeale Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens. Kantische Fragen, Fichtesche Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Violetta L. Waibel Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«. Fichtes Begründung der Gegenstandskonstitution (1794/95) . . .

103

Günter Zöller Setzen hält Leib und Seele zusammen. Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Angelica Nuzzo Fichte’s Early Theory of Space . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI

Inhalt

III. JACOBI Birgit Sandkaulen Das »leidige Ding an sich«. Kant – Jacobi – Fichte . . . . . . . . . . . .

175

IV. FICHTE – SCHELLING Jochem Hennigfeld Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich. Die Theorie der Gegenstandskonstitution in Schellings Allgemeiner Übersicht . . . . . . . . .

203

Wilhelm G. Jacobs Fichte und Schelling über Begriff und Form der Philosophie . . .

219

Christian Klotz Die Methode des Zugangs zum Prinzip in Fichtes Wissenschaftslehre »nova methodo« und der Transzendentalphilosophie des frühen Schelling . . . . . . . . . . . . . .

233

Ulrich Vogel Das Ich und seine Kategorien. Begründungsleistungen und -defizite bei Fichte und Schelling (1794-95) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

248

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VORWORT

Die Reihe System der Vernunft – Kant und der deutsche Idealismus, deren zweiter Band hier vorgelegt wird, versteht sich als ein Beitrag zur Erforschung der klassischen deutschen Philosophie nach Kant. Während der erste Band der Architektur und der Systemform der Philosophie Kants gewidmet war, geht der vorliegende Band der Frage nach dem Verhältnis der nachkantischen Konzeptionen eines Systems der Philosophie zur Philosophie Kants nach. Dies geschieht im Blick auf die Tatsache, daß die nachkantische Philosophie sich in einem dichten Geflecht von Diskussionen unter ihren Protagonisten ausgebildet hat. Dies gilt insbesondere für die erste, bis ca. 1800 reichende Phase, den sog. Frühidealismus. Ein begründetes Urteil über den Gehalt und die Tragweite der Konzeptionen, die hier ausgearbeitet worden sind, ist nur aus einer genauen Kenntnis dieser Diskussionslagen möglich. Im Blick auf die Thematik des ersten Bandes schließt dies die Frage ein, inwiefern sich hierbei der Kantische Gedanke einer Selbsterkenntnis der Vernunft verändert hat und in welcher Form er die nachkantische Architektur der Systembildungen mitbestimmt hat. Das von Fichte, Schelling und Hegel auf je verschiedene Weise durchgeführte Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins darf als Antwort auf diese Frage verstanden werden. Die hier vereinigten Beiträge nehmen darauf vielfältig Bezug. Die Frage nach dem Verhältnis der frühidealistischen Systementwürfe zur Philosophie Kants ist auch nach Jahrzehnten intensiver Forschung zur klassischen deutschen Philosophie bisher nur in Ansätzen verfolgt worden. Einer der Gründe hierfür besteht in der immer noch vorherrschenden Orientierung am Werk eines Autors. Ein anderer Grund ist in der Breite und Komplexion der Debatten zu sehen. Sie können von einem Einzelnen kaum noch in der nötigen Detailnähe übersehen und in ihrem sachlichen Gehalt ausgewertet werden. Hier ist Teamarbeit erforderlich. Eine einheitliche Sicht der Dinge ist dabei nicht zu erwarten. Sie ist angesichts der Komplexität und des Perspektivenreichtums der zur Verhandlung anstehenden Sache aber auch nicht wünschenswert. Wünschenswert und der Sachlage angemessen ist vielmehr eine einander ergänzende Vielfalt der Aspekte und methodischer Zugänge. Die vorliegenden Beiträge sind Ausdruck dieser Sachlage.

VIII

Vorwort

Sie gehen auf eine Tagung zurück, die gemeinsam von der Internationalen Johann Gottlieb Fichte-Gesellschaft, der Internationalen SchellingGesellschaft, der Internationalen Hegel-Vereinigung, der Hegel-Gesellschaft, der Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie – Societas Hegeliana und der Gesellschaft »System der Philosophie« mit großzügiger Unterstützung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici (Neapel) auf Einladung von Hans-Dieter Klein in Wien stattgefunden hat. Allen, die durch Finanzierung, Planung und Organisation zum Gelingen der Tagung beigetragen haben, sei an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich gedankt. Den Beiträgern gilt für ihr kooperatives Engagement ein besonderer Dank. Widrige Umstände haben dazu geführt, daß der vorliegende Band dem im Jahre 2001 erschienenen ersten Band Architektonik und System in der Philosophie Kants mit einiger zeitlichen Verzögerung folgt. Der Herausgeber dankt dem Meiner Verlag und seinem Lektor, Herrn Horst D. Brandt, für die bewiesene Geduld und die Bereitschaft zur Publikation des vorliegenden Bandes sowie der folgenden Bände in der Reihe KantForschungen. Alexander Aichele, Oliver-Pierre Rudolph, Katharina Vey und Danae Seeber ist für die wertvolle Hilfe bei der Einrichtung der Manuskripte für den Druck zu danken. Halle, im August 2006

Jürgen Stolzenberg

Jürgen Stolzenberg

Einleitung: Kant und der Frühidealismus

1. Es war bekanntlich Fichte, der der Philosophie nach Kant zuerst das Programm gemacht hat. Von ihm aus ist das Verhältnis des Frühidealismus zur Philosophie Kants zu bestimmen. Dieses Verhältnis ist aus der Übersicht über eine überaus komplexe Debattenlage zu rekonstruieren. Schon Fichte sah sich in eine vor allem durch Karl Leonhard Reinhold, Gottlob Ernst Schulze, Salomon Maimon und Friedrich Heinrich Jacobi bestimmte Auseinandersetzung um die Philosophie Kants hineingezogen, die die Ausarbeitung seiner frühen Wissenschaftslehre bestimmte. Problematisch erschien vor allem die Architektur und die Systemform, die Kant seiner kritischen Philosophie gegeben hatte sowie die Konsistenz und der interne Zusammenhang der Prinzipien, aus denen Kant diese Architektonik begründet hatte. In Jena fand sich Fichte mit einer anderen avancierten Diskussion konfrontiert. Sie hatte sich an Reinholds Programm einer Philosophie aus einem obersten Grundsatz entzündet, einem Programm, das Fichte selber, wenngleich in kritischer Überbietung Reinholds, vertrat. Die Einwände richteten sich aber auch gegen die Verständlichkeit von Fichtes Konzept eines reinen Ich und seiner Funktion eines obersten Prinzips der Philosophie. Auf diese Debatten reagierte Fichte alsbald mit der neuen Darstellung seiner Wissenschaftslehre. Die Philosophie Fichtes ist auch der Orientierungspunkt, zu dem sich Schelling, Hegel und Jacobi in ein geklärtes Verhältnis hinsichtlich der Möglichkeit der Begründung eines Systems der Philosophie nach Kant zu setzen suchten. Auch dies geschah in offenen oder latenten Debatten. Daß hierbei andere Quellen und Evidenzen wie die Philosophie Platons, die Ethik Spinozas und Leibniz’ Metaphysik wirksam wurden, ist bekannt. Wie genau sie für die Formation der nachkantischen Philosophie wirksam geworden sind, ist weniger bekannt. Das Programm, mit dem Fichte zuerst auftrat, ist das Programm einer systematisch durchgeführten Theorie der Subjektivität nach Kant. Auf ihrer Grundlage sollten der Zusammenhang der theoretischen und praktischen Philosophie sowie die untergeordneten Disziplinen der Ästhetik, der Ethik, der Philosophie des Rechts und der Religion ihre neue, zurei-

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Einleitung · J. Stolzenberg

chende Begründung erhalten. Das Fundament des neu konzipierten Systems der Philosophie ist bekanntlich das Prinzip des Selbstbewußtseins. Als Instanz und Garant einer kriterienlosen und zweifelsfreien Gewißheit von der Wirklichkeit des Subjekts des Bewußtseins qualifiziert es sich zum obersten Prinzip einer Theorie der Subjektivität. Von ihm hatte schon Kant an entscheidenden Stellen seiner theoretischen und praktischen Philosophie einen begründenden Gebrauch gemacht. Dort hatte Kant aber auch die Gründe namhaft gemacht, aus denen er sich außerstande sah, den Sachverhalt des Selbstbewußtseins seinerseits zum Gegenstand einer philosophischen Theorie zu machen, die eine sachhaltige Erkenntnis von Objekten begründen könnte. Das Verhältnis der Philosophie Fichtes zur kritischen Philosophie Kants läßt sich unter dieser Perspektive daher dahingehend bestimmen, daß sie einem Bereich der philosophischen Theoriebildung zuzuordnen ist, der in der kritischen Philosophie Kants gar nicht vorgesehen ist und deren überlieferte Gestalt unter dem Titel einer rationalen Psychologie von Kant durchgreifend destruiert worden war. Fichtes erster Entwurf zur Neubegründung der Philosophie zielte aber nicht nur auf die Neubegründung einer rationalen Psychologie. Das vor dem Hintergrund der Philosophie Kants Provozierende und geradezu Verwegene ist in Fichtes Absicht zu sehen, damit zugleich eine Reformulierung von Kants kritischer Erkenntnistheorie und der Begründung des Objektbezugs unserer Erkenntnis sowie der Grundeinsichten von Kants praktischer Philosophie auf den Weg zu bringen. Die Beweislast, die Fichte mit dem Entwurf einer Theorie der Subjektivität, die ihr Prinzip in dem Sachverhalt des Selbstbewußtseins hat, gegenüber dem kantischen Verdikt einer rationalen Psychologie auf sich nahm, glaubte er mit dem Einsatz einer neuen, von Kant gar nicht vorgesehenen Begriffs- und Begründungsform tragen zu können. Sie ergibt sich aus dem Projekt, die Darstellung der kognitiven Funktionen, mit denen das Subjekt des Bewußtseins sich erkennend und handelnd auf die Welt bezieht, ganz aus der logischen Verfassung des Subjekts des Bewußtseins selber zu begründen. Fichtes Entwurf einer pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes in der Wissenschaftslehre von 1794/95 ist die erste Realisierung dieses Projekts. In ihm sind die Bedingungen des Selbstbewußtseins zugleich die Bedingungen seines theoretischen und praktischen Weltbezugs. Freilich, welches die Verfassung von Selbstbewußtsein ist, auf welche Weise es in die Theorie einzuführen ist und wie daraus der Begründungsgang konstruktiv entwickelt werden kann, das sind die Fragen, die von Anfang an zu Kontroversen Anlaß gegeben

Kant und der Frühidealismus

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haben. Sie führten zu jenen Systementwürfen, die der Philosophie nach Kant ihr Profil gegeben haben. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die zuerst von Karl Leonhard Reinhold in Umlauf gebrachte, von Fichte und dem frühen Schelling aufgegriffene Parole, daß den Resultaten der kantischen Philosophie die Prämissen fehlen und nunmehr nachgeliefert werden müssen, um sie gegen Mißverständnisse zu schützen und wirksam zu verteidigen, irreführend ist. Fichte und mit ihm Schelling lieferten keine fehlenden Prämissen zu Kants Konklusionen, sondern eine gänzlich neue Theorie, die sich gleichwohl in dem von Kant eröffneten Denkraum hält. Die diagnostizierten Problembestände der Philosophie Kants, unter denen die Frage nach dem Prinzip, aus dem die Einheit der Vernunft in ihren verschiedenen Funktionen begriffen werden kann sowie die kantische Konzeption eines Dings an sich eine zentrale Rolle spielten, wurden auf diese Weise in eine gänzlich neue Theorieform transformiert. Diese Theorieform ist die Analyse der Bedingungen des Selbstbewußtseins, die Schelling im Anschluß an Fichte unter dem Titel einer Geschichte des Selbstbewußtseins durchführte. Die Frage, auf welche Weise dies geschah und welche systematischen Folgerungen daraus abzuleiten sind, ist das gemeinsame Thema der hier vereinigten Beiträge, die im folgenden in ihren sachlichen Bezügen vorgestellt werden sollen.

2. Das systematische Zentrum, aus dem das Verhältnis des Frühidealismus zur Philosophie Kants zu begreifen ist, ist indessen nicht zureichend durch das Programm einer Geschichte des Selbstbewußtseins charakterisiert. Und es ist auch nicht in der von Schelling begründeten, mit der Durchführung dieses Programms verbundenen idealistischen Philosophie der Natur zu sehen. Das systematische Zentrum, auf das die Diskussionen um die Neubegründung systematischer Philosophie nach Kant hingeordnet sind und aus dem auch der Rekurs auf das Prinzip des Selbstbewußtseins seine letzte Rechtfertigung erhält, ist der Begriff der Freiheit. So nannte Fichte seine Wissenschaftslehre »das erste System der Freiheit«. Der frühe Schelling, der junge Hegel und auch Jacobi sahen mit Fichte ihre Aufgabe darin, den Begriff der Freiheit, den Kant als Schlußstein des Gebäudes seines Systems der reinen Vernunft vorgesehen hatte, nunmehr zum Fundament aller Selbstverständigung in theoretischer wie praktischer Hinsicht zu machen. Dem geht der Beitrag von Hans Friedrich

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Fulda nach. Fulda rollt das Problem der Freiheit unter der Perspektive des kantischen Systems als eines Systems der Vernunft auf und gewinnt daraus Gründe, die den Anspruch der frühidealistischen Systementwürfe auf eine allgemeine Philosophie der Freiheit verständlich werden lassen. Damit ist zugleich der sachliche Anschluß an den ersten Band der Reihe System der Vernunft – Kant und der deutsche Idealismus hergestellt, der dem Zusammenhang von Architektonik und System in der Philosophie Kants nachgeht. Fuldas kantkritische These wendet sich nach einer von der Schlußstein-Symbolik inspirierten Rekonstruktion des kantischen Gebäudes eines Systems der Vernunft gegen eben diese Funktion des Freiheitsbegriffs. Mit kantischen Mitteln, so führt Fulda aus, ist der Zusammenhang des theoretisch-kosmologischen mit dem moralisch-praktischen Freiheitsbegriff nicht zu erklären. Denn weder das Bewußtsein von Freiheit als Autonomie noch die damit verbundene Zuschreibung von Verantwortlichkeit und auch nicht das Verbot eines Rekurses auf eine externe Instanz als Ursache von Schuld oder Verdienst können aus dem kantischen kosmologischen Freiheitsbegriff und dem Schlußsteingedanken verständlich gemacht werden. Damit eröffnet sich die Perspektive auf einen Vernunftbegriff, der der Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft gegenüber neutral ist und der nur ein ursprüngliches Beisich-selbst-Sein des Vernunftsubjekts zum Ausdruck bringt, das von diesem von Anfang an aus Freiheit eingenommen werden muß. Dem suchten Fichte und Schelling mit der Konzeption eines reinen Ich Ausdruck zu geben. Aus ihm sollten spezielle Freiheitsbegriffe und der Zusammenhang von theoretischer und praktischer Philosophie abgeleitet werden. Mit der Frage, unter welchen logischen Bedingungen ein solches ursprüngliches Bei-sich-selbst-Sein möglich ist, und auf welche Weise von ihm aus der Zusammenhang von theoretischer und praktischer Philosophie begründet werden kann, ist der Schritt in das Feld der frühidealistischen Systementwürfe getan. Hier nimmt die Rede vom Unendlichen und Endlichen und das Problem des Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen eine zentrale Stelle ein. Dem ist der Betrag von Rüdiger Bubner gewidmet. Bubner nähert sich dem Thema auf einem lebensweltlich-phänomenologischen Wege im Ausgang von einer Bemerkung des späten Siegmund Freud. Die Tätigkeiten des Psychoanalytikers, des Politiker und des Erziehers kommen darin überein, daß sie nicht an ein definitives, erfolgreiches Ende kommen. Der Analytiker bedarf im Prozeß der Therapie seinerseits der Analyse, das politische Handeln erreicht auf Grund

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des nichtkalkulierbaren Fortgangs der Geschichte keinen vollkommenen Zustand, und das erzieherische Handeln findet stets neue Adressaten. Daraus ergibt sich für Bubner der Bezug zu Hegels Analyse der Struktur des Prinzips konkreter Subjektivität, für das ein widersprüchliches Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit konstitutiv ist. Ein unter den Bedingungen von Raum und Zeit lebendes Subjekt ist nämlich dadurch definiert, von sich aus über den Mangel, den es als endliches Wesen fühlt, hinauszugehen zu etwas, das es als zu ihm gehörig empfindet. Das zentrale systematische Anliegen des Frühidealismus ist von hieraus darin zu sehen, das Verhältnis von Endlichem zu Unendlichem in einer auf Letztbegründung zielenden philosophischen Theorie zu bestimmen. Für Jacobi wie für Schelling ist hierbei der Gedanke leitend, daß vom Unendlichen zum Endlichen kein Übergang möglich ist, da das Unendliche, wird es in Entgegensetzung zum Endlichen gefaßt, selber zu einem Endlichen wird. So muß das Unendliche so gefaßt werden, daß es das Endliche in sich begreift. Während Schelling dieses Verhältnis im System des transzendentalen Idealismus noch als eine Strukturbestimmung des Selbstbewußtseins begreift und daraus den Gang jener Geschichte des Selbstbewußtseins zu begründen sucht, ist es in der sog. Identitätsphilosophie in einer das Prinzip des Selbstbewußtseins übersteigenden Konzeption in Anwendung. Hier erscheint das Unendliche als das Ganze der Welt, während das Endliche als Inbegriff des einzelnen Endlichen aufgefaßt wird. Schellings Konstruktion dieses Verhältnisses fällt Bubner zufolge jedoch problematisch aus, da Schelling sich der dualistischen, von Fichte inspirierten subjektivitätstheoretischen Bestimmung einer qualitativen Differenz zwischen Subjekt und Objekt bedient, um das der Metaphysik zugehörige, kosmologische Verhältnis von Unendlichem zu Endlichem zu klären, das doch nicht als Dualität begriffen werden darf. Fragt man nach direkten Anschlußstellen, die den Frühidealismus mit der Philosophie Kants verbinden, dann ist neben dem Problem der Freiheit Kants Theorie der Natur zu nennen. Der Beitrag von Eckart Förster zeigt, wie eng und systematisch gehaltvoll Goethes naturphilosophische Überlegungen an Kants eigene Überlegungen zur Theorie lebendiger Organismen in der Kritik der Urteilskraft anschließen. Damit macht Förster auf eine weitgehend ignorierte zweite Front im Spinoza-Streit aufmerksam, deren Protagonisten Jacobi und Goethe sind, und in dem Goethe auf höchst originelle und produktive Weise die Waffen Spinozas führt, mit denen er nicht nur Fichte zu beeindrucken vermochte, sondern auch den Jenaer Hegel um 1803/04 auf neue Bahnen brachte. Ausgangspunkt ist die erkenntniskritische These Kants, daß der leben-

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digen, organisierten Natur keine objektive Zweckmäßigkeit zugeschrieben werden kann. In den von Schelling und Hegel und auch von Goethe mit besonderer Eindringlichkeit beachteten §§ 76 und 77 der Kritik der Urteilskraft hatte Kant zwei Erkenntnisweisen unterschieden, denen eine jeweils differente Funktion zukommt, die von unserem diskursiv verfahrenden Verstand nicht realisiert werden können: 1. eine intellektuelle Anschauung als produktiver Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit bzw. Denken und Sein und als nichtsinnliche Anschauung von Dingen an sich; 2. einen intuitiv urteilenden Verstand im Sinne eines synthetisch-allgemeinen Verstandes und eines intuitiven Verstandes im Sinne einer ursprünglichen Ursache der Welt. Während Fichte und der frühe Schelling von einer Einheit von Denken und Sein im Modus einer intellektuellen Anschauung ausgehen, war es Goethe, der in seiner Metamorphose der Pflanzen im unmittelbaren Anschluß an Kant und im Blick auf die spinozanische Konzeption einer scientia intuitiva die Möglichkeit eines intuitiven Verstandes im Sinne eines synthetisch-allgemeinen Verstandes vertrat. Dessen Funktion besteht in einem über die Disjunktion von diskursiv und intuitiv hinausgehenden Denken, das mit Blick etwa auf die Entwicklung einer Pflanze ein Wechselverhältnis von Besonderem und Allgemeinem wahrzunehmen in der Lage ist und auf diese Weise zur Anschauung eines Ganzen gelangt, das Goethe als Typus, Begriff oder Idee bezeichnet hat, und das sich in einem Organismus unter verschiedenen empirischen Bedingungen auf vielfältige Weise realisiert. Es ist das Verdienst Goethes, auf diese Weise nicht nur Spinozas Konzept einer scientia intuitiva auf natürliche, nicht-mathematische Phänomene angewendet zu haben, sondern damit auch eine Begriffs- und Begründungsform inauguriert zu haben, die für das frühidealistische Projekt einer Bildungsgeschichte des Bewußtseins von grundlegender Bedeutung geworden ist.

3. Daran schließt der Beitrag von Daniel Breazeale unmittelbar an. Im Ausgang von Kants Unterscheidung zwischen analytischer und synthetischer Methode des Philosophierens konzentriert sich Breazeale ganz auf die von Fichte in den Schriften bis 1800, insbesondere in der Grundlage des Naturrechts entwickelte synthetische Methode des Philosophierens. Sie hat den weiteren Gang der klassischen deutschen Philosophie nach Kant entscheidend beeinflußt. Breazeale unterscheidet zwischen einer phänomenologisch-synthetischen Methode und einer dialektisch-synthetischen Me-

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thode. Das Verfahren der phänomenologisch-synthetischen Methode ist eine apriorische Beschreibung der mentalen Aktivitäten des Ich, in der sie als notwendige Bedingungen des Selbstbewußtseins ausgewiesen werden. Sie ist die Grundlage für das eingangs erwähnte frühidealistische Projekt einer Geschichte des Selbstbewußtseins. Fichtes Beschreibung dieser Methode, insbesondere der Rekurs auf eine innere Anschauung, die den Beweis der Realität der begrifflichen Bestimmungen liefern soll, legt Parallelen zu Edmund Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion und eidetischen Anschauung nahe. Mit ihr ist die dialektisch-synthetische Methode verbunden. Sie besteht in dem Aufweis von unvermeidbaren logischen Widersprüchen oder Zirkularitäten, die durch die Einführung des Begriffs bestimmter mentaler Aktivitäten vermieden werden sollen und in einer inneren Anschauung beglaubigt werden sollen. Das strenge Wechselverhältnis von Denken und Anschauung sowie das konstruktive Verfahren, das die Entstehung des Begriffs beschreibt, den das Ich von sich selbst gewinnen soll, fordern zu einem bisher noch nicht unternommenen genaueren Vergleich mit der von Eckart Förster beschriebenen Goetheschen Adaption der scientia intuitiva Spinozas und der Klärung ihrer Bedeutung für die frühidealistische Konzeption einer Geschichte des Selbstbewußtseins auf. Violetta L. Waibel untersucht Fichtes Rede von einem System der Freiheit und schließt damit der Sache nach an den Beitrag von Hans Friedrich Fulda an. Im Anschluß an die Überlegungen von Daniel Breazeale bietet der Beitrag darüber hinaus eine genauere Untersuchung des pragmatischen Charakters von Fichtes Programm einer pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes. Fichtes Wissenschaftslehre erhält den Charakter einer pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes in der Sicht Waibels durch die Fundierung aller mentalen Aktivitäten in einer Theorie allgemeiner praktischer Intentionalität, deren Grundbegriff der des Strebens ist. Er ist der Ausdruck des Charakters des Vernunftsubjekts, sich selbst in einer Weise zum Handeln zu bestimmen, die der Unterscheidung in theoretische und moralisch-praktische Tätigkeit vorausliegt. Ein System der Freiheit ist Fichtes Wissenschaftslehre insofern zu nennen, als der Bezug auf Gegenstände der Erfahrung nur durch den Rekurs auf ein System von spontanen Leistungen des Vernunftsubjekts erklärt werden kann, deren genetische Darstellung die Wissenschaftslehre leistet. Deren methodisches Zentrum ist die auf endliche Gegenstände gerichtete Funktion der Einbildungskraft. Sie ist das Organ, das den Zusammenhang zwischen den begrifflichen Distinktionen stiftet, die sich aus dem ursprünglichen Verhältnis von Ich und dem offenen Horizont

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einer Welt, dem Nicht-Ich, ergeben. So ist die zwischen Anschauung und Denken vermittelnd schwebende Einbildungskraft das eigentliche Organ der Selbsterkenntnis des Geistes. Günter Zöller macht auf ein Desiderat der Forschungen zum Frühidealismus aufmerksam. Es betrifft die fichtesche Theorie des Leibes und ihre systematische Funktion in dem Projekt des Aufweises von Bedingungen des Selbstbewußtseins. Sie ist eine der materialen Bedingungen des von Fichte in der Grundlage des Naturrechts entwickelten Rechtsbegriffs und mit Fichtes Theorie des Anderen und der Anerkennung eng verbunden. Fichtes Interesse gilt hierbei dem Zustandekommen der Beziehung des Ich zu seinem Körper, den es seinen Leib nennt, im Kontext der Analyse von Bedingungen des Selbstbewußtseins. Aufgabe der fichteschen Theorie des Leibes ist es zu zeigen, auf welche Weise ein individuelles Ich, das im Kontext der fichteschen Theorie der Anerkennung durch die Wahl einer Handlungssphäre etabliert worden ist, in der Sinnenwelt theoretisch und praktisch tätig sein und in Beziehung zu anderen vernünftigen und unvernünftigen Wesen stehen kann. Fichtes These ist es, daß ein vernünftiges individuelles Selbst sich als ein Wesen in der Sinnenwelt vorfindet, das mit Funktionen seines Sinnenapparats ausgestattet ist, die es ihm erlauben, in der Welt zu handeln und in Interaktionsprozesse einzutreten. Hierbei erscheint der Leib genauer als diejenige Sphäre, mit Bezug auf die das vernünftige Individuum auf eine unmittelbare innere Weise zu handeln vermag, die die Grundlage für die Identität und Kontinuität der individuellen Persönlichkeit darstellt und die zugleich dem Einfluß anderer Personen ausgesetzt ist. Zurecht betont Zöller das Innovative der fichteschen Theorie der konkreten Subjektivität, die dem konkreten Individuum mit Blick auf seine Materialität, Körperlichkeit, Sensibilität und Organizität ein Eigenrecht widerfahren läßt, das in der Folge von Schopenhauer bis Heidegger eingeklagt worden ist. Dieser Tradition entgegen stellt die fichtesche Theorie die Autonomie und den Primat der Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit jedoch nicht in Frage. Wie mißverständlich und interpretationsbedürftig die Formel von den fehlenden Prämissen zu den Resultaten der Philosophie Kants ist, läßt sich unter anderem anhand der frühidealistischen Theorien von Raum und Zeit zeigen. So führt Fichtes Bemühen, die Vorstellungen von Raum und Zeit aus dem Ich als oberstem Prinzip der Philosophie zu begründen, nicht zu einer tieferen Begründung, sondern zu einer tiefgreifenden Transformierung der kantischen Theorie. Dem geht der Beitrag von Angelica Nuzzo mit Bezug auf die Theorie des Raums bei Fichte nach. Fichtes Transformierung der kantischen Raumtheorie läßt sich dahingehend

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zusammenfassen, daß der Raum die Funktion einer vom Ich produzierten Dimension der Erfahrung erhält, innerhalb deren etwas für das Ich überhaupt als außerhalb und als etwas anderes als es selbst bestimmt werden kann. Kants Konzeption des Raums als einer apriorischen Form sinnlicher Anschauung wird dabei zu einer apriorischen Bedingung umgedeutet, unter der das Ich sich selbst in der Beziehung auf eine äußere Sphäre begreift. Fichtes Konzeption führt dabei zur Preisgabe sowohl des Gedankens einer Affektion und des kantischen Dings an sich als auch des dem Ich ursprünglich gegebenen Mannigfaltigen. Damit sind nicht nur das Fundament von Kants kritischer Erkenntnistheorie, die Lehre von den beiden Stämmen der Erkenntnis und das Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität, sondern die kantische transzendentale Ästhetik insgesamt preisgegeben. 4. Die eminente Bedeutung Friedrich Heinrich Jacobis für die Formationsbedingungen des Frühidealismus ist erst in den letzten Jahren angemessen gewürdigt worden. Wie kein anderer Autor seiner Zeit steht Jacobi für die Tatsache, daß die nachkantische Philosophie sich in hochkomplexen Debattenlagen formiert hat, in denen mit der Auseinandersetzung um die Philosophie Kants zugleich der Begriff der Philosophie selbst zur Diskussion gestellt wurde. Hatte Jacobi einen theoretisch nicht aufzulösenden Widerspruch zwischen dem Fatalismus als Preis eines geschlossenen philosophischen Systems und dem unabweisbaren praktischen Interesse an Freiheit diagnostiziert, so war es der erklärte Anspruch der Nachkantianer, eben diesen Widerspruch mit dem System der Vernunft, das zugleich ein System der Freiheit sein sollte, aufzulösen. Daß Jacobi den frühidealistischen Lösungsversuchen nicht zu folgen vermochte, blieb für die weitere Entwicklung des nachkantischen Idealismus ein ständiger Stachel, der wohl niemals ganz entfernt worden ist und in den systemkritischen Optionen des 19. und 20. Jahrhunderts weiter wirksam ist. Der Beitrag von Birgit Sandkaulen darf als ein weiterer und engagierter Schritt zur Rehabilitierung Jacobis als eines eigenständigen Denkers von Rang gelten. Dies geschieht auf dem Wege einer argumentanalytischen Analyse von Jacobis berühmter Kritik der kantischen Konzeption eines Dings an sich und ihrer Rezeption durch Fichte. Hierbei zeigt Sandkaulen, daß die weitverbreitete und bis in die Gegenwart reichende Auffassung von dem, was Jacobis Argument ist, mit Jacobi selber so gut wie nichts zu tun hat. Dieser Auffassung zufolge impliziert Kants Begriff der Sinnlichkeit

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das kausale Verhältnis einer Affektion durch Dinge an sich; da aber die kritische Philosophie die Anwendung der Kategorien auf Dinge an sich untersagt, kann eine solche Affektion gar nicht sinnvoll gedacht werden. Diese Kritik ist indessen nicht Jacobi, sondern Gottlob Ernst Schulze zuzuschreiben, von dem sie über Schopenhauer ihren Weg in die Gegenwart gemacht hat. Mit diesem Befund muß aber auch die Debatte Fichte–Jacobi um das Problem des Dings an sich neu aufgerollt werden. Sandkaulen zeigt, daß Jacobi sein kantkritisches Argument vielmehr aus Kants Kritik der vierten Paralogismus sowie der Begründung der Komplementarität von transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus bezieht und insbesondere aus dem von Kant in diesem Zusammenhang erklärten Agnostizismus hinsichtlich der Annahme der Existenz einer externen Ursache unserer äußeren Anschauung, aus dem eine subjekt-unabhängige Realität affizierender Dinge an sich nicht abgeleitet werden kann. Dem entspricht Kants Erklärung, daß der Verstand mit Bezug auf die Sinnlichkeit den Gedanken eines Gegenstandes als Ursache der Erscheinungen denkt, ohne ihn kategorial näher zu bestimmen, und dessen Realität daher auch gar nicht erkannt und verifiziert werden kann. Daher kann von einer Realität eines affizierenden Dings an sich in Wahrheit keine Rede sein. Jacobis eigene Position besteht in einer an der Sinnlichkeit aufgewiesenen Realitätsgewißheit, in der Bewußtsein und äußerer Gegenstand unmittelbar miteinander verbunden sind, für die der Ausdruck Glaube steht und die Jacobi mit Kants Konzeption des empirischen Realismus gegeben sah. Jacobis Kant–Kritik besteht daher in dem Vorwurf, hinsichtlich der Theorie der Sinnlichkeit die Alternative Realismus vs. transzendentaler Idealismus nicht klar entschieden zu haben. Der Option des affizierenden Dings an sich als eines gedanklichen Konstrukts konnte sich Fichte sehr wohl anschließen. Sandkaulen zeigt am Ende, daß Fichtes Einverständnis mit Jacobi in diesem Punkt doch nur scheinbar ist. Denn gleichsam unter der Hand deutet Fichte nach Maßgabe seines eigenen Idealismus das von Jacobi betonte konstruktive Element zum Produkt subjektiver Handlungsweisen um, durch die die Realität als eine subjektunabhängige Instanz gesetzt wird. Auf diese Weise sucht Fichte nicht nur dem »leidigen Ding an sich« zu begegnen, sondern auch den Realismus Jacobis in den von ihm vertretenen Idealismus zu integrieren.

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5. In direktem sachlichen Bezug zu den Beiträgen von Sandkaulen und Waibel geht Jochem Hennigfeld Schellings früher Diskussion der Ding-ansich-Problematik und der Theorie der Gegenstandskonstitution nach. Vor dem Hintergrund seiner Fichterezeption entwirft Schelling die Grundzüge eines eigenständigen Systems der Philosophie, das das Projekt einer Geschichte des Selbstbewußtseins mit einer Philosophie der Natur und der Kunst verbindet. Schellings Diskussion der Kantischen Ding-an-sich-Problematik bewegt sich offensichtlich in den Bahnen Fichtes, da auch Schelling den Gedanken des Dings an sich mit dem Begriff eines Objekts der Erkenntnis identifiziert, das durch die Handlungsweisen des vernünftigen Subjekts, insbesondere durch die Funktion der transzendentalen Einbildungskraft, hervorgebracht wird. In diesem Zusammenhang findet auch die im Beitrag von Rüdiger Bubner behandelte Problematik des Verhältnisses von Unendlichem und Endlichem eine Erörterung. Dem Verbot eines Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen sucht Schelling mit seinem Konzept einer ursprünglichen Dualität zweier entgegengesetzter Tätigkeiten im menschlichen Geist Genüge zu tun, das der im Selbstbewußtsein gegebenen Selbstidentifikation einen theoretischen Ausdruck geben soll und zugleich das Fundament der Erklärung bestimmter Weisen des Gegenstandsbezugs als Bedingungen des Selbstbewußtseins liefern soll. Wenn Schelling das Verbot des Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen schließlich mit einer Referenz an Spinoza verbindet und das künftige System der Philosophie als eine sich aus einem »Keim« entwickelnde Organisation beschreibt, dann ist auch der Bezug zu der von Eckard Förster mit Blick auf Goethe und Spinoza diskutierten Rolle einer neu gefaßten scientia intuitiva manifest. Schelling war bekanntlich der erste, der sich öffentlich zu Fichtes neuem philosophischen Programm bekannte. Es ist ein Verdienst der neueren Forschung, die Selbständigkeit bereits des frühen Schelling gegenüber Fichte betont zu haben. Der Beitrag von Wilhelm G. Jacobs geht dem mit Blick auf Schellings frühe Interpretation der Funktion der Kategorien für die Begründung eines Systems der Philosophie genauer nach. Erstes Indiz hierfür ist Schellings Charakterisierung der logischen Form des obersten Grundsatzes der Philosophie, den er im übrigen anders als Fichte mit dem Satz »Ich bin Ich« gegeben sieht. Anders auch als Fichte unterscheidet Schelling zwischen einem Bedingtsein durch sich selbst und einem unbedingten Gesetztsein, sowie zwischen einer inneren und einer äußeren Form eines Satzes. Während das Bedingtsein durch sich

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selbst Schelling zufolge die innere Form des Inhalts des obersten Grundsatzes charakterisiert, ist das unbedingte Gesetztsein auf seine äußere Form zu beziehen. Die äußere Form betrifft hierbei das logische Verhältnis der Begriffe, die in ihm verbunden sind, während die innere Form die Art und Weise bezeichnet, wie ein Inhalt gegeben ist. Da in einem kategorischen Urteil Schelling zufolge das Prädikat dem Subjekt ohne Bedingung zugeschrieben wird, gilt für ein kategorisches Urteil »das Gesetz des unbedingten Gesetztseins«. So ist die äußere Form des Satzes »Ich bin Ich« ein unbedingtes Gesetztsein. Die Art und Weise, wie der Gehalt dieses Satzes, die Identität des Ich, gegeben ist, ist aufgrund der Spontaneität des Ich-Gedankens als ein Bedingtsein durch sich selbst zu beschreiben. Dies ist daher seine innere Form, das heißt die Form, wie der Gehalt gegeben ist, die ihrerseits die Bedingung der äußeren Form, des kategorischen unbedingten Gesetztseins, ist. In diesem logischen Verhältnis sah Schelling das Kriterium eines obersten Prinzips der Philosophie, das Fichte nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht habe. Diese Unterscheidung wendet Schelling auf die Modalitätskategorien an. Während das, was logisch möglich und d.h. widerspruchsfrei gedacht werden kann, in der Sicht Schellings unter keiner Bedingung steht und somit unbedingt gesetzt, wenngleich nicht wirklich ist, gilt für den Satz »Ich bin Ich«, daß sein Gehalt durch sich selbst bedingt ist. Daher ist sein Gehalt sowohl wirklich als auch notwendigerweise gesetzt. Aus der Beziehung des Bedingtseins durch sich selbst, die für den Ich-Gedanken gilt, auf das darin implizierte Kausalverhältnis ergibt sich ein Bezug zu einem Theoriezusammenhang in Kants praktischer Philosophie. Es ist dies Kants Lehre von den sog. Kategorien der Freiheit, die Kant als Modi der Kategorien der Kausalität im Sinne einer Kausalität aus Freiheit versteht. So läßt sich Schellings kategoriale Interpretation des obersten Grundsatzes der Philosophie auch als ein noch auszuführender Beitrag zur Interpretation der kantischen Theorie der Kategorien der Freiheit auffassen. Da Schelling den Ich-Gedanken als Einheit von Möglichkeit und Wirklichkeit, Denken und Anschauung faß, ergibt sich am Ende, wie Jacobs zurecht bemerkt, der sachliche Bezug zu Kants Überlegungen im § 76 der Kritik der Urteilskraft, auf den Eckard Förster aufmerksam gemacht hat. Der Beitrag von Ulrich Vogel greift das Verhältnis von Ich-Begriff und Kategorien noch einmal anhand eines detaillierten Vergleichs der Konzeptionen des frühen Schellings und Fichtes auf. Fichte wie Schelling suchen den Nachweis zu führen, daß die Kategorien als Funktionsweisen endlichen Erkennens ihren Ursprung im Begriff des Ich selber haben. Für

Kant und der Frühidealismus

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Fichtes Argumentation diagnostiziert Vogel mehrere Probleme, so die Zirkularität der Argumentation hinsichtlich der Voraussetzung bzw. Ableitung der logischen Prinzipien, den Ausgang von einem am Selbstbewußtseinsmodell orientierten Absoluten und eine nur äußerlich quantitative Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich. Demgegenüber gewinnt Schelling die Kategorien der Einheit, der Substanz, der Realität und des Seins mit Hilfe Spinozas aus der Strukturbeschreibung der Tätigkeit des reinen Ich bzw. aus dem Verhältnis von Ich und NichtIch, sofern das Ich als Inbegriff aller Realität seine Form auf das entgegengesetzte Nicht-Ich überträgt und damit sich selbst und das Nicht-Ich als endlich und beschränkt bestimmt. Entsprechend verläuft der Weg zum Ziel der Theorie, die Begründung der Identität und Realität des Ich in seinem Weltverhältnis, in entgegengesetzter Richtung: Während Fichte sich durchgängig an der Form des Urteils orientiert und daraus die Identität und Realität des Ich sowie alle anderen Kategorien gewinnt, begreift Schelling sie als unbegründbare Momente des absoluten Ich selbst, aus dem dann die Möglichkeit jeglichen Bestimmens in Urteilen erklärt wird. Hinsichtlich der Idee Schellings, mit Hilfe abgestufter Synthesen von Ich und Nicht-Ich einen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen begründen zu können, sind Vogel zufolge indessen Einwände am Platze, die nur auf praktischem Wege durch das Konzept des Strebens überwunden werden könnten. Schellings spätes Diktum, daß vom Unendlichen zum Endlichen kein Übergang möglich ist, wäre in dieser Hinsicht als indirekte Selbstkritik zu lesen. Eines der Desiderate der Idealismusforschung ist das Verhältnis Fichte–Schelling im Blick auf Fichtes neue Darstellung der Wissenschaftslehre und Schellings Konzeption der Transzendentalphilosophie bis 1800. Hier sucht der Beitrag von Christian Klotz einen Schritt weiter zu kommen. Es spricht vieles dafür, daß Fichtes neue Darstellung der Wissenschaftslehre durch Einwände motiviert worden ist, die insbesondere den logischen Status des Ich-Begriffs als einer aller bewußten Beziehung auf Gegenstände vorgängigen Instanz betreffen. Eine solche Konzeption zieht den Vorwurf der Transzendenz auf sich, den Hölderlin, Niethammer und Schmid erhoben, auf den Fichte indessen bereits in der ersten Wissenschaftslehre im Übergang zur praktischen Philosophie mit dem sog. genetischen Beweis in § 5 reagierte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Exposition des Ich-Begriffs in der Wissenschaftslehre nova methodo von dem Bemühen bestimmt, die im Ich-Begriff zu denkende Differenz zwischen einer ursprünglichen und nicht objektivierbaren, präreflexiven Selbstgegebenheit auf der einen Seite und einer identifizierenden, auf

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Einleitung · J. Stolzenberg

den Begriff der Tätigkeit bezogenen Selbstbeziehung auf der anderen Seite zu vermitteln. Sie ist zugleich die Grundlage des Aufweises weiterer Bedingungen des Selbstbewußtseins und seines Weltbezugs. In diesem Punkt kommen Fichte und Schelling überein. Während Fichte jedoch jene ursprüngliche Selbstgegebenheit des Ich als einen Sachverhalt des Bewußtseins begreift, setzt Schelling ihn als einen allem Bewußtsein vorgängigen Sachverhalt an, aus dem die begrifflichen Grundlagen für eine Philosophie der Natur gewonnen werden könnten. Die entscheidende Differenz ist Klotz zufolge darin zu sehen, daß Schelling den Sachverhalt des Bewußtseins durchgängig als gegenstandsbezogenes Vorstellen versteht, während Fichte für eine Konzeption von Selbstbewußtsein votiert, die diesseits aller vergegenständlichenden Bezugnahmen gleichwohl als bewußtseinsimmanent ausgewiesen werden kann. Evidenz hierfür ist für Fichte insbesondere das Selbstverständnis eines freien Handlungssubjekts, das allen selbstgesetzten Zwecken logisch vorausgehen muß. Eines der Verdienste von Klotz’ Beitrag ist es, die subtilen Unterschiede in Fichtes eigener Grundlegungskonzeption bis hin zur Neuen Bearbeitung von 1800 deutlich gemacht zu haben, die als Indizien für ein zunehmendes Problembewußtsein gelten können. Von hier aus gewinnt Klotz zum einen Klarheit über Schellings Fichte-Inspiration, zum anderen aber auch ein schellingkritisches Argument. Denn auf welche Weise Schellings Ansatz dem Vorwurf entgehen kann, eine ausgezeichnete Struktur des Bewußtseins auf eine bewußtseinsvorgängige Ebene nur zu projizieren, wird in Schellings Darstellung nicht ersichtlich. Überblickt man die Folge der Beiträge und ihre sachlichen Bezüge, dann erscheint die am Ende der Einleitung zum ersten Band der Reihe System der Vernunft – Kant und der Deutsche Idealismus formulierte Hoffnung ein gutes Stück erfüllt, daß die Untersuchungen des zweiten Bandes dem weiten Spektrum der ersten Formationsphase der nachkantischen Philosophie auf vielfältige und einander ergänzende Weise mit Blick auf die Struktur und die Tragweite der zentralen Argumente Rechnung tragen mögen. Im Anschluß an die hier vorgelegten Untersuchungen zu den frühidealistischen Debatten um die Möglichkeit der Begründung eines Systems der Philosophie wird der dritte Band den Systembegriffen sowie der Systemkritik um 1800 gewidmet sein.

I. KANT UND DIE SYSTEMBILDUNG IM FRÜHIDEALISMUS

Hans Friedrich Fulda

Der Begriff der Freiheit – Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen Vernunft?

Im Frühjahr 1795 hat Fichte sein System einer »Wissenschaftslehre« »das erste System der Freiheit« genannt.1 Es reiße »in der Theorie den Menschen los von den Ketten der Dinge an sich u. ihres Einflußes, die mehr oder weniger in allen bisherigen Systemen ihn banden«, und gebe »durch die erhabene Stimmung, die es mittheilt – Kraft, sich auch in die2 Praxis loszureißen«, wie die französische Nation »die politischen Feßeln des Menschen zerbrochen hat«. Der Zusammenhang, den Fichte zwischen diesem revolutionären Befreiungsereignis und dem eigenen System wahrnimmt, ist sogar enger, als schon durch einen Vergleich ausgedrückt werden könnte: Das System sei »in den Jahren des Kampfes der Nation um ihre Freiheit durch … inneren Kampf mit alten eingewurzelten Vorurtheilen entstanden«. Auf die ›grande nation‹ schauend fährt Fichte fort: »Der Anblick ihrer Kraft hat mir die Energie mitgeteilt, die ich dazu bedurfte, u. während der Untersuchung, u. Verteidigung der Grundsätze, auf die die Französische Nation aufgebaut ist, haben sich die ersten Grundsätze des Systems in mir zur Klarheit entwikelt.«3 – Soweit Fichte. Ähnlich, was den konstitutiven Zusammenhang von Freiheit und Philosophie betrifft, äußert sich der junge Schelling. Am 4. Februar 1795 schreibt er Hegel: »Mir ist das höchste Prinzip aller Philosophie das reine, absolute Ich, d. h. 1

Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Abt. III, Band 2 (1970), 298, 300. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 2 So bei Fichte. Die Abänderung zu »in der Praxis« scheint mir keine Verbesserung, sondern Preisgabe einer Pointe zu sein. 3 Ebd. 300; vgl. dazu Anonymus: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution. Erster Theil. Zur Beurtheilung ihrer Rechtmäßigkei (1793), in: GA I 1, 219–221.

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I. Kant und die Systembildung im Frühidealismus · H. F. Fulda

das Ich, inwiefern es bloßes Ich, noch gar nicht durch Objekte bedingt, sondern durch Freiheit gesetzt ist. Das A und O aller Philosophie ist Freiheit«.4 Hegel möchte sich, von Schelling stimuliert, 1795 »in einem Aufsatz deutlich … machen, was es heißen könne, sich Gott zu nähern«, und erörtert dazu verschiedene Begriffe von Willensfreiheit mit einer unverkennbaren Präferenz für jene Freiheit, die Schelling dem absoluten Ich in der praktischen Philosophie zuschreibt.5 Schließlich das sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, wer immer sein Verfasser war: Es spricht in dem uns erhaltenen Teil zwar nur von einer Ethik. Doch für die soll vor allem beachtet werden, daß »die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt«. Die Ethik ist daher diesem Entwurf zufolge »nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen«; ›Idee‹ aber heißt ihm nur, »was Gegenstand der Freiheit«, also vermutlich aus Freiheit hervorzubringen ist: Zuerst die Idee »von mir selbst, als einem absolut freien Wesen« und zuletzt die Idee, daß allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister herrscht. Auch für dieses besondere System also ist Freiheit das A und O.6 Im Kontrast dazu hat Kant nur behauptet, der Begriff der Freiheit, »sofern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist«, mache den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen Vernunft aus; all die anderen Begriffe, die »als bloße Ideen« (wie z. B. die von Gott und unserer Unsterblichkeit) in der spekulativen Vernunft »ohne Haltung bleiben«, schlössen sich an den Freiheitsbegriff an und bekämen mit ihm und durch ihn Bestand und objektive Realität.7 Auch das war eine bis dahin nie gehörte These. Auch sie betraf das Ganze (wenigstens) der reinen Vernunft sowie ihrer Ideen. Die These wurde an prominenter Stelle (gleich anfangs der Vorrede zur zweiten Kritik) plaziert. Sie war sogar in einem feierlichen Ton gehalten – durch die Rede von einem so kunstvollen Steingewölbe, wie fast nur Sakralbauten und Repräsentationsräume in Palästen es aufweisen. Aber im 4

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe von und an Hegel. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952. Band I, 22. 5 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Briefe von und an Hegel, Bd. I, 29. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hrsg. v. d. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg 1968ff. Band I (1989), 195f. – Zum Zusammenhang vgl. v. Vf.: Das älteste, systematisch-philosophische Manuskript, das uns von Hegel erhalten ist, in: Hegel in der Schweiz (1793–1796). Hrsg. v. Helmut Schneider, Norbert Waszek. Bern 1997, 133–144. 6 Ediert z. B. in: Hegel-Studien. Beiheft 9. Bonn 1982, 263f. 7 Immanuel Kant: Critik der praktischen Vernunft. Riga 1788, 4. Im folgenden zitiert als »KpV« mit Angabe der Seitenzahl der Auflage A.

Der Begriff der Freiheit

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Verhältnis zu den erwähnten frühidealistischen Verlautbarungen war der Ton vergleichsweise modest und der Inhalt erheblich weniger anspruchsvoll. Beide, Ton und Inhalt, dürften unserer prosaischen und metaphysikscheuen Gegenwart eher zusagen als die viel kühneren, eingangs genannten Äußerungen Fichtes, Schellings und des mit letzterem vielleicht nicht identischen Verfassers jenes Ethikprogramms, das uns in Hegels Handschrift überliefert ist. Sollte also nicht das Kantische Konzept wenigstens einen relativen Vorrang an Zustimmungsfähigkeit behaupten? Wenn ihm zuzustimmen wäre, so müßte die Philosophie sich mit der schwer genug zu erfüllenden Aufgabe begnügen, Prinzipien unserer gewichtigsten Ansprüche theoretischer und praktischer Erkenntnis so zu rechtfertigen, daß sie dadurch nachträglich systematisch miteinander verbunden werden. Vielleicht aber muß die Voraussetzung freien Handelns, die unter Begriffen von Gegenständen theoretischer Erkenntnis irritierend problematisch, im Interesse moralischer Erkenntnis und Beurteilung jedoch schwer zu vermeiden ist, eher in einem ›Kompatibilismus‹ verteidigt werden, der möglichst schwache Behauptungen aufstellt. Mancher jedenfalls ist heutzutage der Meinung, daß Kants Aussagen über Willensfreiheit schon viel zu viel des Metaphysischen enthalten. Denn der Begriff der Freiheit stellt, wenn er im Kantischen Bild als kunstvoll konisch behauener Stein symbolisiert wird, gewiß nicht nur eine Eigenschaft jenes – ›frei‹ genannten – Handelns oder Entscheidens dar, das Menschen überall an den Tag legen, wo sie etwas willentlich und ›aus freien Stücken‹ tun. Der Begriff soll vielmehr eine Freiheit in uns identifizieren helfen, welche die unbedingte, spontane und ihrem eigenen Gesetz folgende Kausalität eines moralisch guten Willens und als solche reine praktische Vernunft ist. Wer sich heute mit dem Freiheitsverständnis bei Kant oder bei den prominentesten Frühidealisten befaßt und im Hinblick auf ein System der Vernunft Fragen verfolgt, die zwischen diesen Autoren um 1795 kontrovers waren, tut daher wohl gut, eine weit ausgreifende Vorfrage zu stellen: 1) Was mag uns überhaupt zu jenem Schritt veranlassen, mit dem Kants praktische Philosophie beginnt? Zum Schritt nämlich, nicht nur zu behaupten, unsere Vorstellungen von uns selbst als zweckrational entscheidenden und handelnden Wesen seien verträglich mit unserem Bild von einem ›deterministischen‹ (wie immer probabilistisch modifizierten) Zusammenhang aller innerweltlichen Ereignisse, zu denen auch unsere Handlungen sowie Entscheidungen gehören, und

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diese Behauptung dann philosophisch auf plausible Weise zu begründen; sondern den darin enthaltenen Begriff freier Willkür, die sich auf gewisse Zwecke festlegt, zu ergänzen durch das anspruchsvolle Konzept eines hiervon unterschiedenen, aber damit verbundenen freien Willens, dem die erwähnte Unbedingtheit einer reinen praktischen Vernunft eignet, so daß am Ende zur Diskussion steht, ob auch solche Vernunft (vielleicht als eine Kausalität unter einem eigenen, praktischen Gesetz) mit der naturgesetzlichen Determination aller Gegenstände theoretischer Erkenntnis verträglich ist oder nicht. Die Vorfrage ist daher auch: Warum enthalten unsere spezifisch moralischen Praktiken noch ein anderes Konzept von Freiheit als dasjenige freier Willkür – und welche Minimalbestimmungen werden wohl zu diesem Konzept gehören?8 Wenn eine Antwort auf diese Frage gegeben werden kann und wenigstens in allergröbstem Umriß vorliegt, darf man dann aber wohl wissen wollen: 2) Was besagt das Kantische Bild vom Gewölbe eines Systems der reinen Vernunft mit der Stelle für einen »Schlußstein«, in welche angeblich nur der Freiheitsbegriff paßt? 3) Gibt es – das Freiheitsverständnis betreffende – Gründe, sich von der im Bild ausgedrückten These zu distanzieren, und wie verhielt sich Kant zu diesen Gründen? 4) Erlauben die Gründe oder erzwingen sie gar, die Kantische Auffassung in Richtung auf die zitierten frühidealistischen Urteile über das Verhältnis von Freiheit und System zu revidieren? Das jedenfalls werden meine Hauptfragen sein. Es versteht sich, daß sie hier nur sehr überschlägig erwogen werden können, also nicht im Wege einer eingehenden Würdigung der einschlägigen Texte oder gar in Anpassung an die derzeitige Konstellationsforschung zum Frühidealismus. Es sollte auch klar sein, daß die Sachprobleme, um die es gehen wird, hier durchweg diesseits von den verwegenen frühidealistischen Konzepten einer Methodik systematisch-philosophischen Erkennens verhandelt werden müssen.9 8

Vgl. dazu die verwandte Frage von Rolf-Peter Horstmann: Welche Freiheit braucht Moral?, in: Bausteine kritischer Theorie. Arbeiten zu Kant. Bodenheim bei Mainz 1997, 201ff. 9 Daß inhaltliche, epistemologische und Methodik-Fragen in Bearbeitung und Darstellung eines Vernunft-Systems eigentlich nicht voneinander getrennt werden können, aber das Bewußtsein von ihnen in den frühidealistischen Entwürfen ungleich weit entwickelt ist, macht das Faszinierende an diesen Entwürfen, aber auch ihren

Der Begriff der Freiheit

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1. Welche Freiheit – warum? In der Frage, ob menschliche Freiheit mit dem Determinismus, recht verstanden, vereinbar sei, geben die neueren Debatten zwischen ›Optimisten‹10 und ›Pessimisten‹ übereinstimmend zu erkennen, daß wir vor allem deshalb uns selbst und andere als frei handelnde Wesen zu nehmen tendieren, weil von der Voraussetzung solcher Freiheit unser Urteil über jene Praktiken abhängt, mit denen wir eigenes Handeln oder das Handeln anderer billigen bzw. in anderen Fällen mißbilligen und hieran u. U. weitere zwischenmenschliche Praktiken anschließen, wie z. B. Lob und Tadel, Belohnung und Strafe. Ich werde solche Billigungs- bzw. Mißbilligungsakte und was ihnen folgen mag der Kürze halber pauschal ›Reaktionspraktiken‹ oder ›reaktive Praktiken‹ nennen und auf sie bezogen auch von ›reaktiven Haltungen‹ sowie ›reaktiven Akten‹ sprechen. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit man dergleichen für gerechtfertigt halten kann? Eine von ihnen ist leicht zu erkennen: Wer z. B. jemanden (sich selbst oder einen anderen) verantwortlich macht für etwas, das nicht hätte geschehen sollen, und urteilt, der Betreffende habe keine (ausreichende) Entschuldigung für seinen Anteil daran, daß es geschah, der muß auch in der Lage sein, dem Betreffenden wahrheitsgemäß vorzuhalten, »du hättest anders handeln können«; während umgekehrt der so zur Rede Gestellte entschuldigt ist, wenn er wahrheitsgemäß sagen darf: »Wie die Dinge lagen, konnte ich nicht anders und konnte auch nicht etwas wissen, das ich hätte wissen müssen, um anders handeln zu können.« Vielleicht mag er trotzdem, z. B. als Halter eines Tiers, für Schäden, die eingetreten sind, zurecht haftbar gemacht werden. Zumindest aber einen persönlichen Vorwurf, oder daß man ihm sein Verhalten übel nimmt, wo nicht gar ihn bestraft, verdient er in einem solchen Fall nicht. Mutatis mutandis ähnlich liegen die Zusammenhänge in den entgegengesetzten Fällen, in welchen jemandes Verhalten persönlicher

Mangel an Niveau aus. Den hiervon ausgehenden Anziehungs- und Abstoßungswirkungen möchte ich mich durch rigorose Reduktion von Komplexität entziehen. 10 Vgl. Peter F. Strawson: Freedom and Resentment, in: Proceedings of the British Academy 48 (1962), 187–211 und (vor allem) Daniel C. Dennett: Ellbow Room. Oxford 1984 (deutsch: Ellenbogenfreiheit. Frankfurt/M 1986). Zur älteren Diskussion vgl. Ulrich Pothast: Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise. Zu einigen Lehrstücken aus der neueren Geschichte von Philosophie und Recht. Frankfurt/M 1980; und Seminar: Freies Handeln und Determinismus. Hrsg. v. Ulrich Pothast. Frankfurt/M 1978. Unter neueren Arbeiten ist vor allem zu nennen: Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München 2001.

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Auszeichnung würdig ist. Die Betätigung freier Willkür (im Sinn von ›… hätte anders handeln können‹) ist jedenfalls eine notwendige Bedingung für die Zulässigkeit der Reaktionspraktiken, um die es hier geht; und das wohl nicht nur bei demjenigen, dem diese Praktiken gelten, sondern in qualifizierten Fällen auch bei dem, der sie ausübt. Ist die Bedingung zugleich hinreichend? Vermutlich für gewisse Sonderfälle solcher Reaktionspraktiken. Es dürfte keine Schwierigkeiten machen, die Berechtigung von reaktiven Haltungen, wie z. B. von derjenigen des Übelnehmens oder jemandem etwas zum Verdienst Anrechnens, einzusehen, wenn die Handlungen oder Entscheidungen, auf die sie bezogen sind, aus rationaler Selbstkontrolle hervorgegangen und Gegenstände von Selbstbeurteilung und Selbstbilligung oder -mißbilligung sind.11 Unter dieser Voraussetzung erfolgen auch eventuelle weitere reaktive Akte beim Betreffenden einfach gemäß der ratio jener Selbstkontrolle und ihrer Ausrichtung auf den Sollzustand der Kontrolle – auf welches »Soll« der Betreffende immer in der eigenen Natur oder Vernunft bis dahin festgelegt sein mag. Ob es sich um eine Selbstkontrolle handelt, die pragmatisch (dem eigenen Glück des Betreffenden dienend) ist oder im engeren Sinn praktisch, nämlich moralisch (d. h. auf das schlechthin Gute ausgerichtet), macht hinsichtlich zu bejahender oder zu verneinender Berechtigung keinen Unterschied. Wie aber liegen die Dinge, wenn der Beurteilende (Billigende, Mißbilligende etc.) und der Beurteilte (oder Adressat weiterer reaktiver Praktiken) verschiedene Personen sind? Mit welcher Berechtigung mischt sich hier der eine ins selbstkontrollierte Entscheiden oder Handeln des anderen ein, wenn er ihm mit den eigenen reaktiven Praktiken nicht nur des Beurteilenden, sondern auch des Billigenden, Mißbilligenden, verantwortlich Machenden usw. begegnet? Nur mit der Berechtigung, ihn seiner, des Beurteilenden, eigenen Pragmatik zu unterwerfen und entsprechend ›klug‹, d. h. den eigenen Regeln der Selbstkontrolle folgend, mit ihm umzugehen? Würde man solche Berechtigung generalisieren und entsprechende Regeln zwischenmenschlichen Umgangs institutionalisieren, so ergäbe sich daraus jene berüchtigte Auffassung von Gerechtigkeit, welche der Sophist Thrasymachos im ersten Buch von Platons Politeia vertritt. Oder darf man hoffen, wenn die Selbstkontrolle von einem jeden nach besten Kräften entwickelt, aufs je eigene Glück gerichtet und nur konse11

Wenigstens solange der Beurteilende sich, dem Beurteilten, noch nicht fremd geworden ist.

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quent genug ausgeübt würde, so ergebe sich am Ende unsere Einmütigkeit in dem, worein jeder sein Glück setzt, von selbst; und das erlaube auch jetzt schon, daß wir uns mit Reaktionspraktiken unerbetenerweise ins Entscheiden und Handeln anderer einmischen? Das ist nicht anzunehmen und angesichts der Kürze unseres Lebens sogar absurd. Was aber soll dann solche Einmischung erlauben, die ja oft keine Kleinigkeit, sondern in der Ökonomie eines freien, selbstkontrollierten Lebens schwer zu verkraften ist. (Man denke an harte Strafen, aber auch an Lobeserhebungen wie die in unseren Starkulten üblichen mit ihren häufig desaströsen Folgen fürs Glück dessen, dem sie zuteil werden.) Sollte hier die Berechtigung zur Einmischung daran gebunden sein, daß sich die reaktive Praktik in die Interessenperspektive des jeweils anderen einordnet? Dann müßte wohl der größte Teil unerbetener Einmischungen unterlassen werden. Oder müssen diese ›im wohlverstandenen Interesse‹ der anderen erfolgen? Da wäre natürlich die Frage, von welcher Seite aus dieses Interesse wohl verstanden wird und wer darüber entscheidet. Die Suche nach Antwort hierauf könnte im Bereich verschiedener Lebenspragmatiken wohl nur auf Willkürentscheidungen oder einen regressus ad infinitum in den Entscheidungsinstanzen führen. Solange nur pragmatische Kontexte berücksichtigt werden, scheint eine Einigung darüber, daß eine faktisch ausgeübte oder erwogene Reaktionspraktik zulässig ist, zwischen den beiden Seiten (des Beurteilenden und Beurteilten) allenfalls durch günstige Umstände oder Wohlwollen zustande kommen zu können, nicht aber abgenötigt von Prinzipien, die zu diesen Kontexten gehören. Durch Prinzipien und ihnen entsprechende Verpflichtungen zu einer solchen Einigung kommen zu können, dürfte jedoch eine Minimalvoraussetzung dafür sein, daß sich Freiheit qua notwendige Bedingung für die Berechtigung von Reaktionspraktiken zur hinreichenden ergänzen läßt – durch welche Bestimmungen immer ihr Begriff dabei spezifiziert und welchem logischen Subjekt er zugesprochen werden muß. Das philosophische Konzept spezifisch moralischen Handelns (und subjektiver Voraussetzungen desselben) verspricht u. a. Aufschluß darüber, aus welchen Gründen die Minimalvoraussetzung erfüllt ist. Die neuere Diskussion zwischen Optimisten und Pessimisten in Sachen ›Kompatibilismus‹ und ›bedingter Freiheit‹ hat dafür nichts durchgehend Überzeugendes geleistet.12

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Das gilt selbst für die eindrucksvollen, wunderbar konkret werdenden Ausführungen Peter Bieris (a.a.O., S. 320 ff.).

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Wie aber läßt sich das Versprechen einlösen? Wie läßt sich einsehen, daß die Minimalvoraussetzung erfüllt ist bzw. durch ein entsprechend verpflichtendes Handeln gesichert werden kann? Jedenfalls nicht durch Hinweis auf die Tatsache, daß in viele soziale Rollen, in die wir uns beim Zusammenleben teilen, die Berechtigung, ja Verpflichtung, unter spezifischen Umständen zu typischen Reaktionspraktiken überzugehen, bereits eingebaut ist. Denn mit der problematisierten Berechtigung von Reaktionspraktiken stehen natürlich auch Berechtigung und Verpflichtung zum Etablieren sowie Übertragen oder Übernehmen solcher Rollen zur Diskussion. Wohl wissen wir, solange wir uns den entsprechenden Rollenerwartungen anvertrauen dürfen, im Normalfall schlecht und recht, welche Eingriffe ins Leben anderer durch rollenspezifische Reaktionspraktiken uns erlaubt oder geboten sind und welche nicht. Doch das darf nicht die Erörterung der grundsätzlichen Frage in die Irre führen. Es ist für sie unerheblich. Irgendwie müssen wir, wenn wir zu einer überzeugenden Auskunft gelangen wollen, vom pragmatischen Beurteilungskontext das Moralische abheben, um hierin einen Grund für die Minimalvoraussetzung zu entdecken. Des Näheren aber dürfte sich die Absicht, dahin zu gelangen, nur realisieren lassen, wenn man bei der erforderlichen Abhebung zurückzugehen versucht in den inneren Grund dafür, daß gewisse Entscheidungen und Handlungen moralischen Charakters sind. Nicht aussichtsreich wäre es jedenfalls, die Abhebung bloß durch eine objektive moralische Forderung vorzunehmen, wie z. B. diejenige, die Einmischung durch Reaktionspraktiken müsse ›fair‹ sein. Dann nämlich wäre nach Kriterien der Fairness für die extreme Mannigfaltigkeit solcher Beurteilungssachen zu fragen. Die Suche nach Antwort würde schnell ins Uferlose führen. Aussichtslos wäre in einem so weiten Feld auch die Strategie,13 zwischen der intuitiven Einschätzung von Einzelfall-Entscheidungen und der Plausibilität einiger weniger, versuchsweise aufgestellter Grundsätze ein »Reflexionsgleichgewicht« zu finden. Utilitaristische und kommunitaristische (oder antikisierende) Begründungsversuche dürften sogar noch eher versagen. Die Berechtigung könnte sich nicht einmal auf die Forderung stützen, die Einmischung müsse aus der Perspektive eines möglichst desengagierten Dritten erfolgen – des ›impartial spectator‹, mit Hilfe von dessen Fiktion Adam Smith unsere berechtigten ›moral sentiments‹ von den unberechtigten zu scheiden versuchte. Denn dann wäre, von der problematischen Leistungsfähigkeit dieses Kri13

Vgl. J. Rawls: A Theory of Justice. Oxford 1972. Chapter I, 4.

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teriums abgesehen, zu befürchten, daß unseren reaktiven Haltungen und Handlungen jener emotive, protreptische Charakter verloren ginge, denen sie im Idealfall das Beste verdanken: ihre motivierende Kraft. Fazit: Gerade die Reaktionspraktiken und was ihnen an Einstellung zugrunde liegt, d. h. diejenigen Handlungen und Haltungen, um deren willen wir allen Anlaß haben, uns selbst und andere als frei handelnde Wesen zu nehmen, finden ihre Berechtigung noch nicht in einer Freiheit, die nur frei bestimmte Willkür im pragmatischen Handlungskontext ist: daß wir eine Fähigkeit betätigen, über unsere Handlungsabläufe zu entscheiden, und daß wir die Entscheidung im Licht unserer Erfahrungen sowie unserer Interessen und gemäß unseren Plänen möglichst klug treffen, so daß Berücksichtigung findet, was wir selbst sein und bleiben wollen, und wir uns dabei unter unserer eigenen Kontrolle befinden, aber nicht abhängig sind von der Kontrolle eines anderen. Die Reaktionspraktiken finden ihre Berechtigung auch nicht schon, wenn solches Handeln (zu welchem auch ein Roboter fähig sein könnte) als ein ›Handeln unter der Idee von Freiheit‹ in Dennetts Sinn14 ergänzt wird durch die weitere Bestimmung, daß einer für das, was durch ihn geschieht, sich selbst und anderen gegenüber Verantwortung übernimmt. Denn daß sich ein anderer vor mir verantwortet und daß er bereit ist, für Schäden, die er verursacht hat, im Rahmen seiner Möglichkeiten aufzukommen, daß er willens ist, aus dem Vorgefallenen zu lernen, und sich im Hinblick auf künftige, ähnliche Fälle (gemessen an seinen Werten) bessern möchte, erlaubt mir noch lange nicht, ihm meinerseits ein Übel anzutun und dadurch (gemessen an meinen Werten) auf seine Besserung hinzuwirken. Zu den fraglichen Praktiken berechtigen für sich genommen noch nicht einmal irgendwelche spezifisch moralische Forderungen, die ich zu erfüllen habe, oder objektive Prinzipien, aus denen sie sich ergeben mögen, und auch nicht ein in unserer Gefühlsnatur verankerter Mechanismus von faktisch auftretenden Billigungs- sowie Mißbilligungsprozessen, die unser Zusammenleben stabilisieren und zu Regeln zwischenmenschlichen Verhaltens führen. Es berechtigt mich zu ihnen überhaupt nichts, was sich ausschließlich im objektiven Kontext unserer Handlungen findet. Wohlweislich hat es denn Kant auch unterlassen, unter seine Beispiele für Pflichten, die direkt aus dem Kategorischen Imperativ abzuleiten sind,15 das Ausführen oder Respektieren von Reaktionspraktiken aufzu-

14 15

Ellenbogenfreiheit, loc. cit. S. 214f. Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Zweiter Abschnitt.

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nehmen.16 Viel hingegen spricht dafür, die Lösung unseres Problems im Rückgang auf einen inneren, subjektiven Grund für das spezifisch Moralische unserer Willensbestimmung zu vermuten und den Begriff des Moralischen dadurch inhaltlicher zu fassen, als wenn man ihn vom Pragmatischen bloß über spezifische Lebensformen, Grundsätze oder Billigungsmechanismen abgrenzt. Wenigstens einiges davon sei hier angeführt. Worin mag der vermutete Grund bestehen? Das zeigt sich wohl am besten, wenn man auf grundlegende Gegebenheiten achtet, aus denen das Problem hervorgeht. Wir haben in verschiedenen Personen verschiedene, subjektive, in ihrem Wirkungsgrad je besonders begrenzte Instanzen für rationale Willkürentscheidungen und entsprechend auch bei jeder Person eine spezifisch begrenzte Willkürfreiheit. Aber Aussicht, von Fremdbeurteilung aus zu berechtigten Reaktionspraktiken oder über deren Berechtigung zu einer Einigung mit anderen Personen zu gelangen, haben wir nur, wenn die Instanz, welche über die Berechtigung der Praktiken zu entscheiden hat, im Beurteilenden und Beurteilten (wie bei einer Selbstbeurteilung) letztlich dieselbe ist, wenn sie ferner allen Instanzen, unter denen bloße Willkürentscheidungen gefällt werden, übergeordnet, im Verhältnis zu ihnen also eine höchste ist und wenn die Gründe, aus denen sie entschieden wird, für alle allemal gleiches Gewicht haben. Nur dann nämlich können beide, Beurteilender und Beurteilter, im Zweifelsfall auf diese Instanz und ihre Gründe verweisen bzw. verwiesen werden (wie immer die Willkürentscheidung des Beurteilten und des Beurteilenden ausgefallen sein mag) und kann zugunsten einer gewissen Reaktionspraktik, diese rechtfertigend, für beide verbindlich und Einigungs-chancenreich argumentiert werden: volenti non fit iniuria.17 Sich an eine solche Instanz und ihre Gründe zu halten, ist keine leere Forderung, deren Erfüllung ein frommer Wunsch sein könnte. Die Instanz besteht, so gewiß wir alle Vernunft haben und diese in allen »Vernunftwesen« eine und dieselbe ist, wie ja auch das sie bezeichnende Substantiv in jeder seiner Bedeutungen ein »singulare tantum« bildet, das man fast nur dem substantivierten Infinitiv von Verben vergleichen kann. Als so unspezifiziert-umfassende nämlich ist die Vernunft (sofern Ver16

Selbst die Metaphysik der Sitten behandelt von diesen Praktiken nur solche des Strafrechts (vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Allgemeine Anmerkung zum Staatsrecht E.), die sich erst dadurch rechtfertigen, daß durch Befolgung des Postulats öffentlichen Rechts (a .a.O. § 42) ein »rechtlicher Zustand« begründet ist. Die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre hingegen kommen nur bis zur Forderung, mit dem Lasterhaften allen geselligen Umgang abzubrechen (ebd. § 48). 17 Vgl. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre § 46.

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nunftwesen nicht allemal endliche und endlich »vermögende« sein müssen) nicht beschränkt auf Willkür und deren je verschiedene Begrenzung in vereinzelten Individuen. Als »praktische«, d. h. im Setzen und Verwirklichen von Zwecken tätige, reduziert sie sich auch nicht eo ipso auf diejenige Endlichkeit, die uns qua »sinnlich bedingte« Vernunftwesen auszeichnet: uns zum Guten bestimmen zu sollen, aber dies nicht schon kraft der eigenen Natur zu tun. Außerdem aber ist sie als praktische Vernunft der Willensbestimmung ebensowenig von je spezifischen unserer Naturgegebenheiten wie von der Gegebenheit der uns gemeinsamen endlichen Natur abhängig, also nicht an ihr selber endlich.18 Auf Vernunft als solche Instanz hin werden wir durch das Gefühl oder Bewußtsein einer spezifisch moralischen Verpflichtung angesprochen, als auf

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Das hindert natürlich nicht, sondern verbindet sich im Fall »unserer« endlichen Vernunft damit, daß die Betätigung dieser Vernunft als praktischer gleichwohl (wie auch die Willkür) auf Setzung und geregelte Verwirklichung von Zwecken durch Entscheidungen freier Willkür und daraus hervorgehende freie Handlungen geht. Nur muß sie im Unterschied zu derjenigen bloßer Willkür unter einem Gesetz erfolgen, das (anders als bloße Regeln rationaler Selbstkontrolle über die Willkür) für alle Subjekte solcher Betätigung, in allen Fällen und bei allen Gelegenheiten der Betätigung ein und dasselbe ist und im ersten Schritt seiner Anwendung (auf den reinen Willen selbst) zu einer Willensbestimmung führt, die noch nicht bedingt ist von den verschiedenen Gegebenheiten der menschlichen Natur in verschiedenen Personen und von je besonderen Umständen, unter denen sich die einzelnen Menschen befinden. In diesem Sinn (aber nur in ihm) ist das Gesetz samt der sich daraus ergebenden Willensbestimmung unbedingt. Bedingt hingegen ist die Willensbestimmung bereits durch die Endlichkeit reiner Vernunft bei den Menschen, insofern sie bei ihnen durch das Gesetz als Verpflichtung, d. h. durch einen Nötigung mit sich bringenden Imperativ erfolgt, wie sie natürlich in der weiteren Anwendung des Gesetzes auch durch je spezifische Gegebenheiten des einzelnen Menschen weiter bedingt wird. Man darf Kant also nicht den Unsinn in die Schuhe schieben, mit der Unbedingtheit reiner praktischer Vernunft und eines »kategorischen« Imperativs werde unsere Willkürfreiheit oder die Freiheit, sich für diese oder jene Handlung zu entscheiden, als unbegrenzt betrachtet. Daß diese Freiheit eine jeweils (beim einen so, beim anderen anders) von innen und außen begrenzte ist, versteht sich von selbst, wird also nicht eigens betont. Betont zu werden verdient etwas anderes: Soll die Verpflichtung durchs Gesetz und die Befolgung von Pflichten, die sich aus ihm ergeben, keinem der Verpflichteten ein Unrecht antun können, so muß das Gesetz dem Vermögen der Willensbestimmung, d. h. der reinen praktischen Vernunft, nicht fremd, sondern dieser Vernunft von ihr selbst gegeben sein. Nichts anderes aber als solche Autonomie reiner praktischer Vernunft ist die Willensfreiheit nach ihrem Kantischen Begriff: daß das Willensvermögen dadurch ausgezeichnet ist, sich als reine praktische Vernunft das Gesetz seiner Bestimmung (zu Zwecken und ihrer Verwirklichung) selbst zu geben, und daß es die Kraft besitzt (sowie betätigt), deren es zur Willensbestimmung und Zweckverwirklichung unter diesem Gesetz bedarf.

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einen letzten, rein moralischen Grund von Willensbestimmung (für zu treffende Willkürentscheidungen). Die eine, sich selbst ihr Gesetz gebende und nach ihm bestimmende praktische Vernunft ist ferner nicht nur »gehabt« oder auf dunkle Weise am Werk. Sie ist jedem von uns, der seine zum Menschsein gehörenden Fähigkeiten hinlänglich entwickeln konnte, im praktischen Diskurs epistemisch zugänglich, und mein Zugang zu ihr findet nicht statt, ohne daß ich mich erhebe zur Idee eines reinen Willens, der in mir wirksam ist (indem er meine Willkür nach einem allgemeinen Gesetz bestimmt). Nicht nur die Vernunft als höchste Entscheidungsinstanz, sondern auch dieser reine Wille ist in jedem Vernunftwesen ein und derselbe. Er ist unserem Bewußtsein in uns selbst des weiteren nicht nur zugänglich. Durch die Weise, wie wir als moralische Wesen heranwuchsen, sind wir seiner vielmehr auch teilhaftig – und dies in einer jeweiligen, mit anderen gemeinschaflichen Konkretion, in die wir schon hineingeboren wurden und der anzugehören (oder nicht anzugehören) unserer Willkür entzogen ist, bevor es auch von ihr abhängig wird. Wir täuschen uns daher selbst, wenn wir meinen, wir könnten durch unsere Natur oder unsere Willkür so radikal Amoralisten sein, daß wir am reinen Willen keinerlei Anteil hätten und die Erhebung zu seiner Idee einzig dem Zufall oder unserer Willkür zuzuschreiben wäre. Die moralisch-praktische Vernunft unserer Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen ist in ihrer Wirklichkeit, in der sie sich entwickelt und existiert, ihrem Begriff nach eine durch und durch soziale. Alles, was in ihrer individuellen Betätigung geschieht, vollzieht sich in Fortsetzung und Applikation gemeinschaftlich erlangter Fertigkeiten und unter Normen, die keiner sich gänzlich allein gegeben hat. Wir dürfen daher auch nicht annehmen, die Abwandlung, Ergänzung, Verbesserung, Infragestellung oder Verwerfung solcher Normen oder der Verstoß gegen sie könne ein Akt bloß individueller Willkür sein, der den anderen nichts angeht. Ebensogut wie die Selbstbeurteilung gehören zum Umgang mit diesen Normen die Beurteilung, Billigung, Mißbilligung (nebst weiteren Reaktionspraktiken) seitens anderer sowie gegenüber anderen. Dabei geht es in diesem (oftmals konfrontativen) Hin und Her von individuellen Reaktionen nicht nur um persönliche Interessen. Die Teilhaberschaft und Erhebung nämlich sind in ihrer Qualität nicht einmalig und unveränderlich. Sie müssen stets neu bekräftigt und verwirklicht werden. Die Verwirklichung aber ist nicht nur ein einsames Geschäft, das jeder in sich selbst zu vollziehen hat, sondern wesentlich auch ein gemeinschaftlicher Vollzug. Schon das erste Sich-Erheben hat nicht den Sinn, daß einer eine namenlose Autorität über andere arrogiert.

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Es wird gemeinsam mit jemandem vollzogen – wie es auch alle angeht, die sich von einer moralischen Verpflichtung ansprechen lassen und sich ihr nicht entziehen. Jeder, der es leistet, indem er (für andere wahrnehmbar) eine moralische Forderung erfüllt, fordert damit die anderen auf, es ihm gleichzutun. Alle, die es zustande bringen, kehren aus den faktischen Trennungen und Verschiedenheiten ihrer freien Willkür in einen gemeinsamen Ursprung zurück, der keinen von ihnen vor einem anderen bevorzugt oder hinter ihm zurücksetzt. Sollte das keine Chance eröffnen, zu einer prinzipiellen Einigung über die Zulässigkeit von Reaktionspraktiken zu kommen und einzusehen, daß die Minimalvoraussetzung erfüllt ist, unter der sich die notwendige Bedingung solcher Zulässigkeit zur hinreichenden ergänzen mag? Freilich mag die Instanz, welche die reine Vernunft ist, mit ihren Gründen und mag auch der ihr entsprechende reine Wille vom Bewußtsein der Präferenzen aus, welche die Willkür des einen oder anderen hat, mehr oder weniger leicht zugänglich und die Teilhaberschaft mit diesem Willen stärker oder schwächer aktivierbar sein. Das eine oder andere Bewußtsein mag die Instanz sogar leugnen oder ihre Gründe verkennen. Es muß also auch zwischen Beurteilendem und Beurteiltem um die rechte Einstellung dazu und um Einsicht in diese Gründe gestritten werden, so daß sich die weitere Frage stellt, nach welchen Kriterien dieser Streit entschieden werden kann – nicht zuletzt in Konfrontation mit einem (moralisch verdorbenen) Beurteilten, der diese höchste Instanz, ihre Gründe oder ihre Zugänglichkeit schlicht leugnet. Das mag sogar den Eindruck erwecken, man sei mit der »Annahme« reiner Vernunft bei der Suche nach zureichenden Gründen für die Reaktionspraktiken so klug als wie zuvor. Näher besehen aber ist das durchaus nicht der Fall, wie jeder bei sich selbst bemerken kann, wenn er in die Geschichte seiner eigenen moralischen Entwicklung zurückgeht: Er begegnet darin durchaus nicht nur eigenen moralischen Meinungen, sondern vorrangig seiner Arbeit an der Frage, was die eine, in uns allen wirksame, auf Willkürbestimmung ausgehende Vernunft für diesen oder jenen konkreten Fall und unter Einschluß von Reaktionspraktiken anderer forderte. Im Rückblick auf solche Einsicht gilt daher auch: wer sich zur Idee eines reinen Willens und seiner ›autonomen‹, unbedingten Freiheit erhebt oder diese Erhebung bekräftigt, der übersetzt, wenn es berechtigte Reaktionspraktiken seitens anderer gegen ihn gab, diese Praktiken in selbstbezügliche, mit denen er – und sei’s dank fremder Hilfe – seine eigene moralische Kultivierung betreibt, während er überdies (durch Bekundung der Bereitschaft, den Forderungen des moralisch-praktischen

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Gesetzes zu entsprechen) die anderen auffordert, desgleichen zu tun. Indem seine eigenen Reaktionspraktiken gegenüber anderen zugleich darin ihre nähere Bestimmung finden, daß sie dazu beitragen, seitens der anderen ihrerseits in selbstbezügliche Reaktionspraktiken überführt zu werden, erfüllt er zu seinem Teil die Minimalvoraussetzung, von der die Rede war. Indem aber unter der Idee eines reinen Willens jeder hierzu verpflichtet ist, kann es auch – durch Verpflichtung – zu einer Einigung darüber kommen, daß eine bestimmte Reaktionspraktik zulässig ist. Insofern ist die Minimalvoraussetzung erfüllt, denn eben dies war ihr Inhalt. Die Einigung wird dadurch ermöglicht, daß alle verpflichtet sind, selbst an ihrer moralischen Kultivierung zu arbeiten, und jeder den anderen, sollten sie es an der Erfüllung dieser Pflicht fehlen lassen, nicht zumutet, sich durch fremde, auf ihre Besserung ausgehende Hilfe bessern zu lassen, sondern ihnen nur die optimalen Voraussetzungen ihrer moralischen Selbstbildung verschafft. Natürlich mögen wir es mit der Erfüllung unserer Pflichten leichter oder schwerer haben als andere; wir mögen einer dem anderen hier und da in moralischer Selbstbildung ein Stückchen voraus sein. Aber nicht einmal das berechtigt uns moralisch, die anderen mit unseren Reaktionspraktiken bessern zu wollen. Es könnte ja auch nur nach unseren Vorstellungen von Besserung geschehen und würde damit in den Augen des Anderen von vorneherein suspekt. Mit allem hier Vorgebrachten ist natürlich nicht sichergestelt, daß ein moralischer Disput zwischen einem Beurteilten und einem ihn Beurteilenden allemal zugunsten der Bestätigung moralischer Normen und Rechtfertigung der diese stützenden Reaktionspraktiken entschieden werden kann. Allenfalls eine systematische Phänomenologie der Moralität (im Hegelschen Sinn einer solchen) könnte den Skeptiker in Sachen moralischer Überzeugung (und den, der vorgibt, ein solcher zu sein), aus jedem sophistischen Schlupfwinkel vertreiben und jeden seiner Winkelzüge widerlegen. Ohne Frage aber werden die Chancen für eine solche Phänomenologie mit dem Begriff eines reinen Willens, der Freiheit als autonome praktische Vernunft ist, sehr viel besser als ohne ihn. Die ›autonome‹, unbedingte Freiheit reiner praktischer Vernunft kann die notwendige Bedingung für die Berechtigung von Reaktionspraktiken am ehesten zur hinreichenden ergänzen.

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2. Die Schlußstein-Symbolik Daß Kant den Freiheitsbegriff mit einem Schlußstein vergleicht, ist subtil und vielsagend, wie auch die metaphorische Rede vom System der reinen Vernunft als einem Gebäude, in welches der Schlußstein gehört. Das Gleichnis sollte, bevor man die mit ihm gemachten Aussagen problematisiert, in der Reichhaltigkeit seiner Bedeutungsdimensionen wahrgenommen werden. Dazu sechs Bemerkungen: 1) Das Gebäude, mit welchem das System verglichen wird, umschließt einen Raum, in den wir eintreten können, der aber auf mindestens zwei Seiten begrenzt und von einem Gewölbe überspannt ist. Beide Seiten, wie auch das Gewölbe, bestehen aus verschiedenen Materialien, die uns beim Eintritt näher oder ferner sind, aber auf einem gemeinsamen Fundament ruhen. Ähnlich haben wir es beim System der reinen Vernunft mit einem imaginären, aber gestalteten Bewußtseins-Raum zu tun. In ihm heben sich, wenn man der natürlichen Ordnung eines Baues folgt, klar voneinander ab: ein Fundament des Ganzen, bestehend aus den Themen der reinen allgemeinen Logik und ganz wenigen Grundbegriffen der (empirischen) Psychologie; darauf ruhend als zwei Seiten Gemütsvermögen, die jeweils zu besonderen Leistungen (der theoretischen und der praktischen, erkennenden Tätigkeit) befähigen, mit entsprechenden apriorischen Inhalten für epistemisches Bewußtsein – bzw., vorgeblendet, die philosophischen Disziplinen der Aufklärung über diese Inhalte. Über diese beiden ›Seiten‹ erheben sich von ihnen aus, aber aufeinander zulaufend, spezifische Vernunftleistungen, die mit ihren Inhalten Gegenstand, eigentlicher Metaphysik sind – als einer Wissenschaft vom Übersinnlichen und von den Möglichkeiten berechtigten Fürwahrhaltens bezüglich seiner. 2) Die Kräfte, welche das Gewölbe senkrecht nach unten ziehen und mit Einsturz bedrohen, müssen nach den Seiten hin abgelenkt und von ihnen gemeinsam, also durch aufeinander abgestimmte Gegenkräfte aufgefangen werden. Ähnlich muß das Vernunftsystem als Ganzes – von seinem metaphysischen »Gewölbe« aus – den unter Gesetzen der Natur (und für die theoretische Erkenntnis) herrschenden Determinismus einschränken (auf Erkenntnisgegenstände, wie sie erscheinen) und ihn dadurch kompatibel machen mit der für praktische Erkenntnis unerläßlichen, in dieser Erkenntnis gewissen (an sich seienden) Freiheit von Willensbetätigungen und aus ihnen hervorgehenden Handlungen. Oder, die Forderung auf philosophische Er-

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kenntnis des Vernunftsystems bezogen: diese Erkenntnis muß durch Unterscheidung von bloß Erscheinendem und Ansichseiendem den Schein zum Verschwinden bringen, der erwähnte Determinismus sei mit solcher Freiheit unverträglich; auf der anderen Seite aber muß die praktische Gewißheit, die wir von unserer Freiheit haben, gegen Sophistikationen geschützt werden, um sie und mit ihr das ganze System auch in den Vorstellungen darüber unerschütterlich zu machen. Zum System gehört also die irreduzible Differenz von sinnlichen Erscheinungen und Intelligiblem. Sie ist im Bild eines Bauwerks nur unzulänglich symbolisierbar, kommt aber einigermaßen zum Ausdruck mit dem Unterschied zwischen dem, was man vom Bauwerk, in das man eintritt, handgreiflich ertasten, und demjenigen, was man davon nur in der Höhe über sich erspähen kann. 3) Um die Kräfte des Gewölbeschubs möglichst zu bündeln und auf besonders starke Seitenteile – Pfeiler – abzuleiten, müssen zusätzlich zu Gewölbebögen, die quer zur Richtung der Seiten verlaufen, besonders starke, diagonale Bögen den freien Raum überspannen und sich in der Gewölbemitte kreuzen. Ihnen und den sie stützenden Pfeilern entspricht im System der reinen Vernunft eine eigentümliche Spiegelsymmetrie: Während auf der theoretischen Seite die zu unserer Sinnlichkeit gehörenden tragenden Teile im Vordergrund stehen und mit den zum Verstand gehörenden in der Ordnung ›zuerst Begriffe, dann Grundsätze‹ koordiniert werden, ist es auf der praktischen Seite genau umgekehrt; hier stehen Grundsätze im Vordergrund, die bereits zur Vernunft gehören und auf die sich Begriffe (vom Objekt der praktischen Vernunft) stützen; im Hintergrund dagegen befinden sich die damit zu koordinierenden, zu unserer Sinnlichkeit gehörenden Triebfedern der Betätigung praktischer Vernunft, während sich die tieferen Schichten unseres sinnlichen Begehrungsvermögens sogar im ferneren Dunkel des Bewußtseinsraums fast verlieren.19 Fichte wird von ihnen sagen, Kant gehe über sie hinweg »wie der Hahn über die Kohlen«.20 4) Damit Gewölbelast und Gewölbeschub geringer, die Pfeiler aber relativ dazu tragfähiger sind und somit das ganze Gebäude mehr Stabilität besitzt, besteht das Gewölbe aus zweierlei Material: aus den besonders harten und formvollendet gearbeiteten Gewölberippen als 19

Vgl. KpV A 15f. Johann Gottlieb Fichte: Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie (1793/94), in: GA II 3, S. 185. 20

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den tragenden Teilen zum einen und zum anderen aus der von ihnen getragenen, leichteren Gewölbematerie, die den Zwischenraum zwischen ihnen ausfüllt. Dem so strukturierten Gewölbeganzen entspricht im Vernunftsystem ein Ideenhimmel, in dem sich epistemisch tragende und dadurch getragene Ideen voneinander abheben. Zusammen aber bilden sie einen geschlossenen Kreis mit kohärenten Weisen berechtigten Fürwahrhaltens. 5) An der Kreuzungsstelle der diagonalen Gewölberippen befindet sich der Schlußstein. Er muß besonders sorgfältig gemeißelt sein und durch seine einzig ihn auszeichnende, symmetrisch-konische Form sowie natürlich durch seine Festigkeit das ganze Gewölbe einsturzsicher machen. Alle übrigen Steine der Gewölberippen müssen auf ihn zulaufen und in ihrer Form von der seinen bestimmt sein. So sichern sie ihm seine Stelle, in die er genau eingepaßt ist. Diesem Stein also und seiner Funktion entspricht im System der reinen Vernunft nach Kantischer Auffassung der Freiheitsbegriff. Seine ›Form‹, von der theoretischen Seite her beschrieben und als unumgänglich erkannt, besteht in der Allgemeinheit, in der sich das Merkmal einer intelligiblen Kausalität, verträglich mit bedingter Kausalität unter allen Naturgesetzen, an Beschreibungen, d. h. begrifflichen Strukturen, von Phänomenen geltend macht, die unter diesen Gesetzen stehen.21 Von der anderen Seite her bestimmt ist der Begriff, um den es hier geht, grob gesprochen derjenige einer Autonomie der reinen praktischen Vernunft. Mit ihm hat man im Bewußtsein des moralischen Gesetzes ein principium cognoscendi dafür, daß Freiheit ratio essendi dieses Gesetzes und seiner Befolgung ist; und man kommt, wenn alles gut geht, nach der praktischen Seite hin sozusagen wieder herunter auf den festen Boden einer alltäglichen Erkenntnis: der praktischen Erkenntnis nämlich, daß Forderungen dieses Gesetzes Verbindlichkeit haben und wozu sie uns verbinden, d. h. zu was für Einstellungen des Willens auf willkürliche Handlungen welchen Typs. Der Begriff einer unbedingten Kausalität, die reine praktische Vernunft ist und ihre Wirkungen an ausgezeichneten Handlungen sowie Willensphänomenen hat, verbindet mithin die intelligible Welt, der wir als Teilhaber solcher Vernunft und Freiheit angehören, in uns und für uns mit der Welt der Dinge, wie sie unseren Sinnen erscheinen. 21 Es braucht nicht mehr gesagt zu werden, daß das Merkmal mit einer bloß statistischen Kausalität unter Naturgesetzen ebenso gut verträglich wäre als mit der von Kant angenommenen.

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6) Als ›Gebäude‹ ist das zum Bild dienende Ganze auch architektonisch zu betrachten, d. h. auf die Kunst seiner Errichtung hin. Die Kunst besteht trivialerweise darin, die beiden Seiten zunächst je für sich zu errichten, wenn auch auf gemeinsamem Fundament und nach einem Plan fürs Ganze. Dasselbe gilt für die von jeder Seite aus vorzutreibenden Gewölbehälften. Zuguterletzt aber sind diese Hälften – beginnend bei den Gewölberippen – miteinander am Schlußstein zusammenzufügen. Dafür ist festzustellen, von welcher Seite aus die Verbindung ins Werk gesetzt werden muß. Ganz ähnlich im Fall des Systems reiner Vernunft, obwohl dieses System eigentlich ein ›organisches‹, also gewachsenes Ganzes ist. Es läßt sich nämlich nicht ›epigenetisch‹ erklären, sondern nur wie ein bereits fertiges Gebäude auf eine in ihm selbst gelegene ›Endabsicht‹ (im Praktischen) hin entweder ›bewohnen‹ oder aber philosophisch rekonstruieren,22 und dazu bedarf es architektonischer Überlegungen. Bei der Rekonstruktion führt eine Transzendentalphilosophie mit all ihren Verstandesbegriffen, welche die Leistungen des Verstandes ermöglichen, und den darauf beruhenden apriorischen Grundsätzen zuletzt zu Ideen; unter ihnen auch zu denen der rationalen Kosmologie und insbesondere zur Idee einer Kausalität aus Freiheit. Doch nur von der anderen Seite einer philosophia practica universalis23 her kann wie gesagt dem Freiheitsbegriff objektive (praktische) Realität zugesprochen werden (und über ihn in modifizierter Weise auch den anderen Ideen). Insbesondere aber: nur unter einem Primat der praktischen Vernunft läßt sich überhaupt die theoretische und praktische Hälfte des Systems zu einem Ganzen verbunden denken und wird dieses System so als ein ganzes rekonstruierbar. Die Rekonstruktion erfordert dabei bezüglich des Freiheitsbegriffs zwei Schritte: Der erste muß uns seitens der theoretischen Vernunft Freiheit als kompatibel erweisen mit Kausalität unter allen Naturgesetzen, uns dabei aber genau denjenigen Begriff von Freiheit liefern, den wir für den zweiten Schritt brauchen. Der hingegen muß zeigen, daß genau jener Begriff für die reine praktische Vernunft unumgänglich und zweifels22

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781 (A), Königsberg 1787 (B), B XXXVIIf. Im folgenden zitiert als »KrV« mit Angabe der Auflage (A / B) und der entsprechenden Seitenzahl. Vgl. Immanuel Kant: Critik der Urteilskraft. Berlin 1790, § 3. – Vgl. auch Günter Zöller: »Die Seele des Systems«. Systembegriff und Begriffssystem in Kants Transzendentalphilosophie, in: Architektonik und System in der Philosophie Kants. Hrsg. v. Hans Friedrich Fulda u. Jürgen Stolzenberg. Hamburg 2001, 63ff. 23 Oder ersatzweise einer Kritik der praktischen Vernunft.

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frei erfüllt ist, daß wir mit ihm aber (oder wenigstens mit ihm und seinen Spezifikationen), was Freiheit betrifft, auch wirklich im ganzen System der reinen Vernunft auskommen.

3. Instabilität des ›Gebäudes‹, dessen Schlußstein der Freiheitsbegriff ist Nur wenn sich diese Aufgabe bewältigen läßt und sich gegen die Aufgabenstellung keine Bedenken erheben, kann man guten Gewissens sagen, der Begriff der Freiheit mache »den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der spekulativen Vernunft aus«. Wie steht es damit? Das ist meine dritte Hauptfrage, deren Bearbeitung nun ansteht. Ich werde mich ihr jedoch nicht so widmen, daß ich Kants ingeniösen Gedankenbau Stück für Stück rekonstruiere. Vor allem den Nachweis der Kompatibilität von Determinismus unter Naturgesetzen und intelligibler Kausalität aus Freiheit, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft mit Auflösung der dritten Antinomie unternimmt, setze ich als gelungen voraus. Zu erwägen ist also gleich, ob dieser Nachweis denjenigen Begriff von Freiheit liefert, dessen es für den zweiten Schritt der Aufgabenbewältigung bedarf. Dafür genügen, glaube ich, drei Voraussetzungen, die sich für die ›gemeine sittliche Vernunfterkenntnis‹24 ebenso von selbst verstehen, wie sie für die praktische Vernunft gelten sollten, wenn sie ›rein‹ ist, d. h. ganz aus sich selbst ihre Formen setzt und als Zwecke zu verwirklichen unternimmt. Die Voraussetzungen betreffen den Freiheitsbegriff, der für diese Vernunft und Vernunfterkenntnis gebraucht wird. Freiheit muß nämlich, scheint mir, ihrem Begriff nach zum ersten von demjenigen, dem sie zukommt, eo ipso auch gewußt werden. Wie könnte andernfalls von ihr aus die Vernunft für den, der sie besitzt, gesetzgebend und er in seinem Verhältnis zum Gesetz sittlich oder unsittlich sein? Die Freiheit muß zum zweiten eine sein, an deren Wissen und Betätigen sich bei dem, der es hat und ausübt, auf überzeugende Weise Zuschreibungen (und Selbstzuschreibungen) von Verantwortlichkeit knüpfen für das, was aus der Freiheit hervorgegangen ist, – und dann auch weitere Reaktionspraktiken wie insbesondere die des Vorwerfens von Schuld und Anrechnens von Verdienst. Wie könnte sonst das Wissen um Freiheitsbetätigung für weitere Willensbestimmung praktische Relevanz besitzen? Zum dritten muß die Freiheit eine sein, an deren Gewußt24

Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Erster Abschnitt.

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sein sich die Zuschreibung von Verantwortlichkeit so anschließt, daß dagegen kein grundsätzlicher metaphysischer, religiöser oder anti-religiöser Verdacht aufkommen kann: der Verdacht nämlich, all jenen, denen Schuld zugeschrieben wird, könne eigentlich nichts vorgeworfen werden, wie umgekehrt jeder, dem etwas als Verdienst angerechnet wird, in Wahrheit nur profitiere von der Gunst irgendwelcher Umstände oder Fügungen. Wie wäre andernfalls das mit dem Wissen um Freiheit zu verknüpfende Verantwortlichkeitskonzept in praxi gegen Sophistikationen aufrecht zu erhalten?25 Was aber leistet der Kantische Schlußstein-Gedanke im Hinblick auf die Forderungen, die in den genannten drei Voraussetzungen enthalten sind? Ich fürchte, man muß zugeben: für sich genommen nicht sehr viel. Der kosmologisch unerläßliche Begriff einer intelligiblen Kausalität ist noch nicht einmal qualifiziert als Begriff einer Kausalität, die wissend und gewußt ist seitens desjenigen, dem sie vielleicht zugesprochen werden mag. Die praktische Philosophie hat also, indem sie das Subjekt solch unbedingter Kausalität im Adressaten einer unbedingten, sittlichen Forderung identifiziert, diesen Adressaten, d. h. mich, zusätzlich als einen zu identifizieren, der zum kosmologischen, ihm von seiner theoretischen Vernunft angebotenen Freiheitskonzept einsichtigerweise das Merkmal des Wissens und Gewußtseins eben dieser Freiheit hinzufügt. Diese Philosophie hat ferner mich, den Adressaten sittlicher Forderungen, zu identifizieren als einen, der allererst durch diese Einsicht in sich selbst seinen kosmologischen, aus der theoretischen Vernunft hervorgegangenen Freiheitsbegriff verbindet mit seinem praktischen Freiheitsbegriff, der ihm in der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis gegeben ist. Das ist, soweit ich sehe, weder in der Kritik der reinen Vernunft noch in der Kritik der praktischen Vernunft geschehen und auch nicht in einer der späteren Kantischen Schriften zur praktischen Philosophie. Es ist auch schwer zu sehen, wie es sollte geschehen können ohne einen Vernunftbegriff des Ich, der gegenüber der Differenz von theoretischer und praktischer Vernunft noch unbestimmt ist oder diese Differenz überwindet im Konzept eines ursprünglichen Wissens von sich selbst. Obwohl gerade der Freiheitsbegriff die beiden Hälften des Systems der reinen Vernunft

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Zudem müssen sich aus dem Wissen um Freiheit heraus Kriterien der Unterscheidung von (in konkreten Fällen zu erkennender) Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit, Entschuldbar- und Unentschuldbarkeit sowie Belohnenswürdig- und -unwürdigkeit entwickeln lassen. Doch das mag eine cura posterior jenseits des Systems reiner Vernunft sein; es bleibt daher im Folgenden außer Betracht.

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verbinden soll, scheint er sich, wie Kant ihn ansetzt, nicht gut dafür zu eignen. Unsere theoretische und unsere praktische Einstellung, als zwei Dispositionen zu endlichem Wissen, passen unter Kantischer Beschreibung nicht fugenlos zusammen (und wahrscheinlich auch nicht unter jeder Beschreibung, die ihnen angemessen ist). Aber wenn es so ist, dann scheint Kants architektonische Rekonstruktion jenes Systems für den Wollenden und willentlich Handelnden nicht hinreichend deutlich zu zeigen, wie Freiheit als reine praktische Vernunft möglich ist. Die Möglichkeit kommt nicht zum artikulierten Selbstvollzug dessen, der die Gewißheit solcher Freiheit hat. Nicht nur das. Zuschreibungen von Verantwortlichkeit richten sich an mich oder – generell gesprochen – bei der Betätigung praktischer Vernunft an ein Subjekt dieser Betätigung, das aus sich selbst anders handeln gekonnt hätte (oder könnte), als es entschieden hat (oder zu entscheiden tendiert) und dann tat (oder zu tun beabsichtigt). Sie richten sich m. a. W. an Subjekte freier Willkür, die sich ihrer Willkürfreiheit auch bewußt sind. Freilich mag diesseits des Bewußtseins einer Willkürfreiheit auch zum Bewußtsein moralischer Verpflichtung ein ursprüngliches Wissen um Freiheit als Autonomie und intelligible Kausalität eines reinen Willens gehören – d. h. ein Wissen, für das nur gesetzlich gebotene (und aufgrund spezieller Gesetze erlaubte) Entscheidungen in Frage kommen. Aber Verantwortlichkeitszuschreibungen machen jedenfalls nicht allein schon auf der Basis dieses ursprünglichen Freiheitswissens Sinn. Sie machen sogar nur Sinn, wenn in diesem Wissen auch ein Wissen um bestehende Willkürfreiheit enthalten ist. Wie aber sollen dies Enthaltensein und das entsprechend komplexe Wissen gedacht werden in dem sehr abstrakten Schlußstein-Begriff von Freiheit – oder wenigstens als Spezifikation seiner? Das Enthaltensein zu denken erfordert ja erst einmal, aus dem Gehalt des Schlußstein-Begriffs herauszugehen in ein ganz anderes genus von Freiheit und dann das Wissen ums Exemplifiziertsein beider genera zu einem Wissen ihrer Verbindung in ein und demselben Subjekt zu vereinigen. Die Lage für den Systemrekonstrukteur ist also peinlich: In die von der ›theoretischen Seite‹ des Gewölbes her ausgemachte Stelle des SchlußsteinBegriffs paßt der von der ›praktischen‹ Seite her einzusetzende Begriff nicht; und für diesen ist auf der anderen Seite kein Platz. Soweit es aber um irgendeinen anderen Freiheitsbegriff geht oder gar um den erst noch zu entdeckenden Begriff von Freiheit überhaupt, ist zu sagen, der Begriff befinde sich nicht an der rekonstruierten Stelle eines Schlußsteins. Man möchte vielleicht einwenden, mit dem von der praktischen Seite

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her gebrauchten Freiheitsbegriff würden in Richtung auf eine Metaphysik der Sitten hin (wenngleich nicht schon eine moralische Anthropologie26) die Grenzen eines Systems der reinen Vernunft bereits überschritten. Für dieses System sei gerade von Freiheit der Willkür, welche die praktische Philosophie sonst zum Objekt hat,27 zu abstrahieren; es sei zu beachten, daß wir, um sittlichen Forderungen zu entsprechen, in unser innerstes praktisches Selbst und Wissen um Freiheit als Autonomie und intelligible Kausalität reinen Willens zurückgehen müssen. Das mag Kant sogar im Auge haben, wenn er einmal28 darauf hinweist, wir könnten nicht jemanden für verantwortlich halten (und sei’s sogar ein Kind), »wenn wir nicht voraussetzten, daß alles, was aus seiner Willkür entspringt (wie ohne Zweifel jede vorsätzlich verübte Handlung), eine freie Kausalität zum Grunde habe«. Allein, das ›zum-Grunde-Haben‹ ist hier nicht etwas von außen zu Beschreibendes wie irgendwelche Kausalitäten in der theoretischen Erkenntnis oder Kosmologie. Es ist selber ein Wissen dieser ›freien Kausalität‹; und es ist als deren ›Ursache‹ sowohl Wissen von freier Willkür als auch von Autonomie und intelligibler Kausalität reiner praktischer Vernunft. Wie wären dieses Wissen und das darin ›Gewußte‹ andernfalls noch zu unterscheiden vom Gehalt jenes intelligiblen Fatalismus, der lehrte, die Vernunft sei zwar frei und habe keinen Einfluß zu empfangen in Absicht auf alles, was sie wirklich tut (sowie auf alle Urteile der Form nach) – aber sie sei abhängig und eingeschränkt in Absicht auf das, was sie nicht tut? Mit anderen Worten: für den Fall, daß jemand etwas nicht tat – und sei er auch dazu verpflichtet gewesen, es zu tun – habe seine Vernunft nicht wirken können.29 Das ist gewiß nicht Kants Auffassung gewesen. Kant macht ja sogar mit größtem Nachdruck geltend, jener ›Hang‹ zum Bösen, den wir an der menschlichen Gattung feststellen können, sei Teil unserer ›Natur‹ zu nennen nur in dem Sinn, in welchem unter ›Natur des Menschen‹ der »subjektive Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt …, der vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht, verstanden werde«; und dieser subjektive Grund müsse »wiederum selbst ein Aktus der Freiheit sein«, da sonst »der Gebrauch oder 26

Vgl. Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten, Einleitung II, Absatz 6. In: I. Kant, Gesammelte Schriften, Akademieausgabe (=AA), VI, 217. 27 Vgl. ebd., 216. 28 KpV, A 179. 29 Carl Christian Erhard Schmid: Versuch einer Moralphilosophie. Jena 1790. Auszugsweise abgedruckt daraus: Determinismus und Freiheit, in: Materialien zu Kants ›Kritik der praktischen Vernunft‹. Hrsg. v. Rüdiger Bittner u. Konrad Cramer. Frankfurt/M 1975, 249.

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Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes« dem Menschen nicht zugerechnet und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen könne.30 Umso mehr, als es hier um die grundsätzlichste Regel geht, welche »die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer Freiheit mache«, muß das Bewußtsein der Freiheit solcher Willkür bereits zur reinen praktischen Vernunft als solcher gehören, solange diese nicht die Vernunft eines heiligen Willens ist. Insofern hatte Reinhold durchaus damit recht, daß er – gegen den intelligiblen Fatalismus – am Kantischen Freiheitsverständnis das Merkmal der Willkürfreiheit hervorhob; und daß er dem Einwand, die Behauptung solcher Freiheit verstoße gegen das (logische) Prinzip des zureichenden Grundes, mit dem Argument begegnete, dieses Prinzip erfordere durchaus nicht für alles, was – wie unsere Freiheit – ›da ist‹, eine von diesem Dasein verschiedene Ursache.31 Aber indem er die von ihm betonte Willkürfreiheit mit derjenigen des Willens vermengte, anstatt sie unter einem allgemeinsten Begriff von Freiheit in einen durchsichtigen Zusammenhang mit ihr zu bringen, hat er sich den Vorwurf zugezogen, er beziehe die Position eines transzendenten Indifferentisten, wenn er behaupte, Freiheit sei ein Vermögen, durch absolute Selbsttätigkeit sich zum Gehorsam oder Ungehorsam gegen das Sittengesetz, mithin zu kontradiktorisch entgegengesetzten Handlungen, zu bestimmen.32 Da intelligible Fatalisten wie Schmid und Creuzer dieses Freiheitsverständnis zurecht noch unplausibler fanden als ihr eigenes, hat Reinhold sie in ihrem Irrtum eher bestärkt als verunsichert. Kants Position wurde damit nicht erhellt, geschweige denn überzeugender gemacht. Doch Kant hat um diese Zeit bereits mit seiner eigenen Position Schwierigkeiten – zusätzlich zu den schon genannten, nicht von ihm gesehenen. In der Kritik der reinen Vernunft33 hatte er sich noch suggeriert, selbst bei der Freiheit im praktischen Verstande mache die transzendente Idee der Freiheit »das eigentliche Moment der Schwierigkeiten aus«.34

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Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg 1793, in: AA VI, 21. 31 Carl Leonhard Reinhold: Briefe über die Kantische Philosophie. Leipzig 1790ff. Band II (1792), 282f. Nachdruck hrsg. v. Raymund Schmidt. Leipzig 1923, 510f. 32 So Fichte in Bezug auf Leonhard Creuzer, aber auch Reinhold: GA I 2, 8. Vgl. Carl Leonhard Reinhold: Briefe über die Kantische Philosophie. Leipzig 1790 ff. Band II (1792), 185, 271f.; Nachdruck Leipzig 1923, 439, 502 33 B 561 f. 34 »… welche die Frage über ihre [d. h. der Freiheit] Möglichkeit von jeher umgaben« (ebd.).

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Die Fragen, die dieses ›Moment‹ betreffen, glaubte er am Ende der Auflösung der dritten Antinomie »hinreichend beantwortet«.35 Auch die Lehre von Freiheit der Willkür sollte durch die Beantwortung befriedigend bedient sein.36 Am Ende der Abhandlung über das radikale Böse dagegen gesteht er sich ein, diese Freiheit sei eine »unerforschliche Eigenschaft«. Was man einsehen wolle »und nie einsehen wird«, sei: wie der »Prädeterminist« (nach welchem willkürliche Handlungen ihre bestimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben, die mit allem, was sie enthält, zum Zeitpunkt der Handlung nicht mehr in unserer Gewalt ist) zusammen bestehen kann mit der Freiheit, nach welcher zu demselben Zeitpunkt sowohl die Handlung als ihr Gegenteil in der Gewalt des handelnden Subjekts sein muß.37 Das Problem betrifft genau jenen Vernunftgegenstand, von dem auch bei Auflösung der dritten Antinomie die Rede war. Es betrifft eine Frage der Transzendentalphilosophie. Von der aber hatte es geheißen, sie habe »unter allem spekulativen Erkenntnis dieses Eigentümliche […]: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrifft, für eben dieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sei, und daß kein Vorschützen einer unvermeidlichen Unwissenheit und unergründlichen Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit frei sprechen könne, sie gründlich und vollständig zu beantworten; weil eben derselbe Begriff, der uns in den Stand setzt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muß, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand außer dem Begriffe gar nicht angetroffen wird.«38 Wenn aber nun eine unbeantwortbare Frage aufkam, – mußte dann nicht der Begriff, der uns zur Frage instand setzte, so revidiert werden, daß die Frage nicht mehr aufkommen konnte? Man sollte denken, das sei eine Forderung der Transzendentalphilosophie. Aber es war nicht nur eine Forderung ihres Programms, sondern eine, die sich ebensosehr aus jener Voraussetzung ergibt, die ich unter den drei oben genannten als letzte aufführte: daß unsere philosophischen Gedanken über Freiheit (und sei’s auch nur in der Architektonik der reinen Vernunft) zu keinem grundsätzlichen Verdacht hinsichtlich der Imputabilität willentlicher (äußerer oder innerer) Handlungen Anlaß geben – wie dies paradigmatisch vom intelligiblen Fatalismus gesagt werden muß, aber auch von seinem spinozistischen Konkurrenten, der die Willensfreiheit 35 36 37 38

B 585. Vgl. B 562. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb …, a.a.O. , 54f. (AA VI, 49f.). B 505.

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ausdrücklich verneint. Im Grunde nämlich ist solcher Anlaß immer gegeben, wenn bezüglich der Willkürfreiheit ernstliche Zweifel aufkommen oder unbeantwortbare Fragen bestehen, die dann solche Zweifel auslösen müssen. Jede derartige Frage wird zum ›asylum ignorantiae‹, in das sich derjenige flüchten kann, dem eine ihm unangenehme Zurechnung zugemutet wird. Solche Asyle gibt es innerhalb der Kantischen Freiheitslehre mehr als das eine schon genannte.39

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Nicht nur via Hinweis darauf, daß die eigentliche Moralität der Handlungen uns verborgen bleibt. So z. B. in jener Fußnote der KrV, derzufolge niemand ergründen kann, wieviel von Handlungen, deren Zurechnung auf den empirischen Charakter bezogen werden muß, reine Wirkung der Freiheit sei, wieviel davon aber »der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments oder dessen glücklicher Beschaffenheit […] zuzuschreiben« ist, sodaß man auch nicht »nach völliger Gerechtigkeit richten« kann (B 579). Diese auf vereinzelte Handlungen abhebende Äußerung wird, was ethische Beurteilung und Selbstbeurteilung betrifft, von Kant später (in der Lehre vom radikalen Bösen) dahingehend ergänzt (aber auch modifiziert), daß das Annehmen jener obersten Maxime, womit die Menschen einen (ihnen als Gattung zuzuschreibenden) Hang zum Bösen begründen, eine intelligible Tat sei, die bloß durch Vernunft, ohne alle Zeitbedingungen erkennbar ist (a. a.O, 23; AA VI, 31; vgl. KrV B 583). So gänzlich verborgen, wie es Kant in der KrV schien, ist die »eigentliche Moralität« der Handlungen also doch nicht; und »nur« auf den empirischen Charakter werden die Zurechnungen auch nicht bezogen. Das dürfte in der ethischen Beurteilung den Anlaß zu grundsätzlichen Zweifeln erheblich mindern – zumal nach Auskunft der Lehre vom radikalen Bösen ja auch die Unredlichkeit, die zu diesem Bösen gehört (also bereits Folge einer zu verantwortenden Tat ist), in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen halten sollte, unsere moralische Urteilskraft »verstimmt« (a.a.O., 34; AA VI, 38). Aber es bleiben andere Zweifelsgründe sowie Schwankungen im Kantischen Urteil über Zurechenbarkeitsfragen. Die KrV meinte noch, es sei keine Antwort auf die Frage möglich, warum die Vernunft (in einem konkreten Fall) sich nicht anders bestimmt und auch durch ihre Kausalität die Erscheinungen (die in Festlegungen des Willkürvermögens und äußeren Handlungen bestehen) nicht anders bestimmt hat (d. h. auf die Frage, auf welche die intelligiblen Fatalisten dann eine generelle Antwort zu geben versuchen). Wir könnten mit unserer Beurteilung freier Handlungen nur bis an die intelligible Ursache heran kommen, nicht aber über sie hinaus (KrV B 584 f.); und wir hätten mit unserer Vernunft nicht einmal die Befugnis zu fragen, warum der intelligible Charakter unter vorliegenden Umständen gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter habe. Da möchte man dann doch wissen, warum die philosophische Auskunft über unser Freiheitsverständnis so angelegt wird, daß sich die unerlaubte Frage geradezu aufdrängt. Die Antwort hierauf kann wohl nur lauten, verantwortlich dafür sei, daß innerhalb des Kantischen Architektonik-Konzepts eines Systems der reinen Vernunft der Freiheitsbegriff bloß als Schlußstein erscheint, sodaß zunächst ohne ihn Anlaß zu einer Flut von Fragen gegeben wird, die man hernach mit ihm schwerlich noch völlig eindämmen kann. Auch nach der Lehre vom radikalen Bösen ist der erste Grund dafür, daß wir uns Maximen bilden, und dafür, welche wir uns bilden, unerforschlich, wenngleich jeden-

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Grundsätzlich an unserer Verantwortlichkeit zu zweifeln legt aber abgesehen von unbeantwortbaren Fragen jeder Gedanke nahe, in welchem unsere Freiheit abhängig gedacht wird von einem uns externen Grund ihrer Existenz (und mit dieser auch ihrer Tätigkeitsweise). Das geschieht zwar nicht in Kants Strukturierung und Auflösung der kosmologischen Antinomie der reinen Vernunft, wohl aber in der Anwendung, welche die Ergebnisse der Auflösung an anderer Stelle gefunden haben: in Kants Lehre vom höchsten Gut und vom darauf beruhenden Postulat der Existenz Gottes als eines Garanten unserer Möglichkeit, zur Verwirklichung dieses Guts beizutragen. Woher weiß ich, daß ich etwas als Verdienst oder Vergehen mir zurechnen muß oder darf, daß ich es aber nicht ausschließlich, als was immer, dem nach Kants Postulatenlehre (angeblich) glaubwürdig anzunehmenden notwendigen Wesen und Weltschöpfer zuschreiben muß, welcher doch als der externe Grund meiner mir bewußten Freiheit gedacht wird? Woher weiß ich, daß ich anderen etwas als Verdienst oder Vergehen zurechnen darf oder gar muß, nicht aber es auf diesen externen Grund ihrer Freiheit zurückführen muß? Da ich bezüglich der Existenz und der Eigenschaften dieses Wesens nach Kantischer Lehre kein Wissen, sondern nur einen rational begründeten Glauben haben kann, kann ich in der Perspektive dieses Glaubens nicht wissen, ob das höchste Wesen, wenn es denn existiert, meine Überzeugung von meiner Verantwortlichkeit bestätigt oder dementiert. Gerade indem die Philosophie die Perspektive dieses Glaubens als rational begründet erweisen möchte, trägt sie mit bei zur grundsätzlichen Verunsicherung unseres Bewußtseins der Zurechenbarkeit von Handlungen solch freier Wesen, wie falls der Mensch, um dessen Maximen es sich handelt, deren Urheber ist. Aber anders als in der KrV ist dieser Grund nun ausdrücklich erster subjektiver Grund oder Ursache dafür, daß sich einer eine oberste Maxime zu eigen macht, die »allgemein auf den ganzen Gebrauch der Freiheit« geht – nämlich entweder die Maxime, allemal den Forderungen des moralischen Gesetzes zu genügen, oder aber diejenige, notfalls auch anderen Bestimmungsgründen des Willens Vorrang zu geben. Aber obwohl dieser Maximengrund nicht erkannt werden kann (weil dafür ein ins Unendliche führender Regreß durchlaufen werden müßte), ist nach ihm zu fragen nun nicht etwa unerlaubt, wie man nach der KrV vermuten muß, sondern expressis verbis unvermeidlich. Man muß sogar sagen, danach zu fragen sei geboten. Denn wenn der Grund auch nicht identifiziert und erkannt werden kann als Grund der spezifischen Folgen, die er im Unterschied zu einem anderen unter den Erscheinungen hat, so kann (und muß) er zumindest im allgemeinen als Grund einer spezifischen intelligiblen Tat gedacht werden, die auch unter den Willkürentscheidungen und -handlungen ihre spezifischen erscheinenden Folgen hat. Ganz so unerlaubt und unbeantwortbar, wie in der KrV behauptet, ist die Frage, warum der intelligible Charakter gerade diese Erscheinungen und diesen empirischen Charakter gebe, nun also glücklicherweise doch nicht mehr.

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wir sind – und das sogar durch die Weise, wie Kant seine Absicht verfolgt. Die Verunsicherung wird auch nicht ab-, sondern eher zunehmen, wenn sich bei näherem Zusehen herausstellt, daß die Argumente, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft zugunsten der Überzeugung von der Existenz eines moralischen Welturhebers vorbrachte, nach seiner eigenen, späteren Einsicht unzulänglich waren. Wichtige Verbesserungen aber, die ihm noch gelangen, erforderten das Eingeständnis, man überschreite mit diesen Argumenten genau genommen das System der reinen Vernunft. So erweist sich der Ideenhimmel dieses Systems, im architektonischen Konzept eines Gewölbes vorgestellt, am Ende als löcherig. Er erscheint nur noch schließbar mit Hilfe von Aussagen über Zwecke unserer sinnlich bedingten praktischen Vernunft. Mit der Verunsicherung des Verantwortlichkeitsbewußtseins aber droht der Schlußstein seine Festigkeit zu verlieren – zumindest in der Rekonstruktion, welche die Philosophie vom ganzen Gewölbe zu geben vermag.

4. Erfordernisse der Stabilisierung Wie ist auf all diese Einwände gegen Kants Schlußstein-Konzept zu reagieren? Das war meine vierte Hauptfrage. Als Antwort auf sie wenigstens noch einige Andeutungen in umgekehrter Reihenfolge zu derjenigen der Einwände. Hinsichtlich des zuletzt genannten Problems (die Freiheit im Verhältnis zu ihrem Existenzgrund betreffend) hat Kant selbst eingeräumt,40 sein Versuch, die Schwierigkeiten aufzulösen, habe »viel Schweres in sich« und sei »einer hellen Darlegung kaum empfänglich«. Was das Grundsätzliche betrifft (auf das ich gar nicht eigens zu sprechen kam), kann er für die von ihm versuchte Darstellung am Ende nur geltend machen, daß keine andere Darstellung, die man (bis zur Kritik der praktischen Vernunft) versucht hat, leichter und faßlicher ist. Das mag sein. Allerdings behauptet Kant auch, dasselbe gelte für jede Darstellung, die man »versuchen mag«. Davon hätte ihn, wie mir scheint, abhalten müssen, daß die zuletzt erwähnten Probleme der Postulatenlehre im Rahmen eines Systems der reinen Vernunft eigentlich vier einschneidende Änderungen an dieser Lehre erfordern: 1) Die reine Vernunft erlaubt nur, einen der Freiheit immanenten Existenzgrund zu behaupten, der damit vielleicht auch der Welt immanent, jedenfalls nicht ihr transzendent ist. 40

KpV A 184.

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2) Dieser Grund kann nur auf Zwecke hinwirken, die im System der reinen Vernunft selbst schon gegeben werden (mit dem der reinen praktischen Vernunft internen Zweck moralischer Selbstvervollkommnung aller endlichen Vernunftwesen). 3) Die Kraft der Wirkung dieses Hinwirkens kann deshalb keinem endlichen Vernunftwesen etwas von seiner Verantwortlichkeit abnehmen, weil sie sich, was uns im Unterschied zur uns äußeren Natur betrifft, nur im Wahrnehmen unserer Verantwortung betätigt,41 uns darüber hinaus aber einer objektiven Übereinstimmung der ganzen Natur mit den Objekten unserer Freiheit vergewissert. 4) Die Gewißheit, die wir vom Wirken dieser Kraft haben, ist nach der Ordnung der Erkenntnisgründe nicht weniger objektiv – im bewußten moralischen Gesetz – begründet als das Bewußtsein unserer Freiheit und Verantwortlichkeit. Letzteres hat Kant 1798 selbst noch gedacht mit seiner Idee einer uns in unserem Gewissen aus uns selbst gegenübertretenden »idealischen Person«, »welche die Vernunft sich selbst schafft«.42 Diese Person ist »allverpflichtend« (weil im Verhältnis auf sie alle Pflichten als ihre Gebote anzusehen sind). Aber sie ist auch ein »moralisches Wesen«, dem wie einem Richter »alle Gewalt (im Himmel und auf Erden)« gegeben ist, seinen Gesetzen den angemessenen Effekt verschaffen zu können. Das ›Bewußtsein‹ von einer solchen idealischen Person ist nicht mehr bloß ein Glauben (als Fürwahrhalten aus einem lediglich subjektiv zureichenden Grund), sondern auch ein Wissen, wie schon das Wort ›Gewissen‹ sagt. Von ihm aus hätte es Kant eigentlich höchst naheliegend finden müssen, seine Auskunft übers System der reinen Vernunft auch durch die anderen drei soeben genannten Behauptungen zu revidieren.43 Die Revision hätte das »Schwere«, das die Lehre vom Grund der Freiheit nach Kants Eingeständnis an sich hatte, viel leichter gemacht. Vor 41

Vgl. den Ausdruck der Eidesformel »so wahr mir Gott helfe!«. Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Königsberg 1797. § 13 (AA VI, 439). 43 Wäre mit der »Pflicht des Menschen gegen sich selbst als den angeborenen Richter über sich selbst« (wie der Titel des § 13 lautet) nicht auch unsere Befugnis zu begründen, andere dazu zu verpflichten, daß sie sich ihre willkürlichen Handlungen, Maximen und Absichten ethisch (und unter Zusatzbedingungen juridisch) von uns zurechnen lassen, und reziprok dazu auch unsere Pflicht, uns solche Zurechnungen seitens anderer gefallen zu lassen, weil wir alle zur optimalen Erfüllung jener Pflicht des Menschen gegen sich selbst der Zurechnung seitens anderer bedürfen? Vermutlich »ja«. Aber andere verpflichten ist nicht dasselbe wie auf ihre moralische Besserung hinarbeiten. 42

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allem aber hätte damit Kant selbst schon das Bewußtsein der Freiheit, die wir uns zusprechen, bzw. ihr Subjekt, das wir sind, von der »Kette« eines ihm externen »Dinges an sich« losgerissen; und dessen hätte es vermutlich auch bedurft, um die Jenenser Kant-Diskussion in Sachen Willensfreiheit vor der fatalen Alternative zwischen vier miteinander konkurrierenden, gleichermaßen unbefriedigenden Positionen zu bewahren: derjenigen des intelligiblen Fatalismus, des transzendenten Indifferentismus, des moralischen Skeptizismus und des ethischen Spinozismus.44 Die Gedankenentwicklung hätte so bereits durch Kant einen bedeutenden Schritt in Richtung auf die frühidealistische Systematik Fichtes und Schellings getan. Der Schritt war wohlmotiviert durch gewichtige Probleme, die zur Durchführung des vernunftkritischen und Vernunfterkenntnis-Unternehmens unbedingt aufzuwerfen waren und nicht nur ›moraltheologische‹ (oder eigentlich religionsphilosophische) Fragen betrafen. Auch der Freiheitsbegriff selbst mußte sich ihretwegen erheblich ändern und mußte im System der reinen Vernunft neu verortet werden. In der Perspektive des Gewissens nämlich befinden wir uns mit unserem Freiheitsbewußtsein (das hier unter anderem auch eines der Willkürfreiheit ist) durchaus nicht in einem (sei’s auch nur vermeintlichen) Gegensatz zu vollständiger naturkausaler Determination aller ›Erscheinungen‹ einschließlich derjenigen unserer praktischen Erwägungen, Überlegungsresultate und Beurteilungen dieser Resultate sowie ihrer Folgen. Wir schlagen die Tätigkeiten praktischer Vernunft und die sie ausübenden Personen also auch nicht derart in Fesseln, daß wir sie (und damit uns) an die Kette irgendeines Dinges an sich legen. Wir schreiben uns im Gewissen ja nicht einmal selber zu, solch ein ansichseiendes ›Ding‹ zu sein, so daß auch von einem ›Einfluß‹ dieses Dinges auf naturkausal vollständig determinierte Erscheinungen nicht die Rede sein kann und die sich hieran anknüpfenden, unbeantwortbaren Vexierfragen gar nicht mehr auftauchen. Die Freiheit, deren wir uns im Gewissen bewußt sind, steht nur noch im Gegensatz zu Knechtschaft unter fremder Gewalt und zur Verfassung dessen, der seiner selbst nicht mächtig oder sich entfremdet ist. Bevor sie Freiheit der Willkür ist (etwas schon Bestimmtes, das in unserem bewußten Belieben steht, zu tun oder zu lassen), hat sie bereits den Charakter von Autokratie, unter welcher das be44

Vgl. zu dieser Diskussionslage Angelica Nuzzo: Metamorphosen der Freiheit in der Jenenser Kant-Rezeption 1785–1795, in: Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte. Hrsg. v. Friedrich Strack. Stuttgart 1994, 487 ff.

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treffende Tun oder Unterlassen überhaupt erst zu etwas Bestimmtem in Alternative zu anderem Bestimmtem für uns wird. Bevor sie als Freiheit des Willens zu nehmen ist (d. i. als dessen Kraft, sich seine Inhalte unter allen Umständen in einer dem moralischen Gesetz entsprechenden Form zu geben und ihre Verwirklichung um des Gesetzes willen zu betreiben), muß sie als ein Selbstbestimmen begriffen werden, aus dem diese Kraft (der ›Seelenstärke‹) hervorgeht. Und noch ehe sie in solchem Selbstbestimmen auch Autonomie ist (d. i. die Tätigkeit, sich das moralische Gesetz selbst zu geben), muß sie schon die Verfassung ursprünglichen Beisich-selbst-Seins desjenigen haben, welcher der Autonomie in seinem Gewissen inne wird. Ist dies (mit Hilfe von Rousseau) aufgedeckt, so führt schon ein kleiner Schritt zur systematologischen Überlegung, die man hinter den eingangs zitierten Formulierungen Fichtes und Schellings vermuten darf: Die Transzendentalphilosophie hat das System der Tätigkeiten und (auf ihnen beruhenden) Einstellungen reiner Vernunft (in einem jeden von uns) aufzuklären. Dafür hat Kant durch seine Kritiken die Bahn gebrochen, indem er zeigte, daß die reine Vernunft innerhalb der sinnlichen und der intelligiblen Welt ortlos ist, sodaß sie auch nicht auf einen Ort in diesen fixiert werden darf, sondern für sich erkannt werden muß. Unter ihren Einstellungen ist diejenige des Bei-sich-selbstSeins so elementar, daß sie evidentermaßen der Differenzierung des Systems in eines der theoretischen und eines der praktischen Vernunft (und erst recht in diejenigen ihrer spezifischen Gegenstände) noch vorausliegt. Sie besteht nur in Affirmation des dem Vernunftsubjekt ›Ich‹ Eigenen und Negation des ihm Fremden. Sie muß darum auch »aus Freiheit« gleich zu Anfang des Systems sowie seiner Rekonstruktion eingenommen werden, und alles Weitere muß anstelle von Dingen an sich sie, also die Freiheit, zum Grunde liegen haben, – aber so, daß dieser Grund sich dann zu spezielleren Begriffen von Freiheit konkretisiert. Auf diese Weise reißt sich die Philosophie los von den Ketten der Dinge an sich. Das Bild von ›dem‹ Freiheitsbegriff als einem »Schlußstein« wird unbrauchbar. Die Freiheit wird der Philosophie zum A und O. Welche Aufgaben sich damit für die Methodik philosophischer Vernunfterkenntnis stellen, ist freilich eine andere Frage.

Rüdiger Bubner Das Endliche und das Unendliche und der Übergang. Ein Motiv der Systembegründung im Frühidealismus

Vorbemerkung: Ich werde mich dem überaus komplexen Thema in vier Schritten nähern. Zuerst gehe ich von einer Distinktion des späten Sigmund Freud aus. Zweitens werde ich die dort gemachte Andeutung ins Grundsätzliche vertiefen. Drittens erörtere ich eine bekannte Maxime des jungen Schelling zum unmöglichen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen. Und viertens ziehe ich Konsequenzen im Blick auf Schellings Identitätsphilosophie. 1. In einem sehr späten Aufsatz schreibt Sigmund Freud über Die endliche und die unendliche Analyse (1937). Der Text gehört zu jenen in Freuds reichem Opus, die nach der Begründungs- und Kampfphase der Psychoanalyse eine Art von philosophierender Weisheit verbreiten. Es heißt in jenem Aufsatz: »Die Analyse ist beendigt, wenn Analytiker und Patient sich nicht mehr zur analytischen Arbeitsstunde treffen. Sie werden so tun, wenn zwei Bedingungen ungefähr erfüllt sind, die erste, daß der Patient nicht mehr an seinen Symptomen leidet und seine Ängste wie seine Hemmungen überwunden hat, die zweite, daß der Analytiker urteilt, es sei beim Kranken so viel Verdrängtes bewußt gemacht, so viel Unverständliches aufgeklärt, so viel innerer Widerstand besiegt worden, daß man die Wiederholung der betreffenden pathologischen Vorgänge nicht zu befürchten braucht.«1 Was aber geschieht, wenn diese Zeitökonomie aussetzt, so daß die Analyse ins Unendliche weiterläuft? Entweder ist die Krankheit des Patienten wiedergekehrt, und der Aufklärungsprozeß beginnt von neuem. Dann haben wir es mit einer ›schlechten Unendlichkeit‹ zu tun im Hegelschen Sinne. Die alten Fronten von Gesund und Krank bauen sich wieder auf, und ein Fortschritt ist nicht in Sicht. Oder aber der Analytiker, der therapeutisch auf eine gewisse ›Normalität‹ hinarbeiten soll, leidet selber an Defiziten, so daß er sein Amt nicht genügend ausüben kann. So

1

Ges. WW XVI, 63.

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wären dann die Grenzen von Gesund und Krank im Verhältnis des Arztes zum Patienten verwischt. »Es hat doch beinahe den Anschein (so fährt Freud fort), als wäre das Analysieren der dritte jener unmöglichen Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolgs von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren.«2 Freud nennt drei Aufgaben, die nie endgültig zu lösen sind. Ihre Unabschließbarkeit erklärt sich nicht aus kontingenten Umständen wie dem Zeitmangel, der Dummheit der Schüler oder politischen Mißgeschicken. Die Wurzel der Problematik liegt in der Asymmetrie der Rollen der Beteiligten, die nicht beibehalten werden kann. Der Erzieher muß selber erzogen werden, und im Zuge seiner Wirkung verliert er die anfangs leitende Stellung. Der Regierende steht mit den zu Regierenden auf einer Stufe – es geht ja um ihre gemeinsame Politik, und er wird eventuell wieder abgelöst von neuen Regierungskräften. Der Analytiker schließlich muß selber eine Analyse durchlaufen und möglichst in Abständen von fünf Jahren auch wiederholen. Das rät jedenfalls Freud. Was zeigt uns diese Beobachtung an drei herausgehobenen gesellschaftlichen Rollen? Die ›unmöglichen Berufe‹ stellen keine Funktionen innerhalb des gesellschaftlichen Systems dar, die genau umschrieben sind und deshalb exekutiert werden oder vakant bleiben. Dazu müßten in einem objektiven Maßstab Erfolg oder Versagen festzustellen sein. Die drei unmöglichen Berufe haben vielmehr das gesellschaftliche Leben selber zum Thema. Der eine übt darin ein, wie der Erzieher die Jugend einübt; der zweite leitet die kollektiven Vollzüge der Politik, wie es der Regent tut; und der dritte reintegriert den Abweichler durch ärztliches Bemühen, das eine Normalität der Lebensführung wiederherstellt. Unmöglich sind die Berufe, weil es von ihnen kein diplomfähiges Berufsbild gibt. Denn diese Berufe erschöpfen sich in der kontinuierlichen Praxis. Aber unmöglich im Sinne von einer nicht auf Dauer fortsetzbaren Aktivität sind sie auch deshalb, weil die konstitutive Asymmetrie sich tendenziell aufhebt. Zwar sind Erzieher, Politiker und Analytiker, wenn wir dem Trio noch ein wenig Nachdenken widmen, nicht wie alle anderen anzusehen, die ein Leben führen, indem sie Handlungen ungehindert und ohne permanente Störung vollziehen. Sie liefern die Paradigmen einer gelungenen Praxis, d. h. einer Praxis ohne Pathologie. Aber sie können nichts von außen, in der Position des überlegen Wissenden, anweisen. Die Asym2

A.a.O., 94.

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metrie der Rollen beruht auf ursprünglicher Lebensgemeinsamkeit. Denn der Erzogene ist kein Unwissender, der einer Direktion bedarf. Der Bürger ist kein Untertan, den Befehle erreichen. In einem Fall ist Partner die nachwachsende Generation, im anderen Fall sind es die Mitbürger, die allesamt schon Lebenserfahrung besitzen. Und der Arzt schließlich greift helfend in eine Biographie ein, die längst Konturen angenommen hat. Nichts kann und muß dem Kandidaten der Erziehung, Regierung und Therapie von den Anfangsprinzipien her wie eine Spezialdisziplin beigebracht werden. Es wird ihnen nicht demonstriert, was leben heißt, sondern sie werden in ihrem Leben auf die richtigen Pfade gelenkt. Die drei Berufe verfolgen insofern eine Art dauerhafter Praxisbegleitung und -kontrolle. Ihr Ziel ist Richtigstellung, Korrektur und Stabilisierung dessen, was ohnehin getan wird. Man kann sagen, daß in Gestalt der drei außerordentlichen Berufe die Praxis sich mit sich selbst vermittelt. Und der Prozeß setzt nie wirklich aus. Er läuft ins Unendliche weiter.

2. An dieser Stelle breche ich die von Freuds Unterscheidung der endlichen und unendlichen Analyse ausgehende Betrachtung ab. Es gilt nun, in einem zweiten Schritt von den Beispielen und ihrem plausiblen Konkretionsangebot ausgehend zum Grundsätzlichen vorzustoßen. Die Beispiele führen an vertrauten Lebenslagen vor, was es heißt, wenn eine Struktur sich selber thematisiert. Eine Struktur in ihrer einfachen Form kann reproduziert werden. Auch komplexere Strukturen erlauben Wiederholung. Da Reproduktion nicht automatisch verläuft, bedarf es für sie der Anlässe. Irgendwann aber brechen solche Anlässe ab, die Reproduktionsenergie versagt. Damit ist die Fortsetzung nicht länger gesichert. Diese Abbrüche gehören vermutlich ins Reich der Kontingenz. Irgendwann hört man eben auf, so weiterzumachen wie bisher. Ein ganz anderer Zusammenhang tritt ins Blickfeld, wenn die Strukturreproduktion sich nicht bloß als solche kontinuiert, sondern wenn auf eine gewisse Weise zu ihr Stellung bezogen wird. Dann wird eine neue Position relevant, die nicht geradewegs in der Reproduktionslinie liegt, aber auch nicht den Ausgangspunkt für alternative Strukturproduktion darstellt. Die neue Position hat insofern auf die erstgenannte Struktur Bezug, als sie sich für deren Verlauf, nicht für deren Aufbau interessiert. Der Focus zielt nicht auf das, was die Struktur ausmacht, sondern vielmehr darauf, wie sie es macht, sich zu reproduzieren und fortzusetzen.

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Folglich unterliegt die jetzt eingeführte Metaebene nicht mehr der Kontingenz, die den ursprünglichen Verlauf weiterfließen ließ oder durch gewisse Umstände zum Halten brachte. Sie erinnern sich: Die drei unmöglichen Berufe waren deshalb unabschließbar, weil für die Erziehungstätigkeit der Sozialisation immer neue Kandidaten nachrücken, weil das Regierungshandeln niemals einen Endpunkt erreicht, und weil der Analytiker kein vollendeter Normalmensch ist, sondern seinerseits der Analyse bedarf. Die Form, in der die Praxis sich selber thematisiert, unterliegt bei der Pädagogik nicht der Begrenztheit einer Einzelbiographie bis zum Erwachsenenstatus. Denn das Erziehungsproblem ist mit keinem Individuum und keiner Gruppe erledigt, sondern dauert permanent an. Die Politik unterliegt nicht der Vorläufigkeit alles Historischen, weil Geschichte sich aus Eigenem weiter fortschreibt und also Regierungsaufgaben nachwachsen. Schließlich der Analytiker des Seelenlebens – er kommt mit der Therapie nicht zu Ende, weil die Pathologie, die er behandelt, auf ihn immer wieder zurückschlägt. Nach dieser Wendung ins Grundsätzliche beziehe ich mich auf die idealistische Philosophie, für die das Verhältnis des Endlichen und des Unendlichen eine zentrale Stelle einnimmt. Hegel beispielsweise behandelt das Thema prominent in seiner Logik. Er variiert das Thema jedoch auch naturphilosophisch. Damit will ich beginnen, weil so eine Brücke zu unseren Eingangsbetrachtungen sich schlagen läßt. In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften schreibt Hegel: »Nur ein Lebendiges fühlt Mangel; denn nur es ist in der Natur der Begriff, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Entgegengesetzten ist. Wo eine Schranke ist, ist sie eine Negation für ein Drittes, für eine äußerliche Vergleichung. Mangel aber ist sie, insofern in Einem ebenso das Darüberhinaussein vorhanden, der Widerspruch als solcher immanent und in ihm gesetzt ist. Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subjekt; dies macht seine Unendlichkeit aus.«3 Die Erläuterung tritt auf im Zusammenhang der Naturphilosophie. Aber es ist klar, daß Hegel anhand der Struktur des Organischen ein essentielles Moment der Selbstbeziehung vorführt, die für die Charakteristik des Begriffs einsteht. Das Organische sei, wie Hegel meint, einfach als ›Begriff in der Natur‹ anzusehen, wo auf der Ebene des Lebendigen die In3 Georg Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Erste Ausgabe von 1817, § 283, Zusatz. Ich zitiere die leicht präzisierte Formulierung des § 359 der Dritten Ausgabe (1830). Im folgenden zitiert als »Enz.«.

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ternalisierung des Widerspruchs geleistet werde. Der Widerspruch im logischen Sinne entsteht, wenn ein Endliches, das an ihm selbst eine Begrenzung oder Schranke hat, über diese Schranke aus eigenen Kräften hinausgeht. Der Widerspruch ist das Endliche, zusammengedacht mit dem Faktor seiner Begrenzung. Nicht etwa stellt ein neutraler Beobachter vom dritten Standpunkt im Vergleich des Endlichen mit dem, was ihm fehlt, fest, das Endliche erleide eine Negation und sei deshalb als endlich zu beschreiben. Es ist vielmehr das Endliche selbst, das gerade den Mangel fühlt als dasjenige, das eigentlich zu ihm gehört, aber ihm doch gegenwärtig abgeht. Im Kern zeigt sich eine Einheit, die den Widerspruch in sich erträgt. Das aber ist das Prinzip der Subjektivität, und dieses Prinzip lautet auf ›Unendlichkeit‹. Man muß den systematischen Grundsatz hinzunehmen, daß die idealistische Naturphilosophie seit Schelling nur das Andere des Geistes zum Gegenstand hat. So argumentiert auch Hegel.4 Nach Durchlauf der Naturphilosophie bereitet sich für ihn mit der Analyse der Organik der Übergang von der ausgefalteten Wirklichkeit der Natur in die Selbstvermittlung des Geistes vor.5 Das Phänomen des Mangels ist also auf der Ebene des Lebens der vorbegriffliche Ausdruck dessen, was die Subjektivität strukturell kennzeichnet. Sie bezieht sich auf sich in der Weise, sich als ein innerlich Widersprechendes aufzufassen. Der Widerspruch besteht im Zusammenexistieren der Endlichkeit und des Überwindens derselben im Vollzug des Bewußtseins der Negation, die sie darstellt. Dieser eigentümliche Vorgang des Selbstbezugs ist nicht die simple Reflexion des Ich auf sich, mit der von Descartes bis Fichte die neuzeitliche Subjektivitätstheorie operiert hat. In der Tat wird eine Reflexion vollzogen. Sie richtet sich aber nicht auf ein bestehendes Etwas, sondern auf dasjenige Verhältnis, das zwischen dem Etwas und dem ihm entgegenstehenden Anderen hin und her spielt. Dieses Verhältnis ist nun seinerseits ein Produkt der Reflexion und nicht Ergebnis einer quasi empirischen Beobachtung von außen. Wir haben es in Wahrheit mit einer Aufstufung von zwei Reflexionsleistungen zu tun. Die eine bringt die Relation des Endlichen, das durch eine Schranke begrenzt ist, mit seiner eigenen, durch Beschränkung erfolgten Negation in die Einheit eines Blicks. Eine Sache ist endlich, weil außer ihr noch anderes existiert. Dies Zusammenzusehen ist die erste Reflexionsaufgabe. Die zweite Reflexion reflektiert die Paradoxie, daß in diesem be4 5

WdL I, 105, (ed. Lasson), Leipzig 1951. Enz., § 252.

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sonderen Falle eine Einheit aus einem Widerspruch besteht, weil der zuerst geschaffene Zusammenhang des Endlichen mit seiner Negation keine fremde Affäre bedeutet, sondern die Konstitution der Identität alles Subjektiven erbringt. Es kennzeichnet den Philosophen, diese dialektische Vermittlung in zwei Ansichten zu zerlegen, indem er auf eine Reflexion eine weitere Reflexion aufsetzt. Indes ist diese Veranstaltung keineswegs der eigentliche Sachverhalt. Das Tun der Philosophie muß als eine sekundäre Handlung gewürdigt werden, die in Gestalt zweier Schritte erläutert, was ursprünglich als ein komplexer Zusammenhang in die Wirklichkeit tritt. Und zwar vom Boden des Lebens aus als das organische Empfinden des Mangels, worin sich das Prinzip der Subjektivität vorbegrifflich ankündigt. 3. Ich komme zu meinem dritten Punkt, bei dem ich weiter ausholen muß. Der Frühidealismus hatte in Auseinandersetzung mit Kant als eine entscheidende Frage der Systemkonstruktion diskutiert, wie denn zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen ein Übergang zu denken sei. Schon die Fragestellung enthält die Umkehr der Kantischen Fixierung auf das Endliche. Das Jenseits des Endlichen hatte Kant mit zumindest theoretischen Denkverboten belegt. Beginnt man aber in Umkehr der Kantischen Denkrichtung die Systemkonstruktion mit dem Unendlichen, so scheint der Abstieg in die Sphäre der Endlichkeit oder die hinzutretende Trennung von Unendlichem und Endlichem nicht begreiflich. Die Schwierigkeit besteht darin, daß in einem solchen Modell der Trennung das Unendliche seinerseits verendlicht wird. Denn wie groß und überlegen man es sich gegenüber dem Endlichen auch vorstellen mag, so ist es doch in den Gegensatz zum Endlichen gebannt, und damit bloß ein anderes Endliches. Es ist bekannt, daß zunächst bei Friedrich Heinrich Jacobi6 und dann beim jungen Schelling der Gedanke auftaucht, vom Unendlichen sei gar kein Übergang zum Endlichen möglich.7 Vor allem der siebente von Schellings Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus ist hier

6 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785, zweite vermehrte Ausgabe 1789). Hrsg. v. Fritz Mauthner. München 1912, 67. 7 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus (1795), in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Historisch-Kritische Ausgabe. Werke 1. Stuttgart 1976. Zit. als WI, hier: 313ff., vgl. 294.

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einschlägig.8 Wie kommt jemand in jugendlichem Alter auf einen solch kühnen Gedanken? Sicher hielt Schelling wie die ganze Generation der Nach-Kantianer den Ansatz der kritischen Philosophie Kants für unumstößlich, so daß ein simpler Rekurs dahinter zurück auf den Boden traditioneller Metaphysik aussichtslos schien. Zudem hatte Schelling die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) von Fichte sich angeeignet und daraus die Überzeugung gewonnen, daß der Kritizismus nicht überboten, sondern nur besser, ja definitiv, begründet werden müsse. Kant habe nur die Resultate geliefert, die Prämissen seien nun paradoxerweise erst nachzuliefern – so lautete die Parole.9 »Und wer kann Resultate verstehen ohne Prämissen? – Ein Kant wohl, aber was soll der große Haufe damit?« In dem Sinne hat der Stiftler Schelling zwei Texte veröffentlicht, die ihn als Fichte-Schüler erkennen ließen und alsbald Aufmerksamkeit weckten.10 Nun wissen wir inzwischen, daß vor der Begegnung mit Kant und Fichte der heranwachsende Schelling, dem die Stiftsausbildung noch bevorstand, als Autodidakt ganz aus eigenen Stücken und ohne Anleitung durch deutsche Übersetzungen den Platon studiert hatte. Zunächst fasziniert ihn der am Rande liegende Ion, dessen Rhapsoden-Enthusiasmus er ohne Rücksicht auf die pointierte Ironie des Sokrates für bare Münze nimmt.11 Das findet sich in einem auf »1792. August« datierten, ganz skizzenhaften Entwurf über Ansichten der alten Welt. Zwei Jahre später folgt eine auf Kants Transzendentalsubjekt rückprojizierte Interpretation der Weltschöpfung durch den Demiurgen aus Platons Timaios.12 Dieser Dialog gehörte über das Mittelalter hinweg zum zentralen Bestand der Platon-Kenntnis, denn mit der Schöpfungsidee schien Platon in genuiner Nachbarschaft zum Christentum sich zu befinden. Vom Ion kann nichts Vergleichbares gesagt werden.13 Aus Ion spricht der Typ eines Rhapsoden, der gottbegeistert, ja besessen, ohne kritische Reflexion auf das eige-

8

Vgl. Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten. Göttingen 1995, 56ff. Vgl. Schellings Brief an Hegel vom Dreikönigsabend 1795, in: Briefe von und an Hegel. Band I: 1785–1812. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952, 14. 10 Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794) und: Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795). 11 Vgl. dazu v. Verf.: Die Entdeckung Platons durch Schelling und seine Aneignung durch Schleiermacher, in: Innovationen des Idealismus. Hrsg. v. R. Bubner. Göttingen 1995, 15 ff. 12 F.W.J. Schelling: Timaeus (1794). Hrsg. v. H. Buchner. Stuttgart 1994. 13 Siehe Goethes kleine Arbeit Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung (1796), veröffentlicht erst 1826 (Hamburger Ausgabe XII, 244 ff.). 9

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ne Tun als Mundstück eines Höheren agiert. Das war vermutlich die Botschaft, die Schelling damals suchte. Im Mittelpunkt des sog. Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus von 1797 kehrt das Motiv in Gestalt der Versicherung wieder, daß ein Philosoph ohne ästhetischen Sinn nur mit Tabellen und Registern sich beschäftige und des Aufschwungs der Seele zur großen Synthesis unfähig sei. Ich kehre von diesen historischen Vorbetrachtungen zu der Anfangsfrage zurück, wie ein junger Kopf der nachkantischen Generation auf die These gestoßen sein mag, daß vom Unendlichen zum Endlichen kein Übergang denkbar sei. Der Standpunkt der Endlichkeit ist die von Kants Kritizismus eingeübte Grenzziehung des menschlichen Verstandes, der auf eine ihm gegenüberstehende Erfahrungswelt bezogen bleibt, die er weder übersteigen kann noch darf. Der methodisch mit viel Aufwand und Argumentationskunst durchgesetzte Standpunkt der Endlichkeit sollte dennoch in der Philosophie der Zeit nicht das letzte Wort behalten. Daß ihm das Unendliche gegenüberstehe, scheint ein so offenkundiger Gedanke, auf den man stößt, weil man den Standpunkt des Endlichen ohne jeglichen Kontrast zum Unendlichen gar nicht verteidigen kann. Vom Unendlichen zum Endlichen kein Übergang – das besagt, daß zwar das eine ohne das andere nicht konsequent zu Ende gedacht werden kann. Wer vom Endlichen redet, kann nicht darauf allein beharren. Endlichkeiten vermögen nicht zu erklären, was Endlichkeit sei. Das Unendliche als Gegenstück des Endlichen muß mit ins Spiel kommen. Aber das Verhältnis zwischen beiden Seiten, dem Endlichen und dem Unendlichen, bedarf nun noch der Bestimmung. Es ergeht die Warnung, Begrenzung des Endlichen nie und nimmer durch andere Endliche erfolgen zu lassen, weil so eine unabschließbare Sequenz entsteht. Die strategische Warnung muß daher zur fundamentalen Änderung der Einstellung des bisherigen Denkens Anlaß geben. Bisher operierten wir mit der puren Negation. Endliches wird dadurch in sich bestimmt, daß ihm etwas mangelt. Der Mangel ist die Absenz von etwas, das, weil es fehlt, als das Nichtvorhandene qualifiziert wird. Indes trägt der gescheite Ausdruck des Mangels, der aus der oben zitierten Passage in Hegels Naturphilosophie stammte, den eigentümlichen Akzent, demjenigen zuzugehören, das den Mangel empfindet. Er ist der Mangel, der nur und wesentlich am Mangelhaften auffällt. An einem Organismus tritt er so auf, daß dem Organismus vorenthalten wird, was er in Wahrheit benötigt. Mir kann es an Essen, an frischer Luft, an Körperbewegung usw. mangeln. Man wird dasselbe nicht sagen, wenn mir vor dem Kassenautomaten zehn Mark fehlen oder ich keinen Hausbesitz

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vorweisen kann. Auch der Mann ohne Computer und Handy ist erfreulicherweise noch kein Mängelwesen. Er hat nur nicht zugegriffen, wo andere schneller waren. Ich persönlich bin mir allerdings unsicher, ob ein echter Mangel an Büchern nicht zu den essentiellen und schmerzlich berührenden Defiziten einer intellektuellen Existenz zählt. Vom Scherz der Beispiele abgesehen darf man festhalten, daß im Mangel sich die Absenz dessen meldet, was eigentlich da sein sollte. Am Beispiel zeigt sich ein Vorgriff auf einen Zusammenhang, der jedoch defizitär auftritt. Es ist der Zusammenhang, der seiner Vollständigkeit entbehrt. Das bloße Absprechen von Prädikaten wie Wohlstand, Immobilienbesitz oder Mitläufertum im Fortschritt kündigt hingegen nicht an, daß die Sache, deren Endlichkeit zur Diskussion steht, in ihrem Wesen beschädigt ist. Der Mangel verweist also auf ein noch herzustellendes Ganzes.

4. Damit stehe ich am Beginn meines vierten Abschnittes. Der für unseren Fragenkomplex besonders auskunftsträchtige Text Schellings heißt Darstellung meines Systems der Philosophie (1801).14 Er gehört in die Reifephase des philosophischen Autors, die als Phase der Identitätsphilosophie bezeichnet wird. Der Text von 1801, dem ich mich jetzt zuwende, ist reich an Rückbezügen und Verweisen, an Verwahrungen gegenüber Mißverständnissen im herkömmlichen Dualismus des Esoterischen und Exoterischen. Dies alles lasse ich hier beiseite. Ich prüfe nicht philologisch und entwicklungsgeschichtlich die Behauptungen und Versicherungen, mittels derer der Autor Schelling vor dem Publikum sowohl seine Originalität wie auch intellektuelle Kontinuität zu belegen sucht. Offenkundig handelt es sich bei der Darstellung meines Systems der Philosophie um eine Studie, die wie zahlreiche andere Texte desselben Autors und seiner Konkurrenten den Streit um den philosophischen Siegeskranz im Rücken hat. 15 Die Argumentation erinnert geradewegs an Fichtes Aufruf an jeden Denkenden, vom Empirischen zu abstrahieren und rein die Vernunft sprechen zu lassen. Dann komme man unvermeidlich auf das ›Gesetz der Identität‹, das in der Form A = A ausgesagt werde. Im Unterschied zu 14 Friedrich Wilhelm Schelling: Ausgewählte Schriften II. Hrsg. v. M. Frank. Frankfurt/Main 1985. Im folgenden zitiert nur unter Angabe der Nummer des Paragraphen. 15 Auffällig ist die vernichtende Charakterisierung Reinholds, a.a.O., 43f.

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Fichtes Ansatz wird freilich der Satz der Identität nicht auf das Prinzip eines sich selbst setzenden ›Ich‹ zurückgeführt. Schelling beruft sich vielmehr auf Spinoza, ohne freilich dessen Terminus der Substanz zu benutzen. Er führt den eigenen Terminus der Indifferenz ein. Die Vernunft ist schlechthin eine und hat nur eine unbedingte Erkenntnis, das ist die Identität. Von der Vernunft auszugehen, ist für einen Philosophen unverdächtig. Da man die absolute Vernunft nicht mit Differenzen von vornherein belastet, ergibt sich als ihr Erkenntnisgehalt die absolute Identität. Diese aber wird als Indifferenz von Subjektivem und Objektivem gedacht. Damit stecken wir mitten in der Schwierigkeit der Systemkonstruktion. Es bleibt die Frage übrig, wie denn die Identität sich selbst als solche, nämlich uneingeschränkt mit sich gleich erkennen soll. Diese ›Selbsterkenntnis‹ darf nicht mit der Systemkonstruktion des Philosophen verwechselt werden. Und deshalb wird eingeräumt: »Die absolute Identität kann nicht unendlich sich selbst erkennen, ohne sich als Subjekt und Objekt unendlich zu setzen.«16 Der erkennende Selbstbezug bricht folglich die absolute Identität wieder in eine Verhältnisbestimmung, und zwar diejenige von Subjekt und Objekt auseinander. Aus diesem Verhältnis heraus war die Hauptlinie der neuzeitlichen Philosophie hervorgewachsen, und über Kant setzt sich die Spannung bis in den Idealismus fort. 17 Nebenbei bemerkt, hat Fichte nach seinem Bruch mit Schelling, den er zunächst als kongenialen Interpreten der eigenen Wissenschaftslehre begrüßen konnte, das Handikap genau erkannt. In einer späteren Auseinandersetzung bringt Fichte schonungslos das inhärente Dilemma zur Sprache, daß Identität nur als Abwesenheit von Differenz zu denken sei und Indifferenz voraussetze, die doch nur unter Rückgriff auf eine zu leugnende Differenz zu haben sei. Insbesondere muß man sehen, daß die Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt nicht in einer Parallele zu der bisher erörterten Opposition des Endlichen und des Unendlichen steht. Zwar gilt seit Kants kritischer Vernunftreflexion als ausgemacht, daß die Sphäre der spontanen Subjektivität durch die entgegenstehende Objektivität limitiert werde. Daraus gerade leitet der Standpunkt der Endlichkeit sich her. Aber die klassische neuzeitliche Gegenüberstellung eines ›zugrundegelegten‹ Subjekts und des ›entgegengeworfenen‹ Objekts betrachtet das Bild unter ganz ande16

§ 21. Johann Gottlieb Fichte: Bericht über die Wissenschaftslehre und die bisherigen Schicksale derselben. Werke V 336. Hrsg. v. Medicus 1806. 17

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ren Vorzeichen. Die Subjekt-Objekt-Terminologie geht gleichsam neutral an die Sachlage heran, während die Insistenz auf Endlichkeit aus der wie auch immer eingeschränkten Position selber spricht. Mit Fichtes Wissenschaftslehre18 sagt Schelling dann weiter, daß die Differenz zwischen Subjekt und Objekt nur ›quantitativ‹ gedacht werden könne, weil eine qualitative Differenz zwei Entitäten voraussetzte, die bereits von Haus aus der primären Identität zuwiderliefen. Mit der quantitativ gefaßten Differenz treten nun »einzelne Dinge« auf die Szene, die nur außerhalb der Identität ihr Sein haben.19 »Die Kraft, die sich in der Masse der Natur ergießt, ist dem Wesen nach dieselbe, welche sich in der geistigen Welt darstellt. […] Dieser Gegensatz erscheint als Gegensatz nur dem, welcher sich selbst von der Totalität abgesondert hat.«20 Die wahre Ansicht lautet jedoch: »Die absolute Identität ist das Universum selbst […] Das Universum aber ist alles, was ist.«21 Diese spinozistische Wendung überbietet die Parallele von Natur und Geisteswelt, wie Schelling sie noch 1800 exponiert hatte. Und nun wird definiert: »Die quantitative Differenz des Subjektiven und Objektiven ist der Grund aller Endlichkeit, und umgekehrt, quantitative Indifferenz beider ist Unendlichkeit.«22 Nach der Ausarbeitung des leitenden Einheitsgesichtspunkts kommt Schelling wieder auf das von uns zu Anfang betrachtete Verhältnis des Endlichen und Unendlichen zurück. Offenbar handelt es sich um Sichtweisen des Ganzen, die voneinander unterschieden werden müssen. Vom Aspekt der Identität her bekommen wir nur das Totum des Seienden, nämlich das Universum, zu Gesicht. Vom Aspekt des immanenten Selbstbezugs der Identität, der dieselbe in quantitativ differente Teile des Subjektiven und Objektiven zerlegt, erscheint in unserem Gesichtskreis die Dualität von Endlichem und Unendlichem. Das erfolgt so, daß das Festhalten der Differenz den Endlichkeitsstandpunkt gebiert, während die Wendung zur Indifferenz Unendlichkeit eröffnet. Vom Unendlichen zum Endlichen kein Übergang – das heißt nun: Hältst Du an der Endlichkeit fest, wirst Du sie nie überwinden. Denkst Du zur Endlichkeit jedoch das ihr Fehlende hinzu und begibst Dich jenseits der Differenz, dann gewinnst Du Zugang zum Unendlichen. Unter-

18 19 20 21 22

§ 23. § 27 ff. A.a.O., 60. § 32. § 37.

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mauert und abgesichert wird aber diese Dialektik durch eine von ihr ganz unabhängige Vernunftidee der Identität, die uranfänglich aus sich konstituiert ist. Nur im Lichte der Identitätsanalyse empfängt das Übergangsverbot innerhalb der Relation des Endlichen und Unendlichen seinen eigentlichen Sinn. Ich fasse zusammen, was sich uns ergeben hat. Auf dem Standpunkt der Endlichkeit ist nicht zu verharren, weil derselbe sich aus sich nicht erklärt. Also muß ein Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem ursprünglich angesetzt werden. Dabei gilt es, den fundamentalen Fehler einer Verendlichung des Unendlichen im fixierten Kontrast zum Endlichen zu vermeiden. Also muß der Zusammenhang zwischen beiden ohne verzerrende Übergangsprozedur gedacht werden. Im Unendlichen muß das Endliche bereits mit enthalten sein. Es muß eine Einheit gedacht werden, welche durch Einschränkung nichts von ihrer Identität abzugeben hat, d. h. sich nicht verliert, wenn auch Endliches auf die Szene tritt. Seit Jacobi ist hierfür die alte Rätselformel der Alleinheit, des ν καì πν, im idealistischen Diskurs üblich geworden. Wie gelangt man aber aus der Relativität der Verhältnisbestimmung zur Höhe des Einheitsgesichtspunkts? An dieser entscheidenden Stelle greift eine mit der Dialektik von Endlichem und Unendlichem nicht gleichlaufende neue Betrachtung ein, die auf der Linie des Subjekt-ObjektDualismus der neuzeitlichen Philosophie operiert und zwar, um im Rahmen des Dualismus die eigentümliche Indifferenz beider Seiten herauszuarbeiten. Wenn die Differenz zwischen Subjekt und Objekt gemäß dem Modell der Wissenschaftslehre Fichtes vom Qualitativen ins Quantitative verschoben und also ontologisch herabgestuft wird, springt eine Identität ins Auge, die mit sich selbst identisch ist, ohne den Preis der Negation entrichten zu müssen. Indifferenz heißt einfach, daß die Differenz als vernachlässigungsfähig anzusehen ist. Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt wird dabei nicht schlechterdings getilgt, so daß wir im leeren und dunklen Raum der Bestimmungslosigkeit endeten. Indifferenz setzt Differenz voraus, und zwar hier die von Subjekt und Objekt, aber im Range der Unerheblichkeit. Der Schachzug eines Wechsels vom qualitativen zum quantitativen Aspekt war eine Erfindung Fichtes, der statt vom Wesen nur von der Größe innerhalb des Bezugs von Subjekt und Objekt aufeinander zu reden bereit war. Ob hier ein sprachlich-kategorialer Trick vorliegt, ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren. Schelling muß sich offenkundig dieses Schachzugs bedienen, um die Beweislast zu schultern, die darin bestand, das Problem von Endlichkeit und Unendlichkeit im Lichte eines vorgän-

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gigen Einheitsgesichtspunktes aufzulösen. Die Ableitung des Endlichen aus dem Unendlichen über den quantitativen Aspekt ermöglicht Schelling jedenfalls, beides ohne den Eingriff der Negation zusammenzudenken. Das Endliche ist dann die Seite des Universums, in welcher es als Totalität der Einzelseienden aufgefaßt wird. Das Unendliche ist dasselbe Universum, insofern es als das Ganze an sich gefaßt wird. Von beiden Seiten aus betrachtet handelt es sich um ein und dasselbe Universum. Es erfolgt kein Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, und doch bleibt das Endliche bestimmbar. 5. Die eigentliche Schwierigkeit für das Konstruieren eines Systems, wie es Schelling im Darstellung meines Systems genannten Text von 1801 mit Aplomb beansprucht, liegt meines Erachtens in dem unauflösbaren Zwang, das korrekte, nämlich übergangsfreie Verhältnis von Endlichem und Unendlichem nur bestimmen zu können, indem eine zweite Linie hineinverschlungen wird. Das ist die Linie der Indifferenzsetzung von Subjekt und Objekt, wo der vertraute erkenntnistheoretische Dualismus benutzt wird, um eine gegen diese Relation gleichgültige Identität aufzubauen. Identität als Indifferenz zu lesen, ist aber eine ganz andere Angelegenheit als den Übergang vom Unendlichen zum Endlichen zu verbieten. Das erste gehört zur Subjektivitätsanalyse, das zweite zur Metaphysik. Nun wollte freilich der Frühidealismus die Metaphysik mit Hilfe der Subjektivitätsanalyse restituieren. Das ist hier versucht worden. Aber der Versuch fällt in der Sache so unbefriedigend aus, daß Weiterdenken erfordert wird. Das Ungenügen, mit einem Wort gesagt, liegt in der unbereinigten Doppelung, das Verhältnis zum Endlichen zu klären und dabei den Dualismus von Subjekt und Objekt berücksichtigen zu müssen. Hegel hat im historischen Abstand behauptet, Schelling sei nie ein System gelungen, er lege nur Schritte dahin vor, die wir Späteren als Stufe seiner Bildung studieren können.23 Jenseits des Interesses an der Entwicklungsgeschichte eines begabten, aber vollendungsscheuen Autors studiert man die Bildungsstufen jedenfalls mit Gewinn, wenn man die Konstruktionsaufgabe ernst nimmt, die darin besteht, die Einheit des Ganzen und die Endlichkeit der Dinge aus ein und demselben Grunde zu erklären. Also Distinktion zu vollziehen, ohne die Kosten der Entzweiung 23

Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, III 3, D.

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zu tragen. Oder an Spinozas Weisheit zu glauben und Fichtes Modernität zu respektieren. Wir stehen offenbar im Angesicht eines weiteren jener unmöglichen Berufe, die Freud in seinem Trio versammelt hatte. Neben der Erziehung, der Regierung und der Psychoanalyse taucht als vierter unmöglicher Beruf derjenige eines idealistischen Systemkonstrukteurs auf. Denn auf seine Leistung kann kulturell nicht verzichtet werden und doch ist die Leistung mit Erwartung allgemeiner Zustimmung zu keinem schlüssigen Ende zu bringen. Wenn wir Heutigen uns jenen Fragestellungen primär auf dem Wege der Exegese klassischer Texte nähern, so ergibt der strategische Überblick über die damalige Diskussionslage immerhin deutlich, daß zwei Paradigmen miteinander konkurrieren: einerseits das Paradigma des Kosmos oder der Einheit der Welt und andererseits das Paradigma, alle Wirklichkeit gültig aus der Ich-Struktur zu erklären. Die Kosmos-Alternative kennzeichnet die antike Weltauffassung. Die Ich-Alternative gehört ins Zentrum der Moderne. Der Frühidealismus bildet ein Schlachtfeld, wo ernste Kämpfe zwischen den zwei Paradigmen resultatlos ausgetragen werden.

Eckart Förster Die Bedeutung von §§ 76, 77 der Kritik der Urteilskraft für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie. Teil 1

Für Frank Teichmann zum 3.8.2002

Noch im Jahre 1790, bald nach der Lektüre von Kants Kritik der Urteilskraft, notierte sich Goethe unter dem Titel ›Metamorphose der Pflanzen: Zweiter Versuch‹: »Es kann sich auch hier der Naturforscher beruhigen und seinen Weg desto ungestörter fortgehen, da die neuere philosophischen Schule nach der von ihrem Lehrer vorgezeichneten Anleitung (siehe Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, besonders § [76, 77]1) diese Vorstellungsart kurrenter zu machen sich zur Pflicht rechnen wird, da denn der Naturforscher in der Folge die Gelegenheit nicht versäumen darf, auch ein Wort mitzureden«.2 Die Vorstellungsart, von der Goethe hier spricht, ist die, daß wir der lebendigen, organisierten Natur keine objektive Zweckmäßigkeit zuschreiben können – eine Auffassung, für die Kant in den §§ 76 und 77 der Kritik der teleologischen Urteilskraft die philosophische Begründung geliefert hatte.3 Auffällig ist aber allemal die erstaunliche Zuversicht Goethes,

1

Goethe spezifizierte keine Paragraphennummer, da er offensichtlich aus dem Gedächtnis schrieb und sich an die genaue Nummerierung nicht erinnerte. Daß es sich um die §§ 76, 77 gehandelt haben muß, geht aus dem nächsten Satz sowie aus dem längeren Zitat hervor, das unten zu Beginn von Abschnitt II wiedergegeben wird. Diejenigen Goethe-Ausgaben, die das Fragment aufgenommen haben, beschränken sich mangels eines genuin philosophischen Verständnisses von Kants Text in der Regel aufs bloße Raten, welcher Paragraph gemeint sein könnte: Deutscher Klassiker Verlag: § 64 (24:155); Artemis Ausgabe: § 82 (17, 61); Leopoldina Ausgabe: § 64 (II, 9 A, 552); Reclam Ausgabe (Goethes Schriften zur Naturwissenschaft): § 61 (118); Münchner Ausgabe: § 64 (3, 2, 626); Kürschners Deutsche National-Literatur: § 63 (117, 550). 2 Johann Wolfgang von Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Weimar 1947ff, I, 10, 66f. Im folgenden zitiert als »LA«. 3 Noch im hohen Alter schrieb Goethe: »[E]s ist ein grenzenloses Verdienst unsres alten Kant um die Welt, und ich darf auch sagen um mich, daß er, in seiner Kritik der Urteilskraft, Kunst und Natur kräftig nebeneinander stellt und beiden das Recht zugesteht: aus großen Prinzipien zwecklos zu handeln« (An Zelter, 29.1.1830, in: Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe). Hamburg 1948 ff. Die Briefbände. München 1962 ff., 4, 370. Im folgenden zitiert als »HA« bzw. »HABr«.)

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daß die neueren Philosophen, die Kants Nachfolge antreten wollen, gerade mit diesen Paragraphen und der dort skizzierten Vorstellungsart sich würden auseinandersetzen müssen. Wieweit hat er damit Recht behalten? Ich beginne mit der Feststellung, daß Schelling bereits 1795 in seiner Frühschrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie sich die erwähnten Paragraphen vollständig zueigen gemacht hat und dazu schreibt: »Vielleicht aber sind nie auf so wenigen Blättern so viele tiefe Gedanken zusammengedrängt worden, als in der Kritik der teleologischen Urtheilskraft § 76 geschehen ist.«4 Wenige Jahre später schreibt Schelling an Fichte zu dessen Behauptung, daß die Identität von Ideal- und Realgrund gleich der Identität des Denkens und Anschauens sei: »Sie drücken mit dieser Identität die höchste spekulative Idee aus, die Idee des Absoluten, dessen Anschauen im Denken, dessen Denken im Anschauen ist. (Zur Erklärung berufe ich mich der Kürze halber auf Kants Kritik der Urteilskraft § 76 Anmerk.)«5 Und auch Hegel schreibt schon in seinen frühesten Jenaer Veröffentlichungen davon, daß Kant gerade in diesen §§ 76 und 77 mit der Idee eines urbildlichen Verstandes die höchste spekulative Idee ausgesprochen habe, die es jetzt aufzugreifen und zu entwickeln gelte, da Kant sie zwar benannt, dann aber wieder, und zwar willkürlich, seines spekulativen Potentials beraubt habe: »So wie die wahrhaft spekulative Seite der Philosophie Kants allein darin bestehen kann, daß die Idee so bestimmt gedacht und ausgesprochen worden ist, und wie es allein interessant ist, dieser Seite seiner Philosophie nachzugehen, so viel härter ist es, das Vernünftige nicht etwa nur wieder verwirrt, sondern mit vollem Bewußtsein die höchste Idee verderbt und die Reflexion und endliches Erkennen über sie erhoben werden zu sehen.«6 Schon auf einen ersten, noch flüchtigen Blick läßt sich also Goethes Prognose als erstaunlich zutreffend erkennen. Woran lag es aber, daß gerade diese zwei Paragraphen der Kritik der Urteilskraft eine solche Stimu-

4

F. W. J. Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen, in: Werke. Historisch-Kritische Ausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften. I, 2, 175 (vgl. auch 162). 5 Friedrich Wilhelm Schelling: Schelling an Fichte, 3.10.1801, in: J.G. Fichte: Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, III, 5, 80–81. 6 G. W. F. Hegel: Glauben und Wissen, in: Gesammelte Werke. Hrsg. v. d. RheinischWestfälischen Akademie der Wissenschaften. 4:343. Vgl. auch die „Differenzschrift“, 4, 69–70.

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lation und Wirkung zeitigen sollten? Schauen wir uns die entsprechenden Passagen also etwas genauer an.

1. Kant hatte in den vorausgegangenen Paragraphen der Kritik der teleologischen Urteilskraft argumentiert, daß gewisse Naturprodukte, nämlich sogenannte Organismen, uns nötigen, über eine bloß mechanische Betrachtungsweise hinauszugehen und zu ihrer Beurteilung auch Zweckbegriffe heranzuziehen. Daraus scheint sich eine Antinomie zu ergeben, da Mechanismus und Zweckmäßigkeit, soweit wir einsehen, im selben Gegenstand nicht zugleich Erklärungsgrund sein können. Kants Lösung besteht darin, daß diese Antinomie in Wirklichkeit gar keine ist bzw. sich leicht auflöst: Für die Urteilskraft sind Mechanismus und Teleologie zwei Maximen der empirischen Naturbeschreibung, die nur dann, wenn sie konstitutiv zur Erklärung der Möglichkeit der Gegenstände herangezogen würden, einander widersprächen. Sie können aber nur Regeln sein, wie die Urteilskraft, die selbst über keine konstitutiven Prinzipien verfügt, über bereits gegebene Gegenstände der Erfahrung reflektieren soll. Folglich können sie nur den zweckmäßigen Gebrauch unserer subjektiven Erkenntnisvermögen betreffen, aber nichts Objektives im Gegenstand selbst bestimmen. An diese Auflösung der Antinomie schließt Kant nun mit dem § 76 eine »Anmerkung« an, die, wie er sagt, »es gar sehr verdient in der Transzendentalphilosophie umständlich ausgeführt zu werden.«7 Sie liefert nämlich nicht nur die Begründung für die vorgeschlagene Lösung. Anhand von drei Beispielen versucht Kant allgemein und für alle drei menschlichen Erkenntnisvermögen zu zeigen, daß gewisse Vernunftideen für uns unumstößlich gültig sein können – und zwar für alle Wesen der menschlichen Gattung – ohne daß daraus folgt, daß der Grund dieser Gültigkeit im Objekt liege. Vielmehr nötigt uns die Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen zu einer bestimmten Betrachtungsweise der Natur, ohne daß wir eine Entsprechung in ihren Gegenständen anzunehmen berechtigt wären.

7 Kants Werke zitiere ich unter Angabe von Band und Seitenzahl nach der Akademieausgabe, die Kritik der reinen Vernunft wie üblich nach der ersten (A) bzw. zweiten (B) Auflage. V 401.

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Kants erstes Beispiel eines solchen Falls ist die für uns in theoretischer Absicht unvermeidliche Unterscheidung von Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge. Diese Unterscheidung setzt zwei heterogene, aber auf einander bezogene, Erkenntnisstücke voraus, nämlich Verstand und sinnliche Anschauung: Was sinnlich gegeben ist, ist wirklich; was nicht gegeben ist, aber ohne Widerspruch gedacht werden kann, ist möglich. Nun sind für die menschliche Erkenntnis beide, Verstand und Anschauung, gleichermaßen erforderlich, da durch unser Denken kein Gegenstand gegeben, durch unsere Anschauung allein kein Gegenstand erkannt werden kann. Würden durch das Denken die korrespondierenden Gegenstände zugleich selbst gegeben, so gäbe es für uns nur Wirkliches. Unser Verstand ist jedoch nicht anschauend, sondern diskursiv und daher auf eine Anschauung angewiesen, die sinnlich, d. h. rezeptiv oder passiv ist. Dies kann aber nicht für jedes erkennende Wesen vorausgesetzt werden. Deshalb schreibt Kant: »Die Sätze also: daß Dinge möglich sein können, ohne wirklich zu sein, daß also aus der bloßen Möglichkeit auf die Wirklichkeit gar nicht geschlossen werden könne, gelten ganz richtig für die menschliche Vernunft, ohne darum zu beweisen, daß dieser Unterschied in den Dingen selbst liegen.«8 Kants zweites Beispiel ist aus dem praktischen Bereich genommen. Hier bin ich als endliches Vernunftwesen genötigt, mir selbst Kausalität aus Freiheit mitsamt einem moralischen Gesetz zuzuschreiben, das die objektive Notwendigkeit gewisser Handlungen zur Folge hat. Da ich zugleich ein sinnliches Wesen und Teil der Natur bin, die so vorgeschriebenen Handlungen nach der Kausalität der Naturgesetzlichkeit immer zufällig sind und deshalb auch ausbleiben können, erscheint das Gesetz unter dem Namen der Pflicht und als Gebot: Das heißt, die Vernunft drückt die dem Sittengesetz entsprechende Notwendigkeit nicht durch ein Sein oder Geschehen aus, sondern durch ein Sein-Sollen. Für eine Vernunft, die ohne Sinnlichkeit als subjektive Bedingung ihrer Anwendung wirksam sein könnte, fiele dieser Unterschied weg. Der Gegensatz zwischen »Sollen und Thun, zwischen einem praktischen Gesetze von dem, was durch uns möglich ist, und dem theoretischen von dem, was durch uns wirklich ist«,9 ist also nur gültig für ein praktisches Vernunftwesen, das zugleich sinnlich ist und dessen Kausalität mit derjenigen der Sinnenwelt nicht zusammenfällt.

8 9

V 402. V 404.

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Das dritte Beispiel schließlich ist dasjenige, um dessen willen diese Betrachtungen letztlich angestellt sind und das die Diskussion der vorhergehenden Paragraphen der Dialektik der teleologischen Urteilskraft wieder aufnimmt. Da unser Verstand als diskursiver in der Erkenntnis immer vom Allgemeinen zum Besonderen gehen muß, kann er hinsichtlich der Zweckmäßigkeit besonderer Naturgegenstände keine Erkenntnisurteile fällen, solange kein allgemeines Gesetz erkannt wird, unter das diese Gegenstände subsumiert werden können und aus dem ihre Besonderheit sich ableiten lässt. Ein solches Gesetz kennen wir aber nicht. Ein Organismus ist nach Kant nämlich dadurch charakterisiert, daß bei ihm, weil er Naturprodukt ist, Teile und Ganzes durch sich selbst wechselseitig voneinander Ursache und Wirkung sein müssen,10 während Zweckmäßigkeit eine Kausalität durch Begriffe ist, die dem bewirkten Produkt mitsamt seinen Teilen äußerlich ist. »Genau zu reden, hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Causalität, die wir kennen.«11 Da wir uns wegen der Diskursivität unseres Verstandes die Möglichkeit von Organismen aber auch nicht anders als nach Zweckprinzipien denken können (denn aus »blinden«, bloß mechanischen Bewegungsgesetzen ist sie nicht zu verstehen12), so wird »der Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur in ihren Producten ein für die menschliche Urteilskraft in Ansehung der Natur nothwendiger, aber nicht die Bestimmung der Objecte selbst angehender Begriff sein, also ein subjectives Princip der Vernunft für die Urtheilskraft, welches als regulativ (nicht constitutiv) für unsere menschliche Urteilskraft eben so notwendig gilt, als ob es ein objectives Princip wäre.«13 Im Zusammenhang dieser drei Beispiele stellt Kant nun noch zwei weitere Überlegungen an, die für mein Thema von besonderem Interesse sind. Die erste schließt unmittelbar an die Reflexion über Möglichkeit und Wirklichkeit im § 76 an, die zweite knüpft an das dritte Beispiel an und macht den Inhalt des folgenden § 77 aus. Ich möchte auf beide kurz eingehen. a) Um die Behauptung zu bekräftigen, daß es nur der Besonderheit unseres menschlichen Erkenntnisvermögens zuzuschreiben ist, daß Möglichkeit 10 11 12 13

Vgl. V 373. V 375. Vgl. V 374. V 404.

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und Wirklichkeit unterschieden werden und auseinanderfallen können, weist er darauf hin, daß selbst unsere Vernunft »ein Etwas (den Urgrund) als unbedingt nothwendig existierend anzunehmen [genötigt ist], an welchem Möglichkeit und Wirklichkeit gar nicht mehr unterschieden werden sollen.«14 In Frühform findet sich dieser Gedanke bereits in der Nova dilucidatio und im Einzig möglichen Beweisgrund, wo er noch zu einem eigenen Gottesbeweis herhalten mußte. In modifizierter Form ist er dann in der Kritik der reinen Vernunft in das Kapitel ›Von dem transzendentalen Ideal‹ eingegangen. Dort argumentiert Kant, daß für alle Dinge der Erfahrung ein »transzendentales Substratum« als »Inbegriff aller Möglichkeit« gedacht werden muß, d. h. ein All der Realitäten (omnitudo realitatis), das den ganzen Stoff für alle möglichen Prädikate der Dinge enthält und damit deren durchgängige Bestimmung überhaupt möglich macht.15 Derselbe Gedanke ist dann erneut – in wiederum etwas modifizierter Form – von Jacobi aufgegriffen und in der zweiten Auflage seines Buchs Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn16 besonders denjenigen Tübinger Stiftlern nahegebracht worden, die fortan eine Synthese aus Kant und Spinoza anstrebten. Denn Jacobi hatte den Gedanken Kants benutzt, um den Begriff der einen Substanz Spinozas durch den Gedanken von einem Sein zu ersetzen, das allem Dasein zugrunde liegt und von dem deshalb nicht gedacht werden könne, daß es sich dabei um eine bloße Möglichkeit, einen Gedanken ohne Wirklichkeit handle.17 Diesem Sein mußte deshalb die modale Bestimmung der Notwendigkeit zukommen. Für Kant in der Kritik der Urteilskraft ist der Gedanke eines solchen Urgrunds zwar eine unentbehrliche Vernunftidee, »aber ein für den menschlichen Verstand unerreichbarer problematischer Begriff«.18 Denn Kant kennt keine Art, sich ein solches Etwas und seine Art zu existieren zu denken, ohne auf etwas bloß Gedachtes (d. h. bloß Mögliches) oder Angeschautes (bloß Wirkliches) zu rekurrieren. Worauf es ihm in diesem Zusammenhang allein ankommt, ist die Tatsache, daß es die Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens ist, die zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu unterscheiden notwendig macht. Für einen Verstand, der nicht auf ein mittels Rezeptivität gegebenes Material angewiesen wäre, träte dieser Unterschied nicht auf.

14 15 16 17 18

V 402. A 575f. Friedrich Heinrich Jacobi: Werke, Hamburg 1998, Band 1,1. Vgl. hierzu auch Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Stuttgart 1992, 48ff. V 402.

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b) Kants zweite ergänzende Überlegung knüpft an das dritte gerade erwähnte Beispiel an. Wenn sich die scheinbare Antinomie von Naturkausalität und Teleologie aus der besonderen Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens erklären und somit auch auflösen lassen soll, »so muß hier«, schreibt er, »die Idee von einem andern möglichen Verstande, als dem menschlichen zum Grunde liegen (so wie wir in der Kritik der r. V. eine andere mögliche Anschauung in Gedanken haben mussten; wenn die unsrige als eine besondere Art, nämlich die, für welche Gegenstände nur als Erscheinung gelten, gehalten werden sollte).«19 Organismen sind nämlich hinsichtlich der allgemeinen Naturgesetze, die in unserem Verstand liegen, zufällig und lassen sich aus diesen nicht ableiten. Als Produkte der Natur müssen sie aber auch als gesetzmäßig gedacht werden und zur Einheit der Naturerkenntnis zusammenstimmen. Da Gesetzmäßigkeit des Zufälligen aber Zweckmäßigkeit ist,20 so müssen wir Organismen so betrachten, als ob ihnen die Vorstellung eines Zwecks (und damit ein anderer Verstand) zugrunde läge, damit die Einheit der Naturgesetzlichkeit möglich ist: »Um nun gleichwohl die Möglichkeit einer solchen Zusammenstimmung der Dinge der Natur [d. i. Organismen] zur Urteilskraft (welche wir als zufällig, mithin nur durch einen darauf gerichteten Zweck als möglich vorstellen) wenigstens denken zu können, müssen wir uns zugleich einen andern Verstand denken, in Beziehung auf welchen und zwar vor allem ihm beigelegten Zweck wir jene Zusammenstimmung der Naturgesetze mit unserer Urtheilskraft, die für unseren Verstand nur durch das Verbindungsmittel der Zwecke denkbar ist, als nothwendig vorstellen können.«21 Kant behauptet also nicht, daß ein solcher (göttlicher) Verstand existiert, noch daß Organismen für ihre Möglichkeit tatsächlich eine Zweckvorstellung voraussetzen, sondern nur, daß die Beschaffenheit unseres diskursiven Erkenntnisvermögens uns mit dem Begriff eines Naturzwecks zugleich die Idee eines solchen Verstandes aufnötigt, aus dem sich die Besonderheit von Naturzwecken gesetzmäßig ableiten ließe. Wenn Kant allerdings diesen Verstand im folgenden als intuitiven Verstand charakterisiert, der »vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besonderen geht, d. i. vom 19 20 21

V 405. Vgl. V 404. V 407, vgl. 180.

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Ganzen zu den Teilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Theile nicht in sich enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen«,22 dann wird zugleich deutlich, daß derjenige andere Verstand, der zur Auflösung der Antinomie der Urteilskraft von uns muß gedacht werden können, nicht einmal ein göttlicher bzw. ursächlicher Verstand sein muß. Es reicht, daß es ein intuitiver Verstand ist, der vom Ganzen zu den Teilen gehen kann, wobei offen bleiben kann, ob er das Ganze verursacht hat oder nicht. Es ist nämlich nicht »in Abrede zu ziehen«, wie Kant ausdrücklich betont, »daß ein anderer (höherer) Verstand, als der menschliche auch im Mechanismus der Natur, d. i. einer Causalverbindung, zu der nicht ausschließungsweise ein Verstand als Ursache angenommen wird, den Grund der Möglichkeit solcher Producte der Natur antreffen könne.«23 Dies ist das eigentliche Ergebnis von § 77. Die Antinomie der teleologischen Urteilskraft führt in der Tat zur Idee eines anderen möglichen Verstandes als des unsrigen. Um zu verstehen, daß der Begriff eines Naturzwecks durch die Diskursivität unseres Verstandes bedingt ist, brauchen wir jedoch letztendlich nur die Möglichkeit eines nicht-diskursiven Verstandes, so wie wir in der Kritik der reinen Vernunft nur die Möglichkeit einer nicht-sinnlichen Anschauung in Betracht ziehen mußten, um Sinnenobjekte zugleich als Erscheinungen zu denken. Für einen nicht-diskursiven, d. h. ›intuitiven‹ Verstand bestünde kein Unterschied zwischen Naturmechanismus und Technik der Natur, und folglich keine Antinomie. Schon die Denkmöglichkeit eines solchen intuitiven Verstandes belegt also nach Kant, daß der Ursprung des Begriffs eines Naturzwecks (und die damit verbundene Antinomie der teleologischen Urteilskraft) in »der Eigenthümlichkeit des menschlichen Verstandes« begründet ist, wie es in der Überschrift zu § 77 heißt. Die angeführten Beispiele dienen also einem doppelten Ziel: zum einen, uns die Eigentümlichkeit unserer kognitiven Beschaffenheit zu verdeutlichen; zum anderen, uns die Notwendigkeit vor Augen zu führen, ein anderes Erkenntnisvermögen zumindest zu denken, um das unsere nicht für das einzig mögliche zu halten. Im Gegensatz zu den eher sporadischen Anmerkungen über eine andere Anschauungsart in der ersten Kritik führt Kant seine Überlegungen jetzt aber systematisch und für alle Gemütsvermögen gleichermaßen durch – für Erkenntnisvermögen, Begehrungsvermögen und Urteilskraft. Und da er darauf insistiert, daß 22 23

V 407. V 406.

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der Grund für unsere Urteile in allen drei Fällen in unserer subjektiven Beschaffenheit und nicht in den Dingen selbst liegt, zieht er für uns allgemeine Erkenntnisgrenzen und weist zugleich auf die Notwendigkeit hin, wenigstens versuchsweise über sie hinaus zu denken. Ein solcher Versuch, ernsthaft betrieben, wird kaum ohne Folgen bleiben können.24 Darauf komme ich gleich zurück. Zunächst gilt es zu sehen, daß mit diesen Überlegungen nicht ein, sondern zwei alternative Erkenntnisvermögen ins Spiel gebracht werden, die keineswegs aufeinander zu reduzieren sind: eine nicht-sinnliche, d. h. intellektuelle, Anschauung, für die Möglichkeit (Denken) und Wirklichkeit (Sein) zusammenfallen; und ein intuitiver Verstand, der von der Anschauung eines Ganzen zu den Teilen geht und damit keine Zufälligkeit in der Verbindung der Teile zum Ganzen kennt. Das zweite alternative Erkenntnisvermögen wird im § 77 thematisiert, das erste im § 76. Obwohl beide in der Kantliteratur immer wieder miteinander identifiziert werden,25 sind sie nicht dasselbe – im ersten Fall geht es um die Alternative rezeptiv/spontan, im zweiten Fall um die Alternative diskursiv/intuitiv. Schauen wir uns beide Vermögen etwas genauer an.

α) Intellektuelle Anschauung Wenn Kant in der gerade angeführten Stelle davon spricht, daß wir die Idee von einem andern möglichen Verstande zum Grunde legen müssen, so wie wir in der Kritik der reinen Vernunft eine andere mögliche, nämlich intellektuelle, Anschauung denken mußten, so bezieht er sich damit vor

24 So schreibt auch Hegel in Glauben und Wissen: »[I]ndem er [d. h. Kant] selbst einen intuitiven Verstand denkt, auf ihn als absolut notwendige Idee geführt wird, stellt er selbst die entgegengesetzte Erfahrung von dem Denken eines nicht diskursiven Verstandes auf und erweist, dass sein Erkenntnisvermögen erkennt, nicht nur die Erscheinung und die Trennung des Möglichen und Wirklichen in derselben, sondern die Vernunft und das Ansich« (341). – Und entsprechend schreibt Schelling: »[I]ndirect wenigstens hat er [d. h. Kant] die Idee eines durch keinen Gegensatz beschränkten, nicht mehr weder sinnlichen noch übersinnlichen, eines wahrhaft unendlichen Erkennens vorbereitet und eingeleitet.« Zitiert nach G. L. Pitt (Hrsg.): Aus Schellings Leben. In Briefen. Bd. 1. Leipzig 1869, 151. 25 Auch Kant hat beide Vermögen zunächst, d. h. bevor die Organismusproblematik den Gedanken eines alternativen Verstandes nötig machte, nicht deutlich unterschieden (so z. B. B 135). Eine eindeutige Abgrenzung beginnt sich erstmalig in den hier besprochenen Paragraphen der Kritik der Urteilskraft abzuzeichnen, besonders V 405, 27–30.

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allem auf die Neufassung der Kategoriendeduktion in der zweiten Auflage, wo er nicht weniger als sechsmal26 darauf insistiert hatte, daß die Deduktion nur für einen Verstand gilt, der seine Gegenstände nicht selbst hervorbringt und dessen ganzes Vermögen darin besteht, a priori zu verbinden und das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung unter die Einheit der Apperzeption zu bringen. Fielen für uns Denken und Anschauen zusammen, so wäre eine Kategoriendeduktion unmöglich, aber auch überflüssig: »Ein Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objecte dieser Vorstellung existierten, würde einen besonderen Actus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der blos denkt, nicht anschaut, bedarf.«27 Nun spricht Kant im § 77 der Kritik der teleologischen Urteilskraft aber auch von der intellektuellen Anschauung als einer denkmöglichen Anschauung des nicht-sinnlichen Substrats von Erscheinungen, also des Dinges an sich, und knüpft damit an entsprechende Ausführungen im Phaenomena und Noumena-Kapitel der ersten Kritik an. Auch dort hatte er ausdrücklich darauf hingewiesen, daß unsere Art, Dinge anzuschauen, von deren Beschaffenheit an sich selbst zu unterscheiden ist und unsere Sinnlichkeit nicht für die einzig mögliche Art der Anschauung genommen werden darf: »Verstehen wir aber [unter einem Noumenon] ein Object einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellectuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir die Möglichkeit nicht einsehen können.«28 Einen solchen Begriff zu bilden, bezeichnet Kant als »unvermeidlich«, um der Sinnlichkeit ihre Schranken zu setzen.29 Dennoch: die hier ins Spiel gebrachte intellektuelle Anschauung ist nicht identisch mit der in der Deduktion erörterten produktiven Anschauung, so daß wir genauer zwei Bedeutungen des Begriffs ›intellektuelle Anschauung‹ zu unterscheiden haben: eine unmittelbare und direkte, weil produktive Anschauung30 und eine unmittelbare und direkte, weil nicht sinnliche Anschauung.31 26

B 135, 138f., 145, 149, 153, 159. B 139. 28 B 307. 29 A 256. 30 Eine solche Anschauung, »die der Grund und nicht die Folge der Objekte ist, ist, da sie unabhängig ist, ursprüngliches Anschauen und deswegen vollkommen intellektuell« (De mundi sensibilis … § 10 [II 397]; vgl. B 159, etc.). 31 In der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik wird eine solche Anschauung im Gegensatz zu der unseren schlicht als eine »unmittelbare (directe) Vorstellungsart 27

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β) Intuitiver Verstand Interessanterweise ist nun auch hinsichtlich des intuitiven Verstandes eine Doppeldeutigkeit zu beachten. Genauso wie Kant in den früheren Abschnitten der Kritik der teleologischen Urteilskraft zwischen der Zweckmäßigkeit in einzelnen Naturprodukten einerseits und einer Zweckmäßigkeit der ganzen Natur andererseits unterschieden hatte, so oszillieren auch seine Charakterisierungen des intuitiven Verstandes zwischen zwei korrespondierenden Möglichkeiten. Einerseits charakterisiert Kant diesen Verstand bloß »negativ, nämlich bloß als nicht discursiven« Verstand, »welcher nicht vom Allgemeinen zum Besonderen und so zum Einzelnen (durch Begriffe) geht«.32 Ein solcher Verstand kann auch bei einzelnen Naturprodukten die »Möglichkeit der Theile (ihrer Beschaffenheit und Verbindung nach) als vom Ganzen abhängend vorstellen«33 und so das Besondere aus dem »Synthetisch-Allgemeinen« bestimmen.34 Andererseits wird er aber auch beschrieben als ein Verstand, der die Natur als Ganzes, »ja das Naturganze als System«35 betrachtet und daher von uns als ursprünglicher Verstand, »als Weltursache«36 zu denken wäre. Hier besteht zweifellos die größte Nähe zwischen intuitivem Verstand und produktiver, intellektueller Anschauung, obwohl letztere natürlich nicht als Ursache gleich des Ganzen der Welt gedacht werden muß, sondern diese Möglichkeit nur zuläßt. Wir haben damit in diesen §§ 76 und 77 der Kritik der teleologischen Urteilskraft jeweils zwei für Kant zwar denkbare, aber von uns nicht realisierbare Erkenntnisvermögen zu unterscheiden, die selbst wiederum zwei unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten haben:

eines Gegenstandes« bezeichnet, die nicht an Sinnlichkeitsbedingungen geknüpft ist (XX 267). Da Kant Sinnlichkeit als rezeptives oder passives Vermögen definiert (A 19), können etwa die Sehstrahltheorien von Platon (Timaios, 45b ff., 64d, 67cff.), Sophokles (Aias, v. 69), Euklid (Optik) und anderer Autoren des Altertums als Beispiele einer (im Kantischen Sinn: nicht-sinnlichen) Anschauung gelten, die Dinge an sich wahrnimmt, ohne diese hervorzubringen. Zur antiken Sehtheorie vgl. z. B. Gerard Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik. München 1992; David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalte. Frankfurt 1987. 32 V 406, 625ff. 33 V 407, 32ff. 34 V 407, 21. Daß Allgemeines und Ganzes, Besonderes und Teil nicht ohne weiteres identisch sind, stellt ein eigenes Problem dar, das ich im gegenwärtigen Zusammenhang übergehen kann. 35 V 409, 19. 36 V 410, 11.

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1) intellektuelle Anschauung als a) produktive Einheit von Möglichkeit/Denken und Wirklichkeit/ Sein; und b) als nichtsinnliche Anschauung von Dingen an sich; und 2) intuitiver Verstand als a) synthetisch-allgemeiner Verstand; und b) als ursprünglicher Verstand bzw. Weltursache. Meines Wissens hat keiner der Denker, die ihre Aufgabe darin sahen, mit Kant über Kant hinauszugehen, es für möglich erachtet, daß wir 1b) oder 2b) realisieren könnten. Gibt es Dinge an sich als die nicht-sinnlichen Korrelate von Erscheinungen, dann sind diese per definitionem durch Sinnlichkeit nicht anschaubar. Sind wir endliche Vernunftwesen, dann sind wir per definitionem nicht die Weltursache. Bekanntlich bestand aber schon einer der wichtigsten frühen Schritte über Kant hinaus in der Behauptung, daß 1a), also die Einheit von Denken und Sein, in einer intellektuellen Anschauung erfahrbar ist, und daß das transzendentale Substrat oder All der Realitäten nicht außerhalb der erkennenden Subjektivität zu suchen ist, sondern ihr immanent sein muß. Dies ist der Ausgangspunkt (wenn auch nicht in ganz gleicher Weise) sowohl Fichtes als auch des frühen Schellings. Ich möchte das hier als bekannt voraussetzen und darauf im folgenden nicht weiter eingehen. Statt dessen möchte ich die These vertreten, daß im unmittelbaren Anschluß an Kant auch die Möglichkeit eines intuitiven Verstandes im Sinne von 2a), also eines synthetisch-allgemeinen Verstandes, sogleich behauptet wurde, und zwar zuerst von Goethe. Ich beginne mit einem etwas ausführlicheren Zitat Goethes. 2. »Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen aufzuheften trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende ganz und

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gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überlässt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend: Wir können uns einen Verstand denken, der weil er nicht wie der unsrigre diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besonderen geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen. – Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte. [§ 77, V 407–8] Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürfte es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.«37 Das erste Beispiel einer solch’ naturgemäßen Darstellung, von der Goethe hier spricht, hat er in seiner Metamorphose der Pflanzen vorgelegt. Sie ist schon deshalb von philosophischem Interesse, weil sie ebenfalls aus einem ›Spinozastreit‹ mit Jacobi hervorgegangen ist. Neben der bekannten Auseinandersetzung zwischen Jacobi und Mendelssohn, deren Bedeutung für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie inzwischen so gut dokumentiert ist,38 gab es noch einen zweiten, zur gleichen Zeit stattfindenden Spinozastreit, der nicht minder wichtig ist für die philosophische Entwicklung nach Kant, der aber von der Idealismus-Forschung bisher kaum zur Kenntnis genommen worden ist: der zwischen Jacobi und Goethe.

37 38

Anschauende Urteilskraft, LA I, 9, 95f. Vgl. Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. a.a.O.

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Im Herbst 1784 kam Jacobi zu einem 12tägigen Besuch nach Weimar, zu dem er auch das Manuskript von Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn mitbrachte. Goethe las es ausführlich; daran schloß sich eine erneute, intensive Lektüre von Spinozas Ethik an. Seine völlig andere Deutung dieses Werkes teilte Goethe Jacobi bald darauf brieflich mit. Sah Jacobi in Spinoza einen Atheisten, so wollte Goethe ihn »theissimum ia christianissimum nennen und preisen«. Ein göttliches Wesen erkenne er allerdings vor allem »in herbis et lapibus« und aus den »rebus singularibus […] zu deren näheren und tiefern Betrachtung niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst.«39 In einem folgenden Brief an Jacobi drückte er sich noch deutlicher aus: »Wenn Du sagst man könne an Gott nur glauben, so sage ich dir, ich halte viel aufs schauen, und wenn Spinoza von der Scientia intuitiva spricht und sagt: Hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis; quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum [Diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee der formalen Wesenheit einiger Attribute Gottes fort zu der adäquaten Erkenntnis der Wesenheit der Dinge] so geben mir diese wenigen Worte Muth, mein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen […] und von deren essentia formali [formalen Wesenheit] ich mir eine adäquate Idee zu bilden hoffen kann, ohne mich im mindesten zu bekümmern, wie weit ich kommen werde und was mir zugeschnitten ist.«40 Dieser Aufgabe hat Goethe sich tatsächlich von nun an fast unermüdlich gewidmet. Bald darauf läßt er aus Italien an Herder melden, und zwar in deutlicher Anspielung auf Jacobi, daß er »besonders in der Botanik auf ein ν καì πν gekommen« sei,41 das ihn selbst in Erstaunen versetze. Das Resultat ist bekanntlich die Metamorphose der Pflanzen von 1790, die während der Italienreise ausgebildet wurde und welche diejenige »naturgemäße Darstellung« und intuitive Denkungsart ist, mit der er das Kantischen »Abenteuer der Vernunft« zu bestehen glaubt. Ich möchte im folgenden versuchen, dies etwas näher zu skizzieren.

39 40 41

HABr 1, 475/6. HABr 1, 508f. HA 11, 395.

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3. Anschauungen ohne Begriffe sind auch für Goethe blind. Wie begreife ich aber ein angeschautes Lebendiges? Dies ist nicht nur etwas sich Veränderndes. Lebendiges ist vor allem etwas im Werden Befindliches, sich Entwickelndes. Um das Werden von etwas Lebendigem zu begreifen, darf dessen Begriff also nicht im Sinne einer Definition (lat. »Abgrenzung«) fixiert werden. Das trifft aber für Kant auf jeden Begriff zu. Ein solcher, sofern er ein empirischer Begriff ist, ist nämlich immer eine allgemeine Vorstellung, die verschiedene Vorstellungen oder Prädikate als Teilvorstellungen unter sich enthält, die durch Vergleich, Reflexion und Abstraktion von gegebenen Objekten gewonnen sind. Er ist grundsätzlich »der Anschauung entgegengesetzt«.42 Diesen Sachverhalt hat Kant in einer Metaphysikvorlesung so ausgedrückt: Das menschliche Vermögen zu denken (sagt er dort) ist das Vermögen, »sich etwas vorzustellen durch Begriffe, d. h. diskursiv sich etwas vorzustellen, indem ich von andern Dingen abstrahiere und nur das nehme, was allen gemein ist. So habe ich ein Merkmal und ist dies Erkenntnisgrund, so ist’s Begriff. Ein Wesen, das abstrahiert, limitiert sich selbst. Die Menschen müssen sich so einschränken, wenn sie Erkenntnisse haben, denken wollen; denn der Verstand ist nicht Vermögen des Anschauens.«43 Der Begriff trennt also etwas Gedachtes vom angeschauten Wirklichen ab, fixiert es und stellt es als Allgemeines vor; und da ich von Begriffen keinen anderen Gebrauch machen kann als zu urteilen,44 wird ein Erkenntnisurteil immer eine Funktion der Relation in Begriffen gedachter Vorstellungen zueinander sein. So versteht sich, warum Kant zufolge ein Naturzweck für die bestimmende Urteilskraft unbegreiflich sein muss: Hinsichtlich der Möglichkeit eines solchen Dinges kann sie nur nach Begriffen einer vorausgehenden (äußeren) Ursache urteilen, d. h. entweder theoretisch nach den Prinzipien des Mechanismus (bloße Bewegungsgesetze) oder praktisch nach den Endursachen (Kausalität nach Zwecken).45 Für einen Naturzweck wäre hingegen zu fordern, daß die Teile desselben einander insgesamt sowohl ihrer Form als ihrer Verbindung nach wechselseitig hervorbringen und die »Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurteilt 42 43 44 45

IX 91. XXVIII 780f. Vgl. A 68. Vgl. V 390.

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werden könnte«.46 So etwas können wir aber nicht begreifen: Der Organismus bleibt folglich ein »Fremdling in der Naturwissenschaft«,47 weil »der Begriff eines Naturzwecks seiner objektiven Realität nach durch die Vernunft gar nicht erweislich ist«.48 Ganz anders geht nun Goethe das Problem an. So wie ich aus abgetrennten Blättern, Stengel und Blüten keine lebende Pflanze zusammensetzen kann, genauso wenig kann ich Goethe zufolge aus abgetrennten Allgemeinbegriffen von Blatt, Stengel und Blüte zum Begreifen einer sich entwickelnden Pflanze überleiten. Worauf es beim Verstehen von Lebendigem also ankommt, ist »daß mein Denken sich von den Gegenständen nicht sondere, daß die Elemente der Gegenstände, die Anschauungen in dasselbe eingehen und von ihm auf das innigste durchdrungen werden, daß mein Anschauen selbst ein Denken, mein Denken ein Anschauen sey.«49 Das heißt, ich muß eine Möglichkeit finden, den Begriff selbst so beweglich und veränderlich zu machen, daß er die Entwicklung seines Gegenstandes mitvollziehen kann. Genauer gesagt, muß ich das Denken so in die Anschauung versenken, den Begriff, mit dem der erste Zustand gedacht wird, so plastisch oder flüssig machen, daß er sich mit dem metamorphosierenden Gegenstand entwickelt: »Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiele mit der sie uns vorgeht.«50 Das ist leicht gesagt, doch können wir uns darunter etwas vorstellen? Als erster Einstieg mag der folgende Hinweis Goethes dienen: »Zwei Forderungen entstehn in uns bei Betrachtung der Naturerscheinungen: die Erscheinungen selbst vollständig kennenzulernen, und uns dieselben durch Nachdenken anzueignen. […] Wenn wir einen Gegenstand in allen seinen Teilen übersehen, recht fassen und ihn im Geiste wieder hervorbringen können, so dürfen wir sagen, daß wir ihn im eigentlichen und im höhern Sinne anschauen. […] Und so führt uns das Besondere immer zum Allgemeinen, das Allgemeine zum Besonderen.«51 Die erste der beiden Forderungen, die Erscheinungen selbst vollständig kennen zu lernen, ist relativ leicht zu erfüllen. Es handelt sich dabei 46 47 48 49 50 51

V 373. V 390. V 396. Bedeutende Fördernis …, LA I, 9, 307. Die Absicht eingeleitet, LA I, 9, 7. Polarität, LA II, 11, 165.

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um die sogenannte »Vermannigfaltigung eines jeden einzelnen Versuches«52 also etwa darum, die Entwicklung einer Pflanze vom Samen bis zur Frucht, eines Tieres von Geburt bis zum natürlichen Tod zu beobachten, oder aber auch eine vollständige Serie optischer Beobachtungen anzustellen, wie Goethe dies in der Farbenlehre durchführt. Das Ziel ist jeweils dasselbe, nämlich eine kontinuierliche Reihe von Beobachtungen zu generieren, die selbst wiederum ein Ganzes darstellen und damit als ein einzelnes Experiment oder Phänomen höherer Ordnung angesehen werden können.53 Kantisch gesprochen: es muß zuerst einmal (diskursiv) ein ›Ganzes‹ in den Blick gebracht werden, von dem ein intuitiver Verstand synthetisch-allgemein zu den Teilen gehen könnte. Die zweite Forderung, den Gegenstand durch Nachdenken sich anzueignen und ihn im Geiste wieder hervorzubringen, ist nicht so leicht zu erfüllen. Stellen wir uns dazu vor, ich wollte die Pflanze zeichnen. Zuerst skizziere ich einen Stengel, füge dann auf der einen Seite einige Blätter an, dann weitere Blätter auf der anderen Seite, zum Schluß gebe ich dem Ganzen vielleicht noch eine Blüte, deren Blätter ich ebenfalls sukzessiv zu einer Art Kranz zusammenfüge. Ich kann die Pflanze nicht anders zeichnen als Stück für Stück und nacheinander. Genauso kann ich scheinbar deren Entwicklung nicht anders denken als diskursiv und nacheinander. Aber so entwickelt sich kein Organismus. Er wächst in allen Teilen zugleich. Will ich dies begrifflich fassen, dann muß ich mich, wie Goethe sagt, mit meinem Denken »beweglich und bildsam« verhalten, »nach dem Beispiele mit dem sie [die Natur] uns vorgeht«. Das kann aber nur zweierlei bedeuten. Erstens muß ich nicht bloß additiv die Länge vergrößern und Blatt um Blatt hinzufügen, sondern ich muß alle Teile kontinuierlich so aufeinander beziehen, wie sie sich auseinander entwickeln. Dazu muß ich die bildenden Kräfte »nachdenken«, wie sie zwischen den einzelnen Teilen (Blättern etc.) wirken. Worauf es also ankommt, sind nicht nur die Teile, die dem Auge sichtbar sind, sondern vor allem die Übergänge von Gestalt zu Gestalt. Diese kann ich nur erfahren in der Beobachtung meines eigenen nachbildenden Denkens. Sie sind in der gegebenen sinnlichen Anschauung selbst nicht unmittelbar wahrnehmbar. Bei einer Blütenpflanze etwa

52

Der Versuch…, LA I, 8:312. »Eine solche Erfahrung, die aus mehreren andern besteht, ist offenbar von einer höhern Art. Sie stellt die Formel vor, unter welcher unzählige einzelne Rechnungsexempel ausgedrückt werden. Auf solche Erfahrung der höhern Art loszuarbeiten halte ich für höchste Pflicht des Naturforschers« (Der Versuch…, LA I, 8, 312). 53

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muß ich im Denken die Folge expandierender und kontraktierender Bewegungen nachvollziehen, mittels derer sie ihren Lebenszyklus vollendet. Dazu schreibt Goethe: »Vom Samen bis zu der höchsten Entwicklung des Stengelblattes bemerkten wir zuerst eine Ausdehnung, darauf sahen wir durch eine Zusammenziehung den Kelch entstehen, die Blumenblätter durch eine Ausdehnung, die Geschlechtsteile abermals durch eine Zusammenziehung; und wir werden nun bald die größte Ausdehnung in der Frucht und die größte Konzentration in dem Samen gewahr werden. In diesen sechs Schritten vollendet die Natur unaufhaltsam das ewige Werk der Fortpflanzung der Vegetabilien durch zwei Geschlechter.«54 Zweitens muß dieses nachvollziehende Denken an allen Stellen der Pflanze zugleich tätig sein. Denn während z. B. der Stengel in die Höhe wächst und an seinem oberen Teil neue Blätter hervortreibt, vergrößern sich die schon bestehenden Blätter oder metamorphosieren sich in neue Formen, die Wurzeln dringen tiefer in das Erdreich ein. Die Pflanze bildet sich in allen ihren Teilen zugleich. Um diesen Prozesse nachzuvollziehen, muß ich in Gedanken also auch an allen ihren Stellen zugleich sein; mit anderen Worten: das Denken muß intuitiv, d. h. anschauend werden. Der Gedanke eines gleichzeitigen Ganzen von Teilen und der einer Abfolge von Veränderungen der Teile muß ein einzelner selbst lebendiger Gedanke werden. Daß eine solche Verbindung von diskursivem und intuitivem Denken nur unter Anstrengungen und als Ergebnis wiederholter Übung möglich ist, war Goethe durchaus klar: »Die Schwierigkeit, Idee und Erfahrung miteinander zu verbinden, erscheint sehr hinderlich bei aller Naturforschung: die Idee ist unabhängig von Raum und Zeit, die Naturforschung ist in Raum und Zeit beschränkt; daher ist in der Idee Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt, und eine Naturwirkung, die wir der Idee gemäß als simultan und sukzessiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen.«55 Eine scheinbare Art Wahnsinn für Goethe, eine Antinomie für Kant! Darauf reagieren beide allerdings in entgegengesetzter Weise. Da Kant nur diskursives Denken kennt, bleibt ihm ein Organismus letztlich unbegreiflich, der Begriff eines ›Naturzwecks‹ für die bestimmende Urteilskraft ein innerer Widerspruch. Wie wir sahen, entkräftet er die ›Antinomie‹ der Urteilskraft dadurch, daß er Idee und Naturforschung, Zweckmäßigkeit und Mechanismus, Simultanes und Sukzessives auf 54 55

Die Metamorphose der Pflanzen, § 73. Bedenken und Ergebung, LA I, 9, 97.

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zwei Maximen der reflektierenden Urteilskraft aufteilt, die als bloß subjektive Prinzipien miteinander verträglich sind, hinsichtlich des Ursprungs des Naturprodukts aber agnostisch bleiben müssen. Goethe dagegen bleibt ganz im Objektiven. Für ihn hat der ›Wahnsinn‹ doch Methode: Richtig verstanden ist er die Aufforderung zur Ausbildung eines erweiterten, nicht bloß diskursiven, sondern zugleich anschaulichen Denkens, das vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Allgemeinen zum Besonderen führt und in der Anschauung des Ganzen zu einer Erfahrung höherer Art wird, nämlich dessen, was Goethe alternativ den ›Typus‹, den ›Begriff‹ oder die ›Idee‹ nennt, die im Organismus objektiv realisiert ist. Dabei handelt es sich nicht um eine begriffliche Abstraktion im Sinne Kants, noch weniger um eine »abstract idea« im Sinne Lockes. Im Gegenteil:56 es ist eine konkrete Idee desjenigen Allgemeinen, das sich in zahllosen, raum-zeitlichen Variationen und Gestaltungen manifestiert, deren jede die Idee empirisch, d. h. in eingeschränkter Weise und damit unvollkommen repräsentiert.57 Sie kommt dadurch zustande – um das Gesagte noch einmal zusammenzufassen – daß (erstens) eine vollständige Reihe derjenigen sukzessiven Phänomene oder ›Gestalten‹ erstellt wird, die zusammen den Lebenszyklus eines Organismus repräsentieren können. Diese Reihe muß (zweitens) als Ganzes zusammengefaßt und die Übergänge zwischen den Teilen bzw. deren Entwicklung auseinander so reproduziert und »nachgedacht« werden, daß sich (drittens) als Ergebnis die »Erfahrung höherer Art« einstellen kann, daß alle beobachteten Metamorphosen Erscheinungen eines und desselben (ideellen) Organs sind, welches sich unter verschiedenen empirischen Bedingungen in mannigfaltiger Weise darstellen kann. Es dürfte klar sein, daß sich ein begründetes Urteil über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines solchen Verfahrens (und damit über die Möglichkeit eines intuitiven Verstandes) nicht fällen läßt, ohne daß diese Schritte erprobt und nachvollzogen werden. Ein ausschließlich diskur-

56

Für Goethe ist nicht das Allgemeine die Abstraktion, sondern das Besondere, die einzelne Gestalt: Der Wissenschaftler »abstrahirt bei diesem Ausdruck [der »Gestalt«] von dem Beweglichen, er nimmt an, daß ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixirt sei. Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, daß nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern daß vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke.« (Die Absicht eingeleitet, LA I, 9, 7). 57 »Das Allgemeine und Besondere fallen zusammen: das Besondere ist das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erscheinend« (Maximen und Reflexionen, HA 12, 433).

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sives Denken, das aus sich selbst heraus seine Alternativlosigkeit glaubt wissen zu können, erweist seine philosophische Naivität gerade dadurch, daß es dogmatisch selbst noch hinter die Kantische Forderung zurückfällt, eine Alternative zu unserem gegenwärtigen Erkenntnisvermögen zumindest versuchsweise zu denken, um es nicht für das einzig mögliche zu halten. 4. Nun ist es meine These, daß gerade diese bisher weitgehend ignorierte Art, über Kant hinauszugehen, für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie von nicht unerheblicher Bedeutung war. Dafür ist zunächst zweierlei zu beachten. Zum einen die Art, wie Goethe an Spinoza anknüpfte. Bekanntlich war dieser ja im Anschluß an Jacobi zu dem Autor avanciert, an dem bei einem möglichen Abschluß der von Kant initiierten philosophischen Entwicklung nicht vorbeigegangen werden konnte. Es ist aber höchst bedenkenswert, daß die Ethik, die als Summe von Spinozas philosophischem Lebenswerk gelten muß, in einer Erkenntnisgattung gipfelt – nämlich die scientia intuitiva – für die Spinoza selbst keine anderen Beispiele als mathematische anführen konnte. Was macht aber einen mathematischen Beweis für Spinoza zu einem geeigneten Beispiel der dritten Erkenntnisgattung? Daß er alle Eigenschaften seines Gegenstands aus dessen Wesenheit herzuleiten erlaubt. Wie tut er das? Zum einen muß die Folge der Beweisschritte lückenlos vorliegen und durchlaufen sein, dann müssen sie zweitens als ein Ganzes zusammengefaßt werden, damit an diesem Ganzen drittens die neue Erfahrung auftreten kann, daß dieser eine Beweis für alle Fälle gilt.58 Nehmen wir das von Spinoza selbst erwähnte Beispiel der Winkelsumme im (Euklidischen) Dreieck. Wenn ich z. B. ein rechtwinkliges Dreieck zeichne, durch den der Hypotenuse gegenüberliegenden Punkt eine Parallele zur Hypotenuse ziehe und dann die beiden Katheten durch diesen Punkt verlängere, so entstehen (erstens) auf der Parallelen drei Winkel, die zusammen 180° bilden. Bleibe ich dabei nicht stehen, sondern fasse nun alle durchlaufe-

58 Daß dies nicht der heute weitgehend übliche, deduktive Beweisbegriff einer Ableitung von Sätzen aus Axiomen ist, kann im gegenwärtigen Zusammenhang unberücksichtigt bleiben. Zur gegenwärtigen Problemlage und zum Verhältnis von Erklärung und Beweis in der neueren Philosophie der Mathematik, vgl. etwa Paolo Mancosu: Mathematical Explanation. Problems and Prospects, in: Topoi 20 (2001), 97– 117.

Die Bedeutung von §§ 76 und 77 der Kritik der Urteilskraft

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nen Schritte im Geiste zu einem Ganzen zusammen, so sehe ich (zweitens), daß sich die Winkel des Dreiecks in diesen drei neuen Winkeln als zwei Stufenwinkel und ein Gegenwinkel wiederholen, die Summe der Winkel in diesem Dreieck also ebenfalls 180° bilden. Damit aber von einem eigentlichen Beweis die Rede sein kann, muß sich (drittens) hieran eine neue Einsicht, eine »Erfahrung höherer Art«, einstellen, nämlich die, daß dies nicht nur für dieses (rechtwinklige) Dreieck, sondern ebenso für spitzwinklige, stumpfwinklige, kurz: für alle planen Dreiecke gilt. Was deutlich werden muß, ist, daß der Beweis nicht für andere Dreiecke wiederholt zu werden braucht: Ich ›sehe‹ in diesem Besonderen zugleich das Allgemeine; Anschauung und Begriff fallen zusammen. Dies stellt das von Spinoza aufgestellte Erkenntnisideal einer scientia intuitiva dar – jedoch mußte er sich eingestehen: »Die Dinge, die ich bisher in dieser Erkenntnis habe begreifen können, sind allerdings nicht sehr zahlreich gewesen.«59 Wie sich solch anschauliches Denken systematisch auf Nichtmathematisches ausweiten läßt, scheint überhaupt zuerst Goethe realisiert zu haben, der das von Spinoza anvisierte Verfahren des Schauens des Allgemeinen im Besonderen auf die Kantischen Naturzwecke angewandt und damit zugleich einen Schritt über die Kantischen Grenzlinien zu tun versucht hat. Zum zweiten ist zu beachten, daß Goethe im Rahmen seiner zahlreichen praktischen Tätigkeiten in Jena, die neben einer Vielzahl von Experimenten ab 1803 auch die Oberaufsicht der naturwissenschaftlichen Institute der Universität Jena einschloß, genau die hier beschriebene Methodologie zur Darstellung brachte. Besonders im Anlegen von Sammlungen und Naturalienkabinetten ging es um das Erstellen vollständiger Reihen bestimmter Arten und Gattungen, welche die Anschauung eines Ganzen und damit eine ›Erfahrung höherer Art‹ ermöglichen sollten. Goethe selbst hat das einmal so ausgedrückt: »Wenn ich eine entstandne Sache vor mir sehe, nach der Entstehung frage und den Gang zurück messe, soweit ich ihn verfolgen kann, so werde ich eine Reihe Stufen gewahr, die ich zwar nicht nebeneinander sehen kann, sondern mir in der Erinnerung zu einem gewissen idealen Ganzen vergegenwärtigen muss. Erst bin ich geneigt mir gewisse Stufen zu denken; weil aber die Natur keinen Sprung macht, bin ich zuletzt genötigt, mir die Folge einer ununterbrochenen Tätigkeit als ein Ganzes anzuschauen, indem ich

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Baruch de Spinoza: Tractatus de intellectus emendatione. Hrsg. und übersetzt v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 1993, 22.

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I. Kant und die Systembildung im Frühidealismus · E. Förster

das Einzelne aufhebe, ohne den Eindruck zu zerstören«.60 Anhand botanischer Anlagen, Kabinette und Sammlungen konnten die Interessierten unter Goethes Zeitgenossen vor Ort und gewissermaßen in hands-on exhibitions die praktische Ausbildung von intuitivem Verstand im Sinne Kants mit der Entwicklung einer scientia intuitiva im Sinne von Spinozas dritter Erkenntnisgattung konkret vorgeführt bekommen. Damit konnten sie bei Goethe bereits teilweise realisiert sehen, was ihnen selbst als Erkenntnisideal vorschwebte. Allerdings bleibt die Frage, inwieweit sich die nach-kantischen Idealisten tatsächlich von Goethe in der Ausbildung ihrer eigenen philosophischen Methodologie beeinflussen ließen. Das wird für verschiedene Denker jeweils einzeln zu untersuchen sein. Für Fichte habe ich einige Verbindungspunkte an anderer Stelle aufzuzeigen versucht.61 Für Schelling sind die gemeinsamen Experimente zur Farbenlehre sowie eine Vielzahl von Gesprächen bezeugt, allerdings glaube ich auch, daß darüber hinaus der Einfluß Goethes auf Schellings philosophische Entwicklung eher gering anzusetzen ist. Anders scheint es mir bei Hegel zu sein. Bei ihm glaube ich zeigen zu können, daß es die direkte Konfrontation mit Goethes Arbeit war, die, vermittelt durch seinen Freund Schelver, der ab 1803 in Jena als Botanikprofessor und Direktor des botanischen Gartens mit der Anlegung der Naturalienkabinette im Sinne Goethescher Methodologie beauftragt war, einen entscheidenden Anlass zum Bruch mit Schelling und zur Konzeptionsänderung um 1803/4 führte. Den Nachweis kann ich aber hier nicht mehr führen. Er ist Thema des zweiten Teils dieses Aufsatzes.62, 63

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Vorarbeiten zu einer Physiologie der Pflanzen, LA I, 10, 131. Vgl. Eckart Förster: Da geht der Mann, dem wir alles verdanken! Eine Untersuchung zum Verhältnis Goethe-Fichte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3 (1997), 1–14. 62 Beide Teile sind zusammen erschienen in den Heften 2 und 3 der Zeitschrift für philosophische Forschung 56 (2002). 63 Ich danke Johannes Haag und Holger Storm für zahlreiche kritische Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Textes. 61

II. FICHTE

Daniel Breazeale Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens. Kantische Fragen, Fichtesche Antworten1

In den Prolegomena kontrastiert Kant deren ›analytische‹ Methode mit der ganz verschiedenen Methode des Philosophierens, die in der Kritik der reinen Vernunft zur Anwendung kommt, welche, in seinen Worten, »durchaus nach synthetischer Lehrart abgefaßt sein mußte«.2 Er erklärt weiterhin, in der ersten Kritik »in Absicht auf diese Frage [nach der Möglichkeit der Metaphysik] synthetisch zu Werke gegangen [zu sein], nämlich so, daß ich in der reinen Vernunft selbst forschte und in dieser Quelle selbst die Elemente sowohl, als auch die Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Principien zu bestimmen suchte. Diese Arbeit ist schwer und erfordert einen entschlossenen Leser, sich nach und nach in ein System hinein zu denken, was noch nichts als gegeben zum Grunde legt außer die Vernunft selbst und also, ohne sich auf irgend ein Factum zu stützen, die Erkenntniß aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln sucht.«3 Dem gegenüber nimmt die ›analytische‹ Methode der Prolegomena einfach an, »daß gewisse reine synthetische Erkenntiß a priori wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft«, und deshalb »dürfen [wir] nicht fragen, ob sie möglich sei (denn sie ist wirklich), sondern nur wie sie möglich sei, um aus dem Princip der Möglichkeit der gegebenen auch die Möglichkeit aller übrigen ableiten zu können.«4 Die Prolegomena zeigen uns, was die eigentümliche Methode der Transzendentalphilosophie nicht ist. Hinsichtlich der Frage, welche sie ist, er1

Für die Unterstützung bei der deutschen Abfassung dieses Referats danke ich herzlich Prof. Günter Zöller. 2 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Berlin 1968, Bd. IV, 263. Im folgenden zitiert als »AA« mit Angabe der Band- und Seitenzahl. 3 AA, IV, 274. 4 AA, IV, 275.

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II. Fichte · D. Breazeale

halten wir einen bloßen Namen (die wahre Methode der Transzendentalphilosophie ist ›synthetisch‹), einen spezifischen Ort der Nachforschung (Transzendentalphilosophie untersucht die reine Vernunft selbst) und eine Warnung, daß vielleicht nicht jeder fähig ist, nach Maßgabe der synthetischen Methode zu philosophieren. Jeder, der zu erfahren wünscht, wie man in dieser Art philosophiert, muß anderswo nach Hilfe suchen. Wenn man sich der »Methodenlehre« der ersten Kritik zuwendet, dann findet man wieder, daß Kant primär daran interessiert ist zu erklären, was die synthetische Methode der Transzendentalphilosophie nicht ist und weit weniger bereit scheint, eine positive Charakterisierung dieser Methode zu liefern. Im Abschnitt »Die Disziplin der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauch« werden wir darüber informiert, daß die Philosophie, wie die Mathematik, die Form von Vernunfterkenntnis a priori darstellt. Doch während mathematische Erkenntnis auf ›der Construction der Begriffe‹ beruht, die in reiner Anschauung a priori dargestellt werden, ist die Philosophie ganz unfähig, ihre Begriffe auf eine ähnliche Weise zu konstruieren, denn sie hat keinen entsprechenden Zugang zu universal gültigen nicht-empirischen Anschauungen. Statt wie die Mathematik »das Allgemeine im Besonderen« betrachten zu können, kann die philosophische Erkenntnis »das Besondere nur im Allgemeinen« betrachten.5 Trotzdem verdienen beide, der Philosoph und der Mathematiker, ›Vernunftkünstler‹ genannt zu werden, insofern beide bemüht sind, uns synthetische Erkenntnisse a priori zu liefern. Deshalb kann die begriffliche Analyse zwar ein wertvolles philosophisches Werkzeug sein, aber nicht die primäre Methode des Philosophierens, denn, so Kant, »[e]s kommt hier nicht auf analytische Sätze an, die durch bloße Zergliederung der Begriffe erzeugt werden können […], sondern auf synthetische und zwar solche, die a priori sollen erkannt werden.«6 Wenn aber die Philosophie nicht in der Lage ist, auf die apriorische Konstruktion in der Anschauung zurückzugreifen, wie soll sie dann ihre synthetischen Erkenntnisse a priori gewinnen? Was diesen wichtigen Punkt angeht, ist der Erste Abschnitt nicht besonders hilfreich. Philosophieren, erklärt uns Kant, bedeutet »discursiv nachdenken« und »es giebt zwar eine transscendentale Synthesis aus lauter Begriffen, die wiederum allein dem Philosophen gelingt, die aber niemals mehr als ein 5

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Akademie-Textausgabe. Berlin 1968, Bd. III/IV, A 713–14/B 741–2. Im folgenden zitiert als KrV mit Angabe der Auflage (A/B) und der Seitenzahl. 6 KrV, A 719/B 747.

Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens

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Ding überhaupt betrifft, unter welchen Bedingungen dessen Wahrnehmung zur möglichen Erfahrung gehören könne.«7 Demnach liefert uns die Philosophie »die synthetische Erkenntnis« der Regeln für die Synthesis dessen, was durch empirische Anschauung gegeben ist, aber nicht die Anschauung a priori eines »realen Gegenstandes«.8 Diese Beschreibung der Aufgabe der Transzendentalphilosophie sagt aber nichts aus über die zugrundeliegenden Fragen nach Kants eigener philosophischen Methode, nämlich: Wie gelangt der Philosoph zu ›synthetischer Erkenntniß‹ – nicht der Erfahrung selbst, sondern von den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung? Was garantiert die spezifischen Ansprüche, die der transzendentale Forscher an diese notwendigen Bedingungen stellt? Welches ist die Evidenz für diese Ansprüche? Wie können sie bewiesen werden? Wenn der »transscendentale Begriff einer Realität, Substanz, Kraft etc. gegeben ist«, schreibt Kant, »so bezeichnet er weder eine empirische, noch reine Anschauung, sondern lediglich die Synthesis der empirischen Anschauungen (die also a priori nicht gegeben werden können); und es kann also aus ihm, weil die Synthesis nicht a priori zu der Anschauung, die ihm correspondirt, hinausgehen kann, auch kein bestimmender synthetischer Satz, sondern nur ein Grundsatz der Synthesis möglicher empirischer Anschauungen entspringen.« Daraus schließt Kant nun: »Also ist ein transscendentaler Satz ein synthetisches Vernunfterkenntniß nach bloßen Begriffen und mithin discursiv, indem dadurch alle synthetische Einheit der empirischen Erkenntniß allererst möglich, keine Anschauung aber dadurch a priori gegeben wird.«9 Doch auch hier ist Kants Punkt ein primär negativer, nämlich der, daß die Philosophie nicht mit Definitionen beginnen kann, weil ihre fundamentalen Begriffe ihr einfach »gegeben« sind.10 Kant erklärt aber nicht, wie genau die fraglichen ›transscendentalen Begriffe‹ ›ursprünglich gegeben‹ oder vom Philosophen entdeckt werden sollen. Genausowenig findet sich eine Antwort auf diese Frage im Abschnitt der Methodenlehre über »Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise«. Auch hier ist Kant mehr darum bemüht, uns zu sagen, was philosophische Beweise nicht sind, als zu erläutern, was sie sind. Die transzendentalen Sätze der Philosophie sind weder »Mathemata« noch 7 8 9 10

KrV, A 718–19/B 746–47. KrV, A 720/B 748. KrV, A 722/B 750. KrV, A 729–30/B 757–58.

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II. Fichte · D. Breazeale

»Dogmata«, denn sie können weder durch Konstruktion von Begriffen noch durch direkte Schlüsse aus Begriffen bewiesen werden.11 Die synthetische Methode der philosophischen Beweise ist indirekt in dem Sinne, daß die Philosophie ihre synthetischen Sätze deduziert, indem sie ihre vorher gegebenen »transsscendentalen Begriffe« auf »ein Drittes« bezieht, nämlich den Begriff »möglicher Erfahrung«.12 Dies mag eine nützliche Beschreibung des eigentümlichen Charakters der transzendentalen Sätze und Grundsätze sein, aber es erklärt nicht, wie der Philosoph tatsächlich die angebliche synthetische Verbindung zwischen reinen Begriffen, die in transzendentalen Sätzen ausgedrückt ist, ›beweisen‹ oder ›deduciren‹ soll. Und Kant bietet seinen Lesern auch keine Einsichten in die genaue Art und Weise, in der die bloße Bezugnahme auf den Begriff möglicher Erfahrung als »Leitfaden« oder »Richtschnur«13 für eine transzendentale Deduktion der fraglichen Grundsätze dienen kann. Stattdessen weist er solche Fragen zurück mit der schroffen Feststellung: »Von der eigenthümlichen Methode einer Transscendentalphilosophie läßt sich aber hier nichts sagen, da wir es nur mit einer Kritik unserer Vermögensumstände zu thun haben, ob wir überall bauen, und wie hoch wir wohl unser Gebäude aus dem Stoffe, den wir haben (den reinen Begriffen a priori), aufführen können.«14 Das ist aber zutiefst unbefriedigend, zumindest für jemanden mit Fragen nach der ›eigenthümlichen‹ synthetischen Methode der Kritik. Statt solche Fragen direkt anzugehen, begnügt sich Kant damit, seine frühere Behandlung der Unterschiede zwischen mathematischen und philosophischen Beweisen und der Bedeutung ›möglicher Erfahrung‹ für die Möglichkeit synthetischer ›transscendentaler Erkenntniß‹ zu wiederholen. Die einzige positive Charakterisierung, die er von seiner synthetischen Methode in diesem Abschnitt gibt, ist die folgende: »Ein jeder muß 11

KrV, A 736/B 764. Diese Behauptung Kants widerstreitet eigentlich nicht der späteren in der Methodenlehre, daß philosophische Beweise ›direkt‹ und nicht ›indirekt‹ sein müssen. Was in diesem Abschnitt zurückgewiesen wird, ist nicht die Berechtigung, sich auf ein Drittes (nämlich mögliche Erfahrung) als ›Leitfaden‹ für den Beweis synthetischer philosophischer Grundsätze zu beziehen, sondern die Angemessenheit ›apagogischer‹ Beweise, die vorgeben, einen Satz zu beweisen durch den Nachweis der Falschheit seines Gegenteils. Dagegen muß ein philosophischer Beweis immer »directe oder ostensive« sein, nämlich ein Beweis, »welcher mit der Überzeugung von der Wahrheit zugleich Einsicht in die Quellen derselben verbindet.« (KrV, A 789/B 817). 13 KrV, A 782–83/B 810–11. 14 KrV, A738/B766. 12

Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens

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seine Sache vermittelst eines durch transscendentale Deduction der Beweisgründe geführten rechtlichen Beweises, d. i. direct, führen, damit man sehe, was seine Vernunftansprüche für sich selbst anzuführen haben.«15 Aber Kant schweigt sich darüber aus, welche Art von Evidenz für einen direkten oder ›ostensiven‹ philosophischen Beweis angemessen ist. Ähnlich schweigsam verhält er sich in der Jäsche-Logik, in der er die »synthetische Methode« als eine »progressive« Methode charakterisiert, die »von den Principien zu den Folgen oder vom Einfachen zum Zusammengesetzten« geht.16 Aber er bietet keinen Hinweis dazu, wie der Transzendentalphilosoph einen solchen Progreß anstellen soll. Um Kants methodologische Behauptungen zusammenzufassen: Die Transzendentalphilosophie erfordert eine eigentümliche Forschungsmethode und Beweisart. Wie die Mathematik ist die Methode der Philosophie synthetisch und a priori und muß deshalb sorgfältig unterschieden werden von der synthetischen Methode a posteriori der empirischen Wissenschaften und von den analytisch-apriorischen Methoden der rein formalen Wissenschaften. Weder Psychologie noch Logik können als methodische Beispiele für den Philosophen dienen. Genausowenig kann dies die Mathematik, denn die Philosophie ist unfähig, ihre Begriffe in der Anschauung zu konstruieren. Der Philosoph muß beginnen mit Begriffen, die von anderswo her erworben sind und bezogen werden auf die Begriffe möglicher Erfahrung; er muß fortschreiten mittels ›ostensiver‹ Beweise bis zu dem Punkt, wo er synthetische Grundsätze a priori der Erfahrung überhaupt aufstellt. An diesem Punkt mag sich der verwirrte Leser jedoch fragen, was denn für den Philosophen zu tun übrigbleibt, wenn er sich der gewöhnlichen Werkzeuge des direkten oder indirekten logischen Schließens, der begrifflichen Analyse und der Konstruktion in der reinen Anschauung begeben hat. Ein Wink zur Beantwortung dieser letzten Frage ist vielleicht enthalten in Kants gelegentlichem Gebrauch des Ausdrucks »diskursives Nachdenken« als Synonym für »Philosophiren«,17 der andeutet, daß das eigentümliche Organ der Philosophie weder der reine noch der wissenschaftliche Verstand ist, sondern die Vernunft selbst. Dies könnte des weiteren nahelegen, daß die synthetische Methode des Philosophierens eine Angelegenheit der ›reflektierenden Urteilskraft‹ ist und die Kritik der reinen Vernunft am besten zu verstehen ist, mit den Worten von Claude 15 16 17

KrV, A 794/B 822. AA, IX, 149. KrV, A 719/B 747.

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II. Fichte · D. Breazeale

Piché, »als Selbstkritik der Urteilskraft (comme auto-critique de la faculté de juger)«.18 Doch äußert sich Kant nicht explizit im Hinblick auf eine solche Interpretation. Man könnte nunmehr einfach Fichte zitieren, der bemerkt hat, daß Kant »überhaupt zu wenig über sein Philosophiren selbst philosophirt zu haben scheint«19 und daraus schließen, daß der einzige Weg, Kants eigene philosophische Methode zu verstehen, darin besteht, seine ziemlich unnützen methodologischen Äußerungen zu ignorieren, die ja, wie wir gesehen haben, mehr Fragen als Antworten bieten, um sich stattdessen auf eine Detailanalyse von Kants tatsächlicher Praxis als transzendentalem Philosophen in den drei Kritiken zu konzentrieren. Doch kann ein solches schwieriges und anspruchsvolles Unternehmen hier nicht verfolgt werden. Stattdessen werde ich mich jetzt einer Betrachtung der Art und Weise zuwenden, in der Kants problematischer Begriff der ›synthetischen Methode‹ von einem seiner originellsten Nachfolger, Johann Gottlieb Fichte, aufgenommen und uminterpretiert wurde. Dabei werde ich meine Aufmerksamkeit auf die frühe oder Jenaer Version der Wissenschaftslehre beschränken. Wie wir sehen werden, führt bei Fichte die Aneignung der synthetischen Methode des Philosophierens schließlich zur Entwicklung einer philosophischen Methodologie, die direkt mit einigen der Grundzüge von Kants Methodik in Konflikt zu geraten scheint und die den weiteren Verlauf der klassischen deutschen Philosophie zutiefst beeinflußt hat. Obwohl Fichtes Beziehung zu Kant häufig untersucht worden ist,20 ist der Frage der philosophischen Methode wenig Beachtung geschenkt worden, und doch ist dies einer der erhellendsten Punkte des Vergleichs zwischen der Wissenschaftslehre und der kritischen Philosophie, war doch Fichte klar der Meinung, daß einer seiner wichtigsten Fortschritte gegenüber Kant in seiner bei weitem sorgfältigeren und expliziteren Aufmerksamkeit auf methodische Fragestellungen bestanden habe. So 18

Claude Piché: Kant et ses épigones. Le jugement critique en appel, Paris 1995, 11. Vgl. auch Houston Smith: The Role of Reflection in Kant’s Critique of Pure Reason, in: Philosophical Quarterly 80 (1999), 203. 19 Fichte an Reinhold, 4. Juli 1797, in: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. StuttgartBad Cannstatt 1962 ff. Abt. III, Bd. 3, 68–73 (Brief Nr. 359), hier: 69. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl. 20 Ein jüngeres und besonders gründliches Beispiel einer solchen Studie ist Armin G. Wildfeuer: Praktische Vernunft und System. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zur ursprünglichen Kant-Rezeption Johann Gottliebe Fichtes. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999.

Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens

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schreibt er 1793: »Kant hat überhaupt die richtige Philosophie; aber nur in ihren Resultaten, nicht nach ihren Gründen. Dieser einzige Denker wird mir immer wunderbarer; ich glaube, er hat einen Genius, der ihm die Wahrheit offenbart, ohne ihm die Gründe derselben zu zeigen!«21 Fichte war entschlossen, dafür zu sorgen, daß ein ähnlicher Vorwurf nie gegen die Wissenschaftslehre erhoben werden könnte. Er hat deshalb alle Anstrengungen unternommen, um eine rigorose und einsichtige Methode in der Deduktion seiner eigenen philosophischen Schlüsse zu beachten. Es sollte seinen Lesern völlig evident sein, daß jeder einzelne Anspruch der Wissenschaftslehre vollständig determiniert ist durch die ihm vorausgehenden Ansprüche, denn dies ermöglicht, wie er Schiller gegenüber betonte, »mein[] synthetische[s] Aufsteigen«.22 Noch vor seiner Ankunft in Jena, als er dabei war, die erste öffentliche Darstellung seines neuen Systems vorzubereiten, erklärte Fichte: »Mein Vortrag ist immer synthetisch; ich werfe meine Gedanken nie hin, wie ich sie unsichtbar in meiner Studierstube gedacht habe, sondern ich denke sie, finde sie, entwickle sie vor den Augen der Hörer, und mit Ihnen; ich bemühe mich dabei den strengsten logischen Gang auch in den kleinsten Theilen des Vortrags zu gehen.«23 Wie Kant ging es auch Fichte darum, die eigentlich »synthetische« Methode der Transzendentalphilosophie zu unterscheiden von den Methoden des logischen Schließens, der begrifflichen Analyse und des empirischen Beweises. Doch anders als Kant lieferte er seinen Lesern auch mehrere detaillierte Erläuterungen dessen, was er mit der synthetischen Methode des Philosophierens meinte und legte es darauf an, dieser Methode – oder, wie wir gleich sehen werden: diesen Methoden – explizit zu folgen, sie in den Beweisen all seiner systematischen Werke zu befolgen. 21

Fichte an Heinrich Stephani, Mitte Dezember 1793, GA, III 2, 27–29 (Brief Nr. 170), hier: 28. Derselbe Punkt wird ausführlicher behandelt in Fichtes Brief an F. I. Niethammer vom 6. Dezember 1793: »Meiner innigen Ueberzeugung nach hat Kant die Wahrheit blos angedeutet, aber weder dargestellt noch bewiesen. Dieser wunderbare, einzige Mann hat entweder ein Divinations-Vermögen der Wahrheit, ohne sich ihrer Gründe selbst bewußt zu seyn; oder er hat sein Zeitalter nicht hoch genug geschätzt, um sie ihm mitzutheilen; oder er hat sich gescheut, bei seinem Leben die übermenschliche Verehrung an sich zu reißen, die ihm über kurz oder lang doch zu Theil werden mußte. Noch keiner hat ihn verstanden; die es am meisten glauben, am wenigsten; keiner wird ihn verstehen, der nicht auf seinem eignen Wege zu Kant’s Resultaten kommen wird« (GA III 2, 19–22 [Brief Nr. 169], hier: 20–21). 22 Fichte an Schiller, 27. Juni 1795, GA, III 2, 336–340 (Brief Nr. 292), hier: 338. 23 Fichte an J. K. Lavater, Anfang Februar 1794, GA, III 2, 60–62 (Brief Nr. 183), hier: 60 f.

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II. Fichte · D. Breazeale

Obwohl ich im folgenden auf eine Reihe verschiedener Texte aus der Jenaer Periode Bezug nehmen werde, werde ich meine Analyse beschränken auf einen einzigen Text, die Grundlage des Naturrechts von 1796/97, ein Werk, das Fichte selbst ausdrücklich empfohlen hat wegen der besonders strengen Art, in der in ihm die ›synthetische Methode‹ des Philosophierens beobachtet und veranschaulicht wird.24 Die Grundlage des Naturrechts beginnt mit einer Reihe von Behauptungen: Die Wissenschaftslehre muß scharf unterschieden werden von fast allen vorherigen Philosophien, denn sie gründet in der klaren Einsicht in die reflexive Struktur der Ichheit selbst, in der Subjekt und Objekt, Idealität und Realität, ursprünglich und synthetisch vereinigt sind in der bloßen und spontanen Selbstbehauptung des Ich. Die Aufgabe der Transzendentalphilosophie besteht darin, eine vollständige Beschreibung aller Handlungen des Ich zu liefern, die notwendig sind für die Möglichkeit der ursprünglich gesetzten Selbstsetzung der Vernunft und die insofern implizit bereits mitgesetzt sind. Die für eine solche deskriptive Aufgabe geeignete Methode ist die der inneren Anschauung. Fichte charakterisiert die resultierende Beschreibung als ›genetisch‹, insofern jede der beschriebenen Handlungen des Ich vom philosophischen Beobachter explizit erkannt wird als eine Bedingung der Möglichkeit der vorher beschriebenen Handlungen – und damit für die Möglichkeit der absolut und ursprünglich gesetzten Einheit des Selbstbewußtseins selbst. Da solch eine genetische Beschreibung der notwendigen Handlungen des Ich beweist, daß das Bewußtsein, um sich selbst zu setzen, auch eine ›Welt‹ mit gewissen notwendigen Strukturen setzen muß, kann sie ihrerseits auch beschrieben werden als apriorische, genetische Beschreibung von Erfahrung. Die ›strenge Methode‹ des Beweisens, zu deren Beachtung Fichte sich in der Grundlage des Naturrechts verpflichtet, ist eine Methode der radikal purifizierten und rigoros disziplinierten ›inneren Beobachtung‹. Dadurch unterscheidet sich die Wissenschaftslehre von bloßer Introspektion oder von Lehnstuhl-Psychologie.25 Der Transzendentalphilosoph ist nicht nur 24

Johann Gottlieb Fichte: System der Sittenlehre (1798), GA, I 5, 104–5. Im folgenden zitiert als »SS«. 25 Fichtes Ablehnung dessen, was heute »Psychologismus« genannt würde, setzt ein mit seiner Kritik an Platner und findet seine Fortsetzung in der berühmten Kritik an dem Bemühen von Schmid und anderen, die Philosophie durch eine Berufung auf die ›Tatsachen des Bewußtseins‹ zu gründen. Sie wird sogar noch deutlicher und pointierter in seinen Schriften der Jahre 1799–1801. Siehe z. B. Antwortschreiben an Herrn Professor Reinhold (1801) und Aus einem Privatschreiben (1800), wo Fichte bemerkt, daß, während die Psychologie mit »Tatsachen des Bewußtseins› operiert, deren

Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens

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darum bemüht, die kontingenten ›Tatsachen des Bewußtseyns‹ aufzuzeichnen. Er ist auf der Suche nach den notwendigen und allgemeinen, das heißt apriorischen Bedingungen des Bewußtseins, die er mit den notwendigen und reinen Handlungen des selbstsetzenden Ich identifiziert. Um sich selbst in die Lage zu bringen, solche Handlungen beobachten zu können, muß sich der Philosoph mittels einer frei unternommenen umfassenden ›Abstraktion‹ über den Standpunkt und das Anliegen des gewöhnlichen Lebens erheben und dann sorgfältig ›aufmerken‹ auf das, was übrigbleibt, nachdem er von allem, von dem er abstrahieren kann, abstrahiert hat – das heißt, von allem außer dem reinen Selbstbewußtsein. Wenn er das tut, so versichert uns Fichte, dann wird er in der Lage sein, die notwendigen Handlungen des Ich von dessen ›Produkt‹ (der Welt der gewöhnlichen Erfahrung) zu trennen, und wird sich so in den Besitz eines ganz neuen Reiches von reiner innerer Erfahrung bringen und fähig sein, die fraglichen Handlungen in ihrer gegenseitigen Beziehung (d. h. genetisch) zu beschreiben. Für den philosophischen Beobachter sind es immer Handlungen des Denkens, denn sie stellen dar, was man sonst noch zu denken hat, um ›das Ich zu denken‹. Die Transzendentalphilosophie verlangt nicht nur, daß der Philosoph die Anstrengung unternimmt, diese notwendigen Gedanken zu denken, sondern zugleich sein eigenes Tun dabei zu beobachten. Da das universale Kriterium für ›Realität‹ darin besteht, sich gedrungen zu fühlen, etwas auf eine gewisse Art darzustellen, und da der Philosoph gleichermaßen ›gedrängt‹ ist, die selbst-konstituierenden Handlungen des reinen Ich auf die Art, wie er sie beobachtet, darzustellen, ergibt sich, daß man auch diesen Handlungen genauso gewiß eine ›Realität‹ zuschreiben muß wie deren Beschreibung. Fichte geht es hier darum, daß die Wissenschaftslehre ihren Gegenstand (die notwendigen Handlungen des Ich) nicht fabriziert; sie entdeckt und beobachtet ihn. Deshalb verdient sie den Namen »reelle Philosophie«.26 Was eine deskriptive reelle Philosophie synthetisch macht, ist der erweiternde Charakter der philosophischen Erkenntnis, die derart erworben wird. Die von der Wissenschaftslehre aufgestellten Resultate sind nicht durch bloße Analyse des Begriffs des Ich oder durch logische Schlüsse Bestehen man einfach entdecken kann, die Wissenschaftslehre sich mit dem befaßt, »was man nur so vorfindet, wenn man sich findet« (GA I 6, 387 Anm.). 26 Vgl. die Abschnitte I und II der Einleitung von Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts (1796/97), in: GA I 3 [Im folgenden zitiert als »GNR«.] sowie § 7 von Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre (1794), in: GA I 2 [Im folgenden zitiert als »BWL«.].

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II. Fichte · D. Breazeale

aus einer Menge Begriffe und Grundsätze herleitbar. Vielmehr gründen solche transzendentalen Erkenntnisse auf der tatsächlichen (inneren) Anschauung einer Reihe reiner und notwendiger Handlungen des Ich. Die offensichtlichen Parallelen zwischen dieser Methode der philosophischen Beobachtung und Husserls Methode der phänomenologischen Reduktion und der eidetischen Anschauung legen es nahe, Fichtes Methode des Philosophierens, jedenfalls soweit sie bislang beschrieben wurde, als eine »phänomenologisch-synthetische Methode«27 zu charakterisieren. Eben wegen dieser phänomenologisch-synthetischen Methode beschreibt Fichte manchmal die Wissenschaftslehre als eine »Geschichte« – oder eine »pragmatische Geschichte« – »des menschlichen Geistes«.28 Solch’ eine Geschichte kann nur dann beanspruchen, zutreffend zu sein, wenn der Philosoph sich selbst gedrängt fühlt, die Handlungen des Geistes genauso und in genau der Ordnung zu beschreiben, in der er sie tatsächlich beobachtet. Darüber hinaus können Schlüsse, die aus solchen Beschreibungen gezogen werden, nur dann als notwendige, apriorische Wahrheiten beschrieben werden, wenn der Philosoph ebenfalls nicht nur beobachtet, daß das Ich auf eine bestimmte Weise handelt, sondern auch,

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Vgl. Daniel Breazeale: Fichte’s nova methodo phenomenologica: On the Methodological Role of ›Intellectual Intuition‹ in the later Jena Wissenschaftslehre, in: Revue Internationale de Philosophie 206 (1998), 587–616. 28 Fichte beschreibt die Wissenschaftslehre in einer berühmten Wendung als eine »pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95). GA I 2, 364–65 [Im folgenden zitiert als »GWL«.], und BWL, GA I 2, 147) oder einfach als »die Geschichte des menschlichen Geistes« (Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie, GA II 3, 107) oder »die Geschichte des entstehenden Bewußtseins« (Wissenschaftslehre nova methodo [»Krause Nachschrift«, 1798/99], GA IV 3, 464 [Im folgenden zitiert als »WLnm[K]«.]. Wie ich anderswo gezeigt habe, muß diese Wendung auf eine Weise verstanden werden, die mit der obigen Beschreibung der Methode der Wissenschaftslehre konsistent ist. Eine ›Geschichte des menschlichen Geistes‹ ist eine genetische Darstellung der Selbstkonstitution des Ich in Form einer geordneten Beschreibung der verschiedenen Handlungen des Denkens, die in der Handlung des Denkens des Ich vorausgesetzt sind. Obwohl der Ausdruck »Geschichte des menschlichen Geistes« in GNR nicht vorkommt, tritt er in der Vorrede einer Kollegnachschrift von Fichtes Vorlesungen über die »Philosophische Wissenschaft des Rechts« aus dem Wintersemester von 1795/96 (seinen ersten Vorlesungen zu diesem Thema) auf; vgl. GA IV 3, 60. Für eine detaillierte Untersuchung dieses Themas vgl. Daniel Breazeale: What is a ›Pragmatic History of the Human Mind‹? Some Methodological Remarks on Fichte’s Jena Project, in: Akten des Fichte-Kolloquiums von Lissabon im Oktober 2000. Hrg. v. Fernando Gil, Virginia Lopez-Dominquez und Luisa Soares; und ders.: Fichte’s Conception of Philosophy as a ›Pragmatic History of the Human Mind‹ and the Contributions of Kant, Platner, and Maimon, in: Journal of the History of Ideas (2001).

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daß das Ich so handeln muß. Dadurch wird er, in Fichtes Worten, zum »Zuschauer eines reellen Denkens seines Geistes« oder der »Vernunft überhaupt in ihrem nothwendigen Handeln«.29 Der Philosoph »hat sie [diese bestimmte Handlung] selbst nach ihrer Form,30 der Handlungsweise in ihr sowohl, als dasjenige, was in diesem Handeln für die Reflexion entsteht, zu beschreiben. Er liefert dadurch zugleich den Erweis der Nothwendigkeit des Begriffs, bestimt ihn selbst und zeigt seine Anwendung.«31 Da für Fichte diese phänomenologisch-synthetische oder ›genetische‹ Methode die wahre Methode der Transzendentalphilosophie überhaupt war, schloß er, daß sie auch Kants tatsächliche Methode gewesen sei, trotz Kants Unvermögen, dies klarzumachen.32 Es gibt zwar zahllose Schwierigkeiten, die in solch’ einer Konzeption der Methode der Transzendentalphilosophie liegen, darunter vor allem die Frage der angeblichen ›Reinheit‹ – also der ›Universalität‹ und ›Notwendigkeit‹ – der in Frage stehenden Beschreibungen. Fichte hat dieses Problem wohl sicher gesehen, wenn auch seine Lösung nicht ohne ihre eigenen Probleme ist. Wie wir schon bemerkt haben, glaubte er offensichtlich, daß die Reinheit der inneren Anschauung des Philosophen und damit die Universalität seiner Beschreibungen sozusagen garantiert wird durch die Vollständigkeit der anfänglichen Handlung der freien Abstraktion, die der Serie seiner Selbstbeobachtungen vorausgeht.33 Doch die einzige Art und Weise, eine solche Behauptung zu ›beweisen‹, bestand darin, seine Leser und Kritiker anzuweisen, die erforderlichen Handlungen des Abstrahierens und der inneren Beobachtung, die von der Wissenschaftslehre gefordert werden, selbst vorzunehmen, um Fichtes Schlußfolgerungen für sich selbst verifizieren zu können. Ganz im Geist der phänomenologisch-synthetischen Methode wäre die Wissenschaftslehre als ein experimentelles Unternehmen zu charakterisieren, das jeder Forscher für sich selbst zu erproben hat. 29

GNR, GA I 3, 316 und 316 Anm. Das heißt: Die Transzendentalphilosophie beschreibt, wie jede neue Handlung zu allen vorhergehenden, die bereits beschrieben worden sind, in Beziehung steht. Diese ›genetische‹ Methode der Ableitung bringt die systematische ›Form‹ einer solchen Philosophie hervor. 31 GNR, GA I 3, 319. 32 »Eine solche [reelle, genetische] Philosophie einzuführen, und alles blos formelle Philosophieren abzuschaffen, war der Zweck der Kantischen Schriften«. GNR, GA I 3, 317. 33 Vgl. Daniel Breazeale: The ›Standpoint of Life‹ and ›The Standpoint of Philosophy‹ in the Jena »Wissenschaftslehre«, in: Transcendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806. Hrg. v. Albert Mues. Hamburg 1989, 81–104. 30

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II. Fichte · D. Breazeale

So ansprechend und offenherzig ein solcher Vorschlag erscheinen mag, so war Fichte doch selbst kaum bereit, die Möglichkeit zu erwägen, daß seine Ergebnisse je durch solch’ einen unabhängigen Test ›falsifiziert‹ werden könnten. Im Gegenteil bestand er darauf, daß die Allgemeingültigkeit seines Systems einfach außer Frage steht und daß, wie auch immer man die Form, in der seine Philosophie dargestellt würde, beurteile, der zugrundeliegende Inhalt ewig wahr sei. Wenn jemand berichtete, daß sein ›Experiment‹, ›die Wissenschaftslehre für sich selbst zu denken‹, fehlgeschlagen sei, dann war Fichte jederzeit mit derselben Antwort ad hominem bei der Hand: Solch ein Versagen belege nicht den Irrtum der Wissenschaftslehre, sondern beruhe auf einem Fehler auf Seiten des Kritikers. Jemand, der nicht in der Lage ist, in sich die Serie der ursprünglichen Handlungen des Ich, wie sie von Fichte beschrieben werden, zu entdecken, hat entweder nicht vollständig von seiner eigenen persönlichen Erfahrung und seinem individuellen Ich abstrahiert oder ihm fehlt einfach die erforderliche Fähigkeit zu philosophischer Aufmerksamkeit. Fichte charakterisiert das fragliche Talent als »das philosophische Genie«34 oder den »Geist in der besondern Bedeutung«.35 Zur Verwunderung seiner Freunde wie Feinde hat er nicht im geringsten gezögert, anderen vorzuwerfen, daß ihnen solches philosophische Talent gänzlich fehle.36 Und als ob dies noch nicht reichte, ging er sogar so weit, die Unfähigkeit seiner Kritiker zur Beurteilung seiner Philosophie einem tiefliegenden moralischen Versagen oder Charakterfehler zuzuschreiben, der sie daran hindere, den ersten Schritt hin zu einer »Philosophie der Freiheit«37 zu tun.

34

GNR, GA I 3, 316 Anm. Vgl. die beiden kontroversen Anmerkungen zu diesem Thema in der ersten Ausgabe von BWL sowie Fichtes Kommentar dazu in der zweiten Auflage: GA I 2, 143 Anm. 35 Zu diesem Punkt vgl. die zweite von Fichtes drei Vorlesungen »Ueber den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie«, GA II 3, 323–33. 36 Das Naturrecht ist besonders reich an Attacken ad hominem gegen Kritiker und ungünstig gesinnte Leser. Sogar Fichtes Freunde beschwerten sich über den Ton, in dem er jeden kritisierte, der die Wissenschaftslehre kritisierte oder der eingestand, sie nicht verstehen zu können. Siehe z. B. Reinholds Bemerkungen zu diesem Thema in seinem Brief an Fichte vom 14. Februar 1797 (GA III 3, 51). 37 Dies erinnert an den berühmten Satz vom »Stück Lava im Monde« in GWL (GA I 2, 326 Anm.) sowie an die garstigen Charakterisierungen der philosophischen ›Dogmatiker‹ in den Einleitungen zum Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre von 1797. Für eine detaillierte Erörterung dieses Themas vgl. Daniel Breazeale: How to Make an Idealist. Fichte’s ›Refutation of Dogmatism‹ and the Starting Point of the »Wissenschaftslehre«, in: Philosophical Forum 19 (1987/88), 97–123.

Die synthetische(n) Methode(n) des Philosophierens

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Doch besteht Fichtes synthetische Methode in mehr als dem bisher Angezeigten. Damit die philosophische Reflexion einen Inhalt erhält, muß der Philosoph denken, und zwar scharf denken. Denn was er zu ›beobachten‹ sucht, sind jene Handlungen des Setzens, die die ursprüngliche Handlung der reinen Selbstsetzung bedingen. Um über den bloßen Begriff des Ich als Subjekt-Objekt hinauszugelangen, muß der Philosoph die beträchtliche Anstrengung unternehmen, die erforderlich ist, um diesen Begriff – zusammmen mit seiner eigenen Handlung von dessen Konstruktion – zu klarem Bewußtsein zu erheben. Das heißt, er muß sich fragen: Was anderes muß man denken, um ›das Ich zu denken‹? Es sind diese Handlungen des notwendigen Denkens, die die Gegenstände der philosophischen Reflexion und inneren Anschauung bilden. Der Transzendentalphilosoph spielt deshalb eine doppelte Rolle: Zum einen ist er der ›Beobachter‹ jener Handlungen, die für die Selbstkonstitution von Subjektivität erforderlich sind. In dieser Eigenschaft wird er, wie Fichte das ausdrückt, ein passiver »Zuschauer auf dem Theater [seines] Geistes«.38 Zum anderen muß er selbst die Bühne betreten und die Rolle des reinen Ich oder der reinen Vernunft selbst spielen.39 In dieser Eigenschaft muß er aktiv dasjenige ›aufsuchen‹, das immer auch gedacht werden muß, um das ›Ich zu denken‹. Dabei ist er natürlich denselben Denkgesetzen unterworfen, die er auch zu entdecken sucht, einschließlich der vertrauten Prinzipien von logischer Analyse und Schlußfolge sowie der Regeln syllogistischen Schließens.40 Also verlangt die synthetische Methode mehr vom Philosophen als bloß ›innere Anschauung‹. Nachdem einmal die Notwendigkeit von besonderer ›Synthesis‹ (oder 38

Eigne Meditationen über ElementarPhilosophie/PractischePhilosophie, GA II 3, 70. Siehe auch WLnm[K]: »Die WißenschaftsLehre ist nicht etwa selbst Erzeugerin einer Erkenntniß, sie ist bloß Beobachtung des menschlichen Geistes im ursprünglichen Erzeugen aller Erkenntniß« (GA IV 3, 480). 39 Während der »Formularphilosoph« sich nur seines eigenen Denkens bewußt ist (und daher nur der Handlungen seines eigenen individuellen Ichs), ist der »reelle Philosoph« dank der Handlung der Abstraktion, mit der er beginnt, in der Lage, zum Beobachter der notwendigen Handlungsweisen der »Vernunft überhaupt« nach deren inneren Gesetzen zu werden (GNR, GA I 3, 316 Anm.). 40 Damit stellt sich natürlich ein gewisses Problem der Zirkularität, da die Philosophie diese Gesetze und Prinzipien nicht nur verwenden muß, sondern auch deren universale Gültigkeit ›deduzieren‹ oder ›beweisen‹ soll. Fichte war sich sehr im Klaren über dieses Problem und also auch über ein gewisses Ausmaß an unvermeidlicher Zirkularität in seiner eigenen, ja in jeglicher philosophischen Methode. Vgl. Daniel Breazeale: Circles and Grounds in the Jena »Wissenschaftslehre«, in Fichte: Historical Contexts/Contemporary Controversies. Hrsg. v. Daniel Breazeale und Tom Rockmore. Atlantic Highlands, N.J. 1994, 43–70.

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II. Fichte · D. Breazeale

einer Handlung des synthetischen Denkens) erwiesen ist, stellt sich die Aufgabe, den neuen Begriff oder das neue Prinzip, das darauf beruht, zu »erörtern«41 mittels der Fragestellung: Was »gehört dazu«?42 Der Philosoph muß also seine vorher aufgestellten Begriffe analysieren und zusätzlich zu seinen zuvor aufgestellten Sätzen und Lehrsätzen Folgerungen, Schlüsse und Corrollarien aufstellen43 und, falls erforderlich, letztere in förmliche, syllogistische Beweise kleiden.44 41

So stellt Fichte z. B. zunächst im zweiten Lehrsatz des Naturrechts die These auf, daß ein endliches Wesen sich keine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zuschreiben kann, ohne diese auch anderen zuzuschreiben und so deren Existenz vorauszusetzen, um dann die nächste Aufgabe als die der Analyse dieses Satzes zu beschreiben mit dem Ziel zu »erläutern« und zu »klären«, was bereits aufgestellt worden ist (GNR, GA I 3, 344). Siehe auch § 14, wo, nachdem das synthetische Prinzip des Zwangsgesetzes vorgestellt worden ist, Fichte einen nächsten Schritt unternimmt und dazu erklärt: »Wir analysiren jezt diesen Begriff, um ihn deutlicher zu machen«, um im Rückblick dann festzustellen: »Der Begriff eines Zwangsgesetzes … ist daher vollkommen erschöpft« (GNR, GA, I 3, 426 u. 429). 42 GNR, GA I 3, 390. Siehe auch § 12, in dem Fichte die Behauptung »analysirt«, daß der Begriff der formalen Freiheit eines Wesens außerhalb meiner die Quantität der materialen Selbstbeschränkung vorschreibt, die ich meiner eigenen Freiheit auferlegen muß, und daraus folgert, daß dieser Satz drei unterschiedliche Elemente enthält (GNR, GA I 3, 412). Man beachte auch, daß der Zweite Teil mit einer Erklärung des Bedürfnisses beginnt, »wir analysiren zuförderst sorgfältiger, als es bis jezt nöthig war, den Begriff des Vertrags überhaupt« (GNR, GA I 4, 5). Diese Analyse zielt ab auf die Prämissen einer Untersuchung des Begriffs des Staatsbürgervertrages. Siehe auch GNR, GA I 3, 384, wo Fichte herausstellt: »Wir werden durch den systematischen Gang jezt zu der Erörterung der inneren Bedingungen einer solchen Wechselwirkung geleitet.« Siehe auch den langen Abschnitt »Von der bürgerlichen Gesetzgebung« im Zweiten Teil, der mit der Behauptung einsetzt, daß alles, was wir benötigen, um das Thema der bürgerlichen Gesetzgebung zu erschöpfen, darin besteht, den vorher beschriebenen Inhalt »vollständig [zu] erörtern« (GNR, GA I 3, 20). Wie Fichte in BWL ausführt, besteht das Verfahren, einen Begriff wissenschaftlich zu »erörtern« darin, »den Ort dasselben im System der menschlichen Wissenschaften« anzugeben (GA I 2, 127). 43 GNR, GA I 3, 344. 44 Vgl z. B. den streng deduktiven ›Beweis‹ in § 14 für eines der Korollarien des Prinzips des Zwangsgesetzes, nämlich, daß jeder ebenso sorgfältig darauf achten muß, die Rechte des anderen nicht zu verletzen wie er darauf Sorgfalt verwendet zu verhüten, daß seine eigenen Rechte verletzt werden. Dieser Beweis besteht darin, zu zeigen, wie das fragliche Korollarium logisch aus den bereits aufgestellten Sätzen folgt (GNR, GA I 3, 428). Siehe auch Fichtes Kommentar in § 7, wo im Hinblick auf den deduktiven ›Erweis‹ der äußeren Bedingungen der Möglichkeit einer Gemeinschaft freier Wesen ausgeführt wird: Er »stützt sich lediglich auf die Voraussetzung einer solchen Gemeinschaft, welche selbst sich auf die Möglichkeit des Selbstbewußtseyns gründet. So sind alle bisherigen Folgerungen durch mittelbare Schlüsse abgeleitet aus dem Postulate, Ich bin Ich« (GNR, GA I 3, 384).

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Wenn wir uns also genauer ansehen, welche Arten des Denkens und Modi des Beweisens tatsächlich im Naturrecht und in Fichtes anderen ›wissenschaftlichen‹ Schriften zur Anwendung kommen, dann stellt sich bald heraus, daß seine tatsächliche Methode – oder vielmehr Methoden – des Philosophierens doch um einiges komplexer ist, als seine eigne quasiphänomenologische Behandlung des deskriptiven Charakters der ›reellen philosophischen Wissenschaft‹ dies nahelegt. Tatächlich verwendet die Wissenschaftslehre also eine ausgesprochen ›synthetische‹ Art des Denkens, deren Betrachtung wir uns nun zuwenden. Die bei weitem innovativste, aber auch am häufigsten angewandte Schlußart im Naturrecht ist die, die man man eine ›dialektische‹ Beweismethode nennen könnte. Diese Methode, die im Zweiten Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre vervollkommnet wurde, verfährt so, daß ein Widerspruch (oder alternativ eine fehlerhafte Zirkularität) explizit gemacht wird, der implizit in einer Menge zuvor aufgestellter Sätze enthalten war, und dann ein neues ›höheres Prinzip‹ aktiv ›aufgesucht‹ wird, das es erlaubt, den fehlerhaften Widerspruch (oder die Zirkularität) aufzuheben und das deshalb für ›notwendig‹ erklärt wird. Anders als die begriffliche Analyse, das logische Schließen oder der syllogistische Schluß, ist die ›dialektische‹ Methode der Ableitung durch und durch synthetisch in dem Sinne, daß das neue Prinzip, das den jeweiligen Widerspruch ›hebt‹ oder ›aufhebt‹, nicht ›enthalten ist‹ in der problematischen Menge von Begriffen und Sätzen, die es lösen soll und so auch nicht analytisch aus diesen hergeleitet werden kann. Darüber hinaus ist es auch nicht aus der Erfahrung entlehnt, sondern ist vielmehr ein Produkt des reinen Denkens. Das neue Prinzip ist a priori und stellt eine synthetische apriorische Erweiterung unserer Erkenntnis dar. Um diesen Aspekt von Fichtes synthetischer Methode von der zuvor diskutierten ›phänomenologisch-synthetischen Methode‹ zu unterscheiden, werde ich mich im folgenden auf ihn als Fichtes ›dialektisch-synthetische Methode‹ beziehen. Trotz des Umstandes, daß Fichte diese dialektische Methode der Ableitung in seinen Jenaer Schriften häufig anwendet, hat er sie selten explizit formuliert oder angezeigt, wie sie zu seiner zuvor behandelten phänomenologischen Methode oder zu den Methoden der gewöhnlichen begrifflichen Analyse und des logischen Schließens im Verhältnis steht. Wir müssen deshalb auf besondere Beispiele zurückgreifen, um zu einem Verständnis der fraglichen Methode zu gelangen. Für unsere gegenwärtigen Absichten wird ein solches Beispiel ausreichen. Im Absatz 8 des Naturrechts bemerkt Fichte, daß ich nur dann einer an-

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II. Fichte · D. Breazeale

deren Person zutrauen kann, sich dem Rechtsgesetz zu unterwerfen, wenn ich weiß, daß sie nicht meine eigenen Rechte verletzen wird, und daß man nur dann sicher sein kann, daß jemand meine Rechte tatsächlich respektieren wird, wenn man ihm glaubt, daß er sich ernsthaft dem Rechtsgesetz unterworfen hat. Fichte schließt daraus für den vorliegenden Fall: »Das gegründete ist nicht möglich, ohne den Grund; und der Grund ist nicht möglich, ohne das begründete. … Wir sind daher in einem Zirkel befangen« und »wie in einem solchen Falle nach synthetischer Methode verfahren werden müsse […] werden wir sogleich sehen.«45 Angesichts eines ›unauflöslichen‹ oder ›offenbaren‹ Zirkels oder Widerspruchs, besteht der einzige Weg, um Fortschritt in der Synthesis zu erzielen, nicht in genauerer innerer Anschauung, sondern in einem Akt kreativen oder imaginativen Denkens. Es heißt bei Fichte: »Nach der in der Wissenschaftslehre erwiesenen Methode werden, um den Widerspruch zu heben, die beiden Glieder synthetisch vereinigt.«46 Dies bedeutet in unserem konkreten Fall, daß man den Gedanken einer ›dritten Partei‹ einführen muß, die als der zukünftige Garant des gegenwärtigen Übereinkommens zwischen den ersten beiden Parteien fungieren kann. Dergestalt bietet ein analytischer ›Widerspruch‹ den Anlaß für einen neuen synthetischen Schluss. Dieses Argumentationsmuster wird im Naturrecht immer wieder angewandt. Gelegentlich wird es sogar explizit formuliert mit Hilfe der Begriffe »Thesis« und »Antithesis«, die einen Widerspruch ergeben, der dann seinerseits »aufgehoben« wird durch einen neuen »synthetischen« Satz.47 (Dieser neue Satz sollte nicht verstanden werden als ein einfaches ›Vereinigen‹ oder ›Synthetisieren‹ der konfligierenden Sätze, die ihm vorausliegen. Vielmehr ist er synthetisch in dem Sinn, daß er nicht analytisch hergeleitet werden kann aus dem vorhergehenden Widerspruch, auch wenn er dazu dient, letzteren zu überwinden.) Manchmal benennt Fichte sogar diese Beweisart »nach strenger Methode« mit quasi-mathematischer Terminologie und redet von der »Aufgabe«, einen gewissen Begriff = X, der den vorangehenden Widerspruch auflösen wird, »aufzusuchen«.48 Wesentlich an dieser Methode des dialektisch-synthetischen Denkens ist, daß kein Algorythmus verfügbar ist, um solche Probleme zu lösen.

45

GNR, GA I 3, 394. GNR, GA I 3, 395 f. Für andere explizite Formulierungen von Thesis und Antithesis in der synthetishen Beweismethode vgl. GNR, GA I 4, 41f. und 59f. 47 GNR, GA I 3, 397. 48 GNR, GA I 3, 433f. 46

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Auf jeder Stufe einer solchen Ableitung begegnet man neuen Widersprüchen, die nicht analytisch aufgelöst werden, neuen Problemen, die zu lösen sind und neuen Herausforderungen, die zu meistern sind.49 Eine angemessene Lösung solcher Probleme »aufsuchen«50 heißt für Fichte, anzuerkennen, daß jedes dieser Probleme je spezifisch behandelt werden muß und daß jedes Problem eine neue Ausübung von kreativer Problemlösung verlangt. Weder vergangene noch gegenwärtige Erfahrung kann uns in solchen Fällen leiten, denn wir befinden uns hier im Reich der reinen Vernunft51 – oder, wenn man dies vorzieht, der reinen ›Gründe‹ – und müssen die Lösung im Reich imaginativen Denkens suchen. Jeder, der einmal versucht hat, einen geometrischen Beweis zu liefern, ein Rätsel zu lösen oder eben einen philosophischen Satz zu beweisen, kennt ganz sicher die Art ›Vermögen‹, die Fichtes dialektisch-synthetische Methode voraussetzt. Doch wird solch eine Person auch mit einem anderen problematischen Wesenszug all solcher ›Lösungen‹ oder ›Beweise‹ vertraut sein, den Fichte aber hartnäckig anzuerkennen sich weigerte. Ich rede vom Problem der notwendigen Einzigkeit. Es ist sicher eine Sache, eine funktionsfähige Lösung eines Problems zu konstruieren oder zu imaginieren oder einen ingeniösen Weg zu finden, um einen theoretischen Widerspruch zu vermeiden, indem man ein neues synthetisches Prinzip einführt. Aber es ist etwas ganz anderes, zu behaupten, daß die fragliche Lösung die einzig mögliche ist. Dies aber ist genau das, was 49 Für weitere Beispiele von Fichtes dialektisch-synthetischer Beweisart vgl. GNR, GA I 3, 407f., 447f., 453, und 456f.; GA I 4, 12, 59f. und 159f. Die berühmte ›Deduction‹ des menschlichen Leibes und von dessen beiden Organen in §§ 5 und 6 – wie auch die dem korrespondierende Deduktion der äußeren ›Medien‹, durch welche diese Organe affiziert werden – enthält ebenfalls Beispiele der ›dialektischen‹ Schlüsse von der oben beschriebenen Art. Man erwäge in diesem Zusammenhang auch den Fall des Geldes, dessen Notwendigkeit (und bestimmten Charakter) Fichte ›ableitet‹ aus dem Widerspruch zwischen (1) der bürgerlichen Garantie, daß, nachdem ein Bürger seine Pflichten von Schutz und Unterstützung dem Staat gegenüber erfüllt hat, er ein absolutes, uneingeschränktes Recht auf das ihm verbleibende Eigentum hat, und (2) dem absoluten Recht des Staates, sich die Produkte der Arbeit jedes Bürgers anzueignen, um den Austausch von Gütern zu ermöglichen mit dem Ziel, daß jeder von seiner Arbeit leben kann. Das Eigentumsrecht scheint hier in Widerspruch zu geraten mit einer seiner unmittelbaren Implikationen. Auch hier sind wir gezwungen, eine Lösung aufzusuchen und dadurch die notwendige Einführung einer Währung durch den Staat zu beweisen, die es dem Staat erlaubt, die Substanz, aber nicht die Form des Eigentums seiner Bürger zu kontrollieren (GNR, GA I 4, 41). 50 GNR, GA I 4, 50. 51 Siehe z. B. Fichtes Behauptung, die Notwendigkeit des Ephorats nicht durch Rückgriff auf Erfahrung sondern ›aus reiner Vernunft‹ bewiesen zu haben (GNR, GA I 3, 449 Anm.).

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II. Fichte · D. Breazeale

Fichte für seine eigenen dialektisch-synthetischen Beweise in Anspruch nimmt52 – und tatsächlich auch das, was er beanspruchen muß, um seine Schlußfolgerung zu gewährleisten, daß es sich bei seinen bestimmten Vorschlägen zur Lösung der verschiedenen Widersprüche, die auftreten, wenn man versucht, den Begriff des rechtmäßigen Verhältnisses unter den Menschen zu denken, um notwendige synthetische Erkenntnisse a priori handelt.53 Dies gilt für Fichtes sämtliche dialektisch-synthetischen Beweise: Man mag noch so sehr bewundern, wie Fichte ingeniöse Lösungen entwickelt, um sich aus scheinbaren Sackgassen herauszumanoevrieren, man ist doch oft außerstande zu erklären, warum die spezifischen Lösungen die einzig möglichen sein sollen. Ein ähnlicher Einwand läßt sich natürlich gegen die vielen späteren Philosophen erheben, die, beginnend mit Schelling und Hegel, Fichtes dialektisch-synthetische Methode des Philosophierens sich aneigneten. Beschließen wir unsere kurze Analyse von Fichtes synthetischen Methoden des Philosophierens mit einer Berücksichtigung von Fichtes eigener expliziter und nachhaltigster Stellungnahme zu diesen Methoden, die sich in der Halleschen Nachschrift seiner Vorlesungen über die Wissenschaftslehre nova methodo findet. In einer Textpartie, die »Über synthetische Methode« überschrieben ist, unterscheidet Fichte drei »Methoden eine Materie synthetisch abzuhandeln«54: Zuerst gibt es, so Fichte, die in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und speziell in deren Zweitem Teil, sowie in den späteren Partien des Naturrechts gebrauchte Methode. Dabei verfährt man so, daß man mit einem Widerspruch beginnt ›und diesen nur dadurch zu lösen sucht, daß man das und das p[erge] annimmt‹. Dies ist die oben als ›synthetisch-dialektisch‹ bezeichnete Methode, und Fichte zufolge ist es der schwierigste Typus von synthetischer Methode. Ein zweites Verfahren beginnt mit einer ›Hauptaufgabe‹ oder einem ›Postulat‹ und führt dann die angegebene Aufgabe aus, und zwar nicht gleich auf einmal, sondern mittels einer langen, untereinander verknüpften Reihe von ›mittelbaren Sätzen‹. (Genauer gesagt beschreiben diese 52

Siehe z. B. Fichtes Behauptung, daß sein dialektischer Beweis darlegt, daß Verbannung »die einzig mögliche Straffe« für Magistrate ist, die des Verrats öffentlichen Vertrauens in sie überführt sind (GNR, GA I 3, 453). 53 Siehe z. B. den abschließenden Kommentar: »Der ganze beschriebene Mechanismus ist erforderlich, zur Realisation eines rechtsgemässen Verhältnisses unter den Menschen« (GNR, GA I 3, 459). 54 Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo (»Halle Nachschrift«, 1796/97), GA IV 2, 107f. Im folgenden zitiert als »WLnm[H]«.

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›Sätze‹ lediglich die eigenen inneren Anschauungen der untergeordneten Handlungen, die man vornehmen mußte, um die ›Hauptaufgabe‹ auszuführen.) Dies ist, so Fichte, die Methode, die in der ersten Hälfte der Wissenschaftslehre nova methodo gebraucht wird, und es ist auch die Methode der ›pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes‹ im Dritten Teil der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und in den ersten sechs Paragraphen des Naturrechts. Solch eine Methode ist genetisch und dies auf zweifache Art, insofern die synthetische Beschreibung durch den Philosophen eine vollständige Wiedergabe der ›Entstehung‹ des Begriffs des reinen Ich (mit dem die Reihe der Beobachtungen anhebt) und der gewöhnlichen Erfahrung (mit deren Begriff die Reihe zum Ende kommt) liefert. Dies ist die oben als ›phaenomenologisch-synthetisch‹ beschriebene Methode. Drittens und letztens, so erläutert Fichte, kann man mit einem Begriff oder Grundsatz beginnen, der bereits aufgestellt worden ist (wohl durch eine der beiden zuvor beschriebenen synthetischen Methoden), der aber ›dunkel‹ und ›unbestimmt‹ geblieben ist und dann weitergehen, indem man diesen Begriff oder Grundsatz Stück für Stück ›aufklärt‹. Dies ist der Typus von synthetischer Methode, der in der zweiten Hälfte der Wissenschaftslehre nova methodo zur Anwendung kommt. Fichte zufolge liegt diese Methode ›zwischen den beyden vorigen in der Mitte‹, denn was hier ›unbestimmt‹ genannt wird, entspricht dem, was zuvor ›widersprechend‹ genannt wurde, und die vorgenommene ›Klärung‹ soll uns genauer bekannt machen mit dem realen Gegenstand unserer Reflexionen (d. h. dem Ich) und unsere Anschauung davon erhellen. Der Unterschied zwischen dem zweiten und dritten Typus von synthetischer Methode besteht darin, daß die zweite, aber nicht die dritte Methode mit einem Akt der radikalen Abstraktion von allem, von dem abstrahiert werden kann, beginnen soll. Der dritte Typus der synthetischen Methode beginnt seine Beschreibungen sozusagen ›mittendrin‹. Der Unterschied zwischen dem ersten und dem dritten Typus der synthetischen Methode besteht darin, daß bei dem ersten Typus der Widerspruch oder der Zirkel bereits offensichtlich ist, während er beim dritten Typus erst sichtbar gemacht werden soll (wohl durch die Ausübung von begrifflicher Analyse und logischem Schließen). Aus all dem ergibt sich, daß die ›phänomenologische‹ Methode, da sie nichts voraussetzt als die Fähigkeit des Lesers, für und über sich nachzudenken, sowie die Fähigkeit, aufmerksam zu sein, während man das tut, am besten geeignet ist für die Eröffnungspartien der Wissenschaftslehre, während die ›dialektische‹ Methode nur ins Spiel kommt, wenn die De-

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II. Fichte · D. Breazeale

duktion weiter vorangeschritten ist und wenn der Philosoph beginnt, über das gegenseitige Verhältnis zwischen den Sätzen, die er bereits auf der Grundlage innerer Anschauung aufgestellt hat, zu reflektieren. Deshalb erstaunt es nicht, daß keine von Fichtes Abhandlungen aus der Jenaer Zeit reine Beispiele der phänomenologischen oder der dialektischen Art des synthetischen Philosophierens bietet, obwohl die eine oder andere dieser Methoden (oder deren absichtliche Mischung) in einzelnen Teilen jedes dieser Werke vorherrscht. Das ist genau das, was man erwarten würde, denn nur durch die Kombination der Methode des synthetischen Denkens mit der der synthetischen Anschauung kann die Transzendentalphilosophie das ihr von Kant gesetzte Ziel erreichen. Wenn die Kritik der Vernunft die Selbsterkenntnis der Vernunft, wenn alle synthetische Erkenntnis eine Beziehung auf tatsächliche oder mögliche Anschauung erfordert, wenn die philosophische Reflexion einen eigenen eigentümlichen Gegenstand haben soll: wenn all diese Dinge möglich sein sollen, dann muß auch die ›reinste‹ Philosophie ein betont phänomenologisches oder deskriptives Element enthalten. Doch ist es ebenso wahr, daß, wenn die Philosophie ihr Ziel systematischer Einheit voranbringen soll, wenn philosophische Deduktion in der Lage sein soll, uns echte neue Erkenntnisse zu liefern und nicht nur mit klarerer Einsicht in das, was wir schon wissen, wenn philosophische Beweise nicht auf den Bänken von Zirkelhaftigkeit und Widersprüchlichkeit stranden sollen und wenn die reflektierende Urteilskraft eine Rolle in der Philosophie spielen soll: wenn alles dies möglich sein soll, dann muß auch die ›rigoroseste‹ und ›logische‹ philosophische Methode den wesentlichen Beitrag des kreativen und synthetischen (d. h. dialektischen) Denkens und die mögliche positive Bedeutung von Widerspruch und Zirkularität eingestehen. Eine Implikation der gerade vorgetragenen Einsicht ist die, daß der Unterschied zwischen den Methoden der Mathematik und der Philosophie doch nicht so groß ist, wie Kant behauptet. Zwar kann die Philosophie ihre Begriffe nicht in dem reinen Raum und der reinen Zeit ›konstruieren‹, doch kann und muß sie ihre Begriffe auf der Grundlage von reiner (intellektueller) Anschauung konstruieren, angeleitet von synthetischem Denken und von formaler Logik, doch immer gegründet auf unmittelbarer Reflexion. Dies ist eine der wichtigeren Implikationen von Fichtes synthetischer Methode, die nichts weniger als eine Darstellung davon liefert, wie philosophische Begriffe tatsächlich konstruiert werden und warum sie auf keine andere Art beigebracht werden können. Nur weil sie ihre Begriffe auf diese Weise konstruiert, kann die Wissenschaftslehre sich selbst als ›eine reelle Philosophie‹ beschreiben.

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Gegen Ende der Jenaer Zeit war Fichte zu einer klaren Einschätzung der Parallelen zwischen den Methoden der Mathematik und der Philosophie gelangt. Ja, er machte dieses Thema zum zentralen Bestandteil seiner methodologischen Bemerkungen und zur leitenden Inspiration dessen, was ich für die letzte systematische Anstrengung seiner ›Jenaer Periode‹ halte, des »Versuchs einer neuen Bearbeitung der W.L. 1800«.55 Während er 1794 Kants Behauptung über die Unfähigkeit der Philosophie, ihre Begriffe zu konstruieren, zugestimmt hatte,56 charakterisierte er 1800 die Wissenschaftslehre als »die Mathesis der Vernunft selbst«57 und betonte ausdrücklich den konstruktiven Charakter seiner eigenen Methode. Mit der Einführung des Begriffs der transzendentalen Konstruktion sind wir an das Ende unserer Diskussion der synthetischen Methode des Philosophierens bei Kant und Fichte angelangt. Viel mehr könnte und müßte gesagt werden über die Rolle der Konstruktion in der Jenaer Wissenschaftslehre, ein Thema, das von den Fichte-Forschern beinahe vollständig ignoriert worden ist – mit der bedeutenden Ausnahme von Jürgen Stolzenberg.58 Doch dies ist ein Thema für eine zukünftige Gelegenheit. Ich möchte schließen mit einer kurzen Bemerkung über die Parallele zwischen der Methode der Transzendentalphilosophie und der ursprünglichen Selbstkonstruktion des Ich: Beide sind ›synthetisch‹ ihrem Charakter nach, ein Punkt, auf den Fichte selbst anspielt in der Wissenschaftslehre nova methodo, wenn er bemerkt: »Synthetisch war unser Gang bisher deswegen, weil das [I]ch aus Bedingungen seines Bewußtseyns dieses sein Bewußtseyn selbst zusammen sezt.«59 Wie sein Gebrauch des Wortes »weiß« an dieser Stelle andeutet, dachte Fichte offensichtlich, daß nur eine synthetische oder konstruktive Methode adäquat ist für eine philosophische Darstellung oder Erklärung des Bewußtseins, insofern letzteres als synthetischer, selbst-konstruktiver Prozeß oder eine solche Tätigkeit verstanden werden muß. 55

Für ein Analyse dieses Manuskripts, die sich auf den Begriff der Konstruktion und auf die ›mathematische‹ Struktur von Fichtes Beweismethode in diesem Fragment konzentriert, vgl. Daniel Breazeale: Die Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre (1880). Letzte ›frühere‹ oder erste ›spätere‹ Wissenschaftslehre?, in: Fichte-Studien 17 (2000), 43–67. 56 Fichte an Reinhard, 15. Januar 1794, GA III 2, 39–41 (Brief Nr. 175), hier: 40. 57 »[Ankündigung:] Seit sechs Jahren« (datiert 4. November 1800), GA I 7, 160. 58 Vgl. Jürgen Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschaung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/01, Stuttgart 1986, 13–59. 59 WLnm[H], GA IV 2, 107.

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II. Fichte · D. Breazeale

Obwohl dieser vorgeschlagene Isomorphismus etwas Attraktives hat, darf er nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein entscheidender Unterschied zwischen der realen Synthesis des Subjekt-Objekts und einer synthetischen philosophischen Ableitung desselben besteht. Letztere ist diskursiv, während erstere dies nicht ist. Die ursprüngliche Selbstkonstruktion des Ich findet auf ein Mal statt oder vielmehr: Sie hat immer schon stattgefunden. Die in der philosophischen Reflexion so säuberlich unterschiedenen und genetisch miteinander verbundenen Momente sind, wie Fichte im Sonnenklaren Bericht betont, nichts mehr als eine künstliche Rekonstruktion der Einheit und der ursprünglichen Handlung der Selbstkonstruktion des Ich. Aus diesem Grund muß Fichtes Insistieren darauf, daß die Wissenschaftslehre ein System des ›reellen philosophischen Denkens‹ ist, cum grano salis verstanden werden. Die ›reinen Handlungen‹, die diese Wissenschaft beschreibt, kommen als solche und diskret gar nicht vor. Was reell ist, ist das endliche, körperhafte Selbst und seine materielle und menschliche Welt. Damit verglichen sind die philosophischen Begriffe und Erklärungen bloße Fiktionen, wie Fichte das selbst bei mehreren Gelegenheiten eingestanden hat.60 Doch sind es keine willkürlichen Fiktionen, und es ist genau die Aufgabe der synthetischen Methode des Philosophierens, die Notwendigkeit und Universalität solcher Begriffe und Grundsätze zu etablieren. Ob die hier diskutierten Methoden des Philosophierens einer solchen Aufgabe angemessen sind, ist eine extrem schwierige Frage und eine, die nicht nur die Wissenschaftslehre, sondern den deutschen Idealismus überhaupt plagt. Obwohl ich diese Frage hier nicht beantworten kann, hoffe ich doch, gezeigt zu haben, daß eine umsichtige Betrachtung der ›synthetischen Methode des Philosophierens‹ eine wesentliche Komponente des umfassenderen Unternehmens ist, den Anspruch zu verstehen und zu bewerten, der so zentral in dieser ganzen Tradition ist: daß die Sätze der Transzendentalphilosophie ›notwendig‹ (aber nicht nur analytisch), ›universal‹ und ›einzigartig bestimmt‹ sind und einen eigenen ›reellen Inhalt‹ besitzen.

60

Siehe z. B. GA II 3, 160 f.; GA I 3, 403f.; GA IV 1, 197f.; GA III 4, 360f.; GA I 7, 249f. Für eine detaillierte Erörterung dieser Texte siehe Daniel Breazeale: Fichte’s Philosophical Fictions, in: Essays on the Later Jena Wissenschaftslehre of J. G. Fichte. Hrsg. v. Daniel Breazeale und Tom Rockmore. Evanston, IL 2002.

Violetta L. Waibel Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«. Fichtes Begründung der Gegenstandskonstitution (1794/95)

In einem Briefentwurf an den Dichter Jens Immanuel Baggesen vom April 1795 nennt Fichte die Wissenschaftslehre »das erste System der Freiheit«; es reiße den Menschen von den »Feßeln der Dinge an sich, des äußern Einflußes los, die in allen bisherigen Systemen, selbst in der Kantischen mehr oder weniger um ihn geschlagen sind, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbstständiges Wesen hin.«1 An diese Selbstdarstellung Fichtes sind kritische Fragen zu richten. So ist zunächst zu klären, wie sich der Systemanspruch Fichtes mit dem der Freiheit verträgt. Sodann ist zu fragen, in welchem Sinne mit Blick auf die Wissenschaftslehre von Freiheit zu sprechen ist. Handelt es sich um Freiheit als Spontaneität, als zweckgerichtete Intentionalität, als Wahlfreiheit oder als moralisch-praktische Freiheit der Vernunft? Es wird sich zeigen, daß mehrere dieser Aspekte der Freiheit in Fichtes System der Freiheit im Spiel sind, die es zu rekonstruieren gilt, da Fichte erstaunlicherweise Freiheit nicht ausdrücklich und an erster Stelle behandelt, sondern sie eher implizit zur Darstellung gelangen läßt. Des weiteren ist zu fragen, wie sich der Freiheitsanspruch gegenüber den »Feßeln der Dinge« zu bewähren vermag. Im folgenden gilt es, die Gründe herauszuarbeiten, die Fichte veranlaßt haben mochten, den ersten, der Öffentlichkeit vorgelegten Entwurf seines Systems, die Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, fast ausschließlich als eine Theorie der Gegenstandskonstitution zu entfalten.2 1

Briefentwurf von Fichte an Baggesen, Jena oder Osmannstädt, April/Mai 1795, in: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Abt. III, Band 2, 297– 299, 298, (Brief Nr. 282 b). Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 2 Wie immer das eigentliche und »ausführliche System« der Wissenschaftslehre hätte konzipiert sein sollen, das Fichte seinen Verleger Gabler am 1. Oktober 1794 im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung ankündigen läßt, bis er diesen Plan aufgibt, so erfährt die zunächst bloß als vorläufig bezeichnete, gleichwohl gedruckte Handschrift der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre für die ersten Hörer in Jena Autorisierung als Grundlage der Wissenschaftslehre durch die von Fichte selbst genehmigte Neuauflage von 1802. Dies zu erwähnen scheint deshalb von Interesse, weil in der Forschung ein breiterer Konsens zugunsten der Wissenschaftslehre nova methodo

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II. Fichte · V. L. Waibel

Um diese Fragen, die Fichte nicht ausdrücklich diskutiert, aus der frühen Wissenschaftslehre zu rekonstruieren, ist zunächst die formale und inhaltliche Bestimmung des Gegenstands von Fichtes System der Freiheit zu skizzieren, wie er in der Begriffsschrift zur Darstellung gelangt (1). Sodann ist die Methodologie näher zu bestimmen (2). In drei weiteren Schritten ist herauszuarbeiten, inwiefern die Konstruktion der gegenstandskonstituierenden Einbildungskraft und ihr Schweben zwischen an sich unvereinbaren Gliedern (3), die Deduktion der Vorstellung (4) und das praktische Streben des Subjekts (5) sowohl Pfeiler des von Fichte intendierten Systems als auch zugleich Ausdrucksformen der Freiheit darzustellen vermögen. In einer abschließenden Betrachtung gilt es, die Momente in eine Übersicht zu bringen, die das fragliche System zu einem System der Freiheit machen (6).

1. Der Gegenstand des Systems der Freiheit Metatheoretische Überlegungen zum System der Wissenschaftslehre legt Fichte bekanntlich in der Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre vor. Zwei der in dieser Schrift getroffenen Bestimmungen dessen, was die Philosophie zum System erhebt, sind für mein Thema als Vorerinnerung von Wichtigkeit. Der erste Aspekt meiner Vorerinnerung betrifft Fichtes Bestimmung der Wahrheit und Gewißheit von Wissen durch eine Verankerung in einem ersten Grundsatz. Die Wissenschaftslehre versteht Fichte als »Wissenschaft von der Wissenschaft überhaupt«,3 das heißt, als Metatheorie der Möglichkeit von Erkenntnis in Einzelwissenschaften. Bei ›Wissenschaft‹ denkt man wesentlich an den Gehalt dieser Wissenschaft: »Das Wesen der Wissenschaft bestünde demnach in der Beschaffenheit ihres Inhalts, dieser müßte wenigstens für den, der Wissenschaft haben soll, gewiß seyn; es müßte etwas seyn das er wissen könnte: und die systematische Form wäre der Wissenschaft blos zufällig; sie wäre nicht der Zweck derselben, sondern blos etwa das Mittel zum Zwecke.«4 Solange die systematische Form der Philosophie zufällig bleibt, wird aber, so Fichtes Einwand, nur fragmentarisches Einzelwissen erzeugt, in besteht, der zu Unrecht die Grundlage und ihre Begleitschriften, möglicherweise wegen ihrer hohen systematischen Komplexion, ins zweite Glied stellt. 3 GA I 2, 117; SW I, 43. 4 GA I 2, 113; SW I, 39.

Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«

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dem sich bald wahre, bald unwahre Sätze aufgestellt finden. Um von unsicheren zu gesicherten Kenntnissen von etwas zu gelangen, bleibe kein anderes Mittel, so führt Fichte weiter aus, als daß einer »die ungewissen Kenntnisse mit den gewissen vergliche, und aus der Gleichheit oder Ungleichheit der erstern mit den letztern, auf die Gewißheit oder Ungewißheit derselben folgerte. Wären sie einem gewissen Satze gleich, so könnte er sicher annehmen, daß sie auch gewiß seyen; wären sie ihm entgegengesetzt, so wüßte er nunmehro, daß sie falsch wären, und er wäre sicher, von ihnen nicht länger getäuscht zu werden.«5 Für Fichte ist es bekanntlich das Prinzip des absoluten Ich oder der Satz »Ich bin«, der als Prinzip alles menschlichen Wissens schlechthinnige Gewißheit besitzt und folglich die Instanz ist, die die im Wissen mögliche Gewißheit auf die Gehalte alles übrigen Wissens überträgt. Die ausführliche Formel dieses Prinzips des Wissens lautet: »Ich bin schlechthin, d. i. ich bin schlechthin, weil ich bin; und bin schlechthin, was ich bin; beides für das Ich.«6 Auch wenn im vorliegenden Rahmen Fichtes Einführung des absoluten Ich nicht näher untersucht werden kann, läßt sich doch sagen, daß der erste Paragraph der Grundlage die in Gehalt und Form selbstevidente, ursprüngliche Gewißheit des Ich Schritt um Schritt sozusagen vor dem geistigen Auge des mitdenkenden Lesers entwickeln soll.7 Mit dem Ich ist die Möglichkeit der Setzung von Realität und Sachhaltigkeit eröffnet, und das Ich ist auch alleinige Instanz und Sachwalter von dem, was Realität in Anspruch nehmen darf. Fichte schreibt: »Abstrahiert man ferner von allem Urtheilen, als bestimmten Handeln, und sieht bloß auf die durch jene Form gegebne Handlungsart des menschlichen Geistes überhaupt, so hat man die Kategorie der Realität. Alles, worauf der Saz A = A anwendbar ist, hat, inwiefern derselbe darauf anwendbar ist, Realität.

5

GA I 2, 113/114; SW I, 40. GA I 2, 260; SW I, 98. 7 Zur Entwicklung des Satzes »Ich bin« im ersten Paragraphen der Wissenschaftslehre von 1794/95 vgl. Jürgen Stolzenberg: Fichtes Satz »Ich bin«. Argumentanalytische Überlegungen zu Paragraph 1 der ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794/95, in: Fichte-Studien 6, 1–34. In der nachfolgenden Wissenschaftslehre nova methodo macht Fichte das Denken des Ich durch die Aufforderung an den Leser explizit, sich irgendein Objekt, zum Beispiel die Wand, zu denken und im nächsten Schritt auf den Unterschied des gedachten Objekts und des dieses Objekt denkenden Subjekts zu reflektieren. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99. Hrsg. sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Erich Fuchs. Hamburg, 1982, hier 28/29. 6

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II. Fichte · V. L. Waibel

[…] Dasjenige, was durch das bloße Setzen irgend eines Dinges (eines im Ich gesezten) gesezt ist, ist in ihm Realität, ist sein Wesen. […] Für alles mögliche übrige, worauf sie angewendet werden soll, muß gezeigt werden, daß aus dem Ich Realität darauf übertragen werde«.8 Der theoretische und praktische Teil der Grundlage wendet sich, auch wenn Fichte dies nicht hinreichend explizit macht, der Frage zu, wie das seiner selbst gewisse Ich die durch es mögliche Realität des Wissens auf die Gegenstände seines Wissens überträgt. Das Übertragen der Realität durch das Ich wird exemplarisch durch die systematischen Konstruktionen vorgeführt, in denen nach einem bestimmten, methodisch kontrollierten Kalkül von Sätzen Grade von Gewißheit vom Ich auf den fraglichen Gegenstand übertragen werden. Der zweite Aspekt meiner Vorerinnerung betrifft den Gedanken, den Fichte in § 7 der Begriffsschrift mit der Frage überschreibt »Wie verhält sich die Wissenschaftslehre als Wissenschaft, zu ihrem Gegenstande?«9 Fichte macht hier deutlich, daß die Aufgabe der Wissenschaftslehre darin liege, die je schon bestehenden Handlungsarten des Geistes durch einen Akt der Freiheit als Spontaneität zum Bewußtsein zu erheben. Die Gesamtheit der Handlungsmöglichkeiten des Geistes nennt Fichte das »System des menschlichen Geistes«.10 Er hebt davon dezidiert die »Darstellung«11 dieses ursprünglichen Systems des Geistes ab. Eine der möglichen Darstellungen ist die Wissenschaftslehre. Fichtes wesentlicher Gedanke hinsichtlich des Verhältnisses von ursprünglichem System und seiner Darstellung ist, daß das ursprüngliche System schlechthin infallibel sei, niemals könne aber eine seiner Darstellungen den Anspruch auf Infallibilität erheben: »Das System des menschlichen Geistes, dessen Darstellung die Wissenschaftslehre seyn soll, ist absolut gewiß und infallibel; alles, was in ihm begründet ist, ist schlechthin wahr; es irrt nie, und was je in einer Menschenseele gewesen ist, oder seyn wird, ist wahr. Wenn die Menschen irrten, so lag der Fehler nicht im Nothwendigen, sondern die reflektirende Urtheilskraft machte ihn in ihrer Freiheit; indem sie ein Gesetz mit einem andern verwechselte. Ist unsere Wissenschaftslehre eine getroffene Darstellung dieses Systems, so ist sie schlechthin gewiß und infallibel, wie jenes; aber die Frage ist eben davon, ob und in wie fern 8 9 10 11

GA I 2, 261/262; SW I, 99. GA I 2, 140; SW I, 70. GA I 2, 144; SW I, 74. GA I 2, 146; SW I, 76.

Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«

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unsre Darstellung getroffen sei; und darüber können wir nie einen strengen, sondern nur einen Wahrscheinlichkeit begründenden Beweiß führen. Sie hat nur unter der Bedingung, und nur in so fern Wahrheit, als sie getroffen ist. Wir sind nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern seine Historiographen; freilich nicht Zeitungsschreiber, sondern pragmatische Geschichtsschreiber.«12 Es wird in diesem Beitrag insgesamt und besonders im nächsten Abschnitt zu zeigen sein, daß die Metapher des pragmatischen Geschichtsschreibers von weitreichender Bedeutung für Fichtes Konzeption der Wissenschaftslehre ist. Im Zusammenhang mit den Überlegungen zur Infallibilität ist nun auch Fichtes Bewertung der drei Grundsätze der Grundlage, das Setzen des Ich, das Entgegensetzen des Nicht-Ich und die Quantifizierbarkeit von Ich und Nicht-Ich und der damit verknüpften Kantischen Kategori-

12

Fichte, GA I 2, 146/147; SW I, 76/77. – Daniel Breazeale hat einen philosophiehistorisch wie systematisch sehr informativen Beitrag zu Fichte’s Conception of Philosophy as a ›Pragmatic History of the Human Mind‹ and the Contributions of Kant, Platner, and Maimon, in: Journal of the History of Ideas (62,1), 2001, 685–703, vorgelegt. Während Breazeale in seiner Untersuchung besonderes Gewicht auf die momentane Erzeugung des je fraglichen Bewußtseinsaspekts vor den Augen des Lesers legt, der auf dem Standpunkt der Philosophie entwickelt wird, möchte ich den Aspekt des exemplarisch vorgeführten zweckgerichteten Handelns der pragmatischen Geschichtsschreibung und weniger das Problem der Geschichte des Selbstbewußtseins ins Licht setzen. Beide Aspekte treffen offenkundig mit Fichtes eigenen Intentionen zusammen. Ulrich Claesges betont in seiner Untersuchung Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794–95, Den Hague 1974, den methodisch bedeutenden Unterschied der frühen Wissenschaftslehre und der Wissenschaftslehre nova methodo. Auch Claesges streicht die beiden Reihen des gegenstandszentrierten Denkens und der philosophischen Reflexion darauf heraus. Ohne diese beiden Reihen würde die Rede von der pragmatischen Geschichte überflüssig werden, was sich an der Wissenschaftslehre nova methodo zeige, in der die beiden Reihen ineinander verwoben sind durch den Begriff der intellektuellen Anschauung. »Ist das Selbstbewußtsein […] ein über die intellektuelle Anschauung zu explizierendes Gefüge von Anschauung und Begriff, von Handeln und Sein, von Selbstbestimmung und Bestimmtheit, so muß es (das Selbstbewußtsein) nicht mehr als Resultat einer Geschichte seiner selbst entwickelt werden.« (Claesges, 4) Diese Beschreibung ist so richtig, wie sie meines Erachtens nicht die Frage der pragmatischen Geschichte als zweckorientiertem vernünftigen Handeln trifft. Jürgen Stolzenberg entwirft in seinem Beitrag ›Geschichte des Selbstbewußtseins‹. Reinhold – Fichte – Schelling, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2003 (1), 93–113, eine sehr viel generellere These als Claesges, nach der der Idealismus überhaupt als Geschichte des Selbstbewußtseins zu explizieren ist. Weder Claesges noch Stolzenberg werden Fichtes spezifischer Prägung der pragmatischen Geschichte hinreichend gerecht. Dem versucht dieser Beitrag entgegenzuwirken.

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II. Fichte · V. L. Waibel

en der Qualität, also der Realität, der Negation und der Limitation zu beachten. Fichte bemerkt, daß mit den drei Grundsätzen, das ist, »Ein schlechthin unbedingter, Ein dem Gehalte nach bedingter, und Ein der Form nach bedingter Grundsaz […] [d]ie Masse deßen, was unbedingt, und schlechthin gewiß ist, […] nunmehr erschöpft« sei.13 Was in jedem Fall und problemlos als bedingt gewiß angesehen werden kann, ist die logische Form der Bejahung und der Verneinung sowie die Unbestimmtheit (oder Unendlichkeit) von Urteilen, die als solche Kants analytischen Funktionen des Verstandes in den Urteilen entsprechen. Bedenkt man überdies, daß nach Kant analytische Funktionen des urteilenden Verstandes nur dann möglich sind, wenn ihnen analoge synthetische Funktionen des Verstandes logisch vorauszusetzen sind, so lassen sich auch die entsprechenden Kategorien der Position und der Negation und der wechselseitigen Beschränkung oder Limitation zum Bestand des unbedingt Gewissen zählen.14 Nun gewinnt Fichte aber die analytischen und synthetischen Funktionen des Verstandes erst aus den Grundsätzen15 und fängt nicht, wie Kant, mit ihnen an. Die Grundsätze versteht Fichte offenkundig als ursprüngliche Einheiten der analytischen und synthetischen Funktionen, die freilich zugleich mehr sind als deren Summe. Das absolute Ich ist Fichtes ursprünglich synthetisches Prinzip dem Gehalt nach. Mit ihm ist zugleich die Kategorie und der Gehalt der Realität schlechthin gesetzt. Mit dem Nicht-Ich ist das schlechthinnige Nichts, mit der Beschränkung von Ich und Nicht-Ich ist deren Quantifizierbarkeit als koexistierender Gehalt des Bewußtseins gesetzt. Während Kant im Rahmen der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zeigt, daß die analytischen und synthetischen Funktionen des Verstandes in Urteilen über mögliche Gegenstände der Erfahrung durch die analytische und synthetische Einheit des reinen Selbstbewußtseins, der transzendentalen Apperzeption, begründet werden müssen, geht

13

GA I 2, 271/272; SW I, 110. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann, mit einer Bibliographie von Heiner Klemme. Hamburg 1998, A 77 B 102/103. – Synthesis bestimmt Kant folgendermaßen: »Ich verstehe aber unter Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.« (KrV A 77/B 103) Kants Begriff der Synthesis richtet sich hier auf die Vorstellung möglicher empirischer Gegenstände. 15 Vgl. GA I 2, 261 (1. Grundsatz), 267 (2. Grundsatz), 282 (3. Grundsatz); SW I, 98/99, 105, 122/123. Die gewiss bestehenden, aber als marginal zu beurteilenden Differenzen zu Kant müssen hier vernachlässigt werden. 14

Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«

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Fichte von der sachhaltigen Realität des Ich, oder, in Fichtes Worten, dem schlechthinnigen Gehalt des reinen Ich in Verbindung mit seiner Form aus. Das Ich ist und existiert wenigstens im Minimalsinn der sich selbstsetzenden Freiheit als Spontaneität rationalen Handelns. Ebenso schlechthin ist dank der Negation die Abstraktion von diesem ursprünglich ichlichen Gehalt, der darum Nicht-Ich heißt, ohne daß über diesen Gehalt zunächst mehr als sein Anderssein, also sein nicht Ichsein bekannt wäre. Von der schlechthinnigen Realität des Ich ist nun zu sagen, daß sie an sich unbestimmt ist und die reine Spontaneität der Handlungsmöglichkeiten des Ich darstellt. Im Übrigen ist auch das absolute Ich, sieht man von der bloßen Möglichkeit spontanen Handelns ab, wie bei Kant ein an fernerem Inhalt gänzlich leerer Begriff. Fichte präzisiert in § 3: »Das absolute Ich des ersten Grundsatzes ist nicht etwas; (es hat kein Prädikat, und kann keins haben), es ist schlechthin was es ist, und dies läßt sich nicht weiter erklären. Iezt vermittelst dieses Begriffs [der Teilbarkeit von Ich und NichtIch im Bewußtsein, V.W.] ist im Bewußtseyn alle Realität […]. Dem absoluten Ich entgegengesezt […] ist das Nicht-Ich schlechthin Nichts«.16 Weil also das Ich und seine Negation, das Nicht-Ich, in diesem Sinn gehaltvoll zu denken sind, ist auch die Kopräsenz von Ich und Nicht-Ich im Bewußtsein notwendig zu denken, und deren Relationalität und Quantifizierbarkeit ist daher ein schlechthin gewisser Gehalt, der in Fichtes drittem Grundsatz ausgedrückt wird. Im Ausgang sowohl von der prinzipiell gesicherten Sachhaltigkeit spontaner mentaler Handlungsmöglichkeiten des Ich als auch der Möglichkeit einer Beziehung auf ein noch völlig unbestimmtes Nicht-Ich liegt die Hauptaufgabe der Wissenschaftslehre im Erweis der Möglichkeit bestimmter konkreter Sachhaltigkeit im Wissen von Gegenständen der Erfahrung einerseits und von Gegenständen der Vernunft als praktischer Vernunft andererseits.17

16

GA I 2, 271; SW I, 109. Aus dem Ich wird nicht, wie mancherorts behauptet, die empirische Welt deduziert, schon deswegen nicht, weil Fichte die auf sinnliche Erfahrung bezogene Tätigkeit der Einbildungskraft ausdrücklich als »ein ursprünglich in unserm Geiste vorkommendes Faktum« bezeichnet (GA I 2, 362; SW I, 219). Im Anschluß an die Darstellung der drei Grundsätze wird vielmehr gezeigt, wie »aus dem Ich Realität« auf die bestimmten Wissensgehalte dieses Ich »übertragen werde« (GA I 2, 262; SW I, 99). 17

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II. Fichte · V. L. Waibel

2. Bemerkungen zur Methodologie der frühen Wissenschaftslehre Fichte nennt die Entwicklung der Begriffe des Schwebens der Einbildungskraft, des Strebens, der Triebe, des Gefühls, des Sehnens und der Idee in der Grundlage gelegentlich Deduktion, meint jedoch eine ganz andere Art von Deduktion als Kant oder gar als die analytisch zu nennende Deduktion im streng logischen Sinn syllogistischen Schließens.18 Zwei Dinge streicht Fichte heraus, die sich nicht deduzieren, sondern nur postulieren lassen. Es ist dies zum einem die Existenz der Außenwelt: »Das Objekt ist nicht a priori, sondern es wird ihr erst in der Erfahrung gegeben; die objektive Gültigkeit liefert jedem sein eignes Bewustseyn des Objekts, welches Bewustseyn sich a priori nur postuliren, nicht aber deduciren läßt.«19 Schließlich betont Fichte, daß auch die Freiheit des Subjekts nicht zu deduzieren ist: »Durch kein Naturgesez, und durch keine Folge aus dem Naturgesetze, sondern durch absolute Freiheit erheben wir uns zur Vernunft, nicht durch Uebergang, sondern durch einen Sprung. – Darum muß man in der Philosophie nothwendig vom Ich ausgehen, weil dasselbe nicht zu deduciren ist; und darum bleibt das Unternehmen des Materialisten, die Aeusserungen der Vernunft aus Naturgesetzen, zu erklären, ewig unausführbar.«20 Fichte entwickelt mit seinen Deduktionen ein begrifflich ausdifferenziertes Bewußtsein der fraglichen Zusammenhänge. So nennt er am Ende der theoretischen Wissenschaftslehre das dargestellte Faktum der Einbildungskraft und die durch sie erzeugte Realität »ein durch Kunst hervor-

18

Von einer Deduktion spricht Fichte im Hinblick auf den dritten Grundsatz (vgl. GA I 2, 268, SW I, 106), ferner im Hinblick auf den gesamten Gang der Synthesen in § 4 (vgl. GA I 2, 284 und 362; SW I, 124 und 219). Die »Deduktion der Vorstellung« führt explizit diesen Titel (vgl. GA I 2, 369; SW I, 227). Schließlich wird auch der genetische Beweis des Strebens in § 5 als Deduktion bezeichnet (vgl. GA I 2, 404; SW I, 271). Den juristischen Hintergrund von Kants Deduktionsbegriff hat insbesondere Dieter Henrich herausgestellt in seinem Beitrag Kants Notion of a Deduction and the Methodological Background of the First Critique, in: Kant’s Transcendental Deductions. The Three Critiques and the Opus postumum. Hrsg. v. Eckart Förster. Stanford/California 1989, 29–46. Kant schreibt: »Die Rechtslehrer, wenn sie von Befugnissen und Anmaßungen reden, unterscheiden in einem Rechtshandel die Frage über das, was Rechtens ist (quid juris), von der, die die Tatsache angeht (quid facti) und indem sie von beiden Beweis fordern, so nennen sie den erstern, der die Befugnis, oder auch den Rechtsanspruch dartun soll, die Deduktion.« Kant, KrV A 84 B 116. 19 GA I 2, 390; SW I, 253. 20 GA I 2, 427; SW I, 298.

Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«

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gebrachtes Faktum«.21 Kunst bezeichnet hier den künstlichen Prozeß, durch den ein systematisch geschlossener Zusammenhang der mentalen Handlungsmöglichkeiten des Geistes in der Reflexion konstruiert wird. Im unreflektierten Gebrauch des Geistes verfügt das Subjekt vereinzelt und unzusammenhängend über diese Handlungsmöglichkeiten des Geistes. Während also Kants Deduktionen der Rechtfertigung objektiver Ansprüche der Erkenntnis trotz der subjektiven Erkenntnisbedingungen dienen, bezeichnet Fichte die Bedeutung der Wissenschaftslehre als »eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes«.22 Die immer schon verfügbaren Funktionen des Geistes, die dem unphilosophischen Geist je nach Übung zur Verfügung stehen, werden in einer systematischen Rekonstruktion entwickelt. Dies ist ein wichtiger und immer schon gesehener Aspekt der pragmatischen Geschichte des Selbstbewußtseins. Aber mehr noch bedeutet das griechische Wort »pragma« Handlung, Handlungsweise, Verfahren, Vorhaben, Plan, so daß offenkundig mit der Wissenschaftslehre eine universale Geschichte der Vernunft und ihres zweckgerichteten Handelns dargestellt sein soll. Dies zeigt sich bereits an der Art, wie sich Fichte in der Vorrede der Begriffsschrift vor Kant verneigt, wenn er schreibt: »Der Verfasser [Fichte] ist bis jetzt innig überzeugt, daß kein menschlicher Verstand weiter, als bis zu der Grenze vordringen könne, an der Kant besonders in seiner Kritik der Urtheilskraft, gestanden, die er uns aber nie bestimmt, und als die letzte Grenze des endlichen Wissens angegeben hat. Er weiß es, daß er nie etwas wird sagen können, worauf nicht schon Kant, unmitttelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler, gedeutet habe. Er überläßt es den zukünftigen Zeitaltern das Genie des Mannes zu ergründen, der von dem Standpunkte aus, auf welchem er die philosophierende Urtheilskraft fand, oft wie durch höhere Eingebung geleitet, sie so gewaltig gegen ihr letztes Ziel hinriß.«23 Die philosophische Urteilskraft, die Kant Fichtes Worten zufolge fand, ist nicht nur die, die ihn die Kritik der Urteilskraft schreiben ließ und dank derer die dritte Kritik das Bindeglied zwischen den beiden vorausgehenden Kritiken darstellt. Die philosophische Urteilskraft, die Kant fand, ist auch diejenige, die er in diesem Werk hauptsächlich darstellt. Für Kant war sie das letzte, was er im Gang seines Systembauens gefunden und 21 22 23

GA I 2, 363; SW I, 220. GA I 2, 363; SW I, 220. GA I 2, 110; SW I, 30/31.

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II. Fichte · V. L. Waibel

gestaltet hat. Für Fichte ist sie, die nun gefunden ist, das erste, mit dem er seine Philosophie beginnt. Es ist zwar nicht ohne weiteres ersichtlich, daß die Urteilskraft Anfang und Ziel der Konzeption der Wissenschaftslehre darstellt. Die zentrale These dieses Beitrags besteht jedoch darin, genau dies aus reflektierender Distanz zu zeigen, obwohl Fichte dies seinerseits nicht hinreichend deutlich herauszuarbeiten vermochte. Fichte sucht bekanntlich mit seiner frühen Wissenschaftslehre, die Einheit der theoretischen und der praktischen Vernunft und das eine Prinzip der Philosophie zu bestimmen. Studiert man die frühe Fassung der Wissenschaftslehre von 1794/95 sowie die nachfolgende Konzeption der Wissenschaftslehre nova methodo genauer, so ist zu bemerken, daß die Wissenschaftslehre nicht, wie zu erwarten, eine Synthese der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft darstellt, sondern als Synthese der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft konzipiert ist. Genauerhin zeigt sich nämlich, daß Fichte mit der theoretischen Wissenschaftslehre eine Theorie der Einbildungskraft und des logischen Raums möglicher, durch die Einbildungskraft konzipierbarer Vorstellungen auf den Weg bringt und mit der praktischen Philosophie eine erste explizite Theorie der praktischen Intentionalität formuliert, die zugleich als eine allgemeine Theorie der Urteilskraft angesehen werden kann. Fragt man sich, was praktische Philosophie mit Intentionalität zu tun hat, so ist eine erste Antwort in Fichtes Konzeption einer allgemeinen praktischen Philosophie zu finden. Mit Nachdruck streicht er den ganz neuen Charakter des Praktischen in seinem Brief aus Zürich vom 2. April 1794 an Karl August Böttiger in Weimar heraus: »NB. allgemeine, weil in meinem System die praktische Philosophie ganz etwas andres wird, als sie bisher war«.24 Der zentrale Begriff der allgemeinen praktischen Philosophie ist der des Strebens, die Fichte als eine Kausalität bezeichnet, die keine ist. Die Kausalität, die keine ist, erweist sich als causa finalis, als Finalursache also, die alles vernünftige Handeln des Subjekts leitet. Das Streben ist somit Fichtes Terminus für das, was auch als causa finalis oder in moderner Terminologie als praktische Intentionalität bezeichnet werden kann. Das Ziel des absoluten Ich Fichtes besteht in der Aufgabe, Identität mit sich herzustellen, das heißt, die Idee des absoluten Ich ist reine Vernunft, mit dem das endliche Ich identisch werden soll. Erst in dem Zu24

Brief von Fichte an Karl August Böttiger, Zürich, 2. April 1794, in: GA III 2, 89–94, 92.

Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«

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sammenhang greifen auch sittliche Implikationen der praktischen Vernunft. Eine Synthese der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft ist die frühe Wissenschaftslehre nun deshalb, weil sie sich im theoretischen Teil mit der Konstitution von Anschauung und Begriff beschäftigt, den zwei Erkenntnisquellen der Kantischen Kritik. Im allgemeinen praktischen Teil wird Kants Prinzip der Zweckmäßigkeit als eine Strebenslehre ausgearbeitet, die offenkundig Kants Prinzip der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft verallgemeinert zu einer Theorie der praktischen Intentionalität. Fichte nennt nun seine Methode, die er vor dem Eintritt in die Konstruktion der Einbildungskraft skizziert, eine analytisch-synthetische Methode. Position, Negation, Quantifizierbarkeit und Relationalität, die mit den drei Grundsätzen dargestellt sind, stellen die Basis für alle weiteren begrifflichen Entwicklungen im Rahmen der Darstellung des ursprünglichen Systems des Geistes bereit. Fichtes methodologisches Kalkül, das seinen Begriff von Deduktion bestimmt, besteht darin, den jeweils zuletzt erreichten Satz im Licht der bereits entwickelten Begriffe zu analysieren und begriffliche Widersprüche darin aufzudecken. Es zeigt sich dabei, daß die Widersprüche nur Scheinwidersprüche sind, die daraus resultieren, daß die bis dahin ins Spiel gebrachten Begriffe für die nächste Stufe der Differenzierung nicht ausreichen. Die Auflösung der Widersprüche soll durch eine Synthese erreicht werden, indem durch Reflexion ein neuer, noch nicht im Spiel befindlicher Begriff gesucht wird, der sich als geeignet erweist, die Widersprüche dadurch aufzulösen, daß der Gesamtzusammenhang begrifflich präziser gefaßt wird als zuvor. Dieses Verfahren läßt sich als eine sukzessive begriffliche Differenzierung fassen, deren Ziel im Fall der Konstruktion der Einbildungskraft darin liegt, den vertrauten Gegensatz von Ich und Nicht-Ich, wie er in der gleichfalls vertrauten Tatsache der Anschauungen der Gegenstände der Erfahrung durch das anschauende Subjekt vorkommt, in einem systematischen Zusammenhang als notwendig zu rekonstruieren. Der Konstruktionsweg, den Fichte im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre mit der Konstruktion der Einbildungskraft zurücklegt, läßt sich durch ein Bild verdeutlichen, das er in einer eingeschobenen Bemerkung gebraucht. Er vergleicht darin das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich mit dem von Licht und Finsternis in einem kontinuierlichen Raum. Die Frage, wo Licht in Finsternis übergehe, kann mit dem Hinweis auf das Zugleichsein von Licht und Finsternis beantwortet werden. Löst man die

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II. Fichte · V. L. Waibel

begriffliche Ungereimtheit des Zugleichseins von Licht und Finsternis auf, so führt nach Fichtes methodologischer Sprachregelung die Auflösung des »Widerspruchs« von Licht und Finsternis zu einer begrifflichen »Synthesis«, dem Begriff der Dämmerung. Daran schließt sich die erneute Frage an, wo Licht in Dämmerung und Dämmerung in Finsternis übergehe, und so fort. Die Linie vom Licht zur Finsternis kann als eine Vielzahl von Unterteilungen gedacht werden, die die Zwischenräume immer näher aneinanderrücken lassen und so durch viele kleine Schritte ein allmählicher Übergang vom Licht zur Finsternis nachvollziehbar wird.25 Genau so, wie in diesem Beispiel die Untergliederung nicht in einem sukzessiven Weg vom Licht zur Finsternis geschieht, sondern wechselweise bald am einen, bald am anderen Ende neue Begriffsglieder eingefügt werden, ist auch Fichtes Weg der Konstruktion des in seinem Gebrauch bekannten Faktums der Einbildungskraft eine fortlaufende Ausdifferenzierung zwischen Ich und Nicht-Ich. Die fortlaufende Ausdifferenzierung verleiht der Darstellung den im wesentlichen synthetischen Charakter, der durch produktive Reflexion zustandekommt. Die Pointe der Schlußsynthesis besteht darin, daß sie den ganzen Umfang der Spanne zwischen Ich und Nicht-Ich synthetisch umgreift. Mit dieser Analogie ist einer der Kalküle der Konstruktion, nämlich der der Konstruktion der Einbildungskraft bezeichnet. Sowohl die Deduktion der Vorstellung als auch der gesamte praktische Teil der Wissenschaftslehre mit seinem apagogischen und genetischen Beweis des Strebens und den übrigen Teilen folgen einem modifizierten Kalkül der Konstruktion, die hier aus Gründen des Umfangs nur angedeutet und nicht ausführlich entwickelt werden. Es fällt das Sprachspiel des aufzudeckenden Widerspruchs und seiner Entlarvung als Schein durch Einbeziehung begrifflicher Differenzierungen, die zugleich den Synthesisschritt darstellen, hinweg. Der Gang ist nun im direkten Sinn ein synthetischer Gang, den man im Gegensatz zur in sich verzahnten Deduktion der Einbildungskraft zugleich als linear auf- oder absteigend bezeichnen kann. Fichte kann freilich vorgehalten werden, daß er dem Leser nicht deutlich offenlegt, wodurch die einzelnen Schritte des Deduktionskalküls gerechtfertigt sind. Dem in sich verzahnten Deduktionsgang kommt der entscheidende Vorzug zu, ein angemesseneres Analogon zum Organismus des darzustellenden ursprünglichen Systems des Geistes zu bieten als die linear zu bezeichnende Deduktion.

25

Vgl. GA I 2, 301; SW I, 144/145.

Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«

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Sieht man von dieser Frage der Form der Deduktionen ab und wendet sich ihrem Inhalt zu, so läßt sich zeigen, daß der Gang der Deduktion von Fichte offenkundig als eine Aufstufung der Momente der Freiheit konzipiert ist. Steht am Anfang das absolute, aber zugleich leere Ich mit seiner noch gänzlich unbestimmten Freiheit und Spontaneität, so realisiert sich mit dem theoretischen Gang der Konstruktion der Einbildungskraft zugleich die Möglichkeit der Spontaneität des anschauenden Verstandesdenkens. Im Rahmen der Deduktion der Vorstellung wird die abstrahierende Vernunft der Urteilskraft entfaltet. Im praktischen Teil wird zunächst das Streben des handelnden Ich oder seine Intentionalität als solche entwickelt. Diese allgemeine praktische Intentionalität, von der Fichte zeigen will, daß sie jede Handlung eines vernünftigen Wesens begleitet, trifft am Ende der Grundlage mit dem Plan des Ganzen der Wissenschaftslehre in der Weise zusammen, als dort mit der Deduktion der Idee dasjenige Moment eingeholt ist, das jeden Systementwurf als einen zweckvollen Ganzen bestimmt. Kant zeigt in der von Fichte so hymnisch gelobten Kritik der Urteilskraft bekanntlich, daß sich jeder Zweck, jede zweckmäßige Handlung, jede Zweckmäßigkeit in der Natur explizit oder implizit auf einen focus imaginarius, eine Idee hin organisiert. Dies ist es, was Fichte mit der Wissenschaftslehre als pragmatischer Geschichtsschreibung am Ende einzuholen sucht. Mit der Deduktion der Idee am Ende der Grundlage ist auch die Möglichkeit sittlichen Handelns begründet, deren Ausführung freilich nicht bloß als allgemeine, sondern als besondere, weil sittliche praktische Philosophie, die Grundlage fortzuführen hat. Diese Aufstufung der Bestimmungen der Freiheit soll im folgenden näher ausgewiesen werden.

3. Das Schweben der Einbildungskraft zwischen Freiheit und Notwendigkeit Die begriffliche Entwicklung des Faktums der Einbildungskraft bald am einen, bald am anderen Ende der Relation von Ich und Nicht-Ich ist dadurch gerechtfertigt, daß der Deduktionsgang ein Austrag der Spannung idealistisch subjektiver und realistisch materialer Theorieansprüche darstellt. Fichtes eigene Position des kritischen Idealismus versteht sich als produktive Synthese der je vereinseitigenden bloß idealistischen oder realistischen Explikation der die Erkenntnis begründenden Anschauung. Je für sich genommen, bieten der Realismus und der Idealismus rational begründete Erklärungsmodelle der Anschauung, deren theoretische Ver-

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II. Fichte · V. L. Waibel

einseitigungen Fichte durch die intendierte Synthese auszugleichen sucht. In idealistischer Perspektive ist die Anschauung von etwas eine Bestimmung des bewußten und denkenden Subjekts. Folglich faßt Fichte die Anschauung in dieser Hinsicht durch die Relation der Substanzialität. Dank seiner Freiheit und Spontaneität ist das Ich im Hinblick auf seine Vorstellungen eine Substanz, deren Akzidenzien die je konkreten Bestimmungen sind. Sofern das Subjekt im konkreten Bezug zu seinem Gegenstand der Anschauung untersucht wird, liegt die Annahme nahe, daß das Subjekt durch den Gegenstand affiziert wird, also in einer kausalen Relation zu ihm steht, sofern der Gegenstand als Ursache eine Wirkung im Subjekt erzeugt, die Grund der Ermöglichung der Anschauung ist. Diese beiden Grundoptionen tragen das konstruktive Gerüst des Gedankenweges der theoretischen Wissenschaftslehre und werden begrifflich immer mehr ausdifferenziert. Der Weg der Selbstkonstruktion der Einbildungskraft nimmt seinen Ausgang von der grundsätzlichen Beziehbarkeit von Ich und Nicht-Ich, die bereits in § 3 erwiesen wurde. Daraus hervorgehend lautet der theoretische Grundsatz: »das Ich sezt sich selbst, als beschränkt durch das NichtIch«.26 Substanzialität als Relation des Ich mit sich und Kausalität als Relation von Ich und Nicht-Ich faßt Fichte als Wechselbestimmungen auf, in denen im Gegensatz zum allgemeinen Begriff einer Wechselbestimmung eine festgelegte Ordnung der Relate vorliegt. Fichte unterscheidet von den beiden fraglichen Relationen noch »unabhängige Tätigkeiten«, seitens des Ich die Spontaneität der Einbildungskraft, seitens des Nicht-Ich dasjenige, was unter dem Begriff des »Anstoßes« berühmt wurde. Alle Verhältnisse, die bloß durch das Ich, das Mentale bestimmt sind, nennt Fichte quantitativ, während durch den Anstoß und das durch ihn bestimmte Kausalverhältnis eine qualitative Differenz eröffnet wird, durch den etwas seinem stofflichen Ursprung nach gänzlich anderes, Fremdartiges in das Ich hineingetragen wird. Wie bei Kant wird damit auch bei Fichte eine Differenz von Form und Materie in den Gang der Konstruktion einbezogen. Es zeigt sich nämlich, daß auch für Fichte nur die Materie des Anstoßes und der nachfolgenden Kausalrelation es ist, die etwas Fremdartiges an das Ich herantragen kann, während die Form, in der dies geschieht, dem Ich zu eigen ist.

26

GA I 2, 285; SW I, 126.

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Die Form der Kausalität nennt Fichte ein »Übertragen«,27 die Form der Substanzialität ist ein Zulassen des Nicht-Ich oder, wie Fichte auch sagt, ein »Entäußern« des Ich,28 indem das an sich bloß als selbsttätig betrachtete Ich dem in anderer Weise Seienden, also dem das Bewußtsein transzendierenden Nicht-Ich Raum schafft. Die bloße Spontaneität ist folglich die Materie des Ich und der Substanzialität, während die Materie des Anstoßes und der Kausalität ein Äquivalent zu Kants gegebenem Mannigfaltigen darstellt. Fichtes Charakterisierungen der Wechselbeziehung von unabhängiger Tätigkeit und ihren Wechseln der Kausalität und Substanzialität und ihre Form-Materie-Differenzen bezeichnen die Grundelemente, die die nachfolgenden sukzessiven Synthesisschritte tragen. In diesen Synthesen werden Form und Materie von unabhängiger Tätigkeit und die Wechselbestimmungen von Kausalität und Substanzialität zunächst separat betrachtet und dann in ihrem Zusammenspiel untersucht. Schließlich werden die beiden neuen Synthesen der unabhängigen Tätigkeit und des Wechsels selbst noch einmal in einer Schlußsynthese zusammengefaßt. Fichte führt dies zuerst im kausalen Verhältnis von Nicht-Ich und Ich durch und anschließend am Substanzialitätsverhältnis des freien, unbestimmten Ich mit dem bestimmten Ich. Mit diesen Synthesen tritt die Struktur des Bewußtseins als ein stetiges Übergehen hervor, das zugleich ein gegenseitiges Ineinandergreifen der im Wechsel befindlichen Momente erlaubt. Fichtes Wortwahl des »Übergehens« einerseits, des »Eingreifens« andererseits, das im wechselseitigen Zusammenwirken zu einem Kreislauf der mentalen Handlungen führt, spiegelt die unabdingbare Linearität des Bewußtseins in der Sukzession der Zeit einerseits als auch ein Vor- und Zurückgreifen, ein Festhalten einzelner Momente im Ablauf der Zeit andererseits wider. Die Synthesen bezüglich der Kausalität von Ich und Nicht-Ich zeigen, wie ein auf das Objekt des Anschauens bezogenes Handeln des Geistes zu denken ist. Trotz des »wesentlichen Entgegenseyns«, wie Fichte den qualitativen Gegensatz der Materie des Objekts und der Form des Subjekts bezeichnet, und der Kausalität von Nicht-Ich und Ich, die Fichte nun als »Vergehen durch Entstehen« beschreibt, nämlich als »Vergehen« des gänzlich Fremden durch ein »Entstehen« des mental zugeeigneten Stoffes, kommt so die Einheit von Realität und Idealität auf den Weg.29 27 28 29

GA I 2, 315; SW I, 162. GA I 2, 317; SW I, 164/165. GA I 2, 329; SW I, 179.

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II. Fichte · V. L. Waibel

Diese Einheit ist eine solche von Objekt und Subjekt, die im Anschauen untrennbar aufeinander verweisen, dennoch aber nur eine vorläufige Einheit im Gang der Rekonstruktion der formalen Struktur der Anschauung darstellen, weil sie zwar im Paradigma des Bewußtseins, also quantitativ und nicht bloß qualitativ als einfacher Affektionsmechanismus, aber doch erst als Realismus und des notwendigen Bestimmtseins entwickelt ist. Die letzten Synthesen haben also zu zeigen, wie die Anschauung im Paradigma des quantitativen Idealismus zu verstehen ist. Das Zulassen eines Nicht-Ich, eines Objekts im Ich ist bereits als eine Form der Entäußerung bezeichnet worden. Um dies nun genauer zu explizieren, führt Fichte den Begriff der Sphäre ein, die in einer Perspektive bloß von der Tätigkeit des Ich erfüllt ist; in anderer Perspektive schließt das Ich etwas von dieser Sphäre aus, es macht sich durch diesen Ausschluß bestimmbar. Die Bestimmbarkeit des Ich ist aus subjektiver Perspektive die Ermöglichungsbedingung einer fremdartigen Materie im Ich. Es ist dies ein Akt der Freiheit des Subjekts, sich zu öffnen für eine äußere Bestimmung, sich bestimmbar zu machen für anderes. Was in realistischer Hinsicht noch als Einheit von Subjekt und Objekt behandelt wurde, wandelt sich nun zur Einheit eines Subjektiven und Objektiven. Durch das Moment der Bestimmbarkeit des Subjekts tritt der Charakter der bloßen, gänzlich unbestimmten Tätigkeit der Spontaneität in einem neuen Licht in den Blick. Die Selbsttätigkeit fordert nämlich stets Bestimmung durch sich selbst, wodurch die Bestimmbarkeit zu einer Bestimmung festgelegt wird. Aber die Bestimmbarkeit fordert zugleich die Aufhebung jeder Bestimmung, um der Bestimmbarkeit und der Freiheit erneut Raum zu schaffen. Fichte faßt daher zusammen: »Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jezt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jezt, zurükgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft. Hierdurch wird nun völlig vereinigt Zusammentreffen, und Zusammenfassen. Das Zusammentreffen, oder die Grenze ist selbst ein Produkt des Auffassenden im, und zum Auffassen«.30 30

GA I 2, 359; SW I, 215.

Das »System der Freiheit« und die »Feßeln der Dinge«

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Wenig später nennt Fichte dann die »Einbildungskraft […] ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt«, ferner spricht er vom »Schweben der Einbildungskraft zwischen unvereinbaren« und betont deren »Widerstreit […] mit sich selbst«.31 Soweit die äußerst verkürzte Nachzeichnung von Fichtes Konstruktion der Einbildungskraft.32 Fichtes Konstruktion der Einbildungskraft ist deswegen eine künstliche, weil sie nicht reale Übertragungswege der Realität des Ich auf das Nicht-Ich ausweist, sondern die bekannten realistischen und idealistischen Theoriemodelle der Anschauung als Affektionslehre und als bloße Bewußtseinsimmanenz aufnimmt und deren Synthese als Einheit von Notwendigkeit und Freiheit ausführt, wobei Freiheit hier die Spontaneitätsleistung des Subjekts im Verein mit der notwendigen Setzung eines Gegenstandes der Anschauung darstellt. Hiermit ist die Tätigkeit der Einbildungskraft als eine wesentliche Konstitutionsleistung dessen ausgewiesen, was mit Kant im weitesten Sinne das gegenstandsbezogene Denken des Verstandes genannt werden darf. Der entscheidende Unterschied zu Kant besteht für Fichte freilich darin, die Anschauung weit über Kant hinaus als Leistung der Spontaneität entdeckt zu haben, die nur zu einem geringen Teil auch der passiven Rezeptivität angehört.

4. Das Denkbare der Vorstellung als Möglichkeitsraum der Freiheit Nachdem nun Fichte gezeigt hat, wie eine Anschauung überhaupt als Gehalt des Bewußtseins des Ich zu rekonstruieren ist, ist sein nächster Schritt die »Deduktion der Vorstellung«. Da die theoretische Wissenschaftslehre bestimmt ist durch die Konstruktion der Einbildungskraft durch Einbildungskraft, muß die ursprünglich auf empirische Anschauung gerichtete Tätigkeit der Einbildungskraft auch eine Dimension der vom empirischen Gegenstand absehenden Konstitutionsleistung erbringen können. In der Differenz der auf Empirie bezogenen und der von ihr absehenden Einbildungskraft manifestiert sich auch annäherungsweise 31

GA I 2, 360; SW I, 217. Eine ausführliche Rekonstruktion von Fichtes Konstruktion des Schwebens der Einbildungskraft findet sich in Violetta L. Waibel: Hölderlin und Fichte. 1794–1800. Paderborn 2000, 301–317. – Vgl. ferner Lore Hühn: Das Schweben der Einbildungskraft (1997). Eine frühromantische Metapher in Rücksicht auf Fichte, in: Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie. Fichte-Studien 12, 127–151. 32

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II. Fichte · V. L. Waibel

diejenige grundlegende Differenz von Anschauen und Denken, die in Kants kritischem Werk bekanntlich von weitreichender Bedeutung ist. Fichte übergeht freilich Kants These der irreduziblen Zweistämmigkeit von Anschauen und Denken, ohne diese explizit zu affirmieren oder zu widerlegen. Der Grund könnte darin liegen, daß Fichte mit Kant das Datenmaterial der Anschauung als etwas dem Subjekt Gegebenes ansieht, überdies aber sowohl Anschauung als auch Denken Fichte zufolge hochkomplexe Gebilde einer Wechselbestimmung von Notwendigkeit und Freiheit, von Bestimmtsein und Spontaneität darstellen. Auch glaubt Fichte, daß die reinen Formen der Sinnlichkeit, also Raum und Zeit, der Grundlegung der theoretischen und praktischen Wissenschaftslehre nachzustellen sind. So finden sie sich schließlich erst am Ende des Grundrisses entwickelt, während Kant seine Theorie von Raum und Zeit mit gutem Grund an den Anfang der ersten Kritik stellt.33 Fichtes Preis ist, daß nur das Ich Gewißheit seiner Realität in Anspruch nehmen kann, während an die Realität der äußeren empirischen Welt nur ein Glaube stattfinden kann. Kant behauptet hingegen die gleiche Verbindlichkeit der Bestimmungen im inneren und äußeren Sinn sowie deren unhintergehbare wechselseitige Bedingtheit. Fichte trägt die »Deduktion der Vorstellung« in elf von einander wohl unterschiedenen Schritten vor, die eine lineare Aufstufung vom konkreten wirklichkeitsbezogenen zum abstrakten möglichkeitskonstituierenden Denken darstellen. Selbstredend muß sich der Einsatz der Spontaneitätsleistung des Subjekts und sein Entschluß zur freien Handlung mit der Zunahme des Abstraktionsgrades entsprechend erhöhen. Die elf Schritte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen. 1) Die Anschauung, hervorgebracht im Schweben der Einbildungskraft, muß von anderen kognitiven Leistungen der Subjektivität unterscheidbar sein. 2) Folglich muß auch die Anschauung als eine reflektierte von der bloßen, unreflektierten Anschauung unterschieden werden können, was durch die Einbildungskraft geschieht. 3) Unreflektiert beruht die Anschauung auf dem bloßen Anstoß, während deren Reflexion auf Spontaneität beruht und, wie die An-

33

Vgl. zu dieser Frage Violetta L. Waibel: La reconstruction de la théorie kantienne de l’espace et du temps dans le ›Précis de ce qui est propre à la Doctrine de la Science‹ de Fichte, in: Années 1781–1801. Kant. Critique de la Raison Pure. Vingt Ans de Réception. Actes du 5e Congrès international de la Société d’études kantiennes de langue française. Montréal, 27–30 Septembre 2001. Hrsg. v. Claude Piché. Paris (Vrin) 2002, 213–223.

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schauung selbst, ein ursprüngliches Faktum des natürlichen Bewußtseins darstellt. Dieses stellt zugleich eine konstitutive Bedingung der Möglichkeit aller philosophischen Reflexion dar.34 Die Reflexion geschieht durch eine Fixierung der Anschauung im Begriff durch den Verstand. Fichte kann daher sagen, daß die Einbildungskraft durch ihre Tätigkeit im Schweben zwar alle Realität / Wirklichkeit hervorbringe, aber die Realität ist nur im Verstand, weil die Anschauung im bloßen Schweben flüchtig ist, während erst der Verstand sie im Begriff festzuhalten vermag. Somit kann das Anschauende als Anschauendes und das Angeschaute als Angeschautes begriffen werden, wobei für Fichte ebenso wie für Kant gilt, daß sie sich wechselseitig bedingen und das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann. Trotz des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Subjekt und Objekt ist dem Subjekt eine Tätigkeit überhaupt seiner Spontaneität zuzuschreiben, die Fichte als Real-Grund aller kognitiven Akte bezeichnet, während die objektive Tätigkeit bloß bedingt ist und von Fichte hier als Ideal-Grund bezeichnet wird. Die Unterscheidung beider Tätigkeiten ist nun durch eine modale Komponente möglich. Die Tätigkeit überhaupt des Subjekts erfährt durch die objektive Tätigkeit eine Einschränkung, die als Zwang gefühlt wird und dieser, weil er nicht auf freier Spontaneität beruht, Notwendigkeit bei sich führt. Das Schweben der Einbildungskraft hingegen ist frei im Auffassen oder Nichtauffassen von etwas. Der modale Zustand der im Schweben begriffenen Einbildungskraft ist daher der der Möglichkeit. Diese modalen Differenzen konstituieren im Bewußtsein die Differenz von Anschauendem und Angeschautem. Die Tätigkeit der Selbstbestimmung ist zugleich die Bestimmung eines fixierten Produkts der Einbildungskraft im Verstand und ist ein Denken, das durch die Vernunft erfolgt. Denken ist ursprünglich nicht möglich ohne angeschaute Objekte und hängt in sofern von der Kausalität der das Subjekt affizierenden Objekte ab. Die Urteilskraft hat die freie Option, über die im Verstand fixierten Objekte zu reflektieren oder von ihnen zu abstrahieren. Mit dieser Option steht der Verstand und die Urteilskraft im Wechselverhältnis der Möglichkeit, Objekte oder auch nur ihre Denkbarkeit zu denken. Das als denkbar Beurteilte erweist sich als letzte Ursache dessen, was

4)

5)

6)

7)

8)

34

Vgl. GA I 2, 373; SW I, 232.

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II. Fichte · V. L. Waibel

als Anschauung gedacht, oder eben dessen, was in der Konstruktion der Einbildungskraft durch Einbildungskraft hervorgebracht werden kann. 9) In der Denkbarkeit liegt die Möglichkeit, von allem bestimmten Objekt oder von jedem Objekt überhaupt zu abstrahieren. Dies erklärt Fichte nun als ein Schweben der Einbildungskraft zwischen Objekt und Nicht-Objekt. Ihre Tätigkeit dabei wird fixiert, kein Objekt zu haben, und zwar durch eine Selbstvernichtung der Einbildungskraft, in der sie sich selbst zusieht. Um eine Selbstvernichtung handelt es sich deswegen, weil die Einbildungskraft eigentlich und ursprünglich das anschauende Vermögen ist. In der so gestifteten bloßen Abstraktion artikulieren sich die bloßen Regeln der reinen Vernunft. Hierbei wird von der eigentlichen Gegenstandstätigkeit der Einbildungskraft abgesehen, wie es auch Kant in der Kritik der reinen Vernunft vorgeführt habe, ohne auf die Möglichkeit der abstrahierenden Reflexion eigens und ausführlich reflektiert zu haben. In der so ermöglichten Unterscheidung von reflektiertem Objekt und reflektiertem Subjekt liegt die Quelle alles Selbstbewußtseins. 10) Hierin liegt auch der Grund der ursprünglichen Leere des Ich als reinem Selbstbewußtsein, das an sich schlechthin unbestimmt, aber zugleich Bedingung alles Bestimmten ist. Reflektiert man auf die Selbstbestimmung des Ich, so wird das Nicht-Ich unendlich, reflektiert man auf das Nicht-Ich, wird das Ich unendlich. Ohne sich näher zu erklären, sieht Fichte darin den Grund für Kants Antinomien-Problematik. 11) Der Kreislauf von Fichtes Reflexion schließt sich hin zum Ich mit dem Hinweis, daß letztlich alle Bestimmungen des Nicht-Ich nichts anderes als Bestimmungen des Ich und im Bewußtsein durch das Ich sind. Mit dem modifizierten Kalkül der linearen Aufstufung vom konkreten zum abstrakten Anschauen und Denken steht in der »Deduktion der Vorstellung« so etwas wie eine idealisierte, aber als wirklich vorstellbare Geschichte des Selbstbewußtseins im Blick, gegen die sich die künstliche Konstruktion der Einbildungskraft offenkundig sperrt. Die lineare Entwicklung findet ihre Fortsetzung im praktischen Teil der Grundlage, wie nun zu zeigen ist.

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5. Die Intentionalität vernünftiger Freiheit Indem Fichte nicht nur die gegenstandskonstituierende Tätigkeit der Einbildungskraft, sondern auch die Möglichkeit der Selbstkonstruktion der Einbildungskraft in der Deduktion der Vorstellung reflektiert, ist mit dem theoretischen Teil der Wissenschaftslehre der Umfang ausgemessen, der durch den Satz »das Ich sezt sich selbst, als beschränkt durch das NichtIch« festgelegt ist.35 Seine Begründung erfährt das theoretische Vermögen, so Fichte, allerdings erst durch die Vollendung des praktischen Vermögens, dessen Grundsatz lautet: »Das Ich sezt das Nicht-Ich, als beschränkt durch das Ich«.36 Wie bekannt, ist der praktische Teil der Wissenschaftslehre weit davon entfernt, ein Äquivalent zu Kants zweiter Kritik der praktischen Vernunft oder gar der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten darzustellen. Wie erwähnt, gab Fichte noch aus Zürich vor Antritt seiner Professur in Jena bekannt, daß der Begriff einer allgemeinen praktischen Wissenschaftslehre etwas anderes bedeute als der übliche Sprachgebrauch erwarten lasse.37 In der Tat hat Fichte mit dem praktischen Teil und insbesondere im § 5 ein Theorieelement grundgelegt, das bei Kant in der von Fichte gebrauchten allgemeinen Bedeutung nicht zu finden ist. Gemeint ist der Sachzusammenhang, den Fichte im praktischen Teil der Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie unter dem Stichwort der »StrebungsKategorien der Urtheilskraft« behandelt.38 Entwicklungsgeschichtlich muß es zunächst verblüffen, daß Fichte die »StrebungsKategorien« aus weitreichenden und durch ganz andere Intentionen geleiteten Reflexionen über Kants Kritik der Urteilskraft gewinnt, wie am praktischen Teil der Eignen Meditationen über ElementarPhilosophie leicht zu ersehen ist. Berücksichtigt man aber, daß sich hinter Fichtes Überlegungen die Einsicht in die Gerichtetheit, also die Intentionalität aller kognitiven Leistungen des menschlichen Geistes verbirgt, auf die es eigens in der Begründung von Wissen zu reflektieren gilt, ist die Rekonstruktion von Kants dritter Kritik und ihrem Prinzip der Zweckmäßigkeit in generalisierender Absicht im Ausgang für das, was nach Fichte eine allgemeine praktische Wissenschaftslehre zu leisten hat, verständlich. Überdies verdanken sich bekanntlich schon nach Kant die in einer Idee zentrierten Zweckbestim35 36 37 38

GA I 2, 285/ SW I, 126. GA I 2, 285; SW I, 125. Vgl. oben Anmerkung 24. GA II 3, 246.

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II. Fichte · V. L. Waibel

mungen aller systemisch auf ein Ganzes bestimmbaren Zusammenhänge dem Begriff der Freiheit der praktischen Vernunft. Fichte entwickelt im praktischen Teil der Grundlage in genereller Weise den Gedanken, daß alle kognitiven Akte eines Subjekts nicht bloß in dem einen Bewußtsein einer reinen transzendentalen Apperzeption verbunden sind, sondern mehr noch durch einen Willen zu einem System der Vorstellungen verknüpfbar sind, auch wenn sie in der Praxis oft disparat bleiben. Von einem Willen darf und muß gesprochen werden, auch wenn Fichte dies hier noch nicht explizit tut, weil die Intentionalität auch mit dem Ziel eingeführt wird, die mit dem absoluten Ich geforderte Identität des Ich mit sich einzulösen. Fichte ist es zunächst wichtig zu zeigen, daß jede einzelne Handlung des Subjekts eine zweckgerichtete Handlung ist. Erst die zweckgerichteten Handlungen sind Handlungen eines vernünftigen Subjekts im eigentlichen Sinne. Vernunft heißt freilich noch nicht notwendig sittliche Vernunft. Die einzelnen Zwecke und zweckmäßigen Handlungen gilt es schließlich zu einem immer höheren Verbund der Zwecke zusammenzuschließen. Der eine Wille ist dabei Ausdruck der Normativität alles menschlichen Handelns, dessen Ideal in der Bestimmung der reinen Vernunft liegt. Während die Aufgabe der Begriffsschrift darin besteht, den Zweck der Wissenschaftslehre zu formulieren, nämlich die Darstellung des ursprünglichen Systems des Geistes zu bewerkstelligen, ist es Aufgabe des in Frage stehenden praktischen Teils der Wissenschaftslehre, die Prinzipien eines jeden Systems von Vorstellungen im Ideal vernünftiger Zweckbestimmung zu reflektieren und zur Darstellung zu bringen.39 Darüber hinaus soll in der allgemeinen praktischen Wissenschaftslehre gezeigt werden, wie über die bewußtseinsinterne Rekonstruktion von Anschauung und Denken im Schweben der Einbildungskraft und der Deduktion der Vorstellung hinaus der Bezug des Subjekts auf seine Objektwelt gedacht werden kann. Waren für den theoretischen Teil Kants Relationskategorien bereits subjektinterne Konstitutionsprinzipien zur Explikation der Möglichkeit von Erkenntnis, so wird im praktischen Teil die causa finalis nach ihren intentional bestimmenden Elementen untersucht und die entsprechenden Handlungsarten des Geistes entfaltet. Die hier von Fichte untersuchten Elemente sind Streben, Trieb, Gefühl, Glauben, Sehnen, Idee. Auffallend ist, daß der Begriff des Zwecks oder der causa finalis in der Grundlage kaum explizit gebraucht wird, was jedoch 39

Vgl. GA I 2, 424; SW I, 295.

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den diagnostizierten Zusammenhang keineswegs entkräftet, zumal von Zwecken im praktischen Teil der Eignen Meditationen und dann wieder ausdrücklich und häufig in der Wissenschaftslehre nova methodo und bereits in der Grundlage des Naturrechts in vergleichbarer Absicht gesprochen wird.40 Der systematisch zentrale Begriff ist in dem Zusammenhang zunächst der des Strebens, der der Zielpunkt der Deduktion ist, die zu zeigen hat, wie das absolute Ich das endliche, intelligente Ich zu bestimmen vermag, obwohl letzteres immer auch von den Gegenständen seiner Anschauung bestimmt ist. Das bloße Bestimmtsein des intelligenten Ich widerstreitet nach Fichte der eigentlichen Natur des Ich, die in der Freiheit der Spontaneität und Selbstbestimmtheit der Vernunft liegt. Daher muß das absolute Ich gemäß seiner Freiheit letzter Grund aller Vorstellungen sein und zwar in einer Weise, die über die im theoretischen Teil explizierten Zueignungsleistungen der kausalen Einwirkungen des vom Nicht-Ich ausgehenden Anstoßes auf das Ich durch das Schweben der Einbildungskraft hinausgehen. Es muß ein Grund im Ich liegen, der ihm erlaubt, bald dieses, bald jenes in seine Gedanken aufzufassen und auf es bald so und bald so zu reflektieren. Daß das Ich das Nicht-Ich unabhängig von seiner empirischen Gegebenheit bestimmen könne, hat zunächst seinen Grund, so Fichte, in der ursprünglichen Möglichkeit, außer der Setzung des Ich auch dessen Negation setzen zu können. Diese grundsätzliche Unterscheidungsmöglichkeit des Ich von anderem ist allerdings nicht möglich ohne die ursprüngliche Beziehung des Nicht-Ich auf das Ich, ohne also den Zwang, durch den das Ich aus seiner unbestimmten und daher unendlichen Identität mit sich selbst herauszutreten genötigt ist und sich damit bestimmt und verendlicht. Die unendliche und endliche Tätigkeit des Ich ist gleichartig in ihrer Verfaßtheit spontanen Handelns, wenngleich sie sich in ihrer Richtung eines in sich Zurückgehens des Ich und eines Hinausgehens zum Objekt unterscheiden. Die auf das Ich gerichtete Tätigkeit soll Ursache der auf das Ob-jekt, das »wider- oder gegenstehende[]«, wie Fichte auch sagt, gerichteten Tätigkeit sein,41 so daß jede endliche, konkrete Bestimmung zugleich eine Bestimmung des absoluten Ich ist. Damit wird 40 Das Wechselverhältnis von theoretischer und intentional praktischer Erkenntnis hat Günter Zöller in seiner verdienstvollen Untersuchung Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will. Cambrigde University Press 1998, in einem ausgreifenden Überblick über die Konzeptionen der Wissenschaftslehre von 1793–1800 untersucht. Zur Konzeption der Grundlage vgl. besonders 43–54. 41 Fichte, GA I 2, 393; SW I, 256.

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jede Bestimmung schon des intelligenten Ich, nicht bloß des moralischpraktischen, wie man erwarten könnte, am Maßstab des absoluten Ich gemessen. Das praktische Sollen ist damit nur ein besonderer Fall der allgemeinen Forderung, der Normativität vernünftigen Handelns genügen zu sollen. Daher ist mit jeder endlichen Bestimmung das Streben verbunden, das Sein des Ich als Vernunft auszufüllen. Das Ich als Idee der reinen Vernunft hat daher die Aufgabe, »über sich [zu] reflektiren, ob es wirklich alle Realität in sich fasse.«42 Durch die Reflexion auf das, was ist, und das, was sein soll, wird Wirklichkeit und notwendige Möglichkeit, konkrete Bestimmung und Abstraktion der theoretischen Wissenschaftslehre, ergänzt durch den normativen Maßstab der Vernunft, in ein Wechselverhältnis gebracht. Nach Einführung des Begriffs des Strebens betont Fichte, daß die Aufgabe der theoretischen Wissenschaftslehre in der Bestimmung des Erkennens, die der praktischen in der Bestimmung des Erkannten liege.43 Entsprechend der Zweiteiligkeit der Konstitution konkreter und abstrakter Gegenstände durch die Einbildungskraft sind auch die folgenden Schritte auf zwei Gegenstandsbereiche gerichtet. Das bloße Streben artikuliert sich dort, wo es bestimmt wird, als Trieb, der sich subjektiv als ein Gefühl äußert. Was Fichte ein Gefühl nennt, ist dasjenige, das die unterschiedliche Art der Gegenstände anzeigt. Diejenigen Anschauungen, bei denen wir auf eine Verursachung durch äußere Gegenstände schließen, werden von einem Gefühl des Gezwungenseins begleitet, das von anderer Art ist als dasjenige Gefühl, das die bloße Vorstellung derselben Gegenstände begleitet, sofern diese durch die erinnernde, reproduzierende Einbildungskraft erzeugt werden. Und das Gefühl des Gezwungenseins, der Notwendigkeit, das ein Sollen begleitet, ist wiederum von anderer Art. Die Spannung zwischen Sein und Sollen äußert sich, so Fichte, durch die Einsicht in das Unerfülltsein eines vorgestellten Zustandes, und ein Erfüllenmüssen, das sich als ein Sehnen artikuliert. Im Trieb äußert sich die Freiheit des Subjekts, die Aufmerksamkeit auf reale oder ideale Gegenstände zu richten oder von ihnen abzuwenden, so daß letztlich alle Vorstellungen des Subjekts von der Willensfreiheit abhängen. Darin äußert sich nach Fichte das Prinzip des Lebens, da das Vernunftwesen nicht fatalistisch in bloß abbildende, kausalmechanistisch verursachte Vorstellungen von den Gegebenheiten der Welt eingebunden ist, sondern die Welt seiner Vorstellungen zwar nicht nur aber auch im 42 43

GA I 2, 393; SW I, 256. Vgl. GA I 2, 416; SW I, 285.

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Begriff und im Entwurf seines Willens, der idealerweise ein vernünftiger ist, systematisch zu zentrieren vermag.

6. Zusammenfassende Betrachtung zu Fichtes frühem System der Freiheit Zunächst ist zu sagen, daß sich Fichtes methodologische Hilfestellungen an den Leser auf knappe Auskünfte beschränken, dem es überlassen bleibt, die Überzeugungskraft und das Leistungspotenzial von Fichtes systematischen und systemerzeugenden Konstruktionen zu beurteilen. Mit dem von Fichte generierten Begriff eines Systems der Vorstellungen, das idealerweise durch den vernünftigen Willen fokussiert ist, ist ein radikalerer Anspruch formuliert, als es die bloße Einheit des Bewußtseins in der transzendentalen Apperzeption nach dem Maßstab Kants zum Ausdruck bringt. Die durch den Willen bestimmte Einheit eines Systems der Vorstellungen stellt jede dieser Vorstellungen immer schon in einen normativen Zusammenhang, wie vernünftig oder unvernünftig dieser auch sein mag, während die Einheit eines reinen Selbstbewußtseins demgegenüber zunächst eine rein deskriptive Einheit aller Vorstellungen in einem Bewußtseins darstellt, zu der die Frage nach der Bestimmung des Menschen als normatives Prinzip ergänzend hinzutritt. Aus der Perspektive der generellen Forderung nach einer vernünftigen Welterkenntnis, die sich am Maßstab der durch Vernunft bestimmten Realität des reinen, absoluten Ich zu messen hat, ist es für Fichte daher auch sekundär, daß an die Realität der Gegenstände der Erfahrung kein anderer Gewißheitsgrad als ein Glaube stattfinden kann, der auf der ursprünglichen Differenzierungsfähigkeit des Subjekts beruht, die die Vorstellungen begleitenden Gefühle nach ihrer Art unterscheiden zu können. So läßt sich sagen, daß in Fichtes früher Wissenschaftslehre ganz allgemein begründet ist, was im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus als zentrale Frage, jedoch im Hinblick auf die künftige Physik, aufgeworfen wird: »Wie muß eine Welt für ein moralisches Wesen beschaffen seyn?«44 44

Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Mythologie der Vernunft. Hegels ›ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus‹. Hrsg. v. Christoph Jamme und Helmut Schneider. Frankfurt/M. 1984, 11.

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II. Fichte · V. L. Waibel

Die Antwort auf diese Frage läßt sich als pragmatische Geschichte des Geistes erzählen, deren unabdingbares Fundament die auf endliche Gegenstände gerichtete Einbildungskraft ist. Ihr Schweben gibt Freiraum, bald dieses, bald jenes aufzufassen, aber auch Objekte in deren Anwesenheit oder Abwesenheit zu denken, schließlich auch, von allem konkreten Gehalt absehend, sich selbst zu konstruieren. Dabei ist jede geistige Handlung nicht nur auf das eine und einigende Bewußtsein beziehbar, sondern auf einen Willen hin zu organisieren, der Ausdruck der Freiheit als einer normativ verfaßten Idee ist. Was Gehalt dieser Idee ist oder sein soll, scheint Fichte selbstevident zu sein, nämlich reine Vernunft, auf die hin und von der her alles menschliche Handeln seine Richtung erfährt oder erfahren soll. Darin jedenfalls ist nach Fichte die Grundlage dessen zu suchen, was sich in weiteren Bemühungen der Philosophie als die Welt für ein moralisches Wesen ausbuchstabieren läßt. Das System des Geistes, dessen Darstellung Fichte mit der Wissenschaftslehre versprach, ist in der Weise ein System der Freiheit, als Fichte zeigt, daß die vermeintliche bloße Abhängigkeit des Ich von der Gegenstandsbestimmung empirischer Erkenntnis schon ihrerseits auf einem hohen Maß an Sponaneitätsleistungen aufruht. Die Reflexion auf diejenige Spontaneität, die abstraktes Denken hervorzubringen vermag, zeigt überdies, wie das Subjekt Freiräume seines Denkens gewinnen kann. Die Offenlegung der Intentionalität alles menschlichen Handelns zeigt dem Vernunftsubjekt, wie es Herr im eigenen Hause werden kann, wie es die Freiräume des Denkens seinem Wollen zu unterstellen vermag. Dies geschieht mit Fichtes Worten dadurch, daß das Ich darauf reflektiert, ob es alle Realität umfasse, oder, modern ausgedrückt, daß es prüfe, ob die Handlungen des Subjekts intentional unter einen einigenden Willen subsumierbar sind und einem vernunftgeleiteten Lebensentwurf entsprechen. Sicher ist, daß sich dieser Befund nur einer geduldigen Lektüre erschließt, da Fichte vieles von dem nicht explizit gemacht hat, was die frühe Konzeption der Wissenschaftslehre intentional leitete und was schließlich als Leistungspotenzial dieser Theorie freizulegen ist. Nicht nur für Kants Kritik der Urteilskraft, auch für Fichtes Wissenschaftslehre gilt, daß sich ihr Autor von seinem philosophischen Genie und seiner Eingebung leiten ließ. Gleichwohl verdienen diese Werke, durch reflektierende Urteilskraft ein Stück weit eingeholt und dem Verständnis nähergebracht zu werden.

Günter Zöller Setzen hält Leib und Seele zusammen. Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft »Das Thier ist da, um den freien Geist in der Sinnenwelt zu tragen und mit ihr zu verbinden.« (82)1

1. Nicht-ichliches Ich und ichliches Nicht-Ich In Fichtes Grundlage des Naturrechts, die in zwei Teilen 1796 und 1797 erschien, geht der eigentlichen Rechtslehre, speziell der Staatsrechtslehre und deren Ergänzung durch das Familienrecht, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht, die Fichte in der Tradition des neuzeitlichen Naturrechts vorträgt, eine »allgemeine Rechtslehre« (12 Anm.) voraus, in der die Rechtsphilosophie einer Letztbegründung im Ausgang von Fichtes Erster Philosophie oder Wissenschaftslehre unterzogen wird. Dieser Zweiteilung des Werkes in die »Deduction« des »Rechtsbegriffs« und in dessen »systematische Anwendung« entsprechend, ist auch die Rezeption von Fichtes rechtsphilosophischem Hauptwerk im wesentlichen in zwei Richtungen verlaufen: als Diskussion seines Beitrags zur modernen Rechtslehre und politischen Philosophie von Hobbes bis Hegel und als Erörterung der transzendentalphilosophischen Dimension des Werkes. Während die erstgenannte Rezeptions- und Interpretationsrichtung vor allem die ältere Literatur zu Fichtes Naturrecht bestimmt hat,2 ist die letzt1 Verweise auf die Grundlage des Naturrechts sind parenthetisch in den fortlaufenden Text eingefügt. Zugrundeliegt die Seitenzählung und Textgestalt des Werkes in Johann Gottlieb Fichtes Sämmtliche Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, 8 Bde. Berlin 1845–46, Bd. 3, nachgedruckt als Fichtes Werke, 11 Bde., Berlin and New York 1971, Bd. 3. Hier: S. 82. Alle anderen Werke Fichtes werden zitiert nach J. G. Fichte-Gesamtausgabe. Hrsg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. abgekürzt als »GA«, gefolgt von einer Kombination aus römischer und arabischer Zahl zur Angabe der Reihe bzw. des Bandes. 2 Ein jüngeres Beispiel dieser Forschungsrichtung zum Naturrecht ist Richard Schottky: Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert (Hobbes – Locke – Fichte). Mit einem Beitrag zum Problem der Gewaltenteilung bei Rousseau und Fichte. Amsterdam/Atlanta 1995. Frühere Studien in dieser Orientierung (bis in die 1960er Jahre) sind angegeben in der Bibliographie von Manfred Zahn in Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1979, 391–396.

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genannte Perspektive auf das Werk insbesondere in jüngerer Zeit gepflegt worden.3 Doch hat es in den letzten Jahren auch Arbeiten speziell zu Fichtes Naturrecht, zu seiner Rechtsphilosophie allgemein und zu seiner Sozialphilosophie insgesamt gegeben, die beide Aspekte des Naturrechts in die Betrachtung einbezogen haben.4 Die folgende Untersuchung gliedert sich in den transzendentalphilosophischen Interpretationsstrang von Fichtes Naturrecht ein und beschäftigt sich speziell mit jenen späteren Partien des allgemeinen, transzendentalphilosophischen Teils des Werkes, die textlich und systemtatisch zwischen der »Deduction des Begriffes vom Rechte« im engeren Sinne und der eigentlichen »Anwendung des Rechtsbegriffs« liegen und die »Deduction der Anwendbarkeit« des Rechtsbegriffs leisten sollen. Die Ausführungen Fichtes zu den allgemeinen materialen Bedingung der Möglichkeit für die Anwendung von Recht als Prinzip haben bislang deutlich weniger Interesse und Würdigung gefunden als die Deduktion des Rechtsbegriffs als solchem im Ersten Hauptstück von Fichtes Protophilosophie des Rechts. Genauerhin geht es im folgenden um Fichtes transzendentale Theorie des Leibes in den §§ 5 und 6 des Naturrechts als zentralem Bestandteil einer »reellen Philosophie« (6), die bestrebt ist, die allgemeinen formalen Bedingungen möglichen Bewußtseins wie seiner Gegenstände zu ergänzen um spezifische Aussagen über die Inhalte und Gegenstände solchen Bewußsteins. In dieser Hinsicht kann Fichtes Leiblehre als repräsentatives Exempel dienen für jenen im Frühidealismus verbreiteten Theorietyp, der Kantische, transzendentalphilosophische Methoden und Prinzipien – und damit die Konzeption des Systems der Vernunft – auf bislang unberücksichtigt gebliebene Gegenstandsbereiche ausweitet. Fichtes Behandlung des Leibes hat zwar in jüngster Zeit einige Aufmerksamkeit erfahren. Doch behandeln die bereits vorliegenden Arbeiten zumeist das einschlägige Material des Naturrechts im Zusammenhang 3

Siehe z. B. Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Die Deduktion der §§ 1–4 der »Grundlage des Naturrechts« und ihre Stellung in der Rechtsphilosophie. Hrsg. v. Michael Kahlo, Ernst A. Wolff und Rainer Zaczyk. Frankfurt/M. 1992. Die programmatische Grundlage für einen Großteil dieser Arbeit ist der Aufsatz über Fichtes philosophische Entdeckung der Interpersonalität von Reinhard Lauth: Le problème de l’interpersonalité chez J.G. Fichte, in: Archives de philosophie 35 (1962), 325–244. 4 Siehe z. B Hansjürgen Verweyen: Recht und Sittlichkeit in J. G. Fichtes Gesellschaftslehre. Freiburg/München 1975. Alain Renaut: Le système du droit. Philosophie et droit dans la pensée de Fichte. Paris 1986. Christian Maria Stadler: Freiheit in Gemeinschaft. Zum transzendentalphilosophischen Rechtsbegriff Johann Gottlieb Fichtes. Cuxhaven and Dartford 2000.

Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft

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von Fichtes anderen Schriften zur Wissenschaftslehre in der Jenaer Zeit – speziell der nurmehr in Vorlesungsnachschriften erhaltenen Wissenschaftslehre nova methodo (1796–99) – sowie dem zweiten Hauptwerk zur praktischen Philosophie aus jener Zeit, dem System der Sittenlehre von 1798.5 Dagegen konzentriert sich die vorliegende Untersuchung auf die transzendentale Somatologie im Naturrecht selbst, rekonstruiert deren argumentative Struktur und Hauptlehren und setzt diese auf textlicher und systematischer Ebene ins Verhältnis zu zentralen Lehrstücken von Fichtes Vorlesungen über Logik und Metaphysik nach Ernst Platners Philosophischen Aphorismen, die Fichte in jedem der acht Semester, in dem er in Jena las, als philosophische Einführungsveranstaltung abgehalten hat. In der argumentativen Architektonik des Naturrechts ist die Theorie der Leiblichkeit eng verknüpft mit der Theorie des Anderen (des anderen Vernunftwesens). Überdies ist das Naturrecht das Werk, in dem der Leib wie der Andere zuerst systematische philosophische Aufmerksamkeit erfahren haben – und dies nicht nur innerhalb von Fichtes Oeuvre sondern in der Philosophie überhaupt. In der Begrifflichkeit der Fichteschen Transzendentalphilosophie formuliert, sind der Leib und der Andere Synthesen von Ich und Nicht-Ich: Der Andere ist ein nicht-ichliches Ich, der Leib ein ichliches Nicht-Ich. In seiner Theorie der Leiblichkeit radikalisiert und transformiert Fichte das neuzeitliche philosophische Problem der Beziehung zwischen mentaler (geistiger) and physischer (körperlicher) Wirklichkeit durch die Fragestellung, wie denn das Ich überhaupt dazu kommt, einen eigenen Körper (Leib) anzunehmen, oder diesen zu »setzen«, und wie ein Körper beschaffen sein muß – als beschaffen zu denken ist –, um der Körper eines Ich zu sein und als ein solcher erkannt werden zu können. Für Fichte besteht das Problem nicht in der Möglichkeit der Beziehung distinkter Entitäten zueinander, sondern im ursprünglichen Zustandekommen der Relation wie der Relata.

5

Siehe insbesondere Ludwig Siep: Leiblichkeit bei Fichte, in: Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke. Würzburg 1993, 107–120. Virginia López-Domíngues: Die Idee des Leibes im Jenaer System, in: Fichte-Studien 16 (1999), 273–293. Günter Zöller: Leib, Materie und gemeinsames Wollen als Anwendungsbedingungen des Rechts, in: Fichtes Grundlage des Naturrechts. Hrsg. v. Jean Christophe Merle. Reihe Klassiker auslegen. Berlin 2001, 97–111. Für eine Erörterung von Fichtes Theorie des menschlichen Körpers im Zusammenhang von Kants philosophischer Biologie siehe Alain Renaut: Le système du droit, 201–221. Für eine Rekonstruktion von Fichtes philosophischer Biologie des Menschen siehe Reinhard Lauth: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1984, 140–147.

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2. Das Ich und die Sinnenwelt Fichtes Theorie der Leiblichkeit im Naturrecht bildet einen wesentlichen Bestandteil des umfassenden Projekts in den Eingangskapiteln des Werkes, den »Begriff des Rechts« (8) als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Selbstbewußtsein nachzuweisen. Der Leib wird im Naturrecht eingeführt im systematischen Zusammenhang des Nachweises der Notwendigkeit der »Anwendbarkeit« (56) des Rechtsbegriffs. Angesichts von Fichtes allgemeinem anti-formalistischen Projekt einer »reellen«, inhaltlich spezifischen Philosophie und seines Verfahrens insgesamt einer künstlichen Rekonstruktion der notwendigen Bedingungen gewöhnlichen Bewußtseins und seiner Gegenstandswelt, kann dies nicht bedeuten, daß ein zuvor etablierter Inbegriff von Begriffen und Prinzipien nun nachträglich in einem Gegenstandsbereich zur Anwendung kommt, so, als ob etwas äußerlich Gegebenes unter vorliegende Regeln zu subsumieren wäre. Vielmehr unternimmt Fichte, wenn er die Möglichkeit der Anwendung des Rechtsbegriffs diskutiert, eine notwendige Erweiterung der Untersuchung in eine bislang in der Argumentation unberücksichtigt gebliebene Richtung, ohne die aber weder die Deduktion des Rechtsbegriffs noch die der Bedingungen des Selbstbewußtseins vollständig geleistet werden kann. Insbesondere erweist sich die Unvollständigkeit der Herleitung von Recht aus dem Ich im ersten Stadium der Deduktion des Rechtsbegriffs (§§ 1–3) im Hinblick auf das dort begründete »Rechtsverhältniss« (52), also jenes Verhältnis zwischen endlichen Vernunftwesen, in dem jedes mit innerer Freiheit den Gebrauch seiner äußeren Freiheit durch den Begriff der möglichen äußeren Freiheit der anderen Vernunftwesen beschränkt. Denn dieser Begriff einer »absoluten Gemeinschaft« (86) zwischen Rechtssubjekten ist von einer doppelten Kontingenz gekennzeichnet, was seine Realität wie seine mögliche bzw. wirkliche Anwendung betrifft. Zunächst impliziert die ursprüngliche Notwendigkeit, sich selbst als in einer gegenseitigen äußerlich freien Beziehung mit einem anderen Vernunftwesen seinesgleichen stehend zu begreifen, wie sie in den grundlegenden Erkenntnissen-cum-Handlungen von »Aufforderung« (33) und »Anerkennung« (49) vorliegt, durchaus noch nicht die künftige Fortsetzung der vernünftig-freien Wechselbeziehung auf jeder der beteiligten Seiten. Nur das theoretische, kognitive oder logische Kriterium der »fortgesetzten Consequenz« (48) im Denken und dem darauf basierenden Handeln und das praktische, vitale Interesse an »rechtliche[r] … Sicherheit« (142) gegenüber möglicher Beeinträchtigung der eigenen Frei-

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heit sind in der Lage, zukünftige freie Wechselwirkung zwischen endlichen Vernunftwesen zu gewährleisten. Sodann setzt die Deduktion des Rechtsbegriffs als einer notwendigen Voraussetzung für die Verwirklichung von Vernünftigkeit unter endlichen Bedingungen die »reelle Wechselwirkung« (56) zwischen freien Wesen voraus. Die damit als möglich geforderte Interaktion zwischen endlichen Vernunftwesen ist auf dem Theoriestand des Ersten Hauptstücks aber noch gar nicht sichergestellt, geht es doch darum, daß die Interagierenden so beschaffen sein müssen – als so beschaffen zu denken sind –, daß sie über Möglichkeiten des theoretischen (erkennenden) wie praktischen (handelnden) Umgangs untereinander verfügen. Die Interagierenden müssen allererst einmal füreinander und miteinander dasein können. Damit liegt im Rechtsbegriff als solchem bereits die Zielvorgabe für den Fortgang der Deduktion. Das endliche Vernunftwesen muß sich als praktische Intelligenz denken, die unterschieden ist von der Welt, auf die es doch einwirken kann durch die Gestaltung und Umgestaltung eines gegebenen »Stoffes« (29), und es muß sich denken als eines von mehreren Vernunftwesen, mit denen es möglicherweise oder tatsächlich diese Welt als Wirkungssphäre teilt. Daraus resultiert die zweifache notwendige Fortbestimmung der selbstbezüglichen Tätigkeit – der »Ichheit« oder »Subjectivität« (17) –, die das endliche Vernunftwesen ist: zuerst zu einem vernünftigen Wesen, das der Möglichkeit nach auf nicht-vernünftige Wesen wirkt, sodann zu einem Wesen, das der Möglichkeit nach mit anderen vernünftigen Wesen in dieser Welt interagiert. Fichtes Terminus für das Ich mit diesem weiteren Ausmaß an Bestimmtheit ist »Individuum« (8, 42), genauer »vernünftiges Individuum« (56).6 Die übrigen Schritte in der Deduktion des individuellen Ichs und seiner urrechtlichen Verfaßtheit, die in den Abschnitten des Zweiten Hauptstücks des Naturrechts (§§ 5–6) zur Ausführung kommen, betreffen die weiteren Bestimmungen, welche das individuelle Ich (1) sich selbst, (2) den nicht-vernünftigen Wesen in der Welt und (3) den anderen Vernunftwesen in der Welt zuschreiben muß, damit das Ich qua Individuum einerseits über freie Wirksamkeit verfügt in und über etwas, das es nicht selbst ist, die Welt und die Wesen in ihr, und andererseits in der Lage ist,

6 Zu Fichtes Deduktion der Individualität des Ich siehe Vf.: Die Individualität des Ich in Fichtes zweiter Jenaer Wissenschaftslehre (1796–99), in: Revue Internationale de Philosophie 206 (1998), 641–663.

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vernünftige oder doch vernunftfähige von unvernünftigen Weltwesen theoretisch wie praktisch zu unterscheiden. Das im Schlußteil des umfassenden Gesamtarguments der ersten beiden Hauptstücke des Naturrechts anstehende Grundproblem besteht nun darin, daß das Ich als solches schieres »Handeln« (1, 28) ist, und zwar Handeln auf sich und nichts außerdem, während die Welt samt der Wesen in ihr, auf die das individuelle Ich einwirken können soll, Gegenstände oder Fälle von »Seyn« (28) in der »Sinnenwelt« (23) sind. Die Heterogenität von Handelns- und Seinsnatur im Bezug auf das Ich-Individuum ist dabei nicht beschränkt auf dessen Verhältnis zu nicht-vernünftigen und nicht-vernunftfähigen Wesen. Es besteht ebenso im Hinblick auf die Beziehung des Einzelich zu anderen vernünftigen oder vernunftfähigen Wesen, deren Sein sich nicht in ihrer Existenz in der Sinnenwelt erschöpfen mag, die aber zunächst und ursprünglich dem individuellen Ich als Wesen in der Sinnenwelt vorkommen. Unter der methodischen Beschränkung des Naturrechts auf die Bedingungen, Grenzen und Gesetze des äußeren Freiheitsgebrauchs werden andere Vernunftwesen nicht als Co-Noumena aufgefaßt, sondern als Sinnenwesen mit Vernunftindizien. Dieser Sachlage entsprechend, ist Fichtes Theorie der notwendigen Verleiblichung des individuellen Ich im Zweiten Hauptstück des Naturrechts darauf angelegt zu zeigen, daß und wie ein IndividualIch kognitiv und handlungsmäßig effektiv sein kann in der Sinnenwelt und in Beziehung stehen kann zu vernünftigen wie unvernünftigen Wesen in ihr. Der Grundansatz von Fichtes Lösung besteht darin, daß das individuelle Ich als solches sich notwendig findet als in die Sinnenwelt fallend und ausgestattet mit einem Sinnesapparat für das Agieren und Interagieren in dieser Welt. Dabei sind allerdings die Fortbestimmungen des Ich und seiner Welt, ohne die es weder ein Ich noch eine Welt geben würde, mit dem gleichen methodologischen Vorbehalt zu versehen, welcher das ganze Argument des Naturrechts bis zu diesem Punkt charakterisiert hat. Die philosophische Reflexion kann nämlich nur erhellen, wie das Vernunftwesen notwendigerweise handelt und wie ein solches Wesen notwendigerweise von sich zu denken hat als Ergebnis dieses notwendigen Handelns. Die Notwendigkeit, um die es sich hier handelt, ist eine von den Gesetzen des Denkens oder der Vernunft als deren Inbegriff auferlegte und insofern bedingte Notwendigkeit. Es werden keine Ansprüche erhoben darüber, wie es sich mit den Dingen »an sich selbst« verhält, unabhängig von dem im Vernunftwesen als solchem liegenden unhintergehbaren Bezugspunkt. Mehr noch: ein derartiges absolutes Sein des Ich oder einer

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oder aller seiner Tätigkeiten und Leistungen, ist nicht nur unerkennbar, sondern ganz und gar unbegreiflich, denn die Notion eines »Ich an sich« ist eigentlich eine sinnlose Vorstellung, die nicht einmal konsistent formuliert werden kann. Fichtes Argument in den Eröffnungskapiteln des Naturrechts ist »transcendental« (72) in dem spezifisch kritischen, limitierenden Sinn, daß es aussagt, wie wir als Vernunftwesen uns und unsere Welt uns denken müssen: »Es ist so, heisst, wir müssen es so setzen: und weil wir es so setzen müssen, darum ist es so.« (72) Die für Fichte insgesamt charakteristische Verbindung von ontologischer Bescheidenheit und epistemologischer Kühnheit zeigt sich auch in seiner Deduktion des Anderen. Als gesetzter Urheber einer vorkommenden Aufforderung, die ihrerseits nichts anderes ist als ein weicher »Anstoß« – einer, der es vollbringt, die externe Freiheit des Angestoßenen aufrechtzuerhalten –, hat das andere Vernunftwesen denselben Status wie die vom Ich in Reaktion auf den harten »Anstoß« gesetzten nicht-vernünftigen Wesen oder »Gegenstände« in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Das Gleiche gilt für die leibliche Realität des Ich. Allerdings tritt die radikale Beschränkung des Seins auf Sein-für-uns nur auf dem philosophischen, spekulativen Standpunkt ein. Auf dem gewöhnlichen, praktischen Standpunkt gibt es Dinge, Leiber, Andere, sogar einen persönlichen Gott als den unaufgeforderten Aufforderer der ersten der Vernunft fähigen Wesen (39 f.). Doch streng gedacht, haben wir von solchen Wesen außer und unabhängig von uns kein »Wissen«; vielmehr handelt es sich bei ihnen um Gegenstände des »Gefühls« und des »Glaubens«. Doch sollte die transzendentale Reduktion der Wirklichkeit darauf, wie die Dinge »für uns« sind, nicht für eine Deflation von Fichtes reeller oder anwendungsspezifischer Philosophie zu einem Inventar empirischer Daten über die Spezifika von »uns« Menschen gehalten werden. Eine derartige anthropologische Reduktion würde der Methode und dem Gehalt von Fichtes angewandter Philosophie im allgemeinen und speziell der Somatologie des Naturrechts nicht gerecht. Was die Methode und Verfahrensweise angeht, sammelt Fichte nicht »Thatsachen« über Menschen, sondern er rekonstruiert die ursprünglichen Handlungen oder »Thathandlungen« (25) der Selbstbegründung einer praktischen Intelligenz als solcher. Was den Gehalt betrifft, so deduziert er nicht derart spezifische Bestimmungen wie die fünf Sinne und ihre jeweiligen Gegenstandsbereiche und Medien, sondern er stellt grundsätzliche funktionale Voraussetzungen auf für vernünftiges Handeln in der Sinnenwelt, die erst im nachhinein und immer nur parenthetisch mit kontingenten empirischen Erfüllungen versehen werden.

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3. Der Leib des Ich Die »Deduction der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs« im Naturrecht besteht aus zwei weiteren Lehrsätzen samt Beweisen, die den Beweisgang der drei Lehrsätze der »Deduction des Begriffs vom Rechte« vervollständigen. Die beiden abschließenden Lehrsätze betreffen die Selbstzuschreibung eines materiellen Körpers durch das vernünftige Individuum sowie die Fortbestimmung des Körpers im Hinblick auf die doppelte Funktion des vernünftigen Individuums, auf Objekte zu wirken und mit anderen Vernunftwesen in der Sinnenwelt zu interagieren. Die Beweise der Lehrsätze verfahren dementsprechend teleologisch; sie detaillieren in einer an Spezifizität graduell zunehmenden Abfolge von Bestimmungen die strukturellen Voraussetzungen für die Möglichkeit eines aktiv-interaktiven vernünftigen Individuums. Der Vierte Lehrsatz lautet: »Das vernünftige Wesen kann sich nicht, als wirksames Individuum, setzen, ohne sich einen materiellen Leib zuzuschreiben, und denselben dadurch zu bestimmen.« (56) Die freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt, die das endliche Vernunftwesen zufolge des Ersten Lehrsatzes setzen oder sich zuschreiben muß als eine notwendige Bedingung seines Selbstbewußtseins, involviert nicht unbeschränkte oder absolute Freiheit, sondern beschränkte oder bestimmte Freiheit. Vorausgesetzt, daß sein Vernunftpotential im Lauf einer erfolgreichen Aufforderung zu freier Tätigkeit realisiert worden ist, verfügt das Individuum über eine »Sphäre« (41) oder einen Umkreis von möglichen Handlungen, die durch den Aufforderer unbestimmt gelassen worden sind und unter denen es frei und »ausschliessend« (56) wählen kann. Jede Wahl innerhalb dieser Sphäre ist Wahl durch das jeweilige vernünftige Individuum und nicht die eines anderen vernünftigen Individuums. Durch die Selbstzuschreibung eines derartigen exklusiven Handlungsspielraums nimmt das vernünftige Individuum aber nicht nur eine weitere Bestimmung seiner selbst vor, sondern bestimmt auch die Welt, in der und auf die es handeln soll, fort. Das Vernunftwesen setzt nämlich nicht nur die exklusive Handlungssphäre, sondern »setzt sich entgegen« (57) ebendiese Sphäre. Die selbstzugeschriebene Sphäre wird gesetzt nicht als Teil des Ich als solchem, sondern als »ein Theil der Welt« (57). In Folge der heimlichen Tätigkeit der »productiven Einbildungskraft« (58) wird die Sphäre weiterhin durch das Ich gesetzt – und erscheint daraufhin dem Ich – als räumlichzeitlich ausgedehntes, fixes und dauerndes Ganzes oder als »materieller Körper« (59), dessen Sein darin aufgeht, der »Umfang aller möglichen

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freien Handlungen der Person« (59) zu sein. Der Ausdruck »Person« steht dabei als Synonym für »vernünftiges Individuum« (56). Nun wird aber der materielle Körper durch das Ich nicht nur überhaupt gesetzt und näherhin diesem entgegensetzt, sondern auch vom Ich diesem selbst zugeschrieben als die Sphäre seiner eigenen freien Handlungen. Genauerhin handelt es sich um diejenige Sphäre der freien Handlungen des jeweiligen vernünftigen Individuums, für die dessen Wollen notwendige wie hinreichende Bedingung ihrer Verwirklichung ist. Nur erst und auch schon dadurch, daß eine der Handlungen in der selbst-zugeschriebenen Sphäre, genannt »materieller Körper«, vom Individuum, um dessen Sphäre es sich handelt, gewollt wird, geschieht die Handlung. Kantisch gesprochen ist der »Begriff vom Zweck« (59) unmittelbar die »Ursache« (59) des gewollten Gegenstandes. Und umgekehrt gilt: Keine der möglichen freien Handlungen, die insgesamt den selbstzugeschriebenen materiellen Körper ausmachen, kann eintreten, ohne daß dies vom vernünftigen Individuum, um dessen Körper es sich handelt, gewollt wäre. Die Exklusivität des Wollens (und Wählens) innerhalb der Sphäre möglichen je eigenen Handelns gründet in der Ausschließlichkeit des unmittelbaren Zugangs zum materiellen Körper seitens des jeweiligen Individuums. Mehr noch: Es ist ein Zugang des Ich zum korrelierten Nicht-Ich, der als innerer oder von innen ausgeübter beschrieben werden kann im Unterschied zu einer möglichen äußeren Einwirkung, die etwas oder jemand anderes auf die Handlungssphäre eines vernünftigen Individuums ausübt. Die erforderliche Möglichkeit der unmittelbaren Wirksamkeit des Willens im korrelierten materiellen Körper beinhaltet nun aber eine Fortbestimmung des materiellen Körpers selbst. Letzterer ist zu denken als fähig, sich unbegrenzt vielen und verschiedenen Bestimmungen zu unterziehen, die das jeweilige vernünftige Individuum muß wollen und in eins damit auch realisieren können, indem es innerhalb der Totalität unmittelbar möglicher freier Handlungen wählt. Zu diesem bedingt notwendigen Zweck muß der materielle Körper zusammengesetzt sein – ist zu setzen als zusammengesetzt – aus unveränderlicher, aber unbegrenzt teilbarer Materie und unbegrenzt veränderlicher Form, und dies solcherart, daß die jeweiligen Teile unmittelbar durch Willensbestimmung zu bewegen sind. Bei der unendlichen Zahl möglicher Willensbestimmungen ist deshalb die erforderliche Teil-Ganzes-Verfassung des Körpers nicht abgeschlossen, sondern offen; es hängt von den tatsächlich eintretenden Bestimmungen des Willens ab, welche Teile bewegt werden und welche nicht. Dergestalt ist der materielle Körper zusammengesetzt aus

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Ganzen, die als Teile fungieren können, und aus Teilen, die als Ganze fungieren können, oder aus »Gliedern« (61), durch die der materielle Körper in seiner Gesamtheit über »Articulation« (61) verfügt. In der exklusiven Korrelation zwischen dem Ich, das sich einen besonderen materiellen Körper zuschreibt, und dem besonderen selbst-zugeschriebenen Körper fungiert letzterer als Individuationsprinzip. Das Ich ist ein »bestimmtes materiales Ich« (57) und nicht etwa nur ein »absolut formales« Ich (57), nur insofern es diesen besonderen Körper gesetzt und sich zugeschrieben hat. Erst der materielle Körper bietet die Grundlage für die »Fortdauer und Identität unserer Persönlichkeit« (61). Den materiellen Körper als das Vernunftwesen individuierende Sphäre unmittelbar effektiven Wollens nennt Fichte den »Leib« (61).7

4. Die doppelte Artikulation des Leibes und die Doppelnatur der Materie Der Fünfte Lehrsatz in der argumentativen Architektonik des Naturrechts bestimmt den Körper eines gegebenen vernünftigen Individuums fort zum Gegenstand freier Wirksamkeit eines oder mehrerer anderer leibverfaßter Vernunftwesen: »Die Person kann sich keinen Leib zuschreiben, ohne ihn zu setzen, als stehend unter dem Einflusse einer Person ausser ihr, und ohne ihn dadurch weiter zu bestimmen.« (61) Im Beweis des Lehrsatzes deduziert Fichte die Möglichkeit der Wirksamkeit eines freien Vernunftwesens auf ein anderes im Rahmen einer umfassenden Theorie über Möglichkeiten und Formen von »Einfluss« (61) durch Körper als solche sowie körperbegabte Vernunftwesen auf ein gegebenes leibverfaßtes Vernunftwesen. In einem ersten Schritt argumentiert Fichte für die Doppelstruktur der Artikuliertheit des Leibes. Jeder Einfluß auf ein Vernunftwesen, gleich von wo er erfolgt und durch was oder wen, stellt eine Fremdbeschränkung der Freiheit dieses Wesens dar. Ein Quantum der möglichen freien Tätigkeit dieses Wesens wird »aufgehoben« (62). Mit Bezug auf die leibliche Verfaßtheit des Wesens ausgedrückt: dessen Leib unterliegt einer Bestimmung von außen; die Fähigkeit des Wesens, unmittelbar durch den Willen den Leib selbst zu bestimmen, wird »gehemmt« (62). Aber das vernünftige Individuum ist 7 Der lebendige, beseelte Charakter des Leibes im Unterscheid zum gegenständlichen Sinn des Körpers hat sich im Deutschen noch in dem Hendiadyoin »Leib und Leben« erhalten.

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wesensmäßig immer tätig und nichts als tätig. Streng genommen kann nicht einmal von einem Einfluß von außen auf das Ich die Rede sein, sondern nur von zurückgehaltener Tätigkeit im Ich und für das Ich, die letzteres dann, auf dem gewöhnlichen Standpunkt, als Anzeige der Gegebenheit und Wirksamkeit eines oder mehrerer anderer Wesen auffaßt. Um unter Bedingungen (vermeintlichen) Einflusses von außen die eigene wesensmäßige Freiheit und die exklusive willentliche Kontrolle über den eigenen artikulierten Leib aufrechterhalten zu können, muß das vernünftige Individuum gesetzt werden – und sich selber setzen – als mit einem Leib versehen, der in eins fremdbestimmt und selbstbestimmt, der von außen wie von innen bestimmt sein kann. Ein derart verfaßter Leib verfügt über eine »doppelte Articulation« (64) oder ein »doppeltes Organ« (64). Die Kennzeichnung des artikulierten Leibes als »Organ« bringt die Funktion der leiblichen Artikulation als Medium für die Wirksamkeit des Individuums in der Sinnenwelt zum Ausdruck. Der Leib wird gesetzt als bestehend aus einem »höheren Organ« (64), das exklusiv unter der willentlichen Kontrolle des vernünftigen Individuums steht, dessen Leib bzw. höheres Organ es ist, und einem »niederen Organ« (64), das äußerlichem Einfluß unterliegt, aber auch der inneren Bestimmung durch den eigenen Willen des jeweiligen Vernunftwesens fähig ist. Damit ist gewährleistet, daß es unter allen Umständen einen Teil oder einen Aspekt des artikulierten Leibes gibt, der exklusiv unter der Kontrolle des eigenen Willens steht, ungeachtet von Art und Ausmaß des äußeren Einflusses. Das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem höheren und dem niederen Organ der Artikulation oder zwischen dem Leib als höherem und als niederem Organ ergibt sich aus der doppelten Grundfunktion des Leibes als Instrument von »Erkenntniss«, genauer: der sinnlichen Erkenntnis oder »Wahrnehmung« (64), und als Instrument des »Handelns« oder als »Werkzeug« (71). In der Wahrnehmung unterliegt das untere Organ einem äußeren Einfluß, doch so, daß die darin liegende Modifikation des Leibes zugleich im höheren Organ »nachgeahmt« (65) wird. Die innere Nachahmung des äußeren Einflusses vindiziert dem vernünftigen Individuum die eigene wesensmäßige und exklusive Aktuosität. Beim Wahrnehmen simuliert das vernünftige Individuum innerlich, im höheren Organ, dieselbe Tätigkeit, die der äußere Einfluß auf das niedere Organ ausübt. In seiner Eigenschaft als Medium innerer, freier Aneignung von äußeren, unfreien Einflüssen, fungiert der artikulierte Leib als »Sinn« (65). Fichte veranschaulicht dieses transzendentale Verständnis der Wahrnehmung, indem er darauf hinweist, wie beim Hören innerlich (im inne-

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ren Ohr) nachgeahmt wird, was durch das äußere, nach außen gerichtete Sinnesorgan gehört wird; Hören ist so ein doppelter Prozeß, bei dem das äußerlich Gehörte erst innerlich erhört werden muß, um – über das Bestehen physiologischer Vorgänge hinaus – eigentlich wahrgenommen zu werden. Analoges gilt für das Sehen, das nie bloß passives Abbilden eines Äußeren ist, sondern immer auch die Tätigkeit des »inneren Auges« (65) in der geistigen Projektion des Gesehenen umfaßt. Von der Funktion des artikulierten Leibes als »Sinn« (in der Wahrnehmung) ist dessen Funktion als »Werkzeug« (im Handeln) zu unterscheiden. Im letzteren Fall stammt die Wirksamkeit, der der Leib unterliegt, nicht von außen, wie im Fall der äußeren Sinneswahrnehmung, sondern entspringt innerlich, im jeweiligen vernünftigen Individuum selbst. Der Begriff eines Zweckes oder eines Willensgegenstandes modifiziert dabei den Leib qua das höhere Organ, affiziert in eins damit innerlich den Leib qua niederes Organ (das niedere Organ des Leibes) und führt so zum Eintreten der korrelierten körperlichen Manifestation (71).

5. Freier Einfluß Die Interaktion zwischen freien Wesen in der Sinnenwelt ist nun aber mehr als gegenseitige sinnliche Wahrnehmung und gegenseitiges Einfließen aufeinander von artikulierten Leibern, die als Werkzeuge fungieren. Vernünftige Individuen oder solche, die der Vernunft pinzipiell fähig sind, müssen miteinander in der Sinnenwelt als freie Wesen interagieren können. Dabei muß zwar der Einfluß aufeinander in der Sinnenwelt ausgeübt werden, aber das beteiligte Organ bzw. der beteiligte Sinn und allgemein die beteiligte materielle Wirklichkeit muß so verfaßt sein, daß das vernünftige Individuum, das dem wechselseitigen Einfluß unterliegt, die eigene äußere Freiheit in der Ausübung des Willens und im Gebrauch des eigenen Körpers wahren kann. Sonst würde sich der Einfluß, den ein vernünftiges Individuum auf ein anderes ausübt, der Art nach nicht von der Einwirkung eines Vernunftwesens auf ein nicht-vernünftiges und auch nicht-vernunftfähiges Wesen unterscheiden; und der Empfänger derart unfreier Einwirkung hätte seinerseits keinen Grund, dem solche Wirkung auf es ausübenden Wesen Vernunft oder deren Vermögen zuzuschreiben, geschweige denn die Berücksichtung der freien Vernünftigkeit anderer. Kurz, der gegenseitige Einfluß, den freie Vernunftwesen aufeinander als solche ausüben, darf nichts von dem äußerlichen Zwang enthalten, der beim physischen Einfluß als solchem vorliegt.

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Das Erfordernis der Möglichkeit freien Einflusses unter Vernunftwesen führt zur Setzung weiterer Bestimmungen des artikulierten Leibes und der Sinnenwelt, deren Teil er ist. Zu den wichtigsten Fortbestimmungen gehört, daß die Materie, durch die der artikulierte Leib des eines Vernunftwesens auf den eines anderen im Modus des freien Einflusses einwirkt, verschieden sein muß von der »zähe[n] haltbare[n] Materie« (68), mittels welcher zwangsweise Einfluß auf einen artikulierten Leib ausgeübt und dessen niederes Organ gezwungenermaßen modifiziert wird. Die einzige einem vernünftigen Individuum bei unfreiem Einfluß noch verbleibende Art von Freiheit ist die »absolute Freiheit der Reflexion« (66), ob es der erfolgten Modifikation Aufmerksamkeit schenken will oder nicht. Dagegen muß der freie Einfluß über eine andere Art von Materie wirken, in Fichtes Worten: »feinere und subtilere« Materie (69). Deren Modifikationen des artikulierten Leibes und seines doppelten Organs sind vergleichsweise fragil und können durch einen Willensakt seitens des frei beeinflußten Vernunftwesens unmittelbar aufgehoben werden. Die Modifikation ist dann nicht nur formal aufhebbar durch das beeinflußte Vernunftwesen, wie im Fall der Nicht-Reflexion auf den unfreien Einfluß, sondern auch material suspendierbar. Allerdings liegt es nicht in der Absicht eines Vernunftwesens, das unter Einsatz von feinerer, subtilerer statt gröberer Materie freien statt unfreien Einfluß auf ein anderes Vernunftwesen ausübt, daß dieser Einfluß dann tatsächlich nicht beachtet oder sogar zerstört wird. Worauf es ankommt beim Einsatz der Materie anderer Art im freien Einfluß, ist die Möglichkeit einer destruktiven Rezeption seitens des frei Beeinflußten und die darin liegende Freiheit des Beeinflußten, den Einfluß als freien aufzunehmen und im gleichen Modus zu beantworten. Beim freien Einfluß ist die Absicht nämlich nicht, das niedere Organ als solches zu modifizieren, sondern es geht darum, mittels dessen Modifikation auf das höhere Organ einzuwirken – falls der Beeinflußte das zuläßt – und durch den gewählten Modus des Einflusses dem Beeinflußten zu vermitteln, daß keine bloße Wirksamkeit vorliegt, sondern daß freie Wechselwirkung oder Interaktion angestrebt ist. Beim freien Einfluß ist das Medium die Nachricht. In der freien Interaktion ist die spezifische Funktion des artikulierten Leibes die eines »höheren Sinnes« (71) im Unterschied zur Funktion des Leibes als »niederem Sinn« (72) bei der Wahrnehmung von zwangsmäßigem Einfluß. Ein abschließendes funktionales Erfordernis für die Möglichkeit von freiem Einfluß unter leibverfaßten vernünftigen Individuen besteht in der Fortdifferenzierung der subtileren Materie in zwei Arten. Die erste

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II. Fichte · G. Zöller

Art von zu setzender subtilerer Materie, eingeführt als »Materie X« (76) und parenthetisch identifiziert mit »Luft« (76), ist unmittelbar modifikabel durch das niedere Organ, durch das sie in Bewegung gesetzt wird. Die »beständige Bewegung« (76) dieser flexiblen subtileren Materie erreicht gegebenenfalls zunächst das niedere Organ, dann das höhere Organ eines anderen vernünftigen Individuums. Materie von derartiger Beschaffenheit erlaubt die Erweiterung der minimalen, formalen Kommunikation, die darin besteht, dem Beeinflußten die Vernünftigkeit des Beeinflussenden anzuzeigen, um materiale, inhaltlich spezifische Kommunikation, die Fichte, wiederum parenthetisch, als »mit einander sprechen« (76) beschreibt. Flexible subtilere Materie ermöglicht so die Kommunikation von »Erkenntnissen«, von Gedankeninhalten theoretischer oder praktischer Art. Die zweite Art von subtilerer Materie, genannt Materie »= X« (76) und parenthetisch mit »Licht« (76) identifiziert, wird gesetzt im Hinblick auf die spezifische funktionale Aufgabe, das äußerliche, an der leiblichen Verfaßtheit orientierte Erkennen eines endlichen vernünftigen Wesens durch ein anderes zu gewährleisten. Es handelt sch um die Bedingung der Erkennbarkeit der Vernünftigkeit oder Vernunftfähigkeit eines Wesens durch die »blosse Gestalt« (76) dieses Wesens in der Sinnenwelt. Während die zuerst eingeführte Art von subtilerer Materie sich in fortgesetzter Bewegung befinden kann und dabei dem unmittelbaren Einfluß des Willens durch dessen Manifestation im niederen Organ unterliegt (wie dies etwa beim sprachlichen Gedankenaustausch mittels Luftschwingungen der Fall ist), ist die zuletzt eingeführte Art von subtilerer Materie vergleichsweise stabil, was die einmal angenommene Form anbetrifft, und unterliegt auch nicht unmittelbar der willentlichen Veränderung durch ein etwaiges, dieser Art von Materie korreliertes niederes Organ. Es gibt auch gar kein unmittelbar dem spezifischen Wahrnehmungsmedium oder Sinn für Modifikationen der subtileren Materie zweiter Art (Gesichtssinn) korrespondierendes spezifisches Betätigungsmedium oder Organ. Die Veränderungen dieser Art von Materie müssen über ein anderes Organ (etwa das Gefühl) hervorgebracht werden, bevor sie vom spezifischen Sinn erfaßt (gesehen) werden können. Die relative Stabilität der zweiten Art von subtilerer Materie gewährleistet die fortgesetzte Identifizierung von Wesen in der Sinnenwelt, einschließlich der von Vernunftwesen. Insbesondere ist das Vorliegen von modifizierter Materie solcher Art und das in Vernunftwesen gegebene Vorhandensein eines spezifischen Sinnes für diese Modifikationen eine notwendige Bedingung dafür, das Vernunftpotential eines Wesens, in

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dem Vernünftigkeit noch gar nicht aktualisiert ist, auszumachen und daraufhin die Ausübung des freien Vernunftgebrauchs in diesem Wesen durch einen Anstoß der sanften Art, die Aufforderung, zu initiieren. Zur Erfüllung dieser funktionalen Aufgabe, ohne die freier Einfluß unter vernünftigen Individuen gar nicht erst zustandekommen könnte, muß aber die Gestalt des potentiell vernünftigen Individuums hinreichend charakteristisch sein, damit das Individuum von anderen, nicht-vernünftigen und auch nicht-vernunftfähigen Individuen unterschieden werden kann. Das äußere, leibliche Merkmal möglicher Freiheit und Vernünftigkeit ist nun, so Fichte, das Fehlen von fixierter Bestimmung im jeweiligen artikulierten Leib, genauer: dessen »Bestimmbarkeit ins Unendliche« (79), dessen Offenheit für unendlich viele mögliche freie Bestimmungen oder auch dessen »Bildsamkeit« (79) im Gegensatz zur Abgeschlossenheit der Bestimmung in allen anderen in der Sinnenwelt vorkommenden endlichen Wesen. Für den vernünftigen Betrachter zeigt die offene Gestalt der Materie die Gegenwart von »seines Gleichen« (79) an. An diesem Punkt der Rekonstruktion der Setzungen des Ich ist der freie Einfluß unter vernünftigen Individuen im Prinzip möglich.

6. Geist, Leib und Seele Das spezifische Anliegen von Fichtes transzendentaler Theorie des Leibes im Naturrecht, der Nachweis der Möglichkeitsbedingungen freien Einflusses unter vernünftigen Individuen, gehört in den umfassenderen Zusammenhang der Fichteschen Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen in endlichen Vernunftwesen. Die umfassendere Fragestellung gilt der Einheit des Subjekts in Anbetracht von dessen doppelter Natur als »Sinnenwesen und Vernunftwesen zugleich« (48). Dabei ist insbesondere der Status »unserer« sinnlichen Realität problematisch. Wenn die Natur auf dem tranzendentalen Standpunkt für nichts mehr gelten kann als vergegenständlichte eingeschränkte Tätigkeit der Vernunft, wie kann es dann überhaupt sein, daß vernünftige Individuen in der Sinnenwelt existieren? Der besondere Gesichtspunkt, unter dem das Naturrecht dieses Problem verhandelt, ist der Übergang vom bloß Natürlichen zum Vernünftigen in der Konstitution des vernünftigen Individuums als eines solchen. Einem Wesen das Potential oder »Vermögen« zur Vernünftigkeit zuzuschreiben, reicht nicht aus, um dessen aktual vernünftige Tätigkeit zu erklären. Nach Fichtes Ansicht der Dinge kann einzig die Vernunft Vernunft hervorbringen; Vernünftigkeit in

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II. Fichte · G. Zöller

einem Individuum kann sich nur über »Erziehung« (39) durch ein anderes, bereits aktual vernünftiges Individuum entwickeln. Weder das Gespenst eines unendlichen Regresses von erzogenen Erziehern noch dessen Terminierung in einem unerzogenen Erzieher läßt Fichte jenen zustimmen, die, wie Ernst Platner, eine rein naturalistische Erklärung von Vernunftwerdung auf ontogenetischer wie phylogenetischer Ebene vertreten: »Der Mensch muß nothwendig entwikelt werden durch seines gleichen.«8 Fichtes durchgängige kritische Kommentierung von Platners Aphorismen,9 die uns in Fichtes eigenhändigen ausführlichen Aufzeichnungen zu seinen Vorlesungen über Logik und Metaphysik nach Platner10 sowie in mehreren Kollegnachschriften11 vorliegen, weisen der Theorie des Leibes eine zentrale Stellung zu. Fichte selbst stellt das zugehörige Material unter die Überschrift »Ueber den Zusammenhang des Leibes und der Seele«.12 Ein solcher Titel findet sich nicht in Platners Aphorismen. In den Platner-Vorlesungen plaziert Fichte diesen Abschnitt im Anschluß an seine Erörterungen von Platners Ausführungen »Von der Sprachfähigkeit«.13 Die beiden Materialbestände weisen eine enge Verwandtschaft auf. Beide beschäftigen sich mit dem Ursprung eines spezifisch menschlichen Wesenzuges, der Sprache bzw. der Erkenntnis. Darüber hinaus sieht Fichte sowohl den Ursprung der Sprache als auch den Ursprung von Vernunft in einem nicht-natürlichen Ereignis oder »Wunder«.14 Schließlich ist festzustellen, daß ein guter Teil der Erörterungen zum Ursprung der Sprache in Fichtes Platner-Vorlesungen gar nicht die Spezifika der Sprache, ihres Erwerbs, ihrer Entwicklung und Struktur betreffen, sondern der Funktion von »Sprache im allgemeinsten Sinne«, von »Zeichen« oder von »Sprache überhaupt«,15 für das Auftreten von Vernünftigkeit gelten. Der Großteil der Ausführungen zur »Wechselwir8

GA II, 4, 37 (zu § 1 von Platner’s Aphorismen; siehe GA II, 4 S, 9). Der Text Platners, auf dem Fichtes Vorlesungen basieren (Ernst Platner’s Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, Erster Theil [Leipzig: im Schwickertschen Verlage, 1793]) ist nachgedruckt in GA II, 4 S[upplement]. 10 GA II, 4. 11 GA IV, 1, 169–450 (Nachschrift Krause, 1787/98); GA IV, 3, 77–141 (Nachschrift Eschen, 1796/97); GA IV, 3,197–305 (Nachschrift Höijer, 1798). 12 GA IV, 1, 328, GA IV, 3, 122. 13 GA II, 1, 292–327 und GA II, 3, 115–122 (Ueber den Ursprung der Sprache); siehe auch GA II, 4 S, 113–129 (Platner, Aphorismen, §§ 473–543). 14 GA IV, 1, 302 und GA II, 4, 163f. Siehe auch GA IV, 3, 117. 15 GA IV, 1, 296. 9

Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft

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kung« zwischen Vernunftwesen aus den §§ 5 und 6 des Naturrechts hat seine Entsprechung im allgemeinen Teil der Abhandlung des Ursprungs der Sprache in den Platner-Vorlesungen. Speziell der urrechtliche Akt der Aufforderung tritt in den Platner-Vorlesungen unter der Bezeichnung »Mittheilung« auf, von der es dann, analog zur Hominisationsleistung der Ur-Erziehung durch Aufforderung, heißt: »Wechselwirkung durch Zeichen ist also Bedingung der Menschheit.«16 Der andere Schlüsselbegriff der Theorie des freien Einflusses im Naturrecht, »Anerkennung«, spielt hingegen keine vergleichbare Rolle in der Theorie kommunikativen Handelns aus den Platner-Vorlesungen. Jedoch enthält Platners eigener Text, die Aphorismen, einen ganzen Abschnitt, der überschrieben ist »Von dem Anerkennen«.17 Für Platner ist das Anerkennen »die Fähigkeit das Aufgefaßte unter Begriffe zu bringen.«18 Platner mag hier an Kants Lehre von der »Synthesis der Rekognition im Begriffe« in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe anschließen,19 handelt es sich doch bei den Ausdrücken »Anerkennung« und »Anerkennen« um die germanischen Äquivalente des von Kant aus dem Lateinischen ins Deutsche übernommenen Terminus »Recognition«. Nach Platners Verständnis wird beim Anerkennen ein »Bild« gegen einen »Begriff« gehalten und »anerkannt… als unter seinem [sc. des Begriffes] Geschlecht«20 stehend. Dies entspricht genau Fichtes Gebrauch des Ausdrucks »Anerkennung« im Naturrecht zur Bezeichnung jener mentalen Handlung, durch die ein anderes Individuum als enthalten unter dem Begriff von »meinesgleichen« ausgemacht oder rekognosziert wird. Die eminent praktische Dimension wächst diesem ursprünglich kognitiv-subsumptiven Begriff der Anerkennung bei Fichte durch den Umstand zu, daß nur das Handeln einer bestimmten Art, nämlich unter Bedingungen des freien Einflusses, als »gemeingültiges Anerkennen« (47) zählen kann. Während also der Theorie der Aufforderung im Naturrecht in Fichtes Platner-Vorlesungen der Abschnitt zum Ursprung der Sprache entspricht, hat die Theorie der zweifach-doppelten Artikulation des Leibes nach Sinn und Organ sowie nach niederem und höherem Organ bzw.

16

GA IV, 1, 295. GA II, 4 S, 38–42 (§§ 110–121). 18 GA II, 4 S, 23 (§ 34). 19 Siehe Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: Akademie-Textausgabe. Berlin 1968, Bd. III/IV A 103ff. 20 GA II, 4 S, 39 (§ 111). 17

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II. Fichte · G. Zöller

Sinn im Naturrecht ihr Pendant im Abschnitt über die Verbindung von Leib und Seele aus den Platner-Vorlesungen. Angesichts der beträchtlichen thematischen und doktrinalen Übereinstimmung zwischen den Ausführungen zur Leiblichkeit in den beiden Werken Fichtes ist dabei das völlige Fehlen des Ausdrucks »Seele« im Naturrecht bemerkenswert. Dies will aber nicht besagen, daß die Thematik der Seele im Naturrecht einfach fehlt. Vielmehr fällt das, was Fichte in diesem Werk zum »höheren Organ«, zum »höheren Sinn« und zur »feineren, subtileren Materie« ausführt, exakt unter den Begriff der Seele als innerem Sinn, der in Platners Aphorismen als Erbstück der Wolffischen Schulphilosophie und ihrer traditionellen Beschäftigung mit »Ursprung« (origo) und »Ort« (locus) der Seele und ihrer Beziehung zum Körper vorliegt. Auch die bei Platner zu findende Rede vom »Seelenorgan« oder »Organ der Seele«21 geht zurück auf die Erörterung der körperlichen Manifestation der Seele in der »empirischen Psychologie« (psychologia empirica) der Wolffianer.22 Platner definiert: »Das innere Seelenorgan, oder der Sitz der Seele, ist derjenige Theil des Körpers, in welchem alle Sinneneindrücke sich endigen, alle Bewegungen des Körpers sich anfangen, und alle Seelenwirkungen überhaupt zunächst sich äußern.«23 Fichte nimmt in seinen Platner-Vorlesungen den traditionellen Begriff des Organs der Seele kritisch auf und stellt eine vollständige Reduktion der Seele auf dieses Organ in Aussicht: »Wir erhalten dadurch ein doppeltes Organ. Ein äusseres u. ein inneres: Seelen- u. LeibesOrgan. Das erstere … dürfte denn wohl zulezt die ganze Seele selbst werden …«24 In systematischer und speziell systemarchitektonischer Hinsicht impliziert dies die Eliminierung der metaphysischen Disziplin der rationalen Psychologie (psychologia rationalis), die als zuständig galt für die Seele allein, ohne Berücksichtung ihres körperlichen Organs, unter Absehung von jeglicher Verbindung mit dem Körper, mit der spezifischen Aufgabenstellung, die Unsterblichkeit der Seele nachzuweisen.

21

GA II, 4 S, 303ff. Siehe Gottlieb Alexander Baumgarten: Metaphysica, nachgedruckt in: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern. Berlin, später Berlin/New York 1900ff., Bde 17 und 18. Siehe auch Kants Beitrag zur Debatte in seiner Beilage zum Brief an Samuel Thomas Sömmerring vom 10. August 1795, als Anhang aufgenommen in Sömmerring: Über das Organ der Seele. Königsberg 1796, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 12, 31–35; Entwürfe in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. 13, 398–413. 23 GA II, 4 S, 31 (§ 67). 24 GA II, 4, 76. 22

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Das heißt nun aber nicht, daß Fichte in den Platner-Vorlesungen einen eliminativen Materialismus vertritt, demzufolge es nur Körper gibt und nichts außerdem. Zunächst ist festzuhalten, daß die auf das innere Organ reduzierte Seele kein Gegenstand des äußeren Sinnes ist, also kein Körper im physikalischen Sinn. Sodann ist daran zu erinnern, daß für Fichte weder der Körper noch die Seele qua Seelenorgan unabhängigen, absoluten Bestand haben, sondern vielmehr nur Sein-für-uns sind, nämlich ein Sein aufgrund der setzenden, entgegensetzenden und zusammensetzenden Tätigkeit des Ich. Ihrem Sein nach (für uns), sind Leib und Seele oder Seelenorgan korrelierte Modi der Erscheinung des Ich (der SubjekObjektivität) in der Sinnnwelt. Ihrem Erkannt-Sein nach (von uns), ist der Leib überdies der Seele oder dem Seelenorgan subordiniert, insofern nämlich jeder Gegenstand des äußeren Sinnes wiederum als Gegenstand des inneren Sinnes fungiert, aber nicht umgekehrt.25 Schließlich sind Leib und Seele (Seelenorgan) für Fichte auch gar nicht real verschieden voneinander, sondern bilden die komplementären Seiten oder Aspekte des Einen Ich. Dabei umfaßt die Seele (das Seelenorgan) die innere Tätigkeitsnatur des Ich und der Leib deren äußeres Produkt, und dies sowohl im Hinblick auf die kognitive wie auf die voluntative Tätigkeit des Ich: »Leib u. Seele, inneres u. äußeres Organ sind eins.«26 Weiter: »Das Ich ist ein einfaches, sich selbst setzendes. Dieses Ich wird u. muß werden erkennend u. handelnd in einer Sinnenwelt, u. in so ferne wird das Ich doppelt angesehen, als Theil der Sinnenwelt u. als etwas innerlich thätiges, das ist Leib u. Seele; beydes ist dasselbe, nur verschieden angesehen.« 27 In den Platner-Vorlesungen vergleicht Fichte denn auch die ursprüngliche Identität von Leib und Seele als komplementärer Aspekte des Einen Ich mit der Identität von Denken und Ausdehnung in Spinozas unendlicher Substanz: »Dieselben Bestimmungen meines Geistes sind von einer gewissen Seite mein Handeln u. von einer anderen Seite angesehen Obiect meines Handelns. … So wie wir oben sagten: Seele u. … [Leib] sind mein Ich von verschiedenen Seiten angesehen.«28 25

Siehe GA IV, 1, 334. GA IV, 1, 345 27 GA IV,1 , 334. Siehe auch die korrespondierende Ausführung in Johann Gottlieb Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause 1798/99. Hrsg. v. E. Fuchs. Zweite, verbesserte Auflage. Hamburg 1994, 160: »Ich und mein Leib; ich und mein Geist heißt dasselbe …«. Im folgenden zitiert als »WL«. 28 GA IV, 1, 367. Das Wort »Geist« im Original ist wohl ein Schreibfehler, der in »Leib« zu korrigieren wäre. 26

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II. Fichte · G. Zöller

Für Fichte besteht das Problem nicht im Verhältnis der Seele zum Leib, sondern im Verhältnis zwischen dem prädisjunktiven Ich als solchem, dem, was er ein rein »Geistiges« (57) nennt, und dessen sinnenweltlicher Manifestation als Seele-cum-Leib. Nur in diesem Sinne gibt es für Fichte noch das Leib-Seele-Problem, genauer: das Geist-Körper-Problem (mindbody problem). Und dieses Problem gibt Fichte auch gar nicht vor, anders lösen zu können als in Gestalt der Erklärung seiner Unlösbarkeit. Endliche Vernunftwesen sind nicht ihre eigenen Kreaturen. Bevor sie sich frei zu dem machen können, was sie sind, müssen sie sich selbst finden können. Ihre Freiheit ist ihnen ebenso gegeben wie das Medium ihrer freien Tätigkeit in der Sinnenwelt, der Leib: »Das Ich bringt seinen Leib als solchen nicht selbst hervor, u. kann sich nicht setzen als denselben hervorbringend …«29

7. Die transzendentale Somatologie im System der Vernunft Kennzeichnend für den Standpunkt des Naturrechts im allgemeinen und der darin gelieferten Theorie der Leiblichkeit im besonderen ist der Ansatz der philosophischen Reflexion beim faktisch-gegebenen Ich. Anders als die chronologisch wie systematisch vorausgehende Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, aber auch abweichend von dem anderen praktischen Teil der angewandten Philosophie des ausgeführten Jenaer Systemzyklus, dem System der Sittenlehre, thematisiert das Naturrecht nicht das absolute oder reine Ich als solches, den vorauszusetzenden letzten Grund bzw. den unendlichen Zielpunkt endlicher Vernunfttätigkeit. Vielmehr ist das Ich, mit dem der Reflexionsgang des Naturrechts einsetzt, das individuierte Ich als solches, noch unangesehen der systematischen Implikationen der Individuation von Ichheit, deren Ermittlung ja gerade den Untersuchungsgegenstand der Deduktionsketten des Naturrechts bildet. Zwar verfügt der transzendentale Naturrechtler über einen dem individuellen Ich als solchem und seinem »gewöhnlichen Bewußtsein« überlegenen Standpunkt, von dem her sich die Bedingungen individueller Ichlichkeit systematisch ermitteln lassen, aber auch von dieser Warte her reicht die Prähistorie des Ich im Naturrecht nicht über die Schwelle der Individuation hinaus. Die eigentliche Deduktion des Einzelich aus dem reinen Ich wird nur in der Wissenschaftslehre

29

GA IV, 1, 342 (Seitenzählung fälschlich mit »242« angegeben).

Fichtes transzendentale Somatologie und das System der Vernunft

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im engeren Sinne geleistet, speziell in der Wissenschaftslehre nova methodo.30 Dem vergleichsweise beschränkten Standpunkt des Naturrechts entsprechend, haben auch dessen Deduktionen das mögliche individuelle Selbstbewußtsein zum Ausgangs- und Angelpunkt. Gefragt wird nach dem, was dafür vorauszusetzen ist, daß ein individuelles Vernunftwesen Selbstbewußtein haben kann. Beansprucht wird, daß jeweils eine notwendige, nicht durch eine oder mehrere alternative Voraussetzungen ersetzbare, je »einzige Bedingung der Möglichkeit des Selbstbewusstseyns« (189) ausgemacht werden kann. Damit obliegt den Deduktionen des Naturrechts die für transzendentale Argumentationen insgesamt charakteristische Beweislast, die Singularität der jeweils deduzierten Bedingung zu gewährleisten. Im Sinne von Fichtes metaphilosophischer Grundansicht, derzufolge philosophisches Wissen im vollständigen Ausschreiten des durch unsere Vernunft beschriebenen Umkreises besteht und nie über diesen hinausgehen kann, erfolgt der fällige Singularitätsnachweis nicht durch Einnahme eines unserem endlichen Wissen gegenüber externen, absoluten Standpunktes, sondern in radikaler Besinnung auf die Grundstrukturen endlicher Vernunft. Was sodann die frappierende Spezifizität der im Naturrecht deduzierten Bedingungen individuellen Selbstbewußtseins anbelangt, die vergleichsweise konkrete Aussagen über die körperliche Verfaßtheit von Ich und Welt umfassen, so ist streng zu unterscheiden zwischen den funktionalen Voraussetzungen, die seitens des Ich und der Welt zu erfüllen sind, damit es individuelles Selbstbewußtsein geben kann, und den konkreten Ausgestaltungen dieser funktionalen Erfordernisse durch materielle Spezifika, die von Fichte immer nur textlich parenthetisch und argumentativ korrolarisch eingeführt werden. Doch ist der Ansatz beim individuellen Ich nicht nur als systematische Inferiorität des Standpunktes des Naturrechts gegenüber dem anderer Werke und Disziplinen der Philosophie Fichtes zu werten, sondern auch positiv zu verzeichnen als ein erster Schritt zur Gewahrung des philosphischen Eigenrechts des konkreten Individuums und speziell von dessen Materialität, Korporalität, Sensibilität und Organizität – eines Eigenrechts, das dann die nach-idealistische Philosophie von Schopenhauer über Feuerbach und Marx bis zu Nietzsche und Heidegger eingeklagt hat. Statt wie in den anderen systematischen Kontexten der Wissenschaftslehre und ihrer Anwendungen aus ursprünglichen, rein geistigen 30

Siehe WL, 160ff.

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II. Fichte · G. Zöller

Verhältnissen und Regionen abzusteigen zu sinnlicher Konkretion und empirischer Spezifizität, nimmt das Naturrecht seinen Ausgang beim Individuum als solchem – und bleibt dieser Betrachtungsebene durchweg treu. Gegen den Noumenalismus der Wissenschaftslehre im engeren Sinne wie auch der Sittenlehre behält das Naturrecht das Ich, wie es sich selbst findet, im Auge, ohne deshalb dieses Ich auf Faktisches und Kontingentes zu reduzieren. Zur systematischen Beschränkung des Naturrechts auf faktisch-vernünftige Individualität gehört auch, daß die Willensnatur, als die sich das Vernunftwesen ursprünglich findet, nur in Beziehung auf den äußeren Vernunftgebrauch in den Blick kommt. Die im Willen als solchem liegende mögliche freie Selbstbestimmung orientiert sich im Naturrecht nicht an den unbedingten Normen, welche die Lehre vom reinen Willen und vom unbedingten Sollen in der Wissenschaftslehre nova methodo bzw. der Sittenlehre ins Spiel bringen, sondern an der fundamentalen politischen Aufgabenstellung des Zusammenbestehenkönnens äußerlich freier Individuen. Das im Naturrecht deduzierte interindividuelle Grundverhältnis ist denn auch nicht das »Reich der Geister« oder die ethische Religionsgemeinschaft (»Kirche«), sondern der Staat, genauer: der »Notstaat«. Doch der gezielt verengte Blick des Naturrechts auf die juridische Sozialität von Vernunft bietet auch die Chance, die Angewiesenheit des abgehobenen, »intelligiblen« Standpunktes auf den des äußerlich freien Vernunftgebrauchs in der Sinnenwelt zu erwägen. Faktisch existiert das endliche Vernunftwesen zunächst und immer schon in der Sinnenwelt. Erst in Absetzung von letzterer vermag es, sich als rein Geistiges, als Geist unter Geistern zu denken. Nur wer mit festen Beinen in dieser Welt steht, kann sich im Kopf und im Herzen anderswohin versetzen, ohne daß ihm schwindlig oder bange wird. Die systematische Aufwertung des Leibes zum integralen Konstituens endlicher Vernunftwesen und der Einschluß der Theorie der Leiblichkeit in den doktrinalen Kernbestand der Transzendentalphilosophie im Naturrecht repräsentieren insgesamt eine gegenüber Kant und dem Frühidealismus veränderte Konzeption von »reiner Philosophie« bzw. »Elementarphilosophie«. In formaler Hinsicht wird der Aktionsradius der Prinzipienfunktion von Selbstbewußtsein bzw. Bewußtsein über allgemein-formale Implikate auf inhaltlich Spezifisches erweitert. In materialer Hinsicht werden Theoreme Themen, die bei Kant, wenn sie überhaupt für philosophiewürdig erachtet werden, dem außersystematischen Feld der Anthropologie zugerechnet sind. So verwundert es denn auch nicht, daß, wie oben gezeigt, zentrale Lehrstücke der beiden ersten Kapitel des

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Naturrechts von Fichte in seinen quasi-anthropologischen Einführungsvorlesungen nach Platner entwickelt worden sind. Doch darf bei der Beachtung der thematischen und doktrinalen Novität von Fichtes transzendentaler Theorie der Leiblichkeit nicht übersehen werden, daß der Einbezug der Sinnlichkeit in die Transzendentalphilosophie bereits bei Kant gründlich und grundsätzlich vorgenommen ist. Systematische Transzendentalphilosophie ist bei Kant nie nur Vernunfttheorie, sondern wesentlich transzendentale Theorie der Sinnlichkeit (Transzendentale Ästhetik) und Theorie der sinnlich-bedingten und insofern sinnlich restringierten reinen Vernunft oder des Verstandes. Freilich kommt die Sinnlichkeit bei Kant im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik nur als apriorische Form empirischer Anschauung oder als nicht-empirische, reine sinnliche Anschauung in den Blick. Doch gilt auch für Fichtes transzendentale Somatologie, daß sie lediglich die universalen und insofern apriorischen Strukturen der sinnenweltlichen Existenz von endlichen Vernunftwesen erörtert. Überdies ist daran zu erinnern, daß in der Kantischen Erweiterung der Transzendentalphilosohie um apriorische Prinzipien des Begehrens und des Fühlens in der Kritik der praktischen Vernunft bzw. der Kritik der Urteilskraft die Theorie der theoretischen Sinnlichkeit aus der Kritik der reinen Vernunft um spezifisch praktische (voluntative) und spezifisch ästhetische (affektive) Modi der Sinnlichkeit erweitert wird, ohne daß es allerdings zu konstitutiven apriorischen Prinzipien für praktische Sinnlichkeit in der Triebfederlehre oder für ästhetische Sinnlichkeit in der Geschmackslehre käme. Erwägt man schließlich, daß die Zentralität des Leibes und die Konzentration auf Sinnlichkeit und Sinnenwelt im Naturrecht auf einem im Ganzen der Wissenschaftslehre relativ untergeordneten Standpunkt zur Entwicklung kommen, dann schrumpft der systematische Abstand zwischen Kantischer Ästhetik und Fichtescher Somatologie in der Tranzendentalphilosophie zusehends. Sinnlichkeit und sinnenweltliche Existenz erweitern schon bei Kant und mehr noch bei Fichte das System der Vernunft zum Prinzipieninbegriff endlicher Vernünftigkeit, ohne aber die Zentralität, die Autonomie und den Primat der Vernunft gegenüber der Sinnlichkeit ernsthaft in Frage zu stellen, wie dies bereits bei Schopenhauer und dann erst recht bei Feuerbach, Marx und Nietzsche der Fall sein wird.

Angelica Nuzzo Fichte’s Early Theory of Space

Kant’s theory of space and time receives its final formulation in the Transcendental Aesthetic of the Critique of Pure Reason (1781, 1787). Kant’s contemporaries immediately react to this theory with critical, often highly polemic tones. Kant’s twofold claim that space and time are merely subjective forms of our sensible intuition and that they are forms of appearances and not properties of things in themselves is at the center of the dispute. Soon, however, the philosophical debate raised by the first Critique leaves the Transcendental Aesthetic and moves on to other central issues of Kant’s work. Shifting on to the Analytic of Principles and, in particular, to the Transcendental Dialectic, the problems raised by Kant’s theory of space and time seem to be set aside without apparent implications. Fichte’s direct confrontation with Kant’s theory of space and time is fairly limited.1 A crucial text in this regard is the Grundriß des Eigenthümlichen der WL in Rücksicht auf das theoretische Vermögen als Handschrift für seine Zuhörer (Outline of the Distinctive Character of the WL with Respect to the Theoretical Faculty), which appears in the summer of 1795. Even though it is published as an independent work, the Grundriß is meant to accompany the second part of the 1794 Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, and to be read in conjunction with it. However, the two texts differ in one important respect. While in the Grundlage Fichte’s main concern is to present the relationship between the WL and Reinhold’s Elementar-philosophie, in the Grundriß he comes directly to terms with Kant’s own position. Fichte’s aim is disclosed at the very end of the work. In the Concluding Remark, he declares: »In the Critique of Pure Reason Kant begins his reflections at a point in which time, space, and a manifold of intuition are already given as present in and for the I.« In Fichte’s view, Kant simply assumes his starting point as ›given‹ without further inquiry. Fichte’s itinerary in the Grundriß is to provide a ›deduction‹ for 1 The literature on the topic is limited as well. Among the most recent contributions, see Günter Simm: Wesen und Ursprung des Raumes in Fichtes Wissenschaftslehre. Diss. 1969; H. Horstmann: Fichtes und Kants Raumauffassungen, in: Transzendentalphilosophie als System, Hrsg. v. Albert Mues. Hamburg 1989, 58–68; Werner V. Csech: Die Raumlehre Johann Gottlieb Fichtes. Mit Berücksichtigung philosophiegeschichtlicher Konstellationen. Frankfurt/M./Berlin/Bern 1999.

Fichte’s Early Theory of Space

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Kant’s merely assumed starting point. His aim is to show how the a priori forms of intuition and its manifold can be present to the I. With this proof, the Grundriß establishes »the distinctive character of the theoretical part of the WL«. At the end of the work, Fichte takes leave from his reader by placing her »precisely at the point where Kant begins« the Transcendental Aesthetic. However, for the reader who has followed Fichte up to that point, the Transcendental Aesthetic now makes hardly any sense. Thus, in the Grundriß, Fichte provides his ›reformation‹ of Kant’s transcendental philosophy by re-formulating its very starting point. In the present considerations I want to examine the notion of space that Fichte develops in the 1795 Grundriß. I am interested in the way in which Kant’s theory of space is transformed in the post-Kantian philosophy. In particular, I am interested in the broader philosophical implications of this transformation. What I find intriguing in the early reception of Kant’s doctrine, is the lack of awareness regarding the far-reaching consequences that the Transcendental Aesthetic has in shaping Kant’s very idea of philosophy. Against Kant’s repeated claims that stress the relation between the doctrine of space and time and the idea of moral freedom (the dependance of the latter on the former), his immediate followers consider the Aesthetic as a piece of theory that can easily be detached from the whole. By rejecting the thesis that space is a pure form of intuition that regards objects as appearances, they necessarily commit themselves to a series of other claims that are untenable within the framework of Kant’s critical idealism. The crucial question here is: Why did Kant need to establish space and time as pure a priori forms of our sensible intuition? In an important way, the beginning of the first Critique sets out the scene for Kant’s theory of knowledge, for his concept of freedom, and even for the second ›aesthetic‹ of the Critique of Judgment. Accordingly, to reject Kant’s theory of space has extensive consequences for the way in which post-Kantian philosophy re-articulates the problem of transcendental idealism. Kant himself was fully aware of the philosophical weight carried by this initial point of his theory. In §§ 76–77 of the Critique of Judgment he anticipates, in a prophetic although contrafactual way, the path that philosophy will soon undertake out of his doctrine on its aftermath. This path is paradigmatically visible in Fichte’s Grundriß. In what follows I provide, first, a general reconstruction of Kant’s theory of sensibility (1). Then I turn to Fichte’s discussion of the problem of the receptivity of sensibility with regard to outer affection (2). This is the particular issue raised by the very first section of the Transcendental

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II. Fichte · A. Nuzzo

Aesthetic and widely debated by post-Kantian philosophers such as Reinhold, Beck, Maimon, and Fichte. In the final part of the essay, I examine Fichte’s »deduction« of sensation and intuition in the Grundriß, and draw some general implications out of Fichte’s modification of Kant’s theory of sensibility (3).

1. Kant’s Theory of Sensibility One of the most striking suggestions of the Critique of Pure Reason is the claim that not only reason and understanding but also sensibility is an activity that implies pure a priori structures. Kant’s thesis stands thoroughly unprecedented. In the Prolegomena Kant himself recognizes that »it never occurred to anyone that the senses might intuit a priori.« Even though Kant takes up the traditional language of ›receptivity‹ and ›affection‹ to indicate the specific way in which sensibility works, this receptivity, in so far as it qualifies the a priori forms of sensibility, is not sheer passivity. Kant suggests that the possibility for sensibility to be modified precedes a priori all its affections.2 For objects do not affect sensibility, since objects exist for us only because sensibility is the subject’s capacity of being affected. Sensibility comes before all knowledge of objects, and is the necessary condition thereof. Thereby Kant suggests that there is an a priori of sensibility that precedes even the logical a priori of understanding, and is thoroughly independent of it. The whole metaphysical tradition, ending up in Leibniz and in the Wolffian systematization, used to consider the difference between understanding and sensibility – or concepts and intuitions – as one of degree in clarity and in distinctness. Accordingly, such a difference can always be bridged by appropriate procedures of clarification. The empiricist tradition, on the other hand, locating the source and origin of all knowledge in the supposedly empirical nature of sensibility falls directly into Hume’s skepticism. Kant’s notion of the a priori is the decisive answer both to the empty speculations of metaphysics and to Hume’s skeptical objection against the empiricist attempts to a foundation of science. Kant concludes the Introduction to the first Critique with a general claim that radically breaks with both those traditions. He maintains that two are the »branches« out of which human knowledge originates: »sensibility« through which objects are »given« to us, and »understanding« through which in2

See Immanuel Kant: Prolegomena, § 8.

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stead objects are »thought«.3 These two branches or functions of human knowledge are different in kind (not just in degree) so that the possibility of a transition from one to the other is, in principle, impossible. Because of the fundamental heterogeneity that divides them, they produce a »synthesis« by working together. Yet, along with the strong claim that separates sensibility and understanding, Kant opens up to the hypothesis (»perhaps«) that these two functions might branch out of a »common, although to us unknown root.«4 Thereby Kant is pointing to the possibility of bringing the differentiation of the functions of human knowledge back to a unitary source. To be sure, Kant strongly denies that this common root can ever be found theoretically as a metaphysical common origin of all our mental powers. Christian Wolff’s attempt to reduce all the powers of the soul to a unity remains Kant’s polemical objective up until the Critique of Judgment. Sensibility is generally defined by Kant as the capacity of producing representations through the way in which our senses are affected by objects. Sensibility is a modality of relation to objects. Thinking never relates to objects immediately; it relates to objects only through the mediation of sensibility and its representations. Kant’s theory of sensibility recognizes two general forms of this relation, namely »intuition« and »sensation«. Kant’s purpose in his analysis of sensibility given in § 1 of the Transcendental Aesthetic is to discern its different elements in order to »isolate«5 the specific a priori components. »Intuition« is immediate relation to objects; it is also singular and concrete representation as opposed to the generality and abstractness of the concept. For intuition to occur, the determinate affection of the Gemüt is required. In sum, through sensibility, objects are given from which empirical intuitions arise; intuitions are »means« and instruments that allow thinking to relate to objects and to determine them as objects. As a modality of sensibility, »sensation« is defined, in an analogous way, as the effect of an object on our faculty of

3

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (from now on quoted as KrV followed by the original pagination of the second edition: B, and of the first edition: A) B 29/A 15; cf. B 74/A 50 and the »two original sources of the Gemüt«. 4 KrV B 29/A 15. This is the starting point of Martin Heidegger’s Kant interpretation in: Kant und das Problem der Metaphysik. Transl.: Kant and the Problem of Metaphysics. Transl. by R. Taft, Bloomington, Indiana University Press, 1990; for a discussion of the problem raised by Kant’s text in relation to Heidegger’s interpretation, see Dieter Henrich: On the Unity of Subjectivity, in: The Unity of Reason. Essays on Kant’s Philosophy. Cambridge Mass. 1994, 17–54. 5 KrV B 36/A 22.

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representation. More precisely, however, sensation always expresses the empirical moment of sensibility while intuition can be either empirical or pure. The object given to sensibility and affecting the Gemüt is »appearance«: it is the object as it appears to our empirical intuition or sensation, which thereby constitutes their content. With regard to appearance, Kant distinguishes between »matter«, which is empirically given in sensation, and »form«, i. e., the structure of order in which different sensations are organized according to certain relations. Kant’s further distinction regards »empirical« and »pure« representations of sensibility. It is at this point that the difference between sensation and intuition starts to reveal its force. A representation is called »pure« when it does not contain anything that belongs to sensation. From this definition it follows that sensation can never be pure. In the Transcendental Aesthetic, Kant always equates sensation with the empirical and material moment of sensibility. In intuition, he discovers instead the possibility of a formal and pure component of sensibility. Thus, from intuition as one of the forms of sensibility, Kant goes back to the »pure form of sensible intuitions in general« to be found a priori at the very heart of the Gemüt.6 It is in this pure form that all acts of intuition of objects take place. »This pure form of sensibility is itself called pure intuition.«7 It should be stressed, however, that with regard to the human faculty of knowledge, pure intuition does not cease to always be »sensible intuition«. Yet, for Kant, not all intuition is sensible intuition.8 We can very well think of a form of »intellectual intuition« – even though human intuition will never work this way. Thus, the analysis of sensibility in the first section of the Transcendental Doctrine of Elements led Kant to differentiate between sensation, which seems to be always empirical and therefore a posteriori, and intuition, which, on the contrary, may also concern a formal and pure aspect of sensibility, and in this respect has to be given a priori. Sensible intuition can be either empirical and a posteriori (as sensation is) or pure and a priori. At the beginning of the Transcendental Dialectic, introducing the notion of »idea« of reason, Kant presents a Stufenleiter – a ladder-like ascending structure – to guide us in the division of the genus »representation« (repraesentatio). Here »sensation« is defined as a subjective perception, namely as a perception that »relates only to the subject as a modification of its status«. To subjective perception he opposes objective 6 7

KrV B 34/A 20. KrV B 34 f./A 20.

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perception or »knowledge« which is, in turn, either »intuition« or »concept«.9 The distinction between sensation and intuition in the Transcendental Aesthetic served the purpose of discovering in sensible intuition the possibility of pure a priori forms which, in turn, led to define the elements of theoretical knowledge in its objective validity. At the level of the Dialectic, Kant specifies that in relation to knowledge, sensation only provides the empirical material to be thought and therefore is merely subjective, whereas pure intuition participates together with concept in the constitution of objective knowledge. In the Critique of Judgment (§ 3), Kant will further refine his theory of sensibility, this time showing how sensation can have another meaning in connection with a different faculty than the cognitive faculty, namely the feeling of pleasure and displeasure. While pure intuition is a merely theoretical function which relates to the cognitive faculty (understanding) alone, sensation can be found in connection with different faculties. »When a determination of the feeling of pleasure and displeasure is called sensation, this expression has a very different meaning than when I call sensation a representation of a thing (through the senses as a receptivity that belongs to the faculty of knowledge).« In relation to the cognitive faculty, the representation provided by sensation is referred to the object in order to produce cognition of it. By contrast, if set in relation to the feeling of pleasure and displeasure, sensation refers exclusively to the subject. In this case, however, no determinate cognition is provided. Kant adds: »not even the cognition through which the subject knows itself.« By reading together the Dialectic passage of the first Critique and § 3 of the third Critique we can conclude that sensation, if taken exclusively in relation to the cognitive faculty, should be viewed as an objective representation of the senses that yet represents of the object only that which modifies the status of the subject. Instead, that element of sensation which is irreducibly subjective and therefore can by no means serve as a representation of the object, is called by Kant »feeling«. Kant’s discovery of pure a priori forms of sensible intuition allows him to develop a specific »science of all the a priori principles of sensibility«. This science, under the title of Transcendental Aesthetic, constitutes the first section of the Critique of Pure Reason. »Aesthetics«, observes Kant in a footnote that comments on the aforementioned title,10 is the name that 8 9 10

See for example KrV B 72, B 51/A 35. KrV B 376/A 320. KrV B 35f./A 21 Fn.

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the German language uses to indicate what is generally called »critique of taste«.11 Aesthetics means ›theory of sensation‹. The double meaning of ›aesthetics‹ should not surprise us once we take into account the twofold use of the notion of sensation that has just been discussed. In 1781 and again in 1787, albeit now in a somehow more hesitant tone,12 Kant is clearly convinced of the impossibility of following Baumgarten in trying to develop a ›critique of taste‹ in scientific form, namely according to a priori principles.13 Its rules can only be empirical and therefore can never serve as »a priori laws« (or as »determinate a priori laws« as Kant significantly adds in the 1787 edition)14 for the use of our judgments of taste. Thus, what is left is only the possibility of understanding aesthetics according to the ancient division of knowledge in ασθητα and νóητα (the sensible and the intelligible), and developing a scientific »transcendental« theory of the a priori forms of sensibility – specifically of intuition – as first part of a theory of knowledge. Kant now views any other attempt to talk about sensibility as one destined to be empirical and therefore merely psychological. In the Transcendental Aesthetic, Kant presents two pure a priori forms of sensible intuitions – or formal intuitions –, i. e., space and time. Space is the necessary condition of all relations in which objects are intuited by me as outside of myself; time is the necessary condition of my intuition of myself and of my inner state. Throughout four arguments on space paralleled and expanded in five arguments on time,15 Kant discusses the spe11

It is interesting to observe that Kant sees the idea of ›critique‹ as already incorporated into the notion of ›aesthetics‹ – thereby recalling the origin of the term ›critique‹ in the field of literary ›criticism‹ (see René Wellek: A History of Modern Criticism I. The Later Eighteenth Century. New Haven 1955). 12 And to explain this hesitation we should be aware of the fact that in 1787 Kant was about to start working on the third Critique. 13 See Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica. Frankfurt/O., 1750–1758; Mary J. Gregor: Baumgarten’s Aesthetica, in: Review of Metaphysics, 37, 1983–84, 357–385. 14 A comparison of the two versions of this footnote in the two editions of the Critique is a locus communis in the literature: see for all Wilhelm Windelband: Einleitung zur Kritik der Urtheilskraft, in: Immanuel Kant, Akademie Ausgabe. Kants Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1902–83, Band V, 512–527, here 514; De Vleeschauwer: L’évolution de la pensée kantienne. Paris 1939, Ch. III, 3; Paul Guyer: Kant and the Claims of Taste. Cambridge Mass. 19972, 26–27; Leonardo Amoroso: Kant et le nom de l’Esthétique, in: Kants Ästhetik-Kant’s Aesthetics-L’esthétique de Kant. Hrsg. v. H. Parret. Berlin/NY 1998, 701–705. 15 The four arguments on space and time are, respectively, in KrV B 38/A 23–B 40/A 25, and B 46/A 30–B 48/A 32.

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cific nature of space and time as objects (as mere forms hypostatized to objects) or formal intuitions, and concludes with the claim that space and time are pure a priori forms of intuition.16 The arguments on space and time are crucial for establishing the general and formal features of a priori sensible intuition. The first argument presents the non-empirical character of space and time, maintaining that space is an a priori condition of the possibility of outer experience, while time is the a priori condition of the possibility of inner experience. The second argument proves that space is an a priori intuition and as such is the necessary condition of the objects of outer experience, i. e., of the appearances of outer senses. We cannot intuit objects of outer senses without intuiting them in space. Time is an a priori intuition that refers to the objects of inner experience and the inner sense as their necessary condition. In the third argument, Kant shows that space is one and individual and that it is a totum and not a compositum (in it the whole precedes its parts and is the condition of their possibility and not vice versa). Correspondingly, time is one as well, as it has only one dimension (different times are not contemporary, but successive; different spaces are not one after another, but at the same time). It follows that space and time cannot be discursive concepts but are necessarily pure forms of sensible intuition. This is the conclusion of the fourth argument that discusses the incompatibility of the infinite character of space (as quantum of an infinite number of parts) and time17 with the intension of a concept which, on the contrary, can never be infinite. From the third and fourth arguments, Kant’s conclusion follows that space and time can be neither properties of things in themselves nor express relations of things in themselves.18 Space is rather the »form of all appearance of external sense«19 while time is the »formal condition of all appearance in general«.20 If space and time were determinations of things in themselves they would be concepts, since things in themselves are Gedankendinge (objects that are simply thought by the understanding),

16

For the details of Kant’s arguments see Manfred Baum: Kant on Pure Intuition, in: Minds, Ideas, and Objects. Hrsg. v. Phillip D. Cummins, Günter Zöller. Atascadero 1992, 303–316, who argues against P. Guyer’s reconstruction of Kant’s argument in: Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge Mass. 1987, 345 ff. 17 To the discussion of the infinite character of time is dedicated a fifth argument (KrV B 47f./A 32). 18 See Manfred Baum: Dinge an sich und Raum bei Kant, in: Akten des siebten Internationalen Kant-Kongresses, Bonn 1991, 63–72. 19 KrV B 42/A 26. 20 KrV B 50/A 34.

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which accordingly should be known only through concepts by the understanding. Thus, since space and time are pure forms of intuition, they cannot be determinations of things in themselves and their relations, but only forms of appearances, i. e., forms of things as they are given to our sensibility. Hence Kant argues for the »transcendental ideality« of space and time. Space and time do not exist outside of the subjective conditions of our sensible intuition. In other words, they do not have »absolute reality« but only »empirical reality« as conditions of experience.21 Kant’s theory of space and time as pure forms of intuition remains a milestone of the first Critique. It is destined to have far reaching consequences in the Transcendental Dialectic allowing for the possibility of »transcendental freedom« on the one hand, and playing a crucial role in matters of »natural theology«22 on the other. Moreover this theory should be seen as the real foundation of the critical project as a whole since the very possibility of freedom and of the practical use of reason rests precisely on the transcendental ideality of space and time, namely on their limited validity to appearances. However, Kant’s theory of sensibility is not yet completed by the Transcendental Aesthetic. Another important step is carried through by the Analytic of Principles. Therein, Kant sets out to show in what sense and in which ways sensibility works together with understanding in order to produce knowledge of objects.23 This is the context of the doctrine of the »schematism«. In Prolegomena § 36, while asking the question of »How is nature itself possible?«, Kant refers back to the Transcendental Aesthetic as the place where he provided an answer concerning »nature in its material sense, namely according to intuition, as the complex of appearance«. There the question regarded the general possibility of space, time, and that which »fills up both, namely the object of experience«. The theory of the a priori forms of intuition – space and time – represents Kant’s first answer to the problem. But what about the reference to »that which fills up both«? For what fills up space and time is nothing else but sensation that constitutes the ›matter‹ of appearances and which, due to its assumed exclusively empirical character, cannot be dealt with in a transcendental inquiry dedicated to pure a priori principles. This is precisely what we find stated in § 1 of the Transcendental Aesthetic. However, in 21

See KrV § 6 B 52/A 35 ff and §§ 7–8. This result is already anticipated in the Aesthetic KrV B71f. 23 See for what follows Luigi Scaravelli: La sensazione e il grado, in: Scritti kantiani. Firenze 1968, 71–141. 22

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the Analytic of Principles, in studying the ways in which the categories of understanding work together with sensibility in order to produce knowledge, Kant goes back to the topic of sensation. At this level, in the Anticipations of Perception he discovers an a priori of sensation itself, namely the »degree« (Grad). Kant characterizes sensation in a twofold way. Sensation is, first, »modification of our sensibility«. Second, as »modification of our sensibility«, sensation is »the only way in which objects are given to us«.24 It expresses the »reality« or the material element of something existing, and as »perception« (i. e., as that which has in itself the modification or sensation), represents the »only character of reality«.25 Thus, sensation reveals a peculiar a priori structure precisely in constituting a synthesis with the category of »reality«. This structure could not be detected in the ›isolation‹ in which it was taken at the level of the Transcendental Aesthetic. In sum, sensibility consists for Kant in a form that is intuition and has its a priori forms in space and time, and in a content that is sensation and is instead a posteriori. 1) Space as intuition is an a priori form, i. e., has an essential formal character. 2) As a form of sensibility, it differs in kind from understanding’s concepts. 3) Even though it is a pure form of intuition, space (and with it all human intuition) is still always sensible intuition. On the other hand, sensation, despite its ›materiality‹, when taken in connection with understanding, displays a moment which can be known a priori.26 This a priori of sensation is that which can be »anticipated« in all experience. When sensation is synthesized with the category of reality, it reveals an a priori moment that is the »degree« or the »intensive magnitude« that belongs to all reality.27 Kant’s formulation of the Axioms of Intuition states that all appearances in their form or intuition have a magnitude that can be expressed in space and time. The Anticipations of Perception, on the other hand, state that all appearances in their material content or sensation have a magnitude that cannot be expressed in space 24

KrV B 178/A 139. KrV B 273/A 225. 26 This explains why Kant could not deal with the a priori of sensation at the level of the ›isolated‹ sensibility of the Transcendental Aesthetic which, in fact, contains only the two a priori forms of intuition – space and time. The »degree« is instead a synthesis of sensation and the category of reality. 27 KrV B 209/A 167f. 25

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and time but by its »degree«. Kant’s purpose is to show that all appearances – both according to the form and to the content – can be constructed by mathematics. The second principle is crucial for physics since without sensation no object could be given in its reality, no reality would exist, and nature »in its material sense« would have no meaning at all.28

2. Affection, Receptivity, and Outer Objects: Fichte’s Confrontation with Kant’s Transcendental Aesthetic »In whatever manner and by whatever means a mode of knowledge may relate to objects, intuition is that through which it is in immediate relation to them, and to which all thought as a means is directed. But intuition takes place only insofar as the object is given to us. This, again, is only possible, to man at least, insofar as the Gemüt is affected in a certain way.«29 This is the very opening of § 1 of Kant’s Critique of Pure Reason. For Fichte, this passage never ceased to be highly problematic. His 1795 Grundriß is an attempt to unravel the intricate problem raised by the twofold condition on which Kant makes intuition rest. This twofold condition is constitutive of Kant’s idea of space as a form of sensible intuition of outer objects, i. e., of the thesis of the »empirical reality« and »transcendental ideality« of space. Fichte accepts neither the assumption that objects must be given to us in order to be intuited, nor that the given object does indeed affect our Gemüt thereby producing intuitions, sensations, and more generally representations. Clearly, the case of space is even more problematic than the case of time because space is the form of outer sense as opposed to inner sense. The asymmetry between inner and outer is marked precisely by the issue of sensibility as receptivity. For receptivity is passivity that is bound to the existence of outer objects. Already for Kant, at stake with the form of space is the problem of the ›reality‹ of outer objects, the danger of empirical or material idealism (i. e., the denial of the existence of the outer world), and the problem of the passivity that opposes human sensibility to the spontaneity of both understanding and reason. The task of Fichte’s Grundriß is to ›deduce‹ Kant’s starting point, thereby dissolving, in one and the same act, the giveness of the ›given‹ object, the original ›affec28 Kant will use the idea of »degree« again in the Dialectic, in the Paralogism-chapter, against Moses Mendelssohn’s proof of the immortality of the soul (KrV B 414). 29 KrV B 33/A 19 (my emphasis).

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tion‹ excercised by it on the Gemüt, and the passivity of human sensibility. What happens to space, once those conditions are first questioned and then rejected? Jacobi is one of the first to point out the problem presented by the opening of Kant’s Aesthetic.30 What is the given »object« that affects our sensibility? Only two cases seem at hand. The object is either the unknowable »thing in itself« or a mere representation of the object. In both cases, Kant’s position is clearly untenable (how can the thing in itself affect us and still be ›in itself‹; and what would the affection by a mere representation be?). Jacobi’s dilemma prompts Reinhold’s attempt to defend Kant. However, Reinhold’s distinction between merely represented and real things in themselves only contributes to further complicate the problem. Maimon proposes a different solution. In his view, the claim that the object is ›given‹ to us only means that its origin in consciousness is unknown to us. On the other hand, he suggest that the term »affection« should be rigorously avoided. For it does not indicate a passivity or passion produced by the action of an external cause. It only hints to what is already contained in cognition (and hence is internal and homogeneous to it) but not yet brought to consciousness. Similarly, Beck rejects the idea of all true »affection«, and brings sensibility and its receptivity back to the spontaneous activity of the »original act of representing« (ursprüngliches Vorstellen), which is the original source of all representations. For Beck, there are no things in themselves, and hence no affection through them is possible. And yet, since there must be (somehow) an affection in order for representations to be produced, Beck concludes that this affection must come from appearance. This is a clear circle: we produce appearances through the »original act of representing«, and we are affected by appearance, whereby representations are produced in us. From early on, Fichte takes position in this animated debate. The program is clearly a re-formulation of Kant’s theory of sensibility. Sensibility must be stripped of all semblance of receptivity and passivity, the idea of external affection must be banned, and the originality of the I’s spontaneity must be played out both against the ›outer‹ dimension of thought and against the independent affecting objectivity of given things. Space is the form that Kant places precisely between the thinking I and the outer 30 For the reconstruction of the historical discussion around Kant’s beginning of the Transcendental Aesthetic, see Hans Vahinger: Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1881–92, 38ff.

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world as the irreducible condition of all outerness and otherness.31 Space is, for Kant, the condition for defining that which we place outside ourselves as other of ourselves. In this function, space is both irreducible and non-deducible. Fichte proceeds to an internalization of sensibility: sensibility is not a real affection by outer objects; it is rather our thought of being affected by outer objects. Space is thereby assimilated to a condition of thought that, as such, can be deduced. Already in the 1792 Kritik aller Offenbarung, in which Fichte still embraces the perspective of the Critique of Pure Reason, he replaces the notion of a ›positive affection of receptivity through given matter« with the idea of »a negative affection«, i. e., an internal limitation or hindrance encountered by the »faculty of sensation« in its activity. In the AenesidemusRezension (1794), he contends that the I cannot be affected by anything external. Rather, the I posits for the first time the not-I. The 1794 Grundlage der gesamten WL makes the point uncontroversial: Kant has placed himself in the standpoint of reflection and this is the only reason why he could claim that there is indeed a real ground external to the I that exercises efficacy on it. However, in the transcendental perspective, the only original activity is the pure activity of the I in intellectual intuition. Thereby Fichte has reached a crucial point in the transformation of Kant’s theory of sensibility. All sensible intuition, including its pure form, i. e., space, has been replaced by the I’s intellectual intuition. It is only in this perspective that a »deduction« of Kant’s own starting point in the Transcendental Aesthetic, namely sensible intuition and its given manifold, can appear not only plausible but also necessary. To provide such a »deduction« is the task of the 1795 Grundriß. I will show that in this new Fichtean perspective Kant’s peculiar idea of an intuition that is still sensible and yet purely formal – a pure formal, i. e., a priori intuition – is inevitably lost. Space loses the theoretically priviledged place that it had in Kant’s theory. For the ground is now lost that made of space along with time the peculiar object of a »science of sensibility«, thereby opposing it to merely subjective empirical sensation such as color or taste. For Fichte, all intuition is either empirical or intellectual; ultimately, however, empirical intuition is derived from intellectual intuition. Thereby the root of Kant’s two heterogeneous branches of human cognition is definitively extirpated. 31 See Paul Guyer: The Postulates of Empirical Thinking in General and the Refutation of Idealism (A 218/B 265–A 235/B 294), in: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. v. Georg Mohr, Marcus Willaschek. Berlin 1998, 297–324, 319.

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3. Fichte’s Idea of Space in the 1795 Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre: Sensation and Empirical Intuition Now I turn to the analysis of Fichte’s deduction of sensation and intuition in the Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen als Handschrift für seine Zuhörer. I want to show how Fichte transforms Kant’s doctrine of sensibility both by cancelling the purely formal character of space which is reduced to empirical space, and by assimilating it to the model of consciousness. Consciousness provides, for Fichte, the genetic definition of space. In this framework, space’s outerness or exteriority (Äußerlichkeit) becomes the otherness produced by the I’s own act of exteriorization (Äusserung). Space becomes the external sphere in which freedom exercises its force. Space is no longer the pure a priori form of sensible intuition that makes all determinate sensation and intuition possible. For Fichte, it is rather intuition and sensation that make space in its empirical determination first possible. Space is reduced to the empirical dimension that determines something in its being ›outside‹ myself and ›other‹ than myself. Methodologically, Fichte states the need to overturn the starting point of Kant’s Critique of Pure Reason as the need to begin with the universal or the infinite in order to gain the standpoint of particularity and the finite. In Fichte’s view, Kant’s beginning with the particularity of a given manifold is responsible for making all transition to true universality utterly impossible. Against this position, Fichte sets out to show that finite determination can only be the product of a determining activity that originally lies in the infinite – although indeterminate – activity of the I.32 The Grundriß structures the deduction of the particular manifold given to us in intuition in three stages. (a) The first step is the »deduction of sensation« (§ 2), (b) which is followed by the »deduction of intuition« (§ 3); the work (c) is concluded by the determination of intuition in time and of the intuited object in space (§ 4). Throughout this itinerary, Fichte progressively reduces sensibility to a determinate, negative or finite modality of the I’s absolute spontaneity. Fichte’s conclusion is the rejection of Kant’s 32

See Grundriß des Eigenthümlichen der WL in Rücksicht auf das theoretische Vermögen als Handschrift für seine Zuhörer (from now on quoted as: Grundriß, according to Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob u. Hans Gliwitsky. Stuttgart Bad-Canstatt 1962ff., Abt. I, Band 3=GA I 3, followed by the page number) GA I 3, 144f. (the English translation is taken from Fichte, Early Philosophical Writings, Translated and edited by Daniel Breazeale. Ithaca/London 1988, 233–306).

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idea of the formality and a priority of space – namely, of the idea that allowed (and required) Kant to assume the possibility of thinking an empty space, i. e., a space in which no objects are actually intuited. For Fichte, space is always and necessarily a concrete, empirical space filled up with determination. a) Empfindung Fichte’s general task is to explain how it is that the I »goes beyond itself and posits something outside of itself«. This is the first moment of a determination that gradually grows into a full-fledged »universe with all its characteristic features« of space, time, colors, manifold figures, and materiality. »Sensation« (Empfindung) is, for Fichte, the activity of the I as it is experienced in a certain negative modality, namely, as suppressed and hindered. Sensation is not constitutively aimed toward the outer dimension of the world, as was the case for Kant. On the contrary, in Fichte’s view sensation is the very act through which the I finds something within itself or finds itself in a certain negative state. Empfindung is not passivity or receptivity directed toward the external world, but the very activity of Insichfinden – »finding-within-oneself« – and locating within oneself what one has thereby found. In sensation, the I does not sense something else, external to and other than itself. The I senses or finds within itself its own activity. More precisely, it finds that its own activity has been cancelled, destroyed, and sublated. This cancelled activity is precisely what is defined as the »foreign« element, extraneous to the I. For only that which is foreign to the I can really be »found« and hence sensed within it (that which belongs to the I is always »present« in it and to it). The crucial issue herein regards the source of the negative activity that hinders and even cancels the activity of the I, namely the not-I. Interestingly, in Fichte’s perspective, what is perceived in sensation is not directly the activity of the not-I on the I – which, in Kant’s philosophy, defined the problem of affection and the immediacy of the intuition of outer objects. What is perceived is only the activity of the I insofar as it is cancelled. Fichte argues that if the opposing activity »were to be abolished, what is sensed […] would itself be pure activity«.33 As there is no original passivity in the I, there is also no irreducible activity of the not-I. Thereby Fichte has definitively eliminated all need of assuming an external ›thing in itself‹, cause of affection. Fichte’s argument opposes Kant’s 33

Grundriß, GA I 3, 150f.

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position both on the front of the subject’s receptivity and on the front of the object’s giveness. This turn is analogous to the thesis of the »negative affection« of the faculty of sensation that in the Versuch aller Offenbarung replaced the »positive affection of receptivity by a given matter«. In the 1796 Grundlage des Naturrechts, the same argument establishes the basis for the reciprocal action among finite determinate persons in the juridical sphere. In this case as well, affection is not passivity or receptivity but cancellation of an original activity that takes place in one’s own physical sphere of influence (one own’s body and immediate property). That a possible expression/exteriorization (Äusserung) of freedom is suppressed, does not mean that an activity is made impossible. It simply means that what had to be produced is produced not by the person’s own efficacy but by the »efficacy of a being outside«34 of that person. Herein, ›perception‹ is opposed to ›production‹. While production designates one’s own spontaneous activity, perception refers to someone else’s activity: I directly produce in my own action, but I perceive the activity of another person outside of myself. In the Grundlage des Naturrechts, as well as in the Grundriß, the issue at stake is the deduction of the spatial dimension of »exteriority« as that which individuates what is outside myself (the manifold of empirical things or the intersubjectivity of other persons).

b) Anschauung Through sensation the subject discovers something foreign within itself. This act of discovery is, at the same time, the act through which otherness is »posited« and the operation through which otherness is appropriated. The deduction of sensation has brought Fichte to distinguish four different terms of a relation, namely sensation itself (Empfindung), which is the very activity of the I; that which is sensed or the object of that activity (das Empfundene); the subject active in sensation (das Empfindende); and finally the activity of the not-I which is excluded in sensation. The further question that now leads Fichte to the deduction of intuition (§ 3), regards the way in which the subject of sensation posits itself as the I that has sensation of something external. Fichte’s argument moves from the product of an activity (sensation) to the activity itself (the subject’s act of sensing). At stake is now the way in which the I and the not-I are reciprocally op34

Grundlage des Naturrechts, GA I 3, 367–368.

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II. Fichte · A. Nuzzo

posed and then synthetized in sensation through the medium of intuition. Fichte proceeds in his project of reduction of outer sensibility to a modality of inner activity. What is sensed is not the Kantian given materiality of outer objects but a suppressed activity, »activity at rest«, i. e., a non-activity that would become activity were the obstacle removed. This »static activity« (ruhende Tätigkeit) now materializes into a »substrate« of force35 – the same substrate that for Kant, on the contrary, could only be provided by outer sense as the condition of all inner sense.36 Fichte suggests that the activity that opposes the I’s own activity must be posited as a »real activity«, i. e., the not-I must be recognized as endowed of a force of its own that contrasts the positing force of the I. At this point, the not-I starts to be seen as really »external« to the I. The spatial sphere of the I gains, for the first time, an outer dimension. The ›outside‹ is posited – albeit only in order to be excluded. Consequently, sensation appears in a contradictory determination: it is, at the same time, the product of the I’s activity, according to the first moment (it is my finding something foreign within myself), and the product of the not-I’s activity, according to the present moment (it is the product of the not-I’s opposition). The contradiction is solved through a third term – intuition. Fichte introduces (empirical) Anschauung as the synthesis that unifies a determinate activity and a determinate suffering (Leiden). Interestingly, the problem posed by the contradiction that takes place in sensation is formulated in terms of the necessity of explaining the »harmony«37 between the activity of the I and the activity of the not-I, namely representation and thing. This is Fichte’s rendering of the Kantian problem of a ›transcendental deduction‹ of the forms of thought, i. e., the justification of the objective correspondence between concept and object. For Kant, however, no such deduction was required in the case of space and time as formal intuitions. This was due both to the immediacy of these forms’ relation to objects and to their original, constitutive character with regard to objectivity as such. However, we can clearly see that once the task becomes to provide a derivation – or, in Fichte’s terminology, a »deduction« – of Kant’s starting point, the problem of the justification of the correspondence between ›internal‹ and ›external‹ arises anew. Fichte’s problem is from the very outset ambiguous. Since space and time as intuitions are necessarily empirical (and not formal in the Kantian sense), intuition 35 36 37

Grundriß, GA I 3, 152. See the Refutation of Idealism in the second edition of the KrV. Grundriß, GA I 3, 153f.

Fichte’s Early Theory of Space

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appears both as the source of the problem of the »harmony« between representation and object, and as the solution of it. Intuition, argues Fichte, is the act of an internal »contemplation« or »consideration« (Betrachten) that is not solicited from outside and yet is somehow referred to an outside, i. e., to the not-I. With this claim, Fichte has transformed Kant’s formal intuition into an attitude of consciousness or a modality of consciousness own activity. Intuition is the act by which consciousness excludes the dimension of the outside (original space, the notI) as cause or condition of inner determination, and places its own inner states as one next to the other (empirical space) or after the other (time). Thereby, Fichte’s intuiting consciousness takes the place of Kant’s formal intuitions of space and time. Intuiting consciousness becomes the genetic principle of empirical space as »space of experience« (Erfahrungsraum).38 In intuition, consciousness considers the different determinations as being »copies (Nachbildungen) of something present (Vorhandenes) outside of itself«. However, any reciprocal action between the I and the not-I is excluded. Neither can the not-I be the cause of intuition, nor can the I determine the activity of the not-I. Hence Fichte concludes that an »internal harmony«39 must take place between the inner states of the intuiting I and the object, between the internal copy, »image« or representation and the real external thing. A completely determined, and yet unconscious intuition is suggested as the ground of this harmony.40

c) Space Invoked by Fichte as the solution of a Kantian problem of ›transcendental deduction‹, intuition shows two different faces. On the one hand, intuition posits an »image« or spontaneously produces a representation »within ourselves«. On the other hand, however, since this image cannot be empty but must be determined, intuition assumes that the representation does indeed correspond to a real thing »outside ourselves«. Intuition already implies the distinction and correlation of inner and outer. A tacit assumption is at work at this juncture of Fichte’s argument. Intuition, in 38

See Fichte: Zu Platners »Philosophischen Aphorismen«. Vorlesungen über Logik und Metaphysik, GA II 4, 262. 39 Grundriß, GA I 3, 154. 40 See Grundriß, GA I 3, 181.

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II. Fichte · A. Nuzzo

order to effectively function as »Mittelglied«,41 i. e., as medium and mediating link between representation and real object, must be constitutively spatial. This assumption can be considered a residue of Kant’s idea of the a priority of space. Fichte must still assume something like an Urraum in order to make the transition to (or to posit) the Erfahrungsraum, the empirical space of experience.42 In Fichte’s view, because of the immediacy of intuition, the representation and the real thing are, in fact, »one and the same«.43 The image is completely determined through the object and is inseparable and indistinguishable from it. However, because of the unconscious character of this intuition, representation and real thing are fixed as separate in relation to two different »states« of the I. While the image is the immediate product of the I’s activity, the real object is the thing that no longer is viewed as product of the I. Fichte claims that the intuition that makes sensation possible is, on the one hand, the activity that draws the line between inner and outer (I and not-I), thereby limiting the sphere of action proper to the I. On the other hand, intuition is determination of the activity of the I and its sphere.44 Intuition is the immediate point of contact between the I and the not-I, the limit of both, and the communal determination of both. Thereby, Fichte shows how intuition is the origin of the distinction between inner and outer, i. e., of Kant’s space as formal intuition. We should not forget, however, that for Fichte intuition is an activity of consciousness, not a transcendental form or function in Kant’s sense. Thus, sensation and intuition, once assimilated to the model of consciousness, become the modalities through which the I approaches and constructs its relation with the external world. This is Fichte’s transfiguration of Kant’s a priori: Kant’s a priori of sensibility is now concretely enacted by consciousness’ own activity. Space becomes the means that Fichte implicitly uses to describe the activity of consciousness’ self-determination and limitation. Insofar as the I is limited in sensation, it extends itself only up to the boundary; but then, because of the dialectic of limit, by simply positing itself as limited the I manages to extend itself even beyond the 41

Grundriß, GA I 3, 181; also GA I 3, 180: Fichte also designates this intuition as »Mittelanschauung« and »Beziehungsgrund«. 42 See H. Horstmann: Fichtes und Kants Raumauffassungen, in: Transzendentalphilosophie als System, op. cit., who makes the distinction between »Urraum« and »Erfahrungsraum«, herein following R. Lauth’s terminology in: Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1984, 57f. 43 Grundriß, GA I 3, 182. 44 Grundriß, GA I 3, 156.

Fichte’s Early Theory of Space

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limit.45 While for Kant space as formal intuition and form of all our intuiting of outer objects necessarily precedes the actual perception of objects, for Fichte space is identical with consciousness’ act of filling up space in its actual intuitions and sensations. Space is the act of a determinate yet unconscious intuition, is the realm covered by consciousness’ concrete activity of always extending its positing and appropriating the external world. Space as extension is the concretization of consciousness’ sensible activity through the imagination. Space as exteriority is the result of consciousness’ act of exteriorization (Äusserung). To draw limits within one’s own activity is to establish an orientation point – the point up to which one can extend, the point within which one must remain, the point beyond which one necessarily goes. Such a point is the ideal measure of all empirical, real movement. The distances to this ideal point concretely determine, i. e., give shape and direction to our activity. By fixing this point, Fichte is able to provide a sort of genetic definition of space as the form of consciousness’ activity. Consciousness carries the boundary point up to the limit, then moves it along and around to explore the entire range of its »extension«, and finally measures the distance thereby gained from the ideal point.46 Resulting from the activity of consciousness, space is implicitly invoked in defining the sphere or the »circumference« of action and efficacy (Wirkungskreis) of the I.47 As is the case in the Grundlage des Naturrechts, the act of »limitation« reveals that freedom was always presupposed as the »point of unification« of the ideal and the real.48 Through consciousness’ activity, space becomes identical with the empirical manifold that Fichte found simply assumed at the beginning of Kant’s Critique of Pure Reason. Space is that in which an empirical manifold of things are given to us simply because this is the realm to which consciousness has extended its determinate activity through the force of the imagination. Although Fichte directly addresses the issue of space only in § 4 of the Grundriß, it must be clear, at this point, how the form of space has been at work, retrospectively, already in the deduction of sensation and especially of intuition. Space had to be assumed in order for the I’s articulation of the relation to the not-I – which is Fichte’s substitute for Kant’s 45

Grundriß, GA I 3, 157. Grundriß, GA I 3, 157, 165. 47 Grundriß, GA I 3, 200; 170. For the latter passage see Fichte’s question: »How could we determine this circumference, when there is as yet no space?« (GA I 3, 171). Fichte’s deduction of intuition is, in fact, an ›anticipation‹ of the deduction of space. 48 Grundriß, GA I 3, 176, 178. 46

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II. Fichte · A. Nuzzo

notion of sensibility – to be possible. The need for a specific »determination of intuition« leads Fichte to directly discuss the way in which the objective side of intuition is determined in space.49 Here he makes the transition between Urraum, i. e., the somehow residual Kantian space that informs the movement of sensation and intuition, and Erfahrungsraum, the concrete empirical space always filled by the manifold determination posited by the I. Fichte’s argument challenges, once again, the formality of Kant’s notion of space insofar as formality expresses, in this case, emptiness. In the second argument of space of the Transcendental Aesthetic, Kant claimed that »we can never represent to ourselves the absence of space, though we can quite well think it empty of objects«.50 This argument supports, for Kant, the a priori character of the representation of space. Fichte rejects this claim. In his view, space is always filled of experience and determination. The representation of an empty space arises out of the possibility that the imagination has of making the transition from one thing to a number of arbitrary others. The act that substitutes different arbitrary representations of objects produces the appearance of empty space, whereas space, on the contrary, is always and necessarily filled or can always be filled.51 The activity of the force of exteriorization is responsible for the act of »filling up« space. With this claim, Fichte has completed his project of overturning Kant’s Transcendental Aesthetic. We should recall Prolegomena § 36, in which Kant, in asking the question: »How is nature itself possible?«, points to a twofold set of issues. The first is dealt with in the Transcendental Aesthetic, which grounds the notion of »nature in its material sense, namely according to intuition, as the complex of appearance« in space and time. But Kant adds to the general issue of the possibility of space and time a second issue, concerning that which »fills up both, namely the object of experience«. Sensation is that which fills up space thereby constituting the ›matter‹ of appearances, while space itself provides its ›form‹. At the beginning of the Aesthetic, Kant announces that sensation, because of its alleged exclusively empirical character, cannot be the topic of a transcendental inquiry dedicated to pure a priori principles. As we have seen, Kant discusses the a priori component of sensation in conjunction with the activity of the understanding in the Analytic of Principles. 49 50 51

See the title of § 4 (my emphasis). KrV B 38 f./A 24. See Grundriß, GA I 3, 201.

Fichte’s Early Theory of Space

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Ultimately, Fichte’s project of deducing the starting point of Kant’s Transcedental Aesthetic, is predicated upon the inversion of the relation between empirical sensation or filled space and pure a priori form of intuition or empty space. Once the former, i. e., filled space, has been deduced from the activity of the I, the notion of an a priori empty and purely formal space loses its raison d’être. Pure space is now replaced by the sphere of consciousness’ activity of exteriorization, i. e., precisely by the activity that fills up space thereby determining it.52 Thus, to deduce the starting point of Kant’s Transcendental Aesthetic thereby leaving the reader »at the point where Kant began«, means, in point of fact, to project the reader forward to the Analytic of Principles showing that the Transcendental Aesthetic is a piece of theory that can be abandoned once and for all. The gesture of moving the ›place‹ of space within the activity of the I allows Fichte to sidestep the dangers of determinism that Kant’s theory of space intended to contrast. In its empirically determined reality, space maintains, for Fichte, an ideality of its own. Space becomes »Spielraum« of freedom.53

52

See Grundriß, GA I 3, 201: »All determinations of space presuppose a space that is filled and thereby determined.« 53 Grundriß, GA I 3, 203; GA I 3, 20: space »is determined only because you have determined it by virtue of your absolute synthesis. This seems to me an obvious observation which should long since have made us realize the ideality of space«.

III. JACOBI

Birgit Sandkaulen Das »leidige Ding an sich«. Kant – Jacobi – Fichte

1. Jacobi, so heißt es in Fichtes Sonnenklarem Bericht von 1801, ist der »mit Kant gleichzeitige Reformator in der Philosophie«.1 Mit dieser Einschätzung rückt der Einfluß Jacobis auf die systematische Philosophie nach Kant in ein spezifisches Licht. Tatsächlich wäre es ein Mißverständnis, wollte man hier nur die ein oder andere Anregung zur Kenntnis nehmen, die von Jacobi beigebracht und von einer wesentlich an Kant sich ausbildenden Philosophie dann außerdem noch berücksichtigt und verarbeitet worden wäre. In ganz grundsätzlicher Weise geht der Einfluß Jacobis vielmehr in die Formationsbedingungen selbst dieser Philosophie mit ein. Die programmatische Leitfrage nach dem System der Vernunft betrifft das im Kern. Gewiß weist die Intention auf ein philosophisches System auf Kantische Vorgaben zurück. Charakteristischerweise mit dem Topos von Geist und Buchstabe verbunden, kennzeichnet die nachkantische Lage aber nicht nur die Überzeugung, daß die Realisierung eines solchen Systems bei Kant selbst Desiderat geblieben und also erst noch zu leisten ist. Signifikant ist vor allem, daß eben diese Überzeugung sich instantan mit der Hinsicht auf Jacobi verschränkt, insofern sie erstens unter dem Eindruck von Jacobis Kant-Kritik und zweitens unter dem Eindruck von Spinozas Ethik steht. Unter dem Eindruck des maßgeblichen Systemmodells also, das Jacobi zuvor als einzig konsequent rekonstruiert hatte, um 1

Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Werke. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff. Band I,7, 194. Im folgenden zitiert als »GA« unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl.

176

III. Jacobi · B. Sandkaulen

an ihm zugleich den exemplarischen Fall eines theoretisch nicht auflösbaren »Widerspruchs« zu markieren, der zwischen dem systemisch unvermeidlichen »Fatalismus« einerseits und den existentiellen Interessen der Freiheit andererseits herrscht. Indem die nachkantische Philosophie diese Problemvorlage in ihre Kantrezeption substantiell einblendet, konstituieren sich ihre Systementwürfe ihrem eigenen Selbstverständnis nach als konsequente Alternativen zu Spinozas Metaphysik und beanspruchen damit, den Widerspruch zwischen systemischen und praktischen Interessen erfolgreich in sich aufgehoben zu haben. Mit dem Stichwort Vernunft verhält es sich ähnlich. Auch hier also hat man unbestreitbar an Kant zu denken und kommt doch angesichts seiner entschiedenen Überbietung in den nachkantischen Systemen nicht umhin, die Auszeichnung einer spezifisch metarationalen, den Ausweisungskriterien des Verstandes vorgeordneten Vernunftdimension auf den Einfluß Jacobischer Überlegungen zum Verhältnis von Vermittlung und Unmittelbarkeit zurückzuführen. Was aber die Komplexität solchen Einflußgeschehens noch einmal steigert, gerät schließlich mit dem Fortgang der Geschichte in Sicht. Anstatt seine eigenen Intentionen befriedigend zur Geltung gebracht zu sehen, lehnt Jacobi die nachkantische »Philosophie aus Einem Stück« als »wahrhaftes Vernunft-System«2 genauso hartnäckig wie zuvor Spinoza ab – und treibt die Systemanstrengungen genau damit in ihren weiteren, untereinander zunehmend divergierenden Denkprozeß hinein. Der Einfluß Jacobis auf die Formation und der über seine anschließenden Widerreden vermittelte Einfluß auch auf die Fortbildung der Systeme der Vernunft gehören untrennbar zusammen.3 Nun ergibt sich aus dieser notwendig aufs äußerste verknappten Skizze von selbst, daß die Rücksicht auf den »Reformator« Jacobi einer sehr viel umfänglicheren Erörterung bedürfte als unter den gegebenen Umständen geleistet werden kann. Um plakative Verkürzungen zu vermeiden, werde ich mich deshalb im folgenden beschränken, indem ich aus dem komplexen Gewebe seines Einflusses den Faden herausziehe, der sich mit der Problematik des Dings an sich verknüpft. Dieser Faden der Kant-Kritik und ihrer Rezeption ist, das muß man vor dem skizzierten

2

Friedrich Heinrich Jacobi: Brief an Fichte (1799), in: Werke. Hrsg. v. Friedrich Roth u. Friedrich Köppen. (ND) Darmstadt 1980. Band III, 19. Im folgenden zitiert als »JW« mit Angabe von Bandnummer und Seitenzahl. 3 Vgl. dazu mit entsprechenden Textbelegen wie auch zum folgenden vom Verf.: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München 2000.

Das »leidige Ding an sich«

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Hintergrund betonen, einer unter anderen. Gleichwohl ist er ein Hauptfaden, der mit der Systemoption intimerweise verflochten ist.

2. »Dieses Ding an sich war also der Punkt des Anstoßes, über welchen die Kantische Kritik der reinen Vernunft nicht hinwegkommen konnte, und an dem sie als selbständige Wissenschaft scheitern mußte.«4 Mit der systematischen Relevanz des Problems erinnert Schelling noch im spätesten Berliner Rückblick auch an den Text, in dem man einschlägiges Material zu diesem Kasus finden könne. In der Tat war es Jacobi, der 1787 mit der im Gespräch über Idealismus und Realismus erschienenen Beilage »Über den transzendentalen Idealismus« wiederum die Initiative ergriffen, die Diskussion Spinozas also um die Auseinandersetzung mit den Theorieproblemen der Transzendentalphilosophie Kants sogleich erweitert und damit selber die für die Systembildung der idealistischen Philosophie strukturell bezeichnende »Aufhebung« Kants in eins mit der Spinozas auf den Weg gebracht hat. Auch der dann so überaus typischen Hermeneutik begegnet man schon hier. Profiliert wird ausdrücklich der »Geist der Kantischen Philosophie«,5 und zum Beleg dafür werden lange, wortwörtliche Auszüge aus der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft präsentiert, deren Unverträglichkeit mit gewissen anderen Äußerungen dann um so drastischer in die Augen springen und bestimmte Maßnahmen zur konsistenten Vereindeutigung dieser Situation nahelegen soll. Offenkundig hat diese Diagnose einen höchst empfindlichen Nerv getroffen. Über Schellings Verweis hinaus spricht dafür der bis in die Gegenwart anhaltend und oft genug erbittert um Sinn oder Unsinn des Dings an sich geführte Streit, in dem bis heute kein Beitrag ohne die Wiederholung der schlechthin kanonisch gewordenen Worte Jacobis auszukommen scheint, wonach »ich verschiedene Jahre hintereinander die Kritik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte«.6 Wahrscheinlich ist es nicht übertrieben zu be4

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl F. August Schelling. Stuttgart/Augsburg 1856–61. Band XIII, 50. 5 JW II, 303, 301. 6 JW II, 304. Daß Jacobis Wort »die Standard-Beurteilung des Kantischen Funda-

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III. Jacobi · B. Sandkaulen

haupten, daß dies der einzige Satz Jacobis ist, der die Jahrhunderte wirklich überdauert hat. Nicht zuletzt aber kennzeichnet Jacobis zielsichere Lektüre, worauf es hier ankommt. Es ist Fichte, der 1797 in seiner Zweiten Einleitung in die Wissenschaftslehre nachdrücklich »alle philosophischen Schriften Jacobis«, insbesondere aber die Kant-Beilage zur Lektüre empfiehlt, in der seit »zehn Jahren […] jedermann den gründlichsten und vollständigsten Beweis […] gedruckt lesen« könne.7 Den Beweis wofür? Nun, den Beweis dafür, daß das Systemkonzept der Wissenschaftslehre die kongeniale, einzig überzeugende Formulierung des recht verstandenen Kantischen »Geistes« ist: desjenigen Geistes, den Jacobi als der »hellste Denker seines Zeitalters« in Gestalt des »so richtig gefassten transscendentalen Idealismus« ins Licht gerückt hat.8 Noch ehe Fichte also auch nur auf den Plan getreten war, hatte Jacobi im Ausgang von Kant bereits begriffen, worum es der Wissenschaftslehre konsequenterweise werde gehen müssen. Wenn das nicht ein beachtlicher Einfluß ist. Aber was heißt das nun eigentlich genau? Worin liegt das unabgegoltene Problem, das von Kant über Jacobi zu Fichte führt und mit dem Stichwort des Dings an sich vorerst nur benannt ist? Oder ist es angesichts der erwähnten Prominenz der Diskussion eigentlich müßig, danach überhaupt noch zu fragen? Auf Anhieb scheint es sich so tatsächlich zu verhalten. Zwar kann man nicht behaupten, daß Jacobis Diagnose sich ausschließlich solcher Zustimmung erfreut, wie Fichte sie sogleich artikuliert hat. Vielmehr ist die Einschätzung seiner Überlegungen ganz offenkundig abhängig davon, wie man jeweils selbst zum Problem des Dings an sich, seiner theoriekonsistenten Haltbarkeit oder unhaltbaren Widersprüchlichkeit steht. Mit der Folge, daß die Palette der Bewertung von Vaihingers größtmöglichem Lob, Jacobis Kant-Beilage enthalte »vielleicht das Beste und Wichtigste, was überhaupt jemals über Kant geäussert worden ist«,9 bis hin zu schwerstem Tadel reicht, wonach »Jacobi die eigentliche Thematik der Kritik der reinen Vernunft und somit die Promentalwerkes auch heute noch wieder[gibt]« und »niemals mit textnahen Gründen zurückgewiesen worden« sei, vermerkt Peter Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der »Kritik der reinen Vernunft«. Würzburg 1997, 10. Im folgenden zitiert als Baumanns, Kommentar. 7 GA I,4, 235. 8 GA I,4, 236 Anm. 9 Hans Vaihinger: Commentar zu Kant’s Kritik der reinen Vernunft. Zweiter Band. Stuttgart/ Berlin/ Leipzig 1892, 36. Im folgenden zitiert als »Vaihinger, Commentar«. Vgl. Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. Berlin 1913, 267.

Das »leidige Ding an sich«

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blematik des transzendentalen Idealismus kaum erkannt« habe.10 Was immerhin eine beträchtliche Bandbreite ist, gerade deshalb aber voraussetzt, wenigstens über den Kern der Jacobischen Kritik Einigkeit erzielt zu haben. So ist es allerdings. Spätestens seit Windelband gibt es dazu eine lehrbuchmäßige Auskunft, die von Vaihingers Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft bekräftigt und in der Folge bis auf den heutigen Tag unentwegt wiederholt wird. In der Windelbandschen Version lautet diese Auskunft so: »Zuerst Jacobi« habe »gesehen«, daß der von Kant »anfänglich eingeführte Begriff der Sinnlichkeit […] das Kausalverhältnis des Affiziertwerdens durch Dinge-an-sich [involviere], welches nach der Lehre der Analytik, daß Kategorien nicht auf Dinge-an-sich angewendet werden dürfen, zu denken verboten sei«.11 Unter Mißachtung seiner eigenen Restriktion der Kategorien auf das Gebiet der Erscheinung hat Kant sich demnach mit seiner eingangs ins Spiel gebrachten Affektionstheorie ab ovo in einen fälschlichen Kategoriengebrauch verstrickt. Das also ist das Argument, auf das es hier im Namen Jacobis offenbar ankommen soll. Wobei man nach Lage der Dinge hinzufügen muß, daß die Standardversion dieses Arguments – gerade so wie von Windelband vorgeführt – in der Hauptsache auf den diagnostizierten Mißbrauch der Kausalitätskategorie zielt.12 An der Struktur des Arguments ändert es indessen nichts, es in anderen Jacobi-Versionen auch noch um die These einer gleichermaßen unhaltbaren Anwendung der Kategorie der Substantialität,13 der Realität14 oder der Wirklichkeit15 ergänzt zu finden.

10

Herbert Herring: Das Problem der Affektion bei Kant. Kantstudien, Ergänzungsheft 67. Köln 1953, 14: »Um so weniger verständlich ist uns die enorme Einwirkung, die seine Kritik der Kantischen Philosophie auf seine Zeitgenossen ausübte, vor allem auf Beck, G.E. Schulze und Fichte.« Im folgenden zitiert als »Herring, Affektion«. 11 Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 18. Aufl. (=ND 6. Aufl. 1912). Tübingen 1993, 481 f. 12 Vgl. Baumanns, Kommentar, 185; Marcus Willaschek: Phaenomena/Noumena und die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, in: Georg Mohr u. Marcus Willaschek: Kritik der reinen Vernunft. Klassiker Auslegen. Berlin 1998, 325–351, 339 (im folgenden zitiert als »Willaschek, Phaenomena«); Margot Fleischer: Wahrheit und Wahrheitsgrund. Zum Wahrheitsproblem und zu seiner Geschichte. Berlin/New York 1984, 115 (im folgenden zitiert als »Fleischer, Wahrheit«), Erich Adickes: Kant und das Ding an sich. Berlin 1924, 49 (im folgenden zitiert als »Adickes, Ding an sich«). 13 Vgl. Vaihinger, Commentar, 53. 14 Vgl. Herring, Affektion, 13. 15 Vgl. Manfred Frank: Unendliche Annäherung. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt/M., 87.

180

III. Jacobi · B. Sandkaulen

Nun mag man von der Triftigkeit der These eines von Kant begangenen Kategorienfehlers überzeugt sein oder nicht: ein beträchtlicher Erfolg, wie noch Adornos Negative Dialektik belegt,16 ist diesem Argument gewiß nicht abzusprechen. Hätte Jacobi demnach die Ehre, auch Adorno noch inspiriert zu haben? Ein zugegebenermaßen reizvoller Gedanke, der sich jedoch genausowenig halten läßt wie die bis heute fraglos wiederholte Version Windelbands. Tatsächlich hat diese Version mit Jacobi gar nichts, dafür aber um so mehr mit der sorglosen Rückblende eines Arguments zu tun, das genuinerweiser von Aenesidemus-Schulze stammt. Er ist es, der 1793 im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Reinholds Elementarphilosophie von eben diesem »Widerspruch« zwischen den »Prämissen« Kants und seinen »Resultaten« andererseits spricht. Denn wenn gilt, so Schulze, daß die »transzendentale Deduktion der Kategorien« »richtig« ist und demzufolge »weder der Begriff Ursache, noch auch der Begriff Wirklichkeit« auf den »Gegenstand außer unseren Vorstellungen« angewendet werden darf, »so ist auch einer der vorzüglichsten Grundsätze der Vernunftkritik, daß nämlich alle Erkenntnis mit der Wirksamkeit objektiver Gegenstände auf unser Gemüt anfange, unrichtig und falsch«.17 Klar und deutlich formuliert, hat Schulzes Argument bekanntlich auch Schopenhauer überzeugt. Und vielleicht ist es auf diesem Wege in die Lehrbücher und schließlich auch bis zu Adorno gelangt. Mit Jacobis Vorlage hingegen, ich unterstreiche es noch einmal, hat das alles nichts zu tun. Gewiß gibt es auffällige Parallelen zwischen beiden Texten, was im übrigen auch für die Vermutung spricht, daß Schulze der Text Jacobis vor Augen stand, obwohl er ihn nicht zitiert. So konstatieren beide einen Widerspruch zwischen dem Auftakt der Kritik der reinen Vernunft und den Überlegungen in ihrem Fortgang, der gleichermaßen im Spagat zwischen gewissen realistischen Präsuppositionen und deren idealistisch begründetem Ausschluß ausgemacht wird. Dennoch gilt, daß Jacobi das Argument fälschlich in Anwendung gebrachter Kategorien und inbesondere der Kausalkategorie nicht gebraucht. Er gebraucht es weder in der Kant-Beilage selbst noch in seiner früheren, auf das Problem erstmals hinweisenden brieflichen Notiz an Goethe.18 Auch in den späteren 16

Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. in: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1970, Band 6, 185f. 17 Gottlob Ernst Schulze: Aenesidemus oder über die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie. Hrsg. v. Manfred Frank. Hamburg 1996, 184. Im folgenden zitiert als »Schulze, Aenesidemus«. 18 Kant zufolge haben »wir nur Erscheinungen […] von – Nichts, das er Etwas nennt. – Ich gebe Dir hiermit den Schlüßel zu dem ganzen System, und seinen wahren

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Texten, die an verschiedenen Stellen stets wieder um das Ding an sich kreisen, spielt es durchaus keine Rolle. Und selbst noch die Überlegung, daß der viel beschworenen »geistreichen« Manier zufolge das Kausalitätsargument von Jacobi ja wenigstens angedeutet sein könnte, um es Schulze zu profilierterem Gebrauch zu überlassen, führt hier nicht weiter, insofern man gerade Jacobi in Sachen Kausalität nicht erst zu philosophischem Bewußtsein zu bringen braucht. Immerhin präsentiert er die Kant-Beilage im Anhang eines Textes, in dem die Frage nach Ursache, Grund und Kausalität den Mittelpunkt seiner eigenen Reflexionen bildet. Damit steht man nun jedoch vor einem brisanten Befund. Wenn es nämlich so ist, daß die Kritik am Ding an sich den systematischen Übergang zum nachkantischen Idealismus ganz wesentlich motiviert hat, und wenn zweitens die Triftigkeit, mindestens aber die Durchschlagskraft dieser Kritik nach der Windelbandschen Version am Argument der fälschlich in Anwendung gebrachten Kausalitätskategorie hängt, eben dieses Argument drittens aber von Jacobi selbst gar nicht ins Feld geführt wird: was bedeutet das hinsichtlich seines Einflusses auf die Philosophie nach Kant? Heißt das, daß schon Fichte dem »hellsten Denker« der Zeit eine Einsicht unterstellt hat, für die er in Wahrheit einzig und allein Schulze hätte preisen dürfen? Oder zeigt sich der maßgebliche Einfluß Jacobis geradewegs umgekehrt genau darin, daß Fichte selber zwischen den Versionen Jacobis und Schulzes noch zu unterscheiden wußte? In der Tat fällt auf, daß Fichte das Kausalitätsargument in der Zweiten Einleitung keineswegs Jacobi, sondern eindeutig Schulze zuschreibt. Der nämlich habe die »arge Inconsequenz«, mit der Kant, »die GrundBehauptung seines Systems über die Gültigkeit der Kategorieen überhaupt für diesesmal« vergessend, »durch einen beherzten Schluß aus der Welt der Erscheinungen heraus, bei dem an sich außer uns befindlichen Dinge« angelangt sei, »vernehmlich genug gerügt«.19 Das klingt nun überdies recht ironisch, und dem darf man wohl entnehmen, daß Fichte von dieser Rüge gar nicht sonderlich beeindruckt ist: ein Umstand, der Jacobis anders angelegte Version schon einmal in Vorteil setzt. Wirklich gewonnen ist damit jedoch noch nicht viel. Denn einen Widerspruch bei Kant rügt Jacobi auf seine Weise schließlich auch. Genau den aber scheint Fichte schlicht zu ignorieren, wenn seine uneingeschränkte AnerkenKern, den Kant selbst noch nicht gekostet hat.« (Immanuel Kant: Brief an Goethe, 13.12.1785, in: Briefwechsel zwischen Goethe und F.H. Jacobi. Hrsg. v. Max Jacobi. Leipzig 1846, 100 (Nr. 40). 19 GA I,4, 235f.

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nung dem Nachweis Jacobis gilt, daß »Kant von einem vom Ich verschiedenen Etwas nichts wisse«.20 Heißt das, daß Jacobis Einfluß doch nur, wenn auch anders als eben gedacht, auf ein äußerliches Mißverständnis zusammenschrumpft, das Fichte aus strategischen Zwecken kultiviert? Nun habe ich die Lage bewußt zugespitzt: nicht um die These von Jacobis substantieller Präsenz hinterrücks zu torpedieren, sondern um zu bekräftigen, daß die Komplexität der Sache eine gründlichere Nachfrage verlangt. Dabei haben sich die Hinsichten einer solchen Nachfrage unterdessen geschärft. Zu rekonstruieren ist erstens, was denn Jacobi im Kontrast zur Argumentation Schulzes als Problem des Dings an sich exponiert. Und zu zeigen ist vor diesem Hintergrund zweitens, inwiefern sich an genau dieser Exposition das programmatische Selbstverständnis der Wissenschaftslehre bildet. 4. »Ich glaube, […] daß der Kantische Philosoph den Geist seines Systems ganz verläßt, wenn er von den Gegenständen sagt, daß sie Eindrücke auf die Sinne machen, dadurch Empfindungen erregen, und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen«.21 Das ist das Problem, das Jacobis Text wie ein roter Faden, wie eine wiederkehrende Formel geradezu durchzieht.22 Der »Geist des Systems« verträgt sich nicht mit der These, daß Gegenstände uns ursprünglich affizieren. Was damit gemeint ist, gilt es im weiteren zu prüfen. Zunächst aber ist es unverzichtbar, sich über die komplizierte Strategie des Textes zu verständigen, die Jacobi als den raffinierten Autor ausweist, der er in der Tat ist. Um es in Gestalt einer Frage zu formulieren: Ist der »Kantische Philosoph«, von dessen Affektionstheorie hier die Rede ist, identisch mit Kant? So verwirrend diese Frage auf Anhieb klingt, so verwirrend ist die Antwort, die man Jacobi zufolge darauf geben muß: Er ist es nicht und ist es doch. Inwiefern er es nicht ist und gar nicht sein kann, beleuchtet der Auftakt der Beilage. Denn gleich der erste Satz notiert, daß der »transscendentale oder kritische Idealismus, auf welchen die Kantische Kritik der reinen Vernunft gebaut ist, […] von einigen Beförderern der Kantischen Philosophie nicht sorgfältig genug behandelt« wird.23 Nicht Kants eigene 20 21 22 23

GA I,4, 235. JW II, 301. Vgl. JW II, 303, 307, 308. JW II, 292.

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Philosophie ist demnach das Problem, sondern deren Darstellung durch ihre Interpreten. Gerade weil an weitmöglicher Verbreitung interessiert, befördern sie nicht etwa die Sache, sondern ihren »Mißverstand«, und zwar in genau dem Maße, wie sie den abschreckenden »Vorwurf des Idealismus« fürchten.24 Um so wichtiger ist, die Diskrepanz zu vermerken, die zwischen diesen furchtsamen Interpreten und der Textvorlage selbst besteht. Sie nämlich »erklärt sich entscheidend genug«:25 in der Kritik des vierten Paralogismus, aus der anschließend über Seiten hinweg zitiert wird. Darüber, wen Jacobi mit dem »Kantischen Philosophen« im Auge hat, insofern er zu den beschriebenen »Beförderern« Kants zählt, kann man Vermutungen anstellen.26 Wesentlich ist in jedem Fall, daß er in den gerade beginnenden Kant-Diskurs mit derselben intellektuellen Schärfe eingreift wie in die laufende Spinoza-Debatte, die ebenfalls durch Verharmlosung der eigentlichen Problem- und Theorielage geprägt ist. Im Falle Kants durch das Schreckwort »Idealismus« indiziert, kommt es im Gegenzug darauf an, den Text vor seiner gefälligen Deutung in Schutz zu nehmen. Und insofern das wiederum die Frage nach seiner zureichenden Lektüre impliziert, ist die Auskunft Jacobis eindeutig. Anstatt die Schrittfolge der Kritik der reinen Vernunft zu reproduzieren und folglich mit der Affektion zu beginnen, erschließt sich der »Geist« des transzendentalen Idealismus umgekehrt dann, wenn man den Text vom Ende her liest. Nun besagt ja auch das Argument eines fälschlichen Kate-

24

JW II, 292. JW II, 293. 26 Nach einigen Recherchen in der zeitgenössischen Kant-Literatur scheint mir der Königsberger Hofprediger Johann Schulze ein plausibler Kandidat zu sein. Dessen Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Critik der reinen Vernunft. Königsberg 1784; 2. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1791 besaß Jacobi in der Erstauflage in seiner Bibliothek (vgl. hier als einschlägige Referenzstellen v. a. 203–205); der Name Schulzes fällt überdies im Briefwechsel mit Hamann häufig. Auf Schulze bezieht sich im übrigen Fichte später ausdrücklich (vgl. GA I 4, 234): womit die Konjektur zugleich den Faden einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den »Kantianern« an die Hand geben könnte. Auf den ursprünglichen Hintergrund der Debatte verweisen insbesondere zwei Briefe Jacobis an Hamann (4.9.1786 u. 14.11.1786), aus denen hervorgeht, daß sein Vorhaben, das idealistische Profil der Kantischen Philosophie herauszustellen, in Reaktion auf zeitgenössische Rezensionen der Spinozabriefe erfolgt, in denen Jacobi von kantianischer Seite bedeutet worden war, daß seine Version des »Glaubens« bestenfalls wiederhole, was man ohnehin bei Kant finde, ansonsten aber ins Abseits führe. »Mich ärgert an seinen Auslegern das geflißentliche Verstecken des Idealismus, der doch die Seele des Systems ist.« (Brief an Hamann, 14.11.1786, in: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Hrsg. v. Arthur Henkel. Wiesbaden 1959 ff. Band 7 (1979), 61 (Nr. 1031). 25

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goriengebrauchs, daß man die »Prämissen« im Lichte der »Resultate« lesen muß. Höchst aufschlußreich ist deshalb, daß der Gang Jacobis nicht, wie dieses Argument nahelegt, mit den »Resultaten« der Analytik, sondern wie erwähnt mit der Kritik des vierten Paralogismus und damit mit dem Stück beginnt, in dem Kant selbst sein Konzept des transzendentalen Idealismus erläutert, und zwar unter dem ausdrücklichen Hinweis darauf, eben so habe er es von Anfang an gemeint. Daß Jacobi diese Erläuterungen dann ausführlich zu Wort kommen läßt, entspricht seiner Lektüreempfehlung offenkundig genau. Und insofern wundert es auch nicht, daß Fichte in seiner analogen Debatte mit dem »Kantianismus der Kantianer«27 gerade diesem Verfahren größte Anerkennung zollt. Die »entscheidendsten und in die Augen springendsten Aeußerungen Kants über diesen Punkt« habe Jacobi »mit den eigenen Worten desselben, angeführt und zusammengestellt«: »Ich mag, was schon gethan ist, und was sich nicht füglich besser thun lässt, nicht noch einmal thun«.28 In der Tat ist Jacobis Kant-Präsentation ebenso sprechend wie textlich korrekt. Bei genauerem Hinsehen fällt allerdings auf, daß er den Text doch nicht nur zitiert, sondern in dessen Wiedergabe durch Hervorhebung gewisse Markierungen einträgt, die für den Fortgang der Sache Signalwirkung haben. Darauf komme ich zurück. Für jetzt sei nur notiert, daß Jacobi die Aufmerksamkeit auf das von Kant hier vorgestellte Bündnis zwischen transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus lenkt, und daß eben dieses Bündnis dann aus noch näher zu bezeichnenden Gründen zwingend nahelegt, den »Geist« der Kantischen Philosophie für inkompatibel mit der Behauptung des »Kantischen Philosophen« zu halten, für den es Gegenstände gibt, die »Eindrücke auf die Sinne machen«. Und dennoch hat die Sache damit nicht ihr Bewenden. Mit der Kritik an einer unsinnigen Kant-Interpretation, hinter der der wahre Kant zum Vorschein käme, ist es hier nicht getan. Im Gegenteil: das Problem, das sich mit der Behauptung affizierender Gegenstände stellt, steckt tatsächlich, so Jacobi weiter, in der Anlage der Kantischen Theorie selber, insofern »sich doch nicht wohl ersehen [läßt], wie ohne diese Voraussetzung, auch die Kantische Philosophie zu sich selbst den Eingang finden, und zu irgend einem Vortrage ihres Lehrbegriffs gelangen könne«.29 Daß sich die Debatte hier, aber auch erst hier, zur immanenten Kritik an Kant ver27 28 29

GA I,4, 237. GA I,4, 235. JW II, 303.

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dichtet, liegt auf der Hand. Mit Rücksicht darauf, daß und wie Jacobi vor der Folie des sich gerade formierenden Kantianismus zu seiner Kant-Kritik gelangt, ist nun aber auch um so deutlicher zu sehen, was seine Lektüre von den dann im Frühidealismus um sich greifenden Optionen unterscheidet. Instigiert von Jacobis Diagnose, daß die Affektionstheorie ein Fremdkörper in der Transzendentalphilosophie sei, zögert etwa Fichte nicht, diesen Fremdkörper nun vollständig auf dem Konto des Kantianismus, der »abenteuerliche[n] Zusammensetzung des gröbsten Dogmatismus, der Dinge an sich Eindrücke in uns machen läßt, und des entschiedensten Idealismus«,30 zu verrechnen, während sein eigenes System als dasjenige vorgestellt wird, das Kant selber sich in Wahrheit »gedacht habe«.31 Demgegenüber nimmt Jacobi den Kantischen Text bis zuletzt beim Wort. Wie »zuwider«32 auch immer also die Behauptung affizierender Gegenstände dem »Geist« der Kantischen Philosophie sein mag, so hat man es doch mit einer wesentlichen Voraussetzung zu tun, die nach Lage der Dinge weder weg- noch umzuinterpretieren ist. Anders als in den idealistischen Versionen führt demnach Jacobi zufolge mit Kant kein Weg aus »Kants Zwiespalt mit sich selbst« heraus.33 Und nur so spitzt sich schließlich die strategische Positionierung seines Textes zu. Adressiert an die »Beförderer der Kantischen Philosophie«, geht es erstens darum, sie einer Problemblindheit zu überführen, die zugleich auf einen blinden Fleck in Kants eigener Konzeption verweist. Konsequenterweise folgt daraus zweitens dann die Aufforderung am Schluß: Wer unter den bezeichneten Umständen »Bekenner«34 des transzendentalen Idealismus dennoch bleiben will, der kann ein Kantianer nun gerade nicht mehr bleiben. Stattdessen muß er eine unerhört neue Theorieform in Aussicht nehmen: den »kräftigsten Idealismus, der je gelehrt worden ist«.35

30

GA I,4, 237. GA I,4, 230. 32 JW II, 303. 33 Vgl. JW III, 369. Symptomatischerweise wird jetzt, nachdem die idealistische Philosophie das Feld mit Macht erobert hat, in Umkehrung des Topos mit der »Verschiedenheit des Geistes seiner Lehre von ihrem Buchstaben« (ebd.) der buchstäblich unvermeidliche Einsatzpunkt der nachkantischen Philosophie wie auch die unaufhebbare Differenz im Geiste zwischen Kant und seinen Nachfolgern bezeichnet. 34 JW II, 309. 35 JW II, 310. 31

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5. Die interne Logik der Transzendentalphilosophie gegen den »Kantischen Philosophen« zu vollstrecken, ist das eine; festzustellen, was bei Kant selbst den Vollzug dieser Logik aufhält, das andere. Jacobi identifiziert dieses widerständige Moment in der Sinnlichkeit. Daß man ohne die Voraussetzung affizierender Gegenstände »in das System nicht hineinkommen« kann, zeigt sich eben hier: »Denn gleich das Wort Sinnlichkeit ist ohne alle Bedeutung, wenn nicht ein distinctes reales Medium zwischen Realem und Realem, ein wirkliches Mittel von Etwas zu Etwas darunter verstanden werden, und in seinem Begriffe, die Begriffe von außereinander und verknüpft seyn, von Thun und Leiden, von Causalität und Dependenz, als realen und objectiven Bestimmungen schon enthalten seyn sollen; und zwar dergestalt enthalten, daß die absolute Allgemeinheit und Nothwendigkeit dieser Begriffe als frühere Voraussetzung zugleich mit gegeben sey.«36 Welcher Terminus in diesem Passus der entscheidende ist, ist klar. Kants Rede von der Sinnlichkeit als irgend bedeutungsvolle Rede beim Wort zu nehmen, mithin die These ernstzunehmen, »daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis« gibt,37 daß Sinnlichkeit als einer dieser Stämme die »Fähigkeit (Rezeptivität)« ist, »Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen«, und daß schließlich »Empfindung« die »Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden«, ist:38 das heißt, daß sowohl die Sinnlichkeit selbst als auch die in diesem Medium aufeinander bezogenen Seiten des Gegenstandes und des affizierten Subjekts als auch die in dieser Beziehung enthaltene Bestimmung der Kausalität in einem emphatischen Sinne als real gekennzeichnet werden müssen. Auf die strukturelle Eigentümlichkeit dieses Sachverhalts gehe ich später genauer ein. Festzuhalten ist zunächst, daß Jacobis Verständigung über die Affektion als dergestalt ursprüngliche Konfrontation mit Realem die ausschlaggebende Basis dafür ist, in ihr nun diejenige Voraussetzung zu sehen, die sich unter den Bedingungen des transzendentalen Idealismus nicht halten läßt.

36

JW II, 303f. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. in: Kant’s gesammelte Schriften, Bde. III u. IV. Akademieausgabe. Berlin 1900ff., A 15. Im folgenden zitiert als KrV unter Angabe der Auflage und Seitenzahl. Die Akademieausgabe wird als »AA« zitiert. 38 KrV, A 19f. Vgl. auch den Beginn der Einleitung in die zweite Auflage KrV, B 1. 37

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Umgekehrt formuliert: gäbe es irgendwelche Anhaltspunkte dafür, Jacobis Verständigung für eine Unterstellung zu nehmen, die Kants Eingangsbestimmungen de facto nicht trifft, dann – und nur dann – fiele die Triftigkeit seiner Widerspruchs-Diagnose allerdings dahin. Indessen halte ich einen solchen Einwand für hypothetisch. Denn selbst wenn man zugibt, daß eine mehr als zweihundert Jahre währende Geschichte der Kant-Exegese es hier bislang nicht zu definitiver Klarheit gebracht hat,39 so wäre ja gerade so der Beleg für Jacobis Probleminventivität bereits geliefert. Damit verbunden aber kann man außerdem vermerken, daß er sich mit seiner Deutung bis heute in der gewichtigen Gesellschaft all derer befindet, die, sofern sie die Überzeugungskraft des vermeintlich von ihm stammenden Arguments eines fälschlichen Kategoriengebrauchs bei Kant bestreiten, doch nie in Abrede stellen, daß Kants Eingangsbehauptung affizierender Gegenstände identisch sein muß mit der Behauptung einer realen Affektion durch reale Dinge an sich.40 In der Tat ist schwer zu sehen, welch anderen Reim als diesen man sich auf eine Vielzahl von Textstellen in der Kritik der reinen Vernunft und nicht zuletzt auch auf die einschlägigen Passagen in den Prolegomena machen soll, wo von der »Existenz« der Dinge, die wir nur ihrer »Erscheinung« nach kennen, völlig selbstverständlich ausgegangen wird.41 Im übrigen liegt ja diese Lesart auch dem Argument Schulzes zugrunde. Und so mag es oberflächlich betrachtet vielleicht auch so scheinen, als deute insbesondere der eben zitierte Passus auf dieses Argument voraus.42 Die wesentliche Differenz beider Analysen kann man jedoch in einem ersten Zugriff schon umreißen. Kant eine mißbräuchliche Anwendung der Kategorien über das Gebiet der Erscheinungen hinaus zu unterstellen, bedeutet nämlich, den Theorierahmen der transzendentalen Reflexion vorauszusetzen und zugleich zu behaupten, daß Kant sich mittels einer Verobjektivierung eben dieses Rahmens eine Dimension er39

Vgl. Thomas Pogge: Erscheinungen und Dinge an sich, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 45, 1991, 489–510, 489f. 40 Vgl. insbesondere P. Baumanns mit der nachdrücklich, nicht zuletzt gegen fichteanisierende Interpretationen vertretenen, aber auch gegen jeden Zweifel an ihrer Konsistenz bei Kant sich immunisierenden These von der »absolute[n] Zentralität des Seins« (Kommentar, 188). 41 Immanuel Kant: Prolegomena, AA IV, § 13, Anmerkung III. 42 Sind es doch die mit der Sinnlichkeit supponierten realen Strukturen, »welche sich auf keine Art und Weise mit der Kantischen Philosophie vereinigen lassen, da diese durchaus damit umgeht zu beweisen: daß sowohl die Gegenstände als ihre Verhältnisse blos subjective Wesen, bloße Bestimmungen unseres eigenen Selbstes, und ganz und gar nicht außer uns vorhanden seyen«. (JW II, 305). Vgl. KrV, A 129 und 378.

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schlossen habe, in die er unter den Restriktionsbedingungen seiner Theorie nicht hätte vordringen dürfen. Jacobi hingegen kommt es auf etwas ganz anderes an. Unverzichtbar und zugleich unhaltbar ist die Voraussetzung affizierender Gegenstände hier nicht deshalb, weil sie sich einer fälschlichen Überdehnung des Theorierahmens verdankte, sondern deshalb, weil sie in einen theoriefremden Hohlraum fällt, den Kant sich mit den Mitteln des transzendentalen Idealismus in gar keiner Weise aneignen kann. Nicht daß Kant sich wirkende Dinge als Ursache der Erscheinungswelt erschlossen hätte, was er nicht dürfte, ist der Punkt, sondern daß die Prämisse seines Unternehmens aus dem Vollzug dieses Unternehmens als vollständig unaufklärbar herausfällt. Notiert man das, dann zeichnet sich ab, daß Jacobis Analyse ungleich radikaler angelegt ist als diejenige Schulzes, die letztlich nur eine typisch skeptizistische Denkfigur gegen Kant in Stellung bringt.43 Zur genaueren Explikation empfiehlt es sich nun, den Blick zunächst wiederum auf den Anfang der Beilage, auf die Auszüge aus der Kritik des vierten Paralogismus zu richten. Daß Jacobi diesen Text korrekt zitiert, gleichzeitig aber mit Markierungen versieht, hatte ich schon erwähnt, und auf diesen aufschlußreichen Befund ist jetzt zurückzukommen. Zur Kenntnis nehmend, wie Kant die Verträglichkeit von transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus begründet, wird allem voran herausgestellt, unter welchen Bedingungen dieses, die Überzeugung von der Existenz der Außenwelt durchaus affirmierende Bündnis zustandekommt: »Nur« um eine »Art Vorstellungen (Anschauungen)« handelt es sich nämlich dann, »welche äußerlich heißen, nicht, als ob sie sich auf an sich selbst äußere Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen, in welchem alles außer einander, er selbst, der Raum, aber in uns ist«.44 Diese Unterscheidung fällt, wie Kant weiter expliziert, mit der Bemühung zusammen, den »Ausdruck: außer uns« von seiner ihm anhaftenden »Zweydeutigkeit« zu befreien, »indem er bald etwas bedeutet, was als Ding an sich selbst von uns unterschieden existirt, bald was blos zur äußeren Erscheinung gehört«.45 Da es allein um die letztere Bedeutung zu tun ist, sollen der transzendentalen Sprachregelung entsprechend »empirisch äußerliche Gegenstände dadurch von denen, die so im transscendentalen Sinne heißen möchten«, unterschieden sein, »daß wir sie […] gerade zu Dinge nennen, 43 44 45

Schulze, Aenesidemus, 183ff. JW II, 293f. Vgl. KrV, A 370. JW II, 295. Vgl. KrV, A 373.

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die im Raume anzutreffen sind«.46 Worauf Jacobi mit seiner ersten Markierung zielt, ist somit deutlich: Auf die Trennung zwischen Dingen an sich und Erscheinung rekurrierend, vertragen sich transzendentaler Idealismus und empirischer Realismus in genau dem Maße, wie die Bezugnahme auf eine subjektunabhängige Außenwelt transformiert wird in die Bezugnahme auf eine in der Anschauungsform des Raumes äußerlich vorgestellte Welt.47 Hinsichtlich der Gegenstandsverfaßtheit dieser Welt spielt die Frage, ob und wie sie ihrerseits in einer Relation zu dem steht, »was als Ding an sich selbst von uns unterschieden existiert«, keine Rolle. Gibt es denn aber über diese Relation etwas zu sagen? Wie eben schon mit den Gegenständen, die so »im transscendentalen Sinne heißen möchten«, in den Blick gerückt ist, setzt an diesem Punkt nun die andere, noch wichtigere Reihe der Textmarkierungen Jacobis ein. »Nun kann man zwar einräumen«, so die einschlägig gekennzeichnete Auskunft Kants, »daß von unseren äußeren Anschauungen etwas, was im transscendentalen Sinne außer uns seyn mag, die Ursache sey, aber dieses ist nicht der Gegenstand, den wir unter den Vorstellungen der Materie und körperlichen Dingen verstehen; denn diese sind lediglich Erscheinungen, d. i., bloße Vorstellungsarten, die sich jederzeit nur in uns befinden […]. Der transscendentale Gegenstand ist, sowohl in Ansehung der inneren als äußeren Anschauung, gleich unbekannt.«48 Daß das Ding an sich, hier der »transzendentale Gegenstand« oder das »transscendentale Object« genannt, gänzlich unbekannt, »ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen« sei,49 hatte Kant mit Beginn der Transzendentalen Ästhetik versichert. Jacobi indessen unterstreicht, daß hier nun überdies unter die explizite Kautele eines Es-mag-sein fällt, ob man es, die Unbekanntheit vorausgesetzt, mit einer subjektexternen Ursache der äußeren Anschauungen überhaupt zu tun hat. Er unterstreicht dies klarerweise deshalb, weil sich für das Bündnis aus transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus zusammen mit der Restriktion des »außer uns« auf die äußere Anschauungsform des Raumes dergestalt die Folgerung ergibt, daß so etwas wie die Vergewisserung eines realen, von uns unabhängig existierenden Seins weder unter empirischen noch unter transzendentalen Vorzeichen erbracht werden kann. Dementsprechend ist es gewiß

46

JW II, 295. Vgl. KrV, A 373. Jacobi markiert entsprechend auch alle Passagen, in denen von »Vorstellung« gesprochen wird. 48 JW II, 294f. Vgl. KrV, A 372. 49 JW II, 297. Vgl. KrV, A 380. 47

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kein Zufall, aber auch keine Irreführung des Lesers, daß in Jacobis Auszug die der Wahrnehmung gewidmeten Passagen fehlen, in denen Kant das allfällig dazugehörende Stück, den Stoff nämlich, traktiert, um das damit vermeinte »Wirkliche im Raume« den Bedingungen des empirischen Realismus gemäß mit dem bezeichnenden, an die Erörterung der Modalkategorien anschließenden Satz zu fassen, daß die äußere Wahrnehmung »das Wirkliche selbst« ist.50 Wenn dies nun aber das Profil des transzendentalen Idealismus ist, für den »wir uns«, so Kant, »schon im Anfange erklärt« haben:51 wie steht es dann um die These, daß Gegenstände uns affizieren? Solche Gegenstände müßten, in Erinnerung an das vorhin über die Sinnlichkeit Gesagte, eine Realität darstellen, die in der subjektiven Konstitutionsleistung nicht aufgeht. Der von Kant selbst explizierte »Lehrbegriff«52 jedoch bietet nicht die geringste Handhabe, eine solche Realität zu thematisieren. Diese Unmöglichkeit, die Voraussetzung Kants mit dessen eigenen Mitteln rückwirkend einzuholen, spielt Jacobi in vier Schritten durch. Danach können die als affizierend behaupteten Gegenstände erstens nicht identisch mit dem empirischen Gegenstand sein, insofern es sich hier bereits um die Objekte der Erscheinungswelt handelt.53 In Frage kommen aber auch nicht zweitens der »transscendentale Gegenstand« und drittens die »Vorstellung vom Gegenstande = X«.54 Von Kant selbst induziert, mag diese Feststellung terminologisch besehen leicht verwirrend sein; in dem von Jacobi präsentierten Kontext ist sie sachlich indes präzise zu entziffern. So ist mit der »Vorstellung vom Gegenstand = X« eindeutig der Sachverhalt gemeint, von dem Kant in der A-Deduktion, hier unter der Benennung eines »transzendentalen Gegenstands«, spricht und damit den der Einheit der Apperzeption korrespondierenden Gedanken der Einheit von Gegenständlichkeit überhaupt kennzeichnet, der als solcher der Konstitution eines empirischen Objekts jederzeit zugrundeliegt.55 Davon zu unterscheiden ist jedoch, was im Ausgang von Kants 50

KrV, A 375. Tatsächlich hat Jacobi diesen Sachverhalt nicht ignoriert. An späterer Stelle seines Textes notiert er vielmehr, daß »alle Gegenstände der Erfahrung bloße Erscheinungen sind, deren Materie und realer Inhalt durch und durch nichts anders als unsere eigene Empfindung ist«. (JW II, 305). 51 KrV, A 370. 52 JW II, 301. 53 JW II, 301f. 54 JW II, 303. 55 KrV, A 104ff. Vgl. dazu das wörtliche Zitat Jacobis JW II, 302.

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Redeweise in der Kritik des vierten Paralogismus bei Jacobi durchgehend als »transzendentaler Gegenstand« firmiert. Seiner Aussage zufolge, wonach es sich hier »höchstens« um einen »problematische[n] Begriff« handelt, »welcher auf der ganz subjectiven, unserer eigenthümlichen Sinnlichkeit allein zugehörigen Form unseres Denkens beruht«,56 ist klar, daß damit das Noumenon aus den einschlägigen Schlußkapiteln der Analytik ins Auge gefaßt ist. Die äußerst diffizile Differenz, die Kant im Gang seiner Reflexionen unter ein und demselben Terminus gewahrt wissen will,57 ist Jacobi demnach nicht entgangen. Was aber die darauf bezogene Diagnose betrifft, daß beide Fälle transzendentaler Gegenstands-Konzeption ebensowenig wie der empirische Gegenstand geeignet sind, die Voraussetzung affizierender Dinge zu treffen, so versteht sich dies im Falle des X als »gänzlich unbestimmte[n] Gedanken[s] von etwas überhaupt«58 zweifellos von selbst. Im Falle des Noumenon hingegen erweist sich die Sache als brisant. Als brisant deshalb, weil Kant hier selber den Gedanken einer solchen Voraussetzung thematisiert und ihn dabei nun in der Tat buchstäblich als einen Gedanken behandelt, den der Verstand, der »Einschränkung unserer Sinnlichkeit« entsprechend, denkt. Der Verstand denkt sich demnach also »einen Gegenstand an sich selbst, aber nur als transzendentales Objekt, das die Ursache der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist, und weder als Größe, noch als Realität, noch als Substanz etc. gedacht werden kann […]; wovon also völlig unbekannt ist, ob es in uns, oder auch außer uns anzutreffen sei, ob es mit der Sinnlichkeit zugleich aufgehoben werden, oder, wenn wir jene wegnehmen, noch übrig bleiben würde«.59 Mit anderen Worten: wenn Jacobi unterstreicht, daß der Begriff des »transzendentalen Gegenstandes« in Gestalt des Noumenon nach Kants eigener These als ein »problematischer Begriff«60 gefaßt werden muß, der auf der »ganz subjektiven Form unseres Denkens beruht«, dann unterstreicht er mit Bezug auf das Amphibolienkapitel61 eben die Struktur, die er in 56

JW II, 302. Vgl. dazu insbesondere auch die Passagen KrV, A 250ff. Mit Bezug auf dieselben Textstellen, die auch Jacobi jeweils heranzieht, hat Henry E. Allison die Differenz der Hinsichten erörtert: Kant’s Concept of the Transcendental Object, in: Kant-Studien 59, 1968, 165–186. Allerdings wird hier dem als Ursache gedachten transzendentalen Gegenstand ein »existential claim« zugeordnet, was sich Jacobi zufolge erübrigt. 58 KrV, A 253. 59 KrV, A 287f. 60 KrV, A 254, 287. 61 Vgl. das wörtliche Zitat des eben wiedergegebenen Kant-Passus mit wiederum sprechenden Markierungen in JW III, 89 Anm. 57

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seinem Auszug aus der Kritik des vierten Paralogismus mit der Kautele des Es-mag-sein bereits markiert hatte.62 Und in dieser Kautele liegt, wie sich neuerlich und jetzt um so manifester zeigt, eben nicht allein, daß der Verstand den von ihm als »Ursache der Erscheinung« gedachten Gegenstand in seinem Wie-Sein nicht ausweisen kann. Insofern die Logik eines »problematischen Begriffs« nicht mehr und nicht weniger als seine Widerspruchsfreiheit, mithin nur die logische Möglichkeit seiner Denkbarkeit impliziert, liegt in der Kautele des Es-mag-sein vielmehr begründet, daß die Realität selbst des als subjektexterne Ursache gedachten Gegenstandes unmöglich zu verifizieren ist. Ob also »in uns oder auch außer uns« – im Horizont des Denkens bleibt der Punkt, »wo diese Ursache, und von was Art ihre Beziehung auf die Wirkung sey«, unvermeidlich »in der tieffsten Dunkelheit verborgen«.63 Anders, so kann man hinzufügen, kann es in einer »bloßen Analytik des reinen Verstandes«, der »der stolze Name einer Ontologie« Platz machen muß,64 auch nicht sein. Indessen enthält die Feststellung, daß sich das Gewicht der Argumentation Jacobis in diesem Befund der Kollision eines affektionstheoretisch vorausgesetzten realen Außen mit dem transzendentaltheoretisch dem Verstand zugedachten Gedanken von einer ursächlich wirkenden Realität als einer dann bloß logischen Möglichkeit konzentriert,65 noch eine weitere, das Argument des fälschlichen Kategoriengebrauchs betreffende Pointe. Sofern nämlich dieses Argument nach Windelbands Standardversion Jacobi zugeschrieben und zugleich als ein gehöriges Mißverständnis Kants zurückgewiesen wird, beruft man sich stets auf die von Kant getroffene Unterscheidung zwischen Erkennen und Denken.66 Woraus sich ergibt, daß Kant sich einer Anwendung insbesondere der Kategorie der Ursache auf Dinge an sich selbstverständlich in dem Maße nicht schuldig gemacht haben kann, wie er selber im Blick auf das Noumenon ausschließlich den »transzendentalen Gebrauch« der von den Bedingungen der sinnlichen Anschauung abstrahierten und insofern als »rein« bezeichneten Kategorien für zulässig erklärt hat.67 So ist es in der Tat. Zu vermer62

Vgl. JW II, 305. JW II, 305. 64 KrV, A 247. Vgl. dazu die besonders aufschlußreiche Sequenz in der Vorrede zur zweiten Auflage KrV, B XXVIf mit der zugehörigen Anmerkung. 65 Vgl. JW III, 87f. Anm., wo eine Serie von Exzerpten zu diesem Punkt bekräftigt, daß hier das Zentrum seiner Analyse liegt. 66 Vgl. Herring, Affektion, 31; Fleischer, Wahrheit, 113 ff.; Adickes, Ding an sich, 49ff.; Willaschek, Phaenomena, 339. 67 KrV, A 247f. 63

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ken ist nur, daß dieser kritisch gegen Jacobi ins Feld geführte Punkt seine Vorlage in gar keiner Weise trifft. Denn nicht allein hat er mit der »Form unseres Denkens« genau die Differenz treffscharf im Auge, die er angeblich übersehen hat. Er zeigt vor allem, daß es ja justament der legitime, dem »Geist« des transzendentalen Idealismus völlig gemäße unschematisierte Kategoriengebrauch ist, der hinsichtlich des Problems der Affektion nicht nur nichts ausrichtet, sondern sie eigentlich untergräbt. Wie verfehlt es tatsächlich ist, Jacobi ein Argument zu unterstellen, das man dann mit Mitteln zu widerlegen sucht, die den kritischen Kern seiner eigenen Argumentation gerade bilden, beleuchtet nun auch noch der vierte und letzte Schritt. Hat sich bislang ergeben, daß weder der empirische Gegenstand noch das unbestimmte Etwas=X noch auch das Noumenon zu fassen erlauben, was der Voraussetzung zufolge ein affizierender Gegenstand wäre, so scheitert daran zuletzt auch noch die ohnehin nur mehr hypothetisch durchgespielte Überlegung, ob wir »zu einem solchen Dinge« womöglich dadurch gelangen, »daß wir uns bey den Vorstellungen, die wir Erscheinungen nennen, passiv fühlen«.68 Zum Scheitern verurteilt ist diese Möglichkeit deshalb, weil sie die Annahme der Empfindung von »Ursache und Wirkung im transscendentalen Verstande« – also in einem die Kausalitätskategorie auf ein Jenseits der Erscheinung anwendenden Sinne – implizierte, um dergestalt »auf Dinge außer uns und ihre nothwendigen Beziehungen aufeinander« zu »schließen«.69 Um einen veritablen Schluß von der Wirkung auf eine reale Ursache handelte es sich also dann, der von Jacobi nicht etwa als faktisch unternommen behauptet, dessen Absurdität vielmehr im Konjunktiv hervorgekehrt wird, indem »der ganze transscendentale Idealismus hiemit zu Grunde gienge, und alle Anwendung und Absicht verlöre«.70 Woraus nun insgesamt folgt, daß um der Konsequenz der Theorie willen die Voraussetzung affizierender Gegenstände restlos preisgegeben werden muß. Und was genau heißt das nun? Es bleibt, ausgehend von einem neuerlichen Blick auf die Sinnlichkeit, in der Rekonstruktion des Textes ein Letztes zu bedenken. Auf den entscheidenden Term des Realen hatte ich hier verwiesen. Zu berücksichtigen ist jetzt die in eins damit exponierte Struktur, wonach Sinnlichkeit die Instanz eines medialen Zwischen verkörpert, um so das »Mittel« zu bilden zwischen der Welt und 68 69 70

JW II, 308f. JW II, 309. JW II, 309.

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dem Subjekt, indem sie beide aufeinander bezieht. Daß allein diese mediale Struktur für die ursprüngliche Voraussetzung von Realem einstehen kann, ist Jacobis bedeutsame These. Mit ihr zeigt sich erstens, inwiefern Sinnlichkeit als ein widerständiges Moment in den Theorieraum des transzendentalen Idealismus in der Tat nicht integrierbar ist: Versucht man es, dann sublimiert sich das »Mittel« unweigerlich zur subjektiven Empfindung und mit ihr das Reale zum bloßen Datum in der Anschauungsform des Raumes. Bedeutsam ist die These zweitens, weil sie ab ovo für sinnlos erklärt, umgekehrt nun so etwas wie den Geber des Datums ausgehend von der Empfindung zu erfragen. Das wäre der Schluß von der Wirkung auf die Ursache, den Jacobi Kant demnach nicht nur insofern nicht unterstellt, als die Logik der Transzendentalphilosophie an ihm »zu Grunde ginge«, sondern auch insofern nicht, als er der eigentümlich medialen Logik der Voraussetzung selber widerspräche. Hervorzuheben ist schließlich drittens, was die Identifizierung der Sinnlichkeit mit ihrem »Mittel«-Charakter gleichfalls ausschließt: daß man sich – im Kontrast und in Entsprechung zur reduktiven Konzentration auf das Subjekt – nun unversehens auf die Seite der Gegenstände zu schlagen hätte, um das Reale der Voraussetzung von hier aus zu sichern. Das Fazit aus alledem aber sei viertens benannt. Aus den genannten Strukturmerkmalen ergibt sich nämlich, daß Kants Affektionstheorie genau in dem Maße in einen dem »Geist« des transzendentalen Idealismus fremden Hohlraum fällt, wie man diesen Raum zugleich präzise bestimmen kann. Es ist der, in dem Jacobi seine eigene Position, die eines »eigentliche[n]« oder »entschiedene[n]« Realismus71 vertritt. Kennzeichen dieses Realismus ist, wie Jacobi sowohl an exponierter Stelle der Beilage als auch im Gespräch über Idealismus und Realismus unmißverständlich klar macht, das Kantische Bündnis aus transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus »entschieden« zu transzendieren.72 Spezifischerweise kommt es dabei aber auf die Struktur einer Realitätsgewißheit an, die gerade so, wie von Jacobi am medialen Zwischen der Sinnlichkeit aufgewiesen, »inneres Bewußtseyn und äusserliche[n] Gegenstand« instantan, »in demselben Augenblicke« und »ohne irgend eine Operation des Verstandes, ja ohne in diesem auch nur von ferne die Erzeugung des Begriffes von Ursache und Wirkung anzufangen«, umspannt.73 Mit dieser Gleichursprünglichkeit beider Momente, 71 72 73

JW II, 142, 165. JW II, 299, 142 f. JW II, 176.

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wonach keines ohne das andere und zugleich keines auf das andere rückführbar ist, wird die hier thematische Gewißheit zu einer unmittelbaren Gewißheit, die Jacobi Glaube, sogar eine »wahrhaft wunderbare« »Offenbarung« nennt.74 Als vermeintlich religiös und irrational stehen diese Termini von jeher unter Verdacht. Wie fatal die Kultivierung dieses Mißverständnisses jedoch ist, zeigt ein Blick auf Kant, der die hier gemeinte Struktur nämlich selber in Einsatz bringt, indem er die diesseits aller Schlußoperationen angesiedelte »unmittelbare Wahrnehmung« des Wirklichen als das wesentliche Moment des empirischen Realismus hervorhebt.75 Für das Folgende festzuhalten ist mithin erstens, daß es in der Tat eine strukturelle Verwandtschaft zwischen Jacobis »entschiedenem« und Kants empirischem Realismus gibt, angesichts derer sich die Differenz beider als konträrer Positionen allein, aber ausschlaggebend im Verständnis des je unmittelbar vergewisserten »außer uns« niederschlägt. Und das wiederum bedeutet zweitens, just in dieser Differenz auf eine neuerliche Gemeinsamkeit zu stoßen. Insofern Jacobi über die Reichweite des bloß empirischen Realismus hinaus auf die gleichursprüngliche »Offenbarung« subjektunabhängiger Realität zielt, vermag er der ebenso fraglosen wie befremdlichen affektionstheoretischen Voraussetzung Kants einen Sinn abzugewinnen, der sich transzendentalphilosophisch, wie gesehen, nicht mehr artikulieren läßt.76 Dabei kommt es darauf an, diesen letzteren Punkt genau im Auge zu behalten. Gewiß legt diese, von Jacobi später ausdrücklich angestellte Überlegung nahe, den Punkt, an dem sich seine Analyse zur immanenten Kritik an Kant verdichtet, für identisch zu halten mit dem, an dem zugleich seine eigene Position virulent wird.77 Aber damit wird selbstverständlich nicht behauptet, daß 74

JW II, 167. KrV, A 371. Vgl. dazu JW II, 142. 76 Vgl. Günter Zöller: Das Element aller Gewißheit. Jacobi, Kant und Fichte über den Glauben, in: Fichte-Studien 14, 1998, 21–41, wo mit der These einer lediglich äußerlichen Einblendung der Jacobischen Position in Kant die faktische Komplexität der Lage allerdings einseitig aufgelöst wird. Wie »stark die realistische Tendenz in Kant war« und wie fraglos er deshalb die »Existenz der Dinge an sich« als »unbewiesene Prämisse« voraussetzte, hat umgekehrt Adickes lebhaft beschworen (Ding an sich, 9). Dazu gehört dann plausiblerweise auch die Abwehr eines von der Empfindung aus unternommenen Kausalschlusses (10ff., 35). Solche Züge als entscheidend herausstellend, muß Adickes jedoch im weiteren alle konträren Äußerungen Kants dem »reine[n] Erkenntnistheoretiker« zugutehalten, der, wenn auch nur selten, die Konsequenzen aus seiner Transzendentalphilosophie gezogen habe (49, 118, 120). 77 Vgl. JW II, 37f. 75

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III. Jacobi · B. Sandkaulen

Kant die realistische Position Jacobis explizit mit ihm geteilt hätte. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, wie spätestens mit der spezifischen Bestimmung realer Kausalität kenntlich wird, die im medialen Zwischen der Sinnlichkeit, wie Jacobi formuliert, »enthalten« ist. Daß sich solches Enthaltensein im Ausgang von der Kategorie der Kausalität nicht aufklären läßt, hat sich unterdessen vielfach erwiesen.78 Jacobis im weiteren Gang des Gesprächs unternommene Überlegung ist denn auch die, den Ursprung des Begriffs der Ursache überhaupt nicht in theoretischen Leistungen, sondern in den praktischen Umständen des Handelns freizulegen, womit er sich bewußt in äußersten Kontrast zur Theorie Kants begibt. Kein theorieintern nachweisbarer Kategorienfehler also, aber auch nicht der externe Zusammenstoß von je als disparat reflektierten Motiven, sondern der Umstand, seine affektionstheoretischen Prämissen einer eigenen Aufklärung nicht für bedürftig gehalten zu haben, läßt das verwirrend widersprüchliche Bild entstehen, das Kants Philosophie der Diagnose Jacobis zufolge bietet. Ein, wie man jetzt sagen kann, aus »entschieden« realistischen und »entschieden« transzendentalidealistischen Komponenten unentschieden zusammengesetztes Bild, dessen Fokus nicht von ungefähr die wiederholte Beteuerung bildet, daß doch »ungereimt« wäre, wenn »Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint«.79 Daß hier ein noumenales »Nichts« ein reales »Etwas« genannt wird, ohne daß Kant selbst diesen »wahren Kern gekostet« hätte, hatte Jacobi frühzeitig an Goethe geschrieben.80

6. Das Fazit, das Jacobi aus seiner hochdifferenzierten Analyse zieht, drängt auf die Konsequenz eines »spekulativen Egoismus«,81 der dem »Geist« der Theorie entsprechend auf die Voraussetzung von Dingen, »die im transscendentalen Verstande außer uns wären […] und Beziehungen auf 78

So weit ich sehe, ist Wilhelm Metz der einzige, der anstelle des angeblich von Jacobi monierten Kategorienfehlers wenigstens in aller Kürze notiert, daß es um die bei Kant vorausgesetzte, aber nicht thematisierte Differenz zwischen realer Kausalität und Verstandeskategorie geht: Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes. Suttgart-Bad Cannstatt 1991, 268f., 274f. 79 KrV, A 251f., KrV, B XXVIf. 80 Vgl. JW II, 35 f. 81 JW II, 310.

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uns haben, die wir auf irgend eine Weise wahrzunehmen im Stande seyn könnten«,82 restlos verzichtet. In eins damit drängt Jacobi aber auch, wie sich mit der Rekonstruktion seines Textes zuletzt ergeben hat, auf eine an dieser Stelle zwar nicht explizit ausgesprochene, aber deutlich erkennbare Entscheidung zwischen alternativen Optionen. Denn wer dem Kantischen Dilemma entgehen möchte, kann sich immerhin auch auf dessen andere Seite schlagen und demzufolge die Position eines »entschiedenen Realismus« vertreten. Dies allerdings um den nicht weniger konsequenten Preis, eine erkenntnistheoretische Erklärung der instantanen Realitätsgewißheit bewußt zu stornieren und jegliche Verständigung über die in ihr »enthaltenen« Bestimmungen an eine den praktischen Umständen des Handelns verpflichtete Untersuchung zu verweisen. Daß und wofür sich Fichte nun angesichts dieser Konstellation entschieden hat, versteht sich. Mit seiner schon erwähnten, im Rekurs auf Jacobis »Beweis« formulierten These, daß »Kant von einem vom Ich verschiedenen Etwas nichts wisse«, votiert er klarerweise für die Option des »spekulativen Egoismus«, den die Wissenschaftslehre im konsequenten Ausschluß jeglicher Realität, die unabhängig von den Konditionen absoluter Subjektivität bestünde, zur Darstellung bringt. Wobei sich der Aufwand, den Text Jacobis seiner kolportierten Standardversion entgegen einer gründlichen Verhandlung unterzogen zu haben, jetzt ganz konkret bewährt. Denn, das ist das erste, worauf stützt sich denn Fichtes Überzeugung, daß Jacobi den transzendentalen Idealismus »so richtig« gefaßt habe, während er allen anderen Auffassungen bescheinigt, das groteske Zerrbild ihres eigenen »Dogmatismus« für die »angestaunten Entdeckungen des großen Genie«83 auszugeben? Bis in die Zitate hinein kenntlich, die Fichte Jacobis Text entnimmt,84 fußt seine Anerkennung in der Tat darauf, daß Jacobis Kant-Lektüre weder affirmativ noch kritisch davon zehrt, die Rede von affizierenden Gegenständen auf die Anwendung von Kategorien zurückzuführen, mithin darauf, daß sie stattdessen die Aufmerksamkeit auf den „transzendentalen Gegenstand“ als ein Konstrukt des Denkens gelenkt hat. Das ist es, worauf es Fichte ankommt: Das Ding an sich ist, als »Noumen« recht verstanden, nichts denn »ein bloßer Gedanke«.85 Und so absurd das Unternehmen von mancherlei »Ausle82 83 84 85

JW II, 309. GA I,4, 237. Vgl. GA I,4, 235. GA I,4, 237.

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III. Jacobi · B. Sandkaulen

ger[n]« ist, einem Gedanken dann wieder das »Prädicat der Realität« beizumessen, einen bloßen Gedanken also »auf das Ich einwirken« zu lassen,86 so sehr hat offenkundig umgekehrt Jacobi recht, wenn er solche Operationen Kant nirgends unterstellt. Anders gesagt: Was mit der Differenz zwischen schematisiertem und transzendentalem Kategoriengebrauch regelmäßig gegen Jacobis vermeintliches Argument angeführt wird, ist exakt dasselbe, was Fichte seinerseits gegen die zeitgenössischen »Kantianer« eingewendet hat – mit dem wesentlichen Unterschied allerdings, daß er es ebensowenig wie Jacobi versäumt, auf den Konsequenzen zu insistieren, die der gedankliche Status des Noumenon mit sich bringt. So weit liegt die Sache klar. Klar ist aber schließlich auch, daß der Impetus in der Auszeichnung eines »bloßen Gedankens« des Verstandes sich sichtlich je anderen Quellen verdankt. Was Fichte so eindeutig wie bruchlos dem Profil »des entschiedensten Idealismus« zuschreibt, »der alles Seyn nur durch das Denken der Intelligenz entstehen lässt, und von einem andern Seyn gar nichts weiß«,87 eben davon muß man der Diagnose Jacobis zufolge vielmehr sagen, daß solche Entschiedenheit bei Kant selbst keineswegs vorliegt, sondern durch die Annahme affizierender Gegenstände unentschieden konterkariert wird. Bedeutet das, so schon die früher aufgeworfene Frage, daß Fichte beides schlicht übersehen hätte: nämlich sowohl die von Jacobi vermerkte Kollision im Gefüge der Kritik der reinen Vernunft selber als auch dessen eigenen, an dieser Kollision festgemachten realistischen Einspruch? Bei näherem Hinsehen zeigen sich die Dinge anders. Und inwiefern hier nun die programmatische, jedoch nur um den Preis erheblicher Verschiebungen zu habende Pointe Fichtes liegt, will ich zum Schluß in wenigen Zügen umreißen. Den Einstieg bezeichnet seine These, daß das Noumen »von uns, nach nachzuweisenden, und von Kant nachgewiesenen Gesetzen des Denkens, zu der Erscheinung nur hinzu gedacht wird, und nach diesen Gesetzen hinzu gedacht werden muß«.88 Wäre mit dieser These das gemeint, was Jacobi unter der Kautele des Es-mag-sein als die Logik eines »problematischen Begriffs« dargestellt hat, wäre sie unverfänglich. Tatsächlich aber hat Fichte etwas ganz anderes im Sinn. Kenntlich wird das spätestens an der Stelle, wo auch er sich nun mit der Rede Kants von 86 87 88

GA I,4, 237. GA I,4, 237. GA I,4, 236.

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affizierenden Gegenständen befaßt. Auch diese Diskussion erfolgt im Rekurs auf Jacobis Text. Bezeichnend ist allerdings nicht allein, daß Fichte die Analyse Jacobis, derzufolge keine der innerhalb der transzendentalen Reflexion formulierten Gegenstandsbestimmungen die Eröffnung der Affektionstheorie trifft, souverän übergeht, um sie geradenwegs durch die gegenteilige Behauptung zu ersetzen. Bezeichnend ist vor allem, auf welche Weise er diesen gegenteiligen Nachweis zu erbringen sucht. Ob er es aus übereilter Unachtsamkeit oder aus strategischen Interessen tut, sei hier dahingestellt: Deutlich ist in jedem Fall, daß er das Noumenon mit der »Vorstellung vom Gegenstande = X« stillschweigend identifiziert.89 Konkret heißt das: Was Fichte zitiert, worauf er also seine Argumentation explizit stützt, ist Jacobis Feststellung, daß es der »Verstand ist, […] welcher das Object zu der Erscheinung hinzuthut«.90 Daß offenkundig dieser Satz der oben erwähnten Bemerkung über die gesetzliche Denknotwendigkeit des Noumenon zur Vorlage gedient hat, ist unschwer zu erkennen. Ignoriert hat Fichte dabei jedoch die von Jacobi an dieser Stelle sorgfältig markierte Differenz: mit dem Erfolg, daß er die dem Text Kants exakt entsprechende, also auf das unbestimmte X gemünzte Feststellung Jacobis nicht nur mit dem Noumenon gleichsetzt, sondern in eins damit den hier einschlägigen »Begriff [der] Einheit« von Gegenständlichkeit überhaupt91 der Affektion ihrerseits nun konstitutiv zugrundelegt. Das Objekt, welches der Verstand »zur Erscheinung hinzutut«, transformiert sich dergestalt in den affizierenden Gegenstand selber, von dem jetzt aber natürlich entscheidend gilt, daß er »als afficirend« »nur gedacht« wird.92 Gestützt auf Jacobis Referenz, hat Fichte damit eine Operation inszeniert, für die im Ernst weder Jacobi noch Kant irgendwelche sachlichen Anknüpfungspunkte bieten.93 Immerhin aber hat sie zum Ergebnis, daß 89

Vgl. vor anderem Hintergrund und ohne Referenz auf Jacobis Kant-Beilage Gerold Prauss: Kant und das Problem der Dinge an sich. 3. Aufl. Bonn 1989, 130f. Anm. 90 JW II, 302; vgl. GA I,4, 240 f. 91 JW II, 302f. 92 GA I,4, 241. 93 Seine faktische Entfernung von Kant hat Fichte anders als in seinen Schriften in einem seiner Briefe an Jacobi durchaus markiert: »Sie sind ja bekanntermaßen Realist, und ich bin ja wohl transcendentaler Idealist, härter als Kant es war: denn bei ihm ist doch noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung, zwar mag Gott wissen, wie und woher, gegeben, ich aber behaupte mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen produziert werde.« Brief an Jacobi, 30.8.1795. In: GA Briefwechsel. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. Stuttgart – Bad Cannstatt 1962 ff. Band III, 2, 391 (1970) (Nr. 307).

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sich das Problem der Affektion auf diesem Wege in der Tat erledigt. Erledigt nämlich insofern, als sie jetzt nicht mehr in einen theoriefremden Hohlraum fällt – und den »Beförderern der Kantischen Philosophie« Anlaß zum »gröbsten Dogmatismus« gibt –, sondern den Konstitutionsbedingungen der »Intelligenz« restlos einverleibt werden kann. Fichte entspricht damit der Aufforderung Jacobis, konsequenterweise auf die Voraussetzung subjektunabhängiger Realität zu verzichten, aber er entspricht ihr so, daß dieser Verzicht nicht einfach auf ihren Wegfall hinausläuft. Der Punkt ist vielmehr der, sie zum Resultat einer denknotwendigen Produktion subjektiver Wissenshandlungen zu erklären, womit sie als Voraussetzung gesetzt wird. Indessen ist damit die Serie der Verschiebungen noch nicht zu Ende und auch die programmatische Pointe Fichtes noch nicht vollends expliziert. Die zweite Verschiebung besteht in der These, daß im Fluchtpunkt der skizzierten Operation zugleich der »Grundstein des Kantischen Realismus« liege.94 Fichte zögert mithin nicht, das von Kant beschriebene und von Jacobi rekapitulierte Bündnis von transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus auf seine eigenen Überlegungen abzubilden. Warum er hier nicht zögert, liegt auf der Hand. Denn neben dem stetigen Interesse, das System der Wissenschaftslehre als einzig adäquates Kantverständnis zu legitimieren, kommt es ihm ebenso wie Kant selbst darauf an, die Überzeugung von der Realität der Außenwelt nicht zu mißachten. Daß es sich im Verhältnis zu Kant gleichwohl um eine Verschiebung handelt, ist jedoch kaum zu übersehen. Per definitionem auf das Gebiet der Erscheinung eingeschränkt, hat der empirische Realismus Kants den wie immer problematischen Grund der Erscheinung nach wie vor außer sich. Eben diese Disjunktion aber verliert bei Fichte vollständig ihren Sinn. Sie wird in genau dem Maße absorbiert, wie die Konstitution des empirischen Gegenstands jetzt mit dem als affizierend voraus-gesetzten Gegenstand restlos zusammenfällt.95 Was bedeutet nun aber diese restlose Entschränkung des sogenannten empirischen Realismus? Zweifellos ist sie ein Effekt dessen, was Fichte den »entschiedensten Idealismus« nennt. Womit man sich jedoch unterdessen fast von selbst schon auf die Komplementärbestimmung verwiesen sieht, die Fichte in Wahrheit vor Augen steht. Tatsächlich geht aus seiner auf das Stichwort des »Kantischen Realismus« unmittelbar folgenden Adresse an Jacobi eindeutig hervor, daß das, worum es sich im Ge94 95

GA I,4, 236 Anm. Vgl. I,4, 243. Vgl. GA I,2, 62.

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wande des empirischen Realismus eigentlich handelt, nichts anderes als der »entschiedene« Realismus Jacobis ist.96 Eine wiederum offene Frage bleibt, ob Fichte unbewußt oder im Verfolg der von ihm ins Werk gesetzten Operation mit Absicht übersieht, daß man es hier mit zwar strukturell verwandten, der Sache nach aber streng differenten Realismen zu tun hat. Keine Frage ist jedoch, daß mit dieser Überblendung die dritte, nunmehr Jacobi selbst betreffende Verschiebung ins Bild gerückt ist, womit im selben Augenblick die programmatische Pointe seines Unternehmens vollends zum Vorschein kommt. Offenkundig geht es auf der Basis einer, wie sich gezeigt hat, durchaus waghalsigen Rezeption Jacobis wie Kants darum, im Zuge ein und derselben Operation das System der Wissenschaftslehre als das System zu präsentieren, das gerade insofern, als es das »leidige Ding an sich«97 auf beschriebene Weise entsorgt und damit eine konsistent idealistische Kant-Version liefert, die alternativ realistische Position Jacobis instantan in sich zu integrieren erlaubt. Sich für den »spekulativen Egoismus« zu entscheiden, heißt demnach, sich zugleich nicht entscheiden zu müssen. Es genügt, die von Jacobi als strikte Alternative dargestellten Optionen zu einem bloßen »Unterschied« herabzusetzen: zum Unterschied zwischen dem »philosophischen Gesichtspunkt« und dem des »Lebens«, der sich innerhalb des Systems auf völlig verschiedenen Ebenen realisiert.98 Konnotiert mit der Differenz zwischen Spekulation und Praxis, worin sich wiederum ein Motiv Jacobis spiegelt, bildet das – und keineswegs die Adaption Kantischer Vorgaben allein – den spezifischen Hintergrund für das in der Grundlage formulierte Profil, wonach man den »kritischen Idealismus« der Wissenschaftslehre »auch einen Real-Idealismus, oder einen IdealRealismus nennen könnte«.99 Die Details dieses Programms sind hier nicht mehr auszuführen. Wenigstens so viel aber ist gewiß: Es ist eines, im erhofften »Bündniß« mit Jacobi100 nichts geringeres als eine Integration des »Lebens« ins System anzustrengen. Ein anderes ist es, diese Anstrengung zum Erfolg zu führen. Wie die permanent modifizierten Versuche einer angemessenen Verhältnisbestimmung zeigen, hat dieses Problem Fichte jedenfalls sein Leben lang beunruhigt. 96

GA I,4, 236 Anm. Vgl. insbesondere den schon erwähnten Brief Fichtes an Jacobi vom 30.8.1795. 97 GA I,4, 243. 98 GA I,4, 236 Anm. Vgl. wiederum den zitierten Brief Fichtes an Jacobi. 99 GA I,2, 412. 100 Vgl. den zitierten Brief an Jacobi GA III,2, 393.

IV. FICHTE – SCHELLING

Jochem Hennigfeld Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich. Die Theorie der Gegenstandskonstitution in Schellings Allgemeiner Übersicht

Die unter dem Titel Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur im Philosophischen Journal erschienenen Beiträge Schellings sind im Blick auf die Entwicklung des Schellingschen Denkweges scheinbar leicht einzuordnen. Denn Schelling selbst nimmt einen Großteil dieser Übersicht bekanntlich unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre in die Werkausgabe von 1809 auf.1 Die Nähe zu Fichte läßt sich auch biographisch belegen: Schelling lernt Fichte 1793 in Tübingen kennen. Schellings erste philosophische Schrift – Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie – wird durch Fichtes Über den Begriff der Wissenschaftslehre veranlaßt (beide 1794). Weiterhin erhält Schelling die ersten Druckbogen der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und ›beantwortet‹ sie mit der Abhandlung Vom Ich als Prinzip der Philosophie (1795). Und schließlich erscheint die Allgemeine Übersicht in dem von Fichte mitherausgegebenen Philosophischen Journal. Umso mehr fällt auf, daß in diesem Schellingschen Text von Fichte und von der Wissenschaftslehre expressis verbis wenig gesprochen wird. In erster Linie geht es vielmehr um Kant und die Kant-Interpretation in der zeitgenössischen 1 Es handelt sich um den ersten und einzigen Band der zu seinen Lebzeiten in Landshut erschienenen ›Philosophischen Schriften‹. Die Differenzen zwischen Erstund Zweitdruck gibt Walter Schieche im ›editorischen Bericht‹ an, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs u. Hermann Krings, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff., Reihe I, Band 4 (1988), 9, vgl. auch 56. Im folgenden zitiert als »AA«, mit Angabe der Reihe, des Bandes und der Seitenzahl. Die in dieser Akademieausgabe noch nicht erschienenen Abhandlungen werden zitiert nach: Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–1861. Im folgenden zitiert als »SW« mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl (die Bände beider Abteilungen werden als Bd. I–XIV durchgezählt).

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IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

Literatur. Nimmt man nun noch hinzu, daß die Schelling-Forschung seit längerem die Eigenständigkeit auch des frühen Schellingschen Systemdenkens mit guten Gründen herausgestellt hat,2 dann legt sich für die Allgemeine Übersicht folgende These nahe: Schelling interpretiert auf der Basis der Problemstellung Fichtes die Kantische Philosophie, wobei die vorgetragenen Problemlösungen eigene Wege bahnen und eine neue Systemkonzeption ankündigen. Die in dieser These zusammengefaßten Aspekte (Problemansatz, Kant-Interpretation, eigene Systemkonzeption) werde ich im Kontext der theoretischen Philosophie darstellen.

1. Die Problemstellung Nach Schelling steht die gesamte theoretische Philosophie Kants unter der Leitfrage nach der Realität unserer Vorstellungen. »Der Zweck der theoretischen Philosophie Kants war, die Realität unseres Wissens zu sichern«3. Man kann hierin eine Anknüpfung an Kants Lehre sehen, derzufolge der transzendentale Idealismus zugleich empirischer Realismus ist.4 Aber: Schelling spitzt – Fichte folgend – mit seiner Formel (›Realität

2 Es ist bemerkenswert, daß bereits Hinrich Knittermeyer: Schelling und die romantische Schule. München 1929 auf die Eigenständigkeit Schellings hingewiesen hat. Nach Knittermeyer greift Schelling zwar Fichtes Transzendentalphilosophie auf, verfolgt aber dann seinen eigenen Weg, »ohne sich grundsätzliche Gedanken über die Tragfähigkeit der transzendentalen Lösung Fichtes zu machen« (71). Die Eigenständigkeit zeige sich eben auch darin, daß Kants Kritik der Urteilskraft die Entwicklung Schellings stärker beeinflusse als Fichtes Wissenschaftslehre (vgl. 70). – Walter Schulz übersieht zwar nicht die Eigenständigkeit der Allgemeinen Übersicht, betont aber stärker die Gemeinsamkeit mit Fichte und Hegel. »Die Idee einer Entwicklungsgeschichte des Geistes, die Fichte bereits konzipierte und die Hegel dann allseitig in einem System durchführte, ist auch für Schelling – und zwar erstmalig in den ›Abhandlungen‹ – zentral geworden« (Einleitung zu F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 22000 [1. Aufl. 1957], XVIII). – Einen informativen Überblick über die Diskussion innerhalb der Schellingforschung gibt Michaela Boenke: Transformation des Realitätsbegriffs. Untersuchungen zur frühen Philosophie Schellings im Ausgang von Kant. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 17–30. Wie im Untertitel ihres Buches angedeutet, vertritt Boenke die These, »daß Schellings Ansatz […] mit dem Interesse an der Durchführung einer tiefer greifenden Erkenntnisbegründung, als Kant sie in der Kritik der reinen Vernunft vorgelegt hat, korreliert ist und daß dieses Interesse auch dort valent geblieben ist, wo Schelling auf Argumentationen Fichtes oder andere […] Traditionen der Philosophie zurückgegriffen hat« (167). 3 AA I 4, 81; vgl. auch 71, 102, 130. 4 »Unser transzendentaler Idealism erlaubt es dagegen: daß die Gegenstände äußerer Anschauung, ebenso wie sie im Raume angeschaut werden, auch wirklich sind,

Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich

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unserer Vorstellungen‹ bzw. ›Realität unseres Wissens‹) die Problemstellung zu. Sie richtet sich nämlich polemisch gegen eine Auffassung der Kantischen Philosophie, die Schelling kurz und bündig so angibt: »Der HauptSatz der Philosophie, von welcher hier die Rede ist, läßt sich mit wenigen Worten so ausdrücken: Die Form unserer Erkenntnisse kömmt aus uns selbst, die Materie derselben wird uns von außen gegeben«.5 An diesem Satz ist nach Schelling immerhin bemerkenswert, daß er den für unser Wissen entscheidenden Gegensatz zwischen Form und Materie benennt. Als Ansatz für die Erklärung unseres Wissens taugt dieser Satz jedoch nicht, weil er sich in der Aporie des Materialismus verfängt. Auch Fichte legt in der Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre 6 – also in derjenigen Abhandlung, die den fünften Band des Philosophischen Journals eröffnet und somit Schellings eigenem Beitrag vorhergeht – die Ausweglosigkeit eines dogmatischen bzw. materialistischen Systemansatzes dar. Nach Fichte scheitert der Materialismus, weil er die »doppelte Reihe, des Seyns, und des Zusehens, des Reellen, und des Idealen«7, die in ihrer Unzertrennlichkeit das Wesen des Ich konstituiert, nicht erklären kann. Schelling argumentiert anders, nämlich ›kantisch‹: Wenn man behauptet, die Materie sei das letzte Zugrundeliegende,8 dann steht man vor dem Problem, die kategorialen Formen, vor allem aber die für die Naturerkenntnis unabdingbare Zweck-Mittel-Struktur, nicht aus dem

und in der Zeit alle Veränderungen, so wie sie der innere Sinn vorstellt« (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, unveränderter Neudruck der von Raymund Schmidt besorgten Ausg., Hamburg 1956, A (1. Aufl. 1781, 491; man vgl. auch A 369f.). Im folgenden zitiert als »KrV«, mit Angabe der Auflage (A / B) und der entsprechenden Seitenzahl. 5 AA I 4, 82. In den ›erklärenden Anmerkungen‹ der Herausgeber werden als Bestätigung dieser Auffassung Texte von C. Ch. E. Schmid, K. L. Reinhold, S. Maimon und J. G. Buhle zitiert (AA I 4, 321f.). 6 Unter diesem Titel hat I. H. Fichte die Abhandlung in seine Werkausgabe (Berlin 1845/46) aufgenommen. Der ursprüngliche Titel lautet Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, in: Johann Gottlieb Fichte. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth, Hans Jacob u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff. Abt. I, Band 4 (1970), 196. Im folgenden zitiert als »GA«, mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 7 GA I 4, 196. 8 Die kritische Auseinandersetzung mit dem Materialismus bleibt ein wichtiges Motiv auch in der späteren Philosophie Schellings. In den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1908) etwa wird die ›Platonische Materie‹ als Erklärungsgrund des Bösen zurückgewiesen (SW VII, 374). Die Kritik zielt hier auf die Unhaltbarkeit eines Prinzipiendualismus.

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IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

Materialen ableiten zu können, da ja Zweckmäßigkeit für uns ohne Verstand und Wille nicht denkbar ist. Auch die Hypothese eines göttlichen Weltbaumeisters oder gar Schöpfers bietet keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Denn damit wird die Repräsentation der Dinge für den Schöpfer selbst, aber nicht für uns erklärt. Anders formuliert: »wenn wir auch [mit der Hypothese eines Schöpfergottes] den Ursprung einer Welt außer uns begreifen, so begreifen wir doch nicht, wie die Vorstellung dieser Welt in uns gekommen sey«.9 Erst mit diesem Hinweis auf die Erklärung unserer Vorstellungen ist die zureichende Basis – die der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes – gewonnen, um die Frage nach dem Ursprung unserer Erkenntnis beantworten zu können. Dabei muß nach Schelling die Fragestellung in folgender Weise präziert werden:10 1) Es kommt darauf an, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit unserer Vorstellungen zu erklären. 2) Es muß gezeigt werden, warum wir gezwungen sind, unsere Vorstellungen auf äußere Gegenstände zu beziehen. In ähnlicher Weise beschreibt Fichte die zentrale Aufgabe der Wissenschaftslehre in der Ersten Einleitung: Wenn die Philosophie (mit Kant) die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung aufzudecken hat, dann bedeutet dies nach Fichte: Sie hat nicht das Zustandekommen aller Vorstellungen zu erklären, sondern nur derjenigen, die vom Gefühl der Notwendigkeit begleitet sind. Die von der Wissenschaftslehre zu beantwortende Frage lautet somit: »Welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der Nothwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühls der Nothwendigkeit selbst?«11 So verweist auch Schelling an einer späteren Stelle der Allgemeinen Übersicht – im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Reinhold – auf die für den transzendentalen Idealismus entscheidende Erklärung des Gefühls unseres Eingeschränktseins.12 Das Ziel, worauf die Erklärung der Realität unseres Wissens hinausläuft, ist klar. Kurz und bündig hatte Schelling bereits 1795 eingeschärft: »Das Ich enthält alles Seyn, alle Realität.«13 Diese These folgt zweifellos der Wissenschaftslehre von 1794/95. Dort heißt es: »Aller Realität Quelle ist das Ich. Erst durch und mit dem Ich ist der Begriff der Realität gege-

9 10 11 12 13

AA I 4, 83. Vgl. AA I 4, 84. GA I 4, 186. AA I 4, 138. Vom Ich als Princip der Philosophie; AA I 2, 111.

Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich

207

ben.«14 Auch die Allgemeine Übersicht bekräftigt diesen Leitsatz: »Also müßte sich, um jene absolute Uebereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand, worauf die Realität unsers ganzen Wissens beruht, darthun zu können, erweisen lassen, daß der Geist, indem er überhaupt Objecte anschaut, nur sich selbst anschaut.«15 Wird die Aufgabe der theoretischen Philosophie auf diese Weise bestimmt, dann steht sie unausweichlich vor dem Problem eines Dinges an sich selbst. Nach Schelling läßt Kant selbst die Frage nach dem Ding an sich offen. »Wo diese [die Affektion unserer Sinnlichkeit] eigentlich herkomme, ließ er [Kant] völlig unentschieden. Absichtlich ließ er hier Etwas zurück, was erst späterhin als das letzte – höchste – nie aufzulösende Problem der Vernunft erscheinen sollte.«16 Dieses Problem muß sich jedoch – mit Kant – lösen lassen, wenn der transzendentale Idealismus nicht unvollständig bleiben, d. h. als System scheitern soll. Das bedeutet: Ein »Kantianer« müßte zeigen können, »daß wir wirklich die Dinge, wie sie an sich sind, erkennen, d. h. daß zwischen dem vorgestellten und dem wirklichen Gegenstand gar kein Unterschied statt finde.«17 Hierzu findet sich eine deutliche Parallele in Fichtes Zweiter Einleitung in die Wissenschaftslehre:18 Im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit den ›dogmatischen‹ Kantianern Jacobi und Beck, begleitet von Seitenhieben auf die ›ehrwürdigen Männer‹ Reinhold und Schulz, verweist Fichte auf den springenden Punkt des kritischen Idealismus. »Die (lediglich historische) Frage ist die: Hat Kant wirklich die Erfahrung, ihrem empirischen Inhalte nach, durch Etwas vom Ich Verschiedenes begründet?«19 Diese Frage ist nach Fichte entschieden zu verneinen – es sei denn, man hält die Kritik der reinen Vernunft »für das Werk des sonderbarsten Zufalls«.20 Die bisherigen Kant-Ausleger – so Fichte – geraten nämlich in die folgende Absurdität: »Ihr Ding ist durch ihr Denken hervorgebracht; nun aber soll es gleich darauf wieder ein Ding an sich, d. i. nicht durch Denken hervorgebracht seyn. Ich verstehe sie wahrhaftig nicht; ich kann mir weder diesen Gedanken denken, noch einen Verstand denken, mit welchem man diesen Gedanken denkt […].«21 14 15 16 17 18 19 20 21

§ 4, Synthesis C; GA I 2, 293. AA I 4, 85. AA I 4, 73. AA I 4, 131. Philosophisches Journal, Bde. V und VI. GA I 4, 234. GA I 4, 239. GA I 4, 244.

208

IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

Lassen sich auf diese Weise Aufgabe und Ziel der theoretischen Philosophie bestimmen, dann bleibt noch der Weg anzugeben, auf dem die anstehenden Probleme zu lösen sind. Die einzig angemessene Methode – auch darin stimmt Schelling mit Fichte überein – ist die Abstraktion, in der sich auf ursprüngliche Weise unsere Freiheit bekundet. Schelling betont: »Dies Vermögen zu abstrahiren ist bloß dadurch begreiflich, daß wir ursprünglich frei, d. h. vom Object unabhängig sind.«22 Fichte hatte ja bereits die abstrahierende Reflexion als einzige Möglichkeit aufgezeigt, um das Tatsächliche auf einen ermöglichenden Grund zurückzuführen. »Keine Abstraktion ist ohne Reflexion; und keine Reflexion ohne Abstraktion möglich. Beide Handlungen, von einander abgesondert gedacht, und jede für sich betrachtet, sind Handlungen der Freiheit […].«23 In diesem ursprünglichen Freiheitsakt liegt – für Fichte wie für Schelling – auch der Vereinigungspunkt von theoretischer und praktischer Philosophie.24 Bevor sich Schelling jedoch in der Allgemeinen Übersicht diesem Problem zuwendet, muß er aufweisen, wie die Realität bzw. Notwendigkeit unserer Dingvorstellung auf dem von Kant eingeschlagenen Weg des transzendentalen Idealismus erklärt werden kann.

2. Schellings Interpretation der theoretischen Philosophie Kants Wenn Fichte und Schelling sich auf die Autorität Kants berufen, dann lassen beide dennoch keinen Zweifel darüber aufkommen, daß sie eine Weiterentwicklung – und keine bloße Wiederholung – der Kantischen Philosophie im Sinn haben. Gegen ein solches Mißverständnis stellt Schelling klar: »Ich halte es wegen einiger Aeußerungen […] für nöthig, zu erinnern, daß ich nie im Sinn hatte, wieder abzuschreiben, was Kant geschrieben hatte, […] noch zu wissen, was eigentlich Kant mit seiner Philosophie gewollt habe, sondern nur, was er meiner Einsicht nach wollen musste, wenn seine Philosophie in sich selbst zusammenhangen sollte.«25 Auch mit dieser Einschätzung folgt Schelling Fichte, der in der Ersten Einleitung Nähe und Distanz zu Kant in ähnlicher Weise angibt: »Ich habe von jeher gesagt, und sage es hier wieder, daß mein System kein an22

AA I 4, 88 f. Über den Begriff der Wissenschaftslehre, 2. Aufl., GA I 2, 138. Prägnant definiert die Erste Einleitung: »[…] abstrahiren, das heißt: das in der Erfahrung Verbundne durch Freiheit des Denkens trennen« (GA I 4, 188). 24 Vgl. AA I 4, 89. 25 AA I 4, 102. 23

Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich

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ders sey als das Kantische: das heißt: es enthält dieselbe Ansicht der Sache, ist aber in seinem Verfahren ganz unabhängig von der Kantischen Darstellung.«26 Schellings Darlegung des transzendentalen Idealismus in der Allgemeinen Übersicht ist – im wahren Sinn des Wortes – zerstückelt und deshalb schwierig zu übersehen. Die Gründe dieser Darstellungsweise liegen auf der Hand: Schelling hat unter enormem Zeitdruck geschrieben. Darüber hinaus sind die einzelnen Beiträge bekanntlich auf mehrere Bände und Hefte verteilt, weshalb Schelling gleichsam immer wieder von neuem ansetzt. Schließlich werden – dem Zweck der Übersicht entsprechend – die darstellenden Passagen immer wieder durch Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Literatur unterbrochen oder von ihnen eingerahmt.27 Die folgende Darstellung hält sich zunächst an das Textstück aus dem zweiten Heft des fünften Bandes, mit dem Schelling in der Werkausgabe einsetzt (Abschnitt I). Nach einleitenden Bemerkungen über das Mißverständnis des Kantischen Sprachstils und über den »Ton mancher Kantianer«28 legt Schelling dar, wie es zum grundlegenden Fehlurteil über die Kritik der reinen Vernunft gekommen ist: Aus Kants Feststellung, daß all unser Erkennen mit der Anschauung einsetze, hat man – im Anschluß an die Schulphilosophie Wolffs und Baumgartens – gefolgert, daß Anschauung die unterste Stufe der Erkenntnis sei. Darin zeigt sich bereits ein grundlegender Irrtum. Denn Anschauung ist das Höchste, was unser Geist erreichen kann; alle anderen Formen der Erkenntnis gewinnen nur Realität durch ihren Bezug auf die Anschauung. Der nächste Schritt solcher Kant-Interpretation führt nun für Schelling vollends in die Irre: Nach Kant muß der Anschauung eine Affektion der Sinnlichkeit vorangehen. Wie diese Affektion zustande komme, habe Kant nicht beantwortet. Weil er aber nachher vom ›Ding an sich‹ spreche, habe man geschlossen, daß die Affektion durch eine Einwirkung der Dinge an sich entstehe oder gar ›verursacht‹ werde. Diese Auffassung läßt sich nach Schelling durch folgende Überlegung widerlegen: Nach Kant entsteht für uns so etwas wie ›Ding‹ oder ›Gegenstand‹ durch eine Synthesis der Einbildungskraft in der Anschauung. Raum und Zeit als Formen der Anschauung liegen jedoch nicht gleich26

GA I 4, 184. Auch die philosophische Tradition (z. B. Platon, Leibniz, Hume) wird in diese Auseinandersetzung einbezogen. 28 AA I 4, 71. 27

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IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

sam fix und fertig vor,29 sondern werden erst durch das Handeln des Geistes hervorgebracht. »Wenn Kant von einer Synthesis der Einbildungskraft in der Anschauung sprach, so war doch wohl diese Synthesis eine Handlung des Gemüths, Raum und Zeit also, als Formen jener Synthesis, HandlungsWeisen des Gemüths.«30 Hier liegt für Schelling der entscheidende Fingerzeig, den die Kantianer nicht beachtet haben. Das wird allerdings erst deutlich, wenn man das Wesen von Raum und Zeit angemessen bestimmt. Raum als solcher ist reine Ausdehnung, ohne Grenze und Richtung. Zeit als solche ist Schranke; sie ist – wie ein mathematischer Punkt – Negation der Ausdehnung.31 Zu Formen unserer Anschauung können Raum und Zeit nur werden, wenn sie sich gegenseitig bestimmen, nämlich so, daß die Zeit dem Raum Grenze und der Raum der Zeit Ausdehnung gibt. Daraus aber folgt, »daß Anschauung überhaupt nur durch zwei absolut entgegengesetzte Thätigkeiten möglich ist«.32 Zwar konstituieren Raum und Zeit als bloße Formen noch kein Ding qua Objekt. Aber: die Einsicht in die Konstitution von Raum und Zeit durch entgegengesetzte Handlungsweisen des Geistes zeigt das Muster, nach dem sich auch das Materiale unserer ursprünglichen Handlungsweisen erklären läßt. Dem entsprechend müssen sich die beiden entgegengesetzten Tätigkeiten wechselseitig bestimmen und so begrenzen. Die negative Tätigkeit wirkt (mit Kant gesprochen) von außen auf uns ein. Die positive Tätigkeit ist die ursprüngliche Leistung der Einbildungskraft. Schelling resümiert: »Und so ist es sonnenklar erwiesen: Das Object sey nicht Etwas, was uns von Außen, als ein solches gegeben ist, sondern nur ein Product der ursprünglichen geistigen Selbstthätigkeit, die aus entgegengesetzten Thätigkeiten ein drittes gemeinschaftliches (koinon bei Plato) schafft und hervorbringt.«33 Hätte man Kants Formel von der ›transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft in der Anschauung‹34 auf diese einzig angemessene Weise verstanden, dann hätte sich auch das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich in Luft aufgelöst. Denn dann hätte man eingesehen, daß die reale Welt der 29

Die ›erklärenden Anmerkungen‹ der Herausgeber zitieren als Beleg für diese Auffassung J. B. Erhard: AA I 4, 311f. 30 AA I 4, 73 f. 31 Nach Schelling entspricht der Raum dem Unbegrenzten (ápeiron), die Zeit der Grenze (péras) bei Platon (AA I 4, 74). 32 AA I 4, 75. 33 AA I 4, 75. 34 Vgl. KrV, B 152.

Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich

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Anschauung nichts Fremdes ist, sondern aus dem Streit der entgegengesetzten Tätigkeiten des Selbstbewußtseins entspringt – »eine Schöpfung aus Nichts«,35 wie Schelling übermütig hervorhebt. Einzusehen ist eben dies: Es gibt keine Welt, ohne daß ein Geist sie erkennt; und es gibt keinen Geist ohne eine Welt außer ihm.36 Die bisherigen Überlegungen sind noch um einen Schritt zu ergänzen. Durch die transzendentale Synthesis der produktiven Einbildungskraft nämlich wird zwar die Anschauung erklärt, nicht aber die bewußte Anschauung. Anders gesprochen: nicht erklärt ist bisher das Gefühl der Notwendigkeit, d. h. unser unmittelbares Innesein von unabhängigen Objekten in der Erfahrung. Diese Erklärung leistet nach Schelling Kants recht verstandene Lehre vom transzendentalen Schematismus. Das Schema nämlich ist der Umriß eines Gegenstandes, der von der Einbildungskraft in die bloßen Formen von Raum und Zeit gleichsam eingezeichnet wird. Hier allerdings ist nach Schelling zu beachten: Wenn Kant sagt, daß das Schema den Begriff mit der Anschauung vermittle,37 dann darf das Schema nicht als etwas vom Begriff Getrenntes gesehen werden. Es handelt sich nur um unterschiedliche Momente, die in unserer Erkenntnis immer schon geeint sind. »Begriff ohne Versinnlichung durch die Einbildungskraft, ist ein Wort ohne Sinn, ein Schall ohne Bedeutung.«38 Steht es so, dann entsteht durch das ›Zusammentreffen‹ von Anschauung und Begriff im Schematisieren der Einbildungskraft die feste Überzeugung, daß es eine von uns unabhängige Wirklichkeit gibt. Oder – wie es Schelling an späterer Stelle der Allgemeinen Übersicht formuliert: »Die productive Einbildungskraft entwirft ein Bild, wodurch der Begriff bestimmt und begränzt wird. Im Zusammentreffen des Schema’s und des Bilds erst liegt das Bewusstseyn eines einzelnen Gegenstandes.«39 Damit ist die Aufgabe von Kants Kritik der reinen Vernunft, nämlich die Realität unseres Wissens zu sichern, gelöst. Schelling hat diese Darstellung wohl nicht für hinreichend gehalten, um »den Ursprung speculativer Täuschungen«40 in der zeitgenössischen 35

AA I 4, 76. Das hätte man sich nach Schelling auch so klarmachen können: Nach Kant sind unsere Vorstellungen keine Kopien der Dinge an sich. Gleichwohl kommt den Vorstellungen Realität zu. Daraus folgt, daß es für unsere Vorstellungen kein ›Original‹ außerhalb ihrer, somit kein Ding an sich gibt (vgl. AA I 4, 80, Anm.). 37 KrV, A 138. 38 AA I 4, 77. 39 AA I 4, 120. 40 AA I 4, 82. 36

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IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

Diskussion aufzudecken. Deshalb setzt er im nächsten (dritten) Heft des Philosophischen Journals (Abschnitt II der Werkausgabe) noch einmal an, um die Grundfrage der theoretischen Philosophie zu beantworten. Diese Argumentation steht – anders als die erste, die auf Kants Text und Begrifflichkeit zurückgreift – auf dem Boden der Wissenschaftslehre. Es genügt, den Argumentationsaufbau thesenhaft verkürzt anzugeben. Ausgangspunkt ist wiederum das Unvermögen des Materialismus. Der Materialismus kann die im Vorstellen nicht zu trennende Einheit von Gegenstand und Vorstellung, von Sein und Erkennen, nicht erklären. Die absolute Identität beider ist nämlich nur in der Selbstanschauung des Ich zu finden. Auf dieser unumstößlichen Gewißheit baut die folgende Argumentation auf: Das reine Ich ist – die Allgemeine Übersicht bevorzugt den Terminus ›Geist‹ – nur Tätigkeit, ›ewiges Werden‹; folglich soll der Geist Objekt werden. Für den Idealismus kann das nur heißen: Der Geist »wird Object nur durch sich selbst, durch sein eignes Handeln«.41 Das Objekt jedoch ist ursprünglich endlich; der Geist hingegen ist nicht endlich, weil er ursprünglich nicht Objekt ist. Ebensowenig kann der Geist seiner Natur nach unendlich sein. Denn er ist nur als Geist, wenn er für sich selbst Objekt, d. h. etwas Endliches wird. Außerdem muß das Axiom der ›ältesten Philosophie‹ beachtet werden, demgemäß es keinen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen gibt. Damit droht ein Widerspruch, der sich jedoch vermeiden läßt, wenn es im Geist zwei ursprünglich entgegengesetzte Handlungsweisen gibt. Es muß somit gelten: Im Geist ist »die ursprünglichste Vereinigung von Unendlichkeit und Endlichkeit«.42 Daß diese entgegengesetzten Tätigkeiten in mir vereinigt sind, weiß ich durch die Anschauung, die erst durch die entgegengesetzten Tätigkeiten des Ausdehnens und Begrenzens möglich wird. (Schelling greift auf die oben referierten Darlegungen im ersten Teil zurück.) Diese beiden Handlungsweisen – Tätigkeit und Beschränkung als Bedingung aller Vorstellung – kann ich jedoch in der Anschauung selbst noch nicht unterscheiden. Deshalb haben wir das Gefühl eines notwendigen Bestimmtwerdens durch äußere Gegenstände. Um uns den Gegensatz von Tätigkeit und Beschränkung bewußt zu machen, müssen wir also gleichsam »aus der Anschauung heraustreten«.43 Das ist möglich, weil wir das Vermögen der Abstraktion haben. Abstraktion aber ist freie Tätigkeit. Abstrahieren wir 41

AA I 4, 86. Schelling schärft das immer wieder ein: »Der Geist ist alles nur durch sich selbst, durch sein eignes Handeln« (AA I 4, 87). 42 AA I 4, 86. 43 AA I 4, 88.

Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich

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nun vom Produkt unserer Anschauung, dann müssen wir das Produkt der freien Tätigkeit entgegensetzen, d. h. ihm ein eigenständiges Sein geben. Jetzt erst ist das Produkt meines Handelns Objekt; und zugleich werde ich mir eines Handelns bewußt (da ja Bewußtsein an Gegensätze gebunden ist). »Das Object ist jetzt da, sein Ursprung liegt für mich in der Vergangenheit, jenseits meines jetzigen Bewußtseyns, es ist da ohne mein Zuthun.«44 So wird das Ziel des vollständigen transzendentalen Idealismus – nämlich das Zustandekommen der Dingvorstellung qua Objekt aus dem Handeln des Geistes zu erklären – erreicht. An dieser Stelle leuchtet auch der prinzipielle Mangel des Empirismus, d. h. des sich selbst nicht verstehenden Kantianismus ein. Er verharrt auf dem ›Standpunkt des bloßen Bewußtseins‹, der den Gegensätzen von Anschauung und Begriff, von Notwendigkeit und Freiheit, von Realität und Idealität verhaftet bleibt. Wer hingegen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bewußtsein fragt und sich so auf einen höheren Standpunkt begibt, sieht ein, daß ursprünglich – nämlich vor allem Bewußtsein – diese Gegensätze ein und dasselbe sind. In einem dritten ›Anlauf‹ legt Schelling im ersten Heft des sechsten Bandes (Abschnitt III in der Werkausgabe) noch einmal die Kernpunkte der theoretischen Philosophie dar. Auch dieser Gedankengang sei thesenhaft angezeigt. Es muß – so setzt Schelling jetzt ein – in der Erkenntnis doch wohl etwas unmittelbar Gegenwärtiges geben. So jedenfalls fühlen wir uns in der Anschauung bestimmt. Dieses Gefühl der Unmittelbarkeit kann nach Schelling nicht durch die Annahme einer bloß passiven Anschauung begründet werden. Er führt vier Gegenargumente an:45 1) Diese Hypothese kann bestenfalls das Zustandekommen eines Eindrucks, aber nicht die Konstitution eines wirklichen Gegenstandes aufzeigen. 2) Das Kausalverhältnis vollzieht sich im Fluß der Zeit. Nimmt man an, daß der Gegenstand außer uns das Bewußtsein eines Gegenstandes in uns bewirkt, dann setzt man zwei völlig verschiedene Zeitreihen an, deren Vermittlung gänzlich dunkel bleibt. 3) Ursache und Wirkung sind voneinander verschieden. Geht man davon aus, daß der Gegenstand unsere Vorstellung verursacht, dann gerät man in Widerspruch zu unserem Gefühl der Identität von Gegenstand und Vorstellung in der Anschauung. »Jener Glaube an ursprüngliche Identität des Gegenstandes und der Vorstellung ist die 44 45

AA I 4, 89. AA I 4, 104 ff.

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IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

Wurzel unsers theoretischen und praktischen Verstandes.«46 Der naive Empirismus kann diese Wurzel nicht erklären. 4) Ursache und Wirkung müssen nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum aneinandergrenzen; sie müssen ›benachbart‹ (contiguus) sein. Eine solche ›Kontiguität‹ kann jedoch zwischen Gegenstand (Körper) und Vorstellung (Geist) nicht widerspruchsfrei gedacht werden. All diesen Ungereimtheiten entgeht man, wenn man die Gegenposition einnimmt, d. h. die folgende These vertritt: Der Gegenstand wird durch unsere Synthesis konstituiert; im Gegenstand (Objekt) schaut der Geist sein eigenes Produkt an. Der Aufweis dieser These variiert die bereits vorgetragenen Argumente in folgender Weise: Der Materialismus ist untauglich, weil die Materie keine in sich zurückstrebende Kraft besitzt und deshalb die innere Welt der Vorstellung nicht erklären kann.47 Die Seele hingegen – so nennt Schelling jetzt das vorbewußte Ich – hat die Tendenz nach innen und außen. Die beiden Tendenzen durchdringen sich, und dadurch entsteht in der Seele ein Produkt. Dieser innere Sinn wird äußerlich, weil der Geist eine Tendenz zur Selbstanschauung hat. Um diese Tendenz zu realisieren, muß er die entgegengesetzten Tätigkeiten in einem Produkt darstellen und sie so zu etwas Beständigem (›permanent‹) machen. Deshalb erscheinen dem Bewußtsein die geistigen Tätigkeiten als unselbständige Kräfte, die lediglich dem äußeren Anstoß entgegenwirken. Daraus folgt: »Die Materie ist nichts anders, als der Geist, im Gleichgewicht seiner Thätigkeiten angeschaut.«48 Mit dieser Einsicht ist die Basis für die Konstruktion der Geschichte des Selbstbewußtseins gelegt. Zugleich ist der Ansatz gewonnen für die Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie. Das wird hier – wie anfangs erwähnt – nicht weiter verfolgt. Statt dessen soll abschließend die Frage beantwortet werden, ob sich in diesen Skizzen der Allgemeinen Übersicht Hinweise für einen eigenen Ansatz Schellings finden lassen.

3. Motive für Schellings spätere Systemkonzeptionen Am auffälligsten im Vorblick auf den eigenen Denkweg ist der Schlußteil der Allgemeinen Übersicht, der in die Werkausgabe von 1809 nicht aufgenommen wird. Hier verweist Schelling – im Anschluß an seine Ideen zu 46 47 48

AA I 4, 105. Vgl. Anm. 16. AA I 4, 108.

Das ›Hirngespinst‹ der Dinge an sich

215

einer Philosophie der Natur (1797) – darauf, daß sich aus der Unterscheidung in theoretische und praktische Philosophie die Einteilung in Naturund Geschichtsphilosophie ableiten lasse. Aus beiden entstehe die Philosophie der Kunst, da die Kunst die Vereinigung von Natur und Freiheit sei. Schelling stellt in Aussicht, diese drei Betrachtungsweisen der Philosophie genau zu untersuchen. Durchgeführt wird jedoch nur der Beweis, daß eine Geschichtsphilosophie unmöglich ist, wenn sie verstanden wird »als Wissenschaft der Geschichte a priori«.49 In diesem Zusammenhang wird auch die Mythologie erwähnt, was insofern nicht überrascht, als die Mythologie – längst vor dem ›Ältesten Systemprogramm‹ – zu Schellings bevorzugten Themen gehört. In der Allgemeinen Übersicht betont Schelling, daß die Mythologie nichts anderes sei als »ein historischer Schematismus der Natur«;50 und er formuliert die für die Philosophie der Kunst zentrale These, daß der Mythologie ausschließlich poetische Wahrheit zukomme.51 Die Erörterungen zum Problem einer Geschichtsphilosophie erfordern auch Hinweise zu ihrem ›Gegenpart‹, der Naturphilosophie. In diesem Kontext äußert Schelling die »sehr gewagte Hypothese […], daß alle einzelnen Organisationen nur verschiedne Stufen der Entwickelung Einer und derselben Organisation bezeichnen.«52 Diese Hypothese hat Schelling später auf der Grundlage seiner Potenzenlehre zu erhärten versucht. Anknüpfungspunkte für eine Naturphilosophie (innerhalb des transzendentalen Idealismus) bieten aber nicht nur diese Schlußpassagen, sondern auch frühere Stellen der Allgemeinen Übersicht. Im Zusammenhang der Kant-Interpretation des I. Abschnitts etwa unterstreicht Schelling, daß (nach Kant) die Naturgesetze ursprünglich Handlungsweisen des Geistes seien und die Natur eben nicht als etwas von diesen Gesetzen Verschiedenes angesehen werden dürfe.53 Daraus folgt, wie Schelling 49

AA I 4, 190. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist Schellings Hinweis, daß menschliche Geschichte auf bloßer Täuschung beruhe, wenn man »ein Absolutes außer uns« (ebd.) annimmt. Umgekehrt gilt dann aber: Hebt die Philosophie der Freiheit das Absolute außer uns auf, dann ist auch das Absolute frei; dann hat auch das Absolute eine Geschichte. Vgl. dazu Hermann Zeltner: Schelling. Stuttgart 1954, 150f. 50 AA I 4, 189. 51 »Einzig, indem die Götter unter sich eine Welt bilden, erlangen sie eine unabhängige Existenz für die Phantasie oder eine unabhängige poetische Existenz« (SW V, 399). 52 AA I 4, 185. 53 »Hume, der Skepktiker, hatte behauptet, was man jetzt Kant behaupten läßt. Aber Hume hat aufrichtig gestanden, alle unsere NaturWissenschaft sey dann Täuschung, alle NaturGesetze nichts als Gewohnheiten der Einbildungskraft. Dies war

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IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

später hervorhebt: »Die äußre Welt liegt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Geschichte unsers Geistes wieder zu finden.«54 Wie diese Entzifferung zu konzipieren ist, gibt Schelling einige Seiten später an. Da nämlich unser Geist durch ein unendliches Streben nach Organisation bestimmt sei, müsse sich auch in der äußeren Welt eine ›Stufenfolge der Organisationen‹ nachweisen lassen.55 In dem soeben zitierten Satz wird auch eine andere, für den transzendentalen Idealismus zentrale Aufgabe angesprochen, nämlich die Konzeption einer ›Geschichte unseres Geistes‹. Dieses Projekt, von Fichte56 angestoßen und im System des transzendentalen Idealismus von Schelling durchgeführt, steht bereits in der Allgemeinen Übersicht klar vor Augen: »Alle Handlungen des Geistes also gehen darauf, das Unendliche im Endlichen darzustellen. Das Ziel aller dieser Handlungen ist das SelbstBewusstseyn, und die Geschichte dieser Handlungen ist nichts anders, als die Geschichte des SelbstBewusstseyns«.57 Diesem Zitat ist auch ein Hinweis auf die geforderte Methode zu entnehmen. Wenn Schelling feststellt, daß alle Handlungen des Geistes darauf abzielen, ›das Unendliche im Endlichen darzustellen‹, dann nennt er diejenigen Kriterien, die für die Methode der Konstruktion innerhalb der Identitätsphilosophie charakteristisch sind. In der Philosophie der Kunst etwa wird die Konstruktion bestimmt als »Darstellung der Dinge [des Endlichen] im Absoluten [Unendlichen]«.58 Allerdings dürfen die Unterschiede nicht verwischt werden. Natürlich argumentiert die Allgemeine Übersicht transzendentalphilosophisch. In diesem Kontext wird der Begriff ›Konstruktion‹ – im Anschluß an Kants Definition59 – in Anspruch genommen für die Setzung des obersten Prinzips. Denn der philosophische Lehrling »muß gleich anfangs in die transcendentale Denkart gleichconsequente Philosophie. Und Kant soll nichts anders gethan haben, als Hume’n nachsprechen, um ihn, der consequent war, inconsequent zu machen?« (AA I 4, 79). 54 AA I 4, 110. 55 Bemerkenswert sind auch die Hinweise zur Kraft, die das einzig Unzerstörbare der Materie sei (vgl. AA I, 4, 106). Die bereits erwähnte These, daß der Materie keine in sich selbst zurückkehrende Kraft innewohne, wird Schelling in seiner späteren Naturphilosophie korrigieren. 56 Vgl. den in Anm. 2 zitierten Hinweis von W. Schulz. Schulz verweist auf die programmatische Forderung der Wissenschaftslehre von 1794: »Die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes« (GA I 2, 365). 57 AA I 4, 109. 58 SW V, 386. 59 »Einen Begriff […] konstruieren, heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen« (KrV, A 713).

System der Vernunft

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sam versetzt werden. Also muß schon das erste Princip seine eigne Construction seyn, die man von ihm FODERT […].«60 Entsprechend betont Schelling im Ersten Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), daß für die Transzendentalphilosophie alles Sein Konstruktion des Geistes ist.61 Die Methode der Konstruktion ist unabdingbar, weil nur auf der Basis einer ursprünglichen Anschauung der Anspruch der Wissenschaft auf höchste Evidenz einzulösen ist.62 Deshalb kann am Anfang der Philosophie strenggenommen auch kein Grundsatz, sondern nur ein Postulat stehen. Dieses Postulat lautet: »Werde deiner selbst in deiner ursprünglichen Thätigkeit bewusst!«63 Das durch diese Tätigkeit entstandene Produkt könne man dann in einem Grundsatz ausdrücken. Einzig in diesem Sinne spreche Fichte in der Grundlage vom ›obersten Grundsatz in der Philosophie‹. Daß Schelling hier mit Fichte völlig übereinstimmt, läßt sich mit einem Zitat aus der Zweiten Einleitung belegen: »Das erste Postulat: Denke dich, construire den Begriff deiner selbst; und bemerke, wie du das machst.«64 Für Fichte ist ebenso selbstverständlich wie für Schelling (und Hegel), daß sich die Philosophie, ausgehend von einem evidenten Prinzip, nur als System vollenden könne. Auch die Allgemeine Übersicht schärft das ein. Im Blick auf Schellings spätere Konzeptionen ist jedoch bemerkenswert, daß hier bereits die Struktur des Organismus für das System gefordert wird. Das umfassende System »ist nicht eine abwärts laufende Kette, wo in’s Unendliche fort Glied an Glied hängt, sondern eine Organisation, in welcher jedes einzelne Glied in Bezug auf jedes andre wechselseitig Grund und Folge, Mittel und Zweck ist.«65 Man geht vielleicht nicht zu weit, wenn man hierin bereits die programmatische Forderung nach einem System des absoluten Lebens sieht, wie es Schelling 1809 in der Freiheitsschrift vorlegt.66 Die Linie läßt sich sogar noch weiter ausziehen. Wenn Schelling an derselben Stelle betont, daß jedes System ein sich entwickelnder ›Keim‹ sein müsse und dies auch die einzig angemessene Be60

AA I 4, 173. SW III, 12. 62 Vgl. AA I 4, 171. 63 AA I 4, 174. 64 GA I 4, 213. 65 AA I 4, 98. 66 Zum Zusammenhang von System und Organismus vgl. Wilhelm G. Jacobs: F. W. J. Schelling. Vernunft und Wirklichkeit, in: Philosophen des 19. Jahrhunderts. Hrsg. v. M. Fleischer u. J. Hennigfeld. Darmstadt 1998, 64f. 61

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IV. Fichte – Schelling · J. Hennigfeld

trachtung für die Geschichte der Philosophie sei, dann ist dies durchaus kompatibel mit der späten Kennzeichnung des Systems einer positiven Philosophie.67 Es sei eine letzte Marginalie hinzugefügt. An einer bereits von mir herangezogenen Stelle verweist Schelling emphatisch auf einen »Satz der ältesten Philosophie«: »Vom Unendlichen zum Endlichen – kein Uebergang« (AA I 4, 86). Deshalb sei »nach den bisherigen Prinzipien« (ebd.) der Spinozismus unvermeidlich; denn eine Emanationslehre verdecke dies nur durch Bilder. In der Befolgung dieses Lehrsatzes spricht Schelling in der Religionsschrift vom Sprung bzw. Abfall des Endlichen vom Absoluten;68 und die Freiheitsschrift folgt diesem Leitsatz mit der (Kantischen) Hypothese einer intelligiblen Tat. Für alle diese Hinweise gilt eine doppelte Einschränkung. Zum einen handelt es sich nicht nur um Beweggründe Schellings, sondern um Problemstellungen des nachkantischen Idealismus überhaupt. Zum anderen lassen sich post festum Verbindungslinien ziehen, über die sich Schelling, als er seine Beiträge für das Philosophische Journal verfaßte, selbst wohl noch nicht im klaren war. Was die Allgemeine Übersicht jedoch zweifellos bezeugt, ist die leidenschaftliche Auseinandersetzung über den rechten Weg der Philosophie. Wie wir wissen, dauert es danach nicht mehr lange, bis die Hauptakteure dieser Diskussion in aller Entschiedenheit getrennte Wege gehen.

67

Die negative Philosophie »ist eine ganz in sich geschlossene, zu einem bleibenden Ende gekommene Wissenschaft, also in diesem Sinne System, die positive dagegen kann nicht in demselben Sinne System heißen, eben weil sie nie absolut geschlossen ist« (SW XIII, 133). 68 Philosophie und Religion (1804). »Mit Einem Wort, vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Uebergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar« (SW VI, 38). Der Grund der endlichen Dinge »kann nur in einer Entfernung, in einem Abfall von dem Absoluten liegen« (ebd.).

Wilhelm G. Jacobs Fichte und Schelling über Begriff und Form der Philosophie

Auf den ersten Seiten seiner Schrift Ueber die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt schreibt Schelling, daß er »am stärksten noch durch die neueste Schrift des Hrn Prof. Fichte«, nämlich Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, in seinen eigenen Überlegungen »bestärkt«1 worden sei; eben »diesen Vortheil« habe ihm auch »die vortreffliche Recension des Aenesidemus in der allgem. LitteraturZeitung« gewährt.2 Schelling also bezieht sich auf Fichte. Dies geschieht so umfänglich und deutlich, daß schon die ersten Leser Schellings frühes Philosophieren als Anschluß an Fichte verstanden haben – eine Lesart, die sich vor allem in der älteren Forschung weitgehend durchgehalten hat. Horst Fuhrmans beispielsweise sieht Schelling ganz von Fichte abhängig: »So tief war Schelling von Fichtes Schrift angerührt, daß er – begabt mit hoher Einfühlungsgabe und fähig, Angedeutetes durchzudenken, zu Neuem zu kombinieren und gültig zu formulieren – sogleich selbst eine Schrift dazu schrieb […] die gering war im Eigenen, aber nicht ungeschickt in einigen Formulierungen.«3 Die neuere Forschung, so Michaela Boenke, Harald Holz, Birgit Sandkaulen-Bock und Ulrich Vogel,4 hebt dagegen Schellings Berücksichtigung der Kantischen Philosophie hervor und sieht in ihr einen Anstoß 1

In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. v. Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen, Hermann Krings u. Hermann Zeltner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 ff. Reihe I, Band 1. Hrsg. v. Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen u. Walter Schieche (1976), hier 266. Im folgenden zitiert als »AA«. 2 AA I 1, 267. 3 In: F. W. J. Schelling: Briefe und Dokumente. Hrsg. v. Horst Fuhrmans. Bonn 1962ff. Band I (1962), hier 28. Im folgenden zitiert als »BuD«. 4 Michaela Bönke: Transformation des Realitätsbegriffs. Untersuchungen zur frühen Philosophie Schellings im Ausgang von Kant. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 173–183. Im folgenden zitiert als »Bönke«. Harald Holz: Die Struktur der Dialektik in den Frühschriften von Fichte und Schelling, in: Archiv für Geschichte der Philosophie Bd. 52. Berlin 1970, 71–90. Hartmut Kuhlmann: Schellings früher Idealismus. Ein kritischer Versuch. Stuttgart/Weimar 1993, 79–90. Im folgenden zitiert als »Kuhlmann«. Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings. Göttingen 1990, 22–28. Ulrich Vogel: Prinzip und System. Schellings frühe Philosophie im Spannungsfeld von Transzendentalphilosophie und Metaphysik der Substanz. Marburg 2000, 95–112. Im folgenden zitiert als »Vogel«.

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des Schellingschen Denkens. Die Länge der Darlegungen Schellings zu Kant5 und die Tatsache, daß er sich 1792 schon ausführlich mit Kants Kategorienlehre auseinanderzusetzen hatte6, lassen in der Tat geraten erscheinen, seine Abhandlung von dorther zu erläutern. Schließlich hatte er im § 11 der Kritik der reinen Vernunft, den er in unserer Schrift zitiert,7 gelesen, daß die Kategorientafel »unentbehrlich sei, den Plan zum Ganzen einer Wissenschaft, sofern sie auf Begriffen a priori beruht, vollständig zu entwerfen«.8 Nahm er diese Aussage Kants ernst, so mußte er bei dem Unternehmen, die Philosophie als wissenschaftliches System zu begründen, auf die Kategorien eingehen. Diese Sicht leitet auch die nachfolgende Untersuchung. In dieser wird, da sich nur Schelling auf Fichte bezieht, Fichte sich aber nicht auf Schelling beziehen kann, Schellings Abhandlung auf Fichtes Schriften bezogen. 1. Bei näherem Hinsehen bemerkt man im Vergleich beider Schriften einige Auffälligkeiten. Die beiden Monographien Fichtes und Schellings sind nicht auf gleiche Weise strukturiert. Die erste, Schelling vorliegende Auflage der Fichteschen Schrift9 hat eine Vorrede, drei Abschnitte in acht durchgezählten Paragraphen und ein nicht als solches überschriebenes Nachwort. Der erste Abschnitt Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre überhaupt ist in zwei Paragraphen geteilt: Hypothetisch aufgestellter Begriff der Wissenschaftslehre10 und Entwicklung des Begriffs der Wissenschaftslehre. Der zweite Ab5

Die Ausführungen zu Kant umfassen etwa zwei Drittel des zweiten Hauptteils der Schellingschen Schrift. 6 Eines seiner Specimina hatte den Titel: »Über die Übereinstimmung der Critik der theoretischen und praktischen Vernunft, besonders in Bezug auf den Gebrauch der Categorien, und der Realisierung der Idee einer intelligibeln Welt durch ein Factum in der lezteren.« (Wilhelm G. Jacobs: Zwischen Revolution und Orthodoxie? Schelling und seine Freunde im Stift und an der Universität Tübingen. Texte und Untersuchungen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989, 284.) 7 AA I 1, 291. 8 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. B 109. Im folgenden zitiert als »KrV«. 9 Die zweite Auflage erschien 1798; sie ist orthographisch verbessert, enthält kleinere Änderungen des Textes, eine »Vorrede zur zweiten Ausgabe« und zwei »Beilagen«. Der dritte Abschnitt ist entfallen. 10 In: Johann Gottlieb Fichte. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissen-

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schnitt Erörterung des Begriffs der Wissenschaftslehre gibt in vier Paragraphen den Ort der Wissenschaftslehre im System der Wissenschaften an. Im dritten Abschnitt (= §. 8.) folgt die Hypothetische Eintheilung der Wissenschaftslehre11, sodann das als solches nicht gekennzeichnete Nachwort. Schellings Schrift ist zwar deutlich gegliedert, jedoch mit Ausnahme der Nachschrift ohne Überschriften. Die ersten Seiten stellen eine Vorrede12 dar. Die Nachschrift und die Vorrede sind so von dem übrigen Text abgegrenzt, daß die letzte Seite der Vorrede und die Seite vor der Nachschrift13 mit einem Querstrich enden, die jeweils folgende Seite dann mit drei Sternchen beginnt.14 Der folgende Hauptteil des Textes wird zweimal durch drei Sternchen15 gegliedert, der erste dadurch entstandene Teil ist durch einen Querstrich16 nochmals geteilt. Die durch die ersten Sternchen gekennzeichnete Zäsur im Hauptteil des Textes findet eine verbale Bestätigung. Hinter den Sternchen heißt es: »Damit wäre nun das Problem, das der eigentliche Gegenstand dieser Abhandlung war, gelöst.«17 In dem vor dieser Zäsur stehenden Teil finden sich vornehmlich die Parallelen zu Fichtes Texten.18 Schelling geht nicht auf den Zweiten Abschnitt der Fichteschen Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre, der den Ort der Wissenschaftslehre im System der Wissenschaften angibt, ein, sondern nur auf den ersten und auf den dritten. Die Parallele zu Fichte ist also begrenzt auf Schellings ersten Teil seiner Abhandlung und Fichtes ersten und in geringem Maße auf den dritten Abschnitt.

schaften. Hrsg. v. Reihnard Lauth, Erich Fuchs, Hans Gliwitzky, Hans Jacob u. Günter Zöller. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Abt. I, Band 2. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob (1965), hier 112–118. Im folgenden zitiert als »GA«. 11 GA I 2, 150–152. 12 AA I 1, 265–267. 13 AA I 1, 267; 298. 14 AA I 1, 268; 299. 15 AA I 1, 285; 297. 16 AA I 1, 278. 17 AA I 1, 285. 18 Man vergleiche die Erklärenden Anmerkungen in AA I 1. Auf Fichte wird in der Vorrede zweimal verwiesen, weil dort die Programmschrift Fichtes und die Aenesidemusrezension von Schelling genannt werden. Im ersten Hauptteil wird auf die Programmschrift siebzehnmal verwiesen, auf die Rezension zweimal und auf die »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre«, die Schelling aber höchstwahrscheinlich bei der Niederschrift seiner Abhandlung nicht gekannt hat, ebenfalls zweimal. Im zweiten Hauptteil wird zweimal auf die Programmschrift und einmal auf die Grundlage verwiesen.

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In demjenigen Teil seiner Abhandlung, der sich nicht auf Fichtes Schrift bezieht, gibt Schelling eine Abbreviatur der neuzeitlichen Philosophiegeschichte mit einem Schwerpunkt auf Kant. Angesichts dessen, daß Schelling die Darstellungen seiner Philosophie bis ins Alter hinein mit einer Geschichte der neuzeitlichen Philosophie beginnt,19 verdient dieser Teil diejenige Aufmerksamkeit, die ihm erst die jüngere Forschung zuwendet. Wiewohl Schelling sich auf die genannten Schriften Fichtes bezieht, zitiert er nicht ein einziges Wort. Es scheint sogar, er meidet dasjenige Wort, durch das Fichte sein Vorhaben, das er entwickelt, benennt, das Wort »Wissenschaftslehre«; es kommt im ganzen Text Schellings nur zweimal vor. Zuerst findet man es im Titel der von Schelling zitierten Schrift Fichtes; diese führt Schelling in dem Teil seiner Abhandlung an, den man Vorwort nennen könnte.20 Sodann spricht Schelling zu Beginn seines zweiten Hauptteiles über die »künftige Wissenschaftslehre«. Er stellt sie in eine Entwicklungslinie mit Kants Kritik der reinen Vernunft und der Reinholdischen Theorie des Vorstellungsvermögens. Es ist deutlich, daß Schelling hier von der angekündigten Fichteschen Wissenschaftslehre spricht, die Fichte zur Zeit der Niederschrift von Schellings Abhandlung, im Sommer 1794, zum ersten Mal vorträgt. Wenn dagegen Schelling selbst davon spricht, wie diejenige Wissenschaft, deren Begriff sein Text darstellt, genannt werden könne, meidet er es, so nahe er sich auch im Text an Fichte bewegt, von Wissenschaftslehre zu sprechen. Seine Namensvorschläge lauten: »Propädevtik der Philosophie, Elementarphilosophie, (Philosophia prima) oder […] Theorie (Wissenschaft) aller Wissenschaft, Urwissenschaft, oder Wissenschaft kat’ exochän«.21

19 Vgl. Propädeutik der Philosophie, in: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. Sämmtliche Werke. Hrsg. v. K. F. A. Schelling. Stuttgart u. Augsburg 1856 ff. Band VI (1860), hier: 71–130. Im folgenden zitiert als »SW«. Ferner: Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, in: SW X (1861), 1–200. 20 AA I 1, 266. 21 AA I 1, 272. Vgl. dazu Vogel 101: »indem Schelling seine Aufgabe […] als Propädeutik […] begreift, negiert er nicht nur den von Kant […] (vgl. KrV B XLIII) der Kritik der reinen Vernunft erhobenen Anspruch, sondern ebenso die von Reinhold und Fichte […] unternommenen Versuche. Und darüber hinaus stellt er seinen eigenen Entwurf durch die Kennzeichnung […] philosophia prima explizit in einen Zusammenhang der klassisch metaphysischen Begründungsprogramme sowohl von allem, was ist, als auch der Art und Weise, wonach wir davon wissen«.

Fichte und Schelling über Begriff und Form der Philisophie

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Schelling versucht sehr deutlich, seine Eigenständigkeit hervorzuheben. Schon im ersten Satz des Büchleins erfährt der Leser, daß der Verfasser die hier niedergelegten Gedanken »einige Zeit schon mit sich herumgetragen hatte«.22 Unmittelbar darauf wird Kants Werk, nicht Fichtes Schriften, als Initialzündung genannt: Der Verfasser, heißt es, »wurde auf sie [seine Gedanken] schon durch das Studium der Kritik der reinen Vernunft selbst geleitet«23. Deren Probleme habe auch Reinhold nicht vollständig lösen können. In diesem Urteil wurde Schelling durch Fichtes Begriff der Wissenschaftslehre »bestärkt«24; es wurde ihm nämlich durch seine eigenen Gedanken leichter – nicht etwa möglich gemacht oder ähnlich – »in den tiefen Gang jener Untersuchung, – wenn nicht ganz, doch vielleicht mehr, als es ihm ohne diß gelungen wäre – einzudringen, und den Zwek derselben, endlich eine Auflösung des gesammten Problems über die Möglichkeit der Philosophie überhaupt herbeizuführen, als einen Gegenstand,« – jetzt wird Schelling deutlich – »mit dem er schon zum Voraus einigermassen vertraut geworden war, zu verfolgen.«25 Fichtes Schrift war es, die ihn zuerst zu einer, nicht vollständigen, sondern »vollständigern«26 Entwicklung seiner Gedanken bestimmte. Der Komparativ »vollständigern« zeigt deutlich, daß Schelling die ihm vorliegenden Schriften Fichtes auf Grund eigener Auseinandersetzung mit dem in diesen verhandelten Problemen behauptet gelesen zu haben. Fichtes Schriften wurden ihm »in eben dem Masse verständlicher«, »als er sich selbst vorerst diese [Gedanken] bestimmter entwickelt hatte.«27 Der Komparativ findet in »verständlicher« und »bestimmter« nochmals Anwendung. Bei der hier artikulierten Distanz zu Fichte legt es sich nahe zu fragen, warum wohl Schelling »nicht ganz« in den Gang der Fichteschen Untersuchung einzudringen vermochte. Bei dem von Schelling geäußerten Selbstbewußtsein ist es nicht abwegig, hier eine vorsichtige Kritik an Fichte in Erwägung zu ziehen. Jedenfalls will der junge Autor einerseits Fichte sein Recht, den Problemstand weitergetrieben zu haben, zugestehen, andererseits aber auch klarstellen, daß er selbst genau an diesem Problem gearbeitet habe. Der Verdacht, Schelling sei in jugendlichem Überschwang über seine Grenzen hinausgegangen, läßt sich durch den Hinweis auf die beiden Specimina, die er zu seiner Magisterpromotion 22 23 24 25 26 27

AA I 1, 265. AA I 1, 265. AA I 1, 266. AA I 1, 266 f. AA I 1, 267. AA I 1, 267.

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1792 angefertigt hat, in Frage abweisen. Sie handeln von der Einheit der Vernunft und von der Begründung der Philosophie.28

2. Zweifellos hält sich der erste Hauptteil von Schellings Text eng an Fichtes Texte. Die Übereinstimmung der Behauptungen beider Autoren läßt sich etwa so skizzieren: Philosophie soll zur Wissenschaft, damit zum System erhoben werden. Der erste Schritt dazu ist, den Begriff der Wissenschaft selbst wissenschaftlich, d. i. in einer Wissenschaft der Wissenschaft, zu entwickeln. Wenn Wissenschaft, wie man allgemein annimmt, einen Zusammenhang darstellt, so ist einmal dieser Zusammenhang, die Form der Wissenschaft, zu erörtern, zum anderen muß wenigstens ein Gehalt, der gewiß ist, gefunden werden, der durch die Form allen übrigen Gehalten des Systems mitgeteilt wird. Ein gewisser Gehalt aber ist ein solcher, der durch sich selbst einleuchtet, daher unbedingt ist. Das System der Philosophie hat somit vom Unbedingten auszugehen. Dieses wird in einem Grundsatz ausgesprochen. Da dieser unbedingt ist, hat er keine Bedingung außer sich; somit bedingen sich in ihm Form und Gehalt gegenseitig. Da neben dem Unbedingten noch weitere Gehalte behauptet werden sollen, so bedarf es noch zweier Grundsätze, deren einer der Form nach, der andere dem Gehalt nach bedingt sind und es ermöglichen, die mannigfaltigen Glieder des Systems zu behaupten. In diesen skizzierten Behauptungen ist kaum eine Differenz zwischen Fichte und Schelling zu finden. Fichtes grundlegender Gedanke entstand in der Auseinandersetzung mit Schulze-Aenesidemus, von der er im Dezember 1793 an Stephani schreibt: »Er hat mich eine geraume Zeit verwirrt, Reinhold bei mir gestürzt, Kant mir verdächtig gemacht, und mein ganzes System von Grund aus umgestürzt.«29 Der Angriff des Aenesidemus richtete sich gegen Reinholds »Satz des Bewußtseins«; in seiner entsprechenden Rezension gesteht Fichte zu, daß im »Satz des Bewußtseins« die Begriffe Unterscheiden und Beziehen nicht vollständig bestimmt seien, erklärt aber, daß eben dies durch die Voraussetzung des Setzens möglich sei.30 Fichtes Grundsätze des Setzens, Entgegensetzens (= Unter28

Vgl. Fußnote 6. Der Titel des anderen Specimen lautet: »Über die Möglichkeit einer Philosophie ohne Beinamen, nebst einigen Bemerkungen über die Reinholdische Elementarphilosophie«. 29 GA III 2. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob (1970), 28. 30 GA I 1, 44.

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scheidens) und der Teilbarkeit (= Beziehen) verdanken sich somit dem Bemühen, an Reinholds Theorie zu retten, was zu retten war. Es ist verständlich, daß, da mit dem Unterscheiden und Beziehen schon die Kategorien der Negation und Limitation im Spiel waren, Fichte die dritte Qualitätskategorie, nämlich die der Realität, mit den Grundsätzen in Verbindung bringt. Im ersten Hauptteil seiner Schrift hält sich Schellings Darlegung eng an Fichte. An einer Stelle jedoch formuliert Schelling deutlich abweichend von Fichte. Dies geschieht dort, wo Schelling in Übereinstimmung mit Fichte behauptet, der schlechthin-unbedingte Inhalt des Grundsatzes der Philosophie könne »nur eine schlechthin – unbedingte Form haben«31; denn eine Verbindung mit einer bedingten Form wäre für einen unbedingten Gehalt nicht zu denken. Hier fügt Schelling in Klammern einen Satz ein, den man so bei Fichte nicht findet: »Die innere Form des Innhalt’s und der Form des Grundsatzes ist also die des Bedingtseyns durch sich selbst, wodurch die äussere Form, die Form des unbedingten Geseztseyns erst möglich wird.«32 Fichte kennt sowohl das Bedingtsein durch sich selbst wie das unbedingte Gesetztsein – beides ausgesagt vom absoluten Ich; die explizite Unterscheidung jedoch zwischen beiden als innerer Form des Inhalts und als äußerer Form kennt Fichte nicht. Dagegen behauptet Schelling: »Unbedingt gesezt, und durch sich selbst bedingt seyn, ist etwas sehr verschiednes.«33 Diesen Unterschied erläutert Schelling in einer Fußnote. Diese steht im Rahmen der Erörterung der Kategorien, speziell der Modalitätskategorien. Innerhalb der Schellingschen Erörterung der Kategorien nimmt diejenige der Relationskategorien eine Sonderstellung ein, dieser Erörterung folgt dann eine kürzere der weiteren Kategorien, wo sich auch das angeführte Zitat findet. Um es zu erläutern, ist vom Gesamtzusammenhang der Schellingschen Diskussion der Kategorien auszugehen. Schellings Text bereitet allerdings die Schwierigkeit, äußerst knapp gehalten zu sein.34 In der Forschung ist schon gesehen worden, daß Fichte seine Grundsätze mit den Qualitätskategorien in Verbindung bringt, Schelling an diese Stelle jedoch die Relationskategorien setzt. Diese Verbindung erklärt sich zunächst daraus, daß einzig die Relationskategorien nach Kant 31

AA I 1, 273. AA I 1, 274. 33 AA I 1, 296. Anm. E. 34 Vgl. Kuhlmann 79: »Jedenfalls ergeben sich für das nachvollziehbare Veständnis, das Schellings Äußerungen nur für sich zu lesen bemüht ist, reichlich viele Undeutlichkeiten und einige merkwürdige Widersprüchlichkeiten«. 32

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Unbedingtes denken lassen. Wenn man das Unbedingte denken will, wie es die Grundsätze erfordern, so stehen für dieses Denken gemäß Kant in erster Linie die Relationskategorien zu Verfügung.35 Das Verständnis des Schellingschen Textes erschließt sich am ehesten durch eine Fußnote, in der er bemerkt, »daß hier bloß von der Art des Gesetztseyns überhaupt die Rede ist, also gar keine Rüksicht auf den Innhalt des Satzes genommen wird.«36 Schelling könnte sich hier auf Kant berufen, der schreibt: »Die allgemeine Logik abstrahiert […] von allem Inhalt der Erkenntnis […] und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse aufeinander, d. i. die Form des Denkens überhaupt.«37 Es soll also keinerlei Inhalt in Betracht kommen, sondern nur die Form, d. i. die Art und Weise, wie die Begriffe im Verhältnis zueinander gesetzt werden. Wenn Schelling sich nun insbesondere den Relationskategorien zuwendet, so versteht er kategorische Urteile so, daß in ihnen ein jedes Prädikat dem Subjekt zugeschrieben werden kann, das diesem nicht widerspricht, formal: A ist B. Damit wird das Prädikat ohne Bedingung dem Subjekt zugeschrieben. Der Ausschluß des Widerspruchs kann nicht als Bedingung des Urteils, die diesem vorherginge, verstanden werden, da er aus dem Setzen des Prädikats selbst folgt; denn Setzen bedeutet hier A = B zu setzen, also Identität zu behaupten, die sich durch einen Widerspruch aufheben würde. Offensichtlich denkt Schelling hier die Identität von A und B nicht im Sinne von »Einerleiheit«38, wie er später sagt. Die kategorische Form versteht also Schelling als diejenige, die »nur überhaupt die Art betrifft, wie ein Prädikat – (gleichviel welches?) – gesezt wird.« Daher, so argumentiert Schelling weiter, steht diese Form »bloß unter dem Gesez des unbedingten Geseztseyns, (dem Satz des Widerspruchs) –. Analytische Form.«39 Wohlgemerkt, Schelling hebt rein auf die Form ab. Daher, so wird man wohl annehmen dürfen, abstrahiert er aus Kants analytischen Urteilen die inhaltliche Bestimmung, daß das Prädikat im Subjekt enthalten sein müsse. Dann bleibt als Form das unbe35

Vgl. Bönke, 178f. AA I 1, 290. 37 KrV A 55 / B 79. 38 Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. SW VII (1860), 341. Schelling spricht hier vom »allgemeinen Mißverständniß des Gesetzes der Identität«. Es sei »einem Kinde begreiflich zu machen, daß in keinem möglichen Satz, der […] die Identität des Subjekts mit dem Prädicat aussagt, eine Einerleiheit […] ausgesagt werde«. 39 AA I 1, 294. 36

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dingte Setzen eines Prädikats. Kants analytische Urteile sind nach Schellings Verständnis identische,40 weil das Prädikat einen mit dem Subjekt identischen Inhalt aussagt. Als Beispiel führt Schelling den Grundsatz »Ich ist Ich« an und fügt hinzu: »Allein daß dieser Satz identisch ist gehört zu seinem Innhalt und nicht zu seiner Form überhaupt«.41 Gemäß Schelling ist der Satz A = B, der gemäß Kant ein synthetischer ist, ein analytischer; »denn es ist schlechthin und unbedingt etwas in ihm gesezt.«42 In Schellings Worten hat in identischen Sätzen »das Subject sich selbst zum Prädikat«.43 In Schellings Sinn von ›analytisch‹ verhalten sich identische Sätze zu analytischen »wie Art zur Gattung.«44 Somit steht für Schelling auch der Satz »Ich ist Ich« als identischer Satz unter der im Schellingschen Sinne analytischen Form. Schelling kritisiert an Kants Lehre, daß er die Urform des Wissens nicht als solche aufgestellt, sondern sie als die Kategorien der Relation unter die anderen eingereiht habe45 und daß die Urform, d. i. die Formen des analytischen und synthetischen Urteils, »nicht ganz im Reinen«46 bei ihm waren. Es blieb für Schelling auch »der Mangel einer Bestimmung der Formen des Denkens durch ein Princip«.47 Diese Frage behauptet Schelling beantworten zu können: Diese Form ist durch die obersten Grundsätze alles Wissens zugleich mit und unzertrennlich von dem Innhalt alles Wissens gegeben.«48 Wenn die Grundsätze das Grundsätzliche aussprechen, so können sie nicht von außen bedingt sein, sondern nur durch sich selbst, also ihr Verhältnis zueinander. Der erste aller Grundsätze aber kann nur durch sich selbst bedingt sein. Es ist Schelling ebenso wie Fichte klar, »daß ein schlechthin-unbedingter Innhalt nur eine schlechthin-unbedingte Form haben kann, und umgekehrt.«49 Form und Inhalt müssen also »beide einander welchselseitig herbeiführen«.50 In diesem Kontext steht jene Behauptung, die oben als von Fichte abweichend vermerkt wurde: »Die innere Form des Innhalt’s und der Form des Grundsatzes ist also die des Bedingtseyns durch sich selbst, wodurch 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Vgl. AA I 1, 292. AA I 1, 292 f. AA I 1, 293. AA I 1, 293. AA I 1, 293. Vgl. AA I 1, 293f. AA I 1, 292. AA I 1, 289. AA I 1, 290. AA I 1, 273. AA I 1, 274.

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die äussere Form, des unbedingten Geseztseyns erst möglich wird.«51 Sie steht im Zentrum von Schellings Schrift; denn an dieser Stelle sieht er »das Problem, das bisher allen Versuchen einer wissenschaftlichen Philosophie im Wege lag«52 gelöst. Diese ist nur auf der Grundlage eines Grundsatzes möglich, und dieser kann weder ein rein materialer noch ein rein formaler sein. Beide Momente des obersten Grundsatzes, Gehalt und Form, führen »in einem magischen Kreise«53 wechselseitig aufeinander. Diese wechselseitige Begründung kennzeichnet einzig den obersten Grundsatz; in keinem anderen Satz ist sie zu finden und zu suchen. Der oberste Grundsatz enthält den »Innhalt alles Innhalts«;54 dadurch gibt er »sich zugleich selbst seinen Innhalt«.55 Der oberste Grundsatz ist einer von dreien, folglich ein bestimmter Grundsatz; er ist »als bestimmter [oberster] Grundsatz, Grundsatz der Form aller Form«.56 Daher, so argumentiert Schelling, »giebt er sich zugleich, insofern er Grundsatz überhaupt ist, selbst seine Form«.57 Diese ist, wie an anderer Stelle mehrfach ausgeführt, die des unbedingten Gesetztseins, die kategorische. Der Inhalt des obersten Grundsatzes ist Unbedingtheit; er ist also durch sich selbst bedingt. Aus dieser Unbedingtheit folgt für Schelling die Form des unbedingten Gesetztseins. »Die materiale Form führt die formale herbei.«58 An keiner Stelle seines Textes behauptet Schelling das Umgekehrte, obwohl seine explizite Behauptung der Wechselseitigkeit von Form und Gehalt dies nahelegt. Es scheint also unerachtet der Wechselseitigkeit eine Priorität beim Gehalt zu liegen. Dies könnte in Übereinstimmung mit Fichte so zu verstehen sein, daß die Form die Funktion hat, die Gewißheit vom obersten Grundsatz auf jeglichen Satz des Systems zu übertragen, also als Mittel der Übertragung von Gewißheit kein Oberstes sein kann. Wenn man mit Kuhlmann vermutet, die wechselseitige Begründung von Form und Inhalt widerspreche »der zuvor geforderten Determination des Grundsatzes durch den Inhalt recht offensichtlich«,59 so dürfte der Widerspruch dahingehend aufzulösen sein, daß die Form des 51 52 53 54 55 56 57 58 59

ebd. ebd. ebd. ebd. ebd. ebd. ebd. ebd. Kuhlmann, 80.

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Grundsatzes auch die Form anderer Sätze sein können muß; offensichtlich ist ja die Form des obersten Grundsatzes, die kategorische, die vieler Urteile, während der Gehalt nur dieser eine sein kann. Die Form läßt sich freilich nicht begründen, wenn nicht aus dem einen Inhalt des Grundsatzes. Der Gehalt kann zwar nur in dieser Form ausgesprochen, die Form aber kann vielfach angewandt werden. »Ein Satz kann unbedingt gesezt, dabei aber doch nicht durch sich selbst bedingt sein, nur nicht umgekehrt.«60 Nachdem Schelling die Formen der drei Grundsätze mit den Relationskategorien gleichgesetzt hat – den zweiten Grundsatz, den des bedingten Gesetztseins, mit der hypothetischen Form, den dritten Grundsatz, den des durch ein Ganzes der Bedingungen bedingten Gesetztseins, mit der disjunktiven Form – geht er die übrigen Kategoriengruppen durch. Bezüglich des ersten Grundsatzes kann »nach der Quantität, die unter der Urform des unbedingten Geseztseyns stehende Form bloß die Form der Einheit seyn«.61 Nach der Qualität kann die entsprechende Form »nur die der Bejahung seyn«.62 Das entspricht ganz Fichtes Darlegungen zum ersten Grundsatz in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. Schelling fügt dem Absatz, in dem er die Qualitätskategorien abhandelt, eine Fußnote hinzu, die folgendermaßen beginnt: »Die Form der Bejahung ist nicht identisch mit der Form des unbedingten Geseztseyns, obgleich durch sie bestimmt.«63 Diese Behauptung läßt Schellings Beziehung auf Fichte nur so erklären, daß er entweder die Grundlage nicht kennt (was anzunehmen ist) oder daß er sich in diesem Punkt bewußt gegen Fichte stellt. Dieser hatte nämlich gegen Ende des § 1, in dem er den ersten Grundsatz »Ich bin« aufstellt, geschrieben: »Abstrahiert man […] von allem Urtheilen, als bestimmten Handeln, und sieht bloß auf die durch jene Form gegebne Handlungsart des menschlichen Geistes überhaupt, so hat man die Kategorie der Realität.«64 Die Kategorie der Realität ist aber die Form des bejahenden Urteils. Diese ist nach Schellings zitierter Fußnote durch die Form des unbedingten Gesetzseins, die kategorische Form, bestimmt und nicht mit ihr identisch. Die kategorische Form ermöglicht für Schelling also die bejahende. Er argumentiert hier – ob mit oder ohne Kenntnis der Grundlage – gegen Fichtes Behauptung.

60 61 62 63 64

AA I 1, 296. AA I 1, 294. AA I 1, 294. AA I 1, 295. GA I 2, 261.

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Dies erklärt sich daher, daß Schelling alle Kategorien aus denen der Relation her versteht, während Fichte sie erst im zweiten Teil der Grundlage einführt, um die Relation von Ich und Nicht-Ich zu denken. Im Zuge der Herleitung der Kategorien geht Schelling auch auf die Modalitätskategorien ein. Die unter der Urform stehende dieser Gruppe ist nach Schelling die Möglichkeit. »Denn nur die Form der Möglichkeit ist unbedingt, dagegen selbst absolute Bedingung aller Wirklicheit.«65 Was logisch möglich, bzw. widerspruchsfrei ist, steht unter keiner Bedingung, ist damit aber nicht wirklich. Umgekehrt ist, was wirklich ist, eo ipso möglich, die Möglichkeit also die Bedingung jeder Wirklichkeit. Folglich sagt Schelling vom Grundsatz Ich = Ich, er habe, »insofern er unbedingt gesezt ist, blosse Möglichkeit.«66 Wohlgemerkt, die bloße Möglichkeit schreibt Schelling diesem Satz infolge seines Gesetztseins zu, nicht nach seinem Gehalt. Der Satz ist nach obigen Darlegungen seiner Form nach ein identischer. Von identischen Sätzen behauptet Schelling nun: »Insofern sie unbedingt sind, stehen sie unter der Form der Möglichkeit, insofern sie bedingt sind durch sich selbst, unter der Form der Wirklichkeit. Der Satz Ich = Ich ist als categorischer Satz bloß möglich, insofern er aber zugleich zwar nicht durch einen höheren Satz, aber durch sich selbst bedingt ist, wird er zum nothwendigen Satz.«67 Zum Ende des ersten der beiden zuletzt zitierten Sätze gehört die Fußnote, in der zwischen dem unbedingten Gesetztsein und dem Bedingtsein durch sich selbst unterschieden wird. Im Bedingtsein durch sich selbst wird Kausalität gedacht. Vom Ich aber schreibt Schelling gut Fichtisch, »es sezt sich selbst (durch absolute Caussalität)«.68 Nun ist aber das Ich die Ermöglichung schlechthin jeder Behauptung. Somit kann als die ihm eigene Form die der Möglichkeit angesetzt werden. Zweifellos reicht eine Möglichkeit nicht aus, den Inhalt des Ich zu fassen, spricht doch Schelling, wie zitiert, von Kausalität. Man hat es hier zu meiden, die Kausalität auch als Möglichkeit zu interpretieren, wie es Kant in der Kritik der reinen Vernunft vorgegeben hatte;69 die Rede von absoluter Kausalität steht dagegen und verweist auf die praktische Vernunft. Deren Kategorien »sind insgesamt

65

AA I 1, 295. AA I 1, 295. 67 AA I 1, 295f. 68 AA I 1, 280. Vgl. Kuhlmann 83: Diese Stelle gebe » einen kleinen Hinweis auf den wohl vorrangig praktischen Charakter des strikten Selbstsetzungsverhaltnisses, das hier ausgesprochen ist«. 69 Vgl. KrV A 76 / B 100. 66

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Modi einer einzigen Kategorie, nämlich der der Kausalität«,70 und diese praktischen Begriffe a priori werden »in Beziehung auf das oberste Prinzip der Freiheit sogleich Erkenntnisse […] weil sie die Wirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen (die Willensbestimmung) selbst hervorbringen«.71 Bedenkt man noch, daß nach Kant das Sittengesetz für die Praxis dieselbe Einheitsfunktion hat, wie die transzendentale Apperzeption für die Theorie,72 so versteht man, daß das Ich als erstes Prinzip aller Philosophie und zugleich als Bedingtsein durch sich selbst, damit als Synthesis von Möglichkeit und in der Kausalität gegebener Wirklichkeit, d. i. als Notwendigkeit interpretiert wird, nahe an Kants § 76 der Kritik der Urteilskraft. Schelling also zielt auf die Einheit theoretischer und praktischer Philosophie, die er mit Kantischen oder weitergedachten Kantischen Mitteln zu formulieren sucht. Es geht ihm schließlich um die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, wobei – wenn man der vorgelegten Interpretation folgen will – das »überhaupt« auf Philosophie und nicht auf Form zu beziehen ist. Weil es ihm aber um die Form der Philosophie überhaupt geht, diese aber ihrem Wesen nach ein Konstruktionselement ist, konstruiert Schelling den Inhalt mit Kantisch reflexiven Mitteln, er behauptet ihn nicht wie Fichte als »Ich bin«,73 das in der AenesidemusRezension überhaupt nicht konstruiert, sondern intellektuell angeschaut74 wird. Bei Schelling heißt es stets »Ich = Ich«,75 weil er nämlich auf die Form abhebt. Dieses Vorgehen erlaubt zugleich, die beiden unteren Grundsätze, zwar nicht aus dem ersten abzuleiten, wohl aber enger, als Fichte es tat, an den ersten zu binden, indem das unmittelbare Moment doch vermittelst des anderen eben mittelbar bestimmt ist. Schellings angedeutete Kritik an Fichte ist dieselbe, die er gegen den Versuch einer Kritik aller Offenbarung richtet;76 er möchte, daß »das Gerede von objektiven Beweisen für’s Daseyn Gottes«77 und die Unsterblichkeit aufhöre; denn der objektiv gedachte Gott läßt nur eine heteronome Moral

70

Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. 114. Im folgenden zitiert als »KpV«. 71 KpV 116. 72 Vgl. KpV 115. Vgl. dazu Lewis White Beck: Kants »Kritik der praktischen Vernunft«. Ein Kommentar. München 1974, 136. 73 GA I 2, z. B. 57; 62; 65f. 74 Vgl. GA I 2, 57; 65. 75 AA I 1, 285-287; 295f. 76 Vgl.AA III 1. Hrsg.v. Irmgard Möller u. Walter Schieche (2001), Brief 1795.02.04, 21. 77 AA I 1, 287.

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IV. Fichte – Schelling · W. G. Jacobs

zu. Demgegenüber ist die moralische Freiheit im Ich zu verankern; daß Fichte daran lag, konnte Schelling nicht wissen. Texte Fichtes, die Schelling hätten aufklären können, lagen in Fichtes Schublade. Schelling aber hatte alles Interesse, die Moralität als Autonomie der Vernunft in das Ich aufzunehmen, weshalb er ihm absolute Kausalität zuschrieb und Differenz in ihm setzte. Fichtes Theorie, so ist zu vermuten, war ihm eher eine des Selbstbewußtseins, denn eine der Freiheit. – Um diese aber ging es ihm. 3. Fichte konzipiert den Urakt des Bewußtseins, das »Ich bin«, als unteilbare Einheit, als singulum absolutum, wie er später formulieren wird. Er artikuliert die Freiheit, die immer schon ist und sich jedem bestimmten Bewußtsein voraussetzt. Daher nennt er jenen Urakt später auch »actus purus« oder »Sein«. Schelling konstruiert diesen Akt. Er trägt in ihn Differenz ein. Das Bedingtsein durch sich selbst denkt er als Akt, nicht als ein sich ewig voraussetzendes Sein, sondern als ein sich ins Sein setzendes Werden. Der Urakt ist für ihn einer der Freiheit, 78 diese aber ist Entscheidung, setzt also mit sich selbst Scheidung, Differenz. Indem sich die Freiheit eine Scheidung setzt, entscheidet sie sich. Fichte und Schelling formulieren zu Beginn ihres philosophischen Lebensweges je eine Form von Freiheit als Prinzip. Aus der Kenntnis dieser Wege sehen wir in den hier verhandelten Schriften Ausgangspunkte ihrer Wege. Bei mancher Nähe und gerade in ihr sind beide von Anbeginn an auf je eigenen Wegen. Fichte geht auf Freiheit als die erste Bedingung der Möglichkeit allen Bewußtseins zurück, Schelling reflektiert auf den Aktcharakter von Freiheit, der zugleich Entscheidung ist.

78

Wenn man mit einer späteren Terminologie Schellings die absolute Kausalität als Willen bezeichnet, so kann man hier schon die Unterscheidung von Natur und Logos der späteren Philosophie Schellings angedeutet sehen.

Christian Klotz Die Methode des Zugangs zum Prinzip in Fichtes Wissenschaftslehre »nova methodo« und der Transzendentalphilosophie des frühen Schelling

Seit 1796 folgte Fichte in der Darlegung der Grundlagen der Wissenschaftslehre einer Darstellungsweise, die er selbst im Hinblick auf deren Methode für neuartig hielt. In seinen Ausführungen zum hier befolgten Verfahren nimmt die Rede von »Bedingungen des Selbstbewußtseins« eine prominente Stellung ein: Bewußte Inhalte sollen in dem Sinn aus dem Selbstbewußtsein erklärt werden, daß sie als dessen ermöglichende Bedingungen ausgewiesen werden. Dieses Vorgehen hat offenbar ein Verständnis dessen zur Voraussetzung, was den als »Selbstbewußtsein« gekennzeichneten Sachverhalt überhaupt ausmacht. In Fichtes Darstellung findet sich denn auch die Grundbestimmung des Selbstbewußtseins ausdrücklich formuliert, die im Aufweis von dessen Bedingungen in Anspruch genommen wird: Im Selbstbewußtsein, so heißt es dort, wird das Ich »sich selbst Object«.1 Fichte beschreibt die hiermit gemeinte Struktur näher als eine Duplizität von irreduziblen und zugleich untrennbaren Tätigkeiten: In einer ihm wesentlichen Reflexionstätigkeit schreibt das Ich sich eine hiervon unterschiedene »reale Tätigkeit« zu und sucht sich deren Verfassung deutlich zu machen. Im Zuge dieser Selbstverdeutlichung erzeugt die Reflexion allererst die bewußte Selbst- und Weltverfassung.2 Dieses Verständnis von Selbstbewußtsein bestimmt durchgängig den Sinn, den die Rede von »Bedingungen des Selbstbewußtseins« in Fichtes Darstellung erhält. Dies sind jene Inhalte, die als notwendige Implikate der Selbstverdeutlichung des Ich im Bewußtsein generiert werden. Insofern hat dieses Selbstbewußtseinskonzept als das eigentliche »Prinzip« von Fichtes neuer Darstellung der Wissenschaftslehre zu gelten. Fichtes Prinzipienkonzept des Selbstbewußtseins wirft Fragen auf, die es erforderlich machen, sich seines Gehalts und seiner Geltung mit Argumenten zu versichern. So ist zu fragen, wie von einem »Ich« die Rede 1

J.G. Fichte: Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Fr. Krause. Hrsg. v. Erich Fuchs. Hamburg 1982, 51. Im folgenden zitiert als »NKr«, mit Angabe der Seitenzahl. 2 S. NKr, 46ff. sowie, zum Begriff der »Duplizität«, 185.

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IV. Fichte – Schelling · Chr. Klotz

sein kann, aus dessen produktiver Reflexionstätigkeit allererst das hervorgeht, als was wir uns im Selbstbewußtsein begreifen. Das Ich als reflektierende und insofern ihrer Objektwerdung vorgängige Instanz kommt für das in der Theorie rekonstruierte Selbstbewußtsein ja nicht in den Blick. Müßte die reflektierende Instanz als solche aber jenseits allen Bewußtseins angesiedelt werden, dann könnte sie auch nicht als ihrer selbst bewußt und insofern noch nicht als »Ich« charakterisiert werden. Daß ein Begriff vom Ich, der auf eine vorgängige Bedingung der Reflexion abzielt, gar keinem im Bewußtsein aufzuweisenden Sachverhalt entspricht und somit »transzendent« sei, war bekanntlich ein gegen die Grundlage von 1794 bereits laut gewordener Einwurf.3 Soll dieser Einwand nicht auch gegen die neue Darstellung der Wissenschaftslehre erhoben werden können, so muß deren grundlegender Ichbegriff in einer Weise etabliert werden, welche die Bewußtseinsimmanenz des hier gemeinten Sachverhalts überzeugender herausstellt, als dies in der Darstellung von 1794 geschehen war. Tatsächlich wird der Ichbegriff hier in einer ganz anderen Weise eingeführt, als dies im Eingangsparagraphen der Grundlage geschehen war; und auch das nun befolgte Verfahren der Vergewisserung über ein Ich, das nicht »Objekt« und doch »im Bewußtsein« ist, hat Fichte als einen wesentlichen Teil der methodischen Neuerung betrachtet, die in dieser Darstellung vollzogen wird. Um das eigentlich strukturerzeugende Prinzip der Wissenschaftslehre zu erreichen, muß die Darstellung aber darüberhinaus einen begründeten Übergang von dem so eingeführten Ichbegriff zur Betrachtung von dessen durch die »Duplizität« gekennzeichneter Selbst-Objektivation enthalten. Ein solcher Übergang wird in Fichtes neuer Darstellung auch deutlich als ein eigenständiger Schritt in der Einführung des Theorieprinzips erkennbar. In ganz entsprechender Weise war die Begründung der Reflexionsform des Ich aber schon während der Ausarbeitung der Grundlage thematisch geworden. In deren fünftem Paragraphen hatte Fichte in einem »genetischen« Beweis zu zeigen versucht, daß es dem Ich, auch wenn dieses ursprünglich nicht durch die Struktur der Reflexion bestimmt ist, doch wesentlich sei, in den durch eine innere Differenz 3

Siehe Hölderlins Brief an Hegel vom 26. Januar 1795, in: Friedrich Hölderlin. Große Stuttgarter Ausgabe. Hrsg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart 1943ff. Abteilung IV, Band 1, S. 155. In der öffentlichen Diskussion wurde der Einwand durch F. I. Niethammer (Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Vorbericht. Erster Band, Neustrelitz 1795) sowie von K. Chr. E. Schmid erhoben (Bruchstücke aus einer Schrift über die Philosophie und ihre Prinzipien zu vorläufiger Prüfung vorgelegt. In: Philosophisches Journal 10 (1795), bes. 101).

Die Methode des Zugangs

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gekennzeichneten Selbstbezug einzutreten.4 So konnte Fichte meinen, für diesen Schritt lediglich auf das bereits in der Grundlage gegebene Argument zurückgreifen zu müssen. In seiner letzten Bearbeitung der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre wurde ihm aber auch dessen Verfahrensweise fragwürdig. So stellte sich die Aufgabe einer methodischen Neuorientierung schließlich auch in Bezug auf diesen für die Einführung des Prinzips der Wissenschaftslehre erforderlichen Schritt. Von einer methodischen Neuorientierung der Darstellung ist im Hinblick auf Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo also nicht nur im Hinblick darauf zu sprechen, daß sie die Bewußtseinsstruktur als ein Gefüge von »Bedingungen des Selbstbewußtseins« rekonstruiert. Schon die Weise, in der die hierbei vorausgesetzte Konzeption von Selbstbewußtsein etabliert wird, folgt einer neuen Vorgehensweise. Um diese soll es im folgenden gehen. Die Ausführungen zu Fichte werden hierbei zwei Teile haben, entsprechend den zwei Schritten, die sich in der Einführung des Prinzipienkonzepts des Selbstbewußtseins unterscheiden lassen: Zuerst soll die neue Methode in der Einführung des grundlegenden Ichbegriffs betrachtet werden, der einer vorgängigen Bedingung der Reflexion gilt. In einem zweiten Schritt ist die Methodologie des Übergangs zu dem durch die innere »Duplizität« gekennzeichneten, strukturerzeugenden Selbstbezug des Ich zu betrachten. Abschließend soll ein vergleichender Blick auf die Verfahrensweise geworfen werden, der Schelling in der Einführung des Prinzips seiner frühen Transzendentalphilosophie gefolgt ist. Diese scheint nämlich dem in Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo wirksamen Verfahren in wesentlichen Hinsichten zu entsprechen. Dennoch, so wird zu zeigen sein, unterscheidet sich Schellings Vorgehen infolge seines anderen Prinzipienverständnisses tiefgreifend von dem Fichtes. 1. Standpunktbindung und Reflexionsgang in Fichtes neuer Einführung des Ichbegriffs Die neue Darstellung der Wissenschaftslehre setzt mit der Aufforderung ein, sich zu denken und die hierbei vollzogene spontane Tätigkeit zu bemerken. Fichte hat diese Aufforderung erstmals in einer 1796 erschiene4

Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Jacob. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Abt. I, Band 2, 404 ff. Im folgenden zitiert als »GA« mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl.

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IV. Fichte – Schelling · Chr. Klotz

nen Replik auf die Kritik seines Jenaer Kollegen K. Chr. E. Schmid zum Ausgangspunkt für die Einführung des Ichbegriffs gemacht.5 Aus dem Kontext, in dem dies dort geschieht, läßt sich der Sinn dieses Vorgehens auch durchaus ersehen. Schmid war ja ein Vertreter des Einwands, der grundlegende Ichbegriff der Wissenschaftslehre gelte gar keiner im Bewußtsein aufweisbaren Instanz und sei somit »transzendent«. Fichte will diesem Einwand nun begegnen, indem er den Ichbegriff explizit als Ergebnis der Reflexion auf einen Vollzug von Selbstbewußtsein einführt. Wenn sich das Ich, welches Prinzip der Wissenschaftslehre ist, in einer Betrachtung aufweisen läßt, die ganz in einer solchen Reflexion verbleibt und die somit nur im Selbstbewußtsein enthaltene Elemente in den Blick nimmt, dann ist dem Transzendenzvorwurf tatsächlich der Boden entzogen. Im Vertrauen auf das neue Vorgehen sieht Fichte sich in der seit 1796 vorgetragenen Darstellung daher auch berechtigt, die »Immanenz« der Wissenschaftslehre in genau dem Sinn zu behaupten, in dem die Vertreter des Transzendenzvorwurfs dies gefordert hatten: Die Wissenschaftslehre, so heißt es dort, ist »immanent«, weil sie ihr Prinzip »im Bewußtsein findet und beim Bewußtsein bleibt«.6 Mit dem neuen Vorgehen in der Einführung des Ichbegriffs mußte sich nun aber eine methodologische Reflexion verbinden, die den Konsequenzen des Ausgangs von einer Aufforderung für das Theorieverständnis nachgeht. Fichte nahm hierbei ein Methodenkonzept auf, das in der Diskussion über die angemessene Orientierung der »kritischen« Philosophie bereits wirksam geworden war. Wenn Fichte nämlich die Aufforderung, sich zu denken, mit einem aus der Geometrie entlehnten Terminus als »Postulat« bezeichnet, dann steht die Darstellung des geometrischen Verfahrens im Hintergrund, die Jacob Sigismund Beck gegeben hatte. Beck hatte das geometrische Verfahren des Gebrauchs von Postulaten in einer Weise interpretiert, die dieses als den »einzigen Weg« erweisen sollte, Kants kritische Philosophie zu begründen. In Becks Darstellung ist der Gedanke eines Grundpostulats zentral, das den Standpunkt einnehmen läßt, aus dem allein die Aussagen der Theorie zu verstehen und ihre Beweise nachzuvollziehen sind. Im Fall der Geometrie ist dies die Aufforderung, den (dreidimensionalen) Raum vorzustellen; und in ganz analoger Weise sind die Aussagen der Kantischen Erkenntniskritik nach Beck an den Standpunkt des »ursprünglichen Vorstellens« gebunden, den einzunehmen somit das Grundpostulat der Theorie for5 6

GA I 3, bes. 255 ff. GA IV 2, 22.

Die Methode des Zugangs

237

dern muß. Die Aussagen der kritischen Philosophie sollen durchgängig in einer Reflexion über diesen Akt, wie er sich in seinem Vollzug darbietet, ihren Inhalt und ihre Begründung erhalten.7 Zwar unterscheidet sich Fichtes Darstellung von der Becks im Hinblick auf die Frage, wie der Ausgangspunkt der kritischen Philosophie zu bestimmen sei. Die Wissenschaftslehre geht ja nicht vom Standpunkt des gegenstandsbezogenen Vorstellens als einem unhinterfragbaren Sachverhalt aus, sondern vom bewußten Selbstbezug. Ihm soll ein Ichbegriff abgewonnen werden, aus dem die Vorstellung sich »erklären« läßt. Doch Becks Grundgedanke eines ersten Postulats, das den für die Theorie wesentlichen Standpunkt einnehmen läßt, ließ sich doch im Sinne der Intention einsetzen, die in der Einführung des Ichbegriffs leitend ist: Daß die Wissenschaftslehre mit dem Postulat »Denke dich« einsetzt, bedeutet, daß der für die Wissenschaftslehre grundlegende Ichbegriff im Standpunkt eines Vollzugs von Selbstbewußtsein eingeschlossen ist; der Ichbegriff läßt sich in einer Reflexion einführen, die diesen Standpunkt an keiner Stelle verläßt. Daher ist dieser Begriff »immanent« in genau dem Sinn, in dem die Kritiker der Wissenschaftslehre dies forderten. Fichte hat Becks Standpunktgedanken aber nicht etwa unmodifiziert aufgenommen; er hat ihn vielmehr in einer Weise weitergeführt, die in Becks Darstellung keine Entsprechung mehr findet. Die Auseinandersetzung mit Hume scheint hierbei eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Durch das Studium der »Humischen Schriften«, so schreibt Fichte 1796 in einem Brief an Hufeland, sei ihm ein »ganz neues Licht« aufgegangen, und dies im Hinblick auf die Frage, was die kritische Philosophie eigentlich leisten soll.8 In der Zweiten Einleitung wird dann auch erkennbar, inwiefern die Beschäftigung mit den Schriften Humes für Fichtes Theorieverständnis bedeutsam wurde: Dort zitiert Fichte das Ergebnis der Humeschen Analyse des Selbstbewußtseins, demzufolge sich das je eigene Bewußtsein bei unvoreingenommener Betrachtung als ein »Schauplatz« darbietet, auf dem Vorstellungen auftreten und abgehen. Für eine Reflexion, die den »Gesetzen des bloß sinnlichen Bewußtseins« folgt, so Fichte, gibt es kein »tätiges Prinzip« im Bewußtsein.9 Der 7

Erläuternder Auszug aus den critischen Schriften des Herrn Prof. Kant auf Anrathen desselben von M. Jacob Sigismund Beck. Dritter Band, welcher den Standpunkt darstellt, aus welchem die critische Philosophie zu beurteilen ist. Riga 1796, bes. S. 124ff. 8 GA III 2, 359. 9 GA I 4, 218. Die Stelle aus Humes Treatise, auf die Fichte hier anspielt, lautet: »The mind is a kind of theatre, where several perceptions successively make their appearance; pass, repass, glide away, and mingle in an infinite variety of postures and

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IV. Fichte – Schelling · Chr. Klotz

Standpunkt einer solchen Reflexion läßt sich im Theoriekontext als solchem aber durchaus aufrechterhalten; seine Unangemessenheit läßt sich nicht etwa mit theoretischen Mitteln demonstrieren. Wenn die Wissenschaftslehre dennoch an eine im Selbstbewußtsein eingeschlossene Vollzugsgewißheit appelliert und diese durchgängig festhalten will, so geschieht dies, um einen Gedanken im Theoriezusammenhang zur Geltung zu bringen, der für unser Selbstverständnis als freie Handlungssubjekte wesentlich ist. Ohne einen selbstbestimmten Vollzug des Denkens könnte von einem Handeln nach selbstgesetzten Zwecken ja gar nicht die Rede sein. In diesem Sinn sagt Fichte in der Zweiten Einleitung: »… ich kann diese Annahme [die Annahme der Spontaneität des Denkens] nicht aufgeben, ohne mich selbst aufzugeben«.10 Im Blick auf die Humesche Reflexion zeigt sich also, daß die Wissenschaftslehre einen Standpunkt in einem stärkeren als dem Beckschen Sinn zur Geltung bringt: Sie ist einem Spontaneitätsgedanken verpflichtet, der im Theoriekontext durchaus hintergehbar ist und den sie dennoch festhält aus einem praktischen Interesse heraus. Der Standpunktgedanke ist hier also in einer Weise verstärkt, die die Rückbindung der Theorie an praktische Evidenzen beinhaltet.11 Die Betrachtung eines zufolge der Aufforderung »Denke dich« ausgeübten spontanen Selbstbezugs kann für die Einführung des Ichbegriffs jedoch nur einen Ausgangspunkt bedeuten. Denn dieser Begriff zielt ja nicht auf eine besondere Leistung des Denkens ab, sondern auf ein Selbstbewußtsein, das allem bewußten Denken zugrundeliegt. Das Konzept eines solchen »unmittelbaren« Selbstbewußtseins soll die Bewußtheit erfassen, die dem Ich als vorgängigem Ursprung der Reflexion zukommen muß. Von einem Bewußtsein ist hier freilich nicht im Sinn eines »besonderen Bewußtseins« zu sprechen, das für sich schon ein eigensituations« (David Hume: A Treatise of Human Nature. Hrsg. v. L. A. Selby-Bigge und P. H. Nidditch. Oxford 1978, S. 253). Fichte wurde auf Humes Traktat möglicherweise durch die Aphorismen Platners aufmerksam, nach denen er im Winter 1794/95 über Logik und Metaphysik las. Platner verweist in seinen Bezügen auf Hume wiederholt auf den Treatise und diesem eigentümliche Thesen Humes. Eine Übersetzung des ersten Buchs des Treatise war, mit Hume-kritischen Aufsätzen des Übersetzers, des Kantianers L. H. Jacob, 1790 erschienen (L. H. Jacob: David Hume über die menschliche Natur, aus dem Englischen nebst kritischen Versuchen zur Beurtheilung dieses Werks. Halle 1790). 10 GA I 4, 218. 11 Aus diesem Schritt erklärt sich, daß Fichte – wiederum in der Zweiten Einleitung – den von Jacobi entlehnten Begriff des »Glaubens« in die Methodologie der Wissenschaftslehre einbringt (s. GA I 4, 219).

Die Methode des Zugangs

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ständiger Bewußtseinszustand wäre. Das unmittelbare Selbstbewußtsein tritt vielmehr nur als ein »Teil« der stets gegenstandsgerichteten Bewußtseinszustände auf, als jenes Element, kraft dessen alles Denken als eigener Vollzug bewußt ist.12 Dem sachlichen Gehalt dieser Konzeption ist hier nicht weiter nachzugehen. Festzuhalten ist aber, daß die Einführung des Ichbegriffs argumentative Schritte erfordert, die ausgehend vom reflektierten Bewußtsein eines spontanen Selbstbezugs im Denken das »unmittelbare« Selbstbewußtsein als eine Bedingung aufweisen, ohne die dieses nicht möglich gewesen wäre. Ein solcher Vergewisserungsgang findet sich auch tatsächlich im ersten Paragraphen der Wissenschaftslehre nova methodo und im ihm entsprechenden ersten Kapitel des Versuchs einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre ausgeführt.13 Fichte hat die Methodologie dieses Gangs jedoch nicht zu einer eindeutigen Formulierung gebracht. Vorherrschend sind in seinen Ausführungen solche Bemerkungen, die sich auf einen methodologischen Anschauungsbegriff berufen. Fichte beschreibt ja schon das reflektierte Vollzugsbewußtsein, von dem die Einführung des Ichbegriffs ausgeht, als Bewußtsein einer Anschauung. Als dies ist es zu verstehen, sofern es aus seiner eigenen Sicht einem präsenten Vollzug gilt. Fichte verbindet hiermit nun aber eine weitergehende methodologische Konzeption: In all ihren Schritten soll die Wissenschaftslehre sich auf nichts anderes berufen als auf eine »Anschauung«, auf ein Bewußtsein also, das einem in seinem Vollzogenwerden präsenten Akt gilt. Fichte konzipiert damit die Wissenschaftslehre im stärksten Sinn als scientia intuitiva, in dem dies möglich ist.14 Jedoch ist die starke Anschauungsmethodologie in mehreren Hinsichten fragwürdig. Sie setzt voraus, daß der für das Ich konstitutive Akt des »unmittelbaren« Selbstbewußtseins sich ebenso in seinem Vollzug gewahren läßt wie die durch ihn ermöglichten Leistungen des bewußten Denkens. Zudem können allgemeine Aussagen über Bedingungsverhältnisse, auf die Fichtes Darstellung ja abzielt, nicht auf der Basis singulärer Vollzugsgewißheiten gemacht werden. Es gibt jedoch auch Bemerkungen Fichtes, die erkennen lassen, daß ihm die Unangemessenheit der starken Anschauungsmethodologie nicht verborgen geblieben ist. In Fichtes letztem und unvollendet gebliebenen Versuch, die Wissenschaftslehre nova methodo für die Veröffentlichung zu überarbeiten, der 1800 verfassten Neuen Bearbeitung der Wissenschafts12 13 14

GA I 4, 214. GA I 4, 271ff. sowie NKr 28ff. Z. B. NKr 33 sowie GA II 5, 338.

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IV. Fichte – Schelling · Chr. Klotz

lehre, heißt es: »Das unmittelbare Selbstbewußtsein […] wird als solches, u. isolirt nicht Object des Bewußtseyns. Ist es auch bei uns nicht geworden. Was sonach thun wir? Wir erschliessen es, als Bestandtheil und Bedingung eines andern Bewußtseyns, u. stellen es nun, in seiner Abstraction hin.«15 Indem Fichte nun sagt, das unmittelbare Selbstbewußtsein sei wesentlich erschlossen, folgt er offenbar nicht mehr der Methodologie der durchgängigen Berufung auf unmittelbare Präsenz. Die hier angesetzte Schlußweise soll aber auch nicht über das reflektierte Vollzugsbewußtsein hinausgehen, von dem die Wissenschaftslehre ausgeht. Sie soll vielmehr das unmittelbare Selbstbewußtsein als einen »Bestandteil« aufweisen, ohne den dieses nicht möglich wäre, der mit ihm selbst aber noch nicht ausdrücklich erschlossen ist. Der Schluß auf das unmittelbare Selbstbewußtsein hat also den Sinn eines Verfahrens, das ein Element des Bewußtseins in den Blick treten und dessen Verfassung begreifen läßt. Dieses methodologische Konzept hält sich durchaus, ohne aber dem Immediatismus der starken Anschauungsmethodologie verpflichtet zu sein, im Rahmen des Programms einer »immanenten« Theorie.

2. Die Begründung des Übergangs zur Reflexionsform des Selbstbewußtseins Mit dem im ersten Paragraph der Darstellung eingeführten Begriff des Ich als »unmittelbares« Selbstbewußtsein ist der für das weitere Vorgehen der Wissenschaftslehre entscheidende Sachverhalt einer strukturerzeugenden Reflexion des Ich noch nicht in den Blick gekommen. Das unmittelbare Selbstbewußtsein ist ja ein Bewußtsein von sich, das Bedingung allen bewußten Denkens und somit auch der Reflexion ist. Von »Selbstbewußtsein« ist hier in einem schwächeren Sinn zu sprechen als dem einer reflektierten Selbstkenntnis, die bereits begriffliche Differenzierung umfasst. Für Fichtes Darstellung ergibt sich daher die Frage, wie von dem im Eingangsparagraphen betrachteten »unmittelbaren« Selbstbewußtsein zur auf Deutlichkeit abzielenden Selbst-Objektivation des Ich überzugehen ist. Im zweiten Paragraph der Wissenschaftslehre nova methodo stellt Fichte auch ausdrücklich den Übergang zur Reflexionsform des Ich als einen zu begründenden Schritt heraus: »Die Voraussetzung liegt darin: wir sind ausgegangen von dem Gedanken, wenn das Ich 15

GA II 5, 338.

Die Methode des Zugangs

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selbst wieder Object unsers Bewustseins sein soll, so folgt[,] daß ein NichtIch gesezt sein muß. Aber soll denn das Ich Object des Bewustseins werden? Dieß ist nicht bewiesen.«16 Im dritten Paragraph kommt Fichte auf diese – zunächst unbeantwortet gebliebene – Frage zurück: »Die Frage, wie kommt das Ich dazu[,] aus dem unmittelbaren Bewustsein herauszugehen, und in sich das Bewustsein zu bilden, ist hier beantwortet. Soll das Ich sein, so muß das unmittelbare Bewustsein wieder gesetzt werden durch absolute Freiheit. Dieses vor sich hinstellen durch absol[ute] Freiheit ist frei, aber unter der Bedingung, daß das Ich sein soll[,] ist’s nothwendig.«17 Fichte will hier offenbar die Erforderlichkeit der Reflexion direkt aus dem Ichbegriff begründen – »soll das Ich sein«, dann muß es über das unmittelbare Selbstbewußtsein hinausgehen und in die objektivierende Selbstverdeutlichung eintreten. Ohne den Akt der Reflexion könnte dem Argument zufolge von Selbstbewußtsein gar nicht die Rede sein. Das »unmittelbare Bewustsein«, so Fichtes Begründung, »ist gar kein Bewustsein, es ist ein dumpfes sich selbst setzen[,] aus dem nichts herausgeht, eine Anschauung[,] ohne daß angeschaut würde«.18 Der im ersten Paragraph der Darstellung noch als »unmittelbares Selbstbewußtsein« bezeichnete Akt ist demnach ein Selbstbezug des Ich, dem tatsächlich gar kein Bewußtseinscharakter zukommt und der in diesem Sinn als »dumpf« zu charakterisieren ist. Erst wenn dieser Akt seinerseits »gesetzt«, und d. h.: Gegenstand der Reflexion wird, kann von einem Bewußtsein von sich und damit auch von einem »Ich« gesprochen werden. Dieser Gedankengang entspricht dem bereits im »genetischen« Beweis des fünften Paragraphen der Grundlage gegebenen Argument. Auch dort bemerkt Fichte, erst wenn das Sich-Setzen des Ich Gegenstand der Reflexion wird – wenn das Ich sich also setzt »als sich setzend« –, sei ein Bewußtsein des Ich von sich erreicht. Das unreflektierte Sich-Setzen des Ich dagegen sei lediglich eine »konstitutive Tätigkeit«, der noch gar kein Bewußtseinscharakter zuzuerkennen ist.19 Im Zusammenhang der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre läßt sich dieses Argument jedoch nicht aufrecht erhalten. Denn im Eingangsparagraphen dieser Darstellung ist ausdrücklich von einem Selbstbewußtsein die Rede, das noch nicht von der Art der Reflexion ist. Hierfür ist es 16 17 18 19

NKr 38; vgl. GA IV 2, 44. NKr 49; vgl. GA IV 2, 45. Ebd. GA I 2, bes. 406/07.

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IV. Fichte – Schelling · Chr. Klotz

entscheidend, daß nicht erst im Blick auf die durch Reflexion erbrachte deutliche Selbstkenntnis sinnvoll von »Selbstbewußtsein« gesprochen werden kann. Die für das Argument erforderliche Charakterisierung des im ersten Paragraphen betrachteten Selbstbezugs als »dumpf«, d. h. als gar nicht bewusstseinsartig, ist hiermit unvereinbar. Sie läßt Fichtes Darstellung in die widersprüchliche Aussage verfallen, das unmittelbare Bewußtsein sei »gar kein Bewustsein«. Um der Konsistenz der Darstellung willen ist stattdessen ein Argument erforderlich, das für ein nicht als Reflexion zu fassendes Selbstbewußtsein Raum läßt. Dies bedeutet aber, daß die Reflexionsforderung sich nicht auf die Prämisse gründen läßt, erst im Blick auf die Selbst-Objektivation des Ich sei überhaupt von Selbstbewußtsein zu sprechen. Die Neue Bearbeitung läßt erkennen, daß die Unhaltbarkeit des in der vorgetragenen Darstellung gegebenen Arguments Fichte schließlich auch deutlich geworden ist. Fichte betont dort, die Begründung der These von der notwendigen Reflexion des Ich sei der »Hauptnervus probandi des ganzen Systems«. In der Frage, worin der Nerv dieses Arguments genau bestehen soll, kommt er aber bald zu dem Ergebnis, diesen noch nicht angemessen gefasst zu haben. Zunächst verläßt Fichte sich hier zwar noch auf das bisher gegebene Argument, das er nun ausdrücklich als eine »Entwicklung aus dem Begriffe eines Selbstbewußtseyns« charakterisiert.20 Doch schon bald bemerkt er: »Aus dem Begriffe des Selbstbewustseins folgern kann ich nicht. Denn ich habe ja nur das ideale Selbstbewußtsein als absolut ›noch‹ gezeigt.«21 Mit dieser selbstkritischen Bemerkung verweist Fichte auf genau den Gesichtspunkt, der das in der vorgetragenen Darstellung geführte Argument nicht aufrecht erhalten läßt: Die Argumentation des ersten Paragraphen brachte ein »ideales« Selbstbewußtsein in den Blick, d. h. ein Bewußtsein von sich, das in allem bewußten Denken eingeschlossen ist, in welchem das Ich aber noch kein »realer« Gegenstand, – kein Objekt der Reflexion – ist. Wenn dieses bereits als ein Selbstbewußtsein zu fassen ist, dann kann die Notwendigkeit der Reflexion nicht aus dem Begriff des Selbstbewußtseins gewonnen werden. In den Ausführungen, die dieser Bemerkung in der Neuen Bearbeitung folgen, beruft Fichte sich dann auch tatsächlich auf eine im Begriff des Selbstbewußtseins noch nicht enthaltene Bedingung, um die Reflexionsforderung zu begründen: Er spricht nun vom »Urgesetz der endlichen In20 21

GA II 5, 358. Ebd.

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telligenz«, das Ich »vor sich selbst hinstellen« zu müssen.22 Es ist also ein nicht weiter herleitbares Prinzip – ein »Urgesetz« – des endlichen Bewußtseins, sich zum Gegenstand zu haben und als eines unter Anderem in einem Weltzusammenhang zu bestimmen. Auf eine »genetische« Herleitung dieses Sachverhalts aus dem vorgängig angesetzten Ichbegriff verzichtet Fichte hier ganz. Indem die Wissenschaftslehre Bedingungen eines Selbstbewußtseins entfaltet, das wesentlich durch innere »Duplizität« gekennzeichnete Reflexion ist, entwickelt sie demnach die Implikationen der nicht weiter herleitbaren Endlichkeit unseres Bewußtseins. Am Ende von Fichtes Versuchen, die Wissenschaftslehre nova methodo auszuarbeiten, steht demnach die Anerkennung der Nicht-Ableitbarkeit der Reflexionsform und damit der Endlichkeit unseres Bewußtseins.

3. Der Zugang zum Prinzip in Schellings früher Transzendentalphilosophie In einer Replik auf eine Rezension seiner Schrift Vom Ich als Prinzip der Philosophie hat Schelling sich erstmals zu methodologischen Fragen in einer Weise geäußert, die eine Nähe zu Fichtes zweiter Darstellung der Wissenschaftslehre verrät. In der Antikritik von 1796 bemerkt Schelling, von einem Grundsatz der Philosophie sei gar nicht im Sinne eines »spekulativen« Satzes, sondern nur in Sinn eines »Postulats« zu sprechen. Die Philosophie nämlich beginne mit der Forderung, »auf sich selbst frei zu handeln«; dies sei ihr erstes Postulat, wie die Forderung des Linieziehens in der Geometrie.23 Demnach will Schelling einem Verfahren folgen, das dem Ausgang vom »Denke dich« in Fichtes zweiter Darstellung der Wissenschaftslehre entspricht. Das tatsächlich in der Ich-Schrift befolgte Vorgehen läßt sich jedoch Schellings methodologischem Postulatbegriff in der Antikritik nicht zuordnen. Der Ichbegriff wird dort nämlich gar nicht im Ausgang vom Bewußtsein eines spontan ausgeübten Selbstbezugs eingeführt, zu dem ein Postulat auffordern würde. Vielmehr wird er in einem Argument etabliert, das vom Gedanken des Unbedingten als dem vorauszusetzenden »Realgrund« des Wissens ausgeht.24 Schellings Bemer-

22

Ebd., 363. Friedrich Wilhelm Joseph Schellings sämtliche Werke. Hrsg. v. F. K. A. Schelling. Stuttgart 1856ff. Abt. I, Band 1, 133. Im folgenden zitiert als »SW« mit Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl. 24 Ebd., 52ff. 23

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IV. Fichte – Schelling · Chr. Klotz

kungen in der Antikritik sind daher eher als Ausdruck einer sich bereits abzeichnenden neuen und in methodischer Hinsicht veränderten Darstellung zu interpretieren. In der nachfolgenden Allgemeinen Übersicht 25 und im System des transzendentalen Idealismus folgt Schellings Darstellung dann auch tatsächlich dem methodologischen Gedanken des Ausgangs von einem Postulat. Die Bestimmung des Prinzips der Transzendentalphilosophie, die Schelling seiner Darstellung hierbei zugrundelegt, läßt jedoch erkennen, daß sich die Aufgabe des Zugangs zum Prinzip hier in einer anderen Weise stellt als in Fichtes zweiter Darstellung der Wissenschaftslehre. Der Allgemeinen Übersicht zufolge ist der »Geist« als Selbstkonstruktion zu fassen; er ist dadurch gekennzeichnet, »für sich selbst Objekt zu werden«.26 Die Selbstobjektivation des Geistes läßt sich nach Schelling aber nicht etwa mit dem Akt des Selbstbewußtseins identifizieren – sie ist vielmehr Grund allen Selbstbewußtseins, wie auch der Natur. Schelling betont daher, daß die Tätigkeit des Geistes dem Standpunkt des Bewußtseins vorgängig, daß sie »jenseits des Bewußtseins« zu situieren sei.27 Damit wird aber fraglich, wie das Prinzip der Theorie im Ausgang vom Standpunkt des bewußten Selbstbezugs erschließbar sein soll, der dem Grundpostulat der Theorie zufolge einzunehmen ist. Das Postulat und das Theorieprinzip haben zwar jeweils den Vollzug eines Selbstbezugs zum Inhalt. Diese Entsprechung ist wohl der Grund, warum Schelling das Postulat für einen geeigneten Ausgangspunkt zur Verständigung über das Prinzip hält. Doch bei der Differenz beider, die Schelling im Verlauf der Darstellung zunehmend betont, wird fraglich, ob diese Entsprechung auch die Verstehbarkeit des Prinzips im Ausgang vom bewußten Selbstbezug gewährleistet. Im System des transzendentalen Idealismus bleibt diese methodische Problemlage bestehen. Auch hier soll der Zugang zum Theorieprinzip im Ausgang vom Standpunkt des bewußten Selbstbezugs genommen werden, der durch ein Postulat eingefordert wird. Im Unterschied zur Allgemeinen Übersicht reflektiert Schelling hier aber explizit auf die methodolo25

Die Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Litteratur erschien zuerst 1797/98 in den Bänden V–VIII des Philosophischen Journals einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten. Sie wurde von Schelling in den ersten Band der philosophischen Schriften (1809) unter dem Titel Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre aufgenommen, unter dem sie sich auch in Bd. I 1 der Ausgabe F. K. A. Schellings findet. 26 SW I 1, 367. 27 Ebd., 442 (vgl. 421, Fußn.).

Die Methode des Zugangs

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gischen Fragen, die dies aufwirft. Schelling betont hier, der absolute Akt, von dem die systematische Darstellung ausgeht, sei »nicht etwa der mit Freiheit hervorgebrachte, den der Philosoph postuliert«; und er wirft die Frage auf, »wodurch der Philosoph sich jenes unbedingten Akts versichert, oder von ihm wisse«. Dies kann, so Schellings Antwort, »nicht unmittelbar, sondern nur durch Schlüsse« geschehen.28 Das für die Vergewisserung über das Prinzip grundlegende Schlußverfahren muß zeigen, daß der freie Akt des Selbstbewußtseins eine »Nachahmung« des grundlegenden Akts ist, aus dem Natur und Bewußtsein hervorgehen.29 Damit tritt insofern eine Gemeinsamkeit der Methode Fichtes und Schellings hervor, als ja auch in Fichtes Darstellung das Postulat bzw. der Standpunkt des bewußten Selbstbezugs nur der Ausgangspunkt für die Erschließung des Theorieprinzips ist. Doch das von Schelling angesetzte Schlußverfahren hat offenbar einen anderen Sinn als das Fichtes, geht es hier doch darum, ein gar nicht im Bewußtsein enthaltenes Prinzip zu erschließen, während Fichtes Verfahren den Sinn einer Reflexion hat, die ein internes Element des Bewußtseins in den Blick treten läßt. Schellings Methodologie erfordert also einen vom Standpunkt des Selbstbewußtseins ausgehenden Schluß, der hinter all das zurückgeht, was in diesem Standpunkt enthalten sein kann. Damit aber ist Schellings Methodologie der Vergewisserung über das Prinzip in ihrer tiefgreifenden Differenz zu Fichtes Konzeption und auch schon in ihrer Problematik deutlich hervorgetreten. Denn wie ein solcher Schluß möglich sein soll, ohne dem Einwand ausgesetzt zu sein, lediglich eine Struktur des Bewußtseins auf eine bewußtseinsvorgängige Ebene zu projizieren, wird in Schellings Darstellung nicht ersichtlich. Auf die vom Postulat ausgehende Erschließung eines vor-reflexiven »Ich« folgte in Fichtes Darstellung ein zweiter Schritt, der für die Einführung des Prinzipienkonzepts wesentlich ist: der Übergang zur Reflexion, in der das Ich für sich »Objekt« wird. Abschließend ist der Frage nachzugehen, inwiefern ein entsprechender Schritt sich auch in Schellings Einführung des Theorieprinzips aufweisen läßt. In der Ich-Schrift war dies offenbar noch der Fall gewesen – dort hatte Schelling explizit die Frage aufgeworfen, wie das absolute Ich dazu komme, sich zu verendlichen, indem es sich ein »Nicht-Ich« entgegensetzt. Schelling mußte in der Ich-Schrift jedoch einräumen, daß diese Frage auf der Basis des eingeführten Ichbegriffs keine Antwort finden kann. Das »absolute« 28 29

SW I 3, 395. Ebd., 396.

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Ich schließt ja jeden Bezug auf ein Nicht-Ich aus; somit kann in ihm kein Grund für Reflexion und Außenbezug enthalten sein.30 Mit dem GeistBegriff der Allgemeinen Übersicht sieht Schelling diese Aporie offenbar insofern überwunden, als die Selbstvergegenständlichung des Geistes nun von Anfang an als dessen wesentliche Tätigkeit angesetzt ist. Der Geist ist demnach wesentlich »Unendlichkeit« und »Endlichkeit« zugleich, es gibt, wie Schelling betont, kein Problem des »Übergangs«.31 Damit wäre nun auch das methodische Problem entfallen, wie vom Gedanken eines der Vergegenständlichung vorgängigen Prinzips zur Darstellung von dessen Reflexion bzw. Verendlichung überzugehen sei. So hat Schelling sich anscheinend der Problemlage vollkommen entledigt, die Fichtes problembehafteten nervus probandi entsprechen würde. Ob diese Lösung allerdings näherem Hinsehen standhält, ist zu bezweifeln. Denn der Geist ist nicht etwa immer schon verendlicht – er wird für sich selbst Objekt, wie Schelling betont. Der Gedanke einer Objektwerdung impliziert aber den einer Instanz, die ursprünglich nicht Objekt bzw. nicht verendlicht ist. Schelling spricht denn auch in der Allgemeinen Übersicht vom Geist »an sich«, sofern er ursprünglich gar nicht objektiviert ist;32 und im System sagt er, das Ich sei »ursprünglich (jenseits der Objektivität, die durch das Selbstbewußtsein darein gesetzt wird)« nichts als »unendliche Tätigkeit«.33 Demnach nimmt Schellings Prinzipiendefinition per implikationem also doch eine Instanz in Anspruch, die der vergegenständlichenden Tätigkeit vorgängig ist. Über deren Verfassung gibt Schelling jedoch keine Auskunft. Nur, wenn sie sich anders bestimmen läßt als das »absolute Ich« der Ich-Schrift, läßt sich der dort verbliebenen Aporie entgehen. So ist auch hier in Schellings Prinzipienkonzept noch das Problem verborgen, wie die Philosophie den Schritt zur Verendlichung bzw. zur »Selbstkonstruktion« des Geistes tun kann, der es ihr erst ermöglicht, die Komplexität des Bewußtseins von ihrem Prinzip her verständlich zu machen. Den Darstellungen Fichtes und Schellings ist die Intention gemeinsam, ausgehend vom Standpunkt des bewußten Selbstbezugs das allem Gegenständlichen vorgängige Prinzip der Theorie zu erschließen, aus dessen Selbst-Objektivation die Struktur des Bewußtseins und seines Weltbezugs zu verstehen ist. Hieraus ergab sich eine Konvergenz beider 30 31 32 33

SW I 1, 175 und 187 Anm. Ebd., 367. Ebd. SW I 3, 380.

Die Methode des Zugangs

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Positionen hinsichtlich der Methodologie der Schritte, welche die Vergewisserung über das Prinzip erbringen sollen. Die methodologische Differenz beider Positionen, die dennoch zu konstatieren war, ergab sich dagegen aus einer tiefgreifenden Divergenz im Verständnis des Prinzips. Fichte charakterisiert den prä-objektiven Sachverhalt, von dem die rekonstruktiven Schritte der Theorie ausgehen, als ein unmittelbares Bewußtsein; Schelling dagegen setzt ihn als einen allem Bewußtsein vorgängigen Sachverhalt an. Damit tritt die sachliche Frage hervor, die hinter der Differenz Fichtes und Schellings steht: Gibt es einen Sinn von Bewußtsein, der hinter die Struktur der vorgegenständlichenden Bezugnahme und ihrer Inhalte zurückgeht, oder führt der Schritt zum Vor-Gegenständlichen notwendig zu einem Prinzip, das »jenseits des Bewußtseins« situiert ist? Wenn Schellings Darstellung für die letzte Option votiert, dann liegt dem die Identifikation des Bewußtseins mit gegenstandsbezogenem Vorstellen zugrunde, die bereits in der Theorie Reinholds vorgenommen worden war. Fichte dagegen war zum Konzept eines Selbstbewußtseins vorgedrungen, das eine allem Sich-Vorstellen vorgängige Bedingung meint; von diesem Bewußtsein konnte Fichte daher sagen, es sei die »absolute Grenze«, hinter die auch philosophisches Nachfragen nicht zurückgehen kann.34

34

GA II 5, 340.

Ulrich Vogel Das Ich und seine Kategorien. Begründungsleistungen und -defizite bei Fichte und Schelling (1794–95)

1. Einleitung Die Frage nach dem Verhältnis von absolutem Ich einerseits und Kategorien andererseits umreißt sowohl für Fichte als auch für Schelling in den Jahren 1794/95 ein sich unmittelbar aus den jeweiligen Projekten des Anschlusses an und der Überwindung von Kant ergebendes Problem, das – auf spezifisch verschiedene Weise freilich – von beiden Autoren auf eines der wesentlichen Defizite Kants verweist. So hält Fichte fest, daß Kant auf »unseren Satz, als absoluten Grundsatz alles Wissens (…) in seiner Deduction der Kategorien gedeutet«,1 diesen aber nie »als Grundsatz bestimmt aufgestellt habe«,2 und Schelling ist der Auffassung, Kant habe zwar gezeigt, daß die Kategorien »nach dem Princip der logischen Funktionen des Urtheilens«3 gewonnen werden können, doch habe er den Nachweis nicht erbracht, auf welchem Prinzip diese Urteilsfunktionen selbst beruhen: Schelling verweist auf eine Kategorien- und Urteilstafel notwendig unterliegende »höhere absolute Einheit«,4 von der Kant nichts habe wissen wollen. Worum es somit geht, ist die Frage, ob der metaphysischen Deduktion der Kategorien aus den Formen des Urteils bei Kant noch eine weitere, prinzipiellere Ebene unterzulegen ist und wie das Verhältnis eines solchen Absoluten zu Kategorien überhaupt (noch) gedacht werden kann. Das Problemfeld ist also weit. Um es Anlaß und Möglichkeiten entsprechend einzugrenzen, werde ich mich im folgenden 1

Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1845/46, FW I, 83–328. S. 99. Im folgenden abgekürzt als Grundlage. 2 Ebd. 3 Friedrich Wilhelm von Schelling: Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen. In: ders.: Historisch-Kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Hans Michael Baumgartner, Wilhelm G. Jacobs, Hermann Krings und Hermann Zeltner. Stuttgart-Bad Cannstatt 1976ff. I, 2 64–175. Hrsg. von Hartmut Buchner und Jörg Jantzen unter Mitwirkung von Adolf Schurr und Anna-Maria Schurr-Lorusso. Stuttgart-Bad Cannstatt 1980. 7210f. Im folgenden abgekürzt als AA I 2, mit Angabe der Seiten- u. Zeilenzahl. 4 VI 7218.

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an Schellings Konzeption der Kategorien orientieren, wie er sie in Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795) entworfen hat, um sie an den entsprechenden Stellen mit den Positionen Fichtes in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre zu konfrontieren. In der Schrift Vom Ich finden sich äußerst umfangreiche Überlegungen zu dem, was Schelling die ›untergeordneten Formen des Ich nennt‹ und was man schlicht mit ›seinen Kategorien‹ übersetzen könnte. Der Ort dieser Thematisierung ist folglich – anders als bei Fichte, bei dem dies im Kontext der Grundsätze geschieht – nicht der Anfang, sondern die zweite Hälfte der Schrift: Zu Beginn hatte Schelling sich nach dem Aufweis eines letzten Realgrundes unseres Wissens (§ 1) der näheren Bestimmung dieses Unbedingten gewidmet, zunächst (§ 2) hinsichtlich der Möglichkeit seiner Verortung auf der Subjekt- oder Objektseite, dann im absoluten Ich (§ 3). Anschließend war er zu einer Erörterung möglicher apriorischer Ansichten des Unbedingten (§§ 4–6) und zur Bestimmung der reinen Identität als Urform des Ich (inkl. oberster Grundsatz) übergegangen, bevor schließlich in § 8 die Form des Gesetztseins des Ich als durch absolute Freiheit in intellektualer Anschauung geschehend erwiesen wurde. Die nun folgenden untergeordneten Formen des Ich können deshalb so heißen, weil sie sich aus den bislang entwickelten Wesensmerkmalen des Ich gleichsam analytisch ergeben, wenn diese unter einem an kategorialen Bestimmungen orientierten Gesichtspunkt betrachtet werden. In dieser Hinsicht ist das Ich der Quantität nach absolute Einheit, der Qualität nach absolute Realität, der Relation nach absolute Substantialität und absolute Kausalität, der Modalität nach schließlich reines absolutes Sein. Entsprechend der Ankündigung aus der Vorrede zur Ich-Schrift, wo Schelling die Auffassung vertrat, daß bei Kant »die untergeordnete, abgeleitete Synthesis durch Verstandesbegriffe ohne eine ursprüngliche Form, und einen ursprünglichen Innhalt, der aller Synthesis, wenn sie Synthesis seyn soll, zu Grunde liegen muß, gedenkbar seye«,5 befinden wir uns mit der Deduktion der untergeordneten Formen des Ich an dem Ort, wo begründet werden soll, daß und inwiefern die Kategorien als die Funktionsweisen endlichen Erkennens ihren Grund und Ursprung im absoluten Ich haben. Denn um ihre einheitsstiftende Funktion erhalten zu können, müssen sie als ursprünglich aus der absoluten Einheit des Ich entstammend aufgewiesen werden. Und um dort aufweisbar zu sein, 5

AA I 2, 723–6.

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muß das Absolute nun selbst in quantitativer, qualitativer, relationaler und modaler Hinsicht bestimmbar sein bzw. sich selbst bestimmen. Leisten will Schelling dies einerseits durch eine stark an der Ethica Spinozas orientierte Argumentation bezüglich der ersten drei kategorialen Hinsichten, in deren Kontext Schelling die jeweils erste Kategorie (Einheit / Realität / Substantialität via immanenter Kausalität) dem Absoluten zuweist, die jeweils zweite dem Nicht-Ich (Vielheit / Negation / Kausalität), wobei hier schon auf die besondere Bedeutung der Qualität hingewiesen werden soll. Andererseits versucht Schelling, sein Ziel durch eine der eigenen ontologischen Konzeption sich verdankende Umdeutung und Betonung der Modalformen zu erreichen, was sich schon an der entsprechenden, oben angeführten Auszeichnung des Ich als »reines absolutes Sein« ablesen läßt. – Im folgenden will ich zunächst auf die Bestimmungen des Ich in quantitativer, qualitativer und relationaler Hinsicht eingehen (2.), um dann (3.) über die Modalität und die Form der Setzbarkeit überhaupt zu handeln.

2. Die Bestimmung des Ich: Quantität, Qualität, Relation a) Quantität: absolute Einheit des Ich vs. Vielheit des Nicht-Ich Zunächst wird von Schelling unter dem Titel »Quantität« die absolute Einheit des Ich via negationis behauptet: Ein als Vielheit vorgestelltes Ich widerspricht sich demnach selbst, weil es in diesem Falle seine Unbedingtheit, das heißt das behauptete Zusammenfallen seines Seins und Denkens, verlieren würde, da es nur durch die Wirklichkeit seiner Teile konstituiert würde.6 Damit, so Schelling weiter, würde das Ich schon dann aufgehoben, wenn eines seiner Teile aufgehoben würde. Dies wiederum widerspräche der Freiheit des Ich – und das ist hier identisch mit: seiner Natur. Auch für Schelling ist die Teilbarkeit einer Substanz in viele also widersinnig:7 Denn in einem als Vielheit vorgestellten Ich könnte der Grund für die mehreren Ich nicht im Wesen des Ich liegen, das ja als ein solches bestimmt worden war, das niemals Objekt werden kann – meh-

6

Vgl. bei Baruch de Spinoza: Ethik (lateinisch-deutsch). Revidierte Übersetzung von Jakob Stern, Nachwort von Bernhard Lakebrink. Stuttgart: 1984. I, Def. III, ferner I, P. VII: »Ad naturam substantiae pertinet existere« und I, P. VIII: »Omnis substantia est necessario infinita«. Im folgenden abgekürzt als Eth. 7 Vgl. Eth. I, P. XII, Dem.

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rere Ich könnten sich nicht mehr aus sich heraus, sondern müßten sich gegeneinander als Entitäten gleicher Natur, somit als Objekte bestimmen; sie hätten die Wesensbestimmung8 endlicher Dinge9 angenommen.10 Neben der Vielheit soll zugleich eine bloß numerische Einheit als ein dem absoluten Ich aufgrund seiner eigentümlichen Verfaßtheit überhaupt nicht zukommen könnendes Merkmal zurückgewiesen werden. Dazu bedient sich Schelling eines Arguments, das schon im Kontext des Nachweises der Unmöglichkeit einer Vielheit von Ich anklang: Das Ich ist »gar nicht durch Zahl bestimmbar.«11 Numerische Einheit setzt Schelling zufolge nämlich den Begriff einer Gattung voraus, unter den dann das 8

Daß Schelling diese Argumente Spinozas bei seiner eigenen Bestimmung der Einzigkeit der Substanz – des Ich – vor Augen hat, macht er selbst vollkommen deutlich, wenn er schreibt: »Das reine Ich ist überall dasselbe, Ich überall = Ich. Wo sich ein Attribut des Ichs findet, da ist Ich. Denn die Attribute des Ichs können nicht voneinander verschieden seyn, da sie alle durch dieselbe Unbedingtheit bestimmt, (alle unendlich,) sind. Denn sie wären als verschieden von einander bestimmt, entweder durch ihren blossen Begriff, was unmöglich ist, da das Ich absolute Einheit ist, oder durch irgend etwas ausser ihnen, wodurch sie ihre Unbedingtheit verlören, was abermals ungereimt ist; das Ich ist überall Ich, es füllt, wenn man so sagen darf, die ganze Unendlichkeit.« (AA I 2, 10721–28). 9 Vgl. dazu erneut Spinozas Definition der Endlichkeit, Eth. I, P. II. 10 Bei Spinoza heißt es in Eth. I, P. XIII: »Substantia absolute infinita est indivisibilis«, in der demonstratio bzw. dem scholium zu diesem Komplex: »Si enim divisibilis esset, partes, in quas divideretur, vel naturam substantiae absolute infinitae retinebunt, vel non. […] Si secundum ponatur, ergo (ut supra) poterit substantia absolute infinita desinere esse, quod (per Prop. 11.) est etiam absurdum.« (Eth. I, P. XIII, Dem.) – »Quod substantia sit indivisibilis, simplicius ex hoc solo intelligitur, quod natura substantiae non potest concipi, nisi infinita, et quod per partem substantiae nihil aliud intelligi potest, quam substantia finita, quod (per Prop. 8) manifestam contradictionem implicat.« (Eth. I, P. XIII, Schol.) – Die Annahme der Teilbarkeit der Substanz widerspricht für Spinoza somit zuerst einmal ihrer Unendlichkeit. Die Einzigund Einzigartigkeit der Gottsubstanz wird jedoch im selben Atemzug unter Verweis auf die Unendlichkeit begründet: Gäbe es eine Substanz außer Gott, müßte sie durch ein Attribut Gottes erklärt werden können, was jedoch widersinnig ist, da es nach Eth. I, P. V nicht zwei oder mehr Substanzen von gleicher Natur oder gleichem Attribut geben kann. Ferner müßte sie notwendig als daseiend begriffen werden können (da zur Natur der Substanz wesentlich das Dasein gehört; vgl. Eth. I, P. V.), was nach dem eben Gesagten ebenso widersinnig ist. Daraus folgt für Spinoza: »Deum esse unicum, hoc est (per Defin. 6) in rerum natura non, nisi unam substantiam, dari, eamque absolute infinitam esse […].« (Eth. I, P. XIV, Cor. I). Wenn es somit nur eine Substanz gibt und wenn diese unendlich ist, so kann alles nur in Gott sein und durch ihn begriffen werden (Eth. I, P. XV und Def. III.), und es wird deutlich, weshalb Spinoza sagen kann, jedes der unendlichen Attribute – also desjenigen, das laut Eth. I, Def. IV der Verstand als wesentliches konstitutives Moment der Substanz erkennt – der Substanz drücke »aeternam, et infinitam essentiam« (Eth. I, P. XI) aus. 11 Ebd., Z. 15.

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

Absolute als einziges seiner Art gefaßt werden soll. Mit dieser Annahme befindet man sich allerdings schon außerhalb der Sphäre des Absoluten, ist dieses doch gerade als ein Etwas gefaßt worden, das schlechterdings durch »keinen blossen Begriff«12 gegeben, sondern nur in intellektualer Anschauung bestimmt werden kann. Es ist gerade nicht seinem Dasein, sondern seinem reinen Sein nach Eines; und insofern kann es überhaupt nicht in Begriffen ausgedrückt werden, die ja gerade »Vielheit in Einheit«13 zusammenfassen.14 12

AA I 2, 1065; § VII. AA I 2, 1094. 14 Daß das absolute Ich schlechthin Eines ist, ist somit unter Rekurs auf wesentliche Momente der entsprechenden Argumentation in Spinozas Ethik von Schelling erwiesen worden. Während die Deduktion der reinen Identität als Urform des Ich (§ 7), in der Schelling in Form der Annahme eines bloßen durch sich selbst Gesetztseins des Ich die Vorstellung zurückwies, das Ich könne auch durch etwas sein, das es nicht ist, noch mit der abstraktesten Entgegensetzung überhaupt, nämlich der zwischen ›durchsich-Sein‹ und ›durch-Anderes-Sein‹ operierte, um die bloße Sichselbstgleichheit des Ich aufzuweisen, wird somit im Zusammenhang der Quantität nun zum Zwecke des Nachweises der Einheit schlechthin des Ich zunächst auf zwei derjenigen Bestimmungen rekurriert, die unter dem Namen ›Quantität‹ auch bei Kant als erster Titel der Kategorientafel zusammengefaßt sind: Einheit und Vielheit. Als Begriffe des reinen Verstandes sind diese, wie gesagt, zur Bestimmung des Absoluten per definitionem untauglich. Doch gerade weil sie dies sind – um sozusagen ›Kategorienfehler‹ zu vermeiden – und weil es Schelling um den Nachweis der Möglichkeit auch der Kategorien geht – müssen sie als Kategorien im Kantischen Sinne für eine Anwendung auf das Absolute – die dieser selbstverständlich nie intendiert hatte – explizit zurückgewiesen werden. Zugleich (und dies hatte Kant dagegen ja in der Tat vertreten) wird damit allerdings schon hier jener Kantische ›höchste Punkt‹, an dem aller Verstandesgebrauch geheftet werden können soll, die transzendentale Einheit der Apperzeption, der Sache nach desavouiert: Auch sie ist, wie Schelling später sagen wird, als eine Einheit, die alle Begriffe – d. i. nach Kant dasjenige, was sich auf Gegenstände nur »mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was mehreren Dingen gemein sein kann« (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten [A] und der zweiten [B] Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schimdt. Hamburg: 1976. B 377. Im folgenden abgekürzt als KrV) bezieht – begleiten können soll, selbst nur unter Bezug auf Objekte, »d. i. nur empirisch« (AA I 2, 13515; § XV) bestimmbar. Die Allgemeinheit, die in ihr liegt, findet sich bei Schelling im Haupttext der Anmerkung zu § IX wieder, und zwar in Form der Frage nach einem Ausgang von einem Absoluten oder einem Allgemeinen. Allgemeines, das prinzipiell nur zu denken ist als »bedingt durch das Einzelne« (AA I 2, 109), taugt Schelling zufolge dabei vielleicht zur Begründung der Möglichkeit der Diskursivität unseres Verstandes, zur Bestimmung eines Unbedingten taugt es hingegen nicht. Als dritte Kategorie Kants, als Allheit, entspringt es »aus der Verbindung der zweiten mit der ersten ihrer Klasse« (KrV B110) und ist damit nichts anderes als »Vielheit als Einheit betrachtet« (KrV, B 111). Es kann somit – ebenso wie die Vielheit oder das numerisch Eine – nicht das Wesen des Absoluten ausdrücken, weil es seinem eigenen Wesen nach gerade das Gegenteil, nämlich Endliches und Begrenztes, bezeichnet. 13

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b) Qualität: absolute Realität des Ich (Fichte, Grundlage, §§ 1 und 2: Realität und Negation) Fand sich in Schellings Beweis der absoluten Einheit des Ich ein Bezug auf einen Aspekt der Argumentation, mittels derer Spinoza in der Demonstratio zu Eth. I, P. XIII die Unteilbarkeit der Substanz bewiesen hatte – daß wir es nämlich im Falle einer angenommenen Teilbarkeit der Substanz mit einer Pluralität von Substanzen gleicher Natur zu tun hätten, was per definitionem ausgeschlossen ist, so greift die Bestimmung des Ich, derzufolge es »alles Seyn, alle Realität«15 enthält, ganz offensichtlich auf Eth. I, P. XIV zurück, wo es heißt: »Quicquid est, in Deo est, & nihil sine Deo esse, neque concipi potest.« Hier wird nun in einem ersten Schritt zu zeigen versucht, daß es nur eine Realität geben kann und daß diese im absoluten Ich liegen muß. Denn gäbe es eine Realität außerhalb des Ich, so wäre diese entweder mit der des Ich übereinstimmend – was zu einer Multiplikation der Unbedingtheit (einem »Ich ausser dem Ich«16) und somit zu einem Widerspruch führen würde oder sie wäre von der des Ich verschieden, was eine Konkurrenz der Realitäten zur Folge hätte, die letzten Endes das Ich aufheben würde.17 Damit legt Schelling den Schwerpunkt seiner Begründung, daß das Ich »Innbegriff aller Realität«18 sein soll, auf dessen zuvor aus seiner Unbedingtheit bewiesenen Einheit. Alle Realität soll dem Ich gleichgesetzt, »d. h. seine Realität«19 sein. Das bedeutet, daß nichts existieren kann, was nicht im Ich gesetzt ist: »Es soll die Data, die absolute Materie der Bestimmung alles Seyns, aller möglichen Realität enthalten.«20

15

AA I 2, 11112. AA I 2, 1125. 17 Interessanterweise bedient sich Schelling damit einer Argumentationsfigur, die sich auch bei Spinoza findet, allerdings nicht im Kontext von Eth. I, P. XV, sondern in der schon erwähnten Demonstratio zu Propositio XIII, wo Spinoza hinsichtlich der Teilbarkeit der Substanz als zu widerlegende Konsequenzen (a) eine Pluralität von Substanzen gleicher Natur (wozu das Schellingsche ›Ich außer dem Ich‹ das Pendant abgibt) und (b) die unmittelbare Vernichtung der absolut unendlichen Substanz als Folge der Annahme der Existenz mehrerer durch Teilung entstandenen, von der Gottsubstanz der Natur nach verschiedenen Substanzen (entsprechend bei Schelling: die ›Realität außer dem Ich‹, die der Realität des Ich widerstreitet) anführt. 18 AA I 2, 1129f. 19 Ebd., Z. 7–10. 20 AA I 2, 11211f. 16

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

Grund aller Realität und Grund der Realität alles Wissens soll das Absolute sein können, insofern es explizit nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach alles enthält, was zur Bestimmung dessen, was ist, erforderlich ist – womit Schelling im Resultat nichts anderes zu behaupten scheint, als Fichte im § 1 der Grundlage: Diesem hatte sich dort die Kategorie der Realität ergeben, nachdem er zuvor eine Reihe von Notwendigkeiten behauptet hatte, die den anläßlich der Suche nach einem ersten Grundsatz erforderlichen Anfang mit dem Satz der Identität, wie er im empirischen Bewußtsein vorkommt, auszeichnen sollen. So ist zunächst deshalb von diesem auszugehen, weil gewisse methodische Prinzipien, wie das der Kürze des Beweisganges sowie die Geltung allgemeiner Gesetze des Denkens,21 im Zusammenhang mit der gleichzeitig unterstellten, aufzufindenden Tathandlung eine Entscheidung für eben diesen Anfang erzwingen – eine Tathandlung im übrigen, die nur postuliert werden kann und deren grundlegende Funktion auch für diesen Satz »aus der Reflexion sich ergeben«22 muß. Sodann wird ein Notwendigkeitszusammenhang in derjenigen Beziehung ausgemacht, welche in der Explikation des Satzes A ist A nicht nur als dessen immanente Struktur, sondern auch als das Setzen schlechthin verstanden werden kann. Diese Beziehung, die als »wenn A, so X« und »A ist nur insofern gesetzt, als gilt: wenn A, so X« von Fichte als notwendiger Zusammenhang von A zu sich selbst bezeichnet wird,23 meint dabei das, was Fichte selbst später ›thetisches Urteil‹ nennt.24 Schließlich wird eine dritte Art von Notwendigkeit behauptet, die das Verhältnis der Grundsätze zum obersten Grundsatz überhaupt betrifft, dem Ich bin, und die den Sachverhalt be21

Auf diesen nicht deduzierten ›Rest‹ bei Fichte macht auch Peter Baumanns: Fichtes Wissenschaftslehre. Probleme ihres Anfangs. Mit einem Kommentar zu § 1 der ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹. Bonn: 1974 aufmerksam, der zu Fichtes Programm notiert: »Dieses Arbeitsprogramm ist schon von der Zielsetzung her problematisch. Einmal ist es nicht radikal durchführbar. Fichte muß selbst zugeben, daß es eine unvermeidliche Voraussetzung einschließt, d. i. die Geltung der Denkgesetze […]. Damit, daß dieser Zirkel zugegeben wird, verliert er nicht seine Bedenklichkeit«. 22 Grundlage 92. 23 Grundlage 93: »Mithin wird durch die Behauptung, dass der obige Satz schlechthin gewiss sey, das festgesetzt, dass zwischen jenem Wenn und diesem So ein nothwendiger Zusammenhang sey; und der nothwendige Zusammenhang zwischen beiden ist es, der schlechthin, und ohne allen Grund gesetzt wird.« 24 Vgl. dazu Grundlage 116f. Das »Ich bin« wird in diesem Zusammenhang als das »ursprünglich höchste Urtheil dieser Art« (ebd.) begriffen, was verdeutlicht, daß der thetische Charakter von A ist A nicht ursprünglich aus diesem selbst stammt, sondern daß es diesen Charakter abgeleiteterweise als Verstandes- oder logischer Grundsatz trägt.

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255

zeichnet, daß das im A ist A schlechthin Gesetzte, also die hier beschriebene zweite Notwendigkeit des Wenn-So in der Setzung von A ist A, sich nun als die im empirischen Bewußtsein vorhandene und aufzufindende Abstraktion vom wahrhaft Unbedingten des Ich bin (oder Ich bin Ich) erweist.25 – Analog zu dieser Struktur des Ausgangs von einem im empirischen Bewußtsein aufzufindenden Sachverhalt begründet Fichte nun auch die Kategorie der Realität: Wenn man von allem abstrahiere und nur auf die durch die Urteilsform (der Identität) gegebene Handlungsart des menschlichen Geistes blicke, so habe man eben jene Kategorie. Indem Fichte auch das »Ich bin« als »ursprünglich höchste[s] «26 thetisches Urteil bezeichnet, wird zwar deutlich, daß der thetische Charakter von »A=X« nicht ursprünglich aus diesem selbst stammt, sondern daß es diesen Charakter abgeleiteterweise, als Verstandes- oder logischer Grundsatz, trägt. Zugleich wird aber ebenso deutlich, daß sich Fichte in einem Zirkel befindet, ist es doch dieser logische Grundsatz, der als unhintergehbare Voraussetzung gerade den Anfangspunkt der Suche nach dem schlechthin gewissen ersten Grundsatz ausgemacht hat. Anders ausgedrückt: die gesuchte Identität ergibt sich aus einem Denkgesetz, das selbst erst hinsichtlich seiner Einheitsfunktionen und -leistungen begründet werden müßte – und das gilt, da sie ja als Resultat einer Handlungsart des menschlichen Geistes gewonnen wurde, die durch Abstraktion von jener Identität bezeichnenden Urteilsform entdeckt werden konnte, auch für die Kategorie der Realität. Weshalb Schelling bei im Resultat gleicher Behauptung (das Ich ist Grund aller Realität) nicht derart unmittelbar eine Kategorie begründen kann, wird nun deutlich, wenn man sieht, daß er seine Version dieser These schon hier im Kontext des Verhältnisses jenes Ich zu einem NichtIch thematisiert, indem er die Konsequenzen demonstriert, mit denen man konfrontiert würde, wenn man ein Nicht-Ich als vor dem Ich gesetzt denken würde, wenn ein absolutes Nicht-Ich als realisierbar angenommen werden würde oder wenn schließlich »die theoretische Idee eines objectiven, ausser dem Ich vorhandenen Innbegriffs aller Realität«27 realisierbar wäre.

25

»Der Satz: Ich bin Ich, aber gilt unbedingt und schlechthin, denn er ist gleich dem Satze X [d. i. der Notwendigkeitsbeziehung von A ist A, ausgedrückt durch die Wenn-So-Beziehung; UV]; er gilt nicht nur der Form, er gilt auch seinem Gehalte nach.« (Grundlage 95). 26 Grundlage 116. 27 AA I 2, 11526f..

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

(α) Was das vor allem Ich gesetzte Nicht-Ich betrifft, so scheitert die Einführung dieser Instanz schon daran, daß ein solches, absolutes NichtIch schlechterdings nicht denkbar ist und überhaupt keine Realität haben kann, weil es sich im Unterschied zum Ich gar nicht selbst realisiert, sondern nur in Entgegensetzung zum Ich denkbar ist. ›Realisieren‹ kann sich in Schellings Augen nur etwas, das absolut positiv ist, das zur Bestimmung seiner selbst keines anderen bedarf, somit den Grund seiner Realität in sich hat. Das einzige, das den Grund seiner Realität in sich hat, ist aber das absolute Ich. (β) Diese Unmöglichkeit der (Selbst-)Realisation eines absoluten NichtIch erweist sich für Schelling im Grunde aus einem anderen Aspekt desselben Sachverhalts. Denn das Nicht-Ich wird dem Ich zwar schlechthin entgegengesetzt, nicht jedoch schlechthin gesetzt (und damit vorausgesetzt). Auch das Nicht-Ich ist insofern absolut, jedoch nicht für sich, sondern nur im Zusammenhang mit dem absolut gesetzten Ich, dem es schlechthin oder absolut entgegengesetzt ist. Im Anschluß an Fichtes Grundlage betont Schelling, daß es die Form der Entgegensetzung ist, die absolut ist, und nicht ihr Inhalt – das Nicht-Ich. Die Entgegensetzung des Nicht-Ich, so sie ursprünglich ist, ist also ebenso »schlechthin« wie die Setzung des Ich. Was jedoch den Inhalt betrifft, so enthält nur das Ich alle Realität (die ›Data‹, von denen AA I 2, 11211 die Rede war), während das Nicht-Ich für die absolute Negation steht. Undenkbar, so Schelling weiter, sei das schlechterdings entgegengesetzte Nicht-Ich im Unterschied zum schlechterdings (dem Ich voraus-) gesetzten zwar nicht, doch es habe eben keine Realität, weil es in seiner absoluten Entgegensetzung bloß als Negation bestimmt ist. Realität kann es nur erhalten, indem ihm das Ich solche überträgt, d. h. indem es durch dieses gesetzt wird, und zwar »als Realität, verbunden mit Negation«,28 und das heißt: indem es ihm seine Form der Einheit und Unbedingtheit in Form einer Synthesis mitteilt. Erst aus dieser übertragenen Form des Ich, der ursprünglichen Form des Nicht-Ich und aus deren Synthesis entspringen laut Schelling die Kategorien als die Instanzen, durch die das Nicht-Ich diese Realität erhält29 – und wie dies geschehen kann, hat 28

AA I 2, 1158f. Ohne dies an dieser Stelle abschließend zu behandeln, kann man sich jedoch schon hier zu Recht mit Birgit Sandkaulen-Bock: Ausgang vom Unbedingten. Über den Anfang in der Philosophie Schellings. Göttingen 1990. S. 50 (im folgenden zitiert als: Ausgang) die Frage stellen, um »welches Ich es sich handelt, das sich ohne Grund ein Nicht-Ich entgegensetzt: Wäre es identisch mit dem absoluten Ich, so bedürfte Schelling der Unterscheidung nicht und, wichtiger noch, das Absolute verlöre seine Be29

Das Ich und seine Kategorien

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Schelling hier nur formal entwickelt (material geschieht es erst im Kontext der Begründung der Formen der Setzbarkeit am Ende der IchSchrift). Verwiesen ist hier dennoch schon auf den dort dann ausdrücklich thematisierten Punkt des Verlassens des Absoluten (was die Qualität hier auszeichnet), insofern das Ich eben hier beginnt, sich im Verhältnis zum Nicht-Ich Momente der Negation zuzuschreiben und damit zu etwas qualitativ anderem zu werden, nämlich zu einem Ich, das in der angesprochenen Entgegensetzung nurmehr eine (wenn auch entscheidende) Seite zweier Widerstreitender ausmacht, die allerdings danach strebt, die entgegengesetzte endliche Sphäre in sich zu integrieren und so als endliche aufzuheben. (γ) Schließlich versucht Schelling zu zeigen, daß die Annahme der theoretischen Vernunft, es gebe einen objektiven Inbegriff aller Realität, ebensowenig realisierbar ist wie der zuvor diskutierte Ausgang von einem Ding-an-sich. Sollte nämlich durch die theoretische Vernunft die Beziehung zwischen dem Ich einerseits und einem im Ich gesetzten und als Inbegriff aller Realität verstandenen Nicht-Ich andererseits konzipiert werden, so wird von einem »absoluten Innbegriff aller Realität = Ich = Nicht-Ich«30 Gebrauch gemacht, wodurch zwar Ich und Nicht-Ich als Inbegriff aller Realität vereinigt, das absolute Ich als Inbegriff aller Realität aber ganz offensichtlich aufgehoben wird. Dies bedeutet, daß der Widerstreit von Ich und Nicht-Ich selbst nur deshalb möglich ist, weil das Ich ursprünglich – also vor allem Nicht-Ich – als Realität gesetzt worden ist. Genau damit aber, also mit diesem Problem der Begründung der Möglichkeit von Setzen und Entgegensetzen, Bestimmen und Bestimmtwerden, das hier, vermittelt über die Frage nach einem subjektiven oder objektiven Inbegriff aller Realität, zugleich angesprochen ist, stellt sich Schelling offensichtlich erneut in einen Fichteschen Argumentationszusammenhang, wie er sich in der Grundlage findet – nun allerdings im § 2. Im zweiten, dem Gehalt nach bedingten Grundsatz versuchte Fichte bekanntlich zu entwickeln, daß und wie non-A im Verhältnis zu A gesetzt wird. Analog zum ersten Grundsatz ist sein Ausgangspunkt auch hier eine »Thatsache des empirischen Bewusstseyns«,31 nämlich der Satz ›non-A nicht = A‹. Da dieser Satz Fichte zufolge unbeweisbar ist, insofern stimmung der Vollkommenheit, mithin alle entwickelten Prädikationen, wenn erst in der Entgegensetzung sein Absolutsein sich geltend machte«. 30 AA I 2, 1165. 31 Grundlage 101.

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

nämlich ein jeglicher denkbarer Beweis auf den im Rahmen der Erörterung des ersten Grundsatzes ›A = A‹ eingeführten Notwendigkeitszusammenhang (›= X‹), demzufolge dieser Satz als ›wenn A, so A‹ gelesen werden muß, rekurrieren und in der Folge nur erneut jenen Satz der Identität produzieren müßte, da es ferner unter keinen Umständen der Fall sein kann, daß aus dem Satze ›A = A‹ eine Bedingung der »blossen Form der Handlung«32 abgeleitet werden kann, unter der gelten würde, daß das Gegenteil von A gesetzt sei – da somit jener Satz ›non A nicht = A‹ nicht aus dem ersten Grundsatz abgeleitet sein kann, schließt Fichte, daß, »da die Form des Gegensetzens in der Form des Setzens so wenig enthalten wird, (…) sie ihr vielmehr selbst entgegengesetzt ist. Es wird demnach ohne alle Bedingung und schlechthin entgegengesetzt. Non A ist, als solches, gesetzt schlechthin, weil es gesetzt ist.«33 Fichte fährt fort und behauptet, in der Konsequenz könne das Entgegensetzen als eine seiner Form nach schlechthin mögliche Handlung unter keiner Bedingung stehen und sei selbst eine »durch keinen höheren Grund begründete Handlung«;34 der erste und der zweite Grundsatz stehen bei ihm der Form nach auf ein und derselben Stufe. Die sich in ihnen ausdrückende Tätigkeit ist gleich ursprünglich. Dies gilt, wie zu sehen war, auch für Schelling, für den das schlechthin entgegengesetzte NichtIch nicht »schlechterdings undenkbar«35 ist wie das vor allem Ich gesetzte Nicht-Ich. Auch hinsichtlich der Möglichkeit eines Übergehens von Setzen zu Entgegensetzen sind sich beide einig: Entgegengesetzt werden kann nur, wenn zuvor gesetzt wurde. Unterschiede lassen sich jedoch in einzelnen Formulierungen erkennen, die deutlich machen, daß bei Fichte und Schelling nicht dieselben Begründungszusammenhänge vorliegen. Wenn Fichte schreibt, daß »die Möglichkeit des Gegensetzens (…) an sich die Identität des Bewusstseyns«36 voraussetzt, daß demnach der »Gang«37 des handelnden Ich in Setzung (A), Reflexion (= A), Entgegensetzung (non A) zunächst gegen das reflektierte, aufgrund dessen Identität mit dem gesetzten dann auch gegen jenes erste A besteht, so bewegt er sich selbst durchgängig in der Sphäre der Reflexion. Der Satz ›Ich bin Ich‹, der ja doch Grundlage des ›A = A‹ sein und nicht nur der Form, son-

32 33 34 35 36 37

Grundlage 102. Grundlage 102. Grundlage 102. AA I 2, 11411. Grundlage 102. Ebd. 103.

Das Ich und seine Kategorien

259

dern auch seinem Gehalte nach unbedingt und schlechthin gelten soll,38 steht im Grunde nicht nur über, sondern auch neben Fichtes eigentlicher Argumentation. Er soll als ein absoluter der Grund des ersten Grundsatzes sein, indem er als das ›=X‹ die Notwendigkeit des ›wenn-dann‹, wie es im A = A vorkommt, als seinen spezifischen Gehalt enthält. Doch man fragt sich, was denn das Ausgezeichnete des absoluten Grundsatzes ›Ich bin Ich‹ im Unterschied zum ›A = A‹ sein soll, wenn beide nichts als die »Einheit des Bewusstseyns«39 meinen. Oder, in anderen Worten: der bloß formale und logische Satz ›A = A‹ weist eine Notwendigkeitsbeziehung ›= X‹ in sich auf, deren Herkunft und Grund im materialen ›Ich bin Ich‹ nicht geklärt wird. Beide bezeichnen die Einheit im und des Selbstbewußtseins, einmal nur in formaler, das andere Mal in formaler und materialer Hinsicht. War schon der Ursprung der Kategorie der Realität bei Fichte an genau diese Struktur geknüpft und deshalb problematisch, so ist dies auch bezüglich der Kategorie der Negation, die im § 2 entwickelt wird, der Fall. Dazu kommt nun aber noch ein weiteres Problem: Indem Fichte das Verhältnis von Realität des Ich und Negation des Nicht-Ich quantitativ bestimmt, muß er – was sich bei ihm später im Kontext der Erörterung des dritten Grundsatzes (anhand der Kategorie der Limitation) sowie hinsichtlich der Wechselbestimmung in § 4 zeigt – sie über den Begriff der Teilbarkeit von Realität gleichsam statisch bestimmen. Für Schelling hingegen liegt, wie gezeigt, der Ursprung der Kategorien darin, daß das Ich dem Nicht-Ich seine Form qua Synthesis überträgt, und damit sich selbst und das Nicht-Ich als ursprünglich negiert, als endlich und beschränkt bestimmt. Realität, Negation und Limitation, wie sie kategorialer Ausdruck der ersten drei Grundsätze Fichtes sind, werden von Schelling nicht sachlich verworfen, doch erscheinen sie bei ihm nicht als Resultate der Abstraktion aus einem ursprünglichen Urteil, sondern als Produkte der Tätigkeit des als reine Identität und Inbegriff aller Realität verstandenen absoluten Ich selbst. Der Weg der Begründung der Identität und Realität des (und im) Ich verläuft somit bei Fichte und Schelling umgekehrt.40 38

Vgl. Grundlage 95. Grundlage 103. 40 Dies sieht auch Sandkaulen (Ausgang 43), allerdings verknüpft mit der von ihr vertretenen These eines zentralen Jacobi-Bezuges von seiten Schellings: »Es ist Schellings von Fichte unterschiedene Problemstellung, die von der Behauptung Gottes als Objekt ausgehende und in Kants »Buchstaben« gründende Provokation der Tübinger Kantianer, die Schelling eine Spinoza und Jacobi verbindende, von Fichte ganz unabhängige Struktur konstruieren läßt, in die das Ich zuletzt eingetragen wird.«. 39

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

Während Fichte diese Momente als logische Implikate eines Urteils analytisch aus diesem entwickelt, setzt Schelling sie als unbegründ- und unverzichtbare Momente des aus unbedingter Selbstmacht handelnden Absoluten selbst, um auf dieser Grundlage überhaupt erst klären zu können, wie Bestimmung (Setzen und Entgegensetzen) möglich wird: durch eine synthetisch zu leistende Übertragung der Form des Ich, der absoluten Einheit, auf das Nicht-Ich.41 41

Darauf hingewiesen werden soll noch, daß sich für Schelling die diesbezügliche systematische Vorrangigkeit des Ich vor dem Nicht-Ich dabei erst dann vollends erschließt, wenn neben der Begründung der Möglichkeit theoretischer Philosophie – d. h. des Aufweises des systematischen Grundes der Kategorien – auch diejenige der praktischen Philosophie in den Blick kommt. So faßt er anmerkungsweise erneut zusammen, daß der »unendliche[n] Sphäre« (AA I 2, 11621; Anm. I) aller Realität, die das absolute Ich beschreibt, eine ebenso unendliche Sphäre der absoluten Negation – das Nicht-Ich – entgegengesetzt wird, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß das Ich schon gesetzt ist. Der Widerstreit entsteht, da beide Sphären schlechthin und unendlich gesetzt sein sollen. Er wird aufgehoben durch das Streben des Ich, das Nicht-Ich in seine Sphäre der Realität zu integrieren. Danach zu streben, bezeichnet für Schelling – wie für Fichte – eine im Ich enthaltene »Tendenz […] zur Bestimmung« (Grundlage 261); eine Tendenz deshalb, weil das Ich mit dem Nicht-Ich im Theoretischen jedenfalls nur seiner Form, nicht seinem Gehalt nach übereinstimmen kann, so daß nach Fichte die vom Ich auf das Nicht-Ich ausgeübte Tätigkeit eigentlich »gar kein Bestimmen (zur wirklichen Gleichheit)« (Grundlage 261), sondern eben nur ein bloß durch das absolute Setzen des Ich legitimiertes Streben ist, das für Fichte »Bedingung der Möglichkeit alles Objects« (Grundlage 262) ist, insofern es diejenige Tätigkeit des Ich beschreibt, mittels derer für ihn wie auch für Schelling das Ich im Versuch der Integration des Nicht-Ich in seine Sphäre sich selbst beschränkt und damit verendlicht: ›Setzen‹ kommt nur dem Ich zu, und der Versuch, das Nicht-Ich im Ich zu setzen und ihm damit Realität zu geben, führt im Sinne dieses Strebens in eine endliche Sphäre der Realität, d. i. eine Sphäre der Realität, die mit Negation verbunden und in der das Ich eingeschränkt ist. Diese endliche Sphäre kann nun ihrerseits die unendliche nicht wieder in sich zurückholen, so sehr sie dies auch strebend zu erreichen versucht. Dieses Ziel – die »Wiederherstellung des absoluten Ichs in seiner höchsten Identität, d. h. als Innbegriffs aller Realität« (AA I 2, 11623f) – ist für Schelling hingegen Aufgabe und Ende der praktischen Philosophie, deren Existenz sich somit gerade der Unfähigkeit zur Rückkehr ins Prinzip verdankt, die das theoretische, im Gegensatz zu einem Nicht-Ich bestimmten Ich auszeichnet. Wie für Fichte, der die »Forderung, dass alles mit dem Ich übereinstimmen, alle Realität durch das Ich schlechthin gesetzt seyn solle« (Grundlage 263) als Forderung »dessen, was man praktische Vernunft nennt« (ebd.) verstand, fällt auch für Schelling die Lösung des Widerstreits von Ich und Nicht-Ich damit ins Gebiet des Praktischen. Ob allerdings auch die Schellingsche Konsequenz, auf die mit der Rede von einer notwendigen »Zerstörung der endlichen Sphäre, d. h. Erweiterung derselben bis zum Zusammenfallen mit der Unendlichen (praktische Vernunft)« (AA I 2, 11826 – 28; Anm. I) und damit auf das Ziel eines »jede Objektbestimmung aufhebende[n] bzw. ausschließende[n] Ich« (Ausgang 51) verwiesen wird, mit derjeni-gen Fichtes übereinstimmt oder zumindest kompatibel ist, der ja der Auffassung war, mit dem Aufweis des Objekte allererst konstituierenden Strebens des Ich

Das Ich und seine Kategorien

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c) Relation: Substantialität und immanente Kausalität (Fichte, Grundlage §§ 3 und 4: Bestimmung / Wechselbestimmung) Wenn es hinsichtlich der Frage nach dem im Ich enthaltenen Grund der »Kategorie«42 nun um diejenigen geht, die bei Kant unter dem Titel der ›Relation‹ aufgeführt sind, so versteht es sich nach dem eingangs Gesagten von selbst, daß bezüglich des Absoluten auch hier nur die erste Kategorie, die der Substantialität (allerdings spinozanisch verstanden), einschlägig ist. Schelling hat mit dem Beweis der Unendlich- und Unteilbarkeit des Ich, der zur These seiner Unveränderlichkeit führte, alle wesentlichen Bestimmungen entwickelt, die es ihm erlauben, dem Ich Substantialiät zuzusprechen. Hieß es schon am Ende des vorhergehenden § 11, das Ich solle immer »absolute ausserhalb alles Wechsels gesezte Einheit«43 sein, so führt der § 12 den Begriff der Substanz als das Unbedingte explizit ein: »Wenn Substanz das Unbedingte ist, so ist das Ich die einige Substanz.«44 Das Ich als das einzige Unbedingte ist Substanz, weil es als absolute Einheit Inbegriff aller Realität, als unendlich und unteilbar unveränderlich ist: »Demnach ist alles, was ist, im Ich, und ausser dem Ich ist nichts. (…) Ist das Ich die einzige Substanz, so ist alles, was ist, blosses Accidens des Ichs.«45 Schellings Anliegen ist es nun zu zeigen, daß dieser Begriff von Substanz nur im Ich anzutreffen ist – und zwar deshalb, weil wir niemals etwas als wahr erkennen können, wenn das Prinzip, wonach wir es als wahr oder falsch beurteilen, außer uns liegt. Dieses Problem wird nur dann umgangen, wenn der letzte Punkt aller Realität das Ich ist. Dann nämlich ist uns alle Wahrheit und Realität gleichsam immanent, wir produzieren sie selbst.46 schon ein praktisches Vermögen im Menschen gefunden zu haben, das jedem theoretischen vorhergeht und ohne welches »keine Intelligenz im Menschen« (Grundlage 264) möglich sei, darf gerade vor dem Hintergrund des Ausgangspunktes bezweifelt werden, den Schelling in der Vorrede zur Ich-Schrift einnimmt: dem Menschen theoretische Achtung für sich zu geben, damit die praktische folgen kann; ihm die Erkenntnis zu vermitteln, daß sein Wesen in nichts anderem als Einheit besteht und er in Konsequenz dieser Erkenntnis auch zur Einheit seines Wollens und Handelns gelangen kann. 42 AA I 2, 11520f. 43 AA I 2, 1189f. 44 AA I 2, 1192. 45 AA I 2, 1194–8. 46 »Wenn du aber alle Wahrheit durch dich selbst hervorbringst, wenn der lezte Punkt, an dem alle Realität hängt, dein Ich ist, und dein Ich nur durch sich selbst und

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

Die dem Ich zukommen sollende Kausalität kann nach letzterem nicht die der Dinge der Erscheinungswelt sein: Wenn nämlich alles im Ich ist, so muß das Ich alles in sich setzen – und das heißt, insofern das Ich unteilbar ist: sich gleich setzen. Das bedeutet, daß das absolute Ich sich nur zu etwas bestimmen kann, wenn und indem es sich selbst setzt. Damit ist das Ich die »immanente Ursache alles dessen, was ist«;47 es verleiht allem Existierenden seine von ihm selbst in es selbst ursprünglich gesetzte Realität.48 Gilt vermittelt über die Theorie der Selbstsetzung für das Ich sowohl die causa immanens49 Spinozas als auch dessen Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Einzeldingen gemäß Eth. I p XX50 und XV,51 so ist sich Schelling der Problematik dieser Konzeption des Ich durchaus bewußt. Zu fragen ist nämlich erstens, wie bei einer solchen Konzeption überhaupt etwas vom Ich ontologisch Unterschiedenes (d. h. in der Kette endlichen Wissens kausal Bedingtes) existieren kann, das noch kategorial bestimmt werden kann, zweitens welcherart diese seine Existenz im Vergleich zu der des Ich ist und drittens wie das Verhältnis dieser unterschiedlichen ›Existenzen‹ zueinander zu bestimmen ist. Schelling räumt ein, daß die aufgestellten Sätze einem Widerspruch ausgesetzt seien, der »gerade Problem der ganzen Philosophie ist«,52 verweist sie aber zur Lösung erneut an einen anderen, uns schon bekannten Ort: Dieses Problem kann nur im Rahmen der Frage nach der Bestimmung aller Formen der Setzbarkeit gelöst werden. Dabei ist es genau dieser Punkt des für Schelfür sich selbst ist, so ist alle Wahrheit und alle Realität dir unmittelbar gegenwärtig. Du beschreibst, indem du dich selbst sezst, zugleich die ganze Sphäre der Wahrheit, der Wahrheit, die nur durch dich und für dich Wahrheit ist. Alles ist nur im Ich und für das Ich. Im Ich hat die Philosophie ihr ν καì π ν gefunden, nach dem sie bisher als dem höchsten Preiße des Siegs gerungen hat.« (AA I 2, 11920–27). 47 AA I 2, 12119f. 48 »Sein Wesen (essentia) ist Realität, denn es verdankt sein Seyn (Esse) nur der unendlichen Realität […]. Das Ich ist also nicht nur Ursache des Seyns, sondern auch des Wesens alles dessen, was ist.” (AA I 2, 12120–24). 49 Vgl. Eth. I, P. XVI, Cor. III: »Sequitur III: Deum esse absolute causam primam.« Vor allem auch Eth. I, P. XVI: »Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens«. 50 »Dei existentia, ejusque essentiam unum et idem sunt«. 51 »Deus non tantum est causa efficiens rerum existentiae, sed etiam essentiae.« – Vgl. zur ›umstandslosen‹ Charakterisierung des Ich »durch propria der spinozanischen Substanz« auch W. Bartuschat: »Über Spinozismus und menschliche Freiheit beim frühen Schellimg«, in: Die praktische Philosophie Schellings und die gegenwärtige Rechtsphilosophie. Hrg. v. H.-M. Pawlowski, S. Smid und R. Specht, FrommannHolzboog, 1989. 52 Ebd., Z. 29.

Das Ich und seine Kategorien

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ling wenigstens logisch möglich sein müssenden Übertritts vom genuinen Bereich des Absoluten zu den grundsätzlichen Bestimmungen endlichen Denkens und Handelns, der bei Fichte anders konzipiert wird, und zwar zunächst im Kontext der Entwicklung der Kategorie der Bestimmung im § 3 der Grundlage. Dort will Fichte erweisen, wie in der Überwindung der als bloßes Ausschlußverhältnis konzipierten Struktur von absolutem Setzen und Entgegensetzen sich die Unwahrheit von erstem und zweitem Grundsatz, sodann ihre Wahrheit im dritten Grundsatz und damit die Möglichkeit zum Übergang zur Grundlage des theoretischen Wissens zeigt – ein Verhältnis, das Karen Gloy in Absetzung zur Hegelschen Konzeption einmal zutreffend »Abstiegsdialektik, nicht (…) Kreislaufdialektik«53 genannt hat. Dazu hebt er mit einer Deduktion des dritten Grundsatzes an, die ihren Ausgang vom zweiten nimmt. Dort sei das Nicht-Ich als Entgegengesetztes im Ich gesetzt, wo, wenn das Nicht-Ich gesetzt ist, kein Ich gesetzt sein kann. Doch kann, so Fichte weiter, das Nicht-Ich nur gesetzt werden, insofern im Ich als »dem identischen Bewusstseyn«54 auch ein Ich gesetzt ist, dem es entgegengesetzt werden kann. Soll nun das NichtIch in jenem identischen Bewußtsein gesetzt werden, so müßten dort Ich und Nicht-Ich zugleich gesetzt sein – was zwei entgegengesetzte Schlußfolgerungen sind, womit der zweite Grundsatz selbst sich für Fichte als entgegengesetzt und somit selbstaufhebend erweist. Da diese Selbstaufhebung jedoch an seine Gültigkeit – den Sachverhalt, daß in ihm das Entgegengesetzte durch das Gesetzte aufgehoben wird – gebunden ist, er jedoch als ganzer aufgehoben sein und gerade keine Gültigkeit haben soll, hebt er sich zugleich auf und nicht auf – was entsprechend auch für den ersten Grundsatz gilt. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, das, bliebe es bestehen, »die Identität des Bewusstseyns, das einige absolute Fundament unseres Wissens«55 aufheben würde, muß Fichte dort, wo die Gegensätze vorkommen, ein Etwas finden, das sie vereinigen kann: Im Bewußtsein, in dem Ich und Nicht-Ich als Produkte ursprünglicher Handlungen des Ich vorkommen, muß sich also ein »X« auffinden lassen, das selbst Produkt einer solchen ursprünglichen Handlung ist. Die Gegensätze in die Einheit des Bewußtseins zu integrieren, bedeutet dann, den Nachweis zu führen, wie Ich und Nicht-Ich vereinigt werden können, ohne sich wechselseitig aufzuheben. Genau diesen Nachweis führt 53

Karen Gloy: Die drei Grundsätze aus Fichtes »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« von 1794, in: Philosophisches Jahrbuch. 91 (1984), 1. 289–307. 305. 54 Grundlage 106. 55 Grundlage 107.

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

Fichte allerdings nicht – das Resultat seines »transzendentalen Experiments»56, seine Lösung behauptet vielmehr nur, daß niemand die in Rede stehende Frage anders beantworten würde als: durch gegenseitiges Einschränken. Die gesuchte Handlung ist also Einschränkung, das »X« die Schranke. Wird, um ihn als einen reinen, nicht mehr selbst Realität und Negation enthaltenden Begriff zu erhalten, nun vom Begriff der Schranke abstrahiert, so ergibt sich Fichte zufolge der Begriff der Teilbarkeit oder der Quantitätsfähigkeit überhaupt. Diese beiden bezeichnen nun korrekt den gesuchten Begriff und die gesuchte Handlung, womit für Fichte die Bestimmung von Ich und Nicht-Ich geleistet ist: Erst unter der Maßgabe des Satzes »ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen«57 sind sie etwas. Die Abstraktion vom Inhalt dieses Satzes liefert, analog zu den ersten beiden Grundsätzen, einen logischen Satz – den des Grundes; die Kategorie endlich, die sich ergibt, wenn zudem auch von der bestimmten (hier: vergleichenden) Urteilsform abstrahiert wird, ist die der Bestimmung: »Nemlich ein Setzen der Quantität überhaupt, sey es nun Quantität der Realität oder der Negation, heisst Bestimmung.«58 Was sich so im § 2 andeutete, findet sich im § 3 der Grundlage ausgeführt – und zwar mit genau jenen Problemen behaftet, die schon im Zusammenhang der ersten beiden Grundsätze bemerkt worden sind und hier nur noch einmal benannt werden sollen: Zirkularität der Argumentation, Ausgang von einem am Selbstbewußtseinsmodell orientierten Absoluten, nur äußerlich quantitative Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Nicht-Ich. Dabei ist es gerade die zuletzt angesprochene Konzeption von Bestimmung als Zuteilung einer gewissen Menge an Realität (und Negation), die Fichte im folgenden § 4 im Kontext der Erörterung der Grundlage des theoretischen Wissens als Wechselbestimmung zur Kategorie der Relation transformieren wird, die so auch nur etwas ausdrückt, »was bloss durch die Quantität unterschieden ist«.59 Daß das wechselseitige Beschränken von der Perspektive des Ich aus gesehen dieses in seinem Wesen betrifft, daß es dadurch also qualitativ bestimmt wird, tut dieser Diagnose dabei insofern keinen Abbruch, als diese Veränderung der Qualität des Ich eine ist, die Fichte aus seinem Absoluten nicht unmittelbar gewinnen kann. Anders ausgedrückt: die

56

So Reinhard Hiltscher: Der dritte Grundsatz in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95. In: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXV (1993), 45–67. 51. 57 Grundlage 110. 58 Grundlage 122f. 59 Grundlage 133 Anm.

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ontologische Dimension des Entgegensetzens eines absoluten Nicht-Ichs gegen ein absolutes Ich als der Mangel an Sein, der diesem Absoluten in der Folge anhaften wird, entsteht bei Fichte (im Unterschied zu Schelling, wie sich schon bei der Erörterung der Qualität und dem dortigen Verweis auf die Formen der Setzbarkeit gezeigt hat) nicht unmittelbar aus diesem Akt selbst, sondern ergibt sich erst aus der Reflexion auf deren als Wechselbestimmung gefaßtes, systematisch der Entwicklung des ersten Prinzips nachgeordnetes Verhältnis – was für Fichte konsequenterweise, weil resultierend aus einem am Selbstbewußtsein orientierten Absoluten, so und nicht anders der Fall sein muß.

3. Das Problem der Modalformen Für Fichte ist der Sachverhalt klar: Der letzte Grund aller Wirklichkeit für das Ich liegt in einer ursprünglichen Wechselwirkung zwischen Ich und einem Etwas »ausser demselben«,60 durch das das Ich »bloss in Bewegung gesetzt [wird], um zu handeln«.61 Aus dem Zirkel, daß der endliche Geist notwendig etwas Absolutes außer sich setzen und zugleich anerkennen muß, daß »dasselbe nur für ihn da sey«,62 kommt er nie hinaus: Das für endliche Naturen zu erklärende endliche Bewußtsein bleibt das Zentrum des Ansatzes Fichtes; und die Vereinigung von Unendlichkeit und Endlichkeit ist bei Fichte ohne Umschweife als Aufheben des Endlichen und Vernichtung aller Schranken überhaupt konzipiert.63 Bei Schelling sieht dies anders aus, was schon der Ort, an dem das Problem der Modalität oder die Frage nach der Setzbarkeit überhaupt erörtert wird, deutlich macht: Schelling stellt sich diese, die Grenze der eigentlichen Sphäre des Unbedingten bezeichnende Frage nämlich, nachdem er gerade (am Ende des § 15) ganz im Sinne Fichtes die ›Zernichtung‹ des Endlichen gefordert hatte: Es ist zwar der Fluchtpunkt der (Rück-)Entwicklung zum Absoluten schon angezeigt, dieses selbst bislang aber noch nicht verlassen worden. Deshalb und weil, wie es weiter unten heißt, endliche Wesen für Schelling existieren müssen, »damit das Unendliche seine Realität in Wirklichkeit darstellt«,64 konzipiert Schel-

60 61 62 63 64

Grundlage 279, § 5. Grundlage 279. Grundlage 281. Vgl. Grundlage 144. AA I 2, 172.

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

ling hier den problematischen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen zwar nicht als einen realen, wohl aber als einen, der logisch möglich sein können muß.65 Damit sind die das leisten sollenden Modalformen zugleich als etwas entziffert, was nicht Kategorie ist: Vorsichtig formuliert, sind für Schelling die entsprechenden Kategorien »noch nicht ganz ins Reine gebracht«.66 Deutlich gesprochen ist er der Auffassung, daß die Modalformen genommen »keine Kategorien«67 sind – und er liefert Gründe und zieht Konsequenzen: Denn was die Urformen des Seins und Nichtseins formal ausdrücken, ist eben die Synthesis von Ich und NichtIch bzw. von Thesis und Antithesis – als formaler Ausdruck von etwas, was aller Synthesis vorhergeht. Demgegenüber drückt die materiale oder objektive Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit das vorher formal Gefaßte ihrerseits nun in Bezug auf eine schon vollbrachte Synthesis (und das heißt eben: material) aus. Deshalb sind die Modalitätskategorien – gerade weil die Kategorien nur die »Formen sind, durch welche die Synthesis des Ichs und Nicht-Ichs bestimmt wird«68 – im eigentlichen Sinne keine Kategorien; sie enthalten die »Syllepsis«69 aller Kategorien, sind »sylleptische Begriffe aller Synthesis«.70

65

Vgl. AA I 2, 158 f. Dieter Sturma: Schellings Subjektivitätskritik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996), 3, 429–446, 443 vertritt bezüglich des Verhältnisses von Unbedingtem und Bedingtem bei Schelling hingegen die bemerkenswerte, sich dem Leser erst nach mehrmaligen Nachsprechen erschließende These: »Die ursprüngliche Fragestellung nach dem Übergang vom Unbedingten zum Bedingten […] findet letztlich keine vernünftige Antwort: Es gibt den grundlosen Übergang vom Unbedingten zum Bedingten, aber das Bedingte kann in sein Unbedingtes nicht mehr zurückfragen.« Explicatio: es gibt den Übergang, nur ist er grundlos, noch nicht einmal logisch – was er jedoch sein soll. Gegenthese (vgl. oben): es gibt den Übergang überhaupt nicht, er wird nur behauptet. – Vgl. zu diesem Kontext auch: Hans-Michael Baumgartner: Das absolute Ich und die Kategorien. Zu Schellings Schrift »Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen« (1795), in: Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Hrsg. v. J. Jantzen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 69–94. 88–90. 66 AA I 2, 15119f. 67 AA I 2, 1525. 68 Ebd., Z. 4f. 69 Ebd., Z. 6. 70 Ebd., Z. 10 f. Vgl. dazu bei Kant KrV B 266: »Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich: daß sie den Begriff, dem sie als Prädikat beigefügt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken. Wenn der Begriff eines Dinges schon ganz vollständig ist, so kann ich doch noch von diesem Gegenstande fragen, ob er bloß möglich, oder auch wirklich, oder, wenn er das letztere ist, ob er auch notwendig sei?

Das Ich und seine Kategorien

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Zuerst zur Setzbarkeit. Die Einheit des Setzens des Ich (daß es sich selbst und alle Realität als reine Identität setzt), die materiale Urform des Ich, bestimmt die formale Form des Setzens im Ich:71 Ist das Ich nämlich »Substrat der Sezbarkeit aller Realität überhaupt«,72 so ist es materialer Inbegriff aller Realität und formale Bedingung des Setzens überhaupt zugleich, wobei die Form des Setzens die reine Identität des Ich garantiert wird, die als das Sein des Ich die Identität alles in ihm Gesetzten mit ihm gewährleistet und damit auch ausschließt, daß etwas im Ich gesetzt wird, was als »verschieden von sich selbst«73 zu einer Vielheit führen würde, die dem Sein des Ich widersprechen würde.74 – Die formale Urform, die »Form der Sezbarkeit im Ich überhaupt«,75 eröffnet drei denkbare Weisen des Setzens: Die erste erzeugt thetische Sätze [=Einheit], die ihrer »formalen Form«76 nach in ihrem Setzen »blos durch die Identät des Ichs bedingt«77 sind.78 Produkt der zweiten Weise des Setzens sind die antitheHierdurch werden keine Bestimmungen mehr im Objekte selbst gedacht, sondern es frägt sich nur, wie es sich (samt allen seinen Bestimmungen) zum Verstande und dessen empirischen Gebrauche, zur empirischen Urteilskraft, und zur Vernunft (in ihrer Anwendung auf Erfahrung) verhalte?«. 71 Vgl. AA I 2, 147f. 72 AA I 2, 1473. 73 Ebd., Z. 16f. 74 »Der Saz Ich = Ich ist also die Grundlage alles Sezens. Denn das Ich selbst heißt nur insofern gesezt, als es nur für sich selbst und durch sich selbst gesezt ist: alles andre aber, was gesezt ist, ist es nur insofern, als das Ich vorher gesezt ist […]. A = A ist insofern die allgemeine Formel des schlechthin–Sezens, weil dadurch nichts ausgesagt wird, als daß, was gesezt ist, gesezt seye.« (AA I 2, 14728–1484). 75 AA I 2, 1476. Auch Birgit Sandkaulen sieht, daß Schelling mit dieser an die IchSchrift gleichsam ›von außen‹ herangetragenen Unterscheidung von formaler und materialer Form auf die Form-Schrift rekurriert, wenn er versucht, »die Synthesis einerseits aus der Form allein des absoluten Ichs zu deduzieren, vor allem aber andererseits das Geschehen der Synthesis als nur das Nicht-Ich betreffend darzustellen« (Ausgang 50). Deshalb auch geht die zitierte Formel allen anderen formalen Grundsätzen voraus; als besonderer Satz oder Satz besonderen Inhalts gehört diese Formel zu den schlechthin gesetzten Sätzen, als bloße Formel zu den bedingten Sätzen. 76 AA I 2, 14825. 77 Ebd., Z. 14f. 78 Das bedeutet, wie Schelling weiter unten in der zweiten Anmerkung festhält, daß die Form der Identität an sich kein Objekt bestimmt, es sei denn, daß das Setzen der objektiven Realität im Ich schon vermittelt ist. Außerdem bestimmt Schelling dort über die Form der Identität den Unterschied von Kritizismus und Dogmatismus: Diese Form sei Identität für beide, doch sei sie für den Kritzismus Prinzip aller Realität des Ich, für den Dogmatismus hingegen Prinzip aller Realität des Nicht-Ich. Dabei hätten Kritizismus und Dogmatismus in einem gewissen Sinn das gleiche Problem: während Leibniz, der hier für den Dogmatismus steht, den Satz des zureichenden Grundes brauche, um vom absolut gefaßten Ding-an-sich zu einem bestimmten Ding zu gelan-

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

tischen [=Vielheit] Sätze, die dann vorliegen, wenn dem Ich ursprünglich etwas entgegengesetzt wird, das Ich also »als Vielheit (in Zeit) gesezt wird«.79 Die synthetischen Sätze [=Allheit] schließlich bezeichnen Allgemeinheit im Sinne einer empirischen Einheit, also einer Einheit, die durch Vielheit hervorgebracht worden ist.80 Es ist der Zusammenhang dieser Formen des Setzens und der von ihnen erzeugten Sätze, der nun zu klären ist. Um die Frage beantworten zu können, wie diese Sätze »Sinn und Bedeutung in Bezug aufs Objekt«81 erhalten können, muß die bezüglich der Grundlegung der Kategorien der Quantität, Qualität und Relation schon geschehene, dort aber nur formal ausgedrückte Synthesis nun materialiter untersucht werden. Und genau dies geschieht unter Inanspruchnahme der Formen der Modalität. Hatte Kant versucht, das Problem der Modalformen in der Analytik der Grundsätze in Form der Postulate des empirischen Denkens überhaupt dadurch zu lösen, daß Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit »in ihrem empirischen Gebrauche«82 vorgestellt werden, so bezieht Schelling die Formen der Modalität83 hinsichtlich ihres formalen Ausdrucks auf die ursprüngliche Thesis und Antithesis, deren Form gerade durch sie ausgedrückt werden soll. Zugleich sollen die reinen Formen der Modalität »die Form möglicher Synthesis ursprünglich, und vor aller Synthesis enthalten«:84 »Diese Form ist Bestimmung des Nichtseyns durch das Seyn, und diese liegt als ursprüngliche Form der Bestimmung aller möglichen Synthesis zu Grunde.«85 Schellings ›Beweisführung‹ rekurriert an dieser Stelle auf seine Definition von ›Ding‹ bzw. ›Objekt‹, wie sie sich in § 3 der Ich-Schrift findet.86 Für ihn bedeutet demzufolge objektive Möglichkeit die Möglichkeit eines Objektes oder von Objektivität überhaupt. Diese bezeichnet eine Form des reigen, brauche Kant diese »Brüke« (AA I 2, 162, Z. 15), um von dem von ihm ohne Bezug auf ein Entgegengesetztes gefaßten Ich zum Nicht-Ich, zur Welt zu gelangen (vgl. AA I 2, 162, Z. 10ff.). Daß ein Satz identisch ist, daß also in ihm Subjekt und Prädikat gleich sind, gehört hingegen zur materialen Form. 79 AA I 2, 1501. 80 AA I 2, 1506. 81 AA I 2, 15232, Anm. B. 82 KrV B 266. 83 Obzwar er, wie oben schon erwähnt, die objektive Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit als Ausdruck einer schon vollbrachten Synthesis begreift; vgl. AA I 2, 152f. 84 AA I 2, 1532f. 85 Ebd., Z. 3–5. 86 Vgl. AA I 2, 89, Z. 21f.: »Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist […]«.

Das Ich und seine Kategorien

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nen Seins, die dem Nicht-Ich als »Angemessenheit zur Synthesis überhaupt«87 zukommt. Logisch ist das Nicht-Ich für das Ich ursprünglich unmöglich, es widerspricht dessen Form diametral. Nur dadurch, daß das Sein des Ich das Nichtsein des Nicht-Ich bestimmt (und das heißt: insofern eine Synthesis vorgenommen wird), wird dieser Widerspruch aufgehoben und das Nicht-Ich im Ich setzbar. Schelling schlußfolgert: »[A]lso kann seine [des Nicht-Ich, U.V.] Möglichkeit nur als Angemessenheit zur Synthesis überhaupt vorgestellt werden: mithin wird die logische Möglichkeit des Nicht-Ichs durch die objective, die formale durch die materiale bedingt.«88 Was bedeutet nun ›objektive Möglichkeit‹ in diesem Sinne, was hat man also unter der von Schelling für das Nicht-Ich angegebenen »Angemessenheit zur Synthesis überhaupt«89 zu verstehen? Ein erster Hinweis führt nur dazu, die Frage anders zu stellen: Wenn das Nicht-Ich, dessen Urform Bedingtheit ist, zur Form des Ich (der des Seins) erhoben werden soll, geschieht dies nicht durch bloß bestimmte (und insofern selbst bedingte) Synthesis, sondern nur durch Synthesis überhaupt. Die Frage lautet nun: Was bedeutet ›Setzen durch Synthesis überhaupt‹? Bestimmte Synthesis und Synthesis überhaupt scheinen unterschiedliche Ebenen der Setzung und Setzbarkeit zu bezeichnen. Während die Bedingtheit der bestimmten Synthesis Ausdruck des Sachverhaltes ist, daß in dieser Hinsicht die Objekte ihr Dasein nur dadurch bekommen, daß sie sich wechselseitig eine Stelle in der Zeit bestimmen (was ihre Wirklichkeit ausmacht), drückt die in der Synthesis überhaupt enthaltene Unbedingtheit des Ich gerade die objektiv-logische Möglichkeit, also die Möglichkeit von Objektivität im Ausgang von absoluter Subjektivität überhaupt aus. Vermittelt werden soll dieser Widerspruch durch eine neue Synthesis, die von Schelling analog zu der zwischen Sein und Nicht-Sein konzipiert wird: Die Wirklichkeit (also das Resultat bestimmter Synthesis) soll durch die objektiv-logische Möglichkeit (das Kennzeichen des Unbedingten in der Synthesis überhaupt) bestimmt werden. Demzufolge muß das Nicht87

AA I 2, 15316. AA I 2, 15325 – 27. Man kann vielleicht sagen, daß das, was Kant hinsichtlich der Modalität in den Postulaten des empirischen Denkens überhaupt unter Verweis auf die Erfahrungsgebundenheit unserer Erkenntnis zu zeigen versucht hat, hier bei Schelling auf seine (absolute) Grundlage hin untersucht und dabei gezeigt wird, wie der Prozeß der Bestimmung eigentlich überhaupt funktioniert: Das an sich logisch-Unmögliche wird durch die objektive Möglichkeit – die Möglichkeit, die einem Objekt als solchem zukommen kann, die Fähigkeit eines Objektes zur Synthesis mit dem Ich – ermöglicht. 89 AA I 2, 15316. 88

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IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

Ich nur insofern in bestimmter Synthesis gesetzt sein, als es in Synthesis überhaupt gesetzt ist. Schellings Antwort auf die gestellte Frage nach der ›Angemessenheit zur Synthesis überhaupt‹ lautet danach: Setzen in aller Synthesis – »es [das Nicht-Ich; UV] muß in aller Synthesis gesezt seyn, denn alle Synthesis ist gleich der Synthesis überhaupt, sowohl als der bestimmten Synthesis«.90 Das Fortschreiten der Synthesis geschieht also in zwei Schritten, nämlich zuerst von Sein und Nichtsein zur objektiv-logischen Möglichkeit, dann von dieser und der Wirklichkeit zur Notwendigkeit. Die erste Synthesis vermittelt absolutes Sein (absolute Setzbarkeit) und absolutes Nichtsein (absolute Unsetzbarkeit) zur objektiv-logischen Möglichkeit, d. h. zur Setzbarkeit des Nicht-Ich im Ich und wird von Schelling insofern als Angemessenheit desselben zur Synthesis überhaupt vorgestellt. In der zweiten Synthesis bestimmt diese objektiv-logische Möglichkeit die Wirklichkeit (bestimmtes Dasein in der Zeit) und führt so zur Notwendigkeit.91 Das Nicht-Ich soll Schelling zufolge seine ursprüngliche Form, die des Gesetztwerdens in bestimmter Zeit, behalten, obwohl und gerade weil es aus der Form des Ich, aus bloßer Möglichkeit in Zeit überhaupt gesetzt sein soll: weil nämlich »Zeit überhaupt« durch »alle Zeit« dargestellt wird, und »alle Zeit« als dieses Bild der Zeit zugleich bestimmte Zeit ist, da »alle Zeit so gut bestimmt ist, als ein einzelner Zeittheil«.92 Sofern es in bestimmte Zeit gesetzt ist, erhält das Nicht-Ich demnach seine ursprüngliche Form; und sofern es in Zeit überhaupt gesetzt ist, drückt es die Urform des Ich aus – eine Form, deren wesentliche Momente: Substantialität, Einheit, Realität für das Nicht-Ich bis ins Unendliche auf dessen eigene Bestimmungen: Wechsel, Vielheit, Allheit bezogen bleiben.93

90

AA I 2, 15516–18. Vgl. AA I 2, 156/157. 92 AA I 2, 15821. 93 Vgl. AA I 2, 158, Z. 24 f. 159, Z. 3. Ein Verfahren, das Birgit Sandkaulen: Für das absolute Ich gibt es keine Möglichkeit. Zum Problem der Modalität beim frühen Schelling, in: Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Hrsg. v. J. Jantzen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 37–68. 64 treffend als »Bestimmung des Unmöglichen durch ein logisch Mögliches mit dem Resultat objektiver Möglichkeit« bezeichnet hat. 91

Das Ich und seine Kategorien

271

4. Schluß Faßt man die Ergebnisse der Bemühungen Schellings und Fichtes um eine prinzipielle Fundierung und Ableitung der Kategorien einerseits und um die eben aus der ontologischen Verschiedenheit der von dem jeweiligen Prinzip dominierten Ansätze resultierenden Probleme und Differenzen andererseits zusammen, so ist bezüglich Fichtes hervorzuheben, daß er den Weg, den er mit der Begriffs-Schrift94 eingeschlagen hatte, in der Grundlegung insofern fortsetzt, als er auch hier das Verhältnis von absolutem Ich (Realität), absolutem Nicht-Ich (Negation) und beiden als teilbar Gesetzten (Bestimmung oder Limitation) wesentlich quantitativ begreift: »Nemlich ein Setzen der Quantität überhaupt, sey es nun Quantität der Realität oder der Negation, heisst Bestimmung«.95 Relationale Bestimmung wird als Wechselbestimmung und -wirkung begriffen, die dem Ich qualitative Veränderungen nur ex post eintragen kann: Was »im Ich Negation ist, ist im Nicht-Ich Realität«.96 Indem Fichte also ein Verhältnis der Grundsätze entwirft, das diese durch die wechselseitige Einschränkung ihrer jeweiligen Absolutheit bestimmt, korrespondiert einer Unendlichkeit an Realität eine entsprechende Unendlichkeit an Negation, so daß die eigentliche Bestimmung beider nur in ihrer gegenseitigen Begrenzung bestehen kann – das Ich setzt sich selbst als Quantität: Es setzt »Negation in sich, insofern es Realität in das Nicht-Ich setzt, und Realität in sich, insofern es Negation in das Nicht-Ich setzt«.97 Rahmen und Grenze seines Entwurfs sind von einem Absoluten bedingt, das Mittel zur Erklärung des endlichen Bewußtseins sein soll und die Basis seiner Erklärungen – die unmittelbar gewissen Sätze des Anfangs – doch nur aus jenem endlichen Bewußtsein gewinnen kann. 94

Vgl. dazu Johann Gottlieb Fichte: Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre. In: Fichtes Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. Berlin: 1845/46. I, 27–81. Und in: J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Jacob. Stuttgart-Bad Canstatt 1964ff. I.2, 92–172: »Das letztere Ich sollte dem Nicht-Ich, in so fern beide im absoluten Ich gesetzt sind, darin gleich seyn, und es sollte ihm zugleich in eben der Rücksicht entgegengesetzt seyn. Dieß würde sich nur unter der Bedingung eines dritten im Ich denken lassen, in welchem beide gleich wären, und dieses dritte wäre der Begriff der Quantität. Beide hätten eine durchihr entgegengesetztes bestimmbare Quantität [hier folgt die Anmerkung: Bloß der Begriff des Ich, des Nicht-Ich und der Quantität (der Schranken) sind schlechthin a priori. Aus ihnen sind durch Gegensetzung und Gleichung alle übrigen reinen Begriffe abzuleiten.]«. 95 Grundlage 122f. 96 Grundlage 133. 97 Grundlage 130.

272

IV. Fichte – Schelling · U. Vogel

Bei Schelling liegt der Ursprung der Kategorien darin, daß das Ich dem Nicht-Ich seine Form qua Synthesis überträgt. Damit negiert es sich selbst und das Nicht-Ich als ursprünglich, bestimmt sich und es dagegen als endlich und beschränkt. Die Kategorien erscheinen hier nicht als Resultate der Abstraktion aus einem ursprünglichen Urteil, sondern als Produkte der Tätigkeit des als reine Identität und Inbegriff aller Realität verstandenen absoluten Ich selbst. Der Weg der Begründung der Identität und Realität des (und im) Ich verläuft bei Fichte und Schelling also umgekehrt. Analytisch entwickelte logische Implikate eines Urteils bei dem einen (Fichte), bei dem andern (Schelling) unbegründbare Momente des Absoluten selbst, die die Voraussetzung für die Erklärung sind, wie Bestimmung (Setzen und Entgegensetzen) möglich wird: nämlich durch eine synthetisch zu leistende Übertragung der Form (der absoluten Einheit) des Ich auf das Nicht-Ich. Daß es gerade jene Theorie der Übertragung von Einheitsleistungen und -funktionen des Ich auf das Nicht-Ich ist, von der Schelling offensichtlich der Auffassung gewesen ist, in Form von abgestuften Synthesen die Möglichkeit eines logischen Übergangs vom Unendlichen zum Endlichen hinreichend dargetan zu haben, die nicht lösen kann, was sie zu lösen beansprucht, bleibt als Problem der Schellingschen Position am Ende festzuhalten. Denn es ergeben sich bei ihm gerade hier die entscheidenden Fragen sowohl bezüglich der Konsistenz des eigenen Entwurfes als auch hinsichtlich des Programms der Begründung der Resultate Kants. So ist zunächst zu fragen, worin diese Synthesis eigentlich begründet ist. Das Absolute kann sie nicht begründen, weil es als bloße Identität mit sich dazu per definitionem unfähig ist; das Endliche, dessen je partielle Einheit begründet werden soll, kann dies jedoch ebensowenig leisten, da jene Synthesis wie Schelling selbst sagt, immer schon vollbracht ist. In dieser Hinsicht scheint die Identifizierung der Modalformen als »reines Sein« nicht dazu zu taugen, Identitätsleistungen des Absoluten auch nur logisch auf das Endliche zu übertragen: Es bleibt nur, von Möglichkeit zu Wirklichkeit durch ein praktisches Streben überzugehen. Und dies ist Konsequenz des Schellingschen Ansatzes selbst: Ein Absolutes, das weder möglich, wirklich oder notwendig, sondern nur mit sich identisch ist,98 kann schlechterdings nichts als sich selbst begründen – auch 98 Der Versuch, objektive Möglichkeit als Möglichkeit von Objekten überhaupt anzusetzen, erscheint in dieser Hinsicht nur als ein Taschenspielertrick, der das Problem nicht löst, sondern bloß umbenennt.

Das Ich und seine Kategorien

273

und gerade nicht die Möglichkeit kategorialer Bestimmung von Objekten. Am Ende kann keine der beiden Positionen überzeugen: Fichte gelingt es allenfalls (wenn man von der angesprochenen Zirkularität absieht), die Möglichkeit kategorialer Bestimmung überhaupt aus der Struktur eines an einem Selbstbewußtseinsmodell orientierten Absoluten zu entwickeln. Gerade dies konnte aber nicht Sinn und Zweck eines Unternehmens sein, das ja gerade den Grundsatz bestimmt aufstellen wollte, auf den Kant nur gedeutet hatte – was mehr im Vergleich zu Kant wäre damit gewonnen? Schelling gelingt es hingegen zwar, durch den Rekurs auf ein rein identisches absolutes Ich als Grund seiner selbst und alles dessen, was ist, zunächst durchaus die Etablierung einer Instanz, die die von ihm bei Kant gesehenen Defizite aufgrund der sie auszeichnenden prinzipiellen Einheit von Denken und Sein gerade nicht enthält. Doch auch wenn die qualitativen, quantitativen und relationalen Hinsichten auf das Absolute Momente enthalten, die auf die Möglichkeit einer Fundierung der reinen Verstandesbegriffe Hoffnung machen können, bleibt es am Ende eben nur bei dieser Hoffnung. Die Versuche, einen Übergang vom Unendlichen zum Endlichen als wenigstens logisch möglich zu konstruieren, scheitern, wie gezeigt, aus Gründen der Konzeption des Absoluten selbst: Die Operation – in unserem Fall: der Aufweis der Möglichkeit von Kategorien der Quantität, Qualität und Relation überhaupt durch Wesensbestimmung des Absoluten – ist, so könnte man sagen, zwar gelungen, der Patient – eine Konzeption der Kategorien nun als derjenigen Instanzen, die »von Seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt enthalten«99 – hingegen leider tot.

99

KrV B 167.

PERSONENVERZEICHNIS*

Adickes, Erich 79, 192, 195 Adorno, Theodor W. 180 Allison, Henry E. 191 Amoroso, Leonardo 158 Anonymus 15 Baggesen, Jens Immanuel 103 Bartuschat, Wolfgang 79, 262 Baum, Manfred 159 Baumanns, Peter 178, 179, 187, 254 Baumgarten, Alexander Gottlieb 146, 158, 209 Baumgartner, Hans-Michael 203, 219, 248 Beck, Lewis White 231 Beck, M. Jacob Sigismund 154, 163, 179, 207, 236, 237, 238 Bieri, Peter 19, 21 Boenke, Michaela 204, 219 Böttiger, Karl August 112 Breazeale, Daniel 6, 7, 90–93, 101, 102, 107, 165 Buhle, Johann Gottlieb 205 Claesges, Ulrich 107 Creuzer, Leonhard 37 Csech, Werner V. 152 Dennett, Daniel C. 19, 23 Descartes, René 49, 206 Erhard, Johann Benjamin 210 Eschen, Friedrich August 144 Euklid 69, 78 Feuerbach, Ludwig 149, 151 Fichte, Johann Gottlieb 1–15, 17, 30, 37,

43, 44, 49, 51, 53–56, 58, 60, 70, 80, 86–135, 138, 139, 141–149, 151–154, 162–173, 175, 176, 178, 179, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 195, 196, 197–208, 216, 217, 219–225, 227–249, 254–260, 263–265, 271–273 Fleischer, Margot 179, 192, 217 Förster, Eckart 5, 7, 11, 12, 80, 110 Frank, Manfred 179, 180 Freud, Sigmund 4, 45–47, 58 Fuhrmans, Horst 219 Gloy, Karen 263 Goethe, Johann Wolfgang von 5–7, 11, 51, 59, 60, 70–80, 180, 181, 196 Gregor, Mary J. 158 Guyer, Paul 158, 159, 164 Haag, Johannes 80 Hamann, Johann Georg 183 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1, 3, 5, 6, 15 ff., 28, 45, 48, 49, 51, 52, 57, 60, 67, 80, 98, 127, 129, 204, 217, 234, 263 Heidegger, Martin 8, 149, 155 Henrich, Dieter 64, 71, 110, 155 Herder, Johann Gottfried 72 Herring, Herbert 179, 192 Hiltscher, Reinhard 264 Hobbes, Thomas 129 Höijer, Benjamin Carl Henrik 144 Hölderlin, Friedrich 13, 119, 234 Holz, Harald 219 Horstmann, Hubert 152, 170 Horstmann, Rolf-Peter 18 Hufeland, Georg 237 Hume, David 154. 209, 215f., 237 f. Hühn, Lore 119

* Die kursiv gesetzten Ziffern beziehen sich auf Anmerkungen der entsprechenden Seite.

276

Personenregister

Husserl, Edmund 7, 90 Jacob, Ludwig Heinrich von 238 Jacobi, Friedrich Heinrich 1, 3, 5, 9, 10, 50, 56, 64, 71, 72, 78, 163, 175–201, 207, 238, 259 Jacobs, Wilhelm G. 203, 217, 219, 220, 248 Jäsche, Gottlieb Benjamin 85 Kant, Immanuel 1–6, 8–12, 14, 16–18, 23, 24f., 29–31, 32, 33–37, 38, 39–44, 50–52, 54, 59–73, 75–87, 90, 91, 100, 101, 103, 107–111, 113, 115–117, 119–124, 127, 128, 130, 131, 137, 145, 146, 150–213, 215f., 218–220, 222–227, 230f., 236, 237f., 248f., 252, 259, 261, 266, 268, 269, 272f. Knittermeyer, Hinrich 204 Kuhlmann, Hartmut 219, 225, 228, 230 Krause, Karl Christian Friedrich 90, 105, 144, 147 Lauth, Reinhard 15, 86, 103, 130, 131, 165, 170, 175, 199, 205, 221, 224, 235, 271 Lavater, Johann Kaspar 87 Leibniz, Gottfried Wilhelm 1, 154, 209, 267 Lindberg, David C. 69 Locke, John 77, 129 López-Domíngues, Virginia 131 Maimon, Salomon 1, 90, 107, 154, 163, 205 Mancosu, Paolo 78 Marx, Karl 149, 151 Mendelssohn, Moses 50, 64, 71 f., 162 Metz, Wilhelm 196 Niethammer, Friedrich Immanuel 13, 87 Nietzsche, Friedrich 149, 151 Nuzzo, Angelica 8, 43 Piché, Claude 86, 120

Platner, Ernst 88, 90, 107, 131, 144–147, 151, 169, 238 Platon 1, 20, 51, 69, 205, 209f. Pogge, Thomas 187 Pothast, Ulrich 19 Prauss, Gerold 199 Rawls, John 22 Reinhard, Karl von 101 Reinhold, Carl Leonhard 1, 3, 37, 53, 86, 88, 92, 107, 152, 154, 163, 180, 205, 206f., 222–225, 247 Renaut, Alain 130f. Rousseau, Jean-Jacques 44, 129 Sandkaulen-Bock, Birgit 9, 10, 11, 51, 219, 256, 259, 267, 270 Scaravelli, Luigi 160 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 1, 3–6, 11–17, 43–45, 49–57, 60, 67, 70, 80, 98, 107, 177, 203–232, 243–251, 252, 253–262, 265 f., 267, 268–273 Schelver, Friedrich Josef 80 Schieche, Walter 203, 219, 231 Schiller, Friedrich von 87 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 51 Schmid, Carl Christian Erhard 13, 36, 37, 88, 205, 234, 236 Schopenhauer, Arthur 8, 10, 149, 151, 180 Schottky, Richard 129 Schulz, Walter 204, 216 Schulze, Gottlob Ernst 1, 10, 179, 180– 182, 187, 188, 207, 224 Schulze, Johann 183 Siep, Ludwig 131 Simm, Günter 152 Simon, Gerard 69 Smith, Adam 22 Smith, Houston 86 Sokrates 51 Sömmerring, Samuel Thomas 146 Sophokles 69 Spinoza, Baruch de 1, 5–7, 11, 13, 50, 54, 58, 64, 71 f., 78–80, 147, 175–177, 183, 250, 251f., 253, 259, 261f.

Personenregister

277

Stadler, Christian Maria 130 Stephani, Heinrich 87, 224 Stolzenberg, Jürgen 32, 101, 105, 107 Storm, Holger 80 Strawson, Peter F. 19 Sturma, Dieter 266

Wellek, René 158 Wildfeuer, Armin G. 86 Willaschek, Marcus 164, 179, 192 Windelband, Wilhelm 158, 179–181, 192 Wolff, Christian 146, 154f., 209

Vaihinger, Hans 178, 179 Verweyen, Hansjürgen 130 Vleeschauwer, Herman Jean de 158 Vogel, Ulrich 12f., 219, 222

Zahn, Manfred 129 Zelter, Carl Friedrich 59 Zeltner, Hermann 215, 219, 248 Zöller, Günter 8, 32, 81, 125, 131, 159, 195, 221

Waibel, Violetta L. 7, 11, 119f.