Texturen der Zeit: Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 9783412212285, 9783412207380

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Texturen der Zeit: Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
 9783412212285, 9783412207380

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Johannes Pause

Zum Wandel ästhetischer Zeitkonzepte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: „4096 Farben, 1974“ (WV Nr. 359) © Gerhard Richter. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20738-0

Zukünfte hat jeder. Alle möglichen. Irgendeine stülpt sich auf. Vergangenheiten haben, mehr als nur eine, aus denen man wählt, bevor die Gäste kommen – passend zum Anlass... - Helmut Krausser

Vielfalt ist das wahre Versprechen der Hölle. - Julio Cortázar, Die Gewinner

Inhalt Einleitung............................................................................................................... 9 1. Medialität der Zeit: Ein theoretischer Rahmen.............................. 18 2. Zeitmotivik als literarischer Meta-Diskurs....................................... 28 3. Aufbau und Forschungsstand.............................................................. 33

I. Literarische Zeitkonzepte um 1900.................................................... 36 1. Flüchtige Zeitatome oder „eiserner Zusammenhang“?.............. 2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann...................... 3. Unmögliche Präsenz: Hofmannsthal und Musil........................... 4. Ästhetische Zeitkonzepte: Der Zauberberg........................................ 5. „Spielerische Moderne“: Borges und Nabokov............................

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur…................... 118 1. Die Krise der sozialen Zeit........................................................... 122 1.1. „Verschieden falschgehende Uhren“. Wilhelm Genazino, Peter Høeg, John von Düffel und Peter Kurzeck............... 1.2. Die kaputten Uhren der Stunde Null. Literarische Zeitreflexionen zu den historischen Zäsuren von 1989 und 1945.................................................................................... 2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien.......... 2.1. „Wann bin ich, verdammt?“ Michael Wallner, Thomas Hettche und Urs Widmer........................................................ 2.2. Zeit und Imagination: David Wagner und Klaus Böldl.....

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183 200 3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur 214 3.1. Achronisches Erzählen: Botho Strauß.................................. 217 3.2. Situatives Erzählen: Gerhard Roth........................................ 223 3.3. Mögliche Welten: Juli Zeh...................................................... 231

III. Drei Zeit-Lektüren.................................................................................. 239 1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit......... 241 1.1. Psychologische oder physikalische Dysfunktion der Zeit? 1.2. Falsche Referenzen, neuronale Zeitsprünge......................... 1.3. Die „innere Notwendigkeit“ des Erzählens.......................... 2. Schattenzeiten: Helmut Kraussers UC........................................... 2.1. „Virtuelle Schizophrenie“........................................................ 2.2. Der multimediale „Hyperchronos“........................................ 2.3. Künstler und Schatten............................................................. 2.4. Multiversum der Intertextualität............................................ 3. Nach dem Ende der Zeit: Thomas Lehrs 42............................... 3.1. Die Irrationalität der „Unzeit“............................................... 3.2. Das Ende der Zeit als soziale Vereinbarung........................ 3.3. Nachgeschichtliche Bilderwelten........................................... 3.4. Schreiben gegen den Tod.......................................................

Schlussbetrachtung.......................................................................................

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Literaturverzeichnis...................................................................................... 330

Einleitung Ungefähr in der Mitte von Helmut Kraussers 2003 erschienenem Roman UC, dessen Titel eine Abkürzung des rätselhaften Begriffs „Ultrachronos“ darstellt, hält ein undurchschaubarer Schriftsteller mit dem anagrammatisch auf den Autor verweisenden Namen Samuel Kurthes einen langen, zwischen Esoterik und Philosophie balancierenden Vortrag, in dem er seinen Zuhörern die nahe bevorstehende Überwindung ihres Zeitbewusstseins in Aussicht stellt. Die zentralen Thesen lauten: „Zeitbewusstsein ist keine Errungenschaft, die uns von den Tieren trennt, sondern ein Defizit, das uns von höheren Wesen trennt. [...] Höherdimensionierte Wesen könnten in einem chronologischen Nebeneinander leben. Zeit ist ein Netz aus feinen Knoten, das jede Sekunde mit den in ihr geschehenen Fakten verknüpft. Aber manchmal gibt es scheinbar unerklärliche Phänomene, Erosionserscheinungen, Risse, in denen Dinge ineinander fließen, die sich zuvor voneinander separiert haben. Die festgeglaubten Knoten der zurückliegenden Zeit lösen sich auf. [...] Warum? Weil das Geschehene von einem Subjekt entschieden wurde, die Zeit dieses Subjekt als Entscheidungsträger aber nicht länger anerkennt.“1

Was hier artikuliert wird, ist eine gleich mehrfache Erschütterung des Zeitbewusstseins, die – ihrer exzentrischen Überspitzung zum Trotz – für viele Erzählungen und Romane der Gegenwartsliteratur als repräsentativ gewertet werden kann. Zunächst wird die Verknüpfung der Zeit mit ihren Inhalten für gekappt erklärt: Was früher durch eine feste Koordinate auf dem Zeitstrahl terminiert war, behält seine Position nicht länger, sondern wird aus jeder chronologischen Verankerung gelöst und für willkürliche Koppelungen freigestellt. Die zentrale Zeit-Metapher ist dabei nicht mehr Linie oder Kreis, sondern ein „Netz aus feinen Knoten“. Als Verantwortlicher für die bislang gebräuchliche, defizitäre Vorstellung der Zeit wird darüber hinaus „das Subjekt“ ausfindig gemacht, das von der Zeit selbst forthin jedoch nicht länger anerkannt und seiner zeitgestaltenden Funktion enthoben werde. Der Mensch als „Entscheidungsträger“, der bestimmte Ereignisse zur Wirklichkeit erhebt, indem er andere Möglichkeiten ungenutzt lässt, und der diese Ereignisse kraft seines „Zeitbewusstseins“ zu einem Kontinuum formt, hat in dieser Funktion also offenbar ausgedient. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Subjekte, an die sich der Redner hier wendet, sich auf ihre zeitlichen Bezugsverhältnisse, auf die gelingende Koordination zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft nicht länger verlassen können. Und folgerichtig muss der Protagonist des Romans, der diesem Vor1

Krausser, Helmut: UC, Reinbek bei Hamburg 2003. S.206.

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Einleitung

trag zunächst noch mit Skepsis lauscht, im Fortgang der Handlung erleben, wie seine Biographie zunehmend zu einem Möglichkeitsraum mutiert, zu einem Nebeneinander verschiedenster gleichermaßen unglaubwürdiger Erzählstränge und unverbundener, widersprüchlicher Szenarien, die sich zu keiner zeitlichen Gesamtordnung mehr zusammenfügen lassen. Besonders bemerkenswert erscheint hierbei, dass das Motiv der Diskontinuität, das herkömmlich mit dem inneren, subjektiven Zeitbewusstsein assoziiert ist, in diesem und in vielen weiteren Romanen jüngeren Erscheinungsdatums nun offenbar in der Sphäre der äußeren, gesellschaftlichen oder sogar physikalisch-objektiven Zeit verortet wird. Die Zeitschleifen und -sprünge, die Reisen in die Vergangenheit oder die Epiphanien von Vergangenem in der Gegenwart, die assoziativen und achronischen Verkettungen von Ereignissen oder die Stillstände der Zeit in hervorgehobenen Augenblicken, mit denen das lineare Zeitschema in vielen neueren Romanen immer wieder durchbrochen wird, haben mit den vielfältigen Formen subjektiver Erlebniszeit, die in den vorangegangenen Jahrhunderten als die wesentlichen Antipoden einer einförmigen Einheitszeit galten, nicht mehr viel zu tun. Vielmehr erscheinen sie nun als Symptome der äußeren, vermeintlich objektiven Zeit, die die Subjekte, die sich jetzt in erster Linie durch ein Bedürfnis nach temporaler Ordnung, nach linearen Genealogien und Deutungsmustern auszeichnen, im Sinne Kraussers „nicht länger anerkennt“. Wenn in vielen Zeit-Romanen trotzdem eine drohende Geistesstörung als Verursacher der ansonsten unerklärlichen Ereignisse in Betracht gezogen wird – Krausser lässt seinen Protagonisten sogar selbst psychiatrische Fachliteratur wälzen –, so verleiht dies nur der Hilflosigkeit der Romanfiguren Ausdruck, die die Phänomene mit ihren Denk-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsmustern nicht mehr zu koordinieren verstehen. Es hat also den Anschein, als seien in der Gegenwartsliteratur beide Zeitgefüge, das subjektive wie das objektive, in eine tiefgreifende Krise geraten. Die traditionelle Oppositionsstellung des inneren, subjektiven Zeitempfindens ist infolgedessen offenbar nicht länger aufrecht zu erhalten: „The time of the individual mind no longer functions as an alternative to social time.”2 In England und Amerika haben Romane, in denen vergleichbar phantastische Entgleisungen der Zeit im Mittelpunkt stehen, in den letzten Jahrzehnten ein regelrechtes Genre neuer Zeitliteratur ausgebildet. Bereits in Kurt Vonneguts 1969 erschienenem Roman Slaughterhouse-Five or The Cildren's Crusade löst sich der durch die Bombardierung Dresdens traumatisierte Billy Pilgrim „von der Zeit“3, indem er beginnt, zwischen den unterschiedlichen Phasen seines Lebens unkontrolliert hin und her zu springen. Seit den 70er Jahren erlebt das 2

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Heise, Ursula K.: Chronoschisms. Time, narrative and postmodernism, Cambridge 1997, S.7. Vgl. Vonnegut, Kurt: Schlachthof 5 oder der Kinderkreuzzug. Deutsch von Kurt Wagenseil, Reinbek bei Hamburg 2006, S.27. (O: New York 1969) Vgl. auch Vonnegut, Kurt: Zeitbeben. Deutsch von Harry Rowohlt, München 1998. (O: London 1997)

Einleitung

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Thema im angloamerikanischen Raum dann eine anhaltende Konjunktur: „Viele zeitgenössische Romane“, so Ansgar Nünning, sind nun nicht mehr „bloß tales of time, in denen die Schilderung von Ereignisabfolgen Zeit (‚Erzählzeit‛) beansprucht und temporale Relationen auf der Ebene der Geschichte (‚der erzählten Zeit‛) implizit voraussetzt, sondern auch tales about time in dem Sinne, dass die Zeit und der Wandel des Zeitbewusstseins thematische Mittelpunkte bilden und dass diese Werke selbst zu einem Medium literarischer Zeitreflexion werden.“4 Besonders in den letzten beiden Jahrzehnten sind eine ganze Reihe von Romanen erschienen, die dieser an Thomas Manns Reflexionen im Zauberberg orientierten Unterscheidung gemäß als ‚Zeitromane‘ bezeichnet werden können.5 So wird etwa in Martin Amis’ Time's Arrow6 der Pfeil der Zeit umgekehrt, wodurch nicht nur das Leben des Ich-Erzählers auf dem Sterbebett beginnt, sondern auch die dunkelsten Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts eine unheimliche Umdeutung erfahren: Die Öfen in Auschwitz dienen nicht mehr der Vernichtung, sondern der Herstellung von Menschen; den nackten, ängstlichen und frierenden Neuerschaffenen kann der Protagonist, in der tatsächlichen Chronologie ein grausamer KZ-Arzt, nach dem geglückten magisch-alchemistischen Experiment eine neue Identität verleihen. Arno Stirne hingegen, Hauptfigur des Romans The Fermata von Nicholson Baker7, kann mit einem bloßen Fingerschnipsen die Zeit nach Bedarf anhalten und nutzt diese Fähigkeit für seine erotischen Eskapaden. Alan Lightman wiederum entwirft in seinem Buch Einstein's Dreams gleich eine ganze Folge unterschiedlicher teils realistischer, teils phantastischer Zeit-Szenarien – Italo Calvinos unsichtbaren Städten nicht unähnlich –, die die Fülle, aber auch die Uneinheitlichkeit des individuellen und kulturellen Umgangs mit der Zeit beleuchten8; und in Peter Ackroyds Hawksmoor9 scheinen Ereignisse, die im London der Gegenwart stattfinden, ihren eigentlichen Ursprung im 18. Jahrhundert zu haben, wodurch die beiden Zeitebenen auf verwirrende Weise gleichzeitig präsent zu sein scheinen. Auch das ZeitreiseMotiv wird längst nicht mehr nur von Science Fiction-Autoren verwendet: Au4

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Nünning, Ansgar: „Moving back and forward in time“: Zur Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitstrukturen, Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen im englischen Roman der Gegenwart, in: Middeke, Martin (Hg): Zeit und Roman. Zeiterfahrungen im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S.395-419, S.396. Vgl. Mann, Thomas: Der Zauberberg, Frankfurt a.M. 1991, S.743. Amis, Martin: Pfeil der Zeit. Deutsch von Alfons Winkelmann, München 2004. (O: London 1991) Baker, Nicholson: Die Fermate. Deutsch von Eike Schönfeld, Reinbek bei Hamburg 1994. (O: New York 1994) Lightman, Alan: Und immer wieder die Zeit. Einstein's Dreams. Deutsch von Friedrich Griese, München 2002 (O: New York 1993). Vgl. Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte. Deutsch von Heinz Riedt, München 2000. (O: Turin 1972) Ackroyd, Peter: Der Fall des Baumeisters. Deutsch von Hans Wolf, Reinbek bei Hamburg 1991. (O: London 1985).

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Einleitung

drey Niffenegger etwa landete mit The Time-Traveler's Wife10 einen Bestseller, und Ian McEwan lässt in The Child in Time11 seinen Protagonisten während einer geträumten Zeitreise in die Vergangenheit seine eigene Zeugung in die Wege leiten. Diese Liste ließe sich nicht nur beliebig fortsetzen12, sondern auch auf den Film13 und die Literatur anderer Länder ausweiten: So gerät etwa in dem Roman Die irrlichternde Zeit14 des russischen Schriftstellers Jurij Mamlejew ein junger Mann des 21. Jahrhunderts auf eine Party der 60er Jahre, auf der er – ganz nach Freud – seine nun gleichaltrige Mutter küsst und sich mit seinem Vater prügelt, während in Emmanuel Carrères Erzählung Der Schnurrbart15 eine scheinbar unbedeutende Handlung zu einer Verunsicherung der Vergangenheit führt: Auf einmal kann sich niemand mehr an den Schnurrbart erinnern, den der Protagonist sich eines Morgens abrasiert hat, sodass dieser sich fragen muss, ob er überhaupt jemals ein Bartträger gewesen ist.16 Ein geheimer, groß angelegter Plan von der Abschaffung des Dunkels wird vom dänischen Autor Peter Høeg als Ursache der verhängnisvollen Fiktion der linearen Zeit ausgemacht, was zu vielfältigen Reflexionen über die Geschichte des Zeitbewusstseins, der Zeitmessung und der Zeitphilosophie Anlass gibt, an deren Ende die Entdeckung steht, dass es in Wirklichkeit nicht nur eine, sondern ganz „verschiedene Arten von Zeit geben muss“.17 Auch solch direktes Reflektieren über zeittheoretische Fragen ist für mehrere Werke der Gegenwartsliteratur charakteristisch: Während zum Beispiel in Christopher Wilkins Roman The Horizontal Instrument – in welchem der Versuch, die Zeit so genau wie möglich zu messen, zu der Einsicht führt, dass Zeit als feste Größe gar nicht existiert – längere theoretische und historische Exkur10

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Niffenegger, Audrey: Die Frau des Zeitreisenden. Deutsch von Brigitte Jakobeit, Frankfurt a.M. 2005. (O: London 2004) McEwan, Ian: Ein Kind zur Zeit. Deutsch von Otto Bayer, München 1991. (O: London 1987). Zu weiteren Beispielen vgl. Nünning 2002, S.396ff. Besonders in Hollywood-Filmen lässt sich seit einigen Jahren eine starke Faszination für Zeiträtsel ausmachen. Beispielhaft zu nennen wären hier Filme wie Back to the Future (USA 1985, Robert Zemeckis), The Groundhog Day (USA 1993, Harold Ramis), Twelve Monkeys (USA 1996, Terry Gilliam), Donnie Darko (USA 2002, Richard Kelly) oder The Butterfly Effect (USA 2004, Eric Bress & J. M. Gruber). Auch in den beiden 2002 uraufgeführten Filmsammlungen Ten Minutes Older – The Trumpet und Ten Minutes Older – The Cello beschäftigen sich unterschiedliche bekannte Regisseure, darunter Bernardo Bertolucci, Jean-Luc Godard, Jim Jarmusch und Wim Wenders, in Kurzfilmen mit dem Thema ‚Zeit’. Zur Kritik moderner Zeit-Konzepte im phantastischen Film vgl. Lim, Bliss Cua: Translating Time. Cinema, the Fantastic, and Temporal Critique, Durham / London 2009. Mamlejew, Jurij: Die irrlichternde Zeit. Deutsch von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 2003. (O: St.Petersburg 2001). Carrère, Emmanuel: Der Schnurrbart. Aus dem Französischen von Georges Hausemer, Berlin 1997. (O: Paris 1986) Vgl. hierzu auch: Ryan, Marie-Laure: Temporal Paradoxes in Narrative, in: Style 43, Nr. 2 (2009), S.142-164. Høeg, Peter: Der Plan von der Abschaffung des Dunkels. Deutsch von Angelika Gundlach, Reinbek bei Hamburg 1999, S.265. (O: Kopenhagen 1993)

Einleitung

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se in die Handlung selbst eingebettet sind18, beschäftigt sich Javier Marías in seinem Buch Schwarzer Rücken der Zeit19 auf essayistische Weise mit den philosophischen Paradoxa der Zeit, indem er sie mit autobiographischen und literarischen Reflexionen verknüpft. Diese kurze Auswahl lässt deutlich werden, dass die verbreitete These einer Ablösung des Zeit-Paradigmas durch das Raum-Paradigma, mit der die ‚Moderne‛ im Verlauf des 20. Jahrhunderts in die ‚Postmoderne‛ übergegangen sei, nicht aufrecht zu erhalten ist.20 Das gilt ohne Frage auch für den deutschsprachigen Raum, für den sich die Auflistung literarischer Zeitexperimente problemlos fortsetzen lässt. Bereits in den 70er Jahren hatte es hier Michael Endes Momo mit den grauen Herren zu tun, die die Zeit einfach wegrechneten21; in den 80er Jahren war es in erster Linie Botho Strauß, der in seinen Werken Reflexionen zum Thema anstellte22, während Christoph Ransmayr in Die letzte Welt23 Antike und Gegenwart zu einem historischen Misch-Szenario verschmolz. Seit den 90er Jahren scheint auch hierzulande der Strom der Zeitromane nicht mehr abzureißen: Da widerlegen etwa in Daniel Kehlmanns Kurzroman Mahlers Zeit oder in Michael Wallners Cliehms Begabung Forscher kurzerhand die Zeit, um schließlich selbst an der Erfahrung der aufgelösten Ordnung zu verzweifeln 24; da bringt ein wissenschaftliches Experiment in Thomas Lehrs 42 die Zeit vollends zum Stehen, was die wenigen Auserwählten, die weiter in kleinen Eigenzeit-Sphären existieren dürfen, zu Wanderern in einer im Augenblick erstarrten, leblosen Umgebung macht25; da wird in Urs Widmers Der blaue Siphon26 ein Kino in eine Zeitreisemaschine verwandelt, die den Protagonisten in das Jahr 1942 und damit in seine eigene Kindheit transportiert, während sich in Bernhard Kegels Das Ölschieferskelett27 in einer vergessenen Höhle in der Tschechoslowakei ein Zeittor findet, das die Romanfiguren bis ins Tertiär entführt, wodurch dann schließlich ein paläontologischer Forscher ein Jahrtausende altes Skelett entdecken kann, das eine moderne Armbanduhr trägt. Und auch in Ro18

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Wilkins, Christopher: Der Zeitmesser. Deutsch von Jürgen Abel, Reinbek bei Hamburg 2002. (O: London 1999). Marías, Javier: Schwarzer Rücken der Zeit. Deutsch von Elke Wehr, Stuttgart 2000. (O: Madrid 1998). Vgl. Heise 1997, S.1. Ende, Michael: Momo, Stuttgart 1973. Vgl. Damm, Steffen: Die Archäologie der Zeit. Geschichtsbegriff und Mythosrezeption in den jüngeren Texten von Botho Strauß, Wiesbaden 1998. Der Arbeit liegt die glaubhafte, aus dem Titel jedoch nicht ersichtliche These zugrunde, dass das Motiv der Zeit „das zentrale Motiv im Werk des Dramatikers und Prosaisten Botho Strauß darstellt.“ Ebd., S.9. Ransmayr, Christoph: Die letzte Welt, Nördlingen 1988. Kehlmann, Daniel: Mahlers Zeit, Frankfurt a.M. 2001; Wallner, Michael: Cliehms Begabung, Frankfurt a.M. 2000. Lehr, Thomas: 42, Berlin 2005. Widmer, Urs: Der blaue Siphon, Zürich 1992. Kegel, Bernhard: Das Ölschieferskelett. Eine Zeitreise, Zürich 1996.

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Einleitung

manen mit weniger phantastischen Szenarien wird zunehmend ganz ausdrücklich über Zeit reflektiert, treten verschiedene Erfahrungsweisen der Zeit unvermittelbar nebeneinander, wird die Vorstellung einer einheitlichen, für alle verbindlichen Zeit als hoffnungsloser Anachronismus vorgestellt – Ralf Kühn hat in seiner mehr als tausendseitigen Dissertation eine beeindruckende Auswahl an entsprechenden Werken und Zitaten zusammengetragen.28 Während Kühn jedoch die Divergenz und Unterschiedlichkeit der verschiedenen Werke in den Vordergrund stellt, soll in dieser Arbeit der Versuch unternommen werden, der großen Vielfalt von Autoren und Motiven zum Trotz einige Gemeinsamkeiten des gegenwärtigen literarischen Zeit-Diskurses herauszuarbeiten. Denn wie bereits angedeutet, werden in vielen Romanen der letzten Jahre einige der gängigen Gegenüberstellungen, durch die sich die literarische Auseinandersetzung mit der Zeit in den vergangenen Jahrhunderten ausgezeichnet hat, infrage gestellt. War es von Lawrence Sternes Tristram Shandy bis hin zu den vielfältigen Zeitreflexionen der literarischen Moderne um 1900 das insbesondere von der Aufklärung und der Geschichtsphilosophie geprägte sukzessivlineare Zeitmodell und die ihm inhärenten Sinnschemata, von denen sich die mit chronologischen Mustern unvereinbare Zeitwahrnehmung des Subjekts abheben sollte29, zeigt sich an den Romanen der Gegenwartsliteratur nachdrücklich, dass diese „konventionelle Gleichsetzung von kollektiver sozialer Zeit mit dem Kollektivsingular ‚Geschichte’ ihre vormals unbefragte Gültigkeit verloren hat.“30 Vielmehr scheint nun gerade diese Konzeption einer historischen Einheitszeit ihre Verbindlichkeit für den individuellen und kulturellen Umgang mit der Zeit einzubüßen, was von den Protagonisten der Romane einerseits als Befreiung, andererseits aber auch als Zusammenbruch grundlegender Orientierungsmuster erlebt wird. 28

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Vgl. Kühn, Ralf: TempusRätsel zum TempusWechsel. Moderne Zeitdiskurse und Gegenwartsliteratur zwischen Berechnung und Verrätselung der Zeit, Freiburg 2005. Einen weiteren Beleg für das breite Interesse an der Zeit lieferte 2005 der Web-SiteVerlag, der anlässlich eines Kurzgeschichtswettbewerbs mehr als 800 Einsendungen zu diesem Thema erhielt. Vgl. Frohberger, Marco / Hadjieff, Dieter (Hgg): Zeit. Zwischen Augenblick und Ewigkeit, Ebersdorf 2005. So will sich Tristram bei der Darstellung seines Lebens ausschließlich an „das wahre scholastische Pendel“ halten, das nach dem „Gang und der Folge unserer Gedanken“ schlägt und nach welchem er „als Gelehrter in dieser Sache gehört werden will, - wobei ich die Rechtskraft aller anderen Pendel, welcher auch immer, abweise und verabscheue.“ Vgl. Sterne, Lawrence: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman. Deutsch von Otto Weith, Stuttgart 1972, S.119. Noch in den 60er Jahren gilt etwa Heinrich Straumann das „Verhältnis von objektiver zu erlebter Zeit“ als wesentliches „Zeitproblem“, das niemals vorher „zu so vollständigen Verquerungen geführt“ habe „wie in unserm Jahrhundert“. Vgl. Straumann, Heinrich: Das Zeitproblem im englischen und amerikanischen Roman: Sterne, Joyce, Faulkner und Wilder, in: Meyer, R.W. (Hg): Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, Bern 1964, S.140160, S.142. Nünning 2002, S.399.

Einleitung

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Ein erstes Anliegen dieses Buches besteht deshalb darin, den diagnostischen Anspruch der literarischen Zeit-Experimente ernst zu nehmen. Die Romane weisen auf Brüche und Prozesse hin, die zu subtil sind, als dass sie den vorherrschenden und zumeist eher vordergründigen öffentlichen Diskursen zugänglich wären. Sie sollen deshalb nicht als ‚zeitlose’ philosophische Auseinandersetzungen mit dem ewig gleichen Rätsel der Zeit verstanden werden, sondern vielmehr als konkrete Reflexionen der in der gesellschaftlichen Gegenwart vorherrschenden sozialen Zeitstrukturen und der Interdependenzen, die sich zwischen diesen und dem Zeitempfinden der Subjekte feststellen lassen. Dabei deutet die „narrative Inszenierung“ einer „simultanen Koexistenz verschiedenartiger, nebeneinander existierender ‚Eigenzeiten’“, durch die sich die Werke kennzeichnen, bereits darauf hin, dass die Romane eine generelle „historische Variabilität der Zeiterfahrungen“ und somit ihre soziale und kulturelle Relativität implizit voraussetzen.31 In dieser Hinsicht findet sich eine Übereinstimmung zwischen literarischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive auf die Zeit, die spätestens seit Norbert Elias’ wegweisendem Essay32 die Möglichkeit und Berechtigung von anderen, vom Linearzeitmodell divergierenden Zeitauffassungen immer wieder hervorgehoben hat.33 Die Frage ist also nicht mehr, was Zeit ‚als solche’ ist, sondern auf welche Weise die Gesellschaft ein temporales ‚Framework’ erschafft, innerhalb dessen individuelle Erfahrungen ebenso wie ‚historische’ Ereignisse mit Sinn versehen werden können. Indem allerdings in den eingangs skizzierten Romanen die Zersplitterung und Pluralisierung dieses ‚Frameworks’ provokant zum Status quo erhoben wird, wird offenbar zumindest den westlichen Kulturen die Preisgabe des Anspruchs auf ein einheitliches, integratives Modell der Zeit unterstellt. Diese Infragestellung einer einheitlichen Zeitkonzeption verweist auf die letzte literarische Hochkonjunktur der Zeit-Thematik in den Jahrzehnten um 1900 etwa bei Thomas Mann, Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal, Marcel Proust, James Joyce, Virginia Woolf oder Italo Svevo. Bei diesen Autoren ist die Vorstellung eines zeitlichen Kontinuums bereits im Verfall begriffen: Die 31 32

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Vgl. Nünning 2002, S.418f. Elias wendet sich gegen eine metaphysische oder physikalische Universalisierung der Zeit. Die physikalische Zeit etwa betrachtet er als eine „relativ späte Abzweigung von der sozialen Zeit“, und die Behauptung, sie besitze eine „selbständige Existenz“, gebe ein treffendes Beispiel dafür ab, wie „ein weithin gebrauchtes Symbol, losgelöst von allen beobachtbaren Daten, im Sprechen und Denken der Menschen ein Eigenleben gewinnen kann.“ Vgl. Elias, Norbert: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Herausgegeben von Michael Schröter, Frankfurt a.M. 1984, S.80 & S.98. Vgl. außerdem: Schröder, Gerhart: Metamorphosen der Zeit und des Raums, in: Alliez, Eric / Schröder, Gerhart u.a. (Hgg): Metamorphosen der Zeit, München 1999, S.29-48. Zur Geschichte der philosophischen Relativierung des Zeitbegriffs, die auch als eine Verzeitlichung der Zeit umrissen werden kann, vgl. u.a. Sandbothe, Mike: Stichwort: Zeit. Von der Grundverfassung des Daseins zur Vielfalt der Zeit-Sprachspiele, in: Thomä, Dieter (Hg): Heidegger-Handbuch, Stuttgart 2003, S.87-92.

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Einleitung

„Plötzlichkeit“ der Ereignisse markiert hier ein Zeitbewusstsein, in dem „jede Art von vorweggenommener Kontinuität in Frage“34 gestellt wird. Die literarische und philosophische Reflexion der Zeit tritt dabei in einem historischen Moment zutage, in dem transzendentale Ordnungsmuster in Auflösung begriffen sind: Dadurch, dass temporale Sinn-Konzepte wie Fortschritt, Geschichte, Genealogie und subjektive Entwicklung ihre Glaubwürdigkeit einbüßen, wird die Zeit zu einer anonymen und bloß noch mathematischen Dimension abstrahiert, die mit keiner integrativen oder sinnstiftenden Funktion mehr ausgestattet werden kann. Was in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschieht, lässt sich in keinen Zusammenhang mehr bringen; an die Stelle einer Gesetzmäßigkeiten folgenden Entwicklung tritt das bloße Nacheinander vereinzelter und zusammenhangloser Zeitmomente. Die Protagonisten der Romane erleben diesen Zerfall in erster Linie als ein Flüchtigwerden noch ihrer ureigensten Eindrücke, die auch im Gedächtnis nicht als identische festzuhalten sind. Das Subjekt kann sich daher seiner eigenen Erfahrungen und Erinnerungen und mithin seiner Identität nicht mehr sicher sein: Was durch Wahrnehmung oder Assoziation ins Bewusstsein gerufen wird, formiert sich zu keiner Lebensgeschichte, sondern bleibt unverbundenes Erlebnisatom.35 Bedeutung kann hingegen bloß noch hergestellt werden, wenn die Flüchtigkeit der Zeit aufgehoben oder umgangen wird, was etwa durch die Aufwertung der subjektiven Zeiterfahrung oder der Erlebnisgegenwart, die sich im Idealfall zu einer intensiven Augenblickserfahrung verdichtet, erreicht werden soll. In der „Mystik der Moderne“ wird „Essenz“ so grundsätzlich als „das Andere der Zeit“ aufgefasst; „um zu ihr zu gelangen, muss das Kontinuum der Zeit gesprengt werden.“36 Zweifelsohne lässt der gegenwärtige literarische Zeit-Diskurs viele Bezugnahmen auf die um 1900 entwickelte Problematisierung der Zeit erkennen. So verlieren auch hier die von den Protagonisten weiterhin vorausgesetzten linearzeitlichen Muster an Überzeugungskraft, wird infolgedessen die Existenz einer einzigen, für alle gültigen, historischen Zeit negiert. Doch steht diese Infragestellung nicht mehr nur im Zeichen der Auflösung und Atomisierung des temporalen Kontinuums: Die krisenhafte Zeiterfahrung ist hier nicht in erster Linie die der Flüchtigkeit und des Sinnverlustes; vielmehr scheint nun eine Vielzahl verschiedener, durch das Subjekt kaum mehr synchronisierbarer gesellschaftlicher Eigenzeiten entstanden zu sein, die alle nebeneinander existieren und daher unterschiedliche Zusammenhänge und widersprüchliche ‚Zeitlogiken’ produzieren. An die Stelle einer nach wie vor linearen, aber atomisierten und daher 34

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Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M. 1981, S.63. Vgl. hierzu Lindner, Burkhardt: Erzähl/Zeit/Crash. Eine kurze Dekonstruktion der Romanform mit Diderot, Sterne, Jean Paul und Cervantes, in: Bieber, Hans-Joachim / Ottomeyer, Hans / Tholen, Georg Christoph (Hgg): Die Zeit im Wandel der Zeit, Kassel 2002, S.293-317, S.312. Assmann, Aleida: Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln / Weimar / Wien 1999, S.55.

Einleitung

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als diskontinuierlich empfundenen Sukzession, die das Zeiterleben um 1900 kennzeichnet, tritt eine Pluralisierung der Zeit; anstatt der unzusammenhängenden und fragmentierten Gedächtnisbilder und des drohenden Identitätsverlustes wird der Eindruck vorherrschend, in einem ‚Zeitnetz’ gefangen zu sein, in dem sich unvermutet immer neue Kausalitäten ergeben und die eigene Biographie sich auf merkwürdige Weise vervielfacht. In vielen Romanen stehen die Protagonisten so dem Phänomen gegenüber, dass sich für sie die Zeit ständig „verdoppelt“ und in „unverbundene Stränge“ multipliziert, die alle für sich beanspruchen, „die eigentliche, wirkliche Zeit zu sein, die Zeit, die zählte.“37 Die ‚inneren’ Zeiterfahrungen werden im Zuge dessen ebenso problematisch wie das Erlebnis eines zeitenthobenen Augenblicks, da sie in der Vielzahl der entregelten Zeitdimensionen aufgehen. Am Ende des Romans Der Plan von der Abschaffung des Dunkels von Peter Høeg steht in diesem Sinne die Einsicht in eine theoretisch nicht mehr auflösbare Pluralität der Zeiterfahrungen und -begriffe: „Die Zeit lässt sich nicht vereinfachen und reduzieren. Man kann nicht sagen, sie finde sich nur im Bewusstsein oder nur im Universum, sie habe nur eine Richtung oder alle erdenklichen. Sie sei nur das biologische Fundament oder nur eine historische gesellschaftliche Konvention. Sie sei nur individuell oder nur kollektiv, nur zyklisch, nur linear, relativ, absolut, determiniert, universal, nur lokal, nur unbestimmt, illusorisch, total wahr, unmessbar, messbar, erklärlich oder unmöglich zu beschreiben. Sie ist all das.“38

Analog zu dieser Veränderung der literarischen Zeitreflexion ist in der Soziologie der letzten Jahrzehnte ein Wandel der temporalen Grundstruktur der Gesellschaft vom „stahlharten Gehäuse“39 eines einheitlich organisierten Zeitplans hin zu flexiblen, situativ erzeugten und miteinander konkurrierenden Zeitmustern registriert worden. Schon 1989 unternahm Helga Nowotny den Versuch, „die gegenwärtigen Veränderungen des Begriffes der Zeit, aber auch des Erlebens von Zeit“ und der gesellschaftlichen Konflikte, die im Zusammenhang mit sich wandelnden Zeitstrukturen entstehen, sozialwissenschaftlich zu fassen.40 Andere Soziologen hatten bereits vorher die Beobachtung gemacht, dass die Zeit in der Gegenwartsgesellschaft „entobjektiviert, freigelegt, als ein subjektives Lebenskonstruktionsprinzip erkannt und ausgebaut“ werde.41 In jüngster Zeit hat in erster Linie Hartmut Rosa die fortschreitende Flexibilisierung von Zeitstruktu37

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Vgl. hier: Mercier, Pascal: Perlmanns Schweigen, München 1997, S.244. ‚Pascal Mercier’ ist das Pseudonym des Berliner Philosophie-Professors Peter Bieri, der schon in seiner Dissertation einen „Problembereich“ der Zeit behandelt hat. Vgl. Bieri, Peter: Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereiches, Frankfurt a.M. 1972. Høeg 1999, S.298. Vgl. Weber. Max: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S.332. Vgl. Nowotny, Helga: Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1989, S.9ff. Hörning, Karl H. / Gerhardt, Anette / Michailow, Matthias: Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeiten – neuer Lebensstil, Frankfurt a.M. 1990, S.51.

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Einleitung

ren zu fassen versucht, indem er sie als Folge einer sowohl durch kapitalistische als auch durch technologische und kulturelle Mechanismen angetriebenen sozialen Beschleunigung beschrieben hat. Wesentliches Kennzeichen der neuen Zeitumgangsweise ist ein reflexiver Blick auf die Zeit, der insofern zu einer Relativierung der überkommenen temporalen Ordnungsmuster führen muss, als dass er sie immer dem gegenwärtigen Bedarf anpasst und so selbst verzeitlicht: „Für die Auffassung der Zeit aber hat sich in der Philosophie ebenso wie in den Sozialwissenschaften inzwischen der Begriff der Verzeitlichung der Zeit durchgesetzt: Verzeitlichung der Zeit meint, dass über Dauer, Sequenz, Rhythmus und Tempo von Handlungen, Ereignissen und Bindungen erst im Vollzug, und das heißt: in der Zeit selbst entschieden wird, sie folgen keinem vordefinierten Zeitplan mehr. [...] Verzeitlichung der Zeit bedeutet daher also Rücknahme der Verzeitlichung des Lebens im Sinne eines zeitlich erstreckten Projekts.“42

Als einer der wesentlichen Einflüsse, die die von Rosa beschriebene Entregelung der temporalen Orientierungsmuster vorangetrieben haben, ist die Entwicklung der audiovisuellen Medien auszumachen. Diese scheinen nicht nur Zeitformen auszuprägen, die dem herkömmlichen Zeitverständnis entgegengesetzt sind, sie haben auch eine theoretische Neubestimmung des Zeitbegriffs ermöglicht, die in einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung des Zeitmotivs Beachtung finden muss.

1. Medialität der Zeit: Ein theoretischer Rahmen Seit den Confessiones des Augustinus hat das Diktum der theoretischen Unfassbarkeit der Zeit, die uns nur so lange als selbstverständlich erscheint, wie wir sie nicht zu begreifen versuchen, nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt. Da jeder Gedanke selbst in der Zeit gefasst wird, das Denken also ein Sein in der Zeit immer schon voraussetzt, ist ihm eine objektivierende Bestimmung der Zeit unmöglich: Das „Signifikat, Zeit selbst, ist mit seinen primären und sekundären Signifikanten gleichursprünglich gegeben.“43 Diese Problematik führt in der abendländischen Philosophie zu der Erkenntnis, dass Zeit nicht ausschließlich als physikalische Gegebenheit betrachtet werden kann: Wie zuerst Kant gezeigt hat, sind Zeit und Zeitbewusstsein in der Theorie nicht voneinander zu lösen. 44 42

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Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, S.365. Vgl. Mecke, Jochen: Roman-Zeit. Zeitformung und Dekonstruktion des französischen Romans der Gegenwart, Tübingen 1990, S.14. Nach Kant ist die Zeit sowohl apriorisch als auch subjektiv. Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Kants gesammelte Schriften Bd. 3. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904, S.57ff.

1. Medialität der Zeit: Ein theoretischer Rahmen

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Zeitlichkeit erscheint so als die genuin menschliche Art und Weise, die eigenen Wahrnehmungen und durch sie das Geschehen der Welt zu filtern und verständlich zu machen. Galt für Kant dabei noch die Vorstellung einer für alle Menschen gleichen Zeit, findet in der Philosophie des 20. Jahrhunderts allerdings eine „Relativierung der Zeit“ statt: Diese wird nun nicht mehr als ein Apriori, sondern selbst als „abhängige Variable“ betrachtet, deren einstmalige Einheit sich nun in einer kulturell und historisch bedingten „Vervielfältigung der Konzepte“ auflöst.45 Als grundlegendes Paradox einer in kognitiven Begriffen gefassten Zeitkonzeption kann das Bewusstsein des Nicht-Gegenwärtigen betrachtet werden. Vergangenheit und Zukunft sind nicht unmittelbar zugänglich, sondern nicht mehr beziehungsweise noch nicht real; dennoch sind sie für das Bewusstsein notwendige Bezugspunkte, denn die Gegenwart allein wäre als ausdehnungsloser Moment und ohne Verweis auf zeitlich Abwesendes gar nicht fassbar. 46 Die Temporalformen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind somit keineswegs für jede Gesellschaft verbindlich; vielmehr ist etwa für „undifferenzierte Gesellschaften“ ein „‚occasionales’ Zeitbewusstsein“ charakteristisch, „dessen Zeiterfahrung überwiegend nur zwischen ‚Jetzt’ und ‚Nicht-Jetzt’ differenziert, sodass Vergangenheit und Zukunft als das (mythologisch gefasste) Andere der Gegenwart verschmelzen.“47 Sofern überhaupt von einem grundlegenden Bestimmungsmerkmal des Zeitbewusstseins die Rede sein kann, liegt es zweifellos in einer solchen magisch-paradoxen Erfahrung einer anwesenden Abwesenheit: Zeit ist die Relation zwischen dem ‚Jetzt’ des Reflektierens und dem ‚Nichtmehr’ oder ‚Noch-nicht’ des Reflektierten. Diese Struktur der Spaltung, die sich auch im unmittelbaren Erleben schon in Form der Retention, nämlich als Bruch zwischen eigentlichem Ereignis und kognitiver Verarbeitung auftut48, konstitu45

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Vgl. Steininger, Christian: Zeit als kulturwissenschaftliche Schlüsselkategorie. Ein Überblick zum Stand der Forschung, in: Faulstich, Werner / Steininger, Christian (Hgg): Zeit in den Medien – Medien in der Zeit, München 2002, S.9-44, S.13. Auch aus Sicht der Neurophysiologie ist die Gegenwart kein Zeitpunkt, sondern ein „Zeitintervall“, und die Zeit selbst erweist sich „auf der formalen Ebene neuronaler Operationen als diskret, ganz entgegen unserer alltäglichen Erfahrung der Zeit als einem Kontinuum.“ Vgl. Fetz, Uta: Die Zeit – eine Erfindung des Gehirns? In: Kreuzer, Johann / Mohr, Georg (Hgg): Die Realität der Zeit, München 2007, S.137-149, S.137ff. Rosa 2005, S.26. Zur Evolution gesellschaftlicher Zeit-Bilder vgl. Rammstedt, Otthein: Alltagsbewusstsein von Zeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg.27 (1975), S.47-63. Husserls Begriff der Retention wird in diesem Sinne von Maurice Merleau-Ponty in einem Aufsatz aus dem Jahr 1945 reformuliert: „Ich ziehe nicht durch eine Reihe von Jetzt-Punkten hindurch, deren Bild ich bewahrte und die aneinandergereiht eine Linie ergäben. In jedem Augenblick, der kommt, erfährt der vorangegangene eine Modifikation: ich habe ihn noch im Griff, er ist noch da, und doch vergeht er bereits; um ihn zu bewahren, muss ich schon eine dünne Zeitschicht durchdringen.“ Merleau-Ponty, Maurice: Die Zeitlichkeit, in: Köveker, Dietmar / Niederberger, Andreas (Hgg): ChronoLogie. Texte zur franzö-sischen Zeitphilosophie des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2000, S.75-103, S.85.

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Einleitung

iert aber gleichzeitig die Erfahrung der Zeit auch als einen grundsätzlichen Mangel von Gegenwart und widerspricht auf diese Weise allen präsenzmetaphysischen Zeit-Konzepten, die Zeit als kontinuierliche Abfolge und Gegenwart als Anwesenheit zu konstruieren versuchen.49 Denn Gegenwärtigkeit kann im Bewusstsein niemals selbstevident gegeben sein, da Bewusstsein sich gerade durch seinen Bezug auf Nicht-Gegenwärtiges charakterisiert. Der grundsätzliche Mangel, der im Zeitbewusstsein auf diese Weise zutage tritt, bildet auch die psychologische Grundstruktur des ödipalen Subjekts, dessen präjudizierte Einheit sich immer als imaginär, als aufgeschoben und nicht-gegenwärtig zu erkennen gibt: „Das begehrende Subjekt erkennt sich selbst als vielfach; befriedigt in Vergangenheit und Zukunft, Mangel verspürend in der Gegenwart.“50 Da im Zeitbewusstsein also immer eine Vermittlung des Abwesenden gegeben ist, lässt Zeit sich auch als Struktur der kognitiven Repräsentation begreifen, die, wie Ralf Beuthan in seiner kleinen Medienphilosophie der Zeit in Anlehnung an Jacques Derrida dargelegt hat, als eine Form grundlegender „Medialität“ bezeichnet werden kann.51 Medial ist an ihr insbesondere das Phänomen einer „abweichenden Bewegung“52: Das ursprüngliche Ereignis kann niemals identisch, niemals so, wie es tatsächlich passiert ist, im Bewusstsein bleiben. Indem die Wahrnehmung medialisiert wird, wird sie einer Verzerrung unterzogen, die als Differenz zwischen Ereignis und Repräsentation im Bewusstsein bleibt. Diese „nachträgliche Umformung der Zeitlichkeit durch das Bewusstsein“ 53 geschieht nicht selbst in der Zeit, sie ist Zeit: Indem ein Nicht-Gegenwärtiges jedem Bewusstseinsakt als Uneinholbares vorausgesetzt ist, entsteht ein Intervall zwischen dem performativen und dem referenziellen Aspekt des Bewusstseins, das als ‚Zeit’ erfahren wird. Entscheidend für das Zeitbewusstsein ist also „eine Struktur der Nachträglichkeit“, die „gar nicht an eine ursprüngliche Gegenwart gebunden ist“, vielmehr „allenthalben nur eine sekundäre, d.h. durch den Rückbezug vermittelte ‚Gegenwart’ erkennen“ lässt – „und zwar dort, wo es strukturell nur eine ‚absolute’, d.h. prinzipiell nicht-gegenwärtige Vergangenheit gibt.“54 Diese Medialisierung verweist auf ein philosophisches Problem, das als das ‚Paradox des Ereignisses’ bezeichnet werden könnte und das für die literarische Auseinandersetzung mit der Zeit von zentraler Bedeutung ist: Wenn ein Ereignis einerseits als jener Moment gefasst werden kann, in dem „alle institutionalisierten, konventionalisierten, beherrschten, im eigenen Vermögen stehenden 49

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Vgl. hierzu Tholen, Georg Christoph: Risse im Gefüge der Zeit. Zur Dekonstruktion von Begriffsbildern, in: Keller, Ursula (Hg): Zeitsprünge, Berlin 1999, S.75-91, S.76ff. Norton, Anne: Zeit und Begehren, in: Gimmler, Antje / Sandbothe, Mike / Zimmerli, W. Ch. (Hgg): Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte, Darmstadt 1997, S.162-177, S.164. Vgl. Beuthan, Ralf: Medienphilosophie der Zeit, in: Sandbothe, Mike / Nagl, Ludwig (Hgg): Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, S.21-36, S.28ff. Beuthan 2005, S.31. Mecke 1990, S.13. Beuthan 2005, S.30.

1. Medialität der Zeit: Ein theoretischer Rahmen

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Äußerungsformen auf eine unabsehbare Weise überschritten, ja überrumpelt werden“55, dann tritt andererseits das Problem zutage, dass es in der medialen Struktur des Bewusstseins seinen Ereignischarakter notwendig einbüßen muss, also ‚als Ereignis’ nicht länger fassbar bleibt: „Gewiss besteht das Ereignis nur in dem Augenblick, in dem es geschieht, aber als Ereignis wird es erst in dem Moment wahrgenommen, wo es vom Gedächtnis erkannt wird, wo das Gedächtnis sich seiner bemächtigt und es wie einen Hemmschuh der Vergangenheit fixiert. Das Ereignis scheint aus sich selbst eine Bifurkation der Zeit zu bilden: gleichzeitig die Intimität der Vergangenheit und den Bruch der Gegenwart, gleichzeitig das, was eintritt und das, was wiederkehrt.“56

Wie Derrida darlegt, ist das „Sprechen vom Ereignis“ also „als Mitteilung von Wissen oder Information“ grundsätzlich problematisch, da „das Sprechen als Sprechen schon aus strukturellen Gründen immer nach dem Ereignis kommt“ und damit „einer gewissen Allgemeinheit, einer gewissen Iterierbarkeit, einer gewissen Wiederholbarkeit“ unterworfen ist, durch welche „die Singularität des Ereignisses“ notwendig aufgehoben werden muss.57 Ins literarische Feld übertragen, verweist demzufolge eine Verhandlung des Zeitproblems immer auch auf eine Infragestellung der Möglichkeit authentischer Darstellung, auf ihre grundsätzliche Befangenheit und auf die symbolische Urprägung, die jedem Bewusstseinsakt notwendig vorgeschaltet ist. Denn auch wenn „nicht daran gezweifelt werden kann, dass“ ein Ereignis „stattgefunden hat, bleibt daran nichts als eine Spur im Gedächtnis oder in der Erinnerung übrig, die der Erzähler auf seine Weise übersetzt und wiedergibt“, im Zuge dessen aber notwendig „entstellen und verfälschen“ muss.58 Das gilt umso mehr, als dass gerade in der schriftlichen Repräsentation die Nachträglichkeit der Darstellung besonders deutlich hervortritt. Das Medium Schrift wird so selbst zum Inbegriff jener „Unmöglichkeit, Erinnerung als unvermittelte Präsentation von Vergangenem zu begreifen: das, was erinnert wird, entsteht“ in der schriftlichen Darstellung ebenso wie im Gedächtnis „erst im Prozess seiner Erinnerung und ist nicht einfach ‚da’.“59 Die Ästhetisierung der Vergangenheit erscheint so als Charakteristikum nicht nur jeder literarischen, sondern überhaupt jeder Darstellung der 55

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Müller-Schöll, Nikolaus: Vorwort, in: Ders. (Hg): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S.9-20, S.9. Méchoulan, Eric: Ereignis, Moderne und Gedächtnis, in: Balke, Friedrich (Hg): Zeit des Ereignisses – Ende der Geschichte? München 1992, S.259-280, S.259. Vgl. Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S.21. Michels, Andre: Die Erfindung des Neuen. Zur Kritik der ‚historischen Wahrheit’, in: Müller-Schöll, Nikolaus (Hg): Ereignis. Eine fundamentale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien, Bielefeld 2003, S.77-103, S. 81. Grundmann, Heike: „Mein Leben zu erleben wie ein Buch.“ Hermeneutik des Erinnerns bei Hugo von Hofmannsthal, Würzburg 2003, S.15.

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Wirklichkeit, während auf der anderen Seite die reine Mimesis von einer zeitreflexiven Kunst grundsätzlich in Zweifel gezogen werden muss. Wie die literaturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren gezeigt hat, ist es eben diese Differenzstruktur der Zeit, die bereits im literarischen Zeit-Diskurs um 1900 freigelegt wird.60 Dabei sind es insbesondere die Fragen nach dem Status der Gegenwart und nach „Augenblick und Zeitpunkt“61, die bei Autoren wie Hofmannsthal oder Rilke die Erkenntnis einer kognitiven Struktur der Repräsentation herbeiführen. Der Augenblick scheint hier eine doppelte Bedeutung zu besitzen: Einerseits wird der „stimmungsvolle Augenblick der Gegenwärtigkeit“ als Ausbruch aus der Zeit entworfen, andererseits wird gleichzeitig im Augenblickserlebnis „die grauenhafte Erfahrung sich unaufhörlich entziehender Gegenwart bewusst.“62 Gerade dieses Sich-Entziehen der Gegenwart bedingt nun die Erkenntnis, dass alle Bewusstseinseindrücke mit den Ereignissen, auf die sie sich beziehen, selbst nicht identisch sein können, dass sie vielmehr immer schon als verarbeitete betrachtet werden müssen, die ihre konkrete Form durch das Gedächtnis verliehen bekommen, das die diffuse Vielfalt der originären Wahrnehmung reduziert, indem es sie semantisiert. In einer 1890 erschienenen Studie zur „Entstehung des Zeitbegriffs“ beschreibt der französische Philosoph Jean-Marie Guyau diese zeitkonstitutive Funktion des Gedächtnisses, wobei am artifiziellen Charakter des „Kulissenspiels“ der Erinnerung kein Zweifel bleibt: „Man weiß, dass sich im Theater eine Menge Kulissen unter der Bühne befinden, die bereit stehen, um zu dem Zuschauer hochgezogen zu werden. Diese Kulissen sind die zurückkehrenden Gemälde unserer Vergangenheit. Einige von ihnen sind mehr verblasst, verwischt und vernebelt und erzeugen die Wirkung von Ferne, während andere die Wirkung von Kulissen bewahren. Wir klassifizieren sie nach dem Grad ihrer Intensität und nach der Reihenfolge ihres Erscheinens. Und der Kulissenschieber, das ist das Gedächtnis.“63

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Vgl. insbesondere Steiner, Uwe C.: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke, München 1996. Auch nach Tholen werden im gesamten „Feld des Wissens um 1900“ zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse „dissipative Strukturen“ der Zeit ausfindig gemacht. Vgl. Tholen 1999, S.85ff. Mit diesen beiden von Hans Holländer bereits 1984 definierten Grundkategorien des ästhetischen Zeit-Diskurses wird auch wieder auf den Widerspruch zwischen der Zeit des Bewusstseins und der physikalischen oder gesellschaftlichen Zeit verwiesen. Denn auf „Zeitmessung bezieht sich der Zeitpunkt. Die Zeit des Bewusstseins meint der ‚Augenblick’.“ Holländer, Hans: Augenblick und Zeitpunkt, in: Thomsen, Christian W. / Holländer, Hans (Hgg): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft, Darmstadt 1984, S.7-21, S.8. So bezüglich des Zeitmotivs in den Werken Hofmannsthals: Hörisch, Jochen: Sinnende Zeit. Herder, Hofmannsthal, Gernhardt – drei Stadien poetischer Zeiterfahrung, in: Bieber, Hans-Joachim / Ottomeyer, Hans / Tholen, Georg Christoph (Hgg): Die Zeit im Wandel der Zeit, Kassel 2002, S.319-334, S.326.

1. Medialität der Zeit: Ein theoretischer Rahmen

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Das Gedächtnis wird also in der Literatur der klassischen Moderne mehr und mehr als ein Medium begriffen64, das die Inhalte, die es vermittelt, selbst beeinflusst. Die mediale Verzerrung scheint dabei schon dem einfachsten Akt der Kognition zugrunde zu liegen: Schnitzlers Anatol etwa vermag selbst das Erlebnis eines Kusses – noch während dieser passiert – nur in der Rückschau, also durch das Gedächtnis wahrzunehmen und muss so konstatieren, dass es „eigentlich schon vorüber“65 ist, während es noch stattfindet. Die Darstellung der Vergangenheit durch das Gedächtnis bildet ein Intervall zwischen ursprünglicher und medialisierter Wahrnehmung aus, das unmittelbar als Distanzierung und damit als Zeit erfahren wird. Auch in den Romanen Thomas Manns und Robert Musils wird die Zeit als Differenzstruktur arrangiert, die Gegenwart in das kognitive Muster eines Intervalls aufbricht, in dem sie „niemals rein selbst, sondern nur in der Differenz, die sich als Vergangenes und Zukünftiges ausdrückt“66, erscheinen kann. Die „radikale Frage nach der Aktualität zersprengt“ in der Literatur der klassischen Moderne „die kulturellen Konstrukte der Zeiterfahrung; sie sucht nach dem kleinsten Atom der Erfahrung und stößt paradoxerweise auf eine Leerstelle der Nicht-Erfahrung, auf das reine Zwischen, den Bruch zwischen Vergangenheit und Zukunft.“67 Im Zentrum steht auch hier der Zusammenhang von Zeit- und Darstellungsproblematik: Die Unverfügbarkeit des zeitlich Abwesenden führt zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber allen literarischen oder außerliterarischen Versuchen der Beschreibung von Vergangenheit und damit grundsätzlich gegenüber jeder – sei es linearen, sei es zyklischen – Modellierung von Zeit. Da Zeichen niemals auf Realität verweisen können, da diese zeitlich immer schon distanziert ist und nur noch verfälscht wiedergegeben werden kann, kommt es zu einer vollständigen „Dispensierung“ des Referenzsystems von Signifikant und Signifikat und damit der „gesamten herkömmlichen Semantik“, und zwar „lange bevor die Sprachwissenschaft in de Saussures Theorie dieses Phänomen abstrakt als wissenschaftliches formuliert.“68 Zeit erscheint nun als ein radikal diskontinuierliches Phänomen, das mit den symbolischen Strukturen, in welchen die Philosophie sie seit Jahrtausenden zu fassen 63

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Guyau, Jean-Marie: Die Entstehung des Zeitbegriffs. Hg. von Hans Hablitz und Frank Neumann, Cuxhaven / Dartford 1995, S.81. Guyau vergleicht das Gedächtnis etwa mit einem Phonographen. Vgl. Guyau 1995, S.61. Schnitzler, Arthur: Anatol. Dramen 1889-1891, Frankfurt a.M. 2004, S.65. Eikel, Kai van: Zeitlektüren. Ansätze zu einer Kybernetik der Erzählung, Hamburg 2002, S.157. Assmann 1999, S.9. Wunberg, Gotthard: Historismus, Lexemautonomie und Fin de Siècle. Zum DécadenceBegriff in der Literatur der Jahrhundertwende, in: Arcadia 30 (1995), S.31-61, S.31. Aleida Assmann führt aus: „Lange bevor postmoderne Theoretiker die moderne Logik historischer Zeitkonstruktion in Frage gestellt haben, haben sich die Künstler gegen sie gewehrt und aus ihr herausmanövriert. Um 1900 lässt sich in der Literatur beobachten, wie der Leidensdruck an dieser Zeitkonstitution zunimmt und sich zu einem Impuls konzentriert, der das gängige Zeitmuster zerschlägt.“ Vgl. Assmann 1999, S.54.

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und zu beschreiben versucht hat, selbst in unhintergehbarer Weise verwoben ist. Die gesamte symbolische Ordnung wird dem Verdacht ausgesetzt, eine Verfälschung der ursprünglichen Wahrnehmung und der eigentlichen Realität zu sein; die Erkenntnis einer medialen Struktur der Zeit verknüpft sich mit der Unmöglichkeit, temporale Kontinuitäten zu erzeugen, die über den Moment hinaus Gültigkeit beanspruchen können. Wie Aleida Assmann gezeigt hat, führt von einer solchen Perspektive auf die Zeit allerdings „kein Weg zur Zeit als einer Dimension der Kultur, geschweige denn zur Zeit als einer kulturellen Konstruktion“, als welche sie den vorangegangenen Überlegungen gemäß in der Gegenwartsliteratur im Wesentlichen betrachtet wird. Neben unterschiedlichen Krisensymptomen des subjektiven Zeiterlebens scheinen sich die literarischen Zeit-Diskurse der klassischen Moderne und der Gegenwart also auch durch abweichende theoretische Perspektiven zu kennzeichnen: Erfasst die Literatur um 1900 die philosophische Ungreifbarkeit der Zeit, hebt die Literatur der Gegenwart in erster Linie die Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen kulturellen „Konstruktionen von Dauer“ hervor, mit denen die Kulturen nach Assmann der „philosophischen Frage nach der Zeit“ gerade zuvorzukommen versuchen. Kulturelle Zeit-Konzepte „verbauen“ nach Assmann kraft ihrer tief im kollektiven Bewusstsein verankerten Selbstverständlichkeit eine philosophische Blickweise und damit auch das Erlebnis der realen Diskontinuität der Zeit. Stattdessen stellen sie „die Kontinuität von Macht und die Geltung von Wahrheit“ sicher und schaffen so „einen gemeinsamen Bezugsraum“, „der als ein stabilisierendes Netz individuelle Wahrnehmung steuert, Bewertungskriterien für Erfahrung und Lebensdeutung zur Verfügung stellt, Handlungsmöglichkeiten eröffnet und Orientierungen dafür vorgibt. Kulturelle Formungen der Zeit sprechen also immer schon in unsere eigensten persönlichen Erfahrungen hinein, das individuelle Erleben ist nicht ablösbar von überindividuellen kulturellen Mustern, die der Zeit ihre radikale Irrationalität und Unzugänglichkeit nehmen.“69

An den Zeit-Reflexionen der Gegenwartsliteratur fällt dabei ins Auge, dass sie selbst dort, wo sie auf ersten Blick die bekannten philosophischen Bemühungen um eine Bestimmung des ‚Wesens der Zeit’ aufzurufen scheinen, in Wirklichkeit eher schrullige Entgleisungen darstellen, in denen immer nur weitere unter vielen möglichen Privat-Konstruktionen von Zeit entworfen werden. Die „Verrätselung“70 des Zeitbegriffes gibt auf diese Weise nicht mehr nur eine generelle Unfähigkeit zu erkennen, das Phänomen ‚Zeit’ in Modellen und Metaphern philosophisch zu fassen; vielmehr erscheint der Entwurf immer neuer Zeitkonzepte gleichzeitig auch als unumgänglich, wobei die fehlende Glaubhaftigkeit und die endgültige Zerschlagung aller verbindlichen Regulierungen der Zeit offen69 70

Vgl. Assmann 1999, S.8f. Nach Kühn besteht in der Verrätselung der Zeit eines der wesentlichen Merkmale der neueren Zeit-Literatur. Vgl. Kühn 2005, S.1012ff.

1. Medialität der Zeit: Ein theoretischer Rahmen

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sichtlich ein theoretisches und literarisches Chaos erzeugt haben, in dem sich sowohl die Protagonisten als auch die Autoren notwendig verirren müssen. Im Unterschied zur philosophischen Dimension des literarischen Zeit-Diskurses um 1900, der die reale Diskontinuität der Zeit zum Ausdruck zu bringen versuchte, kennzeichnet sich die Gegenwartsliteratur also durch eine Pluralisierung und Ästhetisierung der „Konstruktionen von Dauer“, wobei die Einsicht in die Unmöglichkeit mimetischer Darstellung jedoch weiterhin bestimmend bleibt. Dieser Wandel spiegelt sich nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der grundlegenden Medialität des individuellen Zeitbewusstseins, die auch in der Gegenwartsliteratur immer wieder auszumachen ist, die aber gleichzeitig durch andere, irreführende und gegenteilige Erfahrungen kontrastiert und absichtlich überdeckt wird. Dabei zeigt sich eine Figur der sinnlichen Realpräsenz von Vergangenheit als vorherrschend, die jede Rede von Aufschub, Spur und Abwesenheit ad absurdum führen zu wollen scheint. So werden etwa für den Protagonisten von Kraussers UC Erinnerungen zu neuen, gegenwärtigen Erlebnissen, wodurch seine Vergangenheit für ihn tatsächlich präsent, die Unterscheidung zwischen Gegenwart, Erinnerung und Traum jedoch nahezu unmöglich wird, da alle Zeit- und Erlebnisebenen gleichberechtigt sind. Gerade der Übergang zwischen Gegenwart und Nicht-Gegenwart, der eigentlich die Erfahrung der Zeit ausmacht, büßt seine Selbstverständlichkeit ein: „Warum bin ich noch immer in München? Seltsam. Ich öffne die Augen und sitze auf der Ottomane in meiner Pariser Wohnung Rue Bonaparte.“71

Auch David Mahler, dem Zeit-Forscher aus Daniel Kehlmanns Roman Mahlers Zeit, gelingt es nicht mehr recht, zu seinen Wahrnehmungen und Erinnerungen eine Distanz aufzubauen: Die Wahrnehmungs- und Gedächtnisbilder frieren immer wieder im Augenblick ein und bleiben ihm auch dann noch vor Augen, wenn er diese schließt oder sich abzuwenden versucht. In Thomas Lehrs 42 schließlich bleibt die Zeit vollends und tatsächlich stehen: Der Protagonist muss hier in einem unendlich verweilenden Augenblick fortexistieren, wobei ihm nun gerade die Vorstellung, die Zeit könnte doch wieder einsetzen und der Moment endlich vorbeigehen, zum Inbegriff der Erlösung wird. Die Uneinholbarkeit des Ereignisses wird in diesen Darstellungen aufgehoben, das Verhältnis von Flüchtigkeit und Präsenz nahezu ins Gegenteil verkehrt. Auch in anderen Werken der Gegenwartsliteratur, die weniger eindeutig mit Zeit zu tun haben, finden sich immer wieder Momente ‚magischer Präsenz’, die in ihrer Struktur an jene ästhetischen Augenblicke erinnern, die in der Literatur der Moderne als epiphanische Übereinstimmungen von Denken und Handeln und damit als mystische Aufhebungen der Zeit zu entwickeln versucht wurden. Wenn jedoch der Held von David Wagners Roman Meine nachtblaue Hose nach vollendeter Übertölpelung 71

Krausser 2003, S.76.

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Einleitung

seines Gegenwartssinns mit seinem Auto symbolträchtig gegen die Wand fährt72, wird deutlich, dass diese Epiphanien nicht nur ihren utopischen Charakter endgültig eingebüßt haben, sondern dass sie heute eigentlich Symptome eines gänzlich desorientierten Zeitbewusstseins sind. Eher als von einer „Marginalisierung“ des Augenblicksmotivs, die Bruno Hillebrand für die Literatur der ‚Postmoderne’ ausgemacht hat, müsste also bezüglich der neueren deutschen Zeitliteratur von einer radikalen Umwertung gesprochen werden.73 Denn hier ist es nicht mehr die ‚Mittelbarkeit’, sondern gerade die Unmittelbarkeit der Erfahrungen, die die Überprüfung ihres Realitätsgehalts verhindert: Immer wieder müssen sich die Romanhelden an äußere Instanzen wenden, um sich zu vergewissern, welche ihrer Erlebnisse real und welche bloß eingebildet sind, wobei nicht länger die Ursprünglichkeit der Wahrnehmung, sondern ganz im Gegenteil gerade ihre Konventionalität, also ihre gesellschaftliche Konsensfähigkeit als Maßstab für die Wahrheit von Informationen gilt. Nur ist es gerade diese Konvention, die nicht mehr zu existieren scheint: Mit der Zahl der Befragten wächst beständig auch die Menge der Darstellungen und damit der temporalen Konstruktionen. Insgesamt lässt sich in den Zeitromanen der Gegenwart eine weitgehende Entregelung aller bislang gültigen temporalen Muster ausmachen, wobei nicht nur klassische Zeit-Motive wie ‚Flüchtigkeit’ oder ‚intensiver Augenblick’ einen Bedeutungswandel erleben, sondern auch grundsätzliche Fragen der Literatur – etwa nach dem Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit – unter völlig neuen Vorzeichen betrachtet werden müssen. Die Reminiszenzen auf Darstellungsmuster aus Film, Fernsehen oder digitalen Medien, die den ungewöhnlichen Zeiterfahrungen in den neueren Zeitromanen offenkundig zugrunde liegen74, machen zudem deutlich, dass die Reflexion der Zeit in der Gegenwartsliteratur nicht mehr nur allein im Kontext eines Wandels der gesellschaftlichen Zeitstrukturen und -ideologien, sondern auch im Zusammenhang mit einem medialen Führungswechsel zu betrachten ist: Zeitvorstellungen ändern sich „in Korrelation, [...] wenn nicht sogar in Dependenz [...] zu sich historisch wandelnden, medialen Parametern“75, wobei die in der Medienphilosophie verhandelten Visionen eines im Zuge dieser Entwicklung entstandenen neuen Zeitbewusstseins nicht selten zwischen „apokalyptischen Schreckbildern“ und „medien-euphorischen Heilsvisionen“ schwanken.76 Immer wieder 72 73

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Vgl. Wagner, David: Meine nachtblaue Hose, Berlin 2000, S.161. Vgl. Hillebrand, Bruno: Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute, Göttingen 1999, S.144. Zur Virulenz von Medienreflexionen in der deutschen Gegenwartsliteratur vgl. Wehdeking, Volker: Film, Musik und Neue Medien in der deutschen Gegenwartsliteratur, in: Poppe, Sandra / Seiler, Sascha (Hgg): Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur, Berlin 2008, S.205-221. Beuthan 2005, S.22. Zu diesen unterschiedlichen „medienphilosophischen Grundpositionen“ vgl. Sandbothe, Mike: Mediale Zeiten. Zur Veränderung unserer Zeiterfahrung durch die neuen

1. Medialität der Zeit: Ein theoretischer Rahmen

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wird dabei die These vertreten, dass die durch digitale und audiovisuelle Medien erzeugten „Konstruktionen von Dauer“ der Formation einer linearen Zeit grundsätzlich entgegenstehen und stattdessen „netzförmige“ Strukturen begünstigen: „Die Prozesse der Synchronisation zeiträumlich entlegener Vorgänge und der ständigen Verknüpfung globaler Daten und Medien verlaufen nicht linear, sondern eher in netzförmiger Verzweigung. Statt von Punkt und Linie ist angemessener von Punkten und Feldern zu sprechen; im Zeitfeld kommt es zu wechselnden Konstellationen einer Vielzahl von Zeitpunkten.“77

Von zentraler Bedeutung ist darüber hinaus insbesondere die Frage nach dem Status der Gegenwart im medialen Bezugsfeld. Denn die audiovisuellen Medien wie das Fernsehen zeichnen sich insbesondere durch eine Rhetorik des Gegenwärtigen aus, die der medialen Grundstruktur des Zeitbewusstseins entgegenzustehen scheint: Was in ihnen zu sehen ist, scheint nicht nur tatsächlich im Augenblick stattzufinden, sondern behauptet sich als mit dem dargestellten Geschehen identisch, wobei die endlose Reproduzierbarkeit der Bilder die tatsächliche Flüchtigkeit der Ereignisse zumindest ‚virtuell’ aufhebt. Der Medientheoretiker Götz Großklaus spricht in diesen Zusammenhang von einer „Tyrannei der Nähe“, bei der das „mediale Erlebnis einer unmittelbaren Augenzeugschaft“ zur „Einebnung symbolischer Differenz und symbolischen Abstands“ führe78 – eine Diagnose, die in den deutschsprachigen Zeitromanen der Gegenwartsliteratur offensichtliche Parallelen findet.79 Von besonderem Interesse für eine Untersuchung, die sich die Erforschung der Eigenarten des gegenwärtigen literarischen Zeit-Diskurses zur Aufgabe macht, sind demzufolge die Reflexionen, die in der Literatur zum Zusammenhang von Zeitbewusstsein und konkreten Medien auszumachen sind. Dies gilt umso mehr, als Literatur heute grundsätzlich in dem Bewusstsein entsteht, selbst immer weniger als „Leit- und Schlüsselmedium“ der Gesellschaft zu gelten, sondern gegenüber „nicht-literalen“ Medien zunehmend an Boden zu verlieren.80 Auch dieser Prozess findet in den Jahren um 1900, in denen neue Medien wie die Fotografie und der Film erstmals kulturellen Einfluss gewinnen, bereits hinsichtlich seiner Auswirkungen auf das Zeiterleben Beachtung. 81 Die Reflexion der Zeit in der Literatur führt auch hier zu einer Analyse der temporalen

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Technologien, in: Hammel, Eckhard (Hg): Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien, Essen 1996, S.133-156, S.134ff. Großklaus, Götz: Medien-Zeit, Medien-Raum. Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, Frankfurt a.M. 1995, S.41. Großklaus, Götz: Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit, Frankfurt a.M. 2004, S.180. Andererseits vollzieht sich nach Derrida „heute auf dem Feld der Technik“ eigentlich gerade ein „Gespenstisch-werden des Bildes“, welches das Brüchige der Zeit in besonderer Weise hervortreten lässt. Vgl. Derrida 2003, S.41. Vgl. u.a. Segeberg, Harro: Literatur im Medienzeitalter, Darmstadt 2003, S.4f.

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Einleitung

Eigenstruktur der jeweiligen Medien82, wobei der wesentliche Konflikt bereits zwischen dem traditionellen Medium Text auf der einen Seite und den ‚neuen’ bildlichen Medien auf der anderen Seite ausgemacht wird. Wie Uwe Steiner verdeutlicht hat, erscheint es daher als sinnvoll, auch die literarische Reflexion eines Zusammenhangs von Zeit und Medialität historisch zu kontextualisieren: „Auffällig konstant macht die Schrift in Zusammenhang mit Problemen der Zeit auf sich aufmerksam. Das gilt für die Epoche ihrer Hochkonjunktur, in der die Literatur eine bis heute nachhaltig wirkende Blüte erlebt, wie für jene Phase ein Jahrhundert später, als das Monopol ihres Mediums von neuen Aufzeichnungsmedien gebrochen wird, als auch für heute, wo viele entweder apokalyptisch oder affirmativ das Ende der Gutenberg-Galaxis heraufdämmern sehen. In einer Situation, in der das Unbehagen zumal an der wuchernden Medienkultur sich inflationär in Gestalt chronokritisch verfahrender Verlustrechnungen artikuliert, tut man gut daran, historische Fundamente freizulegen, denen der Zusammenhang von Zeitproblemen und Medien aufruht.“83

2. Zeitmotivik als literarischer Meta-Diskurs Als Ausgangsthese der folgenden Untersuchungen soll zunächst festgehalten werden, dass einer ersten Erschütterung des linearen, historischen Zeitbewusstseins, die in der Literatur um 1900 ihren Ausdruck findet, gegenwärtig offenbar eine zweite nachfolgt, die nicht mehr nur auf das Zerbrechen der alten Sinnund Zeitmuster, sondern auf ihre teilweise bereits vollzogene Ablösung durch neue, pluralisierte Formationen reagiert, und dass diese Entwicklung mit dem medialen Führungswechsel in Verbindung zu bringen ist, der im Verlauf des 20. Jahrhunderts offensichtlich stattgefunden hat. Mit diesen beiden Zäsuren können drei vollkommen unterschiedliche, jeweils durch konkrete Zeitparadigmen charakterisierte Phasen der Moderne – hier verstanden als die gesamte geistesgeschichtliche Epoche zwischen „Sattelzeit“84 und Gegenwart – voneinander differenziert werden. Die Synchronisation der Gesellschaft, die bereits mit der Erfindung der Räderuhr ihren Anfang nimmt85, führt in der Neuzeit zunächst 81

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Vgl. Kern, Stephen: The Culture of Time and Space. 1880 – 1918, with a new preface, Cambridge (Massachusetts) / London 2003, S.67ff. Vgl. auch Simonis, Anette: Literarischer Ästhetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen Kommunikation der Moderne, Tübingen 2000 (a), S.40. Steiner 1996, S.18f. Vgl. Koselleck, Reinhart: Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, in: Ders. / Brunner, O. / Conze, W. (Hgg): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S.647-691. Vgl. Gendolla, Peter: Die Einrichtung der Zeit. Gedanken über ein Prinzip der Räderuhr, in: Thomsen, Christian W. / Holländer, Hans (Hgg): Augenblick und Zeitpunkt. Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft, Darmstadt 1984, S.4758.

2. Zeitmotivik als literarischer Meta-Diskurs

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zur Entwicklung einer kontinuierlichen, durch historischen und kausalen Zusammenhang gekennzeichneten Einheitszeit, mit der prinzipielle Sinnversprechen der vorangegangenen Epochen verweltlicht und dynamisiert, so aber gleichzeitig auch konserviert werden. Spätestens um 1900 gerät dieses Zeit-Konzept dann in eine tiefe Krise, bei der die Verbindungslosigkeit und Flüchtigkeit der Zeitpunkte ins Bewusstsein gerät. Zeit bleibt dabei im wesentlichen ans Prinzip der linearen Folge gebunden, doch wird jede Konstruktion eines inneren Zusammenhangs dieser Folge nun als aussichtslos erkannt.86 Gleichzeitig treten bereits erste Anzeichen einer Pluralisierung der Zeitgestaltungsmuster zutage, die sich in der Gegenwart zu einem völlig neuen Umgang mit der Zeit verdichten, in dem der Anspruch auf Integration und Einheitlichkeit von vornherein nicht mehr gegeben ist und ‚die Zeit’ in einer Vielfalt immer nur situativ erzeugter Eigenzeiten aufzugehen scheint. Diese Entwicklung spiegelt sich im literaturgeschichtlichen Wandel der für die jeweiligen Epochen charakteristischen Erzählkonventionen.87 Dabei hat nach Paul Ricoeur Literatur insofern immer schon mit der Frage nach der Zeit zu tun, als dass sie im Zuge der Erzählens selbst Zeit gestaltet und modelliert. Denn „die Zeit wird in dem Maße zur menschlichen, wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.“88 Die ‚Erzählung’ kann nach Kai van Eikels als die „Konfiguration der Zeit“ betrachtet werden, mit der der Mensch „einiges von dem, was er getan hat oder hätte tun können, was ihm geschehen ist oder geschehen könnte, zu Fabeln“ formt, um damit der „zerrissenen Zeit“ und der „zerspannten Seele eine gewisse Fassung zu geben.“89 Insofern aber deutet eine literarische Auseinandersetzung mit der Zeit auf eine Metareflexion der Literatur hin, welche sich selbst als wesentlichen Produzenten der kulturellen „Konstruktionen von Dauer“ erkennt und über ihre soziale Rolle zu reflektieren beginnt. In der ästhetischen Entwicklung der Literatur um 1900 fällt die Konvergenz zwischen der Kritik am linearzeitlichen Schematismus und der Entwicklung einer avantgardistischen Abkehr von traditionellen Formen des Erzählens geradezu ins Auge: Literatur setzt sich zur Wehr gegen „die kausal-lineare Moti86

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Noch 1989 konstatiert Rainer Zoll das Nebeneinander von kontinuierlicher und digitaler Zeitvorstellung. Einerseits stehe eine um sich greifende „Unfähigkeit, im Jetzt zu leben“, mit der Herrschaft des „Stundenplans“ über unseren Alltag in Zusammenhang, während andererseits eine Fokussierung auf das gegenwärtige Erleben jedes geschichtliche Bewusstsein zerstöre. Doch „Zeit ist von ihrem Begriff her ein Kontinuum, ein Fließen; sie ist Bewegung, Prozess, kurz, Leben. Zeit, die keine Geschichte mehr kennt, die keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr hat, ist keine Zeit mehr“, sie zerfällt „in unverbundene Zeitfragmente“. Vgl. Zoll, Rainer: Krise der Zeiterfahrung, in: Ders. (Hg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-33, S.9ff. Vgl. vor allem: Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. v. Edward Kowalski und Michael Wegner. Frankfurt a. M. 1989. Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, München 1988, S.13. van Eikels 2002, S.60.

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vation erzählter Ereignisse in Form eines psychologisch nachvollziehbaren und geschlossenen Biographiemodells“ und gegen die „auktoriale Sinnstiftung durch das Erzählte, die Didaxe in der Beglaubigung einer Ordnung der Welt, in der die Einheit des Besonderen im Allgemeinen transparent wird.“90 Erzählen bedeutet eine konservative Bestätigung jener temporalen Sinnmuster, deren Glaubwürdigkeit gerade in Zweifel geogen wird. In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur hingegen findet seit einigen Jahren eine „Renaissance des Erzählens“91 statt, mit der der Wirklichkeit „in der Fiktion“ nun offenbar „wieder Gestalt und Fülle“92 verliehen werden soll.93 Wie die erwähnten Beispiele aber bereits erkennen lassen, steht die Wiedergeburt im Zeichen der Veränderung. Denn wenn die Zeit, wie in den meisten der genannten Werke üblich, kein festes Gefüge der Handlung mehr liefert, wenn sie den Thesen des Samuel Kurthes folgend gar das Subjekt als ihre Ordnungsinstanz entlässt, bedeutet das, dass auch der Zeit-Form des Narrativs kein orientierendes Potenzial zugesprochen wird. Die Romane formieren also anders als die Entwicklungsromane des 18. und 19. Jahrhunderts mit der Geschichtlichkeit einer biographischen Entwicklung keine Vorstellung von Zeit94, sondern konstruieren solche Geschichtlichkeit bloß, wobei durch die Unglaubwürdigkeiten und Unstimmigkeiten der Handlung die narrative Zeitform gerade als Konstruktion erkennbar wird. Wie nicht zuletzt die Autoren selbst immer wieder betonen, wäre die Diagnose einer in der ‚Renaissance des Erzählens’ zum Ausdruck kommenden Abkehr von der Moderne deshalb verfehlt; vielmehr scheint es die Tradition einer anderen, eher spielerischen und ironischen und dabei durchaus narrativen Moderne zu sein, auf die sich die neueren Zeit-Autoren in großen Teilen beziehen und die sich insbesondere durch Vorbilder wie Thomas Pynchon, Italo Calvino, Vladimir Nabokov oder Jorge Luis Borges markieren lässt. Daniel Kehlmann erläutert in einem Interview: 90

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Vgl. Scherer, Stefan: Linearität – Verräumlichung / Simultaneität – Selbstinvolution. Texturen erzählter Zeit 1900-2000, in: Simonis, Anette / Simonis, Linda (Hgg): Zeitwahrnehmung und Zeitbewusstsein der Moderne, Bielefeld 2000, S. 335-358, S.338. Vgl. Herholz, Gerd (Hg): Experiment Wirklichkeit. Renaissance des Erzählens? Poetikvorlesungen und Vorträge zum Erzählen in den 90er Jahren, Essen 1998. Freund, Winfried: „Neue Objektivität“. Die Rückkehr zum Erzählen in den neunziger Jahren, in: Freund, Wieland / Freund, Winfried (Hgg): Der deutsche Roman der Gegenwart, München 2001, S.77-99, S.78. Nicht zuletzt Helmut Krausser hat sich immer wieder für eine Rückkehr zum Erzählen ausgesprochen und ist auch in dem Sammelband Wenn der Kater kommt von Martin Hielscher, in dem diese neue Tendenz der Gegenwartsliteratur exemplarisch vorgestellt wird, mit einer Geschichte vertreten. Vgl. Krausser, Helmut: Kuppelgeschoss, in: Hielscher, Martin (Hg): Wenn der Kater kommt. Neues Erzählen – 38 deutschsprachige Autorinnen und Autoren, Köln 1996, S.24-31. Vgl. Göttsche, Dirk: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexionen und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und im 19. Jahrhundert, München 2001, S.66ff. Zu unterschiedlichen „temporalen Mustern von Identität“ vgl. zudem Kessel, Martina: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001, S.80ff.

2. Zeitmotivik als literarischer Meta-Diskurs

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„Ich wehre mich immer wieder gegen die Vorentscheidung, Erzählen mit Abwenden von der Moderne gleichzusetzen. Es gibt unter den jungen deutschsprachigen Autoren viele Anhänger von Nabokov. Das ist symptomatisch. Es gab einen Strang der klassischen Moderne, der in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur ausgeblendet wurde, die ganze spielerisch-experimentelle Tradition von Calvino, von Borges oder eben Nabokov mit seinen Spätwerken ‚Fahles Feuer’, ‚Ada’ und ‚Durchsichtige Dinge’. Die gewinnt heute bei uns langsam den Einfluss, den sie anderswo schon lange hat. Es handelt sich also um den Anschluss an eine lange ignorierte Tradition der Moderne.“95

Auch die hier genannten Autoren lassen in ihren Werken eine lebhafte Faszination für das Thema ‚Zeit’ erkennen – Nabokov vor allem in Ada or Ardor, Borges unter anderem in der Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen. Die literarische Pluralisierung der Zeit, die Borges in der genannten Erzählung vornimmt, ist Ausdruck eines ästhetischen Programms, das in ähnlicher Form auch den Romanen Helmut Kraussers oder Michael Wallners zugrunde liegt: „In allen Fiktionen entscheidet sich ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten für eine und eliminiert die andere; im Werk des schier unentwirrbaren Ts’ui Pên entscheidet er sich – gleichzeitig – für alle. Er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen. Daher die Widersprüche im Roman.“96

Die Zeit der Literatur ist bei Borges weder identisch mit der historischen Zeit, noch ist sie eine rein phantastische Gegenwelt zu ihr; vielmehr bleiben in ihr alle nichteingelösten Optionen, alle früheren Verzweigungen des Möglichkeitsbaumes, die nicht Realität geworden sind, virtuell erhalten. Auf diese Weise entsteht anstelle einer linearen Handlungslogik ein Geflecht unterschiedlicher Zukünfte, Vorgeschichten und Parralelwelten, die alle gleichberechtigt sind und durch ihre Unvereinbarkeit den Konstruktionscharakter jeder einzelnen der möglichen Erzählungen vor Augen führen. Entsprechend reflektiert auch der verwirrte Protagonist in Kraussers Roman UC seine prekäre Situation: „Es könnte sein, dass sich manches, was nie geschehen ist, als virtuelle Variante meiner Existenz konstituiert. Das ist vielleicht die Lösung: Alles, dessen ich irgendwann einmal fähig gewesen wäre, ist nachträglich faktisch geworden, gleichberechtigt mit dem tatsächlichen Geschehen.“97 Mit dieser Pluralisierung der Zeit in unterschiedliche Versionen und Verläufe, die die neueren deutschen Zeitautoren in Anlehnung an die Zeitkonzepte bei Borges und Nabokov entwickeln, tritt also die einzelne, konkrete Konstruktion in den Hintergrund, während das Konstruieren selbst in den Fokus gerückt 95

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Zitiert nach: Gollner, Helmut (Hg): Die Wahrheit lügen. Die Renaissance des Erzählens in der jungen österreichischen Literatur, Innsbruck / Wien / Bozen 2005, S.36. Borges, Jorge Luis: Fiktionen. Erzählungen 1939-1944. Deutsch von Karl August Horst, Wolfgang Luchting und Gisbert Haefs, Frankfurt a.M. 2004, S.86. Krausser 2004, S.46.

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Einleitung

wird. Dementsprechend ‚beschreiben’ die Zeit-Forscher bei Krausser, Wallner und Kehlmann eigentlich nicht die Zeit, sie ‚erzeugen’ sie vielmehr, greifen mit ihren Arbeiten verändernd in das Gefüge der Welt ein, anstatt es zu analysieren. David Mahler etwa, der Protagonist von Daniel Kehlmanns Roman Mahlers Zeit, müsste seine mathematischen Formeln, die die Zeit widerlegen sollen, zunächst in einem „Experiment“ zur Anwendung bringen, infolgedessen dann erst die Zeit tatsächlich „verschwimmen“ würde.98 Dennoch kann die literarische Auflösung der Einheitlichkeit der Zeit kaum als ‚postmodernes’ Bekenntnis zu einer hemmungslosen „Lust am Fabulieren“99 gelesen werden. Denn sämtliche Protagonisten der neueren Zeit-Romane erleben solches „Verschwimmen“ der Zeit als vollkommen reale, bisweilen sogar lebensgefährliche Erschütterung ihrer zeitlichen Bezugsverhältnisse oder als Eingriffe anderer, fremder Erzählinstanzen in ihre eigene Biographie; als Koryphäen auf dem Gebiet der Zeitforschung machen sie sich zudem selbst mitschuldig an der Zerstörung grundlegender temporaler Orientierungsmechanismen, der auch ihre eigene Persönlichkeit schließlich zum Opfer fällt. Das ‚postmoderne’ Konzept einer narrativ pluralisierten, von historischer Eindeutigkeit befreiten Zeit, das Autoren wie Borges oder Nabokov noch als Alternative zu einem durch die Vorstellungen der Einförmigkeit und Linearität geprägten Zeitdenken entwickeln konnten, scheint so in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selbst wiederum einer ‚modernistischen’ Kritik unterzogen zu werden100: Zu widerspruchsfrei, so ließe sich mutmaßen, fügt es sich in eine Gesellschaftsordnung, die selbst auf die Integration ihrer verschiedenen Partialsysteme und damit ihrer differierenden Erzählungen und konkurrierenden Erzählinstanzen zunehmend Verzicht leistet. Neben den Veränderungen gesellschaftlicher Zeitstrukturen und dem Zusammenhang von Zeit und Medium, die jeweils auf spezifische Weise in den Romanen zum Ausdruck kommen, soll die Untersuchung auch diese literarische Metareflexion zur Sprache bringen. Ziel ist die Entwicklung einer Typologie, die über den Umweg einer Analyse des Zeit-Diskurses eine inhaltliche und formale Differenzierung unterschiedlicher ästhetischer Ansätze der neueren Literatur ermöglicht. Die Beurteilung der jeweiligen Zeitparadoxien – und somit der erzählerischen Verfahren – hängt hierbei nicht zuletzt davon ab, welches konkrete Zeitkonzept der Roman als sozial verbindlich voraussetzt: So wird die Zeit in Werken, in denen weiterhin die Kritik am Linearzeitmodell und die Entwicklung alternativer Zeitkonzepte im Mittelpunkt steht, notwendig auf völlig andere Art und Weise ‚aus den Fugen’ gebracht als in Romanen, die einen tiefgreifenden historischen Wandel gesellschaftlicher Zeitmuster und individueller Zei98 99

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Vgl. Kehlmann 2001, S.32. Vgl. Förster, Nikolaus: Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre, Darmstadt 1999, S.9. Zur Periodisierung von Moderne, Modernismus und Postmoderne vgl. Zima, Peter V.: Moderne / Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen / Basel 1997, S.323.

2. Zeitmotivik als literarischer Meta-Diskurs

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terfahrung reflektieren. Das Zeitmotiv erscheint auf diese Weise als die Schnittstelle zwischen inner- und außerliterarischen Diskursen, die in den Romanen jeweils auf unterschiedliche Weise fortgeführt, kritisiert oder weiterentwickelt werden.

3. Aufbau und Forschungsstand Die neue Konjunktur der Zeit-Thematik ist bislang von der Wissenschaft in erster Linie für den englischsprachigen Raum zur Kenntnis genommen worden.101Bezüglich der deutschsprachigen Literatur finden sich mehrere Studien zum Zeitmotiv bei Botho Strauß sowie eine Auseinandersetzung mit der Rhetorik des „Gerade-Eben-Jetzt“ in der Pop-Literatur102; eine vergleichende Analyse zum Zeitmotiv bei Peter Kurzeck und Wolfgang Hilbig und damit zwischen west- und ostdeutschem Umgang mit sich verändernden Zeitstrukturen hat zudem Sabine Sistig vorgelegt.103 In einigen Werken wird im Zusammenhang mit anderen Themen auch auf die Zeitthematik eingegangen: So interpretiert zum Beispiel Nikolaus Förster das Zeitmotiv in Urs Widmers Erzählung Der blaue Siphon als ästhetische Reflexion der ‚Renaissance des Erzählens’ und nennt in diesem Zusammenhang noch weitere Romane und Filme, in denen ungewöhnliche Zeitphänomene in diesem Sinne im Mittelpunkt stehen.104 Ansätze zu einem Vergleich zwischen dem Zeit-Diskurs um 1900 und der Literatur der 80er Jahre finden sich zudem in dem bereits zitierten Aufsatz von Stefan Scherer sowie in unterschiedlichen Beiträgen des von Martin Middeke herausgegebenen Bandes „Zeit und Roman“.105 Dem Germanisten Ralf Kühn kommt das Verdienst einer ersten umfassenden Darstellung der Zeitreflexionen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu; die beeindruckende Fülle von Material, die er zusammengetragen hat, lässt an der Virulenz des Themas keinen Zweifel mehr. Obgleich Kühn als An101

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Neben den erwähnten Texten von Nünning und Heise vgl. Smethurst, Paul: The Postmodern Chronotype. Reading Space and Time in Contemporary Fiction, Amsterdam / Atlanta 2000, sowie: Deeds Ermath, Elizabeth: Sequel to History. Postmodernism and the Crisis od Representational Time, Princeton 1992. Eine weitere Studie in deutscher Sprache zieht Vergleiche zu Beckett und Butor: Wagner, Astrid: Konstruktionen zeitlichen Erlebens im zeitgenössischen britischen Roman der achtziger Jahre. Studien zu Romanen von Martin Amis, Ian McEwan, Graham Swift sowie zu Becketts Molloy und Botors L'Emploi du Temps, Trier 1996. Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2003. Sistig, Sabine: Wandel der Ich-Identität in der Postmoderne? Zeit und Erzählen in Wolfgang Hilbigs „Ich“ und Peter Kurzecks Keiner Stirbt, Würzburg 2003. Förster 1999, S.113ff. Vgl. Middeke, Martin (Hg): Zeit und Roman. Zeiterfahrungen im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmen-wechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002.

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Einleitung

lass seiner Untersuchung ebenfalls das gegenwärtig auszumachende neue Interesse an der Zeit benennt, stellt er jedoch nicht die Frage nach den Veränderungen, die sich im Vergleich zu älteren literarischen Auseinandersetzungen mit diesem Thema ergeben, sondern behauptet vielmehr eine epochenübergreifende Kontinuität des literarischen Zeit-Diskurses, der seit der Weimarer Klassik die „unveränderte Zielsetzung der Annäherung an den ‚Tyrannen Zeit’ und der Linderung, wenn nicht Überwindung seiner Herrschaft“ verfolge, weshalb in Kühns Analyse auch ganz ausdrücklich „die Abgrenzung einer Postmoderne von der Moderne nicht vorgenommen wird.“ 106 Stattdessen stellt Kühn seine Untersuchung in den Kontext sowohl philosophischer als auch soziologischer und naturwissenschaftlicher Zeit-Konzepte, deren Pluralisierung er als eines der zentralen Probleme des gegenwärtigen Zeittheorie erkennt. In Abgrenzung zu Kühn soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Zeitmotivik, die in der Gegenwartsliteratur zu neuer Virulenz gelangt, sich in wesentlichen Aspekten von derjenigen der klassischen Moderne unterscheiden lässt. Die Differenzen sind jedoch nicht in einfachen binären Gegensatzpaaren zu fassen; vielmehr wird in den neueren Zeitromanen auf viele Paradigmen der modernen Zeitliteratur Bezug genommen, wobei sowohl Kontinuitäten als auch Veränderungen zu beobachten sind. Charakteristische Motive der klassischen Moderne wie etwa der intensive Augenblick, der Bewusstseinsstrom (‚stream of consciousness’) oder die ‚Ästhetisierung’ der Zeit in einem Spiel widersprüchlicher ‚Fiktionen’ etwa bei Borges oder Nabokov werden dabei auf überraschende Weise aufgegriffen und umgewertet. Im ersten der drei großen Kapitel dieses Buches soll zunächst der literarische Zeit-Diskurs um 1900 zusammenfassend dargestellt werden, um in den folgenden Analysen die Unterschiede zwischen klassisch-moderner und gegenwärtiger Zeitmotivik konturieren zu können. Im zweiten Kapitel werden daraufhin die zentralen Diskurse vorgestellt, die sich in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mit der Zeitmotivik verbinden. Die theoretischen Überlegungen, die sich in den meisten neueren Zeit-Romanen finden, werden dabei mit gesellschaftstheoretischen und medienphilosophischen Ansätzen in Dialog gebracht, mit denen sich die Veränderungen von Zeitbewusstsein und gesellschaftlichen Zeitstrukturen innerhalb des letzten Jahrhunderts aus unterschiedlichen Perspektiven nachvollziehen und erklären lassen. Gleichzeitig wird das literarische Nachdenken über Zeit als selbstreflexive Auseinandersetzungen mit Literatur und Erzählen, aber auch mit dem Medium der Schrift und seiner Beziehung zu anderen, ‚neuen’ Medien analysiert. Während hier eher die Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen, die sich selbst zwischen den Werken unterschiedlichster Autoren noch konstatieren lassen, soll im letzten Abschnitt anhand detaillierter Einzelinterpretaionen von drei neueren ‚Zeitromanen’, in denen Zeit sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene als zentrales Thema auszumachen ist, die Originalität der verschie106

Kühn 2005, S.21 & S.24.

3. Aufbau und Forschungsstand

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denen literarischen Zugänge gewürdigt werden. Mit Daniel Kehlmann, Helmut Krausser und Thomas Lehr rücken dabei drei Autoren in das Blickfeld der Untersuchung, deren Werk sich in den letzten zehn Jahren als gleichermaßen ambitioniert wie erfolgreich erwiesen hat und die die ästhetischen Debatten, die zuletzt um die deutschsprachige Gegenwartsliteratur geführt wurden, entscheidend mitgeprägt haben.

I. Literarische Zeitkonzepte um 1900 Da sich eine Großzahl der neueren Zeit-Romane durch eine experimentelle Zersetzung des herkömmlichen, zumeist auch von den Protagonisten für selbstverständlich erachteten linearen Zeitschemas kennzeichnet, erscheint ein vergleichender Rückgriff auf die Zeitliteratur der klassischen Moderne mehr als naheliegend. Denn Ende des 19. Jahrhunderts beginnt eine nahezu „obsessive Thematisierung der Zeit im Roman“107, die ebenfalls durch einen stark experimentierfreudigen Gestus gekennzeichnet ist, durch den die Heterogenität von Zeit und Zeiterfahrung in den Fokus gerückt wird. Grundtopos dieses Zeit-Diskurses ist die Auffassung, „das europäische Denken habe die reale Zeiterfahrung entstellt und entleert“108, indem es sich von der Vorstellung einer obejktiven und messbaren Zeit habe in die Irre leiten lassen. Die zeitkritische Literatur der Moderne ist dabei in erster Linie eine „Literatur von Individualisten“, die als „qualifizierte Minderheit“ in Opposition zum gesellschaftlich anerkannten, linearen Zeitbewusstsein treten, das sich im 19. Jahrhundert vor allem durch den „Glauben an den kontinuierlichen Fortschritt, an die aufsteigende Linie, an die kausale Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen zu unauflösbaren Ketten“ und „an die zwangsweise Eingliederung des einzelnen in übergreifende Entwicklungen“ kennzeichnet.109 Hinter diesen konformistischen Postulaten scheint sich aus der Perspektive der zeitkritischen Autoren ein Mechanismus zu verbergen, der die Ausschaltung des subjektiven Zeitempfindens und seine Unterordnung unter den maschinisierten Takt entfremdeter Abläufe erzwingt. Sie bemerken, dass die temporalen Fortschritts- und Sinnkonzepte im Zuge der Industrialisierung spürbar in den Hintergrund gedrängt werden und sich stattdessen ein funktionalistisches Denken etabliert, das Zeit bloß noch als abstrakte Abfolge zu konzipieren in der Lage ist. Dadurch aber werden die Handlungsmaximen, die dem Fortschrittsglauben innewohnten, durch die Sachzwänge einer kapitalistischen Zeitkultur ersetzt, und der Anspruch auf die vernünftige Gestaltung der gesellschaftlichen wie der individuellen Wirklichkeit verfällt dem eigenmächtigen Getriebe einer immer deutlicher zutage tretenden Beschleunigungslogik. Obgleich sich in dieser Kritik zweifelsohne auch eine generelle Skepsis an naturwissenschaftlichen Erklärungskonzepten artikuliert, kann zumindest im 107

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Middeke, Martin: Zeit und Roman: Zur Einführung, in: Ders. (Hg): Zeit und Roman. Zeiterfahrungen im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S.1-20, S.9. Flasch, Kurt: Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das IX. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a.M. 1993, S.52. Wendorff, Rudolf: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewusstseins in Europa, Opladen 1980, S.574.

I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

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Hinblick auf Fragen nach Zeit und Zeitlichkeit nicht generell von einem Gegensatz von physikalischen und ästhetisch-literarischen Ansätzen der klassischen Moderne gesprochen werden. Denn gerade in der Physik kommt es Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer grundlegend kritischen Infragestellung des – hier insbesondere durch Newton geprägten – linearen Zeitmodells. So wird Zeit einerseits von Einstein in eine relative Abhängigkeit zum System ihres Betrachters gestellt, andererseits Kausalität als Grundlage des Modells gerichteter Zeit erkannt und – vor allem durch die Hypothesen Ludwig Boltzmanns – generell in Zweifel gezogen. Annette Simonis hat darauf hingewiesen, dass sich Literatur und Naturwissenschaften um 1900 in ihrer Kritik des Zeitbegriffs sogar wechselseitig beeinflussen, denn wie die Relativitätstheorie viele Philosophen und Schriftsteller der Moderne fasziniert und damit zur Vorlage neuer literarischer Zeitkonzeptionen wird, liefern auf der anderen Seite die Metaphern und Denkmodelle, die in Literatur und Philosophie etabliert werden, schon sprachlich eine Mitvoraussetzung dafür, dass naturwissenschaftliche Forschung Zeit in Paradoxien und Aporien überhaupt zu fassen in der Lage ist. 110 So ahnt etwa Marcel Proust trotz eingestandener Unkenntnis der Relativitätstheorie, dass Albert Einstein und er selbst nach einer „analoge[n] Art“ versuchen würden, „die Zeit zu deformieren“111, während auf der anderen Seite die Gedankenexperimente, mit denen sich Einstein gegen „ein wissenschaftlich-technisches Establishment“ richtet, das „Newtons verstaubtes Dogma einer absoluten Zeit“ zur ewigen Wahrheit erklärt hatte, auf die philosophische Kritik des kausallogischen Postulats zurückverweist: „Einstein selbst erklärte, das kritische Denken David Humes (der im 18. Jahrhundert überzeugend darlegte, dass die Aussage ‚A verursacht B‛ nichts anderes bedeute als die regelmäßige Zeitfolge ‚erst A, dann B‛) habe ihm eine scharfe philosophische Waffe gegen den absoluten Zeitbegriff an die Hand gegeben.“112 Und auch für die Philosophie lässt sich nach Kurt Flasch in der Zeit um 1900 das „historische Phänomen“ einer erstaunlichen „fundamentalen Konvergenz“ konstatieren, die selbst zwischen so unterschiedlichen Philosophen wie Bergson, Husserl und Heidegger hinsichtlich der „Abwehr der Vorherrschaft eines abgeleiteten“, ins Räumliche projizierten Zeitkonzeptes 110

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Simonis, Anette: Zeitbilder und Zeitmetaphern der Moderne. Zum Wandel temporaler Vorstellungsbilder in der modernen Literatur und im (natur)wissenschaftlichen Diskurs, in: Simonis, Anette / Simonis, Linda (Hgg): Zeitwahrnehmung und Zeitbewusstsein in der Moderne, Bielefeld 2000 (b), S.89-122, S.116. Nach Bernd-Olaf Küppers ist die lineare Struktur der Zeit „aus den Grundgesetzten der Physik” ohnehin gar nicht „ableitbar”. Vgl. Küppers, Bernd-Olaf: Entropie, Evolution und Zeitstruktur, in: Kamper, Dietmar / Wulf, Christoph (Hgg): Die sterbende Zeit. Zwanzig Diagnosen, Darmstadt / Neuwied 1987, S.133-151, S.148. Aus einem Brief von 1921 an den Physiker Duc de Guiche, zitiert nach: Walther-Dulk, Ilse: Proust, Guyau und die Poesie der Zeit. Eine Spurensuche, Weimar 2007, S.96. Vgl. Galison, Peter: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit, Frankfurt a.M. 2003, S.20f. Nach Galison spielte auch das Werk Ernst Machs für Einstein „eine sehr wichtige Rolle“.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

auszumachen sei.113 Die Grundlage all dieser Kritiken findet sich in der Bereitschaft, unterschiedliche Konzeptionen von Zeit überhaupt für vorstellbar zu halten: Wurde Zeit bislang als apriorische und damit unhinterfragbare Grundbedingung allen Erlebens aufgefasst, erscheint Zeitbewusstsein nun zunehmend als „Ergebnis einer langen Entwicklung“114 und somit als kulturell geprägtes, historisch veränderbares Konzept. Trotz dieser breiten und interdisziplinären kritischen Strömung wird ‚Zeit’ um 1900 immer stärker normiert und durch die Verankerung eines abstrakten Zeitbegriffs von konkreten Handlungen und Ereignissen entkoppelt. Die Ursachen hierfür finden sich zunächst in der zunehmenden Synchronisation regionaler und individueller Zeiten, die in der Einführung einer universalen, global koordinierten Uhrzeit sowie in der Mechanisierung von Arbeitsprozessen und anderen gesellschaftlichen Abläufen erkennbar wird. Auf kultureller Ebene spiegelt sie sich darüber hinaus in der Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung. Mit dem – in erster Linie polemischen – Siegel ‚Historismus‛ wird dabei ein „prinzipien- und systemloser Umgang mit geschichtlichen Einzelheiten“ belegt, der „ohne Bezug auf Fragen einer vernünftigen Lebenspraxis“ historische Daten anhäuft und einen epistemologisch unterreflektierten „geisteswissenschaftlichen Positivismus“ als seine „theoretische Rechtfertigung“ heranzieht.115 Entspricht der Historismus einerseits offenbar der Skepsis einer Epoche, der die idealistischen Geschichtssystematiken des frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr länger glaubhaft erscheinen, tritt er andererseits jedoch auch deren Erbe an, da er weiterhin das historische Gewordensein jeden Geschehens voraussetzt und im Sammeln scheinbar objektiv ermittelter Fakten eine „Ersatzbefriedigung“ für den Verlust einer ganzheitlichen Geschichtswahrnehmung konstruiert: Der verlorene Sinn wird durch den Fetisch der Wahrhaftigkeit und Originalität ersetzt.116 Insofern erscheint der Historismus selbst als Verfallsform jener idealistischen Geschichtsphilosophie, mit der sich die Vorstellung einer alle Menschen verbindenden ‚Weltzeit‛ überhaupt erst verankert hatte. „Ohne historisch zu übertreiben, lässt sich sagen, dass die bemerkenswerte künstlerische Kreativität jener Zeit, deren ‚Raum- und Zeitrausch‛ bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein anhalten sollte, mehr oder weniger bewusst aus den Trümmern einer untergehenden Gesellschaftsordnung schöpfte, in der nicht mehr, wie

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Flasch 1993, S.62. So bereits 1890 Jean-Marie Guyau: Vgl. Guyau 1995, S.37. Schnädelbach, Herbert: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg / München 1974, S.30. Vgl. Grätzel, Stephan: Die Unschuld des Werdens und die Lust an der Vergänglichkeit. Zur Bedeutung von Nietzsches Zeitbegriff, in: Jacobi, Rainer-M. E. (Hg): Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Bd. 10 (1999): Geschichte zwischen Erlebnis und Erkenntnis, Berlin 2000, S.61-71, S.66.

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ehedem, ‚alles seinen Platz und alles seine Zeit‛ hatte. Es ging vielmehr darum, Ort und Zeit neu zu bestimmen.“117

1. Flüchtige Zeitatome oder „eiserner Zusammenhang“? Im Jahr 1884 wird auf der Internationalen Meridiankonferenz in Washington die Aufteilung der Welt in 24 Zeitzonen beschlossen. Erst neun Jahre später, am 1. April 1893, wird auch im Deutschen Reich die Mitteleuropäische Zeit eingeführt. Obgleich die technischen Möglichkeiten der Zeitmessung bereits weit fortgeschritten sind, herrschen bis zu diesem Zeitpunkt im ganzen Land nahezu chaotische Zeitzustände: Jede Gemeinde bestimmt ihre eigene Zeit, wobei teils mit Sonnenuhren, teils mit astronomischen Zeitmessern, teils auch mit jener überregional gültigen Zeit gerechnet wird, die die Eisenbahngesellschaften zur Abstimmung ihrer Fahrpläne festlegen. Sowohl Mitternacht als auch Mittag, Sonnenaufgang ebenso wie Sonnenuntergang sind mögliche Ausgangspunkte der Zeitbestimmung. Zwar gibt es bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts erste Bestrebungen, wenigstens innerhalb größerer Städte und später auch innerhalb der deutschen Teilstaaten jeweils einheitliche Uhrzeiten einzuführen, doch das Problem der unterschiedlich gehenden Uhren bleibt spätestens dort bestehen, wo die Landesgrenzen überschritten werden: „Noch 1874 wurde in Deutschland nach den mittleren Zeiten von Berlin, Köln, Königsberg, Lübeck, Oldenburg, Elmshorn, Gießen, Frankfurt/M., Leipzig, München, Stuttgart usw. gerechnet.“118 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen europäischen Uhrzeiten zeigen, wie weit das 19. Jahrhundert zunächst noch von einer vollständigen Synchronisation der Zeit entfernt ist: Die Ortszeit von St. Petersburg unterscheidet sich zum Beispiel von der Greenwich-Zeit, nach der 1893 die Weltzeit geeicht wird, um zwei Stunden, eine Minute und 18,7 Sekunden.119 In erster Linie sind es die Eisenbahngesellschaften, die die weltweite Synchronisation der Zeitmessung vorantreiben. Die „zeitliche Verkürzung der Strecken durch die Eisenbahn konfrontiert“ nicht nur unterschiedliche Orte und Regionen, sondern auch die „verschiedenen Lokalzeiten“ miteinander: „Unter diesen Umständen ist ein überregionaler Fahrplan unmöglich, da Abfahrts- und Ankunftszeiten jeweils nur für den Ort gelten, um dessen Lokalzeit es sich handelt. [...] Ein geregelter Verkehr erfordert eine Vereinheitlichung der Zeit“, infolge derer die vormals isolierten Landstriche ihre „lokale Zeit“ aufgeben müs-

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Nowotny 1989, S.21. Vgl. Dohrn-van Rossum, Gerhard: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München / Wien 1992, S.319. Vgl. Kern 2003, S.12f, sowie Borscheid, Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt / New York 2004, S.126ff. und Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit der Zeit umgehen, München 1998, S.101ff.

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sen.120 Die temporale ‚Globalisierung‛ löst eine weltweite Begeisterung aus, die zu einer erstaunlichen Kooperation unterschiedlichster Akteure führt: „Höchstleistungen auf dem Gebiet der theoretischen Physik“ grenzen „direkt an den profan materialistischen und imperialistischen Ehrgeiz, ein erdumspannendes, telegraphisch nutzbares Kabelnetz einzurichten, um Eisenbahnen aufeinander abzustimmen und die geographischen Karten zu vervollständigen“; „Ingenieure, Philosophen und Physiker arbeiteten dabei eng zusammen; der New Yorker Bürgermeister hielt Vorträge über die Konventionalität der Zeit“, und sogar „der Kaiser von Brasilien wartete an der Atlantikküste darauf, dass telegraphische Zeitsignale aus Europa eintrafen“. 121 Von Beginn an ist diese weltweite „Standardisierungsbewegung“ auch mit ethischen und ideologischen Inhalten sowie mit gesellschaftlichen Statusfragen verknüpft: „Der Charakterzug der Pünktlichkeit“ und mit ihm das „Leben nach der Uhrzeit“ entwickelt sich zu einem „konstituierenden Element der neuen Schicht von Aufsteigern“; der „Besitz einer Uhr“ wird „Symbol des Eintritts in diese Bruderschaft.“122 Insbesondere die Regulierung und Reglementierung der industriellen Arbeit, in einem weiteren Sinne aber die Unterordnung der gesamten Existenz unter die Herrschaft von Stunden-, Jahres- und Lebensplänen werden zu Kennzeichen der Epoche. Frederick Taylors einflussreiche Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz seiner Arbeiter, bei der vom Nageleinschlagen bis zum Kohleschaufeln jeder für den Fertigungsprozess notwendigen Bewegung eine konkrete „Standardzeit“ zugewiesen wird, liefern hierfür ein anschauliches Beispiel: „Der neue Mensch“ soll „mit der Uhr gleichgeschaltet werden, mit den Erfordernissen des Zeitplans und den Diktaten der Effizienz.“123 Lewis Mumfords berühmte Feststellung, nicht die Dampfmaschine, sondern vielmehr die Uhr sei die „key-machine“ des Industriezeitalters, bringt die zentrale Bedeutung dieser rapide angestiegenen Bedeutung der Zeit auf den Punkt.124 Zugleich gerät der neue Umgang mit der Zeit zunehmend in den Fokus sowohl antimodern-konservativer als auch sozialistischer Kritik. Insbesondere das kapitalistische Wirtschaftssystem wird verdächtigt, dem fundamentalen historischen Wandel des Zeitbewusstseins überhaupt erst den Boden bereitet zu haben: Im Gegensatz zur weitgehend agrarischen Ökonomie vormoderner Gesellschaften, deren Zeitmodus an natürlichen Rhythmen und an der unmittelbaren 120

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Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München / Wien 1977, S.43. Galison 2003, S.8. Levine 1998, S.108. Rifkin, Jeremy: Uhrwerk Universum. Die Zeit als Grundkonflikt des Menschen, München 1988, S.147. Zu Zeitmessung und Fabrikdisziplin vgl. ebd., S.117ff. Zur kulturellen Breitenwirkung des Taylorismus vgl. Borscheid 2004, S.260ff. „The clock, not the steam engine, is the key-machine of the modern industrial age.“ Vgl. Mumford, Lewis: Technics and Civilization, New York 1934, S.14. An dieser Stelle sei auf die bekannte Anekdote von jenen englischen Industriearbeitern verwiesen, deren Zorn sich nicht gegen die Maschinen richtete, an denen sie arbeiten mussten, sondern gegen die Uhr über dem Fabrikeingang. Vgl. Nowotny 1989, S.49.

1. Flüchtige Zeitatome oder „eiserner Zusammenhang“?

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Bedarfsdeckung orientiert war und daher im Wesentlichen einem zyklischen Zeitmodell entsprach, zielt die kapitalistische Produktion auf die Erzeugung eines Mehrwerts und erhebt dadurch die Zeitdimension zu einer für den ökonomischen Erfolg zentralen Komponente. Die Notwendigkeit der längerfristigen Planung und der stetigen Optimierung der Fertigungsmethoden führt dabei zu einem Rationalisierungsprozess, in dem Zeit und Geld zu übertragbaren, kommensurablen Größen werden.125 Der Zwang zur ständigen Optimierung der Fertigungsprozesse führt im Zuge der Industrialisierung schließlich dazu, dass Arbeit zur genaueren Berechnung in kontinuierliche Abläufe gebracht und in gleichförmige Teilprozesse untergliedert wird. Das jedoch macht die Synchronisation der einzelnen Fertigungsschritte notwendig, wodurch Zeit endgültig von der konkreten Handlungszeit entkoppelt und als abstraktes System etabliert wird, das allen einzelnen Arbeitsschritten übergeordnet ist. Arbeitszeit wird so zur Ware, die der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt anbietet; die eigenbestimmte Freizeit trennt sich von der fremdbestimmten Arbeitszeit, die nun nicht länger die Dauer beschreibt, die eine Arbeit bis zu ihrer Fertigstellung benötigt, sondern vielmehr unabhängig von Produktions- oder Auftragslage, von konkreten Bedürfnissen oder Problemen terminiert wird. „Die Messung der Zeit als quantitative Größe bestimmt sie als abstrakte Zeit, und die Quantifizierung konstituiert abstrakte Zeitmaße und abstrakte Zeitstrukturen.“126 Die Abstraktion der Zeit zu einem Maßstab, an dem sich der Wert aller produktiven Handlungen messen lässt, führt im 19. Jahrhundert zwar einerseits zu der Entwicklung immer neuer zeitsparender Technologien und zu einer rasanten Steigerung der Produktivität, andererseits aber auch zu jenem von Karl Marx beobachteten „ökonomischen Paradoxon“, dass die Freisetzung von Zeitressourcen diese erst recht als nutzbar erscheinen lässt und damit wiederum der Verwertungslogik unterstellt: Das „gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit“ schlägt mit notwendiger Konsequenz „in das unfehlbarste Mittel“ um, „alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in verfügbare Arbeitszeit 125

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Die Anfänge dieser Entwicklung zeigen sich bereits im ausgehenden Mittelalter, in dem das Aufkommen der Kredit- und Zinswirtschaft von Seiten der Kirche als eine Monetarisierung der göttlichen Zeit verurteilt wird. Vgl. Rifkin 1988, S.175ff., sowie bei Le Goff, Jacques: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter, in: Honegger, Claudia (Hg): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt a.M. 1977, S.393-414. Vgl. Scharf, Günter: Zeit und Kapitalismus, in: Zoll, Rainer (Hg): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M. 1988, S.143-159, S.150. Hartmut Rosa fasst zusammen: „Das in der modernen Gesellschaft ‚operative‛ Zeitkonzept wird [...] geprägt und geformt durch die den kapitalistischen Produktionsprozess charakterisierende Verdinglichung und Kommodifizierung der Zeit, d.h. durch ihre Transformation in ein knappes, unter Effizienzgesichtspunkten zu bewirtschaftendes Gut, welche dafür verantwortlich ist, dass Zeit als eine lineare, qualitätlose und abstrakte Größe erfahren wird. Es ist nun die ‚Zeit‛ selbst, die der kapitalistische Unternehmer seinen Arbeitern abkauft, nicht mehr das Produkt ihrer Arbeit.“ Rosa 2005, S.258.

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für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln.“127 Sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene ergibt sich also infolge der Abstraktion der Zeit eine prinzipielle Tendenz zur Beschleunigung: „Es geht darum, aus der Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke und aus jedem Augenblick immer noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen. Man muss darum versuchen, die Ausnutzung des geringsten Augenblicks zu intensivieren, als ob die Zeit gerade in ihrer Zersplitterung unerschöpflich wäre oder man durch eine immer feinere Detaillierung auf einen Punkt gelangen könnte, wo die größte Schnelligkeit mit der größten Wirksamkeit eins ist.“128

Diese Beschleunigung stellt um 1900 gleichzeitig das Bewusstsein her, dass grundlegende Identifikatoren wie Beruf, Familie, politische Ansichten und Wertvorstellungen selbst nur zeitlich begrenzte Gültigkeit besitzen. Auch wirtschaftliche Produktionsweisen, politische Organisationsformen und lebensweltliche Orientierungsmuster wie etwa Moden oder Bräuche, die in vormodernen Gesellschaften über mehrere Generationen hinweg gleich blieben, beginnen sich nun mit steigendem Tempo zu wandeln und bedingen auf diese Weise ein Bewusstsein der Vorläufigkeit des Gegenwärtigen und der Notwendigkeit der stetigen Anpassung an die ‚neuen Zeiten‛. Resultat ist ein permanenter Adaptionsdruck, der von der Furcht begleitet wird, sich einer Welt nicht mehr rechtzeitig anpassen zu können, die nicht mehr als die seit Generationen identische festgestellt werden kann. Mit „mörderischer Plötzlichkeit“ muss die letzte Generation des 19. Jahrhunderts dem Kulturpessimisten Max Nordau zufolge so „den behaglichen Schleichschritt des früheren Daseins mit dem Sturmlauf des modernen Lebens vertauschen.“129 Als Topos einer sich überschlagenden, das menschliche Fassungsvermögen sprengenden Hektik entsteht die Klage über die Ungreifbarkeit und den stetigen Verlust der Gegenwart: „Der ‚Moment’ ist etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Ausdruck der Erfahrung, dass alle Prozesse immer schneller ablaufen und deshalb auch das, was noch zu Anfang des Jahrhunderts unter dem Signum von ‚Gegenwart’ erlebt worden war, nun in eine immer kürzer werdende Zeitspanne gepresst wurde. Was zwei Jahrhunderte vorher ‚Stunde’, Jahrzehnte vorher ‚Minute’ im Sinne von Gegenwartserlebnis gefasst hatte, war nun auf Sekunden, einen Moment, geschrumpft. Diese Kurz-Gegenwart konnte man nicht mehr so genießen und erschöpfen, wie es noch Goethe gemeint und erlebt hatte. Jetzt musste man sich sehr anstrengen, um die schnell wechselnde Aktualität überhaupt bewusst zu realisieren.“130

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Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Stuttgart 1957, S.257. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977, S.198. Nordau, Max Simon: Entartung, Berlin 1903, Bd. 1, S.73. Wendorff 1980, S.83.

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Die Beschleunigungsdynamik, die die moderne Gesellschaft erfasst hat, scheint der Konzeption einer einheitlichen, abstrakten Zeit insofern aber auch entgegenzustehen, als dass sie notwendig ein immer offenkundigeres „Auseinanderdriften von Zeithorizonten“131 bewirkt: Die Temporalgefüge verschiedener Individuen schon innerhalb einer einzigen Stadt, mehr aber noch im Kontrast etwa zwischen beschleunigter Stadt und rückständigen ländlichen Regionen oder zwischen Angehörigen verschiedener Bevölkerungsgruppen, Ländern oder Kulturen gelten bereits am Beginn der Moderne als ganz erheblich different. Zudem widerspricht die Erfahrung der Zusammenhangslosigkeit, die mit dem beschleunigten Leben verbunden ist, dem Postulat des linearzeitlichen Kontinuums, weshalb den Tempoerfahrungen in der Literatur der klassischen Moderne nicht selten auch eine subversive Dimension zugesprochen wird: „Als krisenhafte Überforderung des ‚gehetzten Menschen‛ und des ‚dissoziierten Subjekts‛ einerseits, als Befreiung des ‚rasenden Lebens‛ aus der Stagnation erstarrter Ordnungen andererseits wurde die Dynamisierung der Lebenswelt von der literarischen Moderne inhaltlich thematisiert und formal simuliert.“132 Auf der anderen Seite aber erscheint soziale Beschleunigung gerade auch als logische Entsprechung des linearen Zeitgefüges; denn nur vor dem Hintergrund einer einförmigen, für alle gleichen, abstrakten Zeit werden Zeitersparnisse evaluierbar, kann sich Beschleunigung als Wert etablieren. Das Gefühl der Fragmentierung und Dissoziation, das mit der Steigerung des Lebenstempos verbunden ist, stellt sich also vor dem Hintergrund einer solchen temporalen Vereinheitlichung überhaupt erst ein. Helga Nowotny beurteilt das Phänomen der Beschleunigung in diesem Sinne als direkte Folge der Installation der linearen Zeitordnung: „War erst einmal die lineare Zeitordnung in Form einer an die neu gesetzten Anfänge zurückreichenden Chronologie gesetzt, konnte die Beschleunigung in Form der alles dynamisierenden Bewegung einsetzen, die vor nichts haltzumachen schien. [...] Die Gangart wird wichtiger als der Zielort: wer beharrt, bleibt stehen: alles, allen voran die Zeit, wird zur rasenden Bewegung: der neue Mythos heißt Geschwindigkeit.“133

Die linearen Zeitmuster stehen dem Subjekt jedoch nicht nur als äußerer Zwang gegenüber. Insbesondere Max Weber hat in seiner Protestantischen Ethik den offenkundigen Zusammenhang von kapitalistischen und ethischen Aspekten der neuen Zeitkultur belegt, durch den sich nicht nur eine regelrechte Wertschätzung der Zeit, sondern ein von den Individuen längst internalisiertes Diktat der Zeitaskese etabliert habe, demzufolge fortan jede ungenutzte Sekunde als verlo131

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Simonis, Anette / Simonis, Linda: Einleitung: Moderne als ‚Zeitkultur’, in: Dies. (Hgg): Zeitwahrnehmung und Zeitbewusstsein in der Moderne, Bielefeld 2000, S.7-29, S.13. Anz, Thomas: Zeit und Beschleunigung in der literarischen Moderne, in: Sandbothe, Mike / Zimmerli, Walter Ch. (Hgg): Zeit – Medien – Wahrnehmung, Darmstadt 1994, S.111-120, S.114. Nowotny 1989, S.86.

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rene Sekunde gelte und die Verschwendung von Zeit – ebenso wie die von Geld – zur „tödlichsten aller Sünden“ deklariert werde.134 Das Ideal des tätigen, sich selbst verwirklichenden, erfolgreichen Individuums hat seine Basis also offensichtlich „in der methodischen Rationalität einer abstrakten Zeit, die als inhaltsleere alles mit allem vermittelt.“135 Die Opposition von innerer und äußerer Zeit, die für den literarischen Zeit-Diskurs der Moderne zentral ist, findet sich aus diesem Grund in den unlösbaren Widerspruch verstrickt, dass mit den entfremdeten Zeitmustern der Gesellschaft immer auch basale Strukturen der eigenen Persönlichkeit attackiert werden müssen. Die als äußerlich und fremd empfundenen Zeitstrukturen können nicht mehr rational distanziert und kritisiert werden, sondern reproduzieren sich beständig in der Selbstreflexion des Subjekts, während jede Konzeption eines erfüllten, ‚anderen‛ Zeiterlebens sich als utopisch erweist. Der Radikalisierungsprozess, den die historische Entwicklung des Zeitbewusstseins in der klassischen Moderne offensichtlich durchläuft, wäre jedoch kaum ausreichend erfasst, würde er allein auf den Einfluss des kapitalistischen Wirtschaftssystems und seiner rationellen Zeitlogik zurückgeführt.136 Ein weiterer entscheidender „Motor“ dieser Entwicklung findet sich nach Hartmut Rosa im „Prinzip der funktionalen Differenzierung“, das „gemäß seiner eigenen Entfaltungslogik [...] zu einer Beschleunigung sozialer Prozesse führt“ und dadurch ebenfalls zu der steigenden gesellschaftlichen Bedeutung der ‚Zeit‛ beiträgt.137 Als „funktionale Differenzierung“ wird nach Luhmann und Nassehi die „Spezifikation von einzelnen Semantiken für sich voneinander entfernende Handlungsbereiche“ bezeichnet, wie sie etwa in der „Entkoppelung der Wirtschaft von Religion und Moral“, in der fortschreitenden Verselbständigung der Wissenschaften oder in der Säkularisierung des Erziehungswesens zu beobachten ist.138 Unterschiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gewinnen im Zuge dieses Prozesses soviel Autonomie, dass ihre jeweiligen „Handlungsentwürfe und Ziele“ nicht länger „in die Gesamtgesellschaft integrierbar sind“ 139, wodurch ein Nebeneinander unterschiedlicher Wirklichkeiten und damit differierender Systemzeiten entsteht, das nur vor dem Hintergrund der „koordinierenden Generalisierung“140 einer einheitlichen Weltzeit weiterhin vermittelt wer134

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Rosa 2005, S.93, mit Bezug auf Weber, Max: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, Gütersloh 1991, S.167f. Vgl. Neumann, Enno: Das Zeitmuster der protestantischen Ethik, in: Zoll, Rainer (Hg): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt a.M. 1988, S.160-171, S.171. Vgl. Rosa 2005, S.279f. Vgl. Rosa 2005, S.295ff. Nassehi, Armin: Die Zeit der Gesellschaft, Opladen 1993, S.312 & S.317. Vgl. Bergmann, Werner: Die Zeitstrukturen sozialer Systeme. Eine systemtheoretische Analyse, Berlin 1981, S.201. Vgl. Luhmann, Niklas: Weltzeit und Systemgeschichte, in: Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975, S.103-133, S.110.

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den kann. Nach Rosa sind dabei zwei Auswirkungen dieser Differenzierung von Teilsystemen zu bemerken. Einerseits lässt die Ausschaltung „systemfremder Gesichtspunkte und Hemmungen“ eine enorme Steigerung der Effektivität jedes der einzelnen Systeme zu: „Wissenschaftliche Entdeckungen, technische Innovation, wirtschaftliche Produktion usw. können in viel rascherem Tempo voranschreiten, wenn sie von ‚externen‛ (etwa religiösen oder politischen oder je wechselseitig formulierbaren) Erwartungen entlastet werden.“ Andererseits führt diese „Differenzierungsform jedoch auch zu einer Verknappung der Zeit“, da die deregulierten Teilsysteme mit ihren je eigenen Entwicklungslogiken eine enorme Steigerung der gesellschaftlichen Komplexität erzeugen, die die jeweils gegenwärtigen sozialen Kapazitäten notwendig überfordern muss. Auf diese Weise kommt es zu einer „Temporalisierung der Komplexität: Nicht realisierte Möglichkeiten werden für die Zukunft ‚aufgehoben‛ und für eine mögliche zukünftige Aktualisierung offen gehalten; Selektionsentscheidungen werden so entlang einer in die Zukunft projizierten Zeitachse angeordnet.“ Für die jeweils „partial- und multi-inkludierten Individuen“ bedeutet dies, dass sie ihre Lebenszeit zunehmend nach sequenzierten Zeitplänen strukturieren müssen, um zu entscheiden, „wie viel Zeit sie wann in welcher der ausdifferenzierten Funktionssphären (Arbeit, Familie, Ehrenamt, Kirche etc.) verbringen wollen.“141 Für den gesellschaftlichen Zeithorizont aber bedeutet es eine generelle Orientierung an der Zukunft und – infolge des Wettbewerbs der Teilsysteme um die zur Verfügung stehenden Zeitressourcen – eine fundamentale soziale Dynamisierung: Die „Neuzeit“ wird mit Koselleck im wesentlichen dadurch zu einer „neuen Zeit“, dass sich in ihr „die Erwartungen immer mehr von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernen”142, wodurch die Einlösung von Zielvorstellungen immer weiter aufgeschoben, das gesamte gesellschaftliche Leben aber einer generellen Tendenz zur Beschleunigung unterworfen wird, die diesen Aufschub wieder einholen soll. Bereits seit dem 18. Jahrhundert wandelt sich infolge dieser Dynamik die gesellschaftliche Struktur in Europa auf eine Weise, die „die Zeit in das bislang eher statische, an der Raummetapher des Tableaus orientierte frühneuzeitliche Denken“143 brechen lässt. Die zunehmende Orientierung an der Zukunft wird dabei zunächst durch die Konstruktion eines „Kollektivsingulars“144 menschlicher Entwicklung ausgeglichen, der die immer stärker auseinanderdriftenden Teilsysteme der Gesellschaft auch ideell wieder in einen Rahmen fügen soll: Verschiedene historische Fakten und Prozesse werden zu einer einzigen Geschichte zusammengefasst, ebenso wie unterschiedliche gegenwärtige Entwick141

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Vgl. Rosa 2005, S.296ff.; zudem Luhmann, Niklas: Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, in: Ders.: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen 1971, S.143-164. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S.359. Simonis / Simonis 2000, S.7. Vgl. hierzu auch Koselleck 1975, S.647ff.

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lungen als Bestandteile des Fortschritts angesehen werden. Durch die „Parallelisierung der Systemgeschichten mit einer abstrakten, linearen, teleologisch gerichteten Weltdimension der Zeit“ wird auf diesem Weg eine „sinnhaft semantische Synchronisation“ angestrebt: „Was die Nation für die Sozialdimension ist, sind Fortschritt und Geschichte für die Zeitdimension. Sie üben an der Epochenschwelle zur Moderne die Funktion einer Vereinheitlichung der Eigenzeiten der funktionalen Teilsysteme aus.“145 Die zum Kollektivsingular verdichtete Geschichte bewirkt, dass jede historische Gegenwart nun zu einer fundamental neuen, gleichzeitig aber transitorischen Zeit wird: Der Wandel betrifft nicht mehr nur Personen, Herrscherhäuser, einzelne Regionen oder Berufszweige, sondern die Gesellschaft als solche. Die Gesetzlichkeit der Geschichte nimmt dabei schon bald „solche Proportionen an, dass sie zum weltlichen Ersatz für die ewige Ordnung Gottes“146 wird: Die religiösen Heilsversprechen werden in die irdische Zukunft verlagert, der die Menschheit nun als ganze und aus eigener Kraft zustrebt. Denn indem die Zukunft nicht mehr als von Gott festgeschriebene begriffen wird, wird sie auch aus der Bindung an die Lehre der Präexistenz gelöst: Es wird nun vorstellbar, „dass sie erst in dem Moment überhaupt zu existieren“ beginnt, in dem „sie gegenwärtig“ wird.147 Dadurch aber ist ihre Gestaltung dem Menschen selbst unterstellt, seinen Plänen und Wünschen, aber auch seiner Fehlbarkeit ausgesetzt. Die Entwicklung eines historisch-linearen Zeitkonzeptes und der „Individualisierungsschub“ der beginnenden Neuzeit sind daher eng miteinander verknüpft.148 Martin Middeke fasst zusammen: „Mit den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen im 17. und 18. Jahrhundert geht eine Dynamisierung des Lebensgefühls einher, es wird ein Zeitbewusstsein herausgebildet, das eine Sicht der Welt begleitet, die dem Einzelnen eine offene, chancenreiche Zukunft verspricht, was gleichsam Programm und Grundvoraussetzung eines sich entwickelnden, aufstrebenden Bürgertums sowie des Aufklärungsgedankens schlechthin ist.“149

Wie Armin Nassehi bemerkt, ist aus diesem Grund das linearzeitliche System der Neuzeit keineswegs identisch mit der christlichen Eschatologie des Mittelalters. In der Neuzeit werden die Ziele der Menschheit mehr und mehr in die Zukunft verlagert, werden also die Konzepte der Entwicklung und des Fortschritts zu den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Motoren einer insgesamt auf das 145 146

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Vgl. Nassehi 1993, S.321. Vgl. hierzu bereits Ziolkowski, Theodore: Strukturen des modernen Romans. Deutsche Beispiele und europäischer Zusammenhang, München 1972. Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999, S.39. Vgl. Achtner, Wolfgang / Kunz, Stefan / Walter, Thomas: Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, Darmstadt 1998, S.76ff. Middeke, Martin: Die Kunst der gelebten Zeit. Zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Würzburg 2004, S.39. Ein aufschlussreicher, wenn auch „sprunghafter Blick auf die Geschichte des Zeitbewusstseins“ findet sich ebd., S.29ff.

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Neue gerichteten Dynamik. Das Ende der Zeit hingegen, das dem Christentum in Form des Jüngsten Gerichts drohte, resultierte in der Vorstellungswelt des Mittelalters nicht aus einer ‚Entwicklung’, sondern wurde als unvermittelter Einbruch in eine ansonsten weitgehend statische, gesellschaftlich stabile Lebenswirklichkeit begriffen.150 Die heilsgeschichtlich erwartete „Neue Zeit“, mit der eigentlich eine ‚Zeit nach der Zeit’ gemeint war, wird in der Moderne aber „in die historische Zeit selbst hinein geholt: Sie wird zu einem politischen Gestaltungsauftrag“151, der den Fortschrittsgedanken in das Zentrum einer zunehmend temporalisierten Politik stellt. „Was ehedem in Schöpfungsmythos und Kosmogonie aufgehoben war, gewinnt“ nun zunehmend „geschichtliche Strukturen.“152 Das grundlegende Problem dieser Zeitkonzeption besteht von Beginn an darin, dass die postulierte Einförmigkeit der historischen Entwicklung, die größeren Gesetzen folgen soll, und der Anspruch auf ihre aktive Gestaltung sich gegenseitig ausschließen: Die Zukunft wird schon bald nicht mehr nur in die Tat umgesetzt, sondern zunehmend auch vorausgesehen, vorgezeichnet, vorweggenommen. Neben die offene Zukunft, die zur Tat auffordert, tritt immer machtvoller die Gesetzmäßigkeit der Geschichte, deren eingeschriebene Bedeutung eher entschlüsselt denn handelnd erzeugt werden muss. Alle Wissens- oder „Erfahrungsbestände“, Überzeugungen und „politischen Lehren“ werden auf diese Weise in die Abhängigkeit von einem gesellschaftlichen „Strukturwandel“ gedrängt, der auch das Bewusstsein der Menschen zu determinieren scheint.153 Der Konflikt lässt auch die Kluft zwischen Lebenszeit und Weltzeit hervortreten, die zuerst Hans Blumenberg beschrieben hat: Um die Fiktion eines sinnvollen Ablaufs der Zeit retten zu können, muss auf dessen ursprüngliches Ziel, die Öffnung der Zukunft als Spielraum persönlicher und gesellschaftlicher Gestaltungsfreiheit, zunehmend verzichtet werden. Die Mobilisierung der Zukunft bleibt auf Dauer nicht in den Grenzen der Lebenszeit stehen, sondern geht über diese hinaus, wodurch die Sinnerfüllung innerhalb des individuellen Daseins tendenziell zur Unmöglichkeit wird. „Der Determinismus jeder Geschichtslogik lässt die Rolle des Menschen als Subjekt der Geschichte“ also tendenziell „beiläufig werden“154: Anstatt selber am Fortschritt der Welt mitzuwirken, ihn durch 150

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Vgl. Nassehi 1993, S.315, sowie Koselleck 1979, S.266. Wie Lucian Hölscher betont, ist „die Zukunft“, verstanden als Resultat einer historischen Entwicklung, so auch eigentlich erst 300 Jahre alt – vorher gab es nur „Zukünftiges“, denn auch der jüngste Tag lag nicht auf der Ebene der irdischen Zeit, sondern bedeutete gerade dessen Aufhebung. Vgl. Hölscher, Lucian: Die Zukunft – ein auslaufendes Modell neuzeitlichen Geschichtsbewusstseins? In: Bieber, Hans-Joachim / Ottomeyer, Hans / Tholen, Georg Christoph (Hgg): Die Zeit im Wandel der Zeit, Kassel 2002, S.129-146, S.131ff. Rosa 2005, S.396f. Vgl. auch Koselleck, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000, S.12. „Einen solchen Strukturwandel unmittelbar wahrnehmen zu können, das zeichnet vermutlich die Neuzeit aus.“ Koselleck 2000, S.238. Blumenberg, Hans: Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 1986, S.245.

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die eigene Produktivität partiell sogar überhaupt erst zu ermöglichen, können die Menschen nun zunehmend nur noch als Zahnräder innerhalb einer riesigen historischen Mechanik fungieren, innerhalb derer jedoch jeder Bestandteil im Grunde als austauschbar erscheint. Das „Kontinuum der geschichtlichen Bewegung“ spult sich schließlich ohne menschliches Zutun ab, wobei ihm zunehmend „gleichgültig“ bleibt, „welches Ganze und welche Richtung sich dabei ergeben“155. Je offensichtlicher das implizit postulierte Ziel einer ‚neuen Zeit’ in die unerreichbaren Horizonte der Weltzeit verschoben wird, desto deutlicher wird auch der idealistische Gehalt der Kollektivsingulare, die sich gleichzeitig aber immer stärker gesellschaftlich und intellektuell verankern und zur unhintergehbaren Realität werden. Die geschichtliche Zeit wird so im 19. Jahrhundert schließlich zum Fatum, der Fortschritt zu einem Selbstläufer, der nur noch die monströse ‚Mega-Maschine’ der Moderne antreibt. Die einstmals versprochene Autonomie des Individuums aber bleibt ebenso auf der Strecke wie alle anderen Heilsversprechen der Aufklärung: Die Zukunft ist nicht mehr das Resultat der von allen Individuen vollbrachten Leistungen und Bestrebungen, sondern hat eine abstrakte, eigenständige, vom subjektiven Handeln und Entscheiden losgelöste Realität gewonnen. Die steigende Bedeutung der Zeit in allen Bereichen der Gesellschaft wird im 19. Jahrhundert deshalb von einer „pessimistisch-reservierten, Fortschritt und lineare Zeiterfahrung relativierenden Haltung“ begleitet, die die teleologische, irreversible und lineare Zeit der Uhren und Kalender als einseitig kritisiert. Dagegen wird vor allem in der Literatur nun der Versuch unternommen, den „unterschiedlichen Rhythmen“ des psychologischen Zeitempfindens zu ihrem Recht zu verhelfen.156 Die Entwicklung der ‚offiziellen’ Zeit zwischen Mittelalter und Moderne lässt sich besonders anschaulich am Wandel der literarischen Zeit- und Geschichtsentwürfe nachvollziehen. Die Entstehung eines gemeinsamen, ‚kollektivsingularen’ Zukunftshorizonts, der der vernünftigen Gestaltung des politischen Lebens offen steht, wird etwa am Übergang von den Raum- zu den Zeit-Utopien sinnfällig, der sich mit Louis-Sebastien Merciers 1771 erschienenem Buch Das Jahr 2440157 vollzieht. Hier wird die Geschichte als „widerstandsfreie“ Übertragung der vernunftgemäßen Zielvorstellungen auf die reale Zukunft, als „Erfüllung moralischer Postulate“ vorgestellt158: Im Gegensatz zu den Raumutopien des 16. und 17. Jahrhundert erscheint die perfekte Gesellschaft nun als Ergebnis eines langen historischen Entwicklungsprozesses, der noch nicht im Widerspruch zur 155 156 157

158

Blumenberg 1986, S.229. Vgl. Middeke 2004, S.48ff. Vgl. Mercier, Louis-Sébastien: Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume. Deutsch von Christian Felix Weiße (1772). Hg., mit Erläuterungen und einem Nachwort versehen von Herbert Jaumann, Frankfurt a.M. 1982. Vgl. Koselleck 2000, S.139.

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Vorstellung einer offenen Zukunft gesehen wird. Und auch jenseits der utopischen Literatur lässt sich der Übergang von den statischen Zeitstrukturen der mittelalterlichen zu den dynamischen Zeitformationen der neuzeitlichen Gesellschaft am Wandel der literarischen Konventionen nachvollziehen. So zeigt Dietrich Schwanitz, dass sich mit „der Entstehung stärker temporalisierter Realitätsmodelle“ vor allem „die aus dem Bezug zu einem System stabiler Erfahrungsmuster gewonnene Form der exemplarischen Geschichte“ allmählich auflöst und nach und nach durch die moderne Form des Romans ersetzt wird, in der „die Totalität einer durch eine offene Zukunft gekennzeichneten Welt“ zum Ausdruck kommen soll.159 Gerade die literarische Entwicklung jedoch bestätigt auch, dass die Vorstellung einer offenen, gestaltbaren Zukunft auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten ist. Das Ideal einer Übereinstimmung von vernünftiger Planung und realer Entwicklung scheitert an den historischen Dynamiken, die die moderne Gesellschaft selbst erzeugt und die sich zunehmend als unkontrollierbar erweisen. Spätestens in den Zeitvorstellungen, die um 1900 artikuliert werden, wird die Zeit wieder weitgehend als determinierte, „irreversible Folge“ betrachtet, die „völlig vom Gesetz der Kausalität bestimmt“ wird und daher freie und vernünftige Gestaltung nicht länger zulässt: „Während Shakespeare z.B. in The Tragedy of Richard the Second noch das kausale Zusammenwirken von menschlicher Entscheidungsfreiheit und historischer Determiniertheit demonstriert, und im 18. Jahrhundert, z.B. in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meister oder in Fieldings Tom Jones, der optimistische Glaube an die Möglichkeit 'to make good men wise' vorherrscht, verbreitet sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße das pessimistische Bewusstsein [...], dass wir – wie in Thackerays Vanity Fair – im Denken, Fühlen und Handeln durch einen alles andere als wohlwollenden Puppenspieler dirigiert oder sogar – wie in Thomas Hardys Tess of the D'Urbevilles – von einem übermächtigen Schicksal geradezu in die Falle gelockt werden.“160

Diese Entwicklung findet eine Parallele in einem neuen Umgang mit dem Thema Zeit in der Wissenschaft. Im 19. Jahrhundert wird die Vorstellung einer offenen Zukunft zunehmend durch die Erforschung der Entwicklungsgesetze unterlaufen, denen die Geschichte folgt und die nun an die Stelle der aktiven, mo159

160

Schwanitz, Dietrich: Verselbständigung von Zeit und Strukturwandel von Geschichten: Zum Zusammenhang zwischen temporalem Paradigmawechsel und Literaturgeschichte, in: Middeke, Martin (Hg): Zeit und Roman. Zeiterfahrungen im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S.75-89, S.66. Grabes, Herbert: Schreiben in der Zeit gegen die Zeit: Das Paradox der Zeitlichkeit als Grundstruktur moderner und postmoderner Ästhetik, in: Middeke, Martin (Hg): Zeit und Roman. Zeiterfahrungen im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S.313-331, S.315.

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ralischen Erwägungen folgenden Gestaltung der Zukunft deren Berechnung treten lässt. Die dadurch einsetzende breite „Produktion kollektiver Zukunftsvorstellungen“ lässt nach Lucian Hölscher die Zukunft zunehmend wieder als programmiert und vorherbestimmt erscheinen.161 Wie im Zeitverständnis des Mittelalters wird jede Entwicklung nun tendenziell als Verwirklichung eines vom Menschen kaum noch zu beeinflussenden Plans gefasst, von dessen Sinnhaftigkeit jedoch nicht länger ausgegangen werden kann. Als Beispiel dieser neuen, regelrecht fatalistische Sichtweise benennt Martin Middeke etwa das Zeitverständnis, das die Evolutionstheorie Charles Darwins formuliert: „Selbstverständlich steht die Darwinsche zeitliche Sicht eines offenen Systems von Leben einer bürgerlich-liberalen Denkweise schlechthin näher als ein religiös-mythischer und dabei geschlossen festgelegter Schöpfungsplan. [...] Eine solche den Fortschrittsgedanken akzentuierende Sicht Darwins ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Angesichts eines damals von der Thermodynamik wie von der Evolutionstheorie angenommenen Lebensalters der Erde von (im Vergleich zur Gegenwart) nur rund 20 Millionen Jahren, wirkt der Rang des Menschen letztlich unbedeutend niedrig; die Zeit, von der Darwin ausgeht, nivelliert menschliche Individualität nicht nur in Relation zum Ganzen, vielmehr gruppiert die Darwinsche Zeit den Einzelnen in eine indifferente Zeitreihe, deren Bestandteil der Mensch ist und nichts weiter. [...] Die von Darwin beschriebene Entwicklung ist ziellos; sie ist gedacht ohne Ende und Höhepunkt und ohne Gegenwart und Zukunft.“162

Lucian Hölscher hat gezeigt, dass sich der geschichtliche Zeitraum, in dem es tatsächlich das Bewusstsein einer frei zu gestaltenden Zukunft gegeben hat, letztlich als sehr begrenzt erweist: Zwischen dem durch Gott determinierten Schicksal des mittelalterlich-christlichen Weltbilds und der „Tyrannei der Zukunft“, die infolge der technologisch und wissenschaftlich anvisierten Planbarkeit und Verfügbarmachung der Zeit entstand, existierte nur eine kurze historische Phase, in der der Gedanke individueller und kollektiver Selbstbestimmung tatsächlich für umsetzbar gehalten wurde.163 Danach jedoch verselbständigt sich die historische Dynamik, und Erwartung und Erfahrung treten zunehmend miteinander in Konflikt. Der Literatur der Jahrhundertwende wird die Zeit so nahezu notwendig – in den Worten Robert Musils – zu einem „eisernen Zusammenhang“, in dem jeder Augenblick nur noch als „Glied in einer langen Kette“ erlebt wird.164 Das Postulat einer der historischen Entwicklung eingeschriebenen Vernunft lässt sich nicht aufrecht erhalten; der Zusammenhang degeneriert zu einer bloßen 161

162 163 164

Vgl. hierzu Hölscher 2002, S.138ff. Nach Hölscher setzt sich diese Entwicklung bis in die Gegenwart fort. Middeke 2004, S.50f. Vgl. Hölscher 2002, S.131ff. Musil, Robert: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 2: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hg von A. Frisé, Reinbek bei Hamburg 1955, S.28.

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Gesetzlichkeit, die Richtung der Entwicklung ist nicht mehr länger zu beeinflussen. Die sowohl von den menschlichen Zeitdimensionen als auch von jedem glaubhaften Sinnpostulat entkoppelte Geschichte motiviert nicht zuletzt jene für die Zeit um 1900 charakteristischen Negativ-Utopien, die zunehmend den „Untergang des Abendlandes“ als unabwendbares Schicksal „der historischen Menschheit“ anzunehmen beginnen und auf diese Weise den einstigen Fortschritts- und Entwicklungsoptimismus ins Gegenteil verkehren.165 Auch in den deterministischen Vorstellungen des Naturalismus kommt ein Zeitbewusstsein zum Ausdruck, in dem sich anstelle eines Kollektivsingulars nun eine gesellschaftliche oder natürliche Dynamik am Werk zeigt, der der Einzelne völlig unterworfen ist.166 Der Gipfel dieser pessimistisch-teleologischen Auffassung der Geschichte findet sich in der vielfach belegbaren Vorwegnahme des Ersten Weltkriegs, der nach Lucian Hölscher auch selbst weniger als Reaktion auf eine konkrete politische Lage denn als fatalistische Umsetzung einer längst prognostizierten Zukunft verstanden werden muss: „1914 stand das Erwartungsmuster [...] schon bereit, das es nun nur noch zu erfüllen galt.“167 Die Zeitkultur um 1900 kennzeichnet sich demzufolge durch ein Missverhältnis der realen „Allmacht“ der Zeit für das individuelle und kulturelle Leben168, die sich in Synchronisations- und Disziplinierungsprozessen ebenso ausdrückt wie in den genannten deterministischen Geschichtskonzepten, und einem galoppierenden Sinnzerfall, der diesem Zeitkonzept auf ideeller Ebene gleichzeitig anhaftet. In der literarischen Reflexion der Zeit, die im späten 19. Jahrhundert einsetzt, ist die Abwehr eines „eisernen Zusammenhangs“ allerdings nur eines von zwei charakteristischen Motiven, die aus dieser Problematik hervorgehen. Die zunehmende Unglaubwürdigkeit der ‚großen Erzählungen’, mit denen die Zeit zum Kollektivsingular geformt werden soll, bewirkt gleichzeitig auch eine regelrechte Atomisierung des Zeitempfindens, eine Empfindung der Leere und Flüchtigkeit der „vorbeisausenden Zeit“, in der „jedes Erlebnis zum bloßen Punkt einer Abfolge“ wird und „die Möglichkeit für ein zeitloses, schieres Glücksgefühl“ not165

166

167 168

Vgl. Spengler, Oswald A. G.: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Wiesbaden 2007, S.3. „In der strengen Gesetzlichkeit dieses objektiven Zeitablaufs vollzieht sich die Realisation der kausalen Verkettung bis zur Katastrophe. Die Bedingung der Möglichkeit der absoluten Determination bildet somit die als kontinuierliche Sukzession erfahrene Zeit; in ihr erfüllt sich unausweichlich das Schicksal der handelnden Menschen.“ Inacker, Gabriele: Antinomische Strukturen im Werk Hugo von Hofmannsthals. Die beiden Antinomien Hofmannsthals ‚Vergehende Zeit - Dauer’ und ‚Einsamkeit - Gemeinschaft’ in ihrem Verhältnis zu den dichterischen Gattungen, Göppingen 1973, S.8. Vgl. Hölscher 1999, S.203. Guyau kritisiert diese übermäßige Bedeutung der Zeit wie folgt: „Man hat oft aus der Zeit eine mysteriöse Realität gemacht, die den veralteten Begriff der Vorsehung ersetzen sollte. Man hat ihr beinahe die Allmacht verliehen, man hat sie zum entscheidenden Faktor der Evolution und des Fortschritts bestimmt.“ Vgl. Guyau 1995, S.90.

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wendig abhanden kommt.169 Denn indem die historische Zeit dem Individuum nicht länger als „spiegelbildlich-identisch“ erscheint, sondern auf einmal als „eigendynamisch-fremd“, droht es aus allen temporalen Zusammenhängen herauszufallen, die seine Identität bislang ausgezeichnet haben: „An diesem Punkt kippt der seit der Aufklärung systematisch aufgebaute Glaube an die souveräne ‚Selbstsicherung’ des Individuums in die Verunsicherung der Vereinzelung. Die missglückte Kontinuität zerfasert in polyperspektivische Einzelfetzen, aus dem geschichtlichen Fluss wird die zusammenhanglose Perforierung des Augenblicks. Diese Entwicklung bringt es mit sich, dass das Subjekt sein Verhältnis zur selbstinszenierten Geschichte ändern muss. Diese ist nun, als das strukturell nicht mehr Beherrschbare, das Bedrohliche, von dem sich der Mensch ab- und dafür anderen Systemen (z.B. der Natur) wieder zuwendet.“170

Auch die Motive der Verloren- und Zerrissenheit, der Entfremdung, der Anonymität und des Ich-Zerfalls, die für die Literatur der klassischen Moderne charakteristisch sind, müssen daher im Kontext sich verändernder gesellschaftlicher Zeithorizonte begriffen werden. Denn indem der integrative Charakter des historischen Zeitkonzeptes aufgegeben wird, wird schließlich auch jede Konzeption von Kontinuität mindestens aus Subjektperspektive infrage gestellt. Neben das Motiv eines eisernen, aber sinnlosen und tendenziell katastrophischen Zusammenhangs tritt so die Figur einer atomisierten, vollständig zusammenhanglosen, flüchtigen Zeit, in der jeder Jetztpunkt autark gegen alle anderen, jede behauptete Entwicklung hingegen als unhaltbares Postulat erscheint. Diese Entleerung der Zeit lässt sich wiederum systemtheoretisch erläutern: Die zunehmende Ausdifferenzierung der Teilsysteme und das damit verbundene Auseinanderdriften der jeweiligen Zeithorizonte erzeugt notwendig früher oder später einen Grad von Verschiedenheit, der die Konstruktion eines einzigen, alle Teilbereiche der Gesellschaft vereinheitlichenden Sinnkonzeptes nicht mehr zulässt. Die Erwartungen, das Tempo und die „Schwerpunktsetzung in Vergangenheit und Zukunft“ entwickeln sich in unterschiedlichen Teilsystemen derart autark, dass die steigende Komplexität der Gesellschaft notwendig zu der Entwicklung einer abstrakten, von allen idealistischen Inhalten befreiten Zeitkonzeption führen muss, die die differierenden Systemzeiten nur noch logisch miteinander koordiniert, historische Sinn- oder Metakonzepte aber zunehmend ausschließt. Die temporalen Kollektivsingulare der Geschichte und des Fortschritts verlieren auf diese Weise jedoch notwendig ihre Glaubwürdigkeit: 169 170

Kessel 2001, S.98. Berg, Stephan: Schlimme Zeiten, böse Räume. Zeit- und Raumstrukturen in der phantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S.103. Mit der Befürwortung „freier, kreatürlicher Selbstentfaltung“ des Kindes, die der „Ausbildung zu rational-effektiverer Nutzung linear verlaufender und gegliederter Zeit“ entgegengestellt wird, wird nach Middeke bereits bei Rousseau eine Skepsis gegenüber dem fortschrittsund entwicklungsorientierten Zeitdenken artikuliert. Vgl. Middeke 2004, S.42.

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„Die Verschiedenheit der konkreten Teilsystemhorizonte [...] erforder[t] eine sehr abstrakte Formulierung der Weltzeit. Diesem Erfordernis der Abstraktheit und Inhaltsleere entspricht ein Zeitbegriff, der die Zeit als eine bloße lineare Zeitpunktreihe begreift und absieht von allen innerzeitlichen Ereignissen, Tempodifferenzen etc. Die Zeit selbst kann nichts mehr bewirken, sie ist zu einem bloßen Schema der Ordnung von Ereignissen geworden, deren Verknüpfung und Zusammenhang zeitlich kontingent ist.“171

Das Zeitbewusstsein ist um 1900 also einerseits durch entscheidende Fortschritte der gesellschaftlichen und globalen Synchronisierung gekennzeichnet, die als subtilstes und gleichzeitig wirkungsvollstes Symptom einer durch und durch anonymisierten Gesellschaftsmaschinerie eine Enteignung der individuellen Zeitdimensionen vollzieht, als auch andererseits durch den Verfall der Sinnkonzepte, die mit solchen Temporalstrukturen am Beginn der Neuzeit noch verknüpft waren. Dieser Zerfall provoziert den Eindruck eines unheilvollen teleologischen Zusammenhangs des historischen Geschehens und bewirkt gleichzeitig eine empfindliche Störung des individuellen Zeitempfindens, dem jede temporale Einheit abhanden zu kommen droht. Dieser Krisenerfahrung entspricht dann ein Zeitmodell der reinen, nicht mehr kausalen Folge, in dem die Atomisierung der Zeit in unverbundene Fragmente jeden Anspruch auf Gewissheit und Sicherheit dementiert. Diese Krise schlägt sich auch in der Geschichtsphilosophie nieder, die – wie eingangs bereits erwähnt – in besonderer Weise in den Fokus der literarischen Kritik gerät. Ist das 19. Jahrhundert auf der einen Seite grundlegend geprägt durch den Glauben an die dominierende Bedeutung der historischen Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart172, beginnen auf der anderen Seite die idealistischen Konstruktionen, mit denen noch Hegel die Idee der Weltgeschichte versah, im späten 19. Jahrhundert unwiederbringlich zu verfallen. Der chaotische und unberechenbare Wandel der Welt kann nun nicht länger in das Kontinuum einer Geschichte überführt werden, die ehernen und universellen Gesetzen folgte und eine vernunftgemäße, fortschrittliche Entwicklung der gesamten Menschheit zu erkennen gäbe. Allein schon die Menge des Wissens verhindert jede Zusammenführung von Ereignissen und historischen Zusammenhängen zu einem einzigen Narrativ. Die Zeit verbindet daher die Geschehnisse nicht mehr kraft einer höheren Logik, sondern gibt mehr und mehr nur noch den abstrakten Rahmen für deren Datierung vor.173 Die ‚historistische‛ Geschichtsschreibung des ausgehenden 19. Jahrhunderts ersetzt den Anspruch auf 171 172

173

Bergmann 1981, S.202. Nach Oexle ist der Historismus eine der Grundlagen der Moderne und deshalb „in eine Reihe zu stellen mit der Aufklärung, mit der politischen Revolution, mit der Industrialisierung und mit der Durchsetzung der modernen Naturwissenschaft und ihrer technischen Konsequenzen.“ Vgl. Oexle, Otto G.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Göttingen 1996, S.18. Vgl. hierzu bereits Meyerhoff, Hans: Time in Literature, Berkley / Los Angeles 1955, S.96ff.

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Sinnstiftung dabei durch eine positivistische Methodik, die auf die objektive Erfassung der Vergangenheit abzielt, und wird somit zum Vorbild für eine Unzahl von Historienromanen, die sich ebenfalls die authentische Darstellung geschichtlicher Ereignisse zum Thema machen.174 Die historische Vergangenheit hat hier jedoch gerade keine kontextualisierende Bedeutung für die Gegenwart mehr, sondern gewinnt ihre Berechtigung ganz aus sich: In dem Bemühen um absolute Objektivität hinsichtlich der Erforschung jeder einzelnen Epoche der Geschichte etabliert sich eine Perspektive, in der die Gegenwart des Historikers oder Schriftstellers ebenso zum blinden Fleck zu werden droht wie diejenige der Gesellschaft, der er angehört. Das eigene „Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen“, ist nach Leopold von Ranke ausdrücklich das hehre Ziel der Historikerzunft.175 Die Geschichtsschreibung, die Walter Benjamin einmal als „die Hure ‚Es war einmal'“176 bezeichnet hat, unterliegt jedoch einem Widerspruch „zwischen dem historistischen Individualitätsdenken und der teleologisch angelegten Ideenlehre“, mit der weiterhin die grundlegende Bedeutung der Geschichte und das grundsätzliche Gewordensein jeder Epoche und jedes Ereignisses – und damit auch der Gegenwart – betont wird.177 Werden einerseits die Informationen „in rein kontemplativer Haltung, ohne systematischen Interessenbezug zum aktuellen Leben“178 bloß noch aufgelistet, kann andererseits keine zusammenhängende Darstellung geschichtlicher Prozesse auf narrative Muster und kausal nachvollziehbare Abfolgen verzichten. Denn auch wenn die historischen Entwicklungen durch keine höhere Fortschritts- oder Geschichtslogik mehr angetrieben werden, bleibt die Behauptung der Historizität jeder Epoche dennoch Grundlage der Geschichtsschreibung, die weiterhin die „großen Tendenzen“179 der Geschichte in der Makroperspektive zu bestimmen und festzuhalten versucht. Das aber erzeugt das Problem, dass die historische Dynamik zu einem blinden Fatum wird, in dem sich die Bedeutung menschlicher Handlungen letztlich relativieren muss: Erkenntnisse, Gedanken und Taten, aber auch Gesetze, Staatsformen, ökonomische Modelle oder Religionen sind zwar historisch abhängig, aber gleichzeitig trotzdem immer nur „individuell begreifbar“, enthalten also keinen Erkenntniswert für die Gestaltung der Zukunft.180 Die Individuen 174 175

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Vgl. Wunberg 1995, S.35ff. Zitiert nach Baßler, Moritz/ Brecht, Christoph / Niefanger, Dirk / Wunberg, Gotthard: Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996, S.17. Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1977, S.251-261, S.260. Baßler / Brecht / Niefanger / Wunberg 1996, S.18. Hinzu kommt, dass diese Ideenlehre im ausgehenden 19. Jahrhundert eine „tendenziell chauvinistische, staatslegitimierende Ausrichtung“ besitzt (ebd.). Schnädelbach 1974, S.20. In der Formulierung Leopold von Rankes. Zitiert nach: Baßler / Brecht / Niefanger / Wunberg 1996, S.18. Baßler / Brecht / Niefanger / Wunberg 1996, S.20. Den inhärenten Widerspruch des Historismus bringt Moritz Baßler auf den Punkt: „Die Historisierung vergangener

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sehen sich so auf der einen Seite jeder Möglichkeit beraubt, sich als Teil einer größeren Entwicklung zu begreifen, bleiben auf der anderen Seite jedoch dem Diktum der Geschichtlichkeit und damit der grundlegenden Abhängigkeit aller ihrer Überzeugungen von historischen Prozessen unterworfen. Einem derart anonymisierten Ablauf unterstellt, wird dem Subjekt die Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit und damit seine eigene Verlorenheit in der Zeit umso stärker ins Bewusstsein gerückt: „Das Gegenwarts-Bewusstsein des Ich ‚ertrinkt’ gleichsam im Strom der inkohärenten und inkongruenten Data aus Vergangenheit und Gegenwart, die es nicht mehr zu einer sinnvollen Einheit zu verbinden vermag.“181 Die vehementeste und wohl auch prominenteste Kritik an dieser Geschichtsauffassung äußert bereits 1874 Friedrich Nietzsche in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, deren Titel provokant nach dem Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben fragt.182 Im Fadenkreuz steht die Fetischisierung der Vergangenheit in den historischen Wissenschaften: Die Übermacht der historischen Daten unterdrückt nach Nietzsche die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und ist deshalb Anzeichen einer fundamentalen Lebensschwäche der Gesellschaft. Diese braucht die Historie nicht mehr „zum Leben und zur That“; vielmehr konstruiert sie historische Abhängigkeiten, denen das Handeln der Individuen bloß noch folgt: Es „giebt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet“, da es nur noch „der so mächtigen historischen Zeitrichtung [...] Artigkeit“ zollt.183 Dabei ist es keineswegs die Absicht Nietzsches, Geschichte insgesamt zu denunzieren: Vielmehr sieht er die Aufgabe darin, eine „Historie“ zu finden, die „zum Zweck des Lebens“ betrieben wird.184 Nietzsche zeigt drei unterschiedliche Arten des geschichtlichen Bewusstseins, denen er zunächst ein solches ursprüngliches Interesse an der eigenen Gegenwart nachweist, die dabei jedoch immer auch Gefahr laufen, sich mit ihren selbst erzeugten Konstruktionen zu lähmen. Die „monumentalistische Historie“ etwa, die durch Bezugnahme auf einstige Heldentaten und Leistungen pathetisch überhöhte Vorbilder für die Gegenwart zu generieren vorgibt, konzipiert diese Idole nicht selten auch als unerreichbare und entpuppt sich damit als „Maskenkleid, in dem sich ihr Hass gegen die Mächtigen

181 182

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Epochen führt zu deren Gleich- und Nebenordnung; Nebenordnung ist jedoch das ahistorische Prinzip schlechthin.“ Vgl. Baßler, Moritz: Historismus, literarische Moderne und Literaturwissenschaft. Überlegungen zu einem Projekt, in: Kamzelak, Roland S. (Hg): „Historische Gedächtnisse sind Palimpseste.“ Hermeneutik – Historismus – New Historicism – Cultural Studies. Festschrift zum 70. Geburtstag von Gotthart Wunberg, Paderborn 2001, S.127-136, S.128. Grundmann 2003, S.12. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 1 (KSA 1): Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870-1873, München 1988, S.243-334. Nietzsche, KSA 1, S.245f. Nietzsche, KSA 1, S.257.

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und Grossen ihrer Zeit für gesättigte Bewunderung der Mächtigen und Grossen vergangener Zeiten ausgiebt [...].“185 Auch die antiquarische Historie, die „das von Alters her Bestehende mit behutsamer Hand pflegt“ und damit „die Bedingungen“ der eigenen Existenz ins Bewusstsein rückt, verstößt letztendlich gegen die Forderung des Gegenwartsbezugs: Indem sie voll und ganz auf das Bewahren der Vergangenheit ausgerichtet ist, fetischisiert sie notwendig das „Alterthum“ und befindet es zunehmend als „vermessen“, diesem „ein Neuthum“ entgegenzustellen.186 Beide Auffassungen müssen daher von Zeit zu Zeit durch ein kritisches Geschichtsbewusstsein hinterfragt und – wenn nötig – zerschlagen werden. Dieses Zusammenspiel dreier unterschiedlicher Vergangenheitsbezüge wertet Nietzsche als notwendige Bestandteile eines geglückten Umgangs mit der Geschichte, wobei die entscheidende Pointe aller drei Arten der Historie in ihrer fehlenden Objektivität liegt: Es sind allesamt Versuche, „sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt.“187 Dieses Eingeständnis der Subjektivität steht in diametralem Gegensatz zu jenem Anspruch auf Objektivität, den die historistische Wissenschaft auszeichnet. Gerade die „Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll“, hat für Nietzsche das Verhältnis des Menschen zu seiner Vergangenheit endgültig zur Leblosigkeit verurteilt: Er schleppt es nur noch mit sich herum wie „unverdauliche Wissenssteine“188, aus denen kein Bezug zu seiner eigenen Lebenswirklichkeit mehr abzuleiten ist. Dabei erscheint Nietzsche der Anspruch auf Objektivität, der sich in der Verwissenschaftlichung artikuliert, schon generell gar nicht einlösbar, da auch der wissenschaftliche Geist als historische Prägung, als gesellschaftlicher Konsens betrachtet werden muss. Die behauptete Neutralität wird so der Lächerlichkeit preisgegeben: „Jene naiven Historiker nennen ‚Objektivität’ das Messen vergangener Meinungen und Thaten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Absicht ist, die Vergangenheit den zeitgemäßen Trivialitäten anzupassen.“189 Dagegen entwickelt Nietzsche die Forderung, jede historische Betrachtung in den Dienst der Gegenwart und der Zukunft zu stellen, wobei eben nicht ein objektives Ableiten des Kommenden aus dem Vergangenen anzustreben ist190, sondern ein mutiges, „unzeitgemäßes“ Voranschreiten: „Dadurch dass ihr vorwärts seht, ein grosses Ziel euch steckt, bändigt ihr zugleich jenen üppigen analytischen Trieb, 185 186 187 188 189 190

Nietzsche, KSA 1, S.264. Nietzsche, KSA 1, S.265 & S.268f. Vgl. Nietzsche, KSA 1, S.270. Nietzsche, KSA 1, S.271f. Nietzsche, KSA 1, S.289. Tatsächlich wurde geschichtliche „Objektivität [...] in der historischen Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft lange Zeit als das Bemühen des Historikers verstanden, im Gegenwärtigen und Vergangenen das Zukünftige intuitiv zu erahnen.“ Hölscher 1999, S.72.

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der euch jetzt die Gegenwart verwüstet und alle Ruhe, alles friedfertige Wachsen und Reifwerden fast unmöglich macht.“191 Von besonderem Einfluss für die Literatur der klassischen Moderne ist zweifelsohne Nietzsches Feststellung, der Historismus bewirke eine Diskriminierung der Gegenwart. Nietzsche bezeichnet die Historiker daher auch als „Todtengräber des Gegenwärtigen“192 und setzt dem Zeitbewusstsein, das sie erzeugen, bereits am Beginn seines Essays eine berühmt gewordene Emphase des augenblicklichen Erlebens entgegen: „Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheit vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie die Siegesgöttin ohne Furcht und Schwindel zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist [...].“193 Maßstab dieses Augenblicksglücks ist das zeitlose Empfinden der Tiere, in denen Nietzsche das unerreichbare Ideal einer ursprünglichen Erlebnisgegenwart verwirklicht findet: „So lebt das Thier unhistorisch: denn es geht auf in der Gegenwart, wie eine Zahl, ohne dass ein wunderlicher Bruch übrig bleibt, es weiss sich nicht zu verstellen, verbirgt nichts und erscheint in jedem Moment ganz und gar als das was es ist, kann also gar nicht anders sein als ehrlich. Der Mensch hingegen stemmt sich gegen die grosse und immer grössere Last des Vergangenen: diese drückt ihn nieder oder beugt ihn seitwärts, diese beschwert seinen Gang als eine unsichtbare und dunkle Bürde, welche er zum Scheine einmal verläugnen kann [...]. Deshalb ergreift es ihn, als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, die weidende Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verläugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt. Und doch muss ihm sein Spiel gestört werden: nur zu zeitig wird es aus der Vergessenheit heraufgerufen. Dann lernt es das Wort ‚es war’ zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Ueberdruss an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist – ein nie zu vollendendes Imperfectum.“194

Der Unterordnung der geschichtlichen Gegenwart unter einen abstrakten historischen Kontext entspricht also eine Ausgrenzung des individuellen Erlebnismoments durch das Bewusstsein der Zeit. Dieses aber ist geprägt durch das historische Bewusstsein, das einstmals den Sinn der Taten bestimmen sollte, nun in Nietzsches Perspektive aber tendenziell ausgeschaltet werden muss, um ein Dasein in der Gegenwart wieder zu ermöglichen. Die Utopie des erfüllten Augenblicks entsteht auf diese Weise als Gegenentwurf zu einer unglaubwürdig gewordenen, gleichsam entteleologisierten Geschichtsphilosophie.195 191 192 193 194 195

Nietzsche, KSA 1, S.295. Nietzsche, KSA 1, S.251. Nietzsche, KSA 1, S.250. Nietzsche, KSA 1, S.249. Zum Zusammenhang von „Entteleologisierung“ und „Augenblicksemphase“ vgl. Müller 1997, S.555ff.

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Erlebnisfähigkeit des Subjekts in der Moderne durch eine Übermacht sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft marginalisiert wird. So lässt zum einen die „Hypertrophie des allgemeinen kulturellen Gedächtnisses“ die „Grenzen zwischen der eigenen Gegenwart und der übermächtig gewordenen Fülle des Vergangenen verschwimmen und untergräbt so die Handlungsfähigkeit und Kreativität des Menschen, der nicht vergessen kann.“196 Zum anderen wird im Zuge der „Bevölkerung der Zukunft“ eine Form zielgerichteten Handelns etabliert, die mit den Worten Niklas Luhmanns immer die Struktur eines „Handelns vor dem Ereignis“ trägt, Sinn grundsätzlich nur aus der Perspektive des noch nicht eingetretenen Zwecks gewinnen kann und auf diese Weise jedes Geschehen prinzipiell in den Dienst der Zukunft stellt.197 Als blinder Fleck dieser modernen Zeitkultur erscheint in erster Linie die Gegenwart, die in der Logik des historischen Systems keinen Platz hat.198 Die zeitreflexive Literatur der klassischen Moderne unternimmt den Versuch, dieses Zeitverständnis durch ästhetische Konzepte zu überwinden und Geschichte wieder in den Erfahrungsraum des Subjekts zu integrieren. 199 In Anlehnung an Nietzsche wird vor allem der zeitenthobene Augenblick als Inbegriff einer alternativen Zeiterfahrung inszeniert, während gleichzeitig der Anspruch auf eine objektive Rekonstruktion der Vergangenheit abgelehnt wird. Die Einsicht, dass die Reflexion der Vergangenheit immer eine fiktionale Dimension besitzt und dass selbst die als objektiv verstandene Geschichte in der Rekonstruktion eher erfunden als gefunden wird, lässt ein Potenzial für eine „mediale Konstruktion der ‚anderen’ Zeit“200 sichtbar werden: „Vor allem die deutschsprachigen Autoren der Jahrhundertwende versuchen, eine im Vollzug von Modernisierung und Ausdifferenzierung unweigerlich abhanden gekommene Totalitätswahrnehmung in der zeitgenössischen Literatur und Kunst wiederherzustellen und möchten der gelungenen 196 197

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200

Grundmann 2003, S.8. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Zukunft kann nicht beginnen: Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft, in: Sloterdijk, Peter (Hg): Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft, Frankfurt a.M.1990, S.119-150, S. 123. Nach Ingrid Oesterle entzieht sich die „neue geschichtsimmanente, reflexive Zeit Gegenwart“ von Beginn an der „Erfahrung des Einzelnen“ ebenso wie „der Geschichtsschreibung“ und „dem wissenschaftlich gesicherten Begreifen als Weltgeschichte durch die Zeitgenossen.“ So droht schon im 18. Jahrhundert Geschichte „mit vergangener Geschichte gleichgesetzt zu werden“, während Gegenwart „als erkenntnis-insuffizient“ ausgegrenzt wird. Vgl. Oesterle, Ingrid: Der „Führungswechsel der Zeithorizonte“ in der deutschen Literatur. Korrespondenzen aus Paris, der Hauptstadt der Menschheitsgeschichte, und die Ausbildung der geschichtlichen Zeit „Gegenwart“, in: Grathoff, Dirk (Hg): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt a.M. / Bern / New York 1985, S.11-75, S.18ff. Wie die zeitgenössische Philosophie zielt sie dabei auf eine „Verinnerlichung“ der Zeit. Vgl. Nassehi 1993, S.59. Scherer 2000, S.347.

1. Flüchtige Zeitatome oder „eiserner Zusammenhang“?

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ästhetischen bzw. poetischen Erfahrung eine derartige synthetische Leistung zumuten. Die Antwort, die die deutschsprachigen Autoren angesichts dieser Situation formulieren, macht deutlich, inwieweit die explosionsartige Vermehrung von ‚Zeitbildern’ vornehmlich im deutschen Sprachraum als unmittelbare Begleiterscheinung kulturelle Ängste auslöste und nun im Bewusstsein der Epoche auf eine Bewältigung drängte.“201

Im Zentrum fast aller Werke steht dabei der Konflikt zwischen der ‚offiziellen’ Zeit der Gesellschaft und der subjektiven, persönlichen Zeiterfahrung, der schon die wissenschaftlichen Diskussionen des 19. Jahrhunderts prägt. 202 In vielen Romanen stellt die Sphäre der persönlichen, subjektiven Zeit allerdings nicht nur eine Gegenwelt zu der durch künstliche Zeitmaße und ökonomische, soziale und kulturelle Zeitzwänge dominierten Moderne dar, sondern erscheint regelrecht als letzte Zuflucht eines aus allen Sinnzusammenhängen gefallenen, zunehmend isolierten Subjekts. Die „Kunst der gelebten Zeit“203, die dem Fatum der Linearzeit entkommen soll, wird zur letzten Hoffnung einer Moderne, deren temporale Organisation das Individuum und seine Erfahrungsweisen immer stärker ausgrenzt.204

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann In Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, einem fragmentarischen Text, der häufig als erster deutschsprachiger Roman der literarischen Moderne bezeichnet worden ist, berichtet der Ich-Erzähler von seinem ehemaligen Nachbarn Nikolaj Kumitsch aus St. Petersburg. „Dieser kleine Beamte“ rechnet die gesamte Lebenszeit, die ihm noch zur Verfügung steht – er schätzt sie auf etwa fünfzig Jahre – in Tage, Stunden, Minuten und Sekunden um und behandelt die schwindelerregende Summe, die am Ende herauskommt, als „Kapital“. Doch stellt er bald fest, dass seine Ausgaben an Zeit unglaublich hoch sind, dass er mit dem Zeitvermögen, das ihm zur Verfügung steht, nicht ökonomisch zu wirtschaften versteht. Zwar spart er Zeit, wo immer es geht, doch „dieses infame Kleingeld“, die Sekunden und Minuten insbesondere, rin201 202

203 204

Simonis 2000 (a), S.370. So erläutert etwa Wilhelm Wundt: „Die Zeit ist keine Uhr, kein Kalender, auch nicht die Bewegung des Mondes und der Erde. Alles außer uns ist die Zeit nicht. Es bleibt wieder nur übrig zu sagen: die Zeit ist der Mensch. [...] Der Gedanke ist unser natürliches Zeitmaß: die Uhr, der Kalender, selbst der Stand der Sonne am Himmel ersetzen dieses natürliche Maß durch ein künstliches.“ Wundt, Wilhelm: Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele, Bd. I, Leipzig 1863, S.28. Vgl. Middeke 2004, S.53ff. Helga Nowotny betont, dass diese vehemente Reklamation der Eigenzeit ein historisches Spezifikum der Moderne und keineswegs eine anthropologische Konstante ist: „In früheren Gesellschaften gab es kaum Anzeichen, auch kein Bedürfnis für eine individualisierte Zeit.“ Vgl. Nowotny 1989, S.37f.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

nen ihm unaufhaltsam durch die Finger, und sein Groll auf die Gesellschaft, die ihn zur Ausgabe von so viel Zeit zwingt, steigert sich dermaßen, dass er sie am liebsten zurückverlangen würde – in Scheinen zu zehn Jahren zur Not, ausgestellt von der kaiserlichen Bank der Zeit, die er im Telefonbuch jedoch nirgends finden kann. Nur einmal kommt Nikolaj Kumitsch im Schlaf der Gedanke, er könne möglicherweise einer „kleinen Verwechslung“ unterlegen sein, „aus purer Zerstreutheit: Zeit und Geld, als ob sich das nicht auseinanderhalten ließe.“ Im wachen Zustand hingegen ist er schließlich kaum noch in der Lage, irgendeiner Betätigung nachzugehen: Die „wirkliche Zeit“, die er nun zu spüren gelernt hat, ihr unaufhaltsames Dahinwehen, das er auch bei geschlossenen Fenstern als Wind verspürt, der an seinen Kleidern zerrt, versetzt ihn in Schockstarre. Bald verlässt er nicht mehr das Haus, bleibt liegen auf seinem Sofa und hört nur noch den Sekunden zu, die vorbeiziehen, voller „übertriebener Bewunderung“ für diejenigen, die „herumgingen und die Bewegung der Erde vertrugen.“205 Die Selbstverständlichkeit, mit der Kumitsch einer unheilvollen Analogie anheim fällt, verdeutlicht die Schärfe des Konflikts, der in der Moderne zwischen subjektiver Erlebniszeit und gesellschaftlicher Zeitvorstellung entstanden ist. Für Rilke ist ein auf pure Zahlenlogik reduziertes Modell der Zeit kontraintuitiv, die Tatsache indes, dass eine ganze Gesellschaft dieser irrtümlichen Logik gehorcht und sie für selbstverständlich hält, ein grotesker Widerspruch. Kein Zweifel besteht daran, dass der Auslöser für die abstruse „Verwechslung“ in einer kapitalistischen Dynamik zu suchen ist, die die von ihr suggerierte Verfügungsgewalt über die Zeit jedoch gerade nicht herzustellen in der Lage ist, sondern ganz im Gegenteil eine zunehmende Handlungs- und Erlebnisunfähigkeit nach sich zieht. Die gezählte Zeit erzeugt keinen Besitz, sondern nur das Gefühl des Verlustes, des ständigen Entgleitens der Augenblicke, deren gewinnbringende Nutzung sich als Illusion erweist. Zeit wird somit als zusammenhanglose Folge separater Jetzt-Punkte sowie als Ausdruck einer kapitalistischen Verwertungslogik begriffen. Zu fragen wäre, welche ästhetischen Konzeptionen durch den Roman als Alternativen angeboten werden. Offenbar zielt dieser auf eine Erlebnisform, die der als sinnleer erfahrenen, ohnehin bloß „vereinbarten“ Welt 206 eine Innenwelt entgegenzusetzen versucht, die als „kategorial noch nicht eingezäunte Wirklichkeit“207 erst noch erforscht werden muss: „Das Ich“ bemüht sich hier darum, „eine Reihe von Strategien“ zu entwickeln, „um sich als organisiertes Zentrum und damit als den Zusammenhang der Welt wiederzugewinnen.“208 Als epistemologische Grundlage des Zeitbewusstseins gilt dabei die Erinnerung; im Gegensatz zur linearen Zeitauffassung kennzeichnet sie sich da205

206 207

Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, München 2004, S.125f. Die vorangegangenen Zitate finden sich ebd., S.122ff. Rilke 2004, S.75. Fülleborn, Ulrich: Form und Sinn der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman, in: Engelhardt, Hartmut (Hg): Materialien zu Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, Frankfurt a.M. 1977, S.175-198, S.183.

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann

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durch, dass in ihr die Sukzession durch eine Vergegenwärtigung des Vergangenen ausgesetzt und das nacheinander Erscheinende in Koexistenz überführt werden kann. Die erlebte Erinnerung wird auf diese Weise abgegrenzt von der ‚tatsächlichen’ Vergangenheit, die eigentlich „nie gewesen ist“; der innere Zeitrhythmus tritt der objektiven Zeit gegenüber, die „abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine Uhr in einem leeren Zimmer“209. Diese Umkehrung der Hierarchie von Welt- und Eigenzeit, bei der die inneren Erlebnisformen etwa der Erinnerung, des Traums oder der Vorstellungskraft als Gegenkräfte zu einer entleerten gesellschaftlichen Zeitauffassung mobilisiert werden, bildet eine der zentralen ästhetischen Strategien der Literatur der klassischen Moderne. Als „einer der frühesten Texte der Moderne“, die in dieser Form „die Subjektivität der Zeitwahrnehmung im Verhältnis zur chronologischen, also der Mechanik der Uhr folgenden Zeit“ aufwerten, gilt Richard Beer-Hofmanns im Jahr 1900 erschienene Erzählung Der Tod Georgs.210 In ihr wird vor allem der Versuch, „den äußeren Verlust des Zusammenhangs durch innere assoziative Verknüpfung“ zu „kompensieren“211, in all seinen Aporien durchgespielt. Paul, der Protagonist der Erzählung, kann die „festgefügte[n] überkommene[n] Formel[n]“ individueller Sinnstiftung – „Ruhm, Macht, ein glückliches Alter“ – nicht länger überzeugend finden: Nicht nur erkennt er die Glückskonzepte, die diese enthalten, als leere Versprechen; der lineare Zusammenhang des Lebenswegs selbst erscheint ihm bei näherer Betrachtung zunehmend als brüchig und konstruiert. Die bloß noch lineare, aber nicht mehr zusammenhängende Chronologie bedingt dabei eine fragmentierte Zeiterfahrung, in der jeder Eindruck ohne Verbindung zum anderen bleibt: „Denn rascher als das Bild des Blitzes seinen Augen entfloh, schuf er mit dem Senken seiner Lider tiefes Dunkel um sich, und zerstörte eine Welt, die er mit jedem Augenaufschlag von neuem sich erschuf.“212

Hinter diesem Zerfall überkommener Sinn- und Zeitkonzepte aber verbirgt sich gleichzeitig auch der utopische Ansatz des Textes: Indem das Subjekt in jedem Augenblick selbst die Welt erzeugt, in der es lebt, entkommt es den teleologischen Dynamiken einer durch Zukunft und Vergangenheit fremdbestimmten Zeitkultur. Die „impressionistische“ Prosa Beer-Hofmanns unterstützt auf formaler Ebene diese Form des Augenblickserlebens: In der „idealtypischen litera208

209

210

211 212

Pfeiffer, Joachim: Tod und Erzählen. Wege der literarischen Moderne um 1900, Tübingen 1997, S.156. Rilke 2004, S.20. „Der Roman entwirft“ also „ein neues Zeitverständnis, das nicht mehr von einer messbaren Chronometer-Zeit ausgeht, sondern von der individuellen, erlebten Zeit.“ Vgl. hierzu ausführlich: Dembski, Tanja: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukacs, Bachtin und Rilke, Würzburg 2000, S.168ff. Vgl. Scherer, Stefan: Richard Beer-Hofmann und die Wiener Moderne, Tübingen 1993, S.312. Pfeiffer 1997, S.124. Vgl. Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs, Stuttgart 1980, S.76.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

rischen Konstruktion einer gegenwartsbezogenen und rein der Kontingenz des Augenblicks sich ausliefernden assoziativen Wahrnehmung“ können die Dinge wieder „in ‚naiver’ Unmittelbarkeit“ gefasst werden.213 Die „reine ‚Evidenz im Augenblick’“ jedoch ist schon deshalb nicht dauerhaft zu erlangen, „weil sie zugleich die Aufhebung des Bewusstseins“ mit sich bringt: Aus jedem Kontext gelöst, drohen die Eindrücke des Subjekts bedeutungslos zu werden, bricht auch die Identität unweigerlich auseinander.214 Da die ‚offiziellen’ Konstruktionen von Dauer jedoch nicht mehr funktionieren, muss in Beer-Hofmanns Erzählung ein neuer Modus des Zeitumgangs gefunden werden, der die Gewähr für den Fortbestand der Wirklichkeit, für den Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen „Augenaufschlag“ auf andere Weise zu liefern vermag. Dieser neue Modus soll durch eine innere Zeitorganisation geschaffen werden, als deren Grundlage und Quelle das lebendige, nicht nur Bilder und Erfahrungen wirklichkeitsgetreu konservierende, sondern inhärent produktive Gedächtnis erscheint. Der Anspruch, die Vergangenheit ‚objektiv’ festzuhalten, wird dabei als konventionell kritisiert, da er auf einer letztlich bloß sozialen Unterscheidung von Wirklichkeit und Fiktion, Traum oder Phantasie beruht215 – eine Unterscheidung, durch welche das „fremde und flüchtige“216 Wesen der Eindrücke verdinglicht und jede Erfahrung unweigerlich in lebloses Wissen verwandelt wird. Dagegen wirkt im intensiven Zeiterlebnis, das Beer-Hofmanns Erzählung literarisch zu simulieren versucht, die zeitliche Distanz wie ausgelöscht, die die Chronologie behauptet: Das Gewesene wird nicht mehr als Vergangenes distanziert, sondern im Akt des Erinnerns jeweils neu erfahren. Durch „die simultane Präsenz des in der ‚Realität’ zeitlich und räumlich Geschiedenen“ stellt sich so letztlich der Eindruck von „Zeitlosigkeit“, die Überwindung sowohl der krisenhaften Flüchtigkeit als auch der Abhängigkeit von Vergangenem und Zukünftigem ein.217 Der Kontrast zwischen diesem lebendigen Verhältnis zur Vergangenheit und dem gewöhnlichen Umgang mit der Zeit, der sich durch eine bloße Speicherung des historischen Wissens kennzeichnet, wird in Der Tod Georgs wie folgt reflektiert: „In anderer Menschen Gedächtnis lag das Wissen von diesen Dingen wie das Korn in trockenen Speichern; wie in tiefgepflügtes feuchtes Erdreich war es in ihn gefallen und sog, aufwuchernd, alle Kraft aus ihm. Nicht wie ein Wissen von Geschehenem empfand er es; es war sein Eigen wie seine Träume und, wie diese, mehr sein wahres Leben als das, das er lebte. Er fasste es nicht, dass es gewesen, und er hasste alle, die in selbstverständlichem Begreifen, unerschauernd, an dem Wunder vorüberschritten, das sie Zeit nannten. Gewesen durfte er es nennen, weil es noch nicht geboren, als es geschah? Und 213 214 215 216 217

Vgl. Scherer 1993, S.207 & S.204. Vgl. Scherer 1993, S.208. Vgl. Scherer 1993, S.311f. Vgl. Beer-Hofmann 1980, S.17. Scherer 1993, S.313.

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann

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übermütig in der Kraft des Seins prahlten die Dinge um ihn, nur weil ihr Leben und das seine einen Augenblick sich begegneten? Und in grenzenloses ewiges Quellen durfte er, krämerhaft ordnend, seine Hand legen und, ein bestochener Richter, allem ein Urteil sprechen? Das war sagen, weil es ihm nicht gegönnt es zu sehen, und es ist sprechen, weil es mit ihm geboren? Was Macht besaß, an seine Seele zu rühren, das lebte, wenn es vielleicht auch nur wie langwanderndes Licht von fernen längst erloschenen Sternen ihn traf. Er sprach nicht davon wie von gewesener Herrlichkeit, und wie man von Toten spricht, die man geliebt: Mit Sehnsucht und Mitleid und vielem Erinnern. Ihm lebte es, und er dachte daran wie an den Mund seiner Geliebten; wie an lebendige Lippen, die er heute geküsst und die er morgen wieder küssen durfte.“218

Wie bei Rilke wird auch bei Beer-Hofmann die Selbstverständlichkeit kritisiert, mit der die Menschen das „Wunder“ der Zeit in eine „krämerhafte“, sinnleere Ordnung überführt haben. Der kulturelle Sinnzerfall, der sich in einem entfremdeten Verhältnis des Individuums zur individuellen und historischen Vergangenheit ausdrückt, soll über den Weg einer Subjektivierung der Zeit aufgehoben werden. Längst Vergangenes, Geträumtes und sogar bloß Vorgestelltes treten nun gleichberechtigt nebeneinander, da ein Abgleich mit den äußeren Speichermedien, den „Kornspeichern“ des Wissens, generell abgelehnt wird; „Bilder unterschiedlicher Vergangenheitsstufen“ stehen „in der Intensität eines gegenwärtigen Erlebnisses“ prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander.219 Die Innenwelt nimmt über die introspektive Reanimation der Vergangenheit auf diese Weise zunehmend Raum ein und verdrängt die Welt des bloß gewussten, aber nicht erlebten und deshalb nur scheinbar Tatsächlichen. Das Subjekt, das sich in der Aneinanderreihung chronologisch geordneter Fakten nicht länger wiedererkennen kann, findet sich so im inneren Rhythmus spontan und ungesteuert auftauchender, insgesamt aber bruchstückhafter Erinnerungen. Auch historisches Wissen wird, zumeist in der Form erinnerter Lektüreerlebnisse, in diesen Modus der inneren Erfahrung übersetzt: Das syrische Fest, das Paul infolge der zitierten Reflexionen imaginiert, wird ihm zum unmittelbaren Erlebnis. Die Entfremdung, die das Subjekt durch seine Unterordnung unter anonyme Zeitmuster erleidet, wird auf diese Weise aufgehoben: Die lineare Ordnung der Zeit erscheint nur noch als verhängnisvolle Abstraktion, während ursprüngliches Zeiterleben sich durch Gegenwärtigkeit und durch die ‚Gleichzeitigkeit’ von Imagination und Erfahrung auszeichnet. Die Priorität des inneren Erlebens, die von einem Großteil der Autoren der literarischen Moderne behauptet wird, kennzeichnet sich also durch eine Aufhebung der Zeit zugunsten einer nicht länger flüchtigen, sondern erfüllten, lebendigen Gegenwart, in der Erinnerung, Erwartung und Erfahrung zusammenflie218 219

Beer-Hofmann 1980, S.20. Scherer 1993, S.313.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

ßen. Die theoretischen Grundlagen dieser Revolte des subjektiven Zeitempfindens gegen die offizielle, gleichförmige und teleologische Zeitkonzeption findet sich in erster Linie in den Ansätzen Henri Bergsons ausgearbeitet, die seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts auch und gerade in der deutschsprachigen Philosophie, Literatur und Literaturkritik stark rezipiert und adaptiert wurden.220 Wie Rilke erkennt Bergson, dass in der modernen abendländischen Zivilisation die Weltzeit zum Maßstab aller Handlungen und jeder inneren Zeiterfahrung geworden ist. Eigentliche Erfahrung, so Bergson, entzieht sich jedoch jeder Quantifizierbarkeit; erst durch eine Projektion der inneren Zeiterfahrung in einen virtuellen Raum entsteht die Vorstellung einer unabhängig von der Wahrnehmung gleichförmig ablaufenden Momentfolge. Tatsächliche Zeiterfahrung jedoch ist nicht in einzelne Atome oder Intervalle zerlegbar, da Bewusstseinszustände nicht wie Kugeln in einer Kette aufeinander folgen, sondern sich überschneiden und ineinander übergehen. Das Modell hierfür liefert – wie bei vielen anderen Autoren auch – die Erfahrung der Musik, deren Wesentliches gerade verfehlt würde, würde sie auf eine Abfolge disparater und unabhängiger Töne reduziert.221 Der Unterschied zwischen Zeit und Raum steht bereits im Mittelpunkt von Bergsons 1889 erschienenen Essai sur les données immédiates de la conscience, der in Deutschland später unter dem Titel Zeit und Freiheit erschien. Während nämlich der Raum als unendlich teilbar vorgestellt werden müsse, lasse die Zeit „sich nicht teilen [...], ohne sich bei der Teilung in ihrer Beschaffenheit zu ändern.“ 222 Nur im „objektiven“ Raum gibt es nach Bergson tatsächlich disparate „Momente“, da jedes Ding in ihm durch seine Lage bestimmt wird und die unterschiedlichen Koordinaten zweier verschiedener Lagen keinerlei Verbindung miteinander aufweisen. Auf diese Weise ist ein Bezug herstellbar, durch den zwei verschiedene Dinge sich tatsächlich radikal unterscheiden und Zustände gewissermaßen ‚zählbar’ werden. Für die subjektive Dauer gilt das indes nicht: Die Sukzession vollzieht sich hier immanent, als gegenseitige Durchdringung verschiedener Momente, „so dass aus ihnen das wird, was wir eine ununterschiedene oder qualitative Mannigfaltigkeit nennen wollen, die mit der Zahl keinerlei Ähnlichkeiten hat“223. Nur durch den Vergleich innerer und äußerer Zustände entsteht nach Bergson „eine dem Raum entlehnte symbolische Vorstellung von der Dauer“, die daraufhin „die illusorische Form eines homogenen Mediums“ an220

221 222

223

Vgl. Simonis 2000 (a), S.370ff. Simonis macht allerdings darauf aufmerksam, dass die Interpretation der subtilen Differenzierung des durée-Konzeptes als zeitenthobene, holistische Form der Welterschlossenheit als „produktives Missverständnis“ der deutschsprachigen Bergson-Interpretation verstanden werden müsse. Bergson, Henri: Zeit und Freiheit, Hamburg 2006, S.97. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997, S.13. In Bergsons Worten muss die innere Dauer als „Sukzession ohne reziproke Exteriorität“ aufgefasst werden, während Räumlichkeit „reziproke Exteriorität ohne Sukzession“ bedeutet. Vgl. Bergson 2006, S.83. Bergson 2006, S.81.

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann

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nimmt.224 Wird indes auf diese räumliche Vorstellung verzichtet, werden alle Verweise über die Gegenwart hinaus selbst zu gegenwärtigen Bewusstseinszuständen. Denn die Sinnzuschreibung ‚Erinnerung’ für ein bestimmtes im Bewusstsein entstandenes Bild ist bereits ein der Entstehung des Bildes nachgeordneter kognitiver Akt, der Räumlichkeit implizit voraussetzt. Die abstrakte Vorstellung eines vergangenen Bewusstseinszustandes kann diesen zudem ohnehin niemals vollständig reproduzieren; er ist für immer verloren, und die Rückbesinnung ist selbst nichts anderes als eine der verschiedenen Schattierungen der gegenwärtigen Erfahrung, welcher deshalb einzig Realität zukommt. Das Konzept der „durée“, also die „Auffassung von der zeitlichen Dauer als einem kontinuierlichen Sichineinanderschieben sukzessiver Bewusstseinszustände [...] in eine lebendige Gegenwart“225, impliziert auf diese Weise, dass eine solche Gegenwart niemals eine ‚plötzliche’ sein kann, sondern die Erfahrung eines Zusammenhangs, einer Koexistenz des scheinbaren Nacheinanders bedeutet, die eben nicht als räumliche ‚Verkettung’ veranschaulicht werden kann. Der Eindruck der Flüchtigkeit entsteht indes nur als Folge der Dominanz eines räumlichen Zeitmodells. Innere Gegenwart dagegen ist an konkretes Handeln und reale Bewegungen gebunden, deren Dauer als selbstverständliche und gewissermaßen alternativlose Erfahrung vorgestellt werden muss. Der ursprüngliche Zugang zur Welt ist der eines handelnden Erfassens einer immer bereits schon funktional erschlossenen Gegenwart. ‚Äußere’ Zeit hingegen entsteht erst, wenn diese ursprüngliche Erschlossenheit in eine abstrakte Struktur überführt wird, die die reale Erlebnisgegenwart überdauern soll. Anhand vielfacher Beispiele zeigt deshalb Bergson immer von Neuem, wie ursprüngliche Erfahrung in räumliche Vorstellungen transformiert und somit verdinglicht wird. Der abstrakte Raum konzipiert immer ein simultanes Ganzes, dem unabhängig von irgendeiner Perspektive Existenz zugesprochen werden muss. Auch die Vorstellung der Zeit ‚als Ganzes’, also über die erfahrene Gegenwart hinaus, bedeutet eine solche Konstruktion: Wenn man „im Sukzessiven eine Ordnung einführt, so wird eben damit die Sukzession zur Simultaneität und projiziert sich in den Raum“226. „Um diese Argumentation strenger zu fassen, wollen wir uns eine gerade, unbegrenzte Linie vorstellen, und auf dieser Linie einen materiellen Punkt A, der sich bewegt. Könnte dieser Punkt sich seiner selbst bewusst werden, so würde er die Empfindung von einer Veränderung haben, da er sich ja bewegt: er würde eine Sukzession apperzipieren; hätte diese Sukzession für ihn aber die Gestalt einer Linie? Gewiss, wenn er sich nämlich in irgendeiner Weise über die Linie, die er durchläuft, erheben und simultan mehrere nebeneinander liegende Punkte davon apperzipieren könnte. Eben damit aber würde er die

224 225 226

Bergson 2006, S.84. Grabes 2002, S.316. Bergson 2006, S.79.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900 Vorstellung des Raumes bilden, und so würde er die Veränderung, die er durchmacht, sich im Raume abspielen sehen und nicht in der reinen Dauer.“227

Für eine Betrachtung der „tiefen psychischen Tatsachen existiert kein angebbarer Unterschied zwischen Vorhersehen, Sehen und Handeln“228, löst sich also auch die Vorstellung ungegenwärtiger Zeiten bei genauerer Betrachtung auf. Freilich sollen mit dieser Perspektive kognitive Tätigkeiten nicht insgesamt diskreditiert werden; doch erscheint für Bergson die gesellschaftliche Wirklichkeit als „uninteressierte Verstandeskonstruktion“, wenn sie sich von der Einbindung in den lebendigen Zusammenhang des Handelns vollkommen ablöst und vergangene oder zukünftige Zustände lediglich noch begrifflich vorstellt.229 Entgegen den idealistischen oder realistischen Auffassungen versucht er, das Verhältnis von Geist und Materie als oszillierende Bewegung zwischen den Extremen der intelligiblen Verräumlichung und der reinen körperlichen Handlungsmotorik vorzustellen, die aber am Leben selbst orientiert bleibt.230 Durch die gesellschaftliche Dominanz der verräumlichten Zeitvorstellung jedoch verändert sich nach Bergson auch die geistige Form der Bewusstseinsinhalte, weshalb seine Schriften in erster Linie das Anliegen verfolgen, nach Möglichkeiten zu fahnden, die Zeitvorstellung wieder zu ‚enträumlichen’. Ein Beispiel für diese Beeinflussung des Bewusstseins durch verdinglichte Vorstellungen liefert die philosophische Debatte um die Frage nach der Freiheit des Menschen. Bergson zeigt, dass sowohl die Vertreter der deterministischen Position als auch deren Widersacher auf ein verräumlichtes Modell von Zeit rekurrieren. In einem Fall als Linie, im anderen als Baum dargestellt, liegt in beiden Fällen der Fehler in dem Glauben, „dass man anhand dieser Figur den Prozess der psychischen Aktivität verfolgen könne wie den Marsch einer Armee an der Hand einer Karte.“231 Beide Positionen verfolgen diese konstruierte Figur lediglich von verschiedenen Richtungen, weshalb sich der Determinismus auf die tautologische Aussage reduzieren lasse, dass eine Handlung, die vollzogen ist, eben vollzogen ist, während umgekehrt die Betonung der Freiheit nichts anderes meint als Handlungen, die noch nicht vollzogen wurden und eben deshalb noch nicht feststehen. Gerade in der deutschsprachigen Literatur finden sich um 1900 zahlreiche offenkundige Analogien zu dieser Zeit-Philosophie. Räumliche Zeit-Darstellungen wie etwa diejenigen des Flusses, des Baumes oder auch der Straße und des Lebenswegs werden zunehmend ihrer sinnstiftenden Funktionen beraubt; denn das Wasser des Lebensstroms lässt sich nicht „in Krüge fassen [...], um in die 227 228 229

230 231

Bergson 2006, S.79. Bergson 2006, S.148. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, Frankfurt a.M. 1964, S.227. Vgl. Bergson 1964, S.241ff. Bergson 2006, S.135.

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann

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gefangene Flut zu starren und ihr zu sagen: ‚Du bist mein Leben.’“ 232 Insbesondere die Uhr steht als offenkundigste Verräumlichung der Zeit in dem Verdacht, nichts als Werkzeug einer perfiden Taktung und Disziplinierung des Individuums zu sein.233 Utensilien der Zeitvermessung wie „Kalender, Stundenplan, Uhr, Merkbuch“ gehören deshalb auch fast notwendig zu jedem Repräsentanten des militaristisch-bürokratischen Systems etwa des Kaiserreichs: „Alles ging von der Tabelle aus und strebte zur Festsetzung hin, amtlich starr“, heißt es etwa vom Haushalt der Andergasts in Jakob Wassermanns Roman Der Fall Mauritius.234 Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, demonstriert dagegen die Absurdität dieser „amtlichen“ Zeitvorstellung in einer berühmten Szene am Anfang des Romans, in der er die einförmige Bewegung der Uhr mit dem diffusen Geschehen der Welt vor seinem Fenster zu koordinieren versucht. „Er stand hinter einem der Fenster, sah durch den zartgrünen Filter der Gartenluft auf die bräunliche Straße und zählte mit der Uhr seit zehn Minuten Autos, die Wagen, die Trambahnen, und die von der Entfernung ausgewaschenen Gesichter der Fußgänger, die das Netz des Blicks mit quirlender Eile füllten; er schätzte die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendigen Kräfte vorüberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich ziehen, festhalten, loslassen, die während einer Zeit, für die es kein Maß gibt, die Aufmerksamkeit zwingen, sich gegen sie zu stemmen, abzureißen, zum nächsten zu springen und sich diesem nachzuwerfen; kurz, er steckte, nachdem er eine Weile im Kopf gerechnet hatte, lachend die Uhr in die Tasche und stellte fest, dass er Unsinn getrieben habe.“235

Deutlich wird hier eine diskontinuierliche, brüchige Auffassung der Welt, deren uniformer zeitlicher Maßstab mit der Zeit der Wahrnehmung nicht mehr koordiniert werden kann. Der Versuch erzeugt „Unsinn“, da die Uhrzeit selbst, unterschieden von der Zeitlichkeit der Wahrnehmung, eben keinen Sinn zu stiften in der Lage ist. Dementsprechend ist das Zeitmodell, das in der berühmten Zug-Metapher zum Ausdruck kommt, nicht länger das eines idealtypisch vorgezeichneten Lebenswegs, sondern das einer blinden Bewegung, die vom empfindenden Subjekt auch noch „auf das lebhafteste“ beeinflusst wird – freilich unbewusst, denn der Reisende sieht augenscheinlich nicht, wohin der Zug fährt:

232 233

234 235

Beer-Hofmann 1980, S.61. Zahlreiche Beispiele hierfür finden sich etwa bei Ziolkoswki 1972, S.165ff., oder auch bei Nünning, Ansgar / Sommer, Roy: Die Vertextung der Zeit. Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch inszenierter Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen, in: Middeke, Martin (Hg): Zeit und Roman. Zeiterfahrungen im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, S.33-56, S.47. Wassermann, Jakob: Der Fall Mauritius, München 1988, S.13. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1: Erstes und zweites Buch, Reinbek bei Hamburg 1987, S.12.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900 „Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt. Der Fluss der Zeit ist ein Fluss, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden auf festem Boden; aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das lebhafteste mitbewegt.“236

Es wird hierbei offenbar eine Perspektive eingenommen, die sich ganz wie in Bergsons Beispiel in die Position eines Punktes auf einer Linie zu denken versucht, der seine eigene Bewegung nicht überschauen kann. Einerseits hat das merklich eine Einbuße an Kontrolle und Überblick zur Folge, andererseits wird, indem die Konfusion als „lebhaft“ gekennzeichnet wird, auch eine Atmosphäre der Spannung und der Dynamik spürbar: Bergsons Philosophie zufolge kann es in einer verräumlichten Zeitvorstellung nichts wirklich Neues geben, da alles, was passiert, dem Modell der kausalen Verknüpfung gehorchen muss und daher zumindest theoretisch vorhergesehen und berechnet werden kann. In einer originären Zeitwahrnehmung hingegen wird gar nichts vorhergesehen, mehr noch: Es gibt gar nichts vorherzusehen, da Zeitlichkeit sich im Rahmen der konkreten gegenwärtigen Handlungen überhaupt erst herstellt. Dies entspricht auch der Metapher des Zuges, der seine Schienen vor sich her rollt. Vor allem aber findet sich in vielen Romanen der klassischen Moderne eine komplexe innere Ordnung der Zeit in der assoziativen Form der Erzählung selbst gestaltet. So scheinen etwa zwischen dem ersten und dem zweiten Kapitel von Der Tod Georgs zunächst viele Jahre zu liegen, bevor dann das ganze zweite Kapitel als Traum identifiziert wird, der direkt an die Handlungen des ersten Kapitels anschließt. In ihm jedoch findet sich ein weiterer, als Erinnerung auftretender Traum eingearbeitet, der gleichzeitig auf frühere Lektüreerfahrungen des Protagonisten zurückverweist – und so fort. Als einer der „ersten konsequent personal perspektivierten Texte im deutschen Sprachraum“ inszeniert Beer-Hofmanns Erzählung so eine in erster Linie durch die subjektive Zeitwahrnehmung organisierte Wirklichkeit.237 Die Unterscheidung von tatsächlichen und fiktiven Ereignissen wird hierbei ebenso für obsolet erklärt wie ihre Anordnung zu einer einzigen kausalen Chronologie. Diese Neuorganisation der Zeit wird in der Erzählung allerdings von Reflexionen begleitet, die den Wert der neu gewonnenen Perspektive wieder infrage stellen. So reproduzieren sich in den erinnerten oder phantasierten Innenwelten offenbar die linearzeitlichen Muster, um deren Überwindung es dem Protagonisten geht: Die Frau, mit der Paul sich eine gemeinsame Zukunft erträumt, liegt auch im Traum nach wenigen Jahren schon auf dem Sterbebett; denn wie Paul „wusste, dass er auf einer Erde stand, [...] so wusste er, dass sie sterben müsste, und fasste es nicht.“238 Die imaginierte Zukunft verfällt dabei ebenso wie die Wirklichkeit der Einsicht in die Leere der Zeit und in die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins: „Nur 236 237 238

Musil 1987, S.445. Vgl. Paetzke, Iris: Erzählen in der Wiener Moderne, Tübingen 1992, S.75. Beer-Hofmann 1980, S.12f.

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann

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Stunden des Tages, und Stunden der Nacht – und zusammen nur Zeit, die verrinnt.“239 Auch die Vorstellung, dass Georg, der plötzlich verstorbene Freund, „nicht jetzt gestorben wäre“240 – Auslöser für eine der vielen Produktionen alternativer Zeitläufe, denen Paul sich hingibt –, mutiert dem Phantasten zu einer Schreckensvision, in der dem Todkranken aller Lebenssinn abhanden kommt: Nicht an „der Schwelle von Ruhm, Macht und Glück“ ist Georg gestorben, sondern im Vorzimmer der „Angst“ und der „Scham über seine Angst“.241 Die zerfallenen Sinn- und Glückskonzepte, die Paul zu einer Abkehr von der wirklichen Welt bewegen, reproduzieren sich also auch in der Phantasie als zerfallene, als nicht mehr gültige Vorstellungen, sodass zuletzt auch die alternativen Welten wieder einer Zeit-Logik gehorchen, in der nichts als die Sinnlosigkeit des Daseins zum Ausdruck kommt. So scheint sich in den Projektionen des Subjekts stets eine gesellschaftliche ‚Vorstruktur’ mitzuverwirklichen, die jedes Bemühen um Souveränität als hoffnungslos kenntlich werden lässt. Diese Vorstruktur zeigt sich auch dort, wo Paul den Versuch unternimmt, Zeitlichkeit selbst auszuschalten, etwa indem er sich in einen Zustand der „Präexistenz“242 zurückversetzt, in das Stadium der frühen Kindheit, das durch unmittelbares, gegenwärtiges Erleben gekennzeichnet ist: „Nicht leere Namen waren die Zeiten des Tages, bloß wie Merksteine in die Geschäfte des Tages gestellt. Ihre alte Herrschaft schien ihnen wiedergegeben; Tag und Nacht, das Morgenwerden und das Abendwerden, waren wieder Urmächte wie am Anbeginn aller Dinge. Führerlos, und nicht auf gewiesenen Wegen, ging man; nach Welten, die nachts, leuchtend und unverrückbar, hoch über einem im Raume hingen, richtete man seinen Weg. Kein Verirrtsein gab es, wie in den Straßen begrenzter Städte; im Grenzenlosen, in Zeit und Raum schien man zu sinken und – sich darin verlierend – fühlte man sich ein Teil von dem, darin man sich verlor.“243

Doch auch diese Vision wird durch das Wissen eingeholt, dass Alter und Tod nicht aus der Welt zu schaffen sind. Der Versuch, in der „Mitte buntverkleideter, hastiger Träume“244 fortzuleben, scheitert also an einem Bewusstsein, das sich seines Wissens von der leeren Zeit, die „unhemmbar“ verrinnt 245, nicht entledigen kann. Das Kindheits-Ideal selbst gibt sich – ebenso wie das syrische 239 240 241 242

243 244 245

Beer-Hofmann 1980, S.42. Beer-Hofmann 1980, S.69. Vgl. Beer-Hofmann 1980, S.68 & S.71. Vgl. Bürger, Christa: Hofmannsthal und das mimetische Erbe, in: Bürger, Peter: Prosa der Moderne. Unter Mitarbeit von Christa Bürger, Frankfurt a.M. 1988, S.193-211, S.196ff. Beer-Hofmann 1980, S.78f. Beer-Hofmann 1980, S.99. Beer-Hofmann wiederholt fast wörtlich das Zitat aus dem Traum-Kapitel: „Nur Stunden des Tags, und Stunden der Nacht, und zusammen nur Zeit, die verrann – unhemmbar verrann.“ Beer-Hofmann 1980, S.84.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

Fest – als ein bloßes Konzept zu erkennen, als angelesenes, also kulturell vorgeprägtes Sinnmuster. Diese Prägung durch gesellschaftliche Strukturen kennzeichnet letztlich alles, was das Subjekt wahrnimmt oder imaginiert: Die „Einbildungskraft produziert, vergleichbar einem Kaleidoskop, fixe Bilder – sie rastet ein, wenn eines dieser Bilder den unveränderlichen Strukturen des Subjekts entspricht.“246 Die erinnerten und halluzinierten Dinge flechten so bald „ein Netz“ um den Protagonisten, „engmaschig und alle Freiheit ihm nehmend“, und ausgerechnet die Sichtweise des Dichters, der die Dinge „mit leichten Fingern formend über sein Haupt gehoben hätte“247, bleibt uneinlösbarer Anspruch. Der Verstand fasst die als lebendig vorgestellte Wirklichkeit notwendig in leblose Kategorien und musealisiert so zunehmend die Erfahrung; ein lebendiges Verhältnis zu den erinnerten oder eingebildeten Dingen misslingt, da sie durch den Verstand auf den Begriff gebracht und dadurch ihres einzigartigen, einmaligen und flüchtigen Wesens beraubt werden. Kein Eindruck, keine Imagination ist „ahnenlos“, und Paul überkommt ein „Ekel vor den plumpen Worten“, von denen er sich nicht emanzipieren kann.248 Die lineare Zeit, die in der Literatur um 1900 kritisiert wird, erscheint auf diese Weise nicht mehr als bloß äußerliche, gesellschaftliche Konventionen, sondern als internalisierter Bestandteil des Bewusstseins, als Effekt einer unhintergehbaren sprachlichen Grundstruktur. Über die literarische Auseinandersetzung mit ‚der Zeit’ artikuliert sich so die Einsicht in die reale Abhängigkeit des Subjekts von ihm vorgängigen Verständnismustern in Form einer „diskursiven Wahrnehmbarmachung der Vorgänge zwischen bewusster Reflexion und unbewusster Reproduktion gesellschaftlicher Vorurteile.“249 Schon bei Bergson wird diese Vorgängigkeit der Verstandesmuster im Zuge einer allgemeinen Verdinglichungskritik deutlich. Was die Nuancen der inneren Zustände, der diffusen Bewusstseinsinhalte und Gefühle zerstört, sind dabei in erster Linie die Begriffe, die uns völlig unterschiedliche Dinge als Immergleiches vor Augen führen.250 Auch die Dominanz der verräumlichten Zeit ist für Bergson damit lediglich ein Bestandteil einer gesellschaftlich-sprachlichen ‚Kruste’, die sich in jeder Beziehung über die eigentliche Erfahrung gelegt hat. Das Verhängnis ist insofern dialektisch angelegt, als dass Begrifflichkeiten andererseits für ein bewusstes Weltverstehen offenbar unumgänglich sind. So fordert Bergson, man müsse für jede Empfindung ein präzises eigenes Wort erfinden, das einzig und allein die Einmaligkeit dieses Momentes spiegelt, erkennt aber selbst sofort, dass, sobald dieser Moment verstrichen wäre, das Wort dennoch fortbestehen und sich unmittelbar gegen die Erfahrung wenden würde.251 Die Abstraktion des konkreten Er246

247 248 249 250 251

Scheible, Hartmut: Nachwort, in: Beer-Hofmann, Richard: Der Tod Georgs, Stuttgart 1980, S.120-160, S.131. Beer-Hofmann 1980, S.34f. Beer-Hofmann 1980, S.34 & S.56. Vgl. Scherer 2000, S.342. Vgl. Flasch 1993, S.34f, sowie Bergson 2006, S.99. Bergson 2006, S.99.

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fahrungsraumes in eine homogene Dimensionalität, die Vereinheitlichung der Erfahrungszeit zu einer ebenfalls räumlichen und damit messbaren Vorstellung, schließlich die Sanktionierung dieser Weltsicht in sprachlichen Mustern: Bergson entwirft über den Umweg einer Kritik des Zeitbewusstseins eine kulturpessimistische Philosophie, die nachdrücklich auf die Gefährdung des vergesellschafteten Menschen hinweist. „In dem Maße aber, als sich die Bedingungen des Gemeinschaftslebens einer vollständigeren Verwirklichung annähern, tritt auch die Strömung deutlicher hervor, die unsre Bewusstseinszustände von innen nach außen treibt: allmählich verwandeln sich jene Zustände in Objekte oder in Sachen; sie lösen sich nicht bloß voneinander ab, sondern auch von uns. Wir apperzipieren sie alsdann nur mehr in dem homogenen Medium, worin wir ihr Bild zum Stehen gebracht haben, und durch das Wort hindurch, das ihnen sein Alltagsgewand umwirft. Auf diese Art entsteht ein zweites Ich, das das erste überdeckt, ein Ich, dessen Existenz wohlunterschiedene Momente aufweist, dessen Zustände sich voneinander abheben und ohne weiteres auf Worte bringen lassen. [...] Dasselbe Ich ist es [...], das, wenn es dann seine Aufmerksamkeit länger auf diese Zustände richtet, sie ineinander verfließen sieht, wie Schneekristalle bei anhaltender Berührung mit der Hand.“252

Eine homogenisierte Wahrnehmung, die jeden Eindruck aus dem Strom der Impressionen heraushebt und ‚als etwas’ feststehen lässt, wird somit auch als Grundlage des linearen, entfremdeten Zeitschemas gefasst und zum wesentlichen Gegenstand der Kritik. Was bei Bergson gegen diese Übermacht des verdinglichten Denkens einzig noch bleibt, ist die Reklamation eines vorsprachlichen, authentischen Gefühls, einer verschütteten, ursprünglicheren Erfahrungsebene, die er recht literarisch mit der „rein qualitativen Vorstellung“ vergleicht, „die ein empfindender Amboss von der wachsenden Zahl der Hammerschläge haben würde.“253 Der psychologische Roman erscheint Bergson dabei als möglicher Ausdruck solch authentischer und unabgeleiteter Eindrücke, indem er „das geschickt gewobene Gewebe unseres konventionellen Ich zerreißt“ und uns so „die unlogische Natur des Gegenstandes“ immerhin ahnen lässt. Mehr kann auch er nicht, da er im Medium der Sprache, der konkreten Begrifflichkeiten zu verharren gezwungen bleibt.254 Die Spaltung des Ich in eine konventionelle und eine echte, aber verschüttete Seinsform ist einer der tragenden Topoi der literarischen Moderne. Gesellschaftliche Identität ist dabei mit chronologischer Zeit koordiniert; wie diese erscheint sie als künstliches Gebilde, dessen Unglaubwürdigkeit die Erfahrung der Flüchtigkeit motiviert. Denn in der kompletten „Absage an die Kontinuität des 252 253 254

Bergson 2006, S.104. Bergson 2006, S.93. Bergson 2006, S.100f.

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Zeitbewusstseins“255 erscheint bald jede Gewissheit, die über den gegenwärtigen Augenblick hinaus weist, als vorweggenommene und unüberprüfbare Prämisse; die Persönlichkeit selbst wird erkennbar als immer nur postulierte ‚Identität’ disparater zeitlicher Zustände: ‚Ich’ ist jemand, der sich nicht aus dem Erlebnisaugenblick selbst erklärt, und deshalb ‚ein Anderer’. Insbesondere Hugo von Hofmannsthal hat dieses Dilemma zum Ausdruck gebracht: „Mein Ich von gestern“, so notiert er einmal, „geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes.“256 Besonders eindrucksvoll belegen dies zweifelsohne die bekannten Verse aus dem Gedicht Über Vergänglichkeit: „Und dass mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Herüberglitt aus einem kleinen Kind, Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.“257

Wurde das Subjekt seit der frühen Neuzeit als Bewusstsein der Identität verschiedener kognitiver und körperlicher Bewegungen konzipiert258, gerät in der Moderne gerade dieses Kontinuum in den Strudel der Auflösung. Das Problem, „wie die Zeitlichkeit des cogitos mit seiner nur im jeweiligen Denkaugenblick garantierten Gewissheit der eigenen Existenz zu vereinbaren ist“, bleibt außerhalb kultureller Zusammenhänge unlösbar259: Sobald der konkrete Moment der Selbstvergewisserung überschritten wird, beziehen wir uns schon auf eine Vergangenheit, deren Wahrhaftigkeit nicht mehr sicher ist. Dadurch aber entsteht das Gefühl, dass Identität prinzipiell unmöglich ist: Die Einheit mit sich selbst verkommt zu einem bloßen Postulat. Die These des „unrettbaren Ichs“, die Ernst Mach populär machte, bringt dies zum Ausdruck: „Größere Verschieden255 256

257

258

259

Bohrer 1981, S.43. Hofmannsthal, Hugo von: Aufzeichnungen. Hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1959, S.93. Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Über Vergänglichkeit in: Sämtliche Werke (Kritische Ausgabe), Bd. I: Gedichte 1. Hg. von Eugene Weber, Frankfurt a.M. 1984, S.45. John Locke hat das sehr früh paradigmatisch zum Ausdruck gebracht: „Jedenfalls muss jedes vernunftbegabte Lebewesen, das für Glück oder Unglück empfänglich ist, zugeben, dass es ein Etwas gibt, das sein Selbst ist, woran es interessiert ist und das es glücklich sehen möchte. Man muss ferner zugestehen, dass dieses Selbst in einer stetigen Dauer länger als einen Augenblick bestanden hat und darum wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft möglicherweise auf Monate und Jahre hinaus weiterbestehen kann, ohne dass man seiner Dauer bestimmte Grenzen setzen könnte, und dass es durch das für die Zukunft fortgesetzte Bewusstsein das selbe Sein bleiben kann. So findet man durch dieses Bewusstsein, dass man dasselbe ist, das vor einigen Jahren eine bestimmte Handlung vollzog, aufgrund deren man jetzt glücklich oder unglücklich ist. Bei dieser Auffassung des Selbst wird nicht die numerische Identität des Substanz, sondern die Identität des fortdauernden Bewusstseins als dasjenige angesehen, was dasselbe Selbst begründet.“ Vgl. Locke, John: Ein Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 1981, S.434. Das war schon das Dilemma Descartes: Vgl. Puhl, Klaus: Subjekt und Körper. Untersuchungen zur Subjektkritik bei Wittgenstein und zur Theorie der Subjektivität, Paderborn 1999, S. 11.

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann

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heiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben.“260 In der Literatur wird dieser Zerfall der Identität in zeitlich disparate Zustände als Ansatz zu einer Befreiung von der Eindimensionalität gesellschaftlicher Identitätsmuster, aber auch als Schock über die artifiziellen Anteile der eigenen Persönlichkeit erlebt. An dieser Auseinandersetzung wird deutlich, dass der Versuch, die innere Zeiterfahrung zum Maßstab der äußeren zu machen, scheitern muss. Denn wenn jeder Bezug auf Nicht-Gegenwärtiges schon die Aktivierung einer fremden, medialen Struktur voraussetzt, sind die „Kornspeicher des Wissens“ unumgängliche Voraussetzung jedes Bewusstseinsaktes. Schon Augustinus hatte eine Abwendung von den objektiven Zeitmustern versucht und dabei den eigenen Geist als Ursprung der Zeit erkannt. Das Ich galt ihm jedoch noch als stabile Entität: „Was aber ist mir näher, als ich mir selbst bin?“, fragt er in seinen Confessiones und spricht dabei ausdrücklich von der „Seele“, also vom unsterblichen, zuletzt göttlichen Teil des menschlichen Wesens, das in sich, in seinem Gedächtnis auch die Erinnerung an die göttliche Seligkeit bewahrt.261 Es gibt, in anderen Worten, für alle Wunder des menschlichen Bewusstseins einen Garanten in Gott; auch die Einheit mit sich selbst ist eines dieser Wunder und basiert auf der Annahme eines gottgeschaffenen Ichs. Die Zeit ist deshalb nicht ein bloßes Erzeugnis des Bewusstseins, sondern behält ihren ontologischen Stellenwert als objektive Zeit; die Flüchtigkeit des Augenblicks, deren Augustinus gewahr wird, erscheint auch ihm durchaus bedrohlich, jedoch nur, solange der Trost im Glauben nicht stetig neu vergegenwärtigt wird.262 In der Moderne ist der Glaube jedoch ohne Boden, und die göttliche Garantie der zeitlichen Synthese kann nicht länger gewährleistet werden; sie obliegt nur noch dem menschlichen Geist allein.263 Das erinnernde Ich kann nicht länger als Seele begriffen werden und geht deshalb seiner göttlichen Beschaffenheit verlustig.

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Mach, Ernst: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886, S.3. Vgl. Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Übersetzt von Otto F. Lachmann, Leipzig 1888, Buch X, Kap. 25. Augustinus 1888, XI, 15: „Könnte man sich irgendeine Zeit denken, die sich nicht mehr, auch nicht in die kleinsten Teilchen zerteilen lässt, so könnte diese allein gegenwärtig genannt werden. Und doch würde auch diese so schnell von der Zukunft in die Vergangenheit hinübereilen, dass sie auch nicht die geringste Dauer aufweisen könnte. Denn wenn es der Fall wäre, so würde es in Vergangenheit und Zukunft zu teilen sein; für die Gegenwart bliebe kein Raum. Wo ist also eine Zeit, die wir lang nennen könnten?“ „In der Moderne sind soziales System und psychisches System, soziale Zeit und psychisch-individuelle Zeit nicht mehr durch eine fundamentale Abschlusskategorie, nicht mehr durch einen god-term [...] zu homogeniesieren.“ Vgl. Müller, Harro: Zeitkonstruktionen in der Literatur der Moderne: in: Müller, Klaus E. / Rüsen, Jörn (Hgg): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien, Reinbek bei Hamburg 1997, S.552-567, S.565.

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Dadurch aber stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage die Sicherheit des eigenen Fortbestehens postuliert werden kann264, die Verknüpfung von Zeit und Sinn, von äußeren und inneren Zeitmustern weiterhin zu gewährleisten ist. Kontinuität erscheint nun nicht länger als Eigenschaft der menschlichen Seele, sondern wird abhängig von einem gesellschaftlichen Identitätsgaranten, an den sich das Subjekt klammert und der im Fortgang der Moderne sukzessive seine Glaubwürdigkeit verliert. Die bekannten Zustände des Sprach- und Kontinuitätsverlustes, die sich etwa in Hofmannsthals berühmtem Chandos-Brief finden, bringen so auch weniger die tatsächliche Sprachunfähigkeit einer Person als vielmehr die fehlende Berechtigung einer gesellschaftlich und sprachlich sanktionierten ‚Konstruktion von Dauer’ zum Ausdruck.265 Und fast wie eine Replik auf die Thesen des Augustinus klingt es, wenn Malte Laurids Brigge fragt: „Aber ist es nicht gerade unser Eigenstes, wovon wir am wenigsten wissen?“ 266 Die moderne Dialektik des Subjekts bringt mit sich, dass die Verkleidung, in die der junge Malte sich zum Spaß an anderer Stelle verhüllt, an ihm notwendig haften bleiben muss: Das „Ich“ ist verloschen und endgültig „Er“ geworden267, die Identität ist fremd, das „Eigenste“ bleibt unzugänglich.268 Denn indem jeder assoziative Akt des Bewusstseins immer auf die sinnstiftenden Konzepte der Kultur und Gesellschaft zurückgreifen muss, gibt sich auch jede scheinbar ursprüngliche Wahrnehmung als durch Bewusstseinsinhalte präformierte zu erkennen. Genauso ist das „Zeiterleben von Menschen, die zu streng zeitregulierten Gesellschaften gehören“, diesen zu einer „zweiten Natur“ geworden, „die nicht weniger zwingend als biologische Eigentümlichkeiten und doch sozial erworben ist.“269 An einer Szene aus Rilkes Roman lässt sich nachvollziehen, welche Folgen es haben kann, wenn die soziale Regelung des Zeiterlebens dennoch vorübergehend aufgehoben wird. Nicht zufällig ist es eine Krankheit, die den delirierenden Malte dazu befähigt, seine gesellschaftliche Identität kurzzeitig zu verges264

265

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269

Nach Scheible ist dies das zentrale Thema in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs der Versuch, die Einzigartigkeit des Ichs gegen alle Einwände zu retten. Vgl. Scheible 1980, S.154f. Vgl. hierzu Schneider, Sabine: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006, u.a. S.10ff. Rilke 2004, S.119f. Rilke 2004, S.79. Auch bei Beer-Hofmann fällt die Maske erst im Moment des Todes vom – eigentlichen – Gesicht. Vgl. Beer-Hofmann 1980, S.49. Elias 1984, S.122. Beer-Hofmanns Versuch allerdings, im vielkritisierten letzten Kapitel von Der Tod Georgs die kulturelle Prägung zur eigentlichen Natur des Menschen zu erheben und Paul in den „unbewussten Takt“ der Schritte einer Arbeiterkolonne fallen zu lassen, bedeutet fraglos einen Rückfall in vormoderne Bedeutungsmuster: Gerade die Erfahrung, dass Kultur und Gesellschaft keine Orientierung mehr bieten, sondern das Subjekt auf sich selbst zurückwerfen, kennzeichnet die Ausgangslage der Moderne. Diese zeigt sich als aporetisch, da in das Subjekt im Versuch der Selbstfindung dennoch nicht anders kann, als die gescheiterten kulturellen Muster zu reproduzieren, die seine Isolation erst erzeugt haben. Vgl. Beer-Hofmann 1980, S.117.

2. Innere und äußere Zeit: Rilke und Beer-Hofmann

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sen. Sein Zustand schwankt dabei zwischen einer staunenden neuen Sicht auf das eigene, unbekannte Selbst und einer angstvollen und lebensbedrohlichen „Krise“, in der er in den Abgrund einer diskontinuierlichen, atomisierten, unzusammenhängenden Nicht-Identität zu stürzen droht: „Und mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzes Gewirr irrer Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang an einer versunkenen Sache. Leben, von denen man nie erfahren hätte, tauchen empor und mischen sich unter das, was wirklich gewesen ist, und verdrängen Vergangenes, das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt, ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer da war, ist müde von zu oftem Erinnern. Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein Tag, den nichts unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne Zeiger. [...] Alle verlorenen Ängste sind wieder da.“270

Die Zeit repräsentiert in ihrem Anspruch auf Sinn eine falsche, aber stabile Ordnung, aus der gelöst das Subjekt seiner Auflösung entgegentrudelt. Zunächst gilt diese als „Leben“: Aus dem Bann der Wirklichkeit befreit, werden Phantasie und Gedächtnisleistung ununterscheidbar, löst die Vorstruktur, die Zeit verarbeitbar macht, sich auf in halluzinatorische Gegenwart, die durch die zeigerlose Uhr metaphorisiert wird. Doch führt dieser Zustand nicht zur Befreiung, sondern in die Angst vor der Unberechenbarkeit aller Dinge der Welt, vor der Kontingenz und dem Verlust jeglicher Ordnung: „Die Angst, dass ein kleiner Wollfaden, der aus dem Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf wie eine stählerne Nadel; die Angst, dass dieser kleine Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf [...]“271. In tatsächliche Erlebnisgegenwart gerückt, wird die souveräne Macht des Subjekts von den Dingen selbst gebrochen, da der Verstand sie nicht länger einordnen und in der symbolischen Distanzierung aufheben kann, die die Erfahrung der Zeit begründet. Tanja Dembski fasst zusammen: „In den Aufzeichnungen kann das Bewusstsein einer subjektiven Zeiterfüllung nicht vermittelt werden; Malte scheitert an der Beschaffenheit seiner Erinnerungen, die als Medium der authentischen personalen Identifikation versagen. Deshalb kann er die Epiphanie, den erfüllten Augenblick, nicht erfahren; vielmehr ist das Kontinuum der Zeit zerfallen in eine Vielzahl isolierter Momente, die nicht existentielle Erfüllung, sondern in negativer Umkehr existentielle Bedrohung markieren.“272

270 271 272

Rilke 2004, S.49. Rilke 2004, S.49. Dembski 2000, S.177.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

3. Unmögliche Präsenz: Hofmannsthal und Musil Wie Sabine Kyora dargelegt hat, ist die Auseinandersetzung mit der Zeit in der Literatur um 1900 durch den Widerspruch gekennzeichnet, dass die ehemals „verbindlichen Zeit- und Kausalitätskonzepte“ an Gültigkeit verlieren, der Literatur jedoch „keine homogene Antwort auf die Auflösung dieser Kategorien möglich ist.“273 Der Versuch, aus der Introspektion ein neues, authentischeres Zeiterleben zu gewinnen, scheitert letztlich, weil er sich immer auf eine dem Bewusstseinsakt vorgängige Struktur beziehen muss – oder aber den Zerfall des Bewusstseins selbst, das keine Wahrnehmung mehr identifizieren, keine Gegenwart mehr kognitiv distanzieren kann, in Kauf nimmt. Beispielhaft wird das auch in Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß deutlich, der diese Problematik zudem mit einem Diskurs um Bild- und Schriftlichkeit verbindet. Für den jungen Törleß teilt sich die Welt in zwei Realitätsebenen, deren eine die Dinge, Menschen und Gedanken über die Zeit hinweg immer als dieselben festhält, während die andere einer vorbegrifflichen, authentischen und unverfälschten Zugangsweise entspringt, die jede Erscheinung von ihren kulturellen Konzeptionen befreit und im Augenblick ihres Erscheinens als lebendig zu erfassen vermag. Der temporale Zusammenhang zwischen den Erscheinungen allerdings ist, wie die Auseinandersetzung zwischen Törleß und seinem Mathematiklehrer über die imaginären Zahlen zeigt, nicht nachweisbar. Dennoch stellt Törleß fasziniert fest, dass der Zusammenhang funktioniert, und zwar so, als überschreite man „eine Brücke, von der nur Anfangs- und Endpfeiler stehen“, die aber trotzdem einen sicheren Übergang gewährt. 274 Die Suche nach einer Erklärung für diese lückenhafte Erkenntnisstruktur ist eines der zentralen Handlungsmotive des Buches, kommt jedoch augenscheinlich zu keinem befriedigenden Ergebnis: Die Lehrer als Autoritäten des Gesellschaftssystems verlangen sogar ausdrücklich von Törleß, er müsse den Zusammenhang – und damit die Realität der linearen Zeit – „einfach glauben.“ 275 Dass das Problem der imaginären Zahlen nicht nur stellvertretend für das zweifelhaft gewordene wissenschaftliche Weltbild steht, sondern eine grundlegende zeittheoretische Dimension besitzt, wird auch durch die Reflexionen des Mystikers Beineberg zum Ausdruck gebracht: Das „hüpfende Übel“ des menschlichen Bewusstseins charakterisiert dieser als momentanistische Struktur, nach der jeder einzelne Gedanke bloß in seinem „Jetzt“ existiert, das sich von jedem kommenden und vergangenen „Jetzt“ aber radikal unterscheidet.276 Diese Differenzen werden erst mit der Erziehung unsichtbar, da sie von einem gesellschaftlich sanktionierten, aber bei 273

274 275 276

Vgl. Kyora, Sabine: Eine Poetik der Moderne. Zu den Strukturen modernen Erzählens, Würzburg 2007, S.73. Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Reinbek bei Hamburg 1978, S.74. Musil 1978, S.77. Musil 1978, S.121.

3. Unmögliche Präsenz: Hofmannsthal und Musil

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genauer Betrachtung wenig glaubhaften Zeitkontinuum, einer internalisierten ‚Konstruktion von Dauer’ überdeckt werden. Indem sich Törleß von diesem Zusammenhang übergangsweise befreit findet, kann er die Dinge und Menschen seiner Umgebung auf eine andere Weise betrachten – eine Weise, für die er jedoch keine Ausdrucksmöglichkeit findet, da sie sich dem sprachlichen Zugang entzieht. Immer deutlicher wird für Törleß, dass eine Erklärung für seine „anderen Zustände“, in denen sich der „Kitt seines Lebens“ löst und die „Stunden [...] ohne inneren Zusammenhang auseinander“ fallen277, nicht zu finden ist, da eben die Erklärung die Herstellung eines Zusammenhangs bedeuten und auf diese Weise den Wahrnehmungszustand selbst überdecken würde. Bildliche, gegenwärtige Wahrnehmung und sprachliche Vergegenwärtigung treten also miteinander in Konkurrenz, der Wahrnehmungsakt zerfällt in „etwas, das durch die Kraft irgendwelcher Erfinder an ein harmloses, erklärendes Wort gefesselt war, und etwas ganz Fremdes, das jeden Augenblick sich davon loszureißen drohte.“ Die Ebene der Worte steht hier dem wahrhaftigen Erlebnis entgegen; „zwischen Erleben und Erfassen“ herrscht „eine Unvergleichlichkeit“: „Immer aber ist es so, dass das, was wir in einem Augenblick ungeteilt und ohne Fragen erleben, unverständlich und verwirrt wird, wenn wir es mit den Ketten der Gedanken zu unserem bleibenden Besitz fesseln wollen.“278

Die „Kette der Gedanken“ ist eine zeitliche Verknüpfung ins Endlose, ein infiniter Regress der Zeichenkette, die die Wirklichkeit, auf die sie sich bezieht, niemals einholen kann. Törleß’ verträumter und sehnsüchtiger Blick in den Himmel, in eine Sphäre überirdischer und holistischer Wahrheit, von der ihm ist, als müsste er „mit einer langen, langen Leiter hineinsteigen können“, markiert dieses Versagen des menschlichen Verstehens: Die Leiter ist niemals lang genug, um den Himmel zu erreichen; „je weiter er hineindrang und sich mit den Augen hob, desto tiefer zog sich der blaue, leuchtende Grund zurück.“279 Die Wahrheit wird durch das begriffliche Denken verstellt; die „belanglosen Worte“ rinnen über jeden Augenblick hinweg und bringen ihn zum Verlöschen.280 Jede sprachliche Äußerung erweckt in Törleß schließlich den Eindruck, eine Lüge zu sein: Er registriert ein „Versagen der Worte“, die immer „nur zufällige Ausflüchte für das Empfundene“281 sind. Gleichzeitig merkt Törleß jedoch, dass der sprachlichen Ebene nicht zu entkommen ist. Das zeigt insbesondere das mystische Experiment, das die Jungen mit dem angeblichen Dieb Basini anstellen: Der Mystizismus Beinebergs, sein Versuch, Basini durch Hypnose in einen Zustand zu versetzen, in dem die Gegenständlichkeit des Daseins aufgehoben wäre, entlarvt 277 278 279 280 281

Musil 1978, S.14. Musil 1978, S.64f. Musil 1978, S.62. Musil 1978, S.22f. Musil 1978, S.65.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

sich als „Geschwätz“282, denn es basiert selbst bloß auf einem Konzept, das Basini nicht nur keine kathartische Reinigung ermöglicht, sondern ihn zusätzlich noch auf die Rolle des Sünders festlegt. Die Anspielungen auf alte Kulturen und über Jahrtausende tradierte religiöse Erfahrungen, die Beineberg zur Rechtfertigung seines Vorgehens zum Besten gibt, weisen seine Überwindungsstrategie der modernen Kultur als anachronistisch aus: Sein Versuch bedeutet eine Rückkehr zum augustinischen Glauben an die menschliche Seele, deren Kontinuität als wahrhaftige hinter der falschen gesellschaftlichen aufscheinen soll. Außerdem wird auf diesem Weg die Ursprünglichkeit, die gefunden werden soll, selbst als Zitat einer bestimmten kulturphilosophischen und -historischen Theorie offenbar, was dem eigentlichen mystischen Anspruch offenkundig zuwiderläuft. Dem Experiment ist konsequenterweise kein Erfolg beschieden: Basinis Trance ist bloß gespielt, Beinebergs Vorgehen selbst steht zudem im Zeichen eines Machtverhältnisses, das er sadistisch auskostet. Für Törleß ist dadurch der Beweis erbracht, dass jeder intelligible Zugang zum Disparaten und Ursprünglichen der Wahrnehmung verschlossen bleiben muss. Die Objektivität der begrifflichen Welt hat sich als natürliche und notwendige Ordnung sanktioniert und bleibt unhinterfragbar; gefasst als ‚Kette der Worte’ ist sie, so ließe sich behaupten, identisch mit jener anderen objektiven Gegebenheit der linearen, homogenen Zeit. Am Ende beherrscht Törleß deshalb eine resignative Einsicht in die Abhängigkeit des menschlichen Geistes von den kontingenten und schwerfälligen begrifflichen Konzepten seiner Eltern und Erzieher. In der „Taghelle des Daseins blind gegen das Dunkel“283 zu sein, erscheint ihm zuletzt als fast beneidenswerte Fähigkeit, und er verzichtet auf den Versuch, seine beiden Modi der Wahrnehmung zu koordinieren. Die Überlegungen, die ihn zuletzt zum Abgang von der Eliteschule bewegen, bedeuten einen Verzicht auf jedes weitere Erkenntnisinteresse und das Eingeständnis einer Abhängigkeit von jenen Erklärungsmustern, die einen tatsächlichen Zugang zur Welt eher verhindern als ermöglichen. Das Spannungsfeld von Bildlichkeit und Sprachlichkeit erweist sich als wesentlicher Ort des Konfliktes zwischen einer als falsch identifizierten kulturellen Konstruktion von historischer und individueller Kontinuität und dem Ideal eines augenblicklichen Erlebens, dessen utopische Prägung die tatsächliche Unerreichbarkeit authentischer Erfahrung ins Bewusstsein treten lässt. Wie das Beispiel zeigt, erscheint die Sprache in der Literatur um 1900 als in besonderer Weise assoziiert mit jenem „Gesetz“, das die ursprüngliche Wahrnehmung durch die Einführung einer abstrahierenden Außenperspektive verbaut.284 282 283 284

Vgl. Schneider 2006, S.302ff. Musil 1978, S.129. Vgl. hierzu Vrkunc, Mirjana: Das Bild und die Sichtbarkeit des Ereignisses. Zur Wahrnehmungstheorie Henri Bergsons, in: Rölli, Marc (Hg): Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004, S.105-120, S.105ff.

3. Unmögliche Präsenz: Hofmannsthal und Musil

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In Form der Weltzeit hat dieses „Gesetz“ einen endgültigen Status erreicht, der nicht zuletzt durch die schriftliche Fixierung der Vergangenheit in der Geschichtswissenschaft Konturen erhält. Die historische Zeit ist in besonderer Weise eine Zeit der Schrift und des Schreibens, eine nicht nur be-, sondern geschriebene Zeit, eine schriftliche Inszenierung chronologischer Zusammenhänge, die das Disparate und Flüchtige der Welt in die teleologische Prozessualität einer Erzählung fügt.285 Uwe Steiner erläutert: „Jede referentielle Operation sieht sich der Fülle ihres Referenten gegenüber. Um seine Komplexität zu bezeichnen, muss sie aus einer Menge an alternativen Möglichkeiten selegieren. Die Bezeichnung aktualisiert so ein bestimmtes Merkmal, um anderes in die Latenz zu verlagern. Eine Option auf adäquate Repräsentation von Komplexität kommt nicht herum, den Referenten zu temporalisieren. Und das heißt nichts anderes, als ihn in die Sequenz der Schrift zu verlagern. So erscheint die alphabetische Schrift als das in der Letternfolge bewegte Abbild einer ‚ursprünglichen’ Fülle, als Übergang ins Endliche. Als Repräsentation eines ihr scheinbar vorgeordneten Sinns motiviert die Schrift eine teleologische Erwartungshaltung: der Referent soll in der Sequenz des Textes sukzessive abgeschildert [...] werden.“286

Geschichtliche Zeit und die gesellschaftliche Bedeutung des Mediums Schrift hängen also eng miteinander zusammen: Beide stehen um 1900 für eine Zeitkonstruktion, die die Unmittelbarkeit des realen Geschehens und Erlebens tilgt und durch eine verstandesgemäße, aber grundsätzlich falsche ‚Konstruktion von Dauer’ ersetzt. Die Skepsis gegenüber dieser Begriffskultur, die stetig eine „Verwechslung von Wort und Welt“287 provoziert, zeigt sich nicht nur an der Krise der Schrift in den Texten Musils oder Rilkes, sondern darüber hinaus an einer Infragestellung der gesamten Sprachlichkeit, die in diesem Kontext als permanente Trivialisierung und Verfälschung der tatsächlichen, unendlich diffusen und facettenreichen Wahrheit erscheint: „Durchs Reden kommt ja alles zustande“, bemerkt etwa Hans Karl, „der Schwierige“, in Hofmannsthals gleichnamigem Lustspiel, und schränkt die Aussage unmittelbar wieder ein, indem er die Sprache als eine „indezente Selbstüberschätzung“ gegenüber der „letzten unaussprechlichen Nuance“ des Lebens charakterisiert.288 Dagegen steht das Bild für die Ursprünglichkeit der Wahrnehmung, für einen Erkenntnismodus, der jeder Symbolisierung vorausgeht. Nur diese ur285

286 287 288

Nach Christina von Braun ist es in erster Instanz die „phonetische Alphabetschrift“, der das Abendland und der „historisch denkende Mensch“, der es bewohnt, seine „einzige unverrückbare Sicherheit“ verdankt: Die Einheit, Berechenbarkeit und Irreversibilität der Zeit, „die Unveränderbarkeit des Gewesenen.“ Braun, Christina von: Ich habe Zeit. Das taktlose Geschlecht, in: Keller, Ursula (Hg): Zeitsprünge. Berlin 1999, S.101-130, S.103. Steiner 1996, S.55. Steiner 1996, S.91. Hofmannsthal, Hugo von: Der Schwierige. Lustspiel in drei Akten. Sämtliche Werke (Kritische Ausgabe), Bd. XII: Dramen 10. Hg. von Martin Stern u.a., Frankfurt a.M. 1993.

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sprünglichen Wahrnehmungen, so die Reflexionsfigur, können als echt bewertet werden, da sie epistemologisch nicht hintergehbar sind; jede Dinglichkeit indes als Grundbedingung dessen, was wir ‚Wirklichkeit’ nennen, entlarvt sich als Folge des Eingriffs unseres abstrahierenden und begrifflichen Denkens in diese Wahrnehmung, wodurch sie als sekundär zu gelten hat. Dieser Antagonismus von Bildlichkeit und Schriftlichkeit durchzieht die Literatur um 1900 nahezu leitmotivisch. Gemessen an dem seit Platon überlieferten Topos von der ‚Falschheit’ der Bilder vermag dabei der Umstand zu erstaunen, dass gerade die Sphäre der Bildlichkeit tendenziell als ursprünglich, unverfälscht und authentisch indiziert wird. Dennoch sind es nicht nur die Wahrnehmungsbilder, sondern auch bildliche Ausdrucksformen der Kunst wie etwas die Malerei, die die Schriftsteller um 1900 faszinieren, was sich unter anderem in der Vielzahl von Essays zu Künstlern und Kunstwerken etwa bei Rilke oder bei Hofmannsthal zeigt. Der Lebensferne des eigenen Mediums wird ein emphatischer Gestus der Unmittelbarkeit von Erfahrungen entgegengehalten: Gegen eine „längst selbstreferentiell gewordene symbolische Ordnung der Begriffskultur“ soll die „schöpferische Potenz“ sinnlichen Erlebens und Wahrnehmens mobilisiert werden.289 Das sich auf diese Weise öffnende „Spannungsfeld von Bild und Sprache, von Präsenz und Symbolisierung“290 zeigt sich auch in der Malerei selbst, so etwa in den theoretischen Grundlagen des Impressionismus, in dem die Auflösung der Konturen auf die Konventionalität aller dinglichen Wahrnehmung verweist. Die Literatur sucht nach einer äquivalenten Erfahrung des Bruchs mit überkommenen Sehkonventionen, den sie der Erfahrung entgegensetzen könnte, dass es immer eben diese Konventionen sind, die gegen jedes bessere Wissen und jeden Augenschein alles zu überdauern scheinen. Auch in der psychologischen und philosophischen Theorie der Zeit gibt es die entsprechende Tendenz zu einer Aufwertung des Bildes im Zeichen der Authentizität. Wiederum ist es die Philosophie Henri Bergsons, die sich für den Beginn des Diskurses als ausschlaggebend zeigt. Unseren Zugang zur Welt erklärt dieser im Gegensatz zu materialistischen oder idealistischen Konzeptionen, die zwischen psychischer und physischer Welt niemals glaubhaft zu vermitteln in der Lage seien, mit Hilfe von Bildern, in denen das Bewusstseins und die Dinge tendenziell zusammenfließen. Bilder sind für Bergson nicht bloß Abbilder der Wirklichkeit; vielmehr begreift er sie als ontologische Grundkategorie der Welt, die also in erster Linie nicht aus „Dingen“, sondern aus „Bildern“ bestehe, wodurch unsere Wahrnehmung, „wenn sie rein ist“, als ein Bestandteil der Welt selbst und nicht als deren Medialisierung gesehen werden müsse.291 Das Wahrnehmungsbild habe seine Basis in einer pragmatischen Erschlossenheit der Welt, in der den Bildern durch das Bewusstsein nichts hinzugefügt wer289

290 291

Vgl. Mazza, Matala de: Dichtung als Schau-Spiel. Zur Poetologie des jungen Hugo von Hofmannsthal, Frankfurt a.M. 1995, S.15. Schneider 2006, S.35. Vgl. Bergson 1964, S.91.

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de, sondern in der allein im Sinne eines Selektionsprozesses eine Filterung der Bilder zu Wahrnehmungsbildern stattfinde. Bilder und Handlungen seien deshalb in einem „sensomotorischen Schema“ verknüpft, das der Erkenntnis ursprünglich nicht bedürfe. Diese trete erst auf, wenn „ein von der Materie empfangener Reiz sich nicht in eine notwendige Reaktion verlängert“292. Bilder werden also, so ließe sich folgern, ‚als Bilder’ erst dann bewusst, wenn sie aus der Wirkdynamik gelöst und gewissermaßen symbolisch perpetuiert werden. Der Kunst solle es nach Bergson jedoch vor allem um den „Augenblick der Bildentstehung“ gehen, in dem ein unmittelbarer Kontakt zwischen dem Wirklichen und seiner Erfassung noch besteht.293 Diesem Augenblick droht die mediale Entfremdung jedoch unmittelbar auf dem Fuße zu folgen: Aus einer Wirklichkeit, die sich eigentlich in stetigem Fluss befindet und sich aus diesem Grund jeder abstrahierenden Betrachtung widersetzt, löst der begriffliche Verstand ein Bild heraus, das dadurch jedoch sogleich zu einer entlebendigten Repräsentation gerinnt. Der Kontrast zwischen Ursprungs- und Repräsentationsbild erschafft dabei erst das, was als Zeit erfahren wird. Zeitbewusstsein ist deshalb mit Entfremdung identisch; die zeitbewusste Kultur der Moderne kennzeichnet sich durch einen Beobachtungsmodus ‚zweiter Ordnung’, der nicht mehr auf die Dinge selbst, sondern auf das Verhältnis von Ich und Objekt fokussiert und auf diese Weise die Distanz zwischen beiden – als temporale – eigentlich erst ins Bewusstsein holt. Die Dominanz des eigentlich sekundären Symbolischen über die Ursprünglichkeit des Visuellen liefert das Motiv für die Entwicklung einer Augenblicksästhetik, die den Moment der puren Impression, der sich der Sphäre der Bedeutungen zu entziehen vermag, als Utopie einer neuen Wahrnehmung inszeniert. Der Augenblick bedeutet so eine blitzartige Erkenntnis, die aber im Kontrast zum Erkenntnisbegriff der Aufklärung keine Entschlüsselung der Welt bezweckt, sondern als Ziel eines regelrechten „Programms des Vergessens kultureller Codes“294 eher eine mystische Totalitätserfahrung anstrebt. Schon Walter Pater hatte deshalb einer „rückhaltlosen Hingabe an den intensiven Augenblick“ das Wort geredet295; und Nietzsche forderte, wie gezeigt, ein Verharren „auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend“, denn „überall ein Werden zu sehen“ führe in das Verhängnis, dass „alles in bewegte Punkte auseinanderfließe[]“ und Glück fortan unerreichbar werde.296 Aufgrund der temporalen Struktur der Sprache aber, die selbst als Abstraktion der ursprünglichen Impression in einem Akt der Reflexion erst entsteht und deshalb dem, was sie bezeichnet, immer nachgeordnet ist, bleibt Bildlichkeit im Medium der Sprache selbst ein bloßes Symbol des Authentischen: Wer versucht, sinnli292 293 294 295 296

Bergson 1964, S.63f. Vgl. Vrkunc 2004, S.116f. Schneider 2006, S.67. Vgl. Schneider 2006, S.67f. Nietzsche, KSA 1, S.250.

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che Gegenwart zu bezeichnen, „erzeugt dadurch die Differenz von bezeichnender und bezeichneter Gegenwart, die, weil sie nicht konvergieren können, Zeit erzeugen.“297 Um 1900 wird in diesem Zusammenhang das Bewusstsein virulent, dass den unterschiedlichen Künsten, dass insbesondere der Literatur im Vergleich zur Malerei im Kampf gegen fortschreitende Verdinglichung keine vergleichbaren Mittel zur Verfügung stehen. „Zweifellos ist die Entmächtigung der rationalen Sprache, die Umwertung ihres Herrschaftsanspruchs zur Defizienz, zum hilflosen Merkzeichen einer Fülle, die immer auf der anderen Seite des Abgrunds ist, eines der wirkungsmächtigsten Phantasmen der Zeit, welches die eigene Metaphorik des Mangels und der Mortifizierung ausbildet. [...] Gegenüber dem Einbruch dieses Anderen der Sprache – so die Reflexionsfigur – ist die symbolische Ordnung jenseitig; sie kann erst nachträglich jene Differenzen setzen, auf denen ihre zeichenbildende Kraft beruht und die in solchen stummen Momenten der Differenzlosigkeit eingezogen scheinen.“298

Diese Nachträglichkeit zeigt sich etwa in Hofmannsthals Novelle Das Glück am Weg, in der der Protagonist während einer Bootsfahrt ein anderes Schiff vorbeifahren sieht, auf dem er für einen kurzen Moment eine Frau erblickt. Der Augenblick jedoch bleibt in seiner „fliegenden, vagen Bildersprache“ vorbewusst, während die Bezeichnung des Augenblicks durch einen Begriff – in diesem Fall der Name des beobachteten Schiffes, „La Fortune“ – erst sichtbar wird, als das Erlebnis schon vergangen, das Schiff vorüber gefahren ist. „Nun erst, so die leise melancholische Ironie der Schlusspointe, da die goldglänzende Bildvision erloschen und die goldenen Tore vor dem inneren Auge geschlossen sind, gibt die vorher unleserliche Schrift ihre Bedeutung preis.“299 Die Schrift erscheint so als eine Abstraktion des Bildes, als ein fortgeschrittenes Stadium der Verdinglichung im medialen Abstraktionsprozess.300 Während die „Sprache“ der Bilder eine gewissermaßen vormediale Kommunikation zu ermöglichen scheint, die „direkt in die Seele redet“301, geht die Verdinglichung der Symbolsprache mit einer Konstruktion der Wirklichkeit einher, die die ursprünglichen Sinnesein297 298

299

300

Steiner 1996, S.250. Schneider 2006. S.15 & S.17. Martin Andrée führt aus: „Die Präsenz ist demgemäß der paradoxale Wunschtraum der Sprache, sich selbst zu entkommen, ihre Medialität zu überschreiten. Die Präsenz markiert die Selbstüberschreitung der Medialität in der Medialität.“ Andrée, Martin: Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute, München 2005, S.24. Schneider 2006, S.293. Schneider spricht hinsichtlich der Schrift von einer „Melancholiestruktur der Verspätung“: „Was das Glück gewesen wäre, holt sie nie ein. Dennoch ist sie es, die ihm die Bedeutung zuschreibt.“ Diese Entwicklung wird bei Beer-Hofmann interessanterweise mit einer „ursprünglichen“ Namensgebung verbunden, bei der sich aus der direkten, physischen Konfrontation mit dem Naturphänomen – in diesem Falle dem „Wind“ – das Bedürfnis der Begriffsbildung und das darauf folgende rauschhafte Gefühl der Macht ableitet. Vgl. Beer-Hofmann 1980, S.75f.

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drücke, die Wahrnehmungen auf der Ebene der Bilder durch eine dem begrifflichen Denken kommensurable Struktur ersetzt haben, aus der dieses Denken infolge dieser Entwicklung nicht mehr heraustreten kann.302 Die vollständige Trennung von bildlicher und textueller Ebene wird dabei als die eigentliche Tragödie des modernen Bewusstseins aufgefasst, denn ursprünglich war auch der Schrift eine integrale Bildlichkeit zueigen, ihr Verhältnis zur Wahrnehmung noch ungebrochen. Doch die in ihrer Glaubwürdigkeit erschütterten Begriffe verlieren zunehmend noch ihr letztes Verhältnis zur Bildlichkeit, die „Einbildungskraft“ des Lesers: „Die Schrift, die einst eine integrale Bildlichkeit geboten hatte, zerfällt in disparate Elemente. [...] Synthesis als Ineinsbildung misslingt, weil das Medium, an dem psychische Systeme für eine Epoche ihre genuinen Strukturen gewonnen haben, nicht mehr die Schemata der Kontinuierung und Ineinsbildung, und damit die Muster von Erfahrung überhaupt, vorgibt. [...] Die Einbildungskraft, die Generationen von Lesern zuvor erhitzt hatte, versagt.“303

Insbesondere bei Hofmannsthal, Rilke und Musil zeigt sich in diesem Zusammenhang eine Suche nach den Möglichkeiten einer neuen Aktivierung jener ursprünglichen, hieroglyphischen oder suggestiven Bildhaftigkeit der Schrift, nach einer „Zeichenkonzeption, die Repräsentation durch Präsenz ersetzen soll.“304 In Hofmannsthals Gesprächen über Gedichte etwa wird diese aus einem ursprünglichen Lebenszusammenhang abgeleitet, aus einem Einssein mit der Natur. Dem Symbol als „Element der Poesie“, die diese ursprüngliche Lebendigkeit reakti301

302

303 304

Die Bilder, deren Wirkung hier beschrieben wird, sind diejenigen van Goghs. Die „im zehntausendsten Teil der Zeit“ eintretende Totalitätserfahrung ermöglicht dabei eine Souveränität gegenüber der abstrakt dahinfließenden Zeit. „Wie doppelt“ sieht der Erzähler sich selbst als in der Zeit Handelnden vor sich und erhält durch die gewonnene Distanz eine „geheimnisvolle Kraft“. Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Die Briefe des Zurückgekehrten, in: Sämtliche Werke Bd. XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter, Frankfurt a.M. 1991, S.151-174, S.169ff. Dieser Gedanke findet sich prägnant ausgearbeitet etwa in den Schriften Konrad Fiedlers: „Es leuchtet ein, [...] dass der sprachliche Ausdruck, in dem alle wissenschaftliche Erkenntnis gipfelt, nicht etwas bezeichnet, was auch außerhalb dieser Bezeichnung ein Dasein hätte, sondern dass er die Wirklichkeit selbst sei, welche die Form der Wortes angenommen habe; denn wo sollte dasjenige zu suchen sein, was durch den sprachlichen Ausdruck bezeichnet würde, da ja der sprachliche Ausdruck nur ein bestimmtes Stadium des Prozesses ist, in dem sich von der Sinnesempfindung ausgehend eine Wirklichkeit bildet, wir aber von der Existenz von irgend etwas anderem außer der Sinnesempfindlichkeit und diesem Vorgang schlechterdings nicht reden können. In der Wissenschaft wird also die Wirklichkeit nicht erkannt, da sie als ein der Erkenntnis zu unterwerfendes Objekt gar nicht existiert; vielmehr wird sie hervorgebracht, und die Form, in der sie entsteht, ist die Sprache, indem der psycho-physische Vorgang, an den ihre Entstehung gebunden ist, sich in der Ausdrucksbewegung der Sprache vollendet.“ Fiedler, Konrad: Schriften zur Kunst, Bd. 2, München 1991, S.75 Steiner 1996, S.23. Schneider 2006, S.367.

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vieren soll, indem sie alles wie zum ersten Mal betrachtet, wohnt deshalb eine magische Kraft inne, „welche die Worte haben, unseren Leib zu rühren, und uns unaufhörlich zu verwandeln.“305 Das Bild der vorbeifahrenden Fortuna in der Novelle Das Glück am Weg wird daher selbst durch ein Buch hervorgerufen, das der Protagonist an Deck gelesen hat: Er „legt das Buch beiseite und sieht sich einem Bild gegenüber, in dem sich die zentralen Sehnsüchte einer erotisch aufgeladenen Lektüre inkarniert haben. Die Schrift verschwindet, und das Bild erscheint“ – wenn auch freilich nur für jenen flüchtigen Moment, den es benötigt, um das Bild in Sprache zurückzuübersetzen und es so als bloße Einbildung bewusst zu machen.306 Das Augenblickskonzept der Moderne zielt also auf eine momenthafte Überwindung der Differenzstruktur der Sprache und mithin auf eine kurze Übereinstimmung zwischen Symbolisierung und Wahrnehmung 307, dem ein Experimentieren „mit einer Semiotik der Präsenz, einer Vertauschungs- und Entgrenzungslogik zwischen Abbild und Urbild, mit dem Einzug von Differenzen und dem Oszillieren der Zeichenschwelle zwischen Repräsentation und imaginativer Anwesenheit“ entspricht.308 Die Kluft zwischen Urbild und Symbolisierung, die in diesen Experimenten festgestellt wird, führt zu einem diskontinuierlichen Verständnis der Zeit als fehlender Konvergenz von Ereignis und Kognition, Bild und Zeichen, Erleben und Begreifen. Der Augenblick, der vorüberzieht, wird immer erst als vergangener erfasst, wodurch eine „kognitive Differenz von Fremdreferenz (der Augenblick des Bewusstseins) und Selbstreferenz (das Bewusstsein des Augenblicks)“ entsteht.309 Diese Differenz wird als grundlegende Struktur der Zeit begriffen, was nicht zuletzt jenen Glaubwürdigkeitsverlust bedingt, den die Schrift um 1900 erfährt. Diese kann vor allem deshalb die Vergangenheit nicht länger in „das teleologische Modell zielgerichteter Prozesse“310 überführen, da die Differenz zwischen dem Schriftbild und der Wirklichkeit, die es bezeichnen soll, zu einer unüberwindlichen Hürde geworden ist: Die Worte zerfallen – etwa in Hofmannsthals Chandos-Brief – in die Zusammenhanglosigkeit vereinzelter Buchstaben und Lexeme, die jede Verbindung mit der Welt aufgekündigt haben.311 Dieser Zerfall offenbart dieselbe temporale Struktur, die auch das Zeiterleben auszeichnet: Indem „die Referenz“, also der gemeinte Inhalt, „der Performanz“, also dem graphischen Sprachbild, notwendig „nachgeordnet“ ist, erzeugt die Schrift ein Bewusstsein der Abwesenheit der bezeichneten Gegenwart 305

306 307 308 309 310 311

Hofmannsthal, Hugo von: Gespräch über Gedichte, in: Sämtliche Werke Bd. XXXI, S.74-86, S.81. Vgl. Steiner 1996, S.75. Vgl. Schneider 2006, S.51. Schneider 2006, S.36. Steiner 1996, S.76. Steiner 1996, S.40. Die „abstrakten Worte“ zerfallen Chandos „im Munde wie modrige Pilze“. Vgl. Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief, in: Sämtliche Werke Bd. XXXI, S.45-55, S.49.

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und dadurch Zeit.312 Über das Problem hinaus, dass die überkommenen Zeichen und Bedeutungsstrukturen für die sich verändernde Erfahrungswelt der Moderne nicht mehr treffend erscheinen, wird auf diese Weise eine grundsätzliche temporale Spaltung ausfindig gemacht: Die Schrift konstituiert eben kein lineares Kontinuum, keinen zeitlichen Zusammenhang des Geschehens, sondern bezeichnet vielmehr eine immer schon entzogene Vergangenheit. Die „gestörte Funktionalität“ der Schrift legt also „das Problem allererst frei“, dass die Schrift selbst einen „Verlust an Gegenwart“ bedeutet und damit die Erfahrung der Zeit eigentlich erst konstituiert.313 In Bezug auf Texte Rilkes und Hofmannsthals kann Uwe Steiner so ein an Derrida angelehntes mediales Grundmuster der Zeit aus der Zeitreflexion der Moderne extrahieren314: „Damit überhaupt Bewusstsein (als Zeitbewusstsein verfasst) sein kann, darf dessen kleinste Zeiteinheit [...] nicht mit denen der Sinnessysteme zusammenfallen. [...] Zeit ist die Form, in der Präsenz und Absenz sich zur Einheit einer Unterscheidung derart verschränken, dass die Unterscheidung als solche nie Gegenwart sein kann. Die Gegenwart geht so über den Verstand [...], weil sie das Moment der Unterscheidung selber darstellt, als das Ereignis der Darstellung sozusagen, das sich der Darstellung selber entzieht. Die bezeichnete Gegenwart resultiert aus einer Beobachtungsoperation, die sich selbst meint und sich darum notwendig verfehlt. Zeit kommt auf diese Weise gedoppelt vor: als operative Zeit, die Zeit der Performanz, und als beobachtete Zeit, als Referenz. [...] Die Gegenwart wird also als Referenz reklamiert, und ruht dabei einer uneinholbaren (aber eben nicht: unvordenklichen) Performanz auf, die sie erst hervorbringt und der sie sich unweigerlich entzieht.“315

Die Strukturanalogie zwischen Schrift und Zeitbewusstsein führt zu der Entwicklung eines medialen Zeitverständnisses, mit dem das Modell der aus autarken Zeitpunkten zusammengesetzten Zeit, das auch einer Augenblicksutopie des ursprünglichen Wahrnehmungsmoments logisch noch zugrunde liegen muss, als Illusion entlarvt werden kann: „Vielmehr muss in jedem Zeitpunkt sein Nichtsein, in jedem Jetzt sein Nicht-Jetzt gleichzeitig mitgedacht werden, damit nicht nur die Erfahrung von Zeit, sondern Zeit überhaupt zustande kommen kann.“316 Die Annahme einer irreduziblen Abwesenheit und mithin einer primären Erinnerung als Grundelement jeder Wahrnehmung wird unhintergehbar, Schrift und Erinnerung zeigen sich als strukturell analog. Das Gedächtnis wird selbst als ein symbolisch operierendes Medium erkannt, das Wahrnehmungen speichert und festschreibt und dadurch gleichzeitig verfügbar macht und verfälscht: „Man muss sich erinnern, um überhaupt wahrnehmen und man 312 313 314

315 316

Vgl. Steiner 1996, S.46. Steiner 1996, S.26. Vgl. hierzu auch Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt a.M. 1979, S.115. Steiner 1996, S.48f. Steiner 1996, S.47.

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muss schreiben, um überhaupt erinnern zu können.“317 Die Frage nach dem ursprünglichen Erscheinungsbild dessen, was erinnert wird, ist sinnlos, da es ohne die Vermittlungsleistung des Gedächtnisses gar keine Wahrnehmung geben könnte. Der Moment der Bildentstehung, den Bergson reklamierte, wird so als Illusion eines Ursprungs oder Anfangs bewusst, eines originalen Ereignisses, das immer nur idealiter existiert. Dieses nämlich ist nicht einfach nur vergangen, es liegt tatsächlich vor der Zeit, ist von dieser selbst getrennt und konstituiert sie durch seine Unerreichbarkeit; denn nur in der Wiederholung, in der das Ereignis als solches begriffen, dabei aber notwendig auch in Begriffe übertragen wird, kann tatsächlich ein Anfang in der Zeit gemacht werden: „Das Ereignis als anfängliches, ursprüngliches ist weder vergangen noch gegenwärtig noch zukünftig. Es gehört nicht der Zeit an, sondern macht die Zeit aus. Es ist vor-zeitlich (Freud) oder vor-weltlich (Benjamin) und, als solches, ein Mittel der Zeitigung. Ich kann es also nicht mit herkömmlichen Mitteln beschreiben, weil es das Ereignis selbst ist, das mir erst das Schreibzeug in die Hand drückt. [...] Nur die Wiederholung vermag die Differenz – und das heißt jede zeitliche Differenzierung – zu begründen und somit den Anfang zu machen. Der absolute Anfang ist dabei allerdings endgültig ausgeschlossen und verlorengegangen.“318

Die Lückenhaftigkeit und Fiktionalität jeder schriftlichen Darstellung, die auf diese Weise erkannt wird, untergräbt das Objektivitätspostulat der Geschichtsschreibung ebenso wie das Modell einer chronologischen Abfolge. Wahrnehmung, Erinnerung und historische Rekonstruktion sind überhaupt „nur möglich“ aufgrund der „Abweichung von dem, was erinnert“, wahrgenommen oder rekonstruiert werden soll. Das „Bewusstsein des halb-fiktiven Charakters“ jeder Vergangenheit319 bedingt dabei die Entdeckung eines fundamental ästhetischen Weltverhältnisses des Menschen. Jean-Marie Guyau formuliert als einer der ersten, dass die Zeit „notwendigerweise“ einen „ästhetischen Charakter“ besitze, „ein auf Stärke und ästhetischen Wert der Dinge und Ereignisse gegründetes Urteil“ sei.320 Dieser „ästhetische Charakter“ der Erinnerung, durch die Zeit überhaupt erst entsteht, bringt die Unfähigkeit zu gegenwärtigem Erleben ebenso zum Ausdruck wie diejenige zu einer verlässlichen Rekonstruktion der Vergangenheit und kennzeichnet so die Problematik einer Kultur, deren symbolische Ordnung keinen Zusammenhalt mehr stiftet und deren Subjekte dennoch nicht in die Ursprünglichkeit vorbewussten, ganzheitlichen Seins zurückfinden können.

317

318 319 320

Pethes, Nicolas: Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin, Tübingen 1999, S.42. Vgl. Michels 2003, S.90 & S.96f. Grundmann 2003, S.25. Guyau 1995, S.84.

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Um die Entwicklung eines medialen Modells der Zeit nachvollziehbar zu machen, lohnt ein Blick auf die Auseinandersetzung, die innerhalb der Literatur mit den unterschiedlichen neuen Medien, die seit der Jahrhundertwende in Konkurrenz zur Literatur treten, nachzuweisen ist. Insbesondere im Film scheint den Autoren um 1900 jener „Verlust an anschaulicher Fülle“, der die Schrift kennzeichnet, zunächst als aufgehoben: Das Kino versteht das Problem der „Vermittlung von Bild und Bedeutung“ zu lösen, es lässt die quasi-mystische Erfahrung der Aufhebung flüchtiger Zeit in der bildlichen Präsenz, die Literatur immer nur antizipieren und beschreiben kann, zu „medientechnischer Realität“ werden.321 Der Film wird so zum „Phantasma einer perfekten Schrift, einer holographisch gelingenden Literatur“, zum „Medium reiner Vergegenwärtigung“. Die Apologeten der neuen Kunstform betonen in diesem Sinne, dass im Kino der „Schleier der Worte“ von den Dingen gefallen sei, dass in der „maschinisierten Mystik“ der filmischen Darstellung tendenziell nur noch die „Zeitform“ der „Gegenwart“ vorherrsche, dass im Kino sogar eine „serielle Implementierung jener raren Momente“ möglich würde, in denen etwa „Chandos seine Krise in mystischer Weltfrömmigkeit vergessen konnte.“322 „Die Zeit der Bilder korrespondiert dem Zeitfluss des Imaginären, Film schmiegt sich darum dem autopoietischen Wahrnehmungsfluss des Bewusstseins in seinem retentionalen und protentionalen Kontinuum an [...]. Demgegenüber bestätigt die Schrift immer wieder die Diskontinuität des reproduktiven und ver-gegenwärtigenden Bewusstseins. Denn Schrift erzeugt und funktioniert nur vermöge der Differenz zwischen Performanz und Referenz. Buchstaben sind darum an sich schon Allegorien, während die Leinwand die temporale Exklusivität des Symbols auf den erfüllten Augenblick beerbt und quantitativ überbietet: Film verkettet die Symbole zur traum- und rauschhaften Bilderfolge. Im Film also wird sinnlich greifbar, was Literatur nur beschworen oder bezeichnet hat: die Erscheinung plötzlicher Gegenwart und das Erhabene, die Implementierung vorrationaler psychischer Zustände, in denen Bilder gar nicht erst den Umweg über Bedeutungen nehmen müssen.“323

Doch stellt diese Faszination am präsentischen Wesen des Kinos nur eine Seite der Medaille dar. Denn gerade die Gegenwartsästhetik des Films zeigt sich bei genauerer Betrachtung als zutiefst ambivalent: Die Präsenz und Fülle der Erfahrungen wird von der stetigen „Bilderflucht“, dem anhaltenden „Entzug der visionären Bilder“, wieder unterlaufen. „Wie die Zeit, kann die filmische Bilderfolge als Anwesenheit, darum aber auch unvermeidlich als Anwesenheit des Verschwindens, als Anwesenheit ihres Verschwindens begriffen werden.“324 Ins321 322

323 324

Steiner 1996, S.171f. Steiner 1996, S.174ff. Derart mystisch aufgeladen, gilt das Kino als Ort der Aufhebung nicht nur temporaler, sondern auch geschlechtlicher Differenzen. Vgl. von Braun 1999, S.123ff. Steiner 1996, S.176. Steiner 1996, S.175.

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besondere an den filmtheoretischen Reflexionen Hugo von Hofmannsthals zeigt sich nach Uwe Steiner so eine immer stärker zunehmende Skepsis gerade gegenüber der Gegenwärtigkeit der Filmbilder, die sich mehr und mehr als eine bloß scheinbare Form neuen Zeiterlebens herauskristallisiert: Statt erfüllter Sinnlichkeit liefert der Film eigentlich nur eine „schlichte Addition von Bildsequenzen“, die den „literarischen Gedächtnisraum“ fragmentiert, ohne jedoch eine neue „kategoriale Kontrolle“ zu ermöglichen.325 Wohl aus diesem Grund gibt Hofmannsthal die Reflexionen in einem seiner bekanntesten Kino-Texte, Der Ersatz für die Träume, bei aller unverkennbaren Faszination nur aus der distanzierten Perspektive eines Freundes wieder. Dabei erscheint nun gerade die Sprachfeindlichkeit des neuen Mediums, zu dem sich die Menschen „in einem dunklen Selbsterhaltungsdrange“ flüchten, um „zu einem ungeheuren, wenn auch sonderbar zugerichteten geistigen Erbe in ganz unmittelbares, ganz hemmungsloses Verhältnis treten“ zu können, als verhängnisvoll: Wie bei Bergson kennzeichnet sich das Bild zwar durch eine Verbindung zum Leben, erscheint das Kino aber gleichzeitig auch als ein „Medium der Regression, in der eine andere Wirklichkeit als die des rationalen Bewusstseins herrscht“326 – eine Wirklichkeit, die der Schrift konstitutiv fremd bleibt, die aber auch mit einem Verzicht auf Bewusstsein selbst verbunden zu sein scheint: „Über dem Vortragssaal steht mit goldenen Buchstaben: Wissen ist Macht, aber das Kino ruft stärker: es ruft mit Bildern. Die Macht, die ihnen durch das Wissen vermittelt wird – irgend etwas ist ihnen unvertraut an dieser Macht, nicht ganz überzeugend; beinahe verdächtig. Sie fühlen, das führt nur tiefer hinein in die Maschinerie und immer weiter vom eigentlichen Leben weg, von dem, wovon ihre Sinne und ein tieferes Geheimnis, das unter den Sinnen schwingt, ihnen sagt, dass es das eigentliche Leben ist.“327

Die „Maschinerie“, das ist nicht allein die Gesellschaft, sondern die gesamte symbolische Struktur, auf deren Grundlage sie funktioniert. Dass die Lebendigkeit der illusorischen Bildwelt Hofmannsthal indes nicht ganz geheuer ist, ist dem Aufsatz jedoch an jeder Stelle anzumerken. Ursache ist die geleugnete Medialität des Kinos, die eine ursprünglichere Wahrnehmung zwar simuliert, den Sachverhalt der Simulation jedoch vergessen machen möchte. Als „Ort der entfesselten Sinnlichkeit und des Unbewussten“ wird das Kino so auch zu einem Instrument der Manipulation, als dessen „Antithese“ der „Geist“ und dessen „authentisches Medium“, die Schrift, nun notwendig wieder eine Aufwertung erfahren.328 Diese Skepsis gegenüber der kinematographischen Illusion trägt dabei epistemologische Züge, wie an einer analogen Auseinandersetzung mit dem 325 326 327

328

Steiner 1996, S.180. Schneider 2006, S.317. Hofmannsthal, Hugo von: Der Ersatz für die Träume, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa IV, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1966, S.44-50, S.44ff. Steiner 1996, S.180.

3. Unmögliche Präsenz: Hofmannsthal und Musil

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Thema in Musils Törleß gezeigt werden kann. Dort ist es die ganze Wirklichkeit, die als Trugbild eines halluzinatorischen Mechanismus erscheint, der dem des Films analog gesetzt wird: „Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, dass hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von – für sich betrachtet ganz anderen – Bildern vorbeihuschen.“329

Wie im Kino werden die disparaten Einzelbilder der Wahrnehmung durch eine synthetische Leistung des Gehirns perpetuiert. Beineberg, der Mitschüler von Törleß, beschreibt dieses Kontinuum der Wahrnehmung sogar als Folge eines stroboskopischen Effekts: Alle Jetzt-Zustände des Gehirns sind für ihn durch Momente der Schwärze, durch kurze Augenblicke des Todes unterbrochen, die wir bloß durch kulturelle Abrichtung zu übersehen gelernt haben.330 Ebenso wie Musil sind viele Schriftsteller der Zeit in diesem Sinne nicht so sehr von der Wiedergabeleistung des neuen Mediums fasziniert, sondern vor allem von der „minimalen Verzerrung“, vom „(ein klein wenig) Verschobenen und Unnatürlichen, dem technischen Mangel also und nicht der Perfektion des neuen Illusionsmediums.“331 Die hypnotisierende Bildlichkeit des Kinos wird stärker mit dem Modell der Sukzession assoziiert, in dem jedes Ereignis logisch aus der Vergangenheit hervorzugehen scheint – und an das etwa der für den artifiziellen Gehalt der Realität sensibilisierte Törleß nicht länger zu glauben vermag. Diese Doppelbödigkeit auch des bildlichen Mediums wird am Beispiel der ebenso nachhaltigen Auseinandersetzung mit der Fotografie noch signifikanter. Auffälligerweise ist es hier gerade die Stilllegung der Zeit in einem gesonderten Moment, die wie ein neuer Zugang zu einer Realität erscheint, die bis zu diesem Zeitpunkt als unsichtbar gelten musste. Selbst die Pioniere des Films hatten anfangs keineswegs an einer Revisualisierung, sondern vielmehr an einer Zerlegung der Sukzession in einzelne Augenblicke größtes Interesse: Etwa für Edward Muybridge oder Jules Marey, die filmische Methoden noch zu wissenschaftlichen Zwecken einsetzten, ging es um eine systematische Aufsprengung des Kontinuums des Sehens mit dem Ziel, den vorher unsichtbaren Einzelaugenblick sichtbar zu machen.332 Durch die Fotografie wird das Problem der Präsenz in den Fokus der Zeitphilosophie gerückt: An die Stelle des „Dunkels der Geschichte“ tritt nun der „dunkle Augenblick“ des Zeitatoms, der zwar als Grundelement aller Bewegung aufgefasst wird, diese aber immer weniger zu er329 330 331 332

Musil 1978, S.91. Vgl. Musil 1978, S.121. Schneider 2006, S.311. Vgl. Raulff, Ulrich: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte, Göttingen 1999, S.60ff. Gegen die „allzeit mögliche Reduktion auf Augenblicke“, die der Film bereit hält, habe Bergson „seine ganze Theorie [...] entwickelt“: Ebd., S.83

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

klären vermag.333 Dadurch, dass die Darstellung dieses ungreifbaren Elements des Daseins durch neue Technologien und Medien tatsächlich gelingt, verändert sich also schlagartig dessen Typologie: Die Einzigartigkeit des Kairos, die Seltenheit der Epiphanie ist für immer verloren; jeder Augenblick ist gerade nicht mehr ursprüngliches ‚Leben’, sondern unterschiedslos konservierbar und deshalb wesentlich identisch mit jedem anderen. Wie Kracauer betont, ist das fotografische Bild sinnleer wie ein einzelner Moment auf dem Zeitstrahl, da es selbst – anders als etwa das „Wahrnehmungsbild“ – keinen Sinn enthält: „Das letzte Gedächtnisbild überdauert seiner Unvergesslichkeit wegen die Zeit; die Photographie, die es nicht meint und fasst, muss wesentlich dem Zeitpunkt ihrer Entstehung zugeordnet sein.“334 Bedeutet das Aufkommen der Fotografie also zunächst eine Irritation der Dominanz des symbolischen Mediums, wird bald sichtbar, dass die Bildbedeutung nichts anderes sein kann als eine menschliche Dreingabe, eine zufällige und relative Interpretation. Die Bedeutung als ein dem Augenblick äußerliches Moment wird gleichsam zu einem nachträglichen, zu einer Bildinterpretation, die im Angesicht der Fotografie entsteht. Das Foto „erinnert in seiner nicht einlösbaren, unlesbaren semiotischen Struktur an die Notwendigkeit, diesen semiotischen Bezug [...] zu füllen.“335 Die potenzielle Fälschung, die jedes Bildmedium gegenüber der Wirklichkeit enthält, wird auf diese Weise zur Basis kognitiver Verarbeitung: Was wir uns bildlich vergegenständlichen, ist immer schon verändert, nämlich in kulturelle Bedeutungskonzepte übersetzt. Ohne eine Aktivierung dieser semiotischen Struktur kann ein Foto eigentlich gar nicht betrachtet werden. Schon Baudelaire wettert in der Besprechung des Salon von 1859 gegen den verbreiteten Irrglauben, dass „die Photographie uns alle wünschenswerten Garantien für Genauigkeit“ gäbe, und gibt sich gegenüber den Anhängern dieser Kunst verständnislos: „Das glauben sie, die Sinnverwirrten!“336 Das reine Urbild im Moment seiner Entstehung wird also, wie auch Auguste Rodins berühmter Ausspruch belegt, zunehmend als Illusion begriffen: „Es ist der Künstler, der die Wahrheit spricht, und das Photo, welches lügt, denn in der Wirklichkeit steht die Zeit nicht still.“337 Der Wiedergabe der Welt durch die Medien wird infolge dieser Entwicklungen ein zunehmend halluzinatorischer, wenn nicht gar konstruktivistischer Eigencharakter zugesprochen. Analog dazu erscheint auch die Wahrnehmung als reine Rezeption ungenügend erfasst, was durch eine ausführliche Auseinandersetzung etwa mit ‚hypnagogen’ Bildern, visuellen Erfahrungen infolge Drogenkonsums oder Traumbildern in Psychologie wie Literatur belegt werden kann.338 Um 1900 wird die menschliche Sinneswahrnehmung so zunehmend als eine 333 334 335 336

337

Raulff 1999, S.10. Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M. 1977, S.29. Pethes 1999, S.47. Baudelaire, Charles: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, intime Tagebücher. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Henry Schumann, Leipzig 1990, S.206. Zitiert nach: Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Hamburg 1984, S.39.

3. Unmögliche Präsenz: Hofmannsthal und Musil

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„aktive, intentionale und affektiv gesteuerte Leistung des Subjekts im Sinne einer gleichsam kreativen und prinzipiell eigenmächtigen Konstruktion von ‚Wirklichkeit’ interpretiert und theoretisiert“.339 So zeigt sich zuletzt auch, dass sich „die Geschichte von der Auflösung des einzigen und alles überstrahlenden Augenblicks als eine Geschichte vom Aufstieg und Fall erzählen“ lässt: „Auf der einen Seite der Aufstieg des Glaubens an die Macht der Aufzeichnung und Sichtbarmachung, und auf der anderen Fall und Verlust des Glaubens angesichts der Interpretationsbedürftigkeit der so erzeugten Dokumente.“340 Die Medialität der Wahrnehmung gerät zu einer grundlegenden Koordinate nicht nur der Welterschließung, sondern der ursprünglichen Erzeugung von Wirklichkeit und Welt. In einer in bis dahin unbekanntem Ausmaß mit medialen Erneuerungen und Spannungsverhältnissen konfrontierten Zeit werden schließlich auch auf Ebene der Bilder mediale Übertragungsdefizite ausgemacht und in konstruktive Faktoren der Wirklichkeitserzeugung umgemünzt. Das Bild verliert so auch in der Literatur seinen Nimbus einer ursprünglicheren, echteren Wahrnehmung: „Hofmannsthal spricht in einer frühen Aufzeichnung von der ‚via dolorosa’ der Gedanken vom ‚Gefühltwerden zum Bewusstwerden, vom Bewusstwerden zum Verstandenwerden und vom Verstandenwerden zum Ausgedrücktwerden’. Konsequenz ist eine radikal konstruktivistische Auffassung von Wirklichkeit, welche die vom Gehirn produzierten und gedeuteten Bilder als nichtmimetische, illusionäre Übersetzungen einer nervösen Eigendynamik auffasst und sie damit schon im Ursprung, vor der Sprachgebung, mit Zeichenprozessen befasst sieht. Das mediale Übersetzungsproblem ist schon am Ursprung der Welterfahrung [...] unhintergehbar“341

Analog scheitert auch Malte Laurids Brigge daran, tatsächlich eine neue, unverfälschte Wahrnehmung, ein ursprüngliches Sehen zu entwickeln: „Ich lerne sehen“342, kündigt er am Anfang des Romans zwar an, und tatsächlich scheint sich ein solches Sehen für ihn momentweise herzustellen, in der Nacht beim Mondschein auf dem Pont Neuf, wo die visuellen Dinge sich in Farben, in „irgendein Rot“ oder Grün auflösen.343 Doch gerade „die Bild-Analogie dieser Romanpassage indiziert zugleich die Artifizialität einer solchen Vision und enthüllt die ersehnte ‚Totalität’ somit erst recht als Wunsch- und ‚Schein’-Bild, als Utopie.“344 338

339

340 341 342 343 344

Schneider 2006, S.39ff. Auch die visuelle Macht des Kinos erhält in den populären Essays von Musil oder Hofmannsthal weniger den Charakter einer ursprünglichen Wahrnehmung als vielmehr die „Struktur von hypnagogen Halluzinationen.“ Ebd, S.42. Schwarz, Olaf: Das Wirkliche und das Wahre. Probleme der Wahrnehmung in Literatur und Psychologie um 1900, Kiel 2001, S.332. Raulff 1999, S.83f. Vgl. Schneider 2006, S.38 Rilke 2004, S.8. Rilke 2004, S.17. Eilert, Heide: Aspekte der Moderne in Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, in: Maler, Anselm (Hg): Europäische Romane der klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 2000, S.43-55, S.53.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

Das Konzept der Bildlichkeit ist selbst eben nur ein begriffliches Konzept und so immer schon verzeitlicht, auch wenn es zeitlose Gegenwart bedeuten soll. Wie Sabine Schneider dargelegt hat, ist die Suche nach vorsprachlichen Erlebnisweisen in der Literatur um 1900 aus diesem Grund eher als Sprachspiel zu begreifen, das um die aporetische Disposition des eigenen Anliegens weiß und das Anrennen gegen die Grenzen der Sprache bloß inszeniert, also ästhetisch produktiv zu machen versucht: „Die Beschwörung eines Jenseitigen der Sprache mit den Mitteln der Sprache nimmt die Herausforderung an, die von der Faszination eines anderen Mediums ausgeht, dessen scheinbar nicht einholbares Versprechen von Fülle und Evidenz Sprachanstrengungen provoziert und zum experimentellen Ausloten der Sprachgrenzen ermächtigt.“345

4. Ästhetische Zeitkonzepte: Der Zauberberg „Ist es möglich, dass alle diese Menschen eine Vergangenheit, die nie gewesen ist, ganz genau kennen?“, staunt Malte Laurids Brigge in Rilkes Roman.346 Was wir begreifen können, ist immer schon vergangen – und uns gerade deshalb nicht mehr direkt zugänglich, sondern nur noch durch die verfälschende Vermittlung des Gedächtnisses und der Schrift. Dieser Entzug der Wirklichkeit erscheint in der Literatur um 1900 als flüchtige Zeit, als ein Zerbrechen aller kulturellen und subjektiven Kontinuitäten, als die radikale Diskontinuität und Unfassbarkeit des Daseins. Sogar die Identität des eigenen Ichs wird durch den stetigen Abbruch verunmöglicht: Was es an sich erkennt, ist in Wirklichkeit nie gewesen; das Ich verschwindet, sobald es angeschaut wird, es entzieht sich jeder retrospektiven Festlegung und fragmentiert mit der endlosen Perspektivierung in eine „Akrobatenfamilie von Momentsensations-Ichs“347. Die Literatur der klassischen Moderne will dieser Brüchigkeit der Existenz entgegenwirken. Da jedoch keine Artikulation denkbar ist, die mit dem, was sie bezeichnet, vollständig übereinstimmt, wird die Kunst auf eine ‚Ästhetik des Negativen’ zurückgeworfen, die jede Herstellung von kohärentem Sinn immer von Neuem als Konstruktion entlarvt und selbst nichts anderes inszenieren kann als das Scheitern der Darstellung, mithin die Unerreichbarkeit des realen Referenten. Die Isolation vereinzelter, bezugsloser Zeitfragmente, die auf diese Weise notwendig entsteht, zeichnet Adorno zufolge den realen gesellschaftlichen Verfall von Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit jedoch nicht nur nach, sondern opponiert auch selbst gegen die Allmacht solcher temporalen Konzepte, indem sie deren inhärente Sinnmuster sprengt.348 345 346 347 348

Schneider 2006, S.21. Rilke 2004, S.20. Hofmannsthal, Hugo von: Briefe 1890-1901, Berlin 1935, S.30. Zum „leeren Augenblick“ und „negativen Kairos“ bei Adorno vgl. zusammenfassend: Zimmermann, Norbert: Der ästhetische Augenblick. Theodor W. Adornos Theorie der

4. Ästhetische Zeitkonzepte: Der Zauberberg

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Gotthard Wunberg hat eine Parallele zwischen dieser Unfähigkeit zu einer kohärenten Sinnstiftung in der Literatur der Moderne und der Methode des Historismus ausfindig gemacht, die sich ebenfalls durch eine Vereinzelung der Details und einen Verfall übergeordneter Sinngebäude kennzeichnet. Ein Teil der modernen Literatur entwickelt aus seiner Perspektive gerade aus den Darstellungskonventionen der Geschichtswissenschaft eine ästhetische Strategie, indem sie die Wirklichkeit als Referenzsystem ihrer Darstellung aufgibt und stattdessen die Performanz selbst, also die reine, bedeutungsfreie, gewissermaßen materiale „Textur“ als ästhetisches Kriterium zu entwickeln beginnt.349 Der „Verselbständigung des Details“350 in der Geschichtswissenschaft entspricht dabei eine Literatur, der die eigene Darstellung zunehmend in „Teile“ zerfällt, „die wieder in Teile“ zerfallen.351 Ebenso wie die prinzipiell gleichwertigen und dadurch unterschiedslosen Fakten, die die historischen Wissenschaften anhäufen, ebenso auch wie die isolierten, zufälligen Zeitpunkte, die die Fotografie festhält, sind die Zeichen selbst zunehmend nur noch „depossedierte Bedeutungsträger“, die ihre literarische Qualität stärker kraft ihrer formalen denn ihrer inhaltlichen Aspekte gewinnen: „Der Semantikverlust der Wörter macht diese zu bloßen Lexemen“, zu „Bedeutungsträgern jedweder Art.“352 Moderne Literatur modelliert diesen Sinnzerfall jedoch in eine aktive Zersetzung gesellschaftlich konstruierten Sinns um und entwickelt so eine „Poetik der Destruktion“, die keinen einheitlichen Zeitbegriff mehr toleriert.353 Denn indem Inhaltlichkeit selbst als Konvention erkannt und unterwandert wird, wird insbesondere die durch narrative Gestaltung und kausallogische inhaltliche Verknüpfungen evozierte Erwartung eines temporalen Zusammenhangs des Dargestellten unterlaufen. Alain Robbe-Grillet hat dieses Verfahren zu einem späteren Zeitpunkt als ästhetisches Programm gerade unter Bezugnahme auf die Frage nach der Zeit prägnant und beispielhaft entwickelt. Die neue Literatur soll sich um die Herstellung von „Intervallen und Abfolgen“ bemühen, „die nichts mehr mit denen der Uhren oder Kalender zu tun haben“354. Während die herkömmliche Zeit, die die Handlung der realistischen Romane bestimmte, den Menschen in die Welt integriert hatte, indem sie ihn einem Schicksal und damit einem Sinn unterstellte, richtet sich die neue Literatur nach Robbe-Grillet gegen diese nur aus der Vergangenheit wirksamen Wertsetzungen und bemüht sich um eine andere, diskontinuierliche und unberechenbare Zeit, die nur für das jeweilige Kunstwerk, für die jeweilige Szene oder sogar nur für den einzelnen Satz Geltung be349

350 351 352 353 354

Zeitstruktur von Kunst und ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S.107ff. Vgl. auch: Baßler, Moritz: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994. Wunberg 1995, S.44. Hofmannsthal 1991 (SW XXXI), S.49. Vgl. Wunberg 1995, S.54. Wunberg 1995, S.60. Vgl. hierzu Pethes 1999, S.367ff. Robbe-Grillet, Alain: Argumente für einen neuen Roman. Essays, München 1965, S.102.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

sitzt. Der textuellen Gegenwart des Wortes entspricht dabei die reine Oberfläche der Dinge, die nun nicht mehr „Maske ihres Herzens“, sondern „harte“ Realität ist: „An der Stelle eines Universums der ‚Bedeutungen’ (sowohl psychologischer als auch sozialer und funktioneller Art) sollte man vielmehr versuchen, eine festere und unmittelbare Welt zu bauen. Erst sollten Gegenstände und Gebärden durch ihre Gegenwart ihre Existenz beweisen, es soll dieses ständige Hiersein vorherrschen, über jede erklärende Theorie hinaus, die es versuchen würde, sie in irgendein Bezugssystem, sei es sentimental, soziologisch, freudisch, metaphysisch, einzusperren. In dieser künftigen Welt des Romans werden Gebärden und Gegenstände erst ‚da’ sein, bevor sie ‚etwas’ sind; und nachher sollten sie noch da sein, hart, unveränderlich, auf immer anwesend, den eigenen Sinn geringachtend, der umsonst versucht, sie zwischen einer formlosen Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft zu prekären Werkzeugen herabzusetzen.“355

Da dieser Kunst-Zeit keine Erwartungslogik zugrunde liegt, fließt sie nicht mehr; sie ist eine Zeit, die nichts vollendet oder „anhäuft, um eine Vergangenheit zu bilden“, sondern in jedem Augenblick eine ungebundene, neue Erfindung der Welt möglich werden lässt. Denn wenn „Zeithaftigkeit die Erwartung erfüllt, so wird diese durch Augenblickhaftigkeit enttäuscht; ebenso wie räumliche Diskontinuität von der Fesselung durch die Fabel freimacht.“356 Es geht hier also nicht nur um die Destruktion einer festgefügten zeitlichen Ordnung, sondern auch um einen generellen Verzicht auf die identitätsstiftende, aber entfremdende Konstruktion temporaler Kontinuität, der keine neue Ordnung – etwa eine des inneren Erlebens – mehr entgegengesetzt wird. Eine entsprechende „Poetik der Destruktion“, die die Selbstverständlichkeit zeitlicher Abläufe ausschaltet und durch die Eigenzeit des Textes ersetzt, prägt dabei bereits viele der avantgardistischen literarischen Experimente des frühen 20. Jahrhunderts. Ein zweiter Ansatz für die Entwicklung einer ‚anderen Zeit’ findet sich in dem Versuch, die aus der Medialität der Schrift resultierende Vieldeutigkeit und Auslegbarkeit gerade zum Prinzip der Darstellung zu erheben. An die Stelle einer „imitativ verfahrenden, Vorbilder reproduzierenden Mimesis“ tritt ein anderer Darstellungsmodus, der die verfälschende Funktion der Schrift hervorhebt und ihre „verfremdende Prozessualität“ dadurch zur „Eigentlichkeit“ stilisiert, dass er sie mit der des „memorierenden Aktes“ gleichsetzt.357 Eben die „umdeutende Reproduktion“358 der Vergangenheit, ihre iterative Veränderung in jedem einzelnen Akt der Rekonstruktion, löst diese aus dem Prokrustesbett einer vereinheitlichten Schreibweise und macht sie dem Subjekt erneut verfügbar. Sie wird damit zum Nachweis des Subjektiven selbst, zum Symptom einer nicht 355 356 357 358

Vgl. Robbe-Grillet 1965, S.21ff. Robbe-Grillet 1965, S.106. Grundmann 2003, S.10. Grundmann 2003, S.10.

4. Ästhetische Zeitkonzepte: Der Zauberberg

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hintergehbaren Perspektivität jeder Wahrnehmung. Die Auflösung des Anspruchs auf Wahrhaftigkeit oder Authentizität führt zu der Entwicklung einer Ästhetik, die die historistischen Meta-Narrativen unterläuft, indem sie sich jeder Repräsentationslogik verweigert und stattdessen eine ästhetische Dimension des Lebens selbst reklamiert. Bereits Beer-Hofmanns Erzählung Der Tod Georgs stellt sich so als eine verwirrende Ansammlung unterschiedlicher alternativer Zeitverläufe, als ein literarisches Experimentieren mit ‚möglichen Welten’ dar: Die „Variabilität der Zeit in der Wahrnehmung, die Veränderbarkeit ihres Rhythmus, verleiht der temporalen Struktur den eigentümlichen Charakter des Möglichen, denn in den zahllosen Gestaltungsweisen liegt ein utopisches Potenzial des symbolistischen Zeitbegriffs verborgen.“359 Freilich wird dieses Potenzial vom Protagonisten nicht erkannt, da dieser sich nach einem neuen, authentischeren Weltbezug sehnt – und dabei übersieht, dass gerade in der immer neuen Produktion unterschiedlicher Zeitläufe, die sich nicht auf eine einzige, wahrhaftige Version festlegen lassen, ein Moment menschlicher Freiheit begründet liegt. Wie insbesondere Karl Heinz Bohrer gezeigt hat, verändert sich im Verlauf der Moderne so die literarische Utopie des Augenblicks von der nietzeanischen Konzeption eines momenthaften Rückfalls in ein ursprüngliches, ganzheitliches Dasein hin zu einer Epiphanie-Konstruktion, in der die Differenzstruktur der Zeit nicht länger unterlaufen, sondern gerade produktiv gemacht werden soll. In den großen ‚Zeitromanen’ Prousts oder Musils erscheinen die Augenblicke als synthetische, ästhetische Produktionen eines assoziierenden Geistes, der das Vergangene und damit eigentlich zeitlich Abwesende überraschend in die Gegenwart schnellen lässt und dort als Lebendiges fasst, ohne sein Vergangensein zu leugnen. Inszeniert wird so eine spontane Übereinstimmung von Wahrnehmung und Erinnerung, die aber gleichzeitig als unterschiedliche Dimensionen bewusst bleiben. Was so entsteht, ist kein Modus ursprünglicherer Wahrnehmung, sondern eine Epiphanie, die das Erlebnis gleichzeitig als vergangenes distanziert und als gegenwärtiges nachempfindet, die also sowohl der performativen als auch der referenziellen Dimension des Ereignisses gerecht wird. Dadurch wird der Widerspruch, in dem sich das Modell einer ursprünglichen Wahrnehmung gegenüber seiner eigenen Objektivierung durch das Kunstwerk noch befand, aufgelöst. Das Artifizielle der Utopien, das etwa in Musils Mann ohne Eigenschaften durch mythologische Bezüge deutlich markiert wird, steht ihrer Wirkung nicht entgegen; ganz im Gegenteil entfaltet sich diese erst, indem die Epiphanie ‚gelesen’, als Symbol bewusst und interpretiert wird. Auf diesem Weg kann „die Erfahrung selbst [...] zum Zeichen werden, das es deutend zu entfalten gilt.“360

359 360

Simonis 2000 (a), S.321. Figal, Günter: Zeit und Erinnerung. Überlegungen im Anschluss an Theunissen, Hegel und Proust, in: Angehrn, Emil / Iber, Christian / Lohmann Georg / Pocai, Romano (Hgg): Der Sinn der Zeit, Weilerswist 2002, S. 101-111, S.111.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

Karl Heinz Bohrer zufolge deutet sich in dieser Form des Augenblicks eine neue Art von Utopie an, die nicht länger als eine bloße „ästhetische Utopie“, sondern als eine „Utopie des Ästhetischen“ betrachtet werden müsse, als ein „aus der Fiktionalität“ geborener „Appell an den Leser“.361 Nicht die Übereinstimmung mit der Vergangenheit, sondern die ästhetische Erfahrung selbst wird nun der temporalen Entfremdung entgegengehalten. Dabei soll Zeitlichkeit nicht mehr insgesamt aufgehoben werden: Das präsentische „Jetzt“ ist „nicht mehr blind, sondern impliziert ein ‚Früher’ und sogar ein ‚Später’“ 362, es hat die Form einer „contemplatio“, eines reflektierenden, bedeutungsgenerierenden Bewusstseins.363 Ein genereller Verzicht auf eine Übereinstimmung mit der ‚tatsächlichen’ Wirklichkeit begreift die Chance der Schrift gerade in der Inszenierung ihres verfälschenden Aspekts, denn indem das eigentliche Geschehen nicht mehr das ursprüngliche ist, sondern ein im Bild der Gegenwart unwillkürlich verändertes, kann die Literatur – im Gegensatz zur Geschichtsschreibung – die Distanz zwischen der tatsächlichen und der inszenierten Vergangenheit als den konstruktiven Spielraum ihrer Darstellung begreifen. Es geht also nicht um eine „reine Sphäre der Kunst als solcher“, sondern um die „Differenz, die sich zwischen der ästhetischen Erfahrung selbst und der außerästhetischen ‚Wirklichkeit’ auftut.“364 Auf diese Weise wird ein temporal motivierter, literarischer Ästhetizismus zum Lösungsangebot für die Problematik einer ebenfalls temporalen inneren Spaltung des modernen Subjekts und seiner Kultur. In Die Bühne als Traumbild schreibt Hofmannsthal in diesem Sinne: „Denn die Welt ist nur Wirklichkeit, ihr Abglanz aber ist unendliche Möglichkeit.“365 Dieselbe Tendenz zu einer Hervorhebung des ästhetischen Charakters jeder Darstellung, die der Einsicht in die zeitliche Uneinholbarkeit des Referenten folgt, ist laut Nikolaus Förster eines der wesentlichen Charakteristika auch der deutschsprachigen „Renaissance des Erzählens“ seit Beginn der 90er Jahre. „Aus der Erkenntnis heraus, dass eine Rekonstruktion unmöglich ist, dass eine Forderung nach Authentizität […] ins Leere läuft“, setzen sich aktuelle Romane Förster zufolge bewusst mit ihrer eigenen Konstruktivität auseinander: „Sie trachten nicht danach, literarische Ordnungen zu zertrümmern, sondern treiben diese im Gegenteil auf die Spitze und initiieren auf diese Weise ein literarisches Spiel.“366 Obgleich sich hier eine analoge Argumentationsform zeigt, deutet sich an dieser Stelle allerdings auch ein wesentlicher Unterschied zwischen klassischmodernem und gegenwärtigem Zeit-Diskurs an; denn in der Literatur um 1900 wird mindestens ein Erzählen, das die Scheinhaftigkeit der dargestellten Wirklichkeit unreflektiert lässt, in der Regel als trivial behandelt. Die fragmentierte 361 362 363 364 365

366

Bohrer 1981, S.186f. Bohrer 1981, S.211. Bohrer 1981, S.208. Simonis 2000, S.149. Hofmannsthal, Hugo von: Die Bühne als Traumbild, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1976, S.63-67, S.66. Förster 1999, S.147.

4. Ästhetische Zeitkonzepte: Der Zauberberg

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Welterfahrung erlaubt die Zusammenführung in die Einheit einer Geschichte nicht länger, wie die bekannte Passage aus dem Malte Laurids Brigge belegt: „Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muss vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen hören.“367 Darüber hinaus steht das „primitiv Epische“, das Ulrich im Mann ohne Eigenschaften „abhanden gekommen“368 ist, für ein mimetisches Darstellungsmodell, das die Einheitlichkeit und Geschichtlichkeit der Wirklichkeit immer schon voraussetzt, um deren Überwindung es der Literatur eigentlich geht – Jakob Wassermann hat hierfür den Ausdruck „Entfabelung“369 geprägt. Wenn also Paul in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs in seinen Phantasien und Träumen mit den linearen Zeitstrukturen auch narrative Konventionen reproduziert, so kommt darin letztlich nur die Selbstentfremdung des Protagonisten, seine Abhängigkeit von einer als falsch empfundenen Wirklichkeit zum Ausdruck. Narration erscheint als „Inbegriff des Inauthentischen“370 und als „Gewandtheit eines Glaubenmachens, durch die der Kunstgriff“ als ein „authentisches Zeugnis von Realität“ verkauft wird, obgleich ein solches gerade unmöglich ist.371 In den großen Romanen des frühen 20. Jahrhunderts kann daher nur ein Erzählen Bestand haben, das – dem Vorbild von Sternes Tristram Shandy und vielen Erzähltexten der Romantik folgend – selbstreferentiell verfährt, indem es die „Differenz von Erzählhandlung und Erzähltem“ hervorhebt und dadurch die Darstellung nicht nur perspektiviert, sondern auch ironisiert.372 Dabei wird der „Faden der Erzählung“ zum Beispiel von Ulrich im Mann ohne Eigenschaften durchaus auch als Gegengift für das Gefühl des Disparaten, Unberechenbaren und Ungewissen der Zeit ausgemacht: Obgleich er die „überwältigende Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen“ Ordnung abbildet, repräsentiert er doch ein handhabbares „Gesetz“, nach dem sich Ulrich, „überlastet und von Einfalt träumend“, zuweilen sehnt. 373 Die Erzählung wird dadurch allerdings erst recht als eine Selbstentfremdung des Subjekts, als dessen Unterordnung unter eine abstrakte und unpersönliche, dem Empfinden äußerliche Prozesslogik vorgestellt. Die Epiphanien, die Ulrich an anderer Stelle erlebt, überwinden jedoch nicht nur diese zeitliche Selbstentfremdung des Subjekts, sie unterbrechen auch die Erzählung, indem sie deren suggestive Wirkung aufheben und den Leser selbst in ein reflexives Verhältnis zum Text zwingen. Die Fiktionalität des ästhetischen Augenblicks, die Bohrer beschreibt, steht also zu jener des Narrativs in einem grundsätzlichen Widerspruch. Die klassische Er367 368 369

370 371

372 373

Rilke 2004, S.106. Musil 1987, S.650. Vgl. Wassermann, Jakob: Kolportage und Entfabelung, in: Lämmert, Eberhard u.a. (Hgg): Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880, Königstein 1984, S.140-143. Förster 1999, S.141. Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung, München1989, S.25. Baßler / Brecht / Niefanger / Wunberg 1996, S.266. Musil 1987, S.650.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

zählung wird daher als grundlegendes Strukturprinzip literarischer Texte in der Moderne tendenziell abgelehnt: „Die Auslösung der modernen Romane aus der Kontinuität der Tradition vollzieht sich wesentlich als Ablösung von der Zeit der Geschichte. Zwar lassen sich die Romane von Joyce, Proust, Mann und Woolf immer noch nach diegetischen Mustern ordnen, jedoch haben diese ihre Funktion als bestimmendes Kompositionsprinzip verloren. Die Konfiguration und Einheit verschiedener Elemente des Romans ist nicht länger die einer Geschichte, aus dem Fundus traditioneller Vorlagen geschöpft und mit seiner Hilfe auch verstehbar, sondern das literarische Werk stiftet seine Einheit nach einem genuinen Kompositionsprinzip symbolischer oder thematischer Querverweise. Dies bedeutet, dass die Zeit der Erzählung nicht mehr zu einer durchgezogenen Linie gerinnt.“374

Ein vergleichbarer Vorbehalt gegenüber narrativen Texten ist in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart nicht mehr zu finden. Das ästhetische Potenzial der Erzählung wird hier vielmehr durch das unvermittelte Nebeneinander widersprüchlicher Erzählstränge hervorgehoben, die nun nicht mehr eine homogene Zeit, sondern unterschiedliche parallele Zeiten ausbilden. Die Erzähltechnik der neueren Romane unterscheidet sich daher wesentlich von solchen Werken der klassischen Moderne, die mittels literarischer Parallelmontage die Gleichzeitigkeit unterschiedlichen Geschehens inszenierten: Diese Technik setzt eine einheitliche, objektive Zeit gerade voraus, während in den neueren Romanen die Selbstverständlichkeit einer solchen Zeit durch ihre narrative Pluralisierung unterlaufen wird. Wie bereits gezeigt, beziehen sich Autoren wie Daniel Kehlmann oder Thomas Lehr ohnehin seltener auf die Vorbilder der deutschsprachigen Moderne, sondern verorten sich eher in der Tradition lateinamerikanischer und englischsprachiger Texte, die auf spielerische Weise das ästhetische Potenzial des Narrativs ausloten. Diese ‚andere Moderne’ wird daher im Anschluss an dieses Kapitel kurz vorgestellt. Vorher sollen jedoch am Beispiel von Thomas Manns Roman Der Zauberberg die drei erläuterten Aspekte des modernen Zeit-Diskurses noch einmal exemplarisch dargestellt werden. Manns Roman ist dabei schon deshalb für eine Zusammenfassung geeignet, weil in ihm auch das Verhältnis von Zeit und Erzählen ausführlich reflektiert wird. Die Zeit wird hier begriffen als „das Element der Erzählung [...], die ebenfalls (und anders als das auf einmal leuchtend gegenwärtige und nur als Körper an die Zeit gebundene Werk der bildenden Kunst) nur als ein Nacheinander, nicht anders denn als ein Ablaufendes sich zu geben weiß, und selbst, wenn sie versuchen sollte, in jedem Augenblick ganz da zu sein, der Zeit zu ihrer Erscheinung bedarf.“375

374 375

Mecke 1990, S.29f. Mann 1991, S.741.

4. Ästhetische Zeitkonzepte: Der Zauberberg

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Auch im Zauberberg steht vordergründig der Widerspruch von subjektiver und objektiver Zeit im Mittelpunkt, der nicht nur das Verhältnis von Ober- und Unterwelt, sondern auch die Gespräche der Protagonisten und die Reflexionen des Erzählers entscheidend prägt. Die Rede ist von einer „eigentümlichen Zwienatur dieses geheimnisvollen Elements“376: Die Erfahrung der Zeit und ihr objektives, gleichförmiges Maß lassen sich nicht vermitteln. Dass bei Thomas Mann diese Beobachtung mit einer Kritik an der Verräumlichung der Zeit einhergeht, die in ihrer Argumentation den Überlegungen Bergsons ähnelt377, zeigen die Reflexionen, die Hans Castorp selbst hinsichtlich der Zeit anstellt: „Wir messen also die Zeit mit dem Raume. [...] Den Raum nehmen wir doch mit unseren Organen war, mit dem Gesichtssinn und dem Tastsinn. Schön. Aber welches ist unser Zeitorgan? Willst Du mir das mal eben angeben? Siehst Du, da sitzt Du fest. Aber wie wollen wir denn etwas messen, wovon wir genau genommen rein gar nichts, nicht eine einzige Eigenschaft auszusagen wissen! Wir sagen: die Zeit läuft ab. [...] Um messbar zu sein, müsste sie doch gleichmäßig ablaufen, und wo steht denn das geschrieben, dass sie das tut? Für unser Bewusstsein tut sie es nicht, wir nehmen es nur der Ordnung halber an, dass sie es tut, und unsere Maße sind doch bloß Konventionen, erlaube mir mal...“378

Die treffende Metapher für das Verhältnis der beiden „Zwienaturen“ der Zeit findet Hans Castorp schließlich im Traum, „[...] als ihm ganz unverhofft die ausgezeichnete Einsicht zuteil wurde, was eigentlich Zeit sei: nämlich nichts anderes als einfach eine stumme Schwester, eine Quecksilbersäule ganz ohne Bezifferung, für diejenigen, welche mogeln wollten [...].“379 Die „stumme Schwester“ ist ein Fieberthermometer, das selbst keinerlei Markierungen besitzt. Um herauszufinden, welche Temperatur es anzeigt, muss es von außen mit einer separaten Skala abgeglichen werden. Der räumliche Maßstab ist also ein künstlich an die Zeiterfahrung herangetragener, ein bloßer Vergleich, dem allein kraft der gesellschaftlichen Autorität, die im Hospital in erster Linie durch die Ärzteschaft repräsentiert wird, eine scheinbare objektive Gültigkeit verliehen wird. Das eigentliche Empfinden, die subjektive Dauer der Zeit, wird von diesen Autoritäten dagegen als Schummelei denunziert: Wer mogelt, indem er sein inneres Empfinden über die objektive Zeitbestimmung stellt, bekommt es mit der Unbestechlichkeit der Messinstrumente zu tun. Dabei ist kaum zu übersehen, dass im Sanatorium in Wirklichkeit wenig Wert auf die Objektivität der Messungen gelegt wird. Wie die Diagnose von Castorps Krankheit im Vagen verbleibt, ist auch die Zeitordnung des Sanatoriums weniger durch chronometrische Genauigkeit als durch deren Gegenteil ge376 377

378 379

Mann 1991, S.9. Vgl. hierzu Bollmann, Stefan: Selbsterlösung oder Selbsterhaltung. Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ im Kontext. Düsseldorf / Bensheim 1991. S.48ff. Mann 1991, S.95. Mann 1991, S.130.

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kennzeichnet: Das Vergessen der Zeit, die der ‚protestantischen Ethik’ der Tiefländer zufolge „schlimmste Gewissenlosigkeit [...], der Zeit nicht zu achten“380, wird hier massiv befördert, sodass der phlegmatische und daher für solche Beeinflussung empfängliche Hans Castorp zuletzt sogar sein eigenes Alter vergessen hat. Die Zeit im Sanatorium, besonders die einförmige Zeit der Bettlägerigkeit, gerät zum „stehenden Jetzt“381, zu einer anderen Form des Zeitempfindens, die sich nicht länger mit den verräumlichten Zeitmodellen erfassen lässt und die auch jede Verknüpfung der Zeit mit Bedeutungskonzepten – etwa Karrieren oder Lebensplänen – aus den Augen verliert.382 Dagegen opponieren die Vertreter des Tieflandes, also Settembrini, dem die Zeit eine „Göttergabe“ ist, „dem Menschen verliehen, damit er sie nutze“383, und Ziemßen, der Soldat, der die zeitliche Disziplinierung durch den Staat mit dem Hinweis auf seine Pflicht verteidigt. Die Aufwertung des Zeitempfindens und das angestrebte Vergessen gesellschaftlicher Zeitmaße erscheint im Zauberberg allerdings von Beginn an als eine zum Scheitern verurteilte Strategie. Denn unterschwellig bleibt das Ticken der historischen Uhr präsent, ist die Weltflucht Castorps unmittelbar beendet, als die gesellschaftlichen Abläufe den Siebenschläfer schließlich mit einem „Donnerschlag“ ins Leben zurückwerfen: „Die Zeit, die nicht von der Art der Bahnhofsuhren ist, deren großer Zeiger ruckweise, von fünf Minuten zu fünf Minuten fällt, sondern eher von der jener ganz kleinen Uhren, deren Zeigerbewegung überhaupt unsichtbar bleibt, oder wie das Gras, das kein Auge wachsen sieht, ob es gleich heimlich wächst, was denn auch eines Tages nicht mehr zu verkennen ist; die Zeit, eine Linie, die sich aus lauter ausdehnungslosen Punkten zusammensetzt (wobei der unselig verstorbene Naphta wahrscheinlich fragen würde, wie lauter Ausdehnungslosigkeiten es anfangen, eine Linie hervorzubringen): die Zeit also hatte in ihrer schleichend untersichtlichen, geheimen und dennoch betriebsamen Art fortgefahren, Veränderungen zu zeitigen.“384

Die Infragestellung der linearen Zeit ändert nichts an deren gesellschaftlicher Macht, gegen die auch das programmatische „Vergessen der Zeit“ letztlich wirkungslos bleibt. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die von äußeren 380 381 382

383 384

Mann 1991, S.745. Mann 1991, S.256. Allerdings fällt auf, dass auch in der Metapher der „stummen Schwester“ die zeitliche Ausdehnung als räumliche Vorstellung letztlich erhalten bleibt: Kritisiert wird lediglich die Einheitlichkeit ihrer Skalierung, die jede subjektive Variation, jeden anderen Maßstab unterdrückt. Dass auch die subjektive Zeit letztlich aber Ausdehnung, Wegstrecke bleibt, lässt ein Problem deutlich werden, das schon Bergsons Philosophie kennzeichnete: Wie soll über Zeit überhaupt noch sinnvoll gesprochen werden können, wenn jede abstrakte Vorstellung von ihr suspendiert ist? Mann 1991, S.337. Mann 1991, S.972f.

4. Ästhetische Zeitkonzepte: Der Zauberberg

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Zeitzwängen emanzipierte Zeiterfahrung keineswegs dazu geeignet scheint, dauerhaft den zeitenthobenen Zustand eines „Nunc stans“ zu erzeugen. Vielmehr erscheint auch bei Thomas Mann Zeitbewusstsein als wesentlich differenziell, muss auch Castorp in seinen Gedanken Anwesenheit und Abwesenheit, Referenz und Performanz ständig miteinander vermitteln. Das zeigt sich nicht zuletzt an den besonderen, scheinbar zeitenthobenen Augenblicken, die Castorp zuweilen erlebt: Sie kennzeichnen sich eigentlich nicht durch ein Vergessen der Zeit, sondern durch das sinnliche Erscheinen der Vergangenheit in der Gegenwart, wobei gerade die bedeutungsgenerierende Interpretation der Epiphanie, ihre Verknüpfung mit den Ereignissen der Gegenwart die Besonderheit der Erfahrung ausmacht. Eine solche Epiphanie stellt sich zum Beispiel nach einer Phase längerer Bettlägerigkeit während eines Spaziergangs in den Bergen ein: Castorp, erschöpft durch seine einsame Wanderung durch die Natur, findet sich während einer Pause plötzlich in eine „frühere Lebenslage versetzt“, die als „Urbild“ eines seiner Träume aus jüngster Zeit beschrieben wird. Vor Augen steht ihm auf einmal eine Situation aus seiner Schulzeit, in der er erstmals den Mut aufbringt, sich von seinem Mitschüler Pribislav Hippe, von dem er sich erotisch angezogen fühlt, einen Bleistift zu leihen. Der Fall in die Vergangenheit verdrängt die Gegenwart vorübergehend vollständig: „Aber so stark, so restlos, so bis zur Aufhebung des Raumes und der Zeit war er ins Dort und Damals entrückt, dass man hätte sagen können, ein lebloser Körper liege hier oben beim Gießbache auf der Bank, während der eigentliche Hans Castorp weit fort in früherer Zeit und Umgebung stünde.“385

Nach dem Erwachen wird das zentrale Thema, das Castorp in der Gegenwart beschäftigt – seine Liebe zu Clawdia – als zeitliches Bezugsverhältnis, als Reinszenierung des erinnerten Ereignisses aus der Kindheit bewusst. Das gegenwärtige Liebeserlebnis erhält seine Bedeutung also davon, dass es sich auf ein anderes, vergangenes Erlebnis bezieht, dessen ursprünglichere Bedeutung es reproduziert. Chauchat und Pribislav Hippe sehen sich sogar ähnlich – und nur darum interessiert sich Castorp für sie, wie er selbst nicht ohne Enttäuschung feststellt.386 Die Übereinstimmung von Gegenwart und Vergangenheit in der Liebe, die durch das authentische Nacherleben im Moment der Epiphanie akzentuiert wird, kann dabei dennoch als eine solche Augenblicksutopie gelesen werden, in der Reflexion und Leben wenigstens dem Anschein nach synchron verlaufen. Die Liebe ist ein „Wiedererkennen“ 387 der Bewusstseinsinhalte, eine Identität zwischen Denken und Welt; Clawdia wird aus diesem Grund pathetischerweise von Castorp als „das Du meines Lebens“388 angesprochen – als die andere Hälfte eines zeitlichen Spannungsverhältnisses nämlich, in dem die eige385 386 387 388

Mann 1991, S.167. Mann 1991, S.172. Mann 1991, S.471 & S.998. Mann 1991, S.471 & S.999.

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ne Persönlichkeit sich immer nur in Bezug auf ein Anderes, Ungegenwärtiges, zu vergegenwärtigen in der Lage ist. Dass die Episode eine poetologische Bedeutung in sich trägt, ist nur allzu offensichtlich: Nicht zufällig steht im Mittelpunkt sowohl der Liebesnacht mit Clawdia als auch der Begegnung mit Pribislav Hippe ein Bleistift. Diesen muss Castorp allerdings abgeben, um zu bekommen, was er sich wünscht, und die Liebesnacht selbst wird im Roman betonterweise nicht geschildert. Das eigentliche Ereignis wird als „wortlose Zwischenzeit“ ausgespart; in ihr waltet nur die „reine“, unreflektierte Zeit, die eigentlich gar keine ist, solange sie nicht vergegenwärtigt, bewusst gemacht und versprachlicht wird.389 Versprachlicht aber verliert das Ereignis seine Aura, droht nahezu albern zu werden, wie Castorps obszönes Werben um Clawdia, das den Geschlechtsakt nur allzu deutlich vorweg nimmt, und Clawdias ironische Reaktion darauf unzweifelhaft deutlich machen.390 Während im Augenblick also eine vorübergehende Einheit von Reflektieren und Erleben, Performanz und Referenz hergestellt werden kann, ist der Normalfall auch bei Thomas Mann durch das Auseinanderfallen dieser Ebenen gekennzeichnet: Zeit wird als das Bewusstsein davon definiert, dass das Jetzt „nicht Damals“, das „Hier nicht Dort“ ist, und nur dadurch, dass eben dieser Sachverhalt bewusst wird, kann sich das Damals „beständig im Jetzt“ wiederholen, „das Dort im Hier“ vorhanden bleiben. Die Differenz, die die Zeit ausmacht, verleiht ihr eine symbolische, eine „verbale Beschaffenheit“391: Sie resultiert aus der Sprachlichkeit des Bewusstsein, das die Gegenwart nur festhalten kann, indem es sie mit Bedeutung versieht. Castorps Widerwille gegen diese „verbale Beschaffenheit“ kommt deshalb auch just in dem Augenblick zum Ausdruck, als er sich der Liebesnacht mit Clawdia nähert: „‚Wozu Worte machen?’, sagte er. ‚Wozu noch reden? Reden, Worte machen –, das sind zweifellos echt republikanische Angelegenheiten, gebe ich zu. Aber ich bezweifle, dass sie in eben dem Maße auch Sache der Dichtung sind.“392

Clawdia indes weist ironisch auf die Sprachlichkeit auch dieser Aussage hin. Die Dialektik ist nicht zu durchbrechen: Alles Erlebte wird ins Symbolische transportiert, damit aber zeitlich distanziert und entfremdet. Schon der erste echte Kontakt mit seiner Angebeteten ist für Castorp „wie ein Traum“393 ungegenwärtig und ungreifbar, und über die Gesamtlänge des Buches betrachtet besteht sein Verhältnis zur Chauchat so gut wie ausschließlich aus Erwartung und Erinnerung, aus zeitlichen Verhältnissen also, die aus der Ungegenwärtigkeit dessen resultieren, was Castorp sich eigentlich wünscht. Er verlässt zunehmend die Zeit der Gegenwart, füllt sie auf mit Geschichten und Episoden der Vergangen389 390 391 392 393

Mann 1991, S.478. Vgl. Mann 1991, S.472f. Mann 1991, S.474. Mann 1991, S.991. Mann 1991, S.464.

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heit und geht damit über das eigene Leben, die eigene Erlebnisgegenwart hinweg. Die „Zeitstruktur reflexiven Charakters“, durch die sich die Welt des Zauberbergs auszeichnet, basiert also auf einer symbolischen Entfremdung, auf einer „Unterscheidung zwischen Aussageakt und Aussage“, die nach Paul Ricoeur auch „innerhalb der Erzählung“ durch die „Stimme“ des Erzählers immer mitreflektiert wird394: Dass die Geschichte „unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen“395 ist, scheint nicht nur daran zu liegen, dass die Ereignisse, von denen sie berichtet, angeblich vor sehr langer Zeit stattgefunden haben. Vielmehr erzeugt offenbar jede sprachliche Fixierung der Wirklichkeit einen unüberwindlichen Graben zwischen Gegenwart und Vergangenheit, den der Roman selbst zum Thema zu machen versucht. Denn die „perspektivische“ Zeit der Retrospektion und der Erzählung, so eine der bekannten Kernthesen des Romans, kann mit der „musikalisch-realen“ Zeit des tatsächlichen Ablaufs niemals identisch sein.396 „Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen! Eine Erzählung, die ginge: 'Die Zeit verfloss, sie verrann, es strömte die Zeit' und so immer fort, – das könnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzählung nennen. Es wäre, als wollte man hirnverbrannterweise eine Stunde lang ein und denselben Ton oder Akkord aushalten und das – für Musik ausgeben.“397

Der Widerspruch zwischen beiden Zeiten wird im Zauberberg nicht verschleiert, sondern durch den Erzähler selbst immer wieder thematisiert und durch ein Spiel mit Erzählzeit und erzählter Zeit vor Augen geführt. Eine Erzählung, deren „inhaltliche Zeitspanne fünf Minuten betrüge, könnte“ zum Beispiel „vermöge außerordentlicher Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung dieser fünf Minuten“ das „Tausendfache dauern“398 – eine These, die etwa am berühmten Schneesturm-Kapitel eine eindrucksvolle Illustration erfährt. Dabei steht jedoch nicht mehr allein die subjektive Zeitempfindung des Protagonisten im Mittelpunkt, deren gefühlte Dauer das Zeitmaß des objektiven Geschehens zurückdrängt, sondern auch das kreative Potenzial des Erzählens, das, von referenziellen Ansprüchen befreit, den Zusammenhang der Ereignisse auf eigene Weise gestalten kann. „Die ‚Uneigentlichkeit’ der Zeit“, die Castorp feststellt, produziert so „im Zauberberg durchgängig einen spezifisch poetischen semantischen Mehrwert“, eine Abweichung von dem, was als objektiv zu gelten hätte.399 Die394

395 396 397 398 399

Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung, München1989, S.170. Mann 1991, S.9. Vgl. Mann 1991, S.741ff. Mann 1991, S.741. Mann 1991, S.742. Lorenz, Markus: Motivische Textur als ästhetische Selbstreferenz. Zur Komposition von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“, Bonn 2005, http://hss.ulb.unibonn.de/diss_online, S.6. Vgl. im folgenden ebd., S.3ff.

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ser Mehrwert wird dadurch akzentuiert, dass das gescheiterte Abbildverhältnis der Schrift durch die Selbstreflexionen des Erzählers ständig thematisiert wird. Die Ironie, mit der dieses konstitutive Missverhältnis von erzählter und tatsächlicher Zeit immer wieder ins Bewusstsein gerufen wird, bewahrt den Text gleichzeitig davor, seine eigenen Konstruktionen als Wirklichkeit auszugeben. Nur weil die erzählte Zeit mit der objektiven nicht übereinstimmt, ist sie erzählenswert; würde sie hingegen mit der Erzählzeit übereinstimmen, verlöre sie sich in der „Hirnverbranntheit“ monotoner Gleichförmigkeit. Auch in Thomas Manns Roman findet sich so eine Replik auf das Historismus-Problem: Die erzählten Geschichten sind nicht ‚die’ Geschichte, sie beanspruchen nicht, die Wahrheit selbst zu erfassen, sondern entwickeln in Abgrenzung zu einem naiven Repräsentationalismus ein ästhetisches Potenzial gerade dort, wo das Verhältnis zur Wirklichkeit gekippt wird. Nur in der erzählten, also bewusst veränderten und verfälschten, dabei niemals endgültig festzuschreibenden, sondern immer neu und immer wieder narrativ zu formierenden Vergangenheit ist Bedeutung möglich. Alles andere erscheint schlicht als „ein närrisches Unterfangen.“

5. „Spielerische Moderne“: Borges und Nabokov Wie die kurzen Ausführungen zu Thomas Manns Der Zauberberg gezeigt haben, bedingt die Unverfügbarkeit des Referenten, die in der Literatur der klassischen Moderne reflektiert wird, mittelbar wieder eine Aufwertung des Erzählens: Zeit ist die narrative (Re-)Konstruktion einer notwendig immer unvollständigen Erinnerung. Die Erzählungen haben dabei nicht mehr „die Konsistenz einer verhärteten Oberfläche“400, sondern sind potenziell variabel, sollen deshalb auch nicht aufgebrochen, sondern in der literarischen Neuerfindung ästhetisch immer wieder überformt werden. Erzählen erschafft auf diese Weise immer neue Wirklichkeiten, anstatt die diskursiv vereinbarte einfach nur zu wiederholen. Gerade die Ordnung der Erzählung ist dabei niemals identisch mit einer reinen Chronologie; sie ist vielmehr achronisch in dem Sinne, dass sie über Zeit in beliebiger Weise verfügen kann, dass sie ihren Verlauf immer wieder um- und neuzugestalten in der Lage ist. Diese achronische Dimension der Erzählung ist in psychologischer Hinsicht auch Voraussetzung für die Herstellung einer funktionierenden Identität; denn auch diese ergibt sich nicht aus einer tatsächlichen Übereinstimmung zwischen wirklicher und erinnerter Vergangenheit, sondern im Vollzug der narrativen Konstruktion eines solchen Zusammenhangs: „Man lebt immer auf die Erzählung des Lebens hin, das sich erst in der erinnernden Wiederholung konstituiert und den Effekt einer beisichseienden Vollständigkeit

400

Assmann 1999, S.54.

5. „Spielerische Moderne“: Borges und Nabokov

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erzeugt.“401 Das Bewusstsein der Künstlichkeit solch „narrativer Identitäten“402 steht diesen also nicht entgegen; vielmehr zeigt es sich gerade als notwendig, in der Abkehr vom Wahrheitsanspruch die Möglichkeit zu gewinnen, die disparaten vergangenen Ereignisse zu einem sinnvollen Ablauf zusammenzufügen. Erinnern bedeutet demzufolge immer schon aktives Gestalten und Umformen der Vergangenheit. Ein unfehlbares, unerbittliches Gedächtnis hingegen, mit dem Jorge Luis Borges in einer gleichnamigen Erzählung den jungen Ireneo Funes ausstattet, wäre nicht fähig, die Verbindung zur Gegenwart herzustellen: Es bräuchte für die Erinnerung an einen Tag selbst ebenso lange, nämlich einen Tag, wodurch die Herstellung eines sinnvollen Zusammenhangs unmöglich würde: „Tatsächlich erinnerte Funes sich nicht nur an jedes Blatt jeden Baumes in jedem Wald, sondern auch an jedes einzelne Mal, dass er es gesehen oder sich vorgestellt hatte. Er beschloss, jeden seiner vergangenen Tage auf 70000 Erinnerungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen wollte. Zwei Überlegungen hielten ihn davon ab: die Einsicht, dass die Mühe endlos sein würde; die Einsicht, dass es sinnlos war. Er überlegte, dass er in der Stunde seines Todes noch nicht einmal die Einordnung seiner sämtlichen Kindheitserinnerungen zu Ende gebracht haben würde.“403

Auch hier scheint eine Kritik an einer allzu verwissenschaftlichten Geschichtsschreibung auf, die, wollte sie ihren Einzelgegenständen wirklich gerecht werden, diese derart ins Detail verfolgen müsste, dass ihr eigentliches Ziel, die Herstellung eines verständlichen historischen Zusammenhangs, darüber notwendig verloren gehen würde. Gleichzeitig aber wird auch Nietzsches Gegenmaßnahme, das Leben auf der Schwelle des Augenblicks, von Borges einer Kritik unterzogen. Im Falle des Ireneo Funes ist es nämlich ein Unfall, durch den er die Fähigkeit der totalen Erinnerung erhält – und der ihn aus einem anderen, zeitvergessenen Zustand herausreißt, welcher sich durch reinen Gegenwartssinn kennzeichnete: War er vorher ohne Gedächtnis, wusste aber immer die genaue Uhrzeit zu sagen, ist er nun, ähnlich Rilkes Nikolaj Kumitsch, an sein Bett gefesselt und in seiner totalen Abhängigkeit von der aufsummierten Zeit zum Erlebnis der Gegenwart unfähig. Die Mitte zwischen beiden Extremen läge hingegen in einem Bewusstseinszustand, der um die Artifizialität und Unvollständigkeit jeder Erinnerung wüsste, sie aber dennoch als Grundlage einer nicht eindeutigen, sondern vielfältigen und variablen, narrativen Identität akzeptierte. Eine solche Dimension des Erzählens, die mit der konventionellen Vorstellung einer linearen Zeit nicht mehr übereinstimmt, ist insbesondere von jenen Autoren entwickelt worden, die sich nach Daniel Kehlmanns eingangs zitierter 401 402

403

Pethes 1999, S.74. Vgl. Ricoeur, Paul: Narrative Funktion und menschliche Zeiterfahrung, in: Bohn, Volker (Hg): Romantik. Literatur und Philosophie, Frankfurt a.M. 1987, S.45-79, S.75. Borges 2004, S.102.

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Differenzierung jener „spielerisch-experimentellen Tradition“404 der Moderne zuordnen lassen, welche in Deutschland lange Zeit ignoriert worden sei, von der neuen Schriftsteller-Generation nun aber zunehmend entdeckt werde. Insbesondere bei Jorge Luis Borges und Vladimir Nabokov, den viele jüngere Autoren ausdrücklich als literarisches Vorbild benennen, wird diese Auseinandersetzung mit dem Erzählen von umfangreichen Zeitreflexionen begleitet. Im Gegensatz zur Literatur um 1900 steht hier jedoch seltener der Versuch im Mittelpunkt, die Erfahrung der Zeit selbst, ihrer Flüchtigkeit und Ungreifbarkeit in der ästhetischen Erfahrung aufzuheben. Vielmehr wird ein Verfahren der ständigen literarischen Neu- und Umgestaltung entwickelt, durch welches die Eindeutigkeit und die vorausgesetzte Einförmigkeit des Zeitverlaufs untergraben wird. Mit besonderem theoretischen Scharfsinn ist eine solche Poetologie von Jorge Luis Borges entwickelt worden: Während die berühmten Versuche einer philosophischen Widerlegung der Zeit, jene Essays also, in denen Borges „die zeitliche Sukzession“, das „Ich“ und das „astronomische Universum“ geistreich zu leugnen versucht, auch aus seiner eigenen Sicht kaum mehr sind als „scheinbare Verzweiflung und geheimer Trost“405, geht es vor allem in seinen Erzählungen immer wieder um den Versuch, die Unfassbarkeit selbst der ureigensten Erinnerungen zur Darstellung zu bringen, die sich stetig wandeln – und die im Wandel dennoch eine Konstanz bewahren, die die menschliche Existenz begründet. „Wir sind Etwas, das wechselt, und Etwas, das dauert. Wir sind Etwas, das im wesentlichen rätselhaft ist. Was wäre jeder von uns ohne seine Erinnerung? Diese Erinnerung besteht zu einem guten Teil aus Gerücht, aber sie ist wesentlich. Es ist nicht notwendig, dass ich mich, um zu sein, wer ich bin, zum Beispiel daran erinnere, dass ich in Palermo, in Adrogué, in Genf, in Spanien gelebt habe. Gleichzeitig kann ich nicht umhin, zu empfinden, dass ich nicht mehr der bin, der ich an diesen Orten war, ich bin ein anderer. Das ist das Problem, das wir niemals lösen können: das Problem der sich verändernden Identität. [...] Das heißt: Wir haben die Idee der Fortdauer im Flüchtigen.“406

Die unvollständige Erinnerung, die die Identität des Menschen formt, wird von Borges nicht ob ihrer Fehlbarkeit kritisiert, sondern – aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Überprüfung – für jeden Augenblick absolut gesetzt. Der betrogene Liebhaber, der denkt: „Während ich so glücklich war im Gedanken an die Treue meiner Liebsten, hat sie mich betrogen“, ist nach Borges im Irrtum: „Wenn jeder Zustand, den wir erleben, absolut ist, dann war dieses Glücksgefühl nicht gleichzeitig mit diesem Verrat; die Entdeckung des Verrats ist ein weiterer Zustand, der die ‚vorangehenden‛ Zustände nicht modifizieren kann, 404 405

406

Zitiert nach Gollner 2005, S.36. Borges, Jorge Luis: Inquisitionen. Essays 1941-1952. Deutsch von Karl August Horst und Gisbert Haefs, Frankfurt a.M. 1992 (a), S.204. Borges, Jorge Luis: Die letzte Reise des Odysseus. Vorträge und Essays 1978-1982. Deutsch von Gisbert Haefs, Frankfurt a.M. 1992 (b), S.72. (Hier aus dem Essay Die Zeit.)

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wohl aber die Erinnerung an sie. Das Unglück von heute ist nicht realer als das vergangene Glück.“407 Auch Borges entwickelt also eine Augenblicks-Ästhetik, jedoch nicht eine, in der das Kontinuum der Zeit geleugnet wird, sondern eine, in der jede Annahme über Vergangenheit und Zukunft immer nur für den jeweiligen Moment der Vergegenwärtigung Gültigkeit besitzt. Das Kontinuum der Zeit ist für ihn nicht die Folge der Augenblicke des Lebens oder der Geschichte, sondern die literarische Konstruktion, welche die Menschen erzeugen, wenn sie über ihr Leben reflektieren. Die ‚tatsächliche‛ Zeit allerdings wird als radikal diskontinuierlich beschrieben: Jeder „Moment, den wir erleben, existiert, nicht aber sein imaginärer Verband.“408 An die Stelle der einförmigen Zeit tritt auf diese Weise ein Netz von Konstruktionen und Rekonstruktionen, von Fabeln, Träumen und Erinnerungen, die der Mensch erzählend über sein Leben spinnt. Die kulturelle Konstruktion von Dauer wird aufgelöst in ein poetisches Labyrinth von Geschichten, deren Wahrhaftigkeit keine Rolle mehr spielt: Die Fiktionalität der Geschichte wird ebenso zur Selbstverständlichkeit wie die Artifizialität der individuellen Persönlichkeit. Besonders deutlich zu erkennen ist dies in der Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen, die nicht nur aufgrund ihrer komplexen Struktur, sondern auch aufgrund ihrer auffälligen Zeit-Motivik einen besonderen Stellenwert im Werk des argentinischen Dichters einnimmt. Yu Tsun, ein chinesischer Spion, der im Zweiten Weltkrieg für die Deutschen in England arbeitet, will ein Kriegsgeheimnis – den Namen einer Stadt, die bombardiert werden muss – nach Deutschland übermitteln. Die Gegenspionage der Engländer jedoch ist ihm bereits dicht auf den Fersen, und so ersinnt er einen abenteuerlichen Weg der schnellen Informationsübertragung durch die englischen Zeitungen: Er ermordet einen Mann, der genauso heißt wie die Stadt, die bombardiert werden muss – in der Hoffnung, dass über den Fall in der Presse berichtet wird, die Deutschen den Zusammenhang der Namen ‚Yu Tsun‛ und ‚Albert‛ erkennen und das Bombardement der Stadt Albert einleiten. Unglücklicherweise ist Stephen Albert, das Opfer, das Yu Tsun aus dem Telefonbuch auswählt, zufällig ein Sinologe, der die „verlorene Enzyklopädie“409 eines großen chinesischen Autors – ausgerechnet ein Vorfahre Yu Tsuns – aufarbeitet. Dessen gigantisches Werk folgt nicht, wie andere Romane, dem konventionellen Prinzip der Verzweigung im Raum, sondern dem sehr viel ungewöhnlicheren der „Verzweigung in der Zeit“: Es führt die verschiedenen möglichen „Zukünfte“ vor, die aus den unterschiedlichen Situationen der Vergangenheit hätten entstehen können, ebenso wie das Netz von Vergangenheiten, die einem Ereignis hätten vorausgehen können.410 Der einzige Begriff, der in dem riesigen Werk niemals vor-

407 408 409 410

Borges 1992 (a), S.190f. (aus dem Essay: Neue Widerlegung der Zeit) Borges 1992 (a), S.191. Vgl. Borges 2004, S.83. Borges 2004, S.85.

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kommt, ist der Begriff ‚Zeit‛ – für Stephen Albert ein sicheres Zeichen, dass die Zeit das eigentliche Thema des Romans ist. So erklärt er Yu Tsun: „Im Unterschied zu Newton und Schopenhauer hat ihr Ahne nicht an eine gleichförmige, absolute Zeit geglaubt. Er glaubte an unendliche Zeitreihen, an ein wachsendes, schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender paralleler Zeiten. Dieses Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren, umfasst alle Möglichkeiten. In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren wir nicht; in einigen existieren Sie, nicht jedoch ich; in anderen ich, aber nicht Sie; in wieder anderen wir beide. In dieser Zeit nun, die mir ein günstiger Zufall beschert, sind Sie in mein Haus gekommen. In einer anderen haben Sie mich, da Sie den Garten durchschritten, tot angetroffen; in wieder einer anderen sage ich dieselben Worte, aber ich bin ein Trug, ein Phantasma.“411

Für Yu Tsun freilich ergibt sich die Möglichkeit nicht, einfach zwischen den parallelen Wirklichkeiten zu springen: Zwar versichert er dem Sinologen, als Freund gekommen zu sein, doch tötet er ihn am Ende trotzdem. Die Vogelperspektive auf die unterschiedlichen Verzweigungen in der Zeit bleibt bei Borges der Literatur vorbehalten; gleichzeitig wird gezeigt, dass jeder konstruierte temporale Zusammenhang in der Wirklichkeit eine inhärente Logik enthält, der das Individuum nicht ohne weiteres entkommen kann – auch wenn sie so grotesk ist wie die Geschichte eines Chinesen, der im Zweiten Weltkrieg ausgerechnet für die Deutschen spioniert. Die Literatur, die den eigentlich unter großem Zeitdruck stehenden Yu Tsun zu einem eigenartig zeitenthobenen, intellektuellen Gespräch mit dem Sinologen verführt, stellt also einen Ort der Reflexion dar, an dem die Stringenz und Notwendigkeit des Zeitenlaufs, dem er angehört, als künstlich und zufällig erkannt wird, ohne dass dieser dadurch seine Verbindlichkeit verlöre. In der einzigen Textstelle, die der Sinologe dem Chinesen vorträgt, bleibt daher die Gegenwart selbst unverändert; allein ihre Vorgeschichte erscheint als variabel: „Er las mit langsamer Präzision zwei Fassungen desselben epischen Kapitels. In der ersten zieht ein Heer durch ein ödes Gebirge in die Schlacht; das Grauen der Steine und des Schattens lässt die Männer das Leben gering achten und führt sie mit Leichtigkeit zum Sieg; in der zweiten Fassung durchzieht das Heer ein Schloss, in dem ein Fest stattfindet; die strahlende Schlacht erscheint ihnen als Fortsetzung des Festes, und sie erringen den Sieg.“412

Die Rekonstruktion der Entwicklungen, die einer bestimmten Situation vorausgehen, vollzieht sich im Modus des Erzählens. Dieses vermag an der Gegenwart selbst nichts zu ändern, doch stellt es sie in einen zeitlichen Kontext, der ihr 411 412

Borges 2004, S.88. Borges 2004, S.86.

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einen Sinn, eine gewisse Verständlichkeit verleiht. Der Mensch ist bei Borges unwiderruflich der flüchtigen, unbegreiflichen Zeit ausgesetzt, doch findet er einen Trost in der Erkenntnis, dass diese Zeit durch sein Bewusstsein eigentlich erst geschaffen wird, dass also über ihren wirklichen Verlauf nichts Verbindliches gesagt werden kann, da es sich immer um Konstruktionen, um Fiktionen handelt. Für Borges sind die Zeit und ihr Inhalt also nicht voneinander zu trennen: Beides entsteht dadurch, dass das Bewusstsein seinen Eindrücken und Erinnerungen eine Ordnung gibt. Wirklichkeit besitzt so aber tatsächlich nur die Gegenwart, von der aus die (Re-)Konstruktion jeweils vorgenommen wird: „Dann bedachte ich, dass alle Dinge einen genau treffen, genau jetzt. Jahrhundert um Jahrhunderte, und alles geschieht nur in der Gegenwart; zahllose Menschen in der Luft, am Boden und auf See, und doch geschieht alles, was wirklich geschieht, mir...“413 Die Reflexion hebt die Sukzession auf und macht sie als Fiktion bewusst; gleichzeitig ermöglicht sie, über diese Fiktionen, in denen wir leben und die uns beherrschen, für einen Moment mit der Souveränität eines Schriftstellers zu verfügen, der Handlungsverläufe verwirft, neu schreibt, gegeneinander abwägt. Die Freiheit des Menschen liegt bei Borges so gerade in der fehlenden Eindeutigkeit des Zeitverlaufs begründet, der sich in jeder Gegenwart, in der er von Neuem erzählt wird, als anderer präsentiert. Indem die Literatur zwei widersprüchliche Chronologien als gleichermaßen glaubhafte, aber auch gleichermaßen konstruierte Vorgeschichten des selben Ereignisses nebeneinander stellen kann, vermag sie die Relativität narrativer Rekonstruktionen bewusst zu machen. Auch die historische Zeit ist nur noch eine Version unter vielen: Die Erzählung Der Garten der Pfade, die sich verzweigen stellt sich bereits mit dem ersten Satz in einen Gegensatz zur ‚offiziellen‛ Geschichtsschreibung, repräsentiert durch die „History of the World War von Liddell Hart“, auf die sie „ein unvermutetes Licht“ werfen will.414 Fiktiver Autor der Erzählung ist Yu Tsun selbst, dessen in der Todeszelle verfasster, retrospektiver Bericht jedoch nicht nur unvollständig ist – die ersten beiden Seiten fehlen –, sondern auch in sich widersprüchlich: Die Nachricht seines Mordes an Stephen Albert, die den Namen der Stadt den Deutschen übermittelt, und die Nachricht der Bombardierung der Stadt durch die deutsche Luftwaffe stehen in der selben Zeitung, können also nicht in jenem Ursache-Wirkungs-Verhältnis stehen, das Yu Tsun behauptet und mit dem er seine ganze narrative Rekonstruktion der Ereignisse motiviert.415 Borges lässt so auch die Rahmengeschichte, die im Gegensatz zu den Phantasien des chinesischen Dichters Ts'ui Pen als Realitätsebene erscheint, zu einer brüchigen, in sich unstimmigen Fiktion werden, die den Leser gleichsam dazu auffordert, der Frage nachzugehen, wie es denn ‚wirklich‛ gewesen sein könnte – und damit in das Spiel der Erfindung immer neuer Zei413 414 415

Borges 2004, S.78. Borges 2004, S.77. Vgl. Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Reinbek bei Hamburg 2007, S.69f.

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ten, neuer Vergangenheiten und Zukünfte einzutreten. Die narrative Rekonstruktion der Vergangenheit hebt bei Borges die Einförmigkeit der Zeit auf: Dadurch, dass der Mensch erzählt, wird ihm die Zeit zu einem Raum unendlicher Möglichkeiten, zu einem faszinierenden, „unsichtbaren Labyrinth aus Zeit.“416 Borges' Erzählungen sind so selbst „Gärten sich verzweigender Pfade, Fiktionslabyrinthe, die die Kontingenz ihrer Erzählstränge und Entscheidungsmöglichkeiten zum eigentlichen (und doch auch verborgenen) Thema machen.“417 Neben Borges ist vor allem Vladimir Nabokov als Repräsentant jener ‚spielerischen Moderne‛ zu nennen, deren Einfluss auf die neuere Literatur Daniel Kehlmann geltend macht. Die Bedeutung insbesondere der späten Werke des russischen Schriftstellers ist für die englischsprachige Gegenwartsliteratur von der Forschung bereits nachgewiesen worden.418 Für die deutschen Zeit-Autoren lässt sie sich schon mit der Fülle von Anspielungen und expliziten Bezugnahmen belegen, die sich in den Texten finden. So wird etwa in Daniel Kehlmanns Roman Mahlers Zeit die Mutter des Protagonisten – in Anlehnung an Nabokovs Lolita – vom Blitz erschlagen, während Thomas Lehr, dessen bekanntester Roman den Titel Nabokovs Katze trägt, in seinem Roman 42 dem russischen Schriftsteller mit der Wachsfigur eines Schmetterlingsjägers offenkundig ein Denkmal setzt. Auch in Juli Zehs kürzlich erschienenem Roman Schilf kommt ein solcher Schmetterlingsfänger an exponierter Stelle vor, und wie viele andere junge Autoren benennt Zeh Nabokov immer wieder ganz ausdrücklich als eines ihrer größten literarischen Vorbilder.419 Ein ambitionierter Aufsatz von Thomas Lehr schließlich, in dem der Zeit-Aspekt in Ada or Ardor, dem komplexen Spätwerk Nabokovs, zu einem poetischen Programm entwickelt wird, lässt an der Relevanz des Autors für den Kontext dieser Arbeit keinen Zweifel mehr.420 Ada or Ardor, ein Roman, der nicht selten als eine Art Summa des Nabokov'schen Werks betrachtet worden ist, weist zudem viele auffällige Parallelen zu jenen Werken deutscher Gegenwartsautoren auf, die im dritten Teil dieser Arbeit analysiert werden sollen. Dabei behauptet ausgerechnet Helmut Krausser noch im Februar 2002, gerade diesen Text Nabokovs nicht zu kennen.421 Sollte das tatsächlich der Fall sein, ist die Fülle an inhaltlichen Übereinstimmungen, die schon auf den ersten Blick zwischen UC und Ada auszumachen sind, erst 416 417

418 419

420

421

Borges 2004, S.84. Horn 2007, S.67. Eva Horns Analyse steht zwar in einem anderen thematischen Zusammenhang, geht aber dennoch ausführlich auf Borges' Zeitreflexionen ein. Vgl. etwa Wagner 1996. S.92. Vgl. Schwarz, Christopher: Dichtung und Wahrheit. Die preisgekrönte Schriftstellerin Juli Zeh über Sinn und Schönheit der Literatur, in: Wirtschaftswoche (8.1.2007), S.138. Lehr, Thomas: VANIADANIRWANADIRANA. Im Rolls-Royce der Liebe dem Tod entkommen, in: Vladimir Nabokov. Literaturmagazin Nr. 40, hg. von Martin Lüdke und Delf Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1997, S.114-128 Krausser, Helmut: Januar. Tagebuch des Januar 2001. Februar. Tagebuch des Februar 2002, Reinbek bei Hamburg 2003 (b), S.219.

5. „Spielerische Moderne“: Borges und Nabokov

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recht bemerkenswert. Um nur einige wenige zu nennen: Beide Romane sind voluminöse, dabei aber sehr spielerische und eher komödiantische Experimente zum Zusammenhang von Erzählen und Zeit und gelten ihren Autoren als Hauptwerke, denen jeweils lange Planungsphasen vorausgingen. Die Protagonisten erscheinen hier wie dort zunächst selbst als fiktive Autoren und Erzähler ihres Lebens, das sie jeweils kurz vor ihrem Tod Revue passieren lassen, werden im Fortgang des Romans aber zunehmend durch andere Erzählinstanzen ergänzt, die sie auf die Unvollständigkeit und Fiktionalität ihrer Erinnerungen hinweisen. Ein Hauptaugenmerk wird in beiden Romanen auf Jugenderinnerungen und insbesondere auf die vielfältigen erotischen Verwicklungen gelegt, durch die sich die jeweiligen Vergangenheiten wesentlich strukturieren. Wie Van in Ada or Ardor ist Kurthes in UC zudem eine Art ‚Zeitforscher‛; beide Namen sind dabei auffällig unvollständige Anagramme der Autorennamen, und beide Figuren halten an exponierter Stelle ihrer Romane jeweils einen langen Vortrag zum Thema ‚Zeit‛, der als eine Art im Roman verborgener Essay nahezu in voller Länge einer Universitätsvorlesung wiedergegeben wird – unterbrochen hier wie dort nur durch die jeweils ironisch zurückblickenden Reflexionen der Protagonisten über die Reaktionen des Publikums sowie eigene Verwirrungen und Erinnerungen während der Rede. Beide Vorträge fallen nicht nur durch ihre ungewöhnliche Länge und die verschrobene, ständig ins Bildhafte abgleitende Wissenschaftlichkeit spürbar aus der Handlung heraus, sondern sprechen den Leser direkt an und handeln in frappanter Weise ausdrücklich von ‚der Zeit‛. Beide Romane schließlich gewähren dem Autor selbst kurze, wenn auch stark ironisierte Auftritte innerhalb der Handlung, durch die sie in Interaktion mit ihren Figuren treten, denen auf diese Weise die zeitlichen Zusammenhänge, in denen sie leben, als fiktive, literarische Konstruktionen bewusst werden. Diese Parallelen lassen eine kurze Analyse von Nabokovs Roman als sinnvoll erscheinen. Da der außerordentlich komplexen Handlung von Ada oder Das Verlangen an dieser Stelle allerdings kaum gerecht zu werden ist, soll das Augenmerk im folgenden auf den bereits erwähnten Zeit-Vortrag gelegt werden, den Van am Ende des Romans hält. Im Mittelpunkt von Nabokovs Roman stehen die beiden Geschwister Van und Ada, die bei unterschiedlichen Elternfamilien in dem Glauben aufwachsen sollen, sie seien lediglich Cousin und Cousine. Ihre erotische Leidenschaft und Liebesbeziehung beginnt in frühem Alter und vollständiger Kenntnis ihres wirklichen Verwandtschaftsverhältnisses: Van ist vierzehn, Ada zwölf Jahre alt; und der Roman schildert in erster Linie die Entwicklung dieser inzestuösen Beziehung. Van und Ada sind gleichzeitig aber auch – in wechselseitiger, schließlich fast unauflösbarer Verstrickung sich an acht Jahrzehnte nur teilweise gemeinsamen Lebens erinnernd – die Erzähler und die fiktiven Autoren des von Einschüben und Korrekturen durchzogenen Textes. Die frühen Episoden der frühreifen Kindheit nehmen dabei einen Großteil des Textumfangs ein; die sorglose Heiterkeit, die diesen Teil kennzeichnet, markiert den regressiven Charakter der

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900

Erinnerung, während die unglaubwürdige Bildung der beiden Kinder deutlich auf den konstruktiven Charakter der Darstellung, auf die Einfärbung der Vergangenheit durch die Gegenwart hinweist – die ganze Geschichte sei zu 97 % wahr und zu 3 % wahrscheinlich, resümiert Van in einem dem Roman kurioserweise nachgestellten Vorwort ironisch.422 Die anderen vier Teile, die chronologisch der Entwicklung der Liebesgeschichte bis zur Gegenwart folgen, nehmen ähnlich wie im Zauberberg mit zunehmendem Alter der Protagonisten und steigender Dauer der geschilderten Lebensspannen kontinuierlich an Umfang ab. Die längste Zeit bleibt das verschwisterte Liebespaar getrennt, ihr Verhältnis vom Vater verboten; Ada ist sogar mit einem anderen Mann verheiratet. Erst im Alter wird für beide ein gemeinsames Leben möglich. Der Roman bildet damit tatsächlich eine Vorgeschichte der Gegenwart, deren Details und Episoden, so disparat sie auch erscheinen, in einer Narration, die aus ihrer Fiktionalität kein Geheimnis macht, eine Richtung und einen Sinn erhalten. Indem die zeitliche Struktur der Erzählung durch die zwar auktoriale, aber gleichermaßen diegetische Erzählinstanz ständig kommentiert und ins Bewusstsein gerückt wird – insbesondere durch den Zeitforscher Van –, gehen zudem formale und inhaltliche Auseinandersetzung immer wieder ineinander über. Dabei ermöglicht die Fiktionalität der Figuren und die spontan sich jeweils der Situation angleichende, dadurch gewollt inkonsistente Romanwelt gleichermaßen haltlos experimentelles Philosophieren und ironische Distanz: „Anti-Terra“, die libertinäre, ironische Gegenwelt des Romans, die jedoch um die Existenz von „Terra“ weiß, ist nur eine mögliche Welt, die im Roman Nabokovs jedoch zu eigener, selbstständiger Wirklichkeit gelangt. Die aus diesem Konflikt entstehenden Widersprüche erscheinen allerdings nur als Kollateralschäden, gemessen an den Katastrophen, die auf „Terra“ im Namen von Fortschrittslogik, also einheitlicher und eindeutiger Zeit, stattfinden. Im Gegensatz zur Wirklichkeit, die auf „Terra“ herrscht, ist „Anti-Terra“ offenkundig fiktiv: Die Vergangenheit, die hier zum Leben erweckt wird, ist nur eine mögliche unter vielen, die Entscheidung für eine konkrete, aber kontingente Variante. Sie erhält dadurch den Status eines Möglichkeitsraumes; jeder Zeitpunkt wird – wie bei Borges, der als „Osberg“ auch im Roman zitiert wird423 – so reflektiert, dass seine unterschiedlichen möglichen Folgen und Bedeutungen gleichzeitig vergegenwärtigt werden, dass die Entscheidung für eine dieser Varianten also als Entscheidung offensichtlich bleibt. Nabokov gibt dieses poetische Konzept des Romans verdichtet wieder, indem er an einer Schlüsselstelle – der Entscheidung Vans, nach Entdeckung der inzestuösen Liebe durch seinen Vater Selbstmord zu begehen – eine Spaltung der weiteren Handlung in zwei mögliche Zukünfte andeutet. Beide Äste des auf diese Weise entstehenden Möglichkeitsbaumes werden dabei als 422

423

Nabokov, Vladimir: Ada oder Das Verlangen. Aus den Annalen einer Familie. Deutsch von Uwe Friesel und Marianne Therstappen, Reinbek bei Hamburg 1977 (O: New York 1969). Vgl. Nabokov 1977, S.419 & S.731.

5. „Spielerische Moderne“: Borges und Nabokov

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prinzipiell gleichberechtigt suggeriert, auch wenn der Roman nur einem dieser Zeitläufe folgt: „Van versiegelte den Brief, fand seine Thunderbolt-Pistole an der Stelle, die er vorausgesehen hatte, füllte eine Patrone ins Magazin und ließ sie in den Lauf wandern. Dann, vor einem Schrankspiegel stehend, hielt er die Automatik gegen seinen Kopf, an den Pterions-Punkt, und drückte auf den bequem gebogenen Abzug. Nichts geschah – oder vielleicht geschah alles, und sein Schicksal gabelte sich einfach in jenem Augenblick, wie es wahrscheinlich nachts manchmal vorkommt, besonders in einem fremden Bett, im Zustand großen Glücks oder großer Verzweiflung, wenn wir im Schlaf sterben, aber unser normales Dasein, ohne wahrnehmbaren Bruch in der gefälschten Serie, am folgenden sauber vorbereiteten Morgen fortsetzen, mit einer Schein-Vergangenheit, die verborgen, aber fest hinten angeheftet ist. Jedenfalls war, was er in der rechten Hand hielt, keine Pistole mehr, sondern ein Taschenkamm, mit dem er durch sein Schläfenhaar fuhr.“424

Nicht nur der physische Tod, sondern vor allem der Abbruch der Liebesgeschichte, der Kontinuität der gerichteten Bewegung, die die Erzählung konstruiert, bleibt zu jedem Zeitpunkt vorstellbar. Die Gefahr, im Modus des Erzählens eine Kausalität zu suggerieren, welche die zeitlich späteren Ereignisse als logische Folgen der vorausgegangenen erscheinen lässt und somit die Offenheit der Entwicklung retrospektiv einengt, wird in Nabokovs Romanen dadurch umgangen, dass die früheren Möglichkeiten tatsächlich weiterhin möglich bleiben. Gleichzeitig aber wird die fiktionale Herstellung einer – persönlichen wie historischen – Entwicklungslogik als identitätsstiftende Konstruktion vorgeführt. Wie spätestens Vans Rede zu erkennen gibt, resultiert diese narrative Zeit aus den kognitiven Strukturen des Subjekts. Die Forschungen, die der Zeit-Wissenschaftler im Laufe seines Lebens anstellt, werden von der Überzeugung getragen, dass Zeit in erster Linie eine Vorstellungsweise und Erlebnisform, „eine Erfindung des Geistes ohne objektives Gegenstück, aber mit leicht herzustellenden räumlichen Analogien“425 sei. Die Objektivierung dieser subjektiven Erlebnisform zu einem linearen Modell wird hierbei ganz nach Bergson – außer Augustinus die einzige von Van zitierte philosophische Quelle – als „äußerst grob aus Privat-Zeiten zusammengewebt[e]“ Abstraktion bekämpft. Als Maßstab ist sie nicht identisch mit Zeit, genauso wie „ein Band von Unterteilungen, sogar eines von endloser Länge, nicht ‚Raum’ selbst“ wäre.426 So ist schon die eigene Geburt uns nur als eine nachträgliche, abstrakte Erkenntnis bewusst, da unsere eigentliche Existenz erst mit den frühesten Erinnerungen beginnt:

424 425 426

Nabokov 1977, S.543. Nabokov 1977, S.666. Nabokov 1977, S.661.

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I. Literarische Zeitkonzepte um 1900 „Ich weiß auch, dass Sie und ich wahrscheinlich geboren wurden, aber das beweist nicht, dass wir die zeitliche Phase, die ‚Vergangenheit’ heißt, durchlaufen haben: Meine ‚Gegenwart’, meine kurze Bewusstseinsspanne, sagt mir, dass ich es tat, nicht der schweigende Donner der endlosen Unbewusstheit, der meiner Geburt vor zweiundfünfzig Jahren und 195 Tagen eigentümlich war.“427

Gleichzeitig ist sich Van darüber im Klaren, dass die Verräumlichung der Zeit kaum umgangen werden kann, da dieses „flüssige Medium“ dazu verführt, dass man in ihm „Metaphern kultiviert.“428 Am Beginn seines Vortrags versucht auch er deshalb, eine Augenblicksutopie zu entwickeln, die er mit der frühen Kindheit und dadurch mit einer vorreflexiven Seinsweise assoziiert: „Nichts hindert die Menschheit als solche daran, gar keine Zukunft zu haben“, den „Augenblick der Erinnerung“ einfach zu „genießen“, ungeachtet seiner Bedeutungen oder Konsequenzen, in einer Art „permanentem Stupor“ gleich jenem, in den eine von einem Hausgiebel herabfallende „Stuck-Ananas“ Van fast versetzt hätte, als dieser noch ein kleines Kind war. Indem sich Van diese frühe Kindheitserinnerung jedoch vor Augen führt und gerade die möglichen Konsequenzen „postuliert“429, die aus dem Unfall hätten entstehen können, wird das Augenmerk wieder auf die narrative Gestaltung der Zeit gelenkt: Die Leugnung der Zukunft bedeutet nicht eine Leugnung der Zeit an sich, sondern betont lediglich die Offenheit ihrer Bewegung. Denn Zukunft kann nur als kausale Folge eines gegenwärtigen Zustands vorgestellt werden, weshalb sie eher eine „Kategorie des Denkens“430 darstellt als einen Modus der Zeit. Für die Zeit ist aus diesem Grund nur das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit entscheidend. Dass auch Nabokov dabei den Widerstreit zwischen Performanz und Referenz als Grundlage eines textuellen Begriffs der Zeit entwickelt, zeigt bereits die verkomplizierte Wiedergabe der Rede, in der zwei Zeitebenen ständig ineinanderfließen: die Rede selbst, in der Van abstrakte Gedanken zu vermitteln sucht, und eine spätere Autofahrt, die Van unternimmt, um nach Jahrzehnten der Trennung endlich Ada wiedertreffen zu können, auf der er sich jedoch ständig verfährt und auf diese Weise die Infragestellung des linearen Zeitmodells gewissermaßen performativ illustriert. Auf keiner der Zeitebenen kann Van dabei verharren: Zeit ist das Intervall einer ständig zu erneuernden Koordination zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Vans Versuch, über die „reine Zeit“ zu sprechen, „frei von Intervallen“ 431, muss also korrigiert werden: Das „Veensche Intervall“ (nach Van van Veen, wie der Protagonist mit vollem Namen heißt) wird zum Grundelement der Zeit, die nun nicht mehr aus Punkten vorgestellt werden kann, deren „wahre Gegenwart“ die „Dauer Null“ hätte, sondern als ein „Akt der Aufmerksamkeit“ definiert werden muss, der aus 427 428 429 430 431

Nabokov 1977, S.653. Nabokov 1977, S.655. Nabokov 1977, S.654. Nabokov 1977, S.665. Nabokov 1977, S.658.

5. „Spielerische Moderne“: Borges und Nabokov

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der Differenz zwischen der „Vorsätzlichen Gegenwart“ und der „Trügerischen Gegenwart“ entsteht. „Die bewusste Konstruktion der einen und der vertraute Strom der anderen geben uns drei oder vier Sekunden dessen, was als Jetztheit gespürt werden kann.“432 So erklärt sich auch die Ablehnung der Zukunft, die gleichermaßen eine Kritik an Heideggers Konzept eines ‚Seins zum Tode‛ artikuliert – Van wirft einen der Besucher seines Vortrags, der nach der Rolle des Todes für die Zeit zu fragen wagt, einfach aus dem Hörsaal. „Wenn die Vergangenheit als ein Lager von ‚Zeit’ wahrgenommen wird und wenn die Gegenwart der Vorgang jener Wahrnehmung ist, stellt andererseits die Zukunft keinen Gegenstand von ‚Zeit’ dar, hat mit ‚Zeit’ und der grauen Gaze ihrer physikalischen Textur nichts zu tun.“433

Die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die die Zeit konstituiert, findet ein Sinnbild in der Stadt Zembre und dem Fluss Minder, an dem sie liegt – eine Metapher übrigens, die sich ebenfalls in Kraussers Roman UC wiederfinden wird. Das „malerische alte Städtchen“ verändert sich im Laufe der Jahrhunderte so sehr, dass irgendwann die Denkmalpfleger der Stadt auf die Idee kommen, das alte Zembre „mit seinem Schloss, seiner Kirche und seiner Mühle“ auf der anderen Seite des Flusses noch einmal aufzubauen. Natürlich entspricht diese neue Altstadt nicht dem alten Zembre, sie ist ihm bloß nachempfunden. Der Fluss, der hier nicht für das Gleichmaß der Zeit steht, sondern die Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit repräsentiert, ist unüberbrückbar; die andere Seite schimmert deshalb „in einem imaginären Raum“. Wenn es auch ein Fehler wäre, dieses Modell der Vergangenheit mit der wirklichen zu verwechseln, liegt am Ursprung der Problematik jedoch die Einsicht, dass eine als tatsächlich vorgestellte Vergangenheit eben vergangen und deshalb nicht rekonstruierbar ist; eine Vergangenheit aber, die als „konstante Anhäufung von Bildern“ im Gedächtnis aufgefasst wird, eröffnet ein „üppiges Chaos, aus dem der Genius totaler Erinnerung [...] alles nach Herzenslust herauspicken kann.“434 Die „Textur der Zeit“, so der Titel von Vans Vortrag und gleichzeitig der ursprünglich von Nabokov vorgesehene Titel des Romans, meint also die Auflösung der Sukzession in einer textuellen Struktur, in der jede Gegenwart im Modus ihrer Beschreibung zur Vergangenheit wird und sich dabei einerseits ständig entzieht, andererseits aber im Akt des Erinnerns immer von Neuem geformt wird. Van bezeichnet die Zeit deshalb auch als „Gedächtnis im Entstehen.“435 Durch die narrative Verbindung zwischen den verschiedenen Vergangenheitsmomenten und der Gegenwart, durch die konstitutive Abweichung jeder erzählten Vergangenheit von der als tatsächlich postulierten, eröffnet sich deshalb eine Unendlichkeit von narrativen Möglichkeiten. Wie die nächtliche 432 433 434 435

Nabokov 1977, S.673f. Nabokov 1977, S.687. Nabokov 1977, S.666f. Nabokov 1977, S.686.

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Fahrt, die Van auf der Landkarte rekonstruiert, erscheint Zeit als eine nachträgliche Verbindung von Punkten, die jedoch nicht in einer geraden Linie liegen, sondern nur in einer kontingenten und gerade deshalb individuellen und hochpoetischen Weise zueinander in Bezug gesetzt werden können. Die Zeit ist bei Nabokov eine Irrfahrt, auf der ständig angehalten werden muss, um die gegenwärtige Position mit den Positionen der Vergangenheit zu koordinieren. Da es kein „Uran des Geistes“ gibt, das die Bestimmung des Alters eines konkreten Erinnerungsbildes ermöglichen würde, ist Zeit immer bloß die „zusammenhängende Rekonstruktion vergangener Ereignisse“436, die in Erzählung überführte chaotische Bildwelt des Gedächtnisses. Eben weil der Zusammenhang aber ein rekonstruierter ist, kann aus ihm keine Erkenntnis resultieren. Die beschwingte Ignoranz, mit der das Personal Anti-Terras die Kriege und Katastrophen Terras abstraft, entspringt der Einsicht, dass aus einer erzählten Geschichte nichts gelernt werden kann. Was der Beschäftigung mit der Vergangenheit Sinn verleiht, ist die poetische Kraft, die sie besitzt, ist also letztlich ihr Erlebnis-Charakter: Die Bedeutung liegt in der Gegenwart des Erzählens oder des Lesens selbst. Die erfundene Vergangenheit hat für die Romanfiguren deshalb in erster Linie eine vitale Dimension. Nachdem sich Van in der Entwicklung seiner Theorien wiederholt heillos verrannt hat – nach Auffassung Adas sind diese ohnehin ohne Nutzen –, resümiert er in diesem Sinne: „Alles, was jetzt zählt, ist, dass ich der ‚Zeit’ neues Leben verliehen habe.“437 Dieses Leben aber erhält die Vergangenheit ausschließlich durch die Kunst: „The Past is a constant accumulation of images, but our brain is not an ideal organ for constant retrospection and the best we can do is to pick out and try to retain those patches of rainbow light flitting through memory. The act of retention is the act of art, artistic selection, artistic blending, artistic re-combination of actual event.“438

Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund weist sich der Roman selbst immer wieder als Literatur aus, fasst Van am Ende sogar seinen eigenen Text noch einmal zusammen, als rezensiere er ein fremdes Buch. Die von ihm abschließend lobend hervorgehobene „Zartheit bildnerischen Details“439 reflektiert die schöpferische Kraft der Sprache, die den ganzen Roman hindurch aus Buchstaben- und Wortspielen Bilder und Bedeutungen hervorgehen lässt und auf diese Weise die Vergangenheit zu einem Universum von Lesarten fortentwickelt. Der Inzest der Geschwister wird dabei zum Symbol einer ästhetischen Haltung, die in der kreativen Gestaltung der eigenen Subjektivität, in der Aneignung der Vergangenheit den Schlüssel zur Freiheit des Menschen findet. Dem Aufsatz Thomas Lehrs 436 437 438 439

Nabokov 1977, S.668f. Nabokov 1977, S.691. Vgl. Nabokov, Vladimir: Strong Opinions, London 1973, S.186. Nabokov 1977, S.719.

5. „Spielerische Moderne“: Borges und Nabokov

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folgend, ist es eben dieser Aspekt des Werkes Nabokovs und der Zeitreflexionen in Ada, der die Gegenwartsliteratur in besonderer Weise inspiriert hat: „Existent ist für uns letztlich nur das verrückt unfassliche Intervall der Gegenwart, zu dem auch die präsenten Erinnerungen gehören. Für diese innere Zeit ist die Zukunft nur ein leeres Wort, und die Vergangenheit wird zu einem phantastischen Planeten, so wie sich der Raum der Erde einmal unter den Deformationskräften der Träume in die Eigenwelt unseres Demonia verwandeln wird. Our arbors and ardors werden, erst recht wenn wir das hohe Alter Vans und Adas erreichen, den Anteil der Vergangenheit bestimmen, die uns gegenwärtig ist. Es sind die leidenschaftlichen Erinnerungen, die dann noch zählen, Ada oder das Verlangen (ardor), die unser Rückgrat an individueller Zeitlichkeit bilden, la durée geformt aus den zahllosen Details und Wirbeln von l’ardorée.“440

440

Lehr 1997, S.124.

II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur Wie in der Literatur um 1900, so werden auch in der Gegenwartsliteratur weiterhin jene „Disziplinarverfahren“ kritisiert, die die Vielfalt subjektiver Zeiterfahrung zugunsten einer homogenen, ökonomisch zugerichteten Zeitauffassung ausgrenzen. „Man liest die zerstreute Zeit zusammen, um sie in die Scheuern des Nutzens einzufahren und sie gegen alle Winde zu schützen, die wehen, wo sie wollen“441, fasst Michel Foucault diesen Prozess zusammen. „Was passiert ist, von Augustinus bis Newton“, heißt es in diesem Sinne auch in dem Roman Der Plan von der Abschaffung des Dunkels des dänischen Autors Peter Høeg, „ist, dass man den Menschen von der Zeit entfernt hat. Sie vergeht jetzt, ob Menschen sie messen oder nicht, sie ist objektiv geworden. Also befreit von menschlicher Unsicherheit.“442 Der „Plan von der Abschaffung des Dunkels“ zielt auf die Eliminierung von Unsicherheit und Zweifel und erscheint so als das letzte Produkt einer totalitär gewordenen Aufklärung, die das Denken und Empfinden der Individuen durch anonyme Reglements abzurichten versucht. Das erfährt bei Høeg eine Verbildlichung, die nicht nur auf Musils Törleß anspielt, sondern auch direkt einem der Werke Foucaults entstammen könnte: In einer Privatschule werden Kinder auf einen geregelten Tagesrhythmus geeicht, bis sämtliche Schüler ganz und gar diszipliniert sind, „durchdrungen von straffer, straffer Zeit.“443 „Man bekam die Zeit nie erklärt. Doch man wusste, sie war kolossal, größer als etwas Menschliches oder Irdisches. Wenn man rechtzeitig dasein sollte, dann nicht nur aus Rücksicht auf die Kameraden und sich selbst und die Schule. Sondern auch um der Zeit selbst willen. Für Gott.“444

Vor dem Hintergrund der gleichbleibenden Virulenz solcher Formen literarischer Zeitkritik fallen jene Werke umso stärker ins Gewicht, die sich dieser Sichtweise nicht ohne Weiteres zuordnen lassen. Im zeitgenössischen Film, in deutschen und englischsprachigen Romanen, aber auch in soziologischen oder historischen Studien und Essays tritt immer häufiger ein Zeiterleben zutage, das der klassisch-modernen Diagnose radikal entgegensteht. Das einstmals selbst zeitlos stabile Gefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheint nun zersprungen, die Einförmigkeit des Wandels in eine Vielfalt einander in unvorhersehbarem Rhythmus abwechselnder Erlebnisweisen, in ein Kaleidoskop aus „Echtzeit, Eigenzeit, Weltzeit, Hyperzeit, Zeitzonen und Zeitinseln“ überführt, 441 442 443 444

Foucault 1977, S.206f. Høeg 1999, S.266f. Høeg 1999, S.44. Høeg 1999, S.49.

II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

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das von einer „wundersamen Vermehrung von Zeit, von Zeitpluralismus und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zeugt. Im Vorwort zu einem Sammelband, der verschiedene Perspektiven auf diese Demontage vertrauter Zeitbilder, -dynamiken und -erlebnisformen vorstellt, führt Ursula Keller weiterhin aus: „Das so lange mit unserer trägen Erfahrung kompatible Bild von Zeit zerfällt und lässt sie uns fremder, unheimlicher und unserem Zugriff entzogener erscheinen als je zuvor. Weit ab von unserem Vorstellungsvermögen ist die Zeit aus den Fugen geraten. Sie fließt nicht dahin – sie springt, sie rast, sie steht still, sie implodiert oder kehrt in endlosen Schleifen zurück. Die solange für verbindlich gehaltene, homogene, messbare Zeit zersplittert in zahllose Eigenzeiten, in das ungleichzeitige Nebeneinander verschieden beschleunigter Zeiten. [...] Zwischen einer zersplitterten, entfesselten, aus den Fugen geratenen Zeit und den eingesparten Formen von Zeitwahrnehmung und -empfindung hat sich eine Kluft aufgetan, die mit griffigen Bildern, mit anschaulichen Metaphern nicht länger zu schließen ist.“445

Auch in der Literatur um 1900 finden sich derartige Symptome eines pluralisierten Zeiterlebens, doch befanden sich diese noch grundsätzlich im Widerspruch zu den tradierten Vorstellungen einer einheitlichen, kontinuierlich fließenden Geschichtszeit, wodurch sie als Anzeichen einer Krise oder als Symptome eines ‚anderen‘ Zeiterlebens, in jedem Fall aber als ‚Risse im Gefüge‛ interpretiert werden konnten. Heute indes, da eine einheitliche Zeitmessung längst ganz selbstverständlich in allen Teilen und Regionen der Welt Gültigkeit hat, scheint unvermutet eine neue Pluralisierung der Zeit „prosaische Wirklichkeit“446 geworden zu sein. Die chronologischen Abläufe, die unser Leben bestimmen, bilden dabei eine heterogene Vielzahl unterschiedlicher Zeitsysteme aus, wodurch ein regelrechtes ‚Netz‛ von Handlungslogiken entstanden ist, die für das Subjekt jeweils immer bloß vorübergehend Orientierungsfunktionen übernehmen. Globale und regionale, individuelle und gesellschaftliche, rhythmisierte und ‚flexible‛ Zeiten stehen so auf verwirrende Weise nebeneinander: „Wir erleben einen drastischen Wandel der Strukturierung von Zeit und Raum. [...] Zeit wird heute einerseits global strukturiert, Flugpläne entstehen in globaler Abstimmung, Satelliten kontrollieren die Zeit, andererseits scheint sie völlig in freie Zeitgestaltung der Individuen aufzugehen, jeder hat seine Tage immer wieder neu zu strukturieren. [...] Die große Zeit der freien Zeiteinteilung für jeden scheint angebrochen. Destruierung von Rhythmen und Ritualen ist eine Erfahrung der Moderne. Eine radikalisierte Moderne hat jeden Einzelnen für seine einsamen Rituale verantwortlich gemacht, die sich einsam im Netz, als Home(sic!)-pages ortlos über die Welt ziehen. [...] [D]iese Prozesse

445 446

Keller, Ursula: Vorwort, in: Dies. (Hg): Zeitsprünge, Berlin 1999, S.7-15, S.8. Nowotny 1989, S.31.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur [...] bewirken eine Loslösung von Menschen aus vorher bestehenden zeitlich-räumlichen Kontexten.“447

Das Gefühl einer Pluralisierung der Zeit steht also offenbar nicht länger im Widerspruch zu der stetigen technologischen Perfektionierung der Zeitmessung und der globalen Abstimmung regionaler Uhrzeiten. Die Art und Weise, wie Zeit in einer Gesellschaft konzipiert wird, scheint demzufolge nicht ausschließlich auf technologische und bürokratische Aspekte der Zeitnormierung rückführbar. Die globale Zeit-Abstimmung dient wesentlich nur noch bestimmten Aspekten des kulturellen Ganzen – wie eben den Flugplänen –; die ordnende und orientierende Zusammenführung aller gesellschaftlichen Prozesse wird durch sie hingegen nicht mehr beansprucht. Wenn aber die Vorstellung, der Zeit selbst könnte eine Richtung, eine Gesetzmäßigkeit, ein historischer Plan innewohnen, gar nicht mehr existiert, verliert notwendig auch ihr Gegenteil, die Verfallserscheinung der flüchtigen Zeit, ihr katastrophisches Potenzial. Hatte um 1900 der Zerfall übergeordneter zeitlicher Sinnschemata zum Topos der entleerten, zusammenhanglosen Zeit geführt, scheint also mit dem beginnenden 21. Jahrhundert ein anderes Problem aufzutauchen: Die Zeit hat ein Abstraktionsniveau erreicht, das nicht mehr nur den ‚großen Erzählungen‛ widerspricht, sondern das gleichzeitig eine unkontrollierte Produktion divergierender und widersprüchlicher ‚Konstruktionen von Dauer‛ ermöglicht. Sie erscheint nun nicht mehr als leer, sondern gerade als vielgestaltig und wechselhaft, als ein multiples Gebilde untereinander nicht zu vermittelnder Eigenzeiten. „Die Zeiten ändern sich“, schreibt Norbert Bolz – „aber sie ändern sich anders als früher“448 In aktuellen Romanen stellt so das Nebeneinander „ganz unterschiedlicher Zeitkonzeptionen“ ein durchgängiges Motiv dar. Neu sind dabei „nicht die repräsentierten Zeitvorstellungen selbst, sondern die narrativen Inszenierungen der Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitstrukturen, Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen.“449 Im Kontrast zur Literatur um 1900 sticht besonders die Inszenierung krisenhafter Gegenwartserfahrungen ins Auge: Ein regelrechtes Gefangensein in einem bildlichen, präsentischen, nicht distanzierbaren Jetzt wird in vielen Romanen als prägende Erfahrung jener Figuren vorgestellt, deren Zeiterleben sich von der linearen Organisationsform abhebt.450 Die Ausgrenzung der Gegenwart, die noch Nietzsche konstatierte, scheint also überwunden – doch 447

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449 450

Strohmeier, Gerhard: Zeit und Raum, in: Chvojka, Erhard / Schwarcz, Andreas / Thien, Klaus (Hgg): Zeit und Geschichte. Kulturgeschichtliche Perspektiven, Wien / München 2002, S.38-43, S.42f. Vgl. Bolz, Norbert: Die Splitter des Zeitpfeils – Orientierung in der Nachgeschichte, in: Keller, Ursula (Hg): Zeitsprünge, Berlin 1999, S.17-29, S.19f. Nünning 2002, S.397. In der angloamerikanischen Literatur lassen sich Ursula K. Heise zufolge neben ‚traditionellen‛ Versuchen der Emanzipation von einer als einheitlich empfundenen ‚Weltzeit‛ zunehmend Texte finden, in denen der Verlust des Zeitsinns in einem totalen Jetzt beschrieben wird, das alles zu enthalten scheint. Vgl. Heise 1997, S.27ff.

II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

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die pessimistische Rhetorik der meisten Darstellungen, die Sehnsucht der Protagonisten nach der verlorenen zeitlichen ‚Ordnung‛ macht deutlich: „Was einst Verheißung war, erscheint nun als Bedrohung.“451 Gerade die strukturelle Begünstigung gegenwärtigen Erlebens hat offenbar die Handlungsautonomie des Subjekts nicht gesteigert, sondern zusätzlich geschwächt. Nicht nur Nervosität oder Depression sind die Zeitkrankheiten der Gegenwart452, sondern zunehmend Gegenwärtigkeit selbst, erfahren als Marginalisierung von Vergangenheit und Zukunft, als Hölle drohenden Bewusstseinsverlustes. Diese hatte schon Adorno als unweigerliche Folge der modernen Zeitkultur vorausgesehen: Zwischen „jähem Schock und jähem Vergessen“ müssten die Menschen unfähig „zur kontinuierlichen Zeiterfahrung“ werden und schließlich der „Armut des reinen Jetzt und Hier“ verfallen, die ihnen die Industrie- und Konsumgesellschaft aufnötige.453 Die Vergangenheit hingegen wird in vielen neueren Romanen wie bei Borges und Nabokov zu einem Netz unterschiedlichster Narrativen, von denen keine mehr den Anspruch erheben kann, ‚die Geschichte‛ zu repräsentieren. Die aus ihrer Biographie herausgefallenen Protagonisten treten in ein Spannungsverhältnis zu ihrer eigenen Identität, erscheinen nicht selten wie Zuschauer eines aus Sinnesdaten, Erinnerungen und Phantasien zusammengeschnittenen ‚Lebensfilms‛, dessen identifikatorische Kraft aufgrund der Unstimmigkeiten in der Handlung jedoch immer wieder gebrochen wird.454 Die unterschiedlichen ‚Konstruktionen von Dauer‛ erscheinen so nicht mehr als Träume oder bewusste Entwürfe des Subjekts, sondern als fremde, durch äußere Mechanismen in die Vorstellungswelt übertragene Projektionen. Der Bewusstseinswandel, das ‚neue Sehen‛ folgt keiner Utopie einer echteren Wahrnehmung mehr, sondern ist selbst Ergebnis eines Wandlungsprozesses der Gesellschaft, deren Zeitstruktur sich nun nicht länger durch Einförmigkeit, sondern durch Artifizialität und Vielgestaltigkeit auszeichnet. Dadurch aber, dass die Ästhetisierung und Plurali451 452

453

454

Rosa 2005 (b), S.231. Vgl. hierzu Baier, Lothar: Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung, München 2000, S.147ff. Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt a.M. 1977, S.50 & S.314. Vgl. auch Zimmermann 1989, S.99ff. Ein eindrucksvolles Beispiel für ein derart passiv-rezipierendes Verhältnis zu den eigenen Sinnesdaten liefert Martin Amis' Roman Time's Arrow, in dem das Leben des Protagonisten rückwärts abläuft. Dieser ist dem Geschehen distanzlos ausgeliefert, kann das absurd Künstliche der ‚Inszenierung‛ nicht erkennen, es aber auch nicht beeinflussen: Der umgekehrte Pfeil der Zeit führt unweigerlich zurück in die Vergangenheit, in der sich der Protagonist, zunächst altgewordener amerikanischer Arzt, als KZ-Arzt der Nazis herausstellt. Die Logik der Massenvernichtungslager dreht sich um, und die Gaskammern und Brennöfen werden zu Orten eines alchemistischen Experimentes der Menschenerzeugung: „Unsere beständigen Absichten? Eine Rasse zu erträumen. Menschen aus dem Wetter zu formen. Aus Donner und Blitz. Mit Gas, mit Elektrizität, mit Scheiße, mit Feuer.“ Die Intention erscheint hier als Einbildung, mit der der Abfolge der Wahrnehmungen nachträglich Sinn verliehen wird. Vgl. Amis 1997, S.150.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

sierung der ‚Konstruktionen von Dauer‛ letztlich als die eigentliche gesellschaftliche Konvention erscheint, verliert die literarische Produktion alternativer Zeiterfahrungen ihren subversiven Impuls. Nicht länger gegen erstarrte Formen muss die Literatur sich fortan zur Wehr setzen, sondern gegen die Vereinnahmung ihrer eigenen Konstruktionsprinzipien durch die Gesellschaft: Fiktionalität ist in den Romanen zur selbstverständlichen Erscheinungsform der Wirklichkeit selbst geworden.455 In diesem Kapitel soll der Versuch unternommen werden, dem angedeuteten Wandel des literarischen Zeit-Diskurses zwischen Beginn und Ende des 20. Jahrhunderts Konturen zu verleihen. In erster Linie werden neue Formen krisenhafter Zeiterfahrung vorgestellt, die sich in der deutschsprachigen Literatur der 90er Jahre und des beginnenden 21. Jahrhunderts ausmachen lassen. Im Mittelpunkt steht die These, dass sich hier analog zur englischsprachigen Literatur in einer Reihe von repräsentativen „thematischen und strukturellen Merkmalen“ Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Romanen zeigen, die „als Ausdruck eines sich wandelnden Zeitbewusstseins gedeutet werden können.“456 Diese Veränderungen sind auf mehreren Ebenen belegbar: Zunächst wird das Verhältnis von subjektiver Zeiterfahrung und gesellschaftlichen Zeitstrukturen mit dem Übergang von der Moderne zur Spätmoderne als gewandeltes bewusst. 457 Durch die Revolution der audiovisuellen und digitalen Medien werden zudem historisch völlig neuartige Formen des Zeiterlebens prägend, die von den Romanen aufgegriffen werden. Diese werfen zuletzt die Frage auf, wie sich die Bedeutung von Schrift, Literatur und ‚Erzählen’ und die durch sie geprägten Zeitformen in einem veränderten medialen Umfeld neu organisieren.

1. Die Krise der sozialen Zeit Nach der Aufteilung der Welt in unterschiedliche Zeitzonen auf der Internationalen Meridiankonferenz im Jahr 1884 stellt die Einführung der Koordinierten Universalzeit (UTC) im Jahr 1972 den nächsten bedeutenden Entwicklungsschritt in der Geschichte der Zeitmessung dar. Sie verbindet die Weltzeit, die 455

456 457

Diese These lässt sich durch Wolfgangs Welschs Beobachtung einer zunehmenden Ästhetisierung der kompletten gesellschaftlichen Wirklichkeit noch untermauern: „Zweifellos erleben wir gegenwärtig einen Ästhetik-Boom. Er reicht von der individuellen Stilisierung über die Stadtgestaltung und die Ökonomie bis zur Theorie. Immer mehr Elemente in der Wirklichkeit werden ästhetisch überformt, und zunehmend gilt uns Wirklichkeit im ganzen als ästhetisches Konstrukt.“ Vgl. Welsch, Wolfgang: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, S.9f. Nünning 2002, S.397. Für eine Datierung der Zäsur bietet sich nach Rosa das Jahr 1989 an, das nicht nur einen politischen, sondern auch einen ökonomischen und einen medialen Wendepunkt markiere, deren Zusammenwirken unser Verhältnis zur Zeit nachhaltig verändert habe. Rosa 2005, S.336.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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durch die Rotation der Erde bestimmt wird, mit der Atomzeit, die gegenüber jeder ‚natürlichen’ Zeitbestimmung den Vorteil besitzt, keine Unregelmäßigkeiten zu kennen. Die ‚eigentliche’ Dauer einer Sekunde beträgt bereits seit 1967 nicht mehr den 86.400sten Teil eines mittleren Sonnentages, sondern wird nun nach der Periodendauer der Strahlung eines Cäsiumatoms bemessen. In der ‚Koordinierten Universalzeit’ wird diese abstrakte, bezuglose Zeit an die Veränderungen angepasst, die sich durch die Unregelmäßigkeiten der Erdrotation ergeben. Christopher Wilkins erläutert in seinem Roman Der Zeitmesser: „Da die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde variiert, zeigt sich die Sonne nur selten, wenn sie es tun sollte, wenigstens nicht in Übereinstimmung mit der Berechnung der Atomuhr im Internationalen Büro für Maße und Gewichte in Paris. In den letzten Jahrzehnten war die Sonne ‚langsam’, doch in der Vergangenheit gab es Perioden, wie die Jahre von 1838 - 1858, in denen die Sonne zu früh erschien. Wegen dieses launischen Verhaltens der Erde muss sich die Atomuhr dann und wann einer unwürdigen ‚Korrektur’ von Menschenhand unterziehen. Sobald die Kluft peinlich groß wird, manchmal so groß wie neun Zehntel einer Sekunde, fügt man der Internationalen Atomzeit [...] eine ‚Schaltsekunde’ hinzu, um so die Koordinierte Weltzeit (oder UTC) zu schaffen. So kommt es also, dass die ganze Welt verabredet hat, mit einem Zeitmaß zu arbeiten, das weder der natürlichen Bewegung des Planeten noch den genauesten bekannten Uhren entspricht.“458

Aus der Warte der atomaren Zeit ist also selbst das Sonnensystem, dessen Bewegung unsere Zeiterfahrung ursprünglich bestimmt, nur noch ein überholtes, ungenaues Messinstrument.459 Diese weitere Abstraktion der Zeit ist durch die Einführung der Digitaluhren auch in den Alltag vorgedrungen: Anders als herkömmliche Uhren erinnert die Darstellungsweise der Digitaluhr nicht mehr daran, dass sie nur ein ‚Bild’ der Bewegung des Sonnensystems ist, sondern zeigt eine tatsächlich autarke Zeit an, die auch auf anderen Planeten mit anderen Tages- und Nachtzyklen Gültigkeit besäße. Während analoge Uhren die Zeit als räumliche Anordnung von Zeigern fassen, ist auf der Anzeige einer Digitaluhr der einzelne Zeitpunkt bezuglos, bleibt ohne Relation zu anderen Zeitpunkten und legt auch keine ‚Verräumlichung’ der Zeit mehr nahe. „Eine digitale Uhr zeigt Zahlen in einem Vakuum“, stellt Jeremy Rifkin fest: Sie präsentiert eine „Zeit, die weder an den Tagesrhythmus noch an die Vergangenheit oder Zukunft gebunden ist.“460 Robert Levine sieht in dieser fortschreitenden Abstrakti458

459 460

Wilkins 2002, S.95f. „Der langfristig zuverlässigste irdische Zeitmesser“ ist nach Wilkins das sogenannte Horizontal Instrument (wie der Roman im Original heißt), das 1635 angefertigt wurde und heute im Museum für Naturwissenschaften in Oxford zu bewundern ist. Dieses besitzt allerdings kein Gangwerk, sondern berechnet durch optische und mechanische Verfahren lediglich „die genaue Position der Sonne zu jeder beliebigen Zeit jedes beliebigen Tages“. Vgl. ebd., S.129ff. Vgl. Baier 2000, S.183. Rifkin 1988, S.135.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

on der Zeit bereits den „Tod des Ticktackmannes“ vorweggenommen und stellt die Frage, „ob der nächste Schritt in der Uhrzeit wieder zurück zur Sehnsucht nach dem Ticktackmann“, also nach einer vermeintlich „echten Zeit von Stunden- und Minutenzeigern“ führen wird.461 Die Digitalisierung der Zeit ist also keinesfalls einfach bloß die technologische Umsetzung des linearen Zeitbildes der klassischen Physik. Obgleich die Vorstellung einzelner, unendlich kleiner Zeitpunkte ursprünglich auf das Konzept der Zeitlinie zurückzuführen ist, vermittelt das digitale System kein anschauliches Modell der Weltzeit mehr. Ohne Abgleich mit einem Weltgeschehen werden die Zahlen auf der Uhr gewissermaßen zu Koordinaten ohne System, zu sinnlosen Jetzt-Punkten, was mit einer Zersplitterung der Zeitordnung einhergeht. Diese Beobachtung findet in der These Hartmut Rosas eine Entsprechung, dass in der ‚spätmodernen’ Gesellschaft sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene Muster der „Linearität und Sequenzialität“ zunehmend „aufgebrochen“ werden.462 Rosa konstatiert die Entwicklung einer Wahrnehmung, die die Bedeutung von Ereignissen nicht mehr aus einem größeren gesellschaftlichen Kontext herleitet, sondern situationsabhängig immer neu perspektivisch herstellt. Diese „Entbettung“ von Erlebnissen, Daten und Handlungen lasse individuelle Erfahrung, aber auch politisches und sogar wirtschaftliches Handeln in eine „Folge von wechselseitig unverbundenen Episoden“463 zerfallen, die stärker durch Strukturen der Gleichzeitigkeit „mit ihren Konnotationen der Verflüssigung, der Ent-Historisierung und der ‚kaleidoskopischen Fragmentierung’“464 gekennzeichnet seien als durch die Vorstellung chronologischer Zusammenhänge. „In einem gewissen Sinn“ ersetzt dabei die Struktur der Gleichzeitigkeit tendenziell jenen „Zukunftshorizont, der den Fortschrittsglauben über die letzten zweihundert Jahre aufrecht erhalten hat“.465 Der „Umschlag in der Zeitwahrnehmung von sequenziellen Mustern zu Formen der Simultaneität“ ist nach Rosa das Resultat einer „Verzeitlichung der Zeit selbst“, einer Sichtweise auf Vergangenheit und Zukunft, die auf Vereinheitlichung und „Integration“ verzichtet und stattdessen eine historisch neuartige Form der „Parallelverarbeitung“ hervortreten lässt. Der temporale Zusammenhang ist hier nun nicht mehr a priori vorausgesetzt, sondern wird selbst im Verlauf des Geschehens immer erst hergestellt, was unweigerlich „zu Fragmentierung, Steuerungsverlust, Versteh- und Gestaltbarkeitseinbußen sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlich-politischer Ebene führt“466. Wie also der einzelne Zeitpunkt gegenüber dem Gefüge der Zeit an Autonomie gewinnt, wird auf historischer

461 462 463 464 465 466

Vgl. Levine 2006, S.120f. Rosa 2005, S.349. Rosa 2005, S.341. Rosa 2005, S.346. Nowotny 1989, S.11. Rosa 2005, S.349.

1. Die Krise der sozialen Zeit

125

und auf individueller Ebene das „Sinnmuster der linearen Narration durch das Prinzip des Fragmentarisch-Simultanen“467 ersetzt.468 Um diesen grundlegenden Wandel der Zeitstrukturen zu plausibilisieren, zeichnet Rosa die Geschichte der sozialen Beschleunigung nach, deren erster Schub zunächst das moderne, durch Linearität gekennzeichnete Zeitbewusstsein kulturell verankert, um es in einem zweiten Schritt, den Rosa in die historische Gegenwart der Jahrtausendwende datiert, schließlich wieder aufzulösen. Von Bedeutung ist für sein Konzept der Beschleunigung jedoch nicht allein die allseits bekannte steigende Geschwindigkeit kommunikations- und verkehrstechnischer Innovationen: „Die Beschleunigung von Transport, Produktion und Kommunikation, die Verflüssigung sozialer Verhältnisse, das In-Bewegung-Setzen von Assoziationsmustern und der rasche Wandel von Handlungsorientierungen und Praxisformen sind ebenso ein Grundelement von Modernisierung wie das quantitative Wachstum von Produktion und Kommunikation, von wissenschaftlichen und technischen Entdeckungen, von wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen und von sozialen und medialen Ereignissen. Die Dynamik von Wachstum und Beschleunigung mündet in eine sich selbst antreibende Steigerungsspirale, die keine Gleichgewichtszustände mehr erlaubt. [...] Angetrieben wird dieser Dynamismus durch eine ganze Reihe miteinander verschränkter Prinzipien: das Wirtschaftssystem des Kapitalismus, das Strukturprinzip funktionaler Differenzierung und die kulturelle Leitidee des ‚erfüllten Lebens’, das in der Moderne als jenes erscheint, das möglichst viele Weltoptionen in einer irdischen Lebensspanne verwirklicht.“469

Insbesondere die „Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen“470, also das Tempo, mit dem sich kulturelle und individuelle Formationen wie „Praxisformen und Handlungsorientierungen einerseits und Assoziationsstrukturen und Beziehungsmuster andererseits verändern“471, lässt die Unterschiede von moderner und spätmoderner Zeit-Kultur deutlich hervortreten. Der auf verschiedenen Ebenen an Tempo zulegende gesellschaftliche Wandel, den Rosa als Konstante der Geschichte der gesamten Moderne ausmacht, wird für die Menschen vor allem dort konkret erfahrbar, wo er sie zu ständigen Anpassungsleistungen nötigt und so den Eindruck eines zur Raserei gesteigerten individuellen Lebenstempos erzeugt. Wie gezeigt, waren 467 468

469 470 471

Rosa 2005, S.334. Helga Nowotny beobachtet in diesem Zusammenhang ein allmähliches „Verschwinden der Zukunft“ zugunsten einer Ausdehnung der Gegenwart. Die konkreten Anforderungen und Bedrohungen unserer Zeit verhinderten dabei, dass Problemlösungen „in einem als flüchtig konzipierten Augenblick“ untergebracht oder der „Zukunftsamnese“ überantwortet werden können: Zukunft müsse bereits in der Gegenwart „operationalisierbar“ gemacht werden. Vgl. Nowotny 1989, S.12 & S.54. Rosa 2005 (b), S.229. Rosa 2005, S.133. Rosa 2005, S.129.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

bereits für die Zeit um 1900 krisenhafte Geschwindigkeitserfahrungen charakteristisch. Die „wachsende Instabilität der Zeithorizonte“472 jedoch, die heute infolge der „Verzeitlichung der Zeit“ entsteht und die sich immer seltener in Erfahrungen eines zunehmenden Lebenstempos, immer häufiger aber in der gegenteiligen Wahrnehmung einer „Entzeitlichung des Lebens, der Geschichte und der Gesellschaft“473 manifestiert, widerspricht dem modernen Grundproblem auseinanderfallender lebens- und weltzeitlicher Dimensionen. Zeigte sich um 1900 die Beschleunigung noch als Folge des durch Normierung, Vereinheitlichung und genaue Quantifizierung bestimmten linearen Zeitregimes, geraten die aktuellen Temposteigerungen mit einem solchen Zeitverständnis zudem in einen fundamentalen Widerspruch. Im Unterschied zu der herkömmlichen Differenzierung der Zeitentwicklung in zwei Phasen – eine vormodern-zyklische sowie eine modern-lineare – unterteilt Rosa die historische Entwicklung der Beschleunigung somit in drei Stadien – Vormoderne, klassische Moderne und Spätmoderne –, denen jeweils unterschiedliche Tempi des gesellschaftlichen Strukturwandels entsprechen und die auf diese Weise konkrete Konzeptionen der ‚Zeit’ nahelegen.474 In vormodernen Gesellschaften bleiben demnach die Lebensbedingungen über Generationen grundsätzlich identisch, weshalb es eine weitgehende Deckungsgleichheit zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont gibt. Dem entspricht ein Zeitempfinden, das stark an zyklische Strukturen gebunden ist und in dem die Geschichtsperspektive weitgehend statisch bleibt: Die historische Zeit ist durch Kontinuität geprägt und bildet eher einen Raum, in dem unterschiedliche Geschichten sich ereignen, aber ohne wesentliche Konsequenzen für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bleiben. Das zeigt sich nicht zuletzt auch in den grundlegenden Organisationsformen dieser Epoche: Vormoderne Gesellschaften sind ständisch organisiert und haben deshalb weitgehend statische Ordnungen; die Position des Einzelnen ist durch seine Geburt festgelegt und bleibt so theoretisch über Generationen hinweg unverändert. Auch die Anforderungen, die ein Stand oder Beruf an einen Menschen stellt, bleiben sich häufig über lange Zeit ähnlich. Das bedeutet, dass Vergangenheit und Zukunft strukturell in vielen Bereichen identisch erscheinen: Was kommen wird, ist immer wieder nur eine Aktualisierung dessen, was einmal war. Die Lebensperspektive ist nach Rosa deshalb im wesentlichen situativ, da an Tagesproblemen und „Wechselfällen des Lebens“475 orientiert; die Erlebnisgegenwart stellt für die Bewohner der vormodernen Welt kein strukturelles Problem dar, da sie noch nicht durch historische Einmaligkeit ausgezeichnet ist.

472 473 474

475

Rosa 2005, S.134. Rosa 2005, S.348. Zu folgenden Ausführungen vgl. insbesondere Rosa 2005, S.446, sowie Rosa 2005 (b), S.237f. Rosa 2005 (b), S.237.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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In der „klassischen Moderne“ hingegen, die mit der ‚Sattelzeit’ in Europa Fuß fasst, treten Erfahrungs- und Erwartungshorizont auseinander. Die Zeit spannt sich auf zu einer linearen Entwicklung, in der das individuelle Leben als Bestandteil eines größeren Zusammenhangs erscheint. „Zukunft und Vergangenheit [...] unterscheiden sich jetzt merklich; man weiß, dass die eigene Lebenswelt anders ist als die der Großeltern und anders auch als die der Kinder. Geschichte beginnt sich zu bewegen, sie [...] schreitet fort, und dieser Fortschritt lässt sich politisch gestalten.“476 Die Moderne ist die Zeit der Kolonisierung der Zukunft: Langfristige Pläne bestimmen Wirtschaft ebenso wie Politik, die Gesellschaft soll zur Einheit verschmolzen werden, die insgesamt einem gemeinsamen Ziel zustrebt. Als Zielpunkte der teleologischen Zeitvorstellung treten die wesentlichen Versprechen der Moderne auf den Plan: die Freiheit des Menschen von der Natur, der Sieg über den Tod durch das Ausschöpfen möglichst vieler Handlungsoptionen, eine gerechte Gesellschaft. Gleichzeitig wird das Leben einem wissenschaftlich sanktionierten, festen Zeitgefüge untergeordnet, nach dem alle Abläufe einheitlich routinisiert werden. Auch Identität wird zu einem zeitlich zu gestaltenden Projekt, zu einer Entwicklung: „Man reagiert nun nicht mehr situativ auf Wechselfälle, die man ohnehin nicht kontrollieren kann, sondern versucht, das Leben als individuelles Projekt zu gestalten; man erfährt es im Sinne eines Lebenslaufes mit planbaren Phasen.“477 An die Stelle der übergenerationalen Stände treten nun berufliche Karrieren; die Lebensperspektive wird im Unterschied zur vormodernen, ständischen Gesellschaft fundamental verzeitlicht: Leben erscheint als Narrativ, das sich freilich an den gesellschaftlich vorgegebenen Mustern zu orientieren hat. Literarisch findet dieses Zeit-Bild insbesondere im Entwicklungsroman einen Ausdruck. Wie bereits gezeigt, geraten im Zuge der nun in Gang gesetzten sozialen Beschleunigung die gesellschaftlichen Zeitstrukturen jedoch schon bald in eine Krise: Zielvorstellungen werden unglaubwürdig, das in den Dienst des kollektiven „Projektes der Moderne“478 gestellte Leben wird in steigendem Maße als entfremdet und enteignet empfunden. Insbesondere die Erfahrung der Gegenwart wird zum strukturellen Problem, da das Subjekt in seiner Ausrichtung auf eine bald schon in weite Ferne rückende, überindividuelle Zukunft zunehmend das Jetzt seines Erlebens aus den Augen verliert. In der literarischen Moderne wird die lineare Zeit deshalb als Konstruktion entlarvt und grundsätzlich problematisiert. Dagegen ist die Spätmoderne des beginnenden 21. Jahrhunderts nach Rosa durch ein „intragenerationales“ Wandlungstempo der gesellschaftlichen Strukturen gekennzeichnet: „Die Subjekte wissen schlicht nicht mehr, wie die Verhältnisse am Ende ihres Lebens sein mögen.“479 Was erlernt oder erworben wird, kann nicht mehr ein ganzes Leben lang Gültigkeit beanspruchen; wesentliche 476 477 478 479

Rosa 2005 (b), S.237. Rosa 2005 (b), S.237. Rosa 2005 (b), S.229. Rosa 2005 (b), S.238.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

Orientierungsmuster des Lebens wie Berufe, Institutionen oder zwischenmenschliche Beziehungen haben immer häufiger nur noch vorübergehenden Bestand und werden sich in der Zukunft in nicht vorhersehbarer Weise verändern. Vergangenheit und Zukunft haben sich in eine Vielzahl von Perspektiven und Konstruktionen zersplittert und geben keinen Anhaltspunkt für individuelle Entscheidungen mehr: „Heute ist es so, morgen könnte alles (auch meine eigenen Wünsche) anders sein.“480 Die auf Flexibilität und Wandelbarkeit eingerichtete Welt zwingt die Menschen zur „fortwährende[n] Revision von Erwartungen und rekonstruierten Erfahrungen“, wodurch eine „wachsende Instabilität der Zeithorizonte“481 entsteht: Welche Ereignisse in welcher Abfolge und welcher Relation zu anderen Ereignissen stattfinden werden, entscheidet sich zunehmend selbst erst „im Lauf der Zeit“; über „Rhythmus, Dauer, Sequenz und Zeitpunkt von Handlungen und Ereignissen wird im Vollzug entschieden.“482 Dabei motivieren nicht mehr langfristige Planungen und Zielsetzungen, sondern zunehmend der Erfolg in der Gegenwart oder zumindest innerhalb der Lebenszeit des Individuums die Handlungen: „Ein in der Geschichte bisher unerhörter Wunsch ist heute Selbstverständlichkeit geworden: die Selbstverwirklichung in der Eigenzeit.“483 Eine Pluralisierung der Eigenzeiten, die sich strukturell keinem Kollektivsingular mehr subsumieren lassen, ist so auch nach Hartmut Rosa heute auf breiter Ebene zur gesellschaftlichen Realität geworden484; sie kennzeichnet insbesondere den funktional differenzierten Alltag des Individuums, das die Anforderungen, die die unterschiedlichen Teilbereiche seiner Existenz an ihn stellen, als voneinander isolierte, miteinander konkurrierende und einander widerstrebende Zeitzwänge wahrzunehmen beginnt. Auf diese Weise bilden sich zunehmend ganz „verschiedene Ereignistemporalitäten“ und damit „unterschiedliche Beobachtungszeiten und Eigenzeiten“485 aus, während die integrative Wirkung der Zeit-Konzepte notwendig nachlässt. So besteht heute kaum noch ein Zweifel daran, dass der Lauf der Zeit ‚an sich‛ ohne Ziel und Sinn ist: „Die Einheitsmetapher der Geschichte und des Fortschritts können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Grundzug funktionaler Differenzierung offenbar die Differenz von Eigenzeiten und damit die qualitative Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist, was sich aber erst im 20. Jahrhundert semantisch voll durchsetzt und auf das Zeitverständnis niederschlägt.“486

480 481 482 483 484 485 486

Rosa 2005 (b), S.238. Rosa 2005, S.134. Rosa 2005, S.365. Bolz 1999, S.28f. Vgl. hierzu auch Baier 2000, S.180. Vgl. hierzu zudem auch Nowotny 1989, S.39f. Nassehi 1993, S.312. Nassehi 1993, S.322.

1. Die Krise der sozialen Zeit

129

Auch auf der Ebene individueller Erfahrung gewinnt „entgegen der landläufigen Meinung, die Moderne habe die Vielzahl naturwüchsiger Eigenzeiten und Rhythmen durch eine einzige lineare, abstrakte und gleichsam ‚leere‛ Weltzeit ersetzt, auf die rücksichtslos alles bezogen werde“, die Beobachtung an Gewicht, dass „die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subsysteme [...] auch in ihren Zeitmustern und -horizonten weitgehend unabhängig voneinander geworden sind, d.h. neue Eigenzeiten“487 ausgebildet haben. Mit dem Beschleunigungsschub der Spätmoderne wird nach Rosa eine Schwelle überschritten: Das Gefühl des schnellen Lebens schlägt um in gesellschaftlichen Stillstand; das ‚Ende der Geschichte‛ scheint gekommen. Im Gegensatz zu den Negativutopien der vorangegangenen Jahrhundertwende, in denen sich der Fortschrittsoptimismus in einen Geschichtspessimismus wandelte, markiert das ‚Posthistoire‛ eine „negative Utopie sinnlosen Weiterlebens“: „Die Dinge gehen zwar weiter, aber das Vertrauen in ihre Sinnhaftigkeit zerrinnt.“488 Nach Armin Nassehi wird an diesem Aspekt des gegenwärtigen Zeitempfindens der Unterschied zum Zeit-Diskurs um 1900 besonders deutlich: „Die Zeitsemantik entwickelt sich von der Jahrhundertwende bis heute von einem Feld, auf dem noch Siege zu erringen sind, zu einem Areal, auf dem alle Schlachten bereits geschlagen sind und nichts mehr geschehen kann. Die Bergsonsche und Heideggersche, auch die Nietzeanische Zeit-Kritik drängt auf Selbstbehauptung, auf das Streben nach temporaler Einheit wenigstens der inneren Dauer und des Daseins. [...] Zunehmend kommt aber eine Semantik auf, die so weit geht, das Ende der Zeit schlechthin zu propagieren. [...] Es kann keine Bedeutung mehr geben, weil keine bedeutungsgenerierenden Unterscheidungen mehr möglich sind.“489

Die Empfindung, die Geschichte sei zu Ende, muss nach Rosa jedoch paradoxerweise selbst wiederum als Resultat der sozialen Beschleunigung betrachtet werden: Die Einzelprozesse sind so schnell geworden, dass sie nicht mehr als Teile einer größeren Entwicklung wahrgenommen werden können. Das Gefühl einer einheitlichen, zusammenhängenden und gerichteten Bewegung verflüchtigt sich. Als „Rückseite der Wahrnehmung der rasenden Zeit“ zeigt sich nun „die Erfahrung der zähfließenden oder stillstehenden Zeit“, die identisch ist mit dem „Zusammenbruch eines bedeutungsvollen Vergangenheits- oder Zukunftshorizontes“490. Die Posthistoire-These behauptet also keinesfalls, dass tatsächlich keine wesentlichen Ereignisse mehr stattfinden könnten; in der Sichtweise 487 488

489

490

Rosa 2005, S.404. Vgl. Niethammer, Lutz: Posthistoire. Ist die Geschichte zuende? Reinbek bei Hamburg 1989, S.10 & S.8. Nassehi 1993, S.365. Nassehi kritisiert im folgenden diese Betrachtungsweise als nihilistisch: Vgl. ebd., S.377. Rosa 2005, S.88.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

Rosas geschehen diese ganz im Gegenteil so schnell, dass sich ihre Beurteilung und ihr Effekt auf das gesellschaftliche Leben schlicht nicht mehr fassen lassen. Die Geschwindigkeit des Wandels verhindert die Konzeption eines Zusammenhangs der einzelnen Ereignisse; „Geschichte lässt sich“ daher „genauso wenig wie das eigene Leben“ länger „verstehen oder gestalten, sie wird ebenso wie jenes wieder ‚ent-zeitlicht‛.“ „Meine These ist also, dass bei einem dezidiert intra-generationalen Wandlungstempo das Gefühl für eine Entwicklungsrichtung und für gestaltbare individuelle und politische Projekte abhanden kommt, weil diese zeitresistente Zielvorstellungen voraussetzen. Individuell wie kollektiv dominiert die Erfahrung raschen Wandels und einer gleichsam ‚rasenden‛ Ereignisfolge, aber Geschichte und Leben bewegen sich nicht mehr im Sinne einer qualitativen Entwicklung. Wir treten individuell und kollektiv in einem hektischen Strudel von Ereignissen auf der Stelle – darin liegt die spätmoderne Attraktivität der Metapher des rasenden Stillstands.“491

Die Zersplitterung der einstmalig einheitlichen Zeitstruktur in eine Vielzahl heterogener Eigenzeiten scheint allerdings den Systemzwang, in dem sich die Individuen der Moderne gefangen sahen, keinesfalls aufgelöst, sondern sogar eher noch verstärkt zu haben. Der vielbeschworene Niedergang der Ideologien, die immer auch konkrete Zeitvorstellungen formierten, hat nach Rosa gerade nicht in das Paradies reiner individueller Selbstbestimmung geführt, sondern die Wirkung der (Zeit-)Zwänge nur verschleiert und anonymisiert. Gerade weil die flexibilisierten Zeitstrukturen keine integrativen Regeln für alle mehr darstellen, hat sich der Druck auf die nun durch Exklusion bedrohten Individuen sogar sprunghaft erhöht. Die „situative Logik der alltäglichen und biografischen Lebensführung“ zwingt die Individuen regelrecht dazu, „Zeithorizonte und -perspektiven synchron und diachron flexibel und variabel zu halten.“492 Das bedeutet, dass das Individuum, um überhaupt anschluss-, wettbewerbs- und damit überlebensfähig zu bleiben, beständig um den Erhalt seiner Handlungsoptionen kämpfen muss, die sich inhaltlich aufgrund der hohen sozioökonomischen Dynamik mittel- und längerfristig nicht mehr bestimmen lassen. Da es zunehmend unmöglich wird einzuschätzen, wie sich der Markt der Möglichkeiten in der Zu491

492

Rosa 2005 (b), S.238. Analog dazu findet Wolfgang Kaempfer eine Ursache für den empfundenen Stillstand bei gleichzeitig steigendem Lebenstempo in der Entkoppelung von linearen und zyklischen Strukturen. Seiner Ansicht nach ist es nur die zyklische „Verkehrszeit“, die in Raserei verfallen ist, während die historische Progression zum Erliegen gekommen sei. „Der tendenzielle oder gar schon eingetretene Bruch des Zeitgetriebes hätte dann in einem Fall zur Parteinahme für die stagnierende Geschichtszeit (‚Vergangenheit’), im anderen zur Parteinahme für die Raserei genötigt, die die Verkehrszeit einschlagen wird, sobald sie nicht mehr gebremst wird vom Gewicht der Vergangenheit“. Vgl. Kaempfer, Wolfgang: Zeit des Menschen. Das Doppelspiel der Zeit im Spektrum der menschlichen Erfahrung, Frankfurt a.M. 1994, S.30. Rosa 2005, S.371.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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kunft entwickeln wird, ist etwa die dauerhafte Festlegung auf einen Beruf, einen Partner, eine politische Position oder moralisch-ethische Überzeugungen nicht mehr rational – die Kosten einer derartigen ‚Unflexibilität’ angesichts der hohen Dynamisierung aller Lebensbereiche wären schlichtweg zu hoch.493 Flexibilität erscheint auf diese Weise als neue, paradoxe Form gesellschaftlicher Zeitnormierung, die aus der Freiheit zur Selbstbestimmung den eigentlichen, nun nicht länger objetivier- und kritisch distanzierbaren Zwang erzeugt.494 Dieser betrifft freilich nicht nur Individuen, sondern ebenso Organisationen, Institutionen und sogar Regierungen, für die sich das „ursprüngliche Glücksversprechen, das Wachstum und Beschleunigung bargen, [...] in den Fluch einer wachsenden Gefährdung“ ihrer Autonomie verwandelt hat, der sie nun immer massiver zu „einer reaktiven Situativität anstelle einer aktiven Gestaltung“ zwingt.495 An die Stelle von substantiell definierten und zeitresistenten Zielen tritt so das Primat des opportunistischen Optionenerhalts. Der Essayist Lothar Baier bemerkte in diesem Sinne bereits kurz nach der Wiedervereinigung: „Die Priorität der Geschwindigkeit bedeutet in Wirklichkeit die Zerstörung der Demokratie, weil sie dem einzelnen nur noch die Wahl lässt, entweder sich dem Tempo anzupassen oder abgehängt zu werden, also keine Wahl mehr lässt. [...] Der Imperativ der Entwicklung lässt dem, der sich ihm entziehen will, nur den Ausweg ins Abseits der gesellschaftlichen Peripherie.“496

So lässt sich in der Gegenwartsgesellschaft eine „ubiquitäre alltagspraktische Präsenz der Semantik und Rhetorik des ‚Müssens‛“ konstatieren, die sich im persönlichen Zwang zum ‚Checken‛ des Email-Postfachs ebenso zeigt wie in der Sachzwang-Rhetorik der Politiker. Das Paradox, dass entgegen der stetigen Rede von Freiheit und Wahlmöglichkeiten der Individuen offenbar zunehmend „Handlungsweisen aufgenötigt“497 werden, lässt diese ‚ewigen Werte‛ als korrumpiert erscheinen: Die Freiheit selbst „ist nicht frei gewählt“498, sondern das Resultat einer „kollektiven Vereinzelung“.499 Der Prozess spiegelt sich nicht zu493 494

495 496 497 498 499

Rosa 2005 (b) S.240ff. Vgl. hierzu Nowotny 1989, S.99: „Wenn heute das Maschinenzeitalter seinem Ende zugeht, oder besser ausgedrückt, wenn sich die Maschinen und technischen Artefakte so gewandelt haben, dass sie auch andere Zeitnormen enthalten als jene, die den alten Produktionstechnologien eingegeben wurden, so ist die neu dazugekommene Zeitnorm die der Flexibilität.“ Die Beobachtung steht dabei wiederum im Zusammenhang mit der Laborzeit-These: „Flexibilität wird möglich vor dem Hintergrund eines bisher nicht erreichten Grades an ständiger Verfügbarkeit, als deren Voraussetzung und Folge sie fungiert.“ Ebd., S.100. Rosa 2005 (b), S.230. Baier, Lothar: Volk ohne Zeit. Essay über das eilige Vaterland, Berlin 1990, S.114. Rosa 2005 (b), S.240. Vgl. auch Baumann, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003, S.45. Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse? In: Beck, Ulrich / Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hgg): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S.43-60, S.53.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

letzt in der beginnenden Auflösung staatlicher Institutionen und wirtschaftlicher Organisationsformen: Nach Blumenberg sicherten Institutionen gerade dadurch, dass sie „Verfügungen“ trafen, die über die Grenzen der Lebenszeit hinausgingen, die Vorstellung einer langfristigen, historischen Zeit.500 Nur in diesem Rahmen konnten Akzelerationsprozesse „gefahrlos“ umgesetzt werden, während heute eine „Erosion“ von „Institutionen und Orientierungen“ diese Prozesse enthemmt und dysfunktional werden lässt.501 Vor allem die Sinnbilder moderner ökonomischer Zeitoptimierung, Fordismus und Taylorismus, werden heute zunehmend von flexiblen, ‚verzeitlichten‛ Produktionsweisen abgelöst, die auf eine völlig neue Zeitmoral hinweisen. Im Gegensatz zur bürokratischen „Versklavung der Zeit durch die Routine“ im Zeitalter der Industrialisierung ist nach Richard Sennett eine neue Art flexiblen Wandels bestimmend geworden, die nicht mehr auf langfristige Kapitalakkumulation und allmählichen Fortschritt setzt, sondern fortwährend „bürokratische Routine attackiert“ und alle etablierten „Institutionen“ immer von neuem „entscheidend und unwiderruflich“ verändert, „so dass keine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit mehr besteht.“502 Auch „die Rede von ‚Langfristigkeit‛, die gewohnheitsmäßig immer noch gepflegt wird“, ist augenscheinlich längst „zur Leerformel verkommen“; die Identifikation von Zeit und Geld wird obsolet: „Die Zeit, ‚mehr Zeit‛, bringt keinen zusätzlichen Gewinn, nichts, was nicht auch schon im Augenblick der Unmittelbarkeit gegeben wäre. ‚Langfristige‛ Überlegungen sind wenig vielversprechend. Während in der ‚festen‛ Moderne ewige Dauer Motiv und Prinzip des Handelns darstellten, ist in der ‚flüchtigen‛ Moderne diese Orientierung funktionslos. Das ‚Kurzfristige‛ hat das ‚Langfristige‛ abgelöst, und Unmittelbarkeit ist zum ultimativen Ideal avanciert. Zeit wurde zum Behältnis ohne Limit, zum Fass ohne Boden erklärt und ihre Dauer abgeschafft.“503

Diese Kurzfristigkeit der ökonomischen Organisation befördert auch neuartige, an vormoderne Gesellschaften erinnernde Formen der Arbeitsorganisation. „Der Differenzcode, den die post-bürokratische gegen die organisiert-moderne Subjektkultur des Arbeitens zum Einsatz bringt, ist jener von ‚Beweglichkeit‛ 500 501 502

503

Vgl. Blumenberg 1986, S.83. Rosa 2005 (b), S.234. Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S.51 & S.59f. Sennett führt aus: „Das Wesen des flexiblen Wandels soll es sein, sich von der Vergangenheit zu lösen und das Vorausgehende entschieden und unwiderruflich zu verändern. Beim Angriff auf die Routine erscheint eine neue Freiheit der Zeit, doch die Erscheinung täuscht. Die Zeit in Unternehmen und für den einzelnen ist aus dem eisernen Käfig der Vergangenheit entlassen, aber neuen Kontrollen und neuer Überwachung von oben unterworfen. Die Zeit der Flexibilität ist die Zeit einer neuen Macht.“ Ebd., S.75. Baumann 2003, S.149. Die These wird mit ausdrücklichem Bezug auf Benjamin Franklins Zitat „Zeit ist Geld“ entwickelt: Vgl. ebd., S.166.

1. Die Krise der sozialen Zeit

133

gegen ‚Rigidität‛: Großkorporationen und Angestelltenkultur verkörpern fixe ‚bürokratische‛, letztlich unauthentische Starrheit; das kreative, unternehmerische Subjekt wird zum Modell natürlicher Dynamik und lebendiger Aktivität universalisiert.“504 So wird etwa das strenge Korsett des Acht-Stunden-Tags durch Deadlines und kurzfristige, flexible Zeitplanungen ersetzt.505 Auch das „maßgebende Raum-Zeit-Regime“ der gesellschaftlichen Eliten hat sich in diese Richtung gewandelt: „Während in der ‚klassischen Moderne‛ die raumzeitliche Ungebundenheit des Nomadismus (etwa der Obdachlosen, der Zigeuner, des ‚fahrenden Volkes‛ etc.) gegenüber der Sesshaftigkeit im Sinne der ‚permanenten Adresse‛ (und der uhrzeitbezogenen Zeitdisziplin) als Zeichen der Rückständigkeit galt und zu sozialer Exklusion führte“, erscheinen heute gerade Ortsgebundenheit und „die Bindung an das Dauerhafte“ als Stigmata der sogenannten Globalisierungsverlierer.506 Die Auflösungs- und Differenzierungsprozesse erscheinen dabei als Ergebnis einer durchaus bewusst und gezielt vorangetrieben Strategie der Zeitpluralisierung: „Heute stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Zeitordnung. Nach der zyklischen Zeit der agrarischen Gesellschaft und der abstrakt-linearen Zeit der kapitalistischen Gesellschaft kristallisiert sich in der heutigen Moderne die variable Zeit als gestaltbare Masse heraus. Die Vorstellung einer variablen Zeit setzt die Erkenntnis voraus, dass abstrakt-lineare Zeit nicht grenzenlos rational und ökonomisch handhabbar ist und dass es Lebensbereiche gibt, in denen die abstrakt-lineare Zeit außer Kraft gesetzt werden kann, ja sogar muss.“507

Wie bereits angedeutet, kommt es im Zuge dieser Veränderungen sozialer Zeitstrukturen notwendig auch zu einem Wandel der Persönlichkeitsmuster, an denen Individuen sich in ihrer Entwicklung ebenso wie in ihrer Selbstdarstellung orientieren. Die „Normalbiographien“, die für die Identitätsfindung in der klassischen Moderne Hartmut Rosa zufolge noch charakteristisch waren, werden im Verlauf des 20. Jahrhunderts von „situativen Identitäten“508 mit spontan zu gestaltender Biographie abgelöst. Der Zerfall institutionell abgesicherter Karrieremuster lässt die berufliche Zukunft als ebenso unplanbar erscheinen wie die private, in der sich ebenfalls die festen Ablaufpläne, deren Spießbürgerlichkeit Schriftsteller bis weit ins 20. Jahrhundert hinein anklagten, auflösen. Auch die504

505

506 507

508

Reckwitz, Andreas: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen 2006, S.500. Zu den veränderten Temporalstrukturen der Arbeitswelt vgl. auch Heuser, Uwe Jean: Vernetzte Ökonomie – Fragmentierte Gesellschaft. Der Übergang ins digitale Zeitalter, in: Schneider, Manuel / Geißler, Karlheinz A. (Hgg): Flimmernde Zeiten. Vom Tempo der Medien, Stuttgart / Leipzig 1999, S.211-221. Vgl. Rosa 2005, S.347f. Neverla, Irene: Chrono-Visionen im Cyberspace. Über die Zeitordnung der Medien in Zeiten des Internets, in: Schneider, Manuel / Geißler, Karlheinz A. (Hgg): Flimmernde Zeiten. Vom Tempo der Medien, Stuttgart / Leipzig 1999, S.131-138, S.133. Vgl. Rosa 2005, S.352ff.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

ser Wandel lässt sich anhand der drei von Rosa unterschiedenen Beschleunigungsphasen veranschaulichen: Während in vormodernen Gesellschaften Identität in erster Linie durch soziale Zugehörigkeit, also „von außen“ definiert wurde, verbindet sich mit der beginnenden Moderne ein Individualisierungsschub, der auf die Entstehung „substanzieller Lebensalternativen“ zurückzuführen ist. Wer man ist, ist nun nicht mehr a priori durch die gesellschaftlichen Verhältnisse determiniert, sondern wird „zu einem zeitlichen Projekt, das sich im Lebensvollzug entfaltet“ und für das jedes Individuum nun selbst die Verantwortung trägt. Dieses Projekt aber ist wesentlich an die „Planbarkeit“ der Zukunft gebunden: Die bürgerliche Gesellschaft stellt dem Individuum vorgeprägte Modelle der Lebensphasen Kindheit, Ausbildung, Erwachsenendasein und Alter und damit sowohl berufliche als auch familiäre „Ablaufprogramme“ zur Verfügung, anhand derer sich im Lauf der Zeit milieutypisch standardisierte Lebensläufe ausbilden.509 In der Spätmoderne hingegen brechen in einer „zweiten Individualisierungs- und damit Pluralisierungswelle“ genau diese Identitätsmuster wieder auf: Die zentralen Dimensionen des Lebens „wie Beruf, Familie, Religion oder Wohnort, tendenziell aber auch Nationalität, Sexualität und Geschlecht“ werden sowohl frei kombinier- als auch nahezu beliebig revidierbar.510 Gerade dadurch aber verlieren sie ihre identitätsstiftende Funktion: „Wenn Familien, Berufe, Wohnorte, politische und religiöse Überzeugungen im Prinzip jederzeit gewechselt werden bzw. sich verändern können, dann ist man nicht mehr Bäcker, Ehemann von Y, Münchener, Konservativer und Katholik per se, sondern nur noch für Perioden von nicht genau vorhersagbarer Dauer – man ist alle diese Dinge ‚im Moment‛ [...]; man war etwas anderes und wird (möglicherweise) jemand anderer sein. Der soziale Wandel verlagert sich gleichsam in die Identität der Subjekte hinein.“511

Biographien müssen nun immer neu aus „Identitätsbausteinen“ zusammengesetzt werden; die Vorstellung davon, „wer man war, ist und sein wird“, wird variabel den Erfordernissen der jeweiligen Situation angepasst.512 „Der erste Dynamisierungsschub der Moderne führte zu einer Auffassung des Lebens als gerichteter Bewegung entlang präsequenzierter alternativer Entwicklungsphasen, die bestimmt waren durch die formale Erwartbarkeit und Planbarkeit der Zukunft und daher zum Entwurf von ‚Lebensplänen‛ führten; der zweite hebt ebendiese Präsequenzierung und Planbarkeit wieder auf.“513

509 510 511 512 513

Vgl. Rosa 2005, S.355ff. Vgl. Rosa 2005, S.362. Rosa 2005, S.238. Rosa 2005, S.371. Vgl. Nowotny 1989, S.43f. Rosa 2005, S.365.

1. Die Krise der sozialen Zeit

135

Nach Rosa treten infolge dieser Entwicklung grundlegende Merkmale des individuellen zeitlichen Empfindens außer Funktion. So lässt sich neben einer „Elimination der Dauer“ infolge der immer kürzeren Halbwertszeit orientierender Konzepte eine „Entrhythmisierung sozialer Ereignisse“ und eine „Auflösung festgelegter und stabiler Sequenzreihen“514 konstatieren. Der „Verlust der Wahrnehmung einer gerichteten Bewegung des Selbst oder des Lebens durch die Zeit“ führt dazu, dass jede verbindende „Entwicklungsperspektive“ notwendig verloren geht.515 Nach Richard Sennett lässt sich dieser Prozess auch als „Fragmentierung narrativer Zeit“ beschreiben: An die Stelle einer Lebensgeschichte, die durch bestimmte Entwicklungsphasen und konkrete Ziele gekennzeichnet ist, tritt „eine Sammlung des Zufälligen und Beliebigen, des Vorgefundenen und Improvisierten.“516 Indem der Wert von Erfolgen und Misserfolgen und die Bedeutung einzelner Erlebnisse oder Lebensabschnitte immer weniger zu bestimmen sind, kann die zeitliche Perspektive auf das eigene Leben im Extremfall sogar vollständig ausgehebelt werden: „Wenn man mit scheinbar bedeutungslosem Erfolg konfrontiert ist oder der Unmöglichkeit, für eine Anstrengung belohnt zu werden, bleibt die Zeit stehen; der Mensch wird in dieser Situation ein Gefangener der Gegenwart und bleibt auf ihre Dilemmata fixiert.“517 Statt der Vergangenheit, die als tradiertes Erbe die Gegenwart erdrückt, oder der Zukunftspläne, deren Verwirklichung das individuelle Dasein ganz und gar untergeordnet wird, scheint es heute also mehr und mehr die „Instant-Zeit“518 der Gegenwart selbst zu sein, der das Subjekt sich ausgesetzt und von der es sich bedroht fühlt.519 An die Stelle der alten, statischen Entwicklungsmuster treten heute zudem tendenziell austauschbare und flexible Konstruktionen, denen es jedoch an jeder verbindlichen Qualität mangelt. Die heutigen Lebensläufe werden daher nicht länger abgearbeitet, sondern im Verlauf des Lebens situativ immer wieder von Neuem erfunden oder konsumiert: „Sich entwerfen und leben fallen in eins. Das Identitätsprojekt wird zu einem imaginären Fixpunkt, der beständig geändert werden kann.”520 Gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster haben nun nicht mehr die Form von „Normalbiographien“, sondern von Bausteinen, die sich beliebig kombinieren oder austauschen lassen: 514 515 516 517 518 519

520

Rosa 2005, S.344. Rosa 2005, S.390. Vgl. Sennett 1998, S.181f. Vgl. Sennett 1998, S.121. Rosa 2005, S.353. Denn wer „die harte Schale des hegenden Raumes verliert, wird unwiderruflich zum schutzlosen Jetztzeitwesen ohne Besonderungslizenz; ein Zeitgenosse ohne Rückzugschancen.“ Vgl. Guggenberger, Bernd: Irgendwo im Nirgendwo. Von der Raum- zur Zeitordnung, in: Schneider, Manuel / Geißler, Karlheinz A (Hgg): Flimmernde Zeiten. Vom Tempo der Medien, Stuttgart / Leipzig 1999, S.47-58, S.52. Keupp, Heiner / Ahbe, Thomas u.a.: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg 1999, S.83.

136

II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur „Der [...] Prozess der Ausgliederung privater Freiheitszonen aus institutionell festgelegten Lebenszusammenhängen hat [...] zur Gegenwart hin ein historisch einmaliges Ausmaß erreicht. Es entsteht ein Sinn-Markt, eine Art kultureller ‚Supermarkt‛ für Weltdeutungsangebote aller Art [...]. All das meint, [....] dass der individualisierte Mensch permanent mit einer Vielzahl von (Selbst-)Stilisierungsformen und Sinnangeboten konfrontiert ist, unter denen er mehr oder minder frei wählen kann – und muss, und dass er sich dabei – sei es freiwillig oder gezwungenermaßen – sozusagen von Situation zu Situation in sozial vorgefertigte Handlungs- und Beziehungsmuster einbindet und die dort jeweils typisch vorformulierten, thematisch begrenzten Weltdeutungsschemata übernimmt.“521

Dieser situationsoffene und spielerische Umgang mit der eigenen Persönlichkeit erinnert an die Pluralisierung der Identität, die um 1900 von Autoren wie Ernst Mach oder Hugo von Hofmannsthal erstmals gefasst wurde. Ehemalige Bewusstseinszustände, also die eigenen vergangenen Wünsche, Pläne und Erinnerungen, erschienen hier als radikal fremd und unverbunden mit denen der Gegenwart. Neu an der spätmodernen Flexibilisierung der Identität aber ist, dass diese nicht länger als Folge einer kritischen Infragestellung oder eines allmählichen Zerfalls überkommener Kontinuitäts- und Identitätsmuster erscheint, sondern den gesellschaftlichen Spielregeln und Organisationsformen im Gegenteil gerade entspricht. Der permanente Wandel bedeutet keinen Ausnahme- oder Krisenzustand mehr, ist vielmehr zur Alltagserfahrung geworden. Daher kann die moderne Opposition von ‚gesellschaftlicher Zeit‛, die sich in erster Linie durch Linearität und überkommene ‚Konstruktionen von Dauer‛ kennzeichnet, und der assoziativen, diskontinuierlichen ‚Zeit des Subjekts‛ in den Romanen des 21. Jahrhunderts nicht länger Bestand haben. Die Gesellschaft ist keine erstarrte Ordnung, die Zeit keine „bürokratische Zeit“522 mehr, in welcher mittels Institutionen, Gesetzen und Ideologien lineare Strukturen etabliertwerden, sie ist ein schillernder, ungreifbarer Mechanismus geworden. Der postmoderne Identitätstyp des „Spielers“523 entsteht, der im unberechenbaren Wechsel der Zufälle und Kontexte, die der beschleunigte gesellschaftliche Wandel beständig erzeugt und an die es sich flexibel anzupassen gilt, seinen eigentlichen Gegenspieler findet: „Wenn Unsicherheit zum Dauerzustand wird, erscheint das In-der-Welt-sein weniger als gesetzmäßige und logische, konsistente und kumulative Kette von gesetzestreuen Handlungen, sondern eher wie ein Spiel, bei dem die ‚Welt da draußen‛ [...] ebenfalls ein Spieler ist und sich wie alle anderen Spieler verhält, 521

522 523

Hitzler, Ronald / Honer, Anne: Bastelexistenzen. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Beck, Ulrich / Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hgg): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S.307315, S.307ff. Sennett 1998, S.39. Rosa 2005, S.368.

1. Die Krise der sozialen Zeit

137

die sich nicht in die Karten schauen lassen. Zukunftspläne werden dann, wie bei anderen Spielen auch, kurzfristig, unbeständig, schillernd und erfassen nur die unmittelbar nächsten Züge.“524

1.1. „Verschieden falschgehende Uhren“. Wilhelm Genazino, Peter Høeg, John von Düffel und Peter Kurzeck Obgleich das Gefühl der rasenden Beschleunigung und infolgedessen der Zersplitterung der Zeit bereits als ein wesentliches Signum der literarischen Moderne in Erscheinung tritt, bleibt die ‚Zeit der Uhren‛ nahezu das gesamte 20. Jahrhundert hindurch Inbegriff einer durch Einförmigkeit gekennzeichneten Machtmechanik. So erscheint etwa in Franz Kafkas Prosaskizze Gibs auf! die Uhr als Ausdruck eines verinnerlichten Zwangs, die Zeit zu nutzen; sie wirkt als allgegenwärtiger und bedrohlicher innerer Antreiber eines Subjekts, das sich plötzlich mit der Erkenntnis konfrontiert findet, auch durch die größte Eile dieser Drohung der Zeit niemals entkommen zu können. Das Gefühl der Beschleunigung wird durch ein disziplinatorisches Zeitregime erzeugt, vor dem das Individuum früher oder später kapitulieren muss: „Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung ließ mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. [...] ‚Gibs auf, gibs auf‛, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“525

Wie bereits gezeigt, widersprechen die krisenhaften, durch Motive der Desorientierung, des Zerfalls und des Schocks charakterisierten Zeiterfahrungen der Literatur um 1900 also nicht dem vorherrschenden linearen Zeitverständnis. Vielmehr bringen sie dessen Sinnleere und Abstraktion, seine Entfremdung von ‚natürlichen‛ Zeitrhythmen gerade zum Ausdruck. Uhren sind deshalb besonders dort, wo sie die gesellschaftliche Zeit repräsentieren – in Kafkas Beispiel die „Turmuhr“ –, über das normale Leben erhoben; sie besitzen eine Autorität, die durch das Individuum nicht zu hinterfragen ist: Es fühlt sich selbstverständlich gezwungen, seine eigene Uhrzeit der amtlichen anzugleichen. Die Krise erscheint bei Kafka als „Zwiespalt zwischen“ der „persönlichen und der offiziel524

525

Baumann 2003, S.162. Der Begriff der Ungewissheit ist durch Ilya Prigogine auch in die Naturwissenschaften eingeführt worden. Hans Lenz kommentiert: „Es ist schwer, die Bedeutung dieses Gedankens für den Zeitbegriff in seiner ganzen Tragweite zu begreifen: Die Zeit hat keine Zukunft mehr, sondern multiple Zukünfte.“ Vgl. Lenz, Hans: Universalgeschichte der Zeit, Wiesbaden 2005, S.557. Kafka, Franz: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen aus dem Nachlass, Frankfurt a.M. 1983, S.87. Vgl. zu diesem Beispiel auch Anz 1999, S.115f.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

len Zeit“526, das Scheitern des Protagonisten wird als misslungener Angleichungsversuch der subjektiven an die gesellschaftliche Zeitordnung vorgeführt. Gleichzeitig sperrt sich das Individuum in der Literatur der klassischen Moderne aber auch selbst gegen den abstrakten, ökonomisierten Zeitzwang, wodurch es zwar hinter den gesellschaftlichen Ansprüchen zurückbleibt, gleichzeitig aber die Chance erhält, seine Eigenzeit bewusst zu erfahren. Auch für jene Zeitkrise, die in der Gegenwartsliteratur zum Ausdruck gebracht wird, bildet die Uhr eine Kernmetapher; auch hier erscheint weniger eine philosophische Auseinandersetzung mit dem ‚Rätsel der Zeit‛, als vielmehr eine Reflexion zum Verhältnis von gesellschaftlicher Zeitordnung und subjektivem Zeitempfinden als Anliegen der Autoren. Dabei lässt sich jedoch eine radikale Umwertung dieses Verhältnisses ausmachen; denn wie an den folgenden beispielhaften Interpretationen gezeigt werden soll, sind die Uhren nun keine Repräsentanten einer vereinheitlichenden Macht mehr. Frappierend häufig gehen die hochtechnisierten Chronometer auf einmal fehl, machen etwa Sprünge in Zukunft oder Vergangenheit, zeigen die falsche oder eine ganz und gar unsinnige Zeit an oder sind schon seit langem stehengeblieben. Häufig erscheinen sie sogar selbst als museale Anachronismen, als nostalgisch gepflegte Erinnerungsstücke aus einer untergegangenen ‚Zeit‛, als „Gespenster“ in der kuriosen Gestalt von „Standuhren, Wanduhren, Kuckucksuhren“, die jedoch „längst abgelaufen“527 sind. Die Einheitlichkeit der Zeit ist aufgelöst in unterschiedliche, teilweise groteske Zeitordnungen, die unberechenbar und sprunghaft wechseln können. Als Konterpart zum Kafka-Zitat sei hier beispielhaft ein Absatz aus Wilhelm Genazinos Roman Das Licht brennt ein Loch in den Tag angeführt: „Du hast entdeckt, dass es in meinen Erinnerungen gewisse Unstimmigkeiten gibt. Irgendeine umfassende Erklärung habe ich dafür nicht. Ich kann Dir statt dessen ein wichtiges Detail aus meinem Alltag zuhause anbieten. Dort kenne ich eine Straße, in der es gleich drei verschieden falschgehende Uhren gibt. Sie gehen nach oder vor, je nachdem. Wenn ich die Straße entlanggehe, weiß ich natürlich, wieviel Uhr es wirklich ist, aber ich möchte auch nicht auf die drei falschen Uhren verzichten. Es geht, wenn ich so sagen darf, von den falschen Uhrzeiten eine höhere Lächerlichkeit aus, manchmal fast ein Hohn auf die einzig richtige Zeit – das kommt ein bisschen auf meine Stimmung an. Im Sinne der drei falschen Uhrzeiten habe ich den Anspruch aufgegeben, in allen Mitteilungen wiedererkennbar zu sein.“528

Die „einzig richtige“ Zeit ist hier nicht mehr durch die Uhr repräsentiert, sondern wird allein durch die Überzeugung des Subjekts aufrecht erhalten, „natürlich“ zu wissen, „wieviel Uhr es wirklich ist.“ Die Herstellung einer einheitli526 527 528

Ziolkowski 1972, S.166. Beispielhaft hier: Kurzeck, Peter: Keiner stirbt, Basel 1990, S.258. Genazino, Wilhelm: Das Licht brennt ein Loch in den Tag, Reinbek bei Hamburg 2000, S.76f.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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chen, für alle gültigen Zeit geschieht also ‚von innen‛, während die ‚äußeren‛ Uhren der gesellschaftlichen Wirklichkeit tatsächlich asynchron verlaufen. Doch die innere Gewissheit des Subjekts ist in Genazinos Roman ebenfalls brüchig: Der Protagonist leidet an Gedächtnisschwäche, ihm entfallen immer mehr Erinnerungen, weshalb er diese in seinen Briefen zu fixieren versucht – und dabei zunehmend durch neue, erfundene Vergangenheiten ersetzt. Wie die „einzig richtige“ Zeit verliert auch die ‚tatsächliche‛, „wahrheitsgetreue“ Vergangenheit ihre Verbindlichkeit, geht die Fixierung der eigenen Biographie automatisch in Fiktion über, ohne dass dadurch größere Widersprüche entstünden: „Im Grunde habe ich mich nur von der Idee getrennt, dass eine in allen Punkten wahrheitsgetreue Erinnerung ethischer und nützlicher ist als eine umgebaute.“ 529 Diese Freiheit im Umgang mit der eigenen Biographie spiegelt sich auch im Verhältnis zur Zeit, in dem die „falschen Uhrzeiten“ die „richtige“ zu verspotten scheinen. Die Konvention einer abstrakten Zeit existiert hier zwar weiter, übt aber keinen Zwang mehr aus, erscheint vielmehr nur noch als eine mögliche Ordnung unter vielen, die zudem nur freiwillig als wichtigste anerkannt wird – „das kommt ein bisschen auf meine Stimmung an“. Aus der temporalen Ordnung ausgetreten, findet sich das Subjekt aber mit dem Problem konfrontiert, auch für das eigene Leben kein Ordnungsmodell mehr finden zu können; der Wunsch nach „Biographielosigkeit“ verliert deshalb am Ende des Romans seine utopische Prägung und schlägt in Abscheu um.530 Genazinos Figuren sind durch ein Grundgefühl der Beschädigung und des Auseinanderfallens charakterisiert, das als Preis für ihre gesellschaftliche Desintegration erscheint. Diese jedoch lässt sich kaum mehr als Ausstieg oder Rebellion interpretieren, sondern ist augenscheinlich Folge einer Schwächung der Gesellschaft selbst, die in der fehlenden Verbindlichkeit ihrer‚offiziellen‛ Zeit zum Ausdruck kommt. Wie eingangs bereits gezeigt, wird die klassisch-moderne Kritik an der linearen Zeitordnung jedoch auch in der Gegenwart weiterhin fortgeführt, wie beispielhaft an Peter Høegs Roman Der Plan von der Abschaffung des Dunkels vorgeführt werden kann, der die Abrichtung der Zeitwahrnehmung auf immer gleiche Frequenzen und Abfolgen als Resultat schulischer Disziplinierung vorstellt. Bereits der erste Satz des Romans zieht die Berechtigung solcher ‚Taktung‛ in Zweifel: „Was ist Zeit?“531, wird dort lapidar gefragt, um ganz im Sinne der augustinischen Reflexionen schließlich die Antwort zu liefern: ein bleibendes Rätsel. Bestimmt aber ist Zeit nicht reduzierbar auf jene Einheitsform, auf die Rektor Biehl sie an seiner Privatschule festzulegen versucht, angetrieben durch eine durch und durch idealistische Weltsicht, eine regelrechte „Kosmologie“: „Sie waren der Meinung, am Anfang habe Gott den Himmel und die Erde als Rohmaterial geschaffen, wie eine Gruppe Schüler, die in die erste Klasse 529 530 531

Genazino 2000, S.103. Genazino 2000, S.122. Høeg 1999, S.7.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur kommt, zur Verarbeitung und Veredelung berechnet und bestimmt. Und als geraden Weg, an dem entlang die Veredelung vor sich gehen sollte, schuf er die lineare Zeit. Und als Instrument, um zu messen, wie weit der Veredelungsprozess fortgeschritten war, schuf er die Mathematik und die Physik.“532

Die Gruppe von Schülern, die gegen Biehl und sein Regiment zu rebellieren beginnt, erkennt jedoch den ideologischen Gehalt dieser Vorstellung. Für sie ist die Zeit von Beginn an unwirklich, erscheint als Resultat eines großen Plans, den sie aufdecken wollen: „Die Zeit ist kein Naturgesetz [...]. Sie ist ein Plan. Wenn man sie aufmerksam ansieht oder anfängt, sie zu berühren, fängt sie an, sich aufzulösen.“533 In seinem Kern ist dieser Plan freilich ein aufklärerischer, der die „Abschaffung des Dunkels“, den Sieg über jeden Zweifel, über das Unkontrollierbare des Lebens selbst in Angriff nimmt. Doch ist diese Utopie längst in Macht und Unterdrückung umgeschlagen, hat sich die Ordnung, in die Menschen und Welt gebracht werden sollten, als „zu straff“534 erwiesen. Die Schüler suchen daher nach Belegen für ihre Überzeugung, dass es in Wirklichkeit „nicht nur eine Zeit gibt, dass es verschiedene Zeiten geben muss, die zugleich existieren.“535 Denn sie selbst als Problemkinder, die bereits verschiedene Erziehungsanstalten hinter sich haben, denen die Erfüllung der Erwartungen, die man an sie stellt, nicht selbstverständlich ist, und die daher ständig „auf der Grenze“ 536 leben, erfahren diese „eine Zeit“ ihrer Schule jeden Tag als unnatürliches, zwanghaftes Konstrukt. Ihre Sonderstellung prädestiniert sie zu einer anderen Blickweise auf das Gefüge der Welt, das ihnen nicht so einfach zur Selbstverständlichkeit wird wie den anderen Schülern. Am Grunde ihrer fehlenden Begabung und ihrer schweren Erziehbarkeit liegt daher eine Tendenz zur Rebellion, zur Inakzeptanz der Macht. Das Ideal, das sie dem linearzeitlichen Ordnungsregime entgegensetzen, ist dabei wiederum das einer mystischen Entzeitlichung, die mit dem Zeiterleben der Kindes assoziiert wird: „Ganz weit hinten“, in den Bereichen der frühsten Kindheit, „erinnert man sich“ an einen Zustand, in dem „man ohne Zeit gelebt hat“.537 Diese Verbundenheit des Kindes mit der Welt, sein gegenwärtiges, unentfremdetes Erleben steht für das Ideal eines menschlichen „Berührens“ der anonym gewordenen, abstrakten temporalen Struktur: „Die Zeit ist keine Illusion. Sie ist auch nicht die einzige Realität. Sie ist eine mögliche und weitverbreitete Form der Begegnung zwischen Bewusstsein und Umwelt. Doch nicht die einzig mögliche. Ist man von Neugier getrieben oder ist man krank und kann man auf andere Weise nicht überleben, dann kann

532 533 534 535 536 537

Høeg 1999, S.293. Høeg 1999, S.233. Høeg 1999, S.296. Høeg 1999, S.26f. Høeg 1999, S.129. Høeg 1999, S.283.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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man ins Laboratorium gehen und die Zeit berühren. Und dann wird sie sich verändern.“538

Wie bei kaum einem anderen der neueren Zeit-Autoren wird bei Peter Høeg im Zuge dieser Rebellion gegen die gesellschaftliche Zeitordnung auf das klassische Motiv der zeitenthobenen Augenblickserfahrung zurückgegriffen. In kurzen, intensiv erlebten Momenten beginnt sich die Zeit zu verändern oder sogar aufzulösen, wird den Schülern ein tatsächlicher Ausstieg, eine Flucht möglich. Es geht darum, die Zeit „loslassen“ zu können, doch soll mit diesem „Loslassen“ Zeit nicht abgeschafft, sondern nur die Möglichkeit einer alternativen Erfahrungsweise untermauert werden: „In der gewöhnlichen Zeit, der auf der Uhr, gibt es einige bestimmte Dinge, die man versteht. Wenn man die Zeit loslässt, versteht man einige andere.“539 Die Befähigung zum intensiven Erleben der „kleinsten Zeiträume“ erscheint dabei als Voraussetzung der Kritik: „Was wir hatten, war ja eben eine krankhaft erhöhte Empfindlichkeit für ganz kleine Zeiträume, und dann sah man die unendlich vielen und komplizierten Machtausübungen des Augenblicks, und man sah, wie allen, die anwesend waren, ein feines, ewiges Mal der Angst eingedrückt wurde und dass das etwas zu tun hatte mit dem Lernen der Zeit.“540

Dennoch hat die schulische Macht, die in der linearzeitlichen Ordnung zum Ausdruck kommt, nicht nur durch die Lehrer und die Schule Bestand, sondern ist in die Persönlichkeit selbst der problematischsten und rebellischsten Kinder kraft der normierenden Mechanismen der Gesellschaft bereits übergegangen: „Auf ganz unerklärliche Weise arbeiteten wir alle daran, die Zeit an der Schule zu erschaffen und aufrechtzuerhalten.“541 Und einige Seiten später wird hinzugefügt: „Man kann nicht besser sein als das, was einen umgibt, nicht auf die Dauer.“542 Die Weigerung, den Anforderungen der Schule zu genügen, setzt sich daher fort als eine kritische Auseinandersetzung mit Bestandteilen der eigenen Persönlichkeit, die bis in die beiläufigsten Redewendungen hinein von den gesellschaftlichen Strukturen durchdrungen scheint. Gerade aus der Einsicht aber, dass die Zeit untrennbar „an die menschliche Gemeinschaft“ gebunden ist, ergibt sich auch die Möglichkeit, „Einspruch gegen Newton“ und seine Vorstellung einer unabhängigen, abstrakten, physikalischen Weltzeit zu erheben, denn in der Abhängigkeit von der Gesellschaft erscheint Zeit viel eher als „eine Möglichkeit aller Menschen zu allen Zeiten“, als Ergebnis eines Lernprozesses, bei dem die konkrete „Gestalt“, die die Zeit am Ende annehmen wird, grund538 539 540 541 542

Høeg 1999, S.296. Høeg 1999, S.35. Høeg 1999, S.286. Høeg 1999, S.272. Høeg 1999, S.301.

142

II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

sätzlich „vom Charakter des Lernprozesses und der Umgebung abhängt.“ 543 Anders als in vielen Texten der klassischen Moderne geschieht die Rebellion gegen das Linearzeit-Modell hier also nicht in erster Linie im Dienste des subjektiven Zeiterlebens, sondern der sozialen Dimension der Zeit. Die Klärung der Frage, wie und warum in der Gegenwartsgesellschaft „die Zeit zu Stacheldraht“544 werden konnte, stellt sich so schon bald als das zentrale Anliegen des Romans heraus. Ausführliche Reflexionen zur Geschichte der Zeitmessung ebenso wie zur Geschichte der Zeitphilosophie sind aus diesem Grund in das Werk eingebaut, dessen Erzähler, einer der rebellierenden Schüler, die Ereignisse an Biehls Privatschule in der Rückschau schildert. Seine Recherchen führen ihn zurück bis zu den ersten Zeitmessgeräten – genannt wird etwa der 1370 erbaute Uhrturm in Poitiers –, die zunächst keinerlei Einfluss auf das Handeln der Menschen hatten, sondern eher als Modelle, als „Abbild der Genauigkeit des Universums, der Präzision von Gottes Schöpferleistung“ betrachtet wurden. Die Uhr, jenes hauptsächliche Instrument der Macht, gegen das sich seine rebellischen Aggressionen im wesentlichen richtet – zuletzt gelingt es ihm sogar, die Uhr der Schule unbemerkt zu verstellen, wodurch der ganze große „Plan“ durcheinander gerät und für einen Moment das Chaos die Oberhand über die Ordnung gewinnen kann –, hat nicht von Beginn an dem Zweck der Disziplinierung gedient: „Die Uhr war also zuallererst ein Abbild. Wie ein Kunstwerk. So ist es gewesen. Die Uhr war wie ein Kunstwerk, ein Produkt aus dem Laboratorium, eine Frage. Zu einem Zeitpunkt hat sich das dann geändert. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat die Uhr aufgehört, eine Frage zu sein. Statt dessen wurde sie zu einer Antwort.“545

Ganz im Sinne Foucaults wird hier die Durchsetzung der linearen Zeitordnung mit den neuzeitlichen Entwicklungen von Rationalismus, Aufklärung und Disziplinarmacht in Verbindung gebracht. Im 20. Jahrhundert erscheint die Etablierung der Linearzeit dann schließlich als vollendet: In der neueren Geschichte der Wissenschaft findet der Erzähler kaum mehr Ansätze für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Linearitätspostulat, das seiner Auffassung nach die Zeitdiskussion in allen Disziplinen beherrscht. „Ich glaube, im großen und ganzen sind alle Bücher, die es über die Zeit gibt, in ihrem tiefsten Inneren sicher, dass sie linear ist. Dass sie vergeht und danach unwiederbringlich vorbei ist. 543 544 545

Høeg 1999, S.295f. Høeg 1999, S.273. Høeg 1999, S.79. Tatsächlich hatten die ersten Uhren nach Helga Nowotny „wenig gemeinsam mit den funktionalen Zeitgebern, die heute Werte anzeigen, die längst internalisiert sind.“ Vgl. Nowotny 1989, S.13.

1. Die Krise der sozialen Zeit

143

Selbst Bertrand Russell und Bergson, die so viele andere Arten vorgeschlagen haben, die Zeit zu denken – man spürt, dass sie es nur spielerisch getan haben, wie ein Schachspiel. Sie wollten ihre Kollegen zwingen, so gut wie möglich zu spielen. Sie selbst aber waren nie im Zweifel. [...] Vielleicht irren sie sich. Nicht um jemandem etwas Böses nachzusagen, aber vielleicht irren sie sich.“546

Diese Unfähigkeit, die gesellschaftlichen Aprioris tatsächlich zu hinterfragen, hängt aus Sicht des Erzählers mit der Vernetzung von wissenschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Machtstrukturen zusammen: So scheinen ihm etwa jene Wissenschaftler, die der International Society for the Study of Time angehören, kaum kompetent, um neue Einsichten über die Zeit zu gewinnen, denn sie alle waren mutmaßlich selbst „immer fleißig und präzise“, und kaum wird jemand dieser Gesellschaft angehören, „der durch die Zeit krank geworden ist.“ Doch „über die Zeit lernt man vielleicht am meisten, wenn man in sie hineingestoßen wurde. Wenn man krank war und auf der Grenze.“547 Eine Ausnahme findet der Erzähler in der Person Albert Einsteins, dem vielleicht berühmtesten ‚Problemkind‛ des 20. Jahrhunderts. Dessen Relativitätstheorie besitzt zwar den Makel, im alltäglichen Kontext die Linearzeit immer noch für real zu erklären, doch faszinieren den Erzähler jene „fließenden Mannigfaltigkeiten von Zeiten“, die sich nach Einstein „quer durch das Universum“ verbreiten.548 Mit der Anspielung auf Einstein findet sich in Høegs Roman der einzige eindeutige Bezug auf den Zeit-Diskurs um 1900. Hervorgehoben wird dabei bemerkenswerterweise die rebellische Absicht, mit der der Nobelpreisträgers seine Theorie entwickelt haben soll: „Als Einstein weltberühmt geworden ist und Journalisten ihn nach seiner Jugend fragen, bezeichnet er sie selbst mehrere Male als ‚die Leiche meiner Kindheit‛, ‚the corpse of my childhood‛. Er sagt, er denke dabei an die strenge, einengende Bürgerlichkeit, die ihn umgab. Es geht aus seinen Briefen an Mileva Maric deutlich hervor, dass sich seine wissenschaftlichen Theorien im Protest gegen diese Bürgerlichkeit entwickeln, die ihm auch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule begegnet. Er selbst hat später gesagt, für ihn sei die Relativitätstheorie und ihre Sicht auf Zeit und Raum auch eine Rebellion gegen Autoritäten, die das Denken behindern. Es wird in seinen Briefen ganz klar, dass seine Kosmologie auch als politische Handlung entwickelt wurde, und als psychologischer Protest.“549

Solche theoretischen Ausführungen stehen ohne jeden Zweifel in der Tradition der klassischen Moderne. Und dennoch: Auch bei Peter Høeg finden sich Unterschiede zu den Werken dieser Epoche, die im Zusammenhang der hier dar546 547 548 549

Høeg 1999, S.256. Høeg 1999, S.254. Høeg 1999, S.256. Høeg 1999, S.278.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

gestellten Entwicklungen hervorzuheben sind. Die Zeit-Ordnung, gegen die die Schüler hier revoltieren, scheint nämlich längst dem Untergang geweiht. Die Rebellion ist nicht mehr das Privileg besonders sensibler und feinfühliger Ästheten, sondern das von Menschen, deren Integration in die Gesellschaft misslingt. Dieses Misslingen erscheint wie programmiert: Die Grenzen des Möglichen, das äußerste Maß an Disziplinierung ist erreicht; die Wirklichkeit und die Menschen widersetzen sich von nun an nicht mehr, weil sie besserer Überzeugung wären, sondern weil sie schlicht nicht mehr folgen können. Die Zeit beginnt daher ganz von selbst zu einem Problem zu werden: „Wenn man blind würde [...], wenn man es gewohnt wäre, durch ein Haus zu gehen, und plötzlich eines Tages einen Unfall hätte, überfallen würde oder irgendetwas, und blind würde, würde man erst dann die Möbel entdecken. Sie wären immer da gewesen, aber man hätte sie nicht bemerkt, man wäre einfach um sie herumgegangen. Erst wenn etwas schwer zu bewältigen ist, sieht man es. Auf diese Weise bemerkt man die Zeit, wenn es schwer wird, sie zu bewältigen.“550

Bereits Newton scheint bei genauerer Betrachtung nicht der erste, sondern vielmehr „der letzte“ gewesen zu sein, „der im Ernst an eine Zeit ohne Verbindung mit dem Menschen glaubte. Ohne Verbindung mit den Dingen. Im Grunde wohl ohne Verbindung mit dem Universum.“ „Seitdem aber herrscht nahezu Auflösung.“551 Die Ausdifferenzierung der Zeit zum mächtigsten Werkzeug jener Aufklärung, die mit dem Plan antrat, das Dunkel zu besiegen, ist an eine natürliche Grenze gestoßen. Nun droht „früher oder später“ der „Zusammenbruch.“552 Diesen Zusammenbruch erlebt der Erzähler bereits als Kind; seine Kindheit jedoch wird historisch verortet in den 70er Jahren, mithin in einer Gesellschaft, die sich seitdem im Umbruch befindet, neue Strukturen, Überzeugungen und Ideale entwickelt hat. Zwar werden die neuen Formen des Umgangs mit der Zeit in Der Plan von der Abschaffung des Dunkels nicht beleuchtet, doch wird das Ende jener Zeitordnung der Biehlschen Privatschule ganz eindeutig aus einer großen Distanz betrachtet, sind auch die Personen selbst, die diese Ordnung repräsentierten, in der Gegenwart längst ohne Einfluss und Macht. „Wir standen am Rand“, heißt es am Ende des Romans im Rückblick, „wir hatten die Grenze erreicht. Die Grenze dessen, wie weit man mit dem Instrument der Zeit die menschliche Natur drängen kann. Und danach musste es ja schiefgehen.“553 „Über die ganze Welt breitete man als Instrument die Zeit aus. Und bis in die Erziehung der Kinder hinein breitete die Schule das Netz von Präzision und 550 551 552 553

Høeg 1999, S.90. Høeg 1999, S.267. Høeg 1999, S.268. Høeg 1999, S.299.

1. Die Krise der sozialen Zeit

145

Genauigkeit aus. So weit, dass die Grenze dessen erreicht wurde, was Menschen ertragen können. Die Grenze, an der das Netz anfängt, seinem eigenen Gewicht nachzugeben. Und die Spinne im Fallen mit sich zu reißen.“554

Bei allen Übereinstimmungen mit den Zeit-Reflexionen der klassisch-modernen Literatur stellt sich also auch bei Peter Høeg das einstige ‚Regime der Zeit‛ in der gesellschaftlichen Gegenwart als verändertes dar. Etwas hat sich gewandelt, das den Protagonisten befähigt, das „Jetzt, später“ von dem „Damals“ abzugrenzen.555 Für ihn hat dabei allerdings ohne Frage eine Befreiung stattgefunden: Er hat eine neue Chance bekommen, sich in das Leben zu integrieren, hat eine Frau, eine Tochter, die er nach anderen, antiautoritären Maßstäben erzieht, und trotz seiner fehlenden Begabungen sogar einen Beruf. Einen Plan von der Abschaffung des Dunkels gibt es in seinem Leben nicht mehr. Die Verbindung von Zeitverständnis und Erziehung wird auch in John von Düffels Zeit des Verschwindens thematisiert. Hier steht jedoch nicht der Zögling, sondern dessen Vater im Mittelpunkt – ein erfolgreicher Geschäftsmann, der mit dem Auto durch eben jenes Dunkel rast, das bei Peter Hoeg noch abgeschafft werden sollte, um zwischen Hotel hier und Geschäftsessen dort die Geburtstagsfeier seines Sohnes zu besuchen, den er eineinhalb Jahre nicht gesehen hat. Auch er proklamiert zunächst die Wichtigkeit einer einheitlichen, für alle gültigen, linearen Zeit, mit der er sich vollständig zu identifizieren scheint. So fühlt er sich schon lange vor seiner Ankunft gerade von der Zeitvergessenheit seines Kindes provoziert: „Ich bin nicht bereit, mich auf sein Zeitempfinden einzulassen. Ich gestehe ihm nicht einmal zu, dass er ein eigenes Zeitgefühl hat. Insofern bin ich alt. Es gibt für mich nur eine Zeit, und darin, wie sich herausstellt, bewegt er sich nicht sicher.“556

Keinen Einkaufsbummel will der Vater dem Sohn gönnen, da sein „Zeitsinn“ dagegen „rebelliert“: „Selbst wenn absolut nichts zu tun ist an diesem Tag und es keinen Grund gibt, auf die Uhr zu schauen – ich bringe es nicht fertig, meine Zeit so unbekümmert zu verschwenden.“557 Doch auch bei von Düffel präsentiert sich das Diktat der Zeitnutzung unter veränderten Vorzeichen; denn auch hier dient die Beschleunigung eigentlich einer Auslöschung des Zeitempfindens, zielt auf den Übergang der Raserei in die Gleichförmigkeit einer leeren Bewegung und damit letztlich in Gedächtnisverlust und Stasis. Die Absicht des Protagonisten besteht keinesfalls darin, durch seine Nutzung der Zeit eine Existenz aufzubauen, sondern – wie bereits auf der ersten Seite des Romans deutlich 554 555 556 557

Høeg 1999, S.290. Høeg 1999, S.246. Düffel, John von: Zeit des Verschwindens, Köln 2000 (a), S.106. von Düffel 2000 (a), S.105.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

wird – ganz im Gegenteil darin, in der Beschleunigung eine Gegenwartsfixierung zu erreichen, die Vergangenheit und Zukunft, mithin aber Identität selbst gerade auslöscht: „Für einen Moment Vatergefühle, dann ärgere ich mich, weil mir das alles heute einfallen muss und nicht morgen, wenn es zu spät ist. Meine Vergesslichkeit lässt mich im Stich.“558 Bald wird deutlich, dass es eine verlorene bürgerliche Existenz, eine längst zerbrochene Ehe ist, an die der Protagonist sich um keinen Preis erinnern möchte. Dabei ist es gerade die Einheit der Zeit, die innerhalb dieser Familie ihre Gültigkeit verloren hat: „Unser gemeinsames Gedächtnis funktioniert nicht mehr.“559 Die Zeitordnung des Spätkapitalismus ist bei von Düffel nicht mehr mit gesellschaftlich vorgeprägten Narrativen verknüpft, sondern erscheint eben als eine „Zeit des Verschwindens“, ein Auflösen von biographischen und historischen Modellen, von Kontinuität insgesamt in einem stetigen Auslöschungsprozess, in dem die Rhetorik des Nützlichen zur Karikatur verkommt. Das Subjekt erkennt hier nicht mehr seine Abhängigkeit von ihm fremden und äußerlichen Bedeutungsmustern, sondern findet sich in einer solipsistischen Vereinzelung wieder, in der die Auflösung aller Ordnungen und Orientierungen schließlich in die Konturlosigkeit einer zwar rasenden, aber letztlich einförmigen Bewegung führt, in der ein durch Inhalte, also durch Erinnerungen, Rhythmen, Pläne und Zielvorstellungen strukturiertes Gefühl der Zeit nicht mehr existiert. Im „sich lockernden Gefüge der Zeit“560, das während der nächtlichen Fahrt entsteht, scheinen jedoch abrupt und unkontrolliert auch die halluzinatorischen Erinnerungen an die verdrängte Vergangenheit auf. Die Erinnerung bricht sich also in jenem Moment Bahn, in dem die Zeitzwänge aufhören; die „im Interesse ökonomischen Funktionierens bekämpfte Vergangenheit“ behält in Form von „Traumatisierungen und Pathologien de facto Macht“ 561 über das Subjekt, dessen Erinnern und Wahrnehmen jedoch durch eine schleichende Ablösung von allen Referenzen verbürgter Wirklichkeit unterwandert wird. Der Vater imaginiert schließlich ein gelungenes Wiedersehen mit seinem Sohn, der vor dem Haus der Mutter auf ihn gewartet hat; zusammen machen beide einen Ausflug, nach dem das Verhältnis zwischen ihnen wieder hergestellt zu sein scheint. Doch als bei der Rückkehr die Polizei vor dem Haus steht und der Vater die Flucht ergreift, um die Harmonie zu wahren, stellt sich die Geschichte als Phantasie heraus: Auf der Rückbank, auf der der Junge geschlafen hat, „ist nichts“, der Griff des Vaters geht „ins Leere“.562 Der Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Verbindung zwischen den zerrissenen Lebensphasen ist nicht mehr herzustellen, sie bleibt das vollständig fiktive Phantasma eines isolierten, in sich zerrütteten Subjekts. Die gesellschaftliche Ordnung des Spät558 559 560 561 562

von Düffel 2000 (a), S.6. von Düffel 2000 (a), S.68. von Düffel 2000 (a), S.198. Kühn 2005, S.1062. von Düffel 2000 (a), S.205.

1. Die Krise der sozialen Zeit

147

kapitalismus prägt das Subjekt nicht länger, sondern überlässt es sich selbst; Orientierungen und Vorgaben werden konsequent verweigert. Die panisch erzeugten ‚Konstruktionen von Dauer‛ degenerieren im Gegenzug zu haltlosen Erfindungen; Identität selbst wird zu einer Fiktion, zu einem verhängnisvollen Selbstbetrug. Die vollständig entleerte und abstrahierte Zeit, in der von Düffels Protagonist seinen eigenen Angaben zufolge einzig noch existieren kann, verführt so zu einer permanenten Produktion von Geschichten, Zusammenhängen und Zeitzwängen, zu Schein-Orientierungen, die dem real gewordenen Nirwana der Entzeitlichung wieder Konturen verleihen sollen, die aber in Wirklichkeit nichts anderes sind als die phantasmatischen Projektionen eines Solipsisten. Die Imaginationen, Wahrnehmungen und Erinnerungen, die wie in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs ununterscheidbar werden, repräsentieren kein ‚anderes‛ Verhältnis zur Zeit mehr, sondern bringen nur schmerzhaft das Fehlen der „einen“ gesellschaftlichen Zeit zum Ausdruck. Wie charakteristisch diese Strategie situativer Kontinuitätserzeugung für die deutsche Gegenwartsliteratur ist, hat Sabine Sistig mit ihrer Analyse zum Zeitmotiv bei Peter Kurzeck und Wolfgang Hilbig – einem westdeutschen und einem ostdeutschen Autor – bereits beispielhaft dargelegt. Zeit erscheint bei beiden Schriftstellern als jene Schnittstelle, an der die notwendige Vermittlung zwischen Gesellschaft und Subjekt misslingt oder ausbleibt: Da Staat und Gesellschaft keine festen Rhythmen und Abläufe mehr vorgeben, sehen sich die Individuen einer „Verwirrung im Zeiterleben“ ausgesetzt, die gleichermaßen eine „Bedrohung der Identitätsgenerierung“ darstellt.563 Die Helden kennzeichnen sich durch eine Unfähigkeit zur Entwicklung, die direkt aus dem Fehlen eines orientierungsstiftenden Maßstabs resultiert, der offenkundig mit Zeit assoziiert wird. Der internalisierte Zwang, unter dem um 1900 die Protagonisten noch zu leiden hatten, stellt in der ‚Postmoderne‛ das Subjekt so offenbar gerade durch sein Fehlen vor neue Herausforderungen. Die Verwirrungen, in die sich etwa das Protagonisten-Ensemble in Kurzecks Roman Keiner stirbt immer wieder verheddert, sind deshalb sowohl durch Probleme der ‚objektiven‛ Datierung vergangener Ereignisse oder sogar der Gegenwart, als auch durch ein dissoziiertes ‚subjektives‛ Zeitgefühl charakterisiert, in dem sich Erleben, Erinnerung und Phantasie beständig vermischen: „Es ist kühl, es ist still, seit zwölf Jahren schon Abend im Haus. Von Fenster zu Fenster geht er, von Spiegel zu Spiegel, treppauf und treppab (es kommt ihm wie gestern vor: als sei dies der gestrige Tag, so kommt es ihm jederzeit vor). [...] Mit offenen Augen, dicht an der Wand, er hat seinen Namen vergessen und träumt sich als Mumie, als Pharao. Welches Zeitalter?“564

563 564

Sistig 2003, S.20. Kurzeck 1990, S.23.

148

II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

In der Suche der Protagonisten nach einer einheitlichen Zeit, durch die ihrer Identität wieder Stabilität zu verleihen wäre, kommt für Sistig in erster Linie ein anachronistischer Zug zum Ausdruck. Ein durch Einmaligkeit gekennzeichnetes Identitätskonzept finde sich hier mit der Erkenntnis der eigenen Abhängigkeit von gesellschaftlichen „Identitätsgaranten“565 konfrontiert, sei jedoch nicht in der Lage, nach dem Entzug dieser Stütze durch die Gesellschaft eine neue Technik der Selbstfindung zu entwickeln. Die „Identitätsstiftung über ein Sinngebäude“566 bleibe das rückwärtsgewandte Ideal der Protagonisten, deren Tätigkeit Sistig als „aktive Materialbeschaffung“ für dieses „übergeordnete Sinngebäude“567 beschreibt. Dabei entsteht insbesondere in Kurzecks Roman das Problem, dass das Gedächtnis als einziger Garant der sinnvollen Biographie zu jeder Zeit in der Lage sein muss, die Vergangenheit in toto zu rekonstruieren, denn: „Wenn ich mich nicht erinnere, ist der Tag nicht gewesen.“ 568 Wie Sistig darlegt, versuchen Kurzecks Protagonisten deshalb jede Gegenwart immer schon aus der virtuellen Perspektive einer antizipierten Zukunft zu betrachten, in der sich die Fragmente schließlich zu einem Ganzen zusammenfügen sollen. Offenkundig aber scheitert die freie Konstruktion des Lebenszusammenhangs mit Verlässlichkeit: Die diffusen Ereignisse und Episoden lassen sich hier nicht mehr ordnen; das Subjekt reproduziert – im Unterschied zu den Protagonisten der literarischen Moderne – keine linearen Strukturen mehr, sondern nur noch das Chaos einer Gesellschaft, in der es keine Ordnungen und Vorgaben mehr gibt. Doch wird der Versuch einer sinnstiftenden Konzeption von Kontinuität deshalb nicht eingestellt, sondern ständig von Neuem in Angriff genommen: „[...] mit aller Kraft den geliehenen Wecker stellen und morgen um sieben Uhr früh als letzten Versuch mit sich noch einmal ein neues Leben anfangen, wie denn anfangen?“569 Ganz ausdrücklich ist es dabei eine „neue Zeitrechnung“570, die Kurzecks Romanfiguren auch in anderen Werken immer wieder zu etablieren versuchen. So entsteht nahezu notwendig jener von Hartmut Rosa beschriebene situative Wandel, in dem Verlauf und Richtung der historischen und biographischen Zeit, ihr Rhythmus und ihr Sinn nicht mehr die Logik des Wandels konturieren, sondern diesem selbst unterliegen. Die Protagonisten verirren sich in einer endlosen Folge von Zäsuren und Neuanfängen, indem sie immer wieder „aus dem alten Leben in ein neues zu fliehen“ versuchen, dabei aber fortgesetzt ihre „Biographie [...] zerteilen [...], um [...] vor der unbefriedigenden Gegenwart und Vergangenheit zu fliehen.“571 565 566 567 568 569 570 571

Vgl. Sistig 2003, S.68f. Sistig 2003, S.69. Sistig 2003, S.97. Kurzeck 1990, S.148. Kurzeck 1990, S.118. Kurzeck, Peter: Übers Eis, Frankfurt a.M. 2001, S.65. Sistig 2003, S.112.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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„Die Nutzlosigkeit des dargestellten Mechanismus der Zerstückelung des Lebenswegs wird bereits darin sichtbar, dass die Abspaltungstechnik ständig wiederholt werden muss, da sie nie von Erfolg gekrönt ist. Das Telos stellt sich immer wieder von neuem als enttäuschend heraus, so dass ein viziöser Zirkel in Kraft gesetzt wird, der aus stetigem Hoffen auf das ersehnte Sinnmodel, Zweifel und dem Verdrängen dieser Zweifel besteht [...].“572

So auffällig wie in Keiner stirbt findet die Zeitmotivik in den meisten Werken Peter Kurzecks Verwendung. Ein anderes Beispiel hierfür ist Übers Eis, der erste Band eines groß angelegten, autobiographischen Romanprojekts. Auch hier geht es – infolge einer gescheiterten Beziehung – um den Versuch eines Neuanfangs. Dass die persönliche Problematik dabei auch als Zusammenbruch der Institution Familie und der ihr integralen Zeitstrukturen verstanden werden kann, wird deutlich, wenn der Protagonist in der Rückschau Frau, Kind und sich selbst als „verspätete Heilige Familie“ bezeichnet, „vier oder fünf Tage und ein paartausend Jahre zu spät dran, das falsche Land und das falsche Jahrhundert.“ 573 Seine Vereinsamung wird den ganzen Roman hindurch von einem Rätseln über „die Zeit“ begleitet: „Die Zeit, ja, die Zeit“, heißt es da etwa tiefgründig, und Fragen werden gestellt wie: „warum denn so eilig die Zeit?“,574 „wem gehört denn die Zeit?“575 und so fort. Doch bleiben die Überlegungen ohne Antwort; die Zeit wird zu einem ins Endlose variierten und wiederholten Dauermotiv in einem sprunghaften, unkontrollierten Monolog, dessen Einsichten banal bleiben: „Sie bleibt ja nicht stehen, die Zeit.“576 Das obsessive Gerede, die permanente Verwunderung über die Zeit lässt das Fehlen eines temporalen Konzeptes, einer zeitlichen Organisation des Lebens deutlich werden. Wie schon die Figuren aus Keiner stirbt überprüft auch der Protagonist von Übers Eis ständig die Uhrzeit577, hätte am liebsten sogar permanent „drei oder vier oder zehn Uhren um mich her aufgestellt“578 – je mehr, desto besser. Es zeigt sich hier ein Bedürfnis nach Rhythmisierung, nach einer verlässlichen, äußeren Zeitordnung, die die eigene Isolation bekämpfen soll. Der Wunsch nach einer „menschliche[n] Stimme, die mir die Zeit sagt“ 579, lässt deutlich werden, dass die Suche nach einem „Platz in der Zeit“ in Wirklichkeit auch die Suche nach der verlorenen Nähe, nach einem gemeinsam geführten Leben beinhaltet: „Am besten, du buchstabierst: eine S-u-i-t-e mit Sylvesternacht, also bis zum Neujahrsmorgen oder gleich noch ein Jahr. Gleich Jahre und Jahre im voraus. 572 573 574 575 576 577 578 579

Sistig 2003, S.113. Kurzeck 2001, S.254. Kurzeck 2001, S.37. Kurzeck 2001, S.137 & S.140. Kurzeck 2001, S.38. Vgl. Sistig 2003, S.107. Kurzeck 2001, S.316. Kurzeck 2001, S.217.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur Egal was es kostet. Hätten uns dauerhaft Plätze, einen Platz, Zeit, Gegenwart, Leben, ein Existenzrecht, einen Platz in der Zeit, als Reservierungen für zwei Erwachsene und ein Kind. Notieren Sie die Reservierung! Und gleich: Bezahlt! dazuschreiben!“580

Da selbst der Mikrokosmos Familie zerbrochen ist, muss das vereinsamte Individuum die zerfallene Zeitordnung sich selbst immer wieder mühsam von Neuem synthetisieren, so wie es sich eine Biographie, einen zeitlichen Ablauf erfinden muss, der der isoliert wahrgenommenen Gegenwart Sinn verleiht: „Dir Tag und Augenblick, dir jede Einzelheit vorsagen und zusammensammeln, als ob du die Welt dir erst noch ausdenken müsstest. Und immer neu sie dir ausdenken, immer wieder.“581 So wird dem Protagonisten bald jedes Mittel recht, um sein Leben zu rhythmisieren: „Ich rauchte ununterbrochen, ich trank die ganze Zeit Espresso und Cola gleichzeitig, damit ich ein Maß dafür, damit ich merke, wie die Zeit vergeht.“582 Diese Maßnahmen schaffen aber immer nur ein subjektives Zeitempfinden, sie sind für den Austausch mit anderen unbrauchbar. Da es für den Protagonisten keine glaubhafte, offizielle Zeit mehr zu geben scheint, reicht ihm, als er einmal seine Uhr vergisst, deshalb auch nicht mehr der Blick auf die „amtliche Uhr“ am Theaterplatz, deren Autorität ohnehin infrage steht („Es ist doch eine amtliche Uhr oder nicht?“): Die „Einheitlichkeit“ muss durch Abgleich mühsam hergestellt werden, indem jeder Einzelne nach seiner eigenen Uhrzeit befragt wird: „Und zur Sicherheit jeden Passanten auch nach der Uhrzeit. Wenigstens alle, die einen zuverlässigen Eindruck. Mitteleuropa. Normalzeit. Außerdem hierherum noch mindestens drei Reklameuhren, drei oder vier. Auch Digitaluhren, sogar auch mit Datum und Temperatur.“583

Der Unterschied zu Kafkas gehetztem Protagonisten, der seine Uhr vergeblich nach der unnachgiebigen Turmuhr zu stellen versucht, könnte nicht größer sein. Wie die „Straßen, die Schuhe, die Sohlen, die Gelegenheiten, die Städte“ geht bei Kurzeck auch „die Zeit [...] nach und nach [...] kaputt und zum Teufel“584, wird nur noch künstlich und vorübergehend wieder hergestellt durch aufwendige Revitalisierungsbemühungen der Individuen selbst. Das Misstrauen gegenüber dem subjektiven Zeitempfinden ist durchaus berechtigt, denn immer wieder scheint es völlig aus der Bahn zu geraten, ohne dass eine Möglichkeit existierte, es wieder zu ‚justieren‛. Dabei stehen zwei gegensätzliche, jedoch gleichermaßen bedrohliche Zeitwahrnehmungen in Übers Eis unvermittelt nebeneinander: Einerseits scheint die Zeit zu rasen, aus einer Folge unverarbeitbarer 580 581 582 583 584

Kurzeck 2001, S.30. Kurzeck 2001, S.142. Kurzeck 2001, S.42. Kurzeck 2001, S.79. Kurzeck 1990, S.264.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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Eindrücke zu bestehen – „Mensch, und immer schneller die Zeit!“585, „Wie die Zeit vergeht! Wie die Tage sich drängen!“586 –, andererseits kommt die Zeit immer wieder „zum Stillstand“587, verlieren sich die Tage in einförmiger, zirkulärer Nichtigkeit. So scheint es nach ein paar Wochen schon „jahrelang Winter“588 zu sein, und ironisch identifiziert sich der Protagonist einmal mit Erich Maria Remarque und dem Titel seines Hauptwerks: „Als ob immer wieder der Krieg gerade zuende und ich jedes Jahr einmal Im Westen nichts Neues. Erst nur im Westen, dann der Reihe nach alle Himmelsrichtungen.“589 Der Widerspruch – und mit ihm die Unfähigkeit, aus eigener Kraft die Zeit wieder in Funktion treten zu lassen – wird zuletzt augenfällig: „Wie sie vorher gerannt und gerannt ist und jetzt wieder langsam die Zeit – oder umgekehrt?“590 Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die ambivalente Position der Gegenwart. In Keiner stirbt scheitert Sistig zufolge der Versuch einer aus eigenen Kräften reanimierten Zeit immer wieder an der „Hier-Ich-Jetzt-Deixis“591 der Protagonisten: Was nicht unmittelbar wahrgenommen wird, erscheint ihnen bereits grundsätzlich von der Nichtexistenz bedroht. Doch ist „die Gegenwart“ auch „nicht einfach bloß jetzt“592, wie es dort heißt, sie ist auch der Ort, an dem die Erinnerung stattfindet. Diese jedoch vermag keine Illusion einer Entwicklung mehr zu erzeugen, denn wie die Wahrnehmungen ist jedes Erinnerungsbild selbst immer nur im gegenwärtigen Moment des Einfalls real, dadurch aber selbst eher Bestandteil der Gegenwart als der Vergangenheit und nicht mehr als Element einer geordneten, zusammenhängenden Chronologie interpretierbar. Nicht mehr wird – wie in den Romanen der klassischen Moderne – die Gegenwart durch Vergangenheit und Zukunft tendenziell überlagert, vielmehr wird sie als dominierender Zeitmodus empfunden. Mit Gegenwärtigkeit verbindet sich jedoch nicht länger eine Rückkehr zur Ursprünglichkeit authentischer Erfahrung, sondern die Panik eines Herkunfts- und Perspektivverlustes. In Keiner stirbt erscheint die Erinnerung so als unglaubhafte Fiktion, die einer abgespaltenen und daher tendenziell gedächtnislosen Gegenwart als mühsam idealisierte Sphäre der Sinnkonstitution entgegengestellt wird: „Vergangenheit. Sorgen hast du nicht gekannt. Jeder Wein war der beste Wein. Oft bist du steinreich gewesen. Jahr und Tag lächelnd herumspaziert, Jahr und Tag mühelos von einem Traum in den anderen gewechselt und immer wieder gekommen. Jetzt hier [...] dein Name, wer du gewesen bist oder sein solltest,

585 586 587 588 589 590 591 592

Kurzeck 2001, S.254. Kurzeck 2001, S.137. Kurzeck 2001, S.209. Kurzeck 2001, S.198. Kurzeck 2001, S.94. Kurzeck 2001, S.316f. Sistig 2003, S.93. Kurzeck 1990, S.108.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur das will dir heute, das will dir jetzt nicht und nie mehr einfallen, nicht ums Verrecken.“593

Auch in Übers Eis gibt es solche Momente einer unglaubwürdig und unsicher werdenden Vergangenheit, die gelegentlich sogar wie geträumt erscheint. Die Zeit – und mit ihr Vergangenheit, Identität, Wirklichkeit – können sich mit jedem ‚Erwachen‛ ändern: „Aufwachen jetzt, bald aufwachen! Und sehen, wer du diesmal bist und wie es dazu gekommen ist. Ort und Zeit, das alte Jahrhundert. Dein Leben und ob du es wiedererkennst?“594 Gleichzeitig aber ist der in Nostalgie versunkene Protagonist nicht in der Lage, sich von den Erfahrungen der ‚alten Zeit‛ vor dem Ende seiner Beziehung und dem Beginn der „neuen Zeitrechnung“ zu lösen. Die Erinnerungen verfolgen ihn vielmehr überall und erzeugen in ihm immer wieder eine bildhafte Dominanz der Vergangenheit, so dass die Hoffnung auf eine neue Zeitrechnung, die bei Kurzeck erstaunlicherweise ganz ausdrücklich mit der Zeit der Uhren und Kalender assoziiert wird, als Flucht vor den Erinnerungen, vor der ‚subjektiven Zeit‛ gesehen werden muss: „Dein ganzes Leben schleppst Du mit dir mit. [...] Schnell gehen und weit in die Ferne den Blick: anders hältst du dein Leben nicht aus.“595 Im Gegensatz zu den meisten Autoren der klassischen Moderne geht es bei Kurzeck also nicht um eine Aufwertung des subjektiven Zeiterlebens, sondern um das Problem, das dieses eine neue, unheilvolle Dominanz erlangt hat. Die verzweifelte Hoffnung formuliert sich indes wie folgt: „Die letzten Tage, die Zeit ist vergangen, das hätte nicht sein müssen! Dies und das wollten wir und vergessen, das auch vergessen! Diesjährig die Pflaumen, die Äpfel probieren und den Kalender durchblättern beizeiten. Besinnung, ein Feuer anzünden, Schätze vergraben, einen Schatz suchen und so manchen versunkenen Ort, um uns wiederzufinden, uns und am Ende die Zeit.“596

Die Beispiele zeigen, dass in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur insbesondere die soziale Zeit – verstanden historisch-gesellschaftlicher Kontext, durch den Handlungen innerhalb dieser Gesellschaft mit Bedeutung versehen werden können –, an Selbstverständlichkeit verloren hat.597 Soziale Zeit bleibt zwar von individueller unterschieden, hat sich jedoch offensichtlich selbst in eine Gleichzeitigkeit heterogener Zeitvorstellungen aufgespalten, die unvermit593 594 595 596 597

Kurzeck 1990, S.108. Kurzeck 2001, S.149. Kurzeck 2001, S.171. Kurzeck 1990, S.272. Auch in der englischsprachigen Gegenwartsliteratur lässt sich eine vergleichbare Problematik nachvollziehen. Vgl. etwa Paul Smethursts Analysen zu Peter Ackroyd und Ian McEwan: Smethurst 2000, S.173ff.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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telt nebeneinander existieren. Ansgar Nünnings Erkenntnisse zur englischsprachigen Literatur lassen sich auf die deutschsprachige in dieser Hinsicht übertragen: „Es ist gerade diese Einsicht in die Vielschichtigkeit und historische Variabilität der Zeit, die für viele Romane der Gegenwart charakteristisch ist und die durch die wechselseitige Überlagerung unterschiedlicher Zeitebenen, Zeiterfahrungen und Zeitvorstellungen hervorgehoben wird. Diese simultane Koexistenz verschiedenartiger, nebeneinander existierender ‚Eigenzeiten‛, die systemspezifisch bedingt sind und als komplementäre Aspekte menschlicher Zeitund Wirklichkeitserfahrung präsentiert werden, erscheint in zeitgenössischen Romanen als eine für die Postmoderne besonders kennzeichnende Form des Zeitbewusstseins.“598

Im Unterschied zu vielen englischsprachigen Romanen werden in der deutschsprachigen Literatur die Veränderungen der Zeitstrukturen jedoch deutlich als Krisenerfahrungen markiert. Denn indem mit der Zeit auch der Rahmen für individuelle Persönlichkeitsentwürfe erodiert, gerät das Subjekt in eine grundsätzliche Identitätskrise: Psychologische Zeit kann sich offenbar nicht kontextlos entwickeln; sie bedarf der Einordnung in einen stabilen Rahmen. Als Resultat der Auflösung einer verbindlichen historischen Chronologie ergibt sich deshalb zwangsläufig die Isolation der Individuen, deren Versuche der Kontinuitätserzeugung immer referenzloser werden und deshalb immer stärker mit denen der anderen kollidieren. Flucht oder Rebellion sind hierbei ausgeschlossen, da sie sich in einer endlosen Folge versuchter Neuanfänge verlieren. Die durch das Subjekt entworfenen ‚Konstruktionen von Dauer‛ sind nur noch ‚Fiktionen‛, bringen aber keine Freiheit zum Ausdruck, sondern nur die Isolation der Individuen, die nicht nach einer ‚anderen‛, sondern nach der ‚offiziellen‛ Zeitordnung suchen. Zeit selbst jedoch erscheint zunehmend als regelloser, unverbindlicher Wandel, der mit von Düffel treffend als Zeit des Verschwindens bezeichnet werden kann.

1.2. Die kaputten Uhren der Stunde Null. Literarische Zeitreflexionen zu den historischen Zäsuren von 1989 und 1945. „Der Rückzug der Sowjetunion aus der Konkurrenz der östlichen und westlichen Hemisphäre bedeutet das Auslaufen der Zeitordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegolten hat“599, resümiert Lothar Baier in einem mit dem provokanten Titel Volk ohne Zeit überschriebenen Essay bereits im Jahr der Wiedervereinigung. Die beiden Ideologien des Kalten Kriegs erscheinen ihm in erster Linie als Zeitideologien, wobei sich infolge der Ereignisse des Jahres 1989 598 599

Nünning 2002, S.418. Baier 1990, S.12.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

der Konflikt zwischen „strategisch-ideologischer“ und „ökonomischer“ Uhr zugunsten der letzten entschieden habe. Fortan werde deshalb in rasender Geschwindigkeit zunehmend „Geld mit Zeit identisch“.600 Die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die Deutschland durch diesen Prozess auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze erlebt, beschreibt Baier als Symptome einer neuen Herrschaftsform, die sich insbesondere dadurch kennzeichne, dass sie sich vom geopolitischen Raum-Paradigma früherer Jahrhunderte gelöst habe. Macht werde nun durch Beschleunigung hergestellt, während Raum als materielles Hemmnis dieser Beschleunigung durch Zeit vernichtet werde. Als Verlierer des Zweiten Weltkriegs von allen geopolitischen Ansprüchen kuriert, erscheint Baier die Bundesrepublik Deutschland als prädestinierter Protagonist dieser neuen „Chronopolitik“, die den „stofflichen Widerstand“ des Raumes durch Geschwindigkeit aufgehoben und alle „Eigenheiten des Raums absorbiert“ habe.601 Für die Bewohner der neuen Bundesländer aber bringe der radikale Bedeutungszuwachs der Zeit einen tiefgreifenden, kaum zu verarbeitenden Wandel mit sich: „Die expandierende Zeit des Westens strömt mit unerhörtem Zischen durch die plötzlich geöffneten Ventile in die bisher verschlossenen Räume des Ostens wie in eine undicht gewordene Unterdruckkammer.“602 Durch die Überwindung des ideologischen Konkurrenten werde nicht nur die kapitalistische Wirtschaft, sondern mit ihr auch das westliche Zeitparadigma in einem bislang unbekannten Ausmaß entfesselt. Obgleich es für Baier selbstverständlich zu sein scheint, dass die ökonomische Zeitordnung immer nur eine linearzeitliche sein kann, die sich lediglich von den noch lange nachwirkenden zyklischen Zeitkonzepten früherer Epochen radikal abhebt, konstatiert er dennoch auch eine Veränderung der Gestalt der Zeit selbst, die im Zuge von Beschleunigung und Ausweitung ihrer Herrschaft vor sich gehe: „Die Vernichtung des Raumes durch die Zeit lässt die Zeit selbst nicht unberührt, lässt etwas von der Gleichgültigkeit des vernichteten Raums auf die Zeit übergehen. Statt sich mit der Substanz zu füllen, die sie dem Raum entzogen hat, entgeht sie selbst nicht dem Prozess der Entleerung und Abstraktion. Auf die Umlaufbahn der Waren gebracht, droht das Bewusstsein der Zeit eben das Bewusstsein von der Zeit zu verlieren, selbst zu verzeitlichen [...]. In einem anderen Sinn als Kant es dachte, gehört die Zeit zu den Bedingungen, die sinnliche Wahrnehmung konstituieren und, so wie Zeit sich transformiert, in ihrer Konstitution unmerklich, aber einschneidend, verändern.“603

Dass das Zeitbewusstsein im wiedervereinigten Deutschland in Wirklichkeit eher von situativen Mustern dominiert wird als von linearzeitlichen, wird bei Baier spätestens dort klar, wo er die Ablösung des Fortschrittsdenkens durch 600 601 602 603

Baier 1990, S.13. Baier 1990, S.23f. Baier 1990, S.25. Baier 1990, S.25.

1. Die Krise der sozialen Zeit

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das Konzept der „Entwicklung“ reflektiert. Die neue deutsche Raserei laufe nämlich auf kein Ziel mehr zu, sie entwickele sich vielmehr richtungslos und entkoppelt von allen gesellschaftlichen Vorgaben oder Vorstellungen von Aufstieg oder Verfall. Das Zeiterleben scheint Baier deshalb durch einen sich stetig beschleunigenden Wandel „ohne Plan und ohne Zukunft“604 geprägt. Das Subjekt verliere dadurch jeden „Rückhalt“: „Die sich beschleunigende Zeit dieser Gesellschaft zerstört laufend die subjektive Erfahrung der Kontinuität des Zeitverlaufs. Einmal erworbenes, auf die Zukunft gerichtetes Wissen verliert immer schneller seinen Wert, der Rückhalt, den die Verankerung in gesicherten Erfahrungen verleiht, schwindet mit der Entwertung gesammelter Erfahrungen dahin. In dem Maße, in dem die gleichmäßige Akkumulation der Zeit auseinanderfällt, verliert die Vorstellung von Fortschritt ihre Erfahrungsgrundlage. Was sich akkumuliert, sind die Brüche und die abrupten Wechsel, so dass sich die Erfahrung der Diskontinuität an die Stelle der Kontinuität setzt.“605

Ganz umstandslos verortet Baier das „Gleichmaß“ der Zeit also auf Seiten des Subjekts, während Diskontinuität als Folge der sozialen Beschleunigung erlebt wird. Baiers Beobachtungen belegen damit, dass die Veränderungen, die im Zuge der Wiedervereinigung stattgefunden haben, jenseits der politischen Dimension auch auf einer tieferen Ebene Wirkungen entfaltet haben, wobei als ein zentrales Element dieser Tiefenschicht der Wende ein Wandel im Bewusstsein und Umgang mit der Zeit gefasst werden kann. So verwundert es nicht, dass, wie vor allem Frank Thomas Grub gezeigt hat, auch in der literarischen Auseinandersetzung mit den Folgen der Wiedervereinigung immer wieder ausdrücklich über Zeit reflektiert wird.606 So lassen sich bei vielen Autoren der unmittelbaren Nach-Wende-Zeit Symptome temporaler Desorientierung ausmachen, die auf einen Gegensatz zwischen ost- und westdeutschem Zeitempfinden und eine nach wie vor unvollständige gesamtdeutsche Synchronisation hinweisen. Die Einheit wird dabei nicht selten als regelrechter Zeitbruch empfunden, als „Augenblick der Schwärze“, dem „klackernd das Wunder des Weiterrückens des großen Zeigers“607 604 605 606

607

Baier 1990, S.80. Baier 1990, S.81. „Von übergeordneter Natur ist das in der Literatur über ‚Wende‛ und ‚Einheit‛ allgegenwärtige Zeitmotiv, dessen Stellenwert sich bereits an zahlreichen Titeln ablesen lässt, beispielsweise von Heinz Kahlaus (*1931) Gedicht Jahrestag (1992) oder Friedrich Dieckmanns (*1937) Essay Die Suche nach der verlorenen Zeit (1990). Insbesondere bei Romanen, deren erzählte Zeit nicht erst 1989 einsetzt, sondern 1945 oder noch früher, ist das Zeitmotiv von zentraler Bedeutung.“ Grub, Frank Thomas: ‚Wende‛ und ‚Einheit‛ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Bd. 1: Untersuchungen, Berlin / New York 2003, S.619. Rosenlöcher, Thomas: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, Frankfurt a.M. 2000, S.13.

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folgt. Die Abstimmung zwischen den Zeit-Systemen der DDR und der BRD gestaltet sich auch deshalb als schwierig, weil schon das kommunistische System mit dem Anspruch angetreten war, eine ‚neue Zeit‛ einzuleiten. Der Mythos einer neuen ‚Stunde Null‛, der nach 1989 insbesondere auch für die literarische Auseinandersetzung in Deutschland medienwirksam inszeniert wird608, erscheint so von vornherein als konstruiert. Wie etwa an Thomas Rosenlöchers „Harzreise“ Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern deutlich wird, unterminiert insbesondere das historische Nebeneinander zweier ‚Stunden Null‛ innerhalb nur eines halben Jahrhunderts jedes Gefühl nicht nur für Fortschritt, sondern für Kontinuität insgesamt: „Schon einmal, vierzig Jahre lang, hatte die Aktentasche von Anfangsschwierigkeiten gesprochen. Was einem die Weltgeschichte aber auch abverlangte! Ausgerechnet die neue Zeit war plötzlich die alte geworden! Während die alte Zeit, die längst überwunden war, plötzlich als neue Zeit neue Anfangsschwierigkeiten machte.“609

Der Aufbruch ins Neue, der optimistische Blick in die Zukunft eines freien Deutschlands wird von vielen ostdeutschen Autoren konsequent verweigert, erscheint als Ausdruck eines ideologischen Zeit-Bildes, das mit der Wende insgesamt anachronistisch geworden ist. Dabei wird die vergangene ‚neue Zeit‛ jedoch keineswegs idealisiert. Vielmehr war schon das Zeitgefühl, das durch die DDR-Ideologie geprägt wurde, offensichtlich in sich widersprüchlich. Einerseits durch die Fortschrittsideologie mit einem linearen Zeitmodell assoziiert – die „Normaluhr war stehengeblieben“610, wie es bei Rosenlöcher bezüglich der Wende heißt –, hat auf der anderen Seite die angesichts des realen gesellschaftlichen Stillstands in der DDR himmelschreiende Unglaubwürdigkeit der Parteipropaganda bereits lange vor 1989 zu einer regelrechten Entwertung der Zeit beigetragen. Für Helmut Böttiger ist es deshalb in erster Linie die „Erfahrung, wie Geschichte plötzlich wieder in einen vermeintlichen Stillstand hereinbrechen kann“, die zu der Entstehung „unmittelbar zeitgenössische[r] Texte“ nach der Wende führt.611 Insbesondere Wolfgang Hilbig hat dieses in seinen Symptomen mit dem ‚Posthistoire‛ verwandte Gefühl des Stillstands, welches das Leben in der DDR kennzeichnete, in seinen Werken inszeniert. So findet der Protagonist seines Romans „ICH“ einmal an der Seite eines Bahnhofs „eine große Normaluhr, die entweder stehengeblieben war oder völlig falsch ging“, sogar „ganz und gar ausgerastet“ zu sein scheint „aus der MEZ, zu langsam, zu schnell, überhaupt 608

609 610 611

Vgl. Welzel, Klaus: Utopieverlust – die deutsche Einheit im Spiegel ostdeutscher Autoren, Würzburg 1998, S.33. Rosenlöcher 2000, S.16. Rosenlöcher 2000, S.13. Böttiger, Helmut: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Wien 2004, S.11.

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nicht, völlig unbrauchbar für menschliches Ermessen.“ Anders als bei Rosenlöcher hat allerdings nicht die Wiedervereinigung den Defekt der Uhr herbeigeführt: „Sie war schon lange außer Kraft gesetzt, diese Uhr, vielleicht seit jenem 13. August 1961.“612 Noch deutlicher ist ein Absatz aus Die Kunde von den Bäumen, den auch Grub zitiert: „Wir haben in einem Land gelebt, abgeschnitten, zugemauert, in dem wir auf die Idee kommen mussten, dass die Zeit für uns keine wirklich relevante Größe war. [...] Das Vergehen der Zeit existierte für uns nur auf irgendeinem verwelkten Kalenderblatt, das mit irgendeinem lausigen witzigen Vierzeiler bedruckt war [...].“613

In „ICH“ wird das verwirrte Zeitbewusstsein, das immer wieder ganz ausdrücklich auch als Unvermögen zu einer geordneten Erinnerung erscheint, als Folge der Abhängigkeit des Subjekts von einer unglaubwürdigen Gesellschaft dargestellt, die trotz ihrer fehlenden Authentizität jedoch den einzigen verfügbaren Bezugrahmen liefert.614 Die Staatssicherheit, für die der Protagonist mit dem Decknamen Cambert arbeitet, erzeugt offenbar ganz bewusst ein nebulöses Netz scheinbarer Kausalitäten und Zusammenhänge, das jedoch aufgrund ständiger Änderungen und Neukonstruktionen bald jede Bedeutsamkeit einbüßt und „als ein undurchdringliches Gewebe von Simulation“615 erscheint. Für Sabine Sistig ergibt sich hierbei eine Parallele zu der bereits bei Kurzeck festgestellten Struktur ständiger Neuanfänge, die niemals zu einer abschließenden Ordnung führen – nur mit dem Unterschied, dass die Verwirrung hier durch den Staat selbst herbeigeführt wird: „Sie brauchten ihn möglichst an verschiedenen Orten zugleich, sie brauchten ihn möglichst zu verschiedenen Zeiten zugleich: dies war nur möglich, wenn den Zusammenhängen ihre Zeitabläufe im Nachhinein aufgestülpt wurden: damit verwandelte sich das Leben in eine Theorie: scheinbar war in seinem Innern eine Struktur, die damit gut zurecht kam.“616

Die „irrsinnige Uhr“617 des kalten Krieges erzeugt eine Indifferenz gegenüber den Ereignissen, die zielgerichtetes Handeln unmöglich werden lassen soll. Die Chefs, mit denen Cambert zu tun hat, verfolgen immer wieder die Absicht, jedes Finaldenken seitens der Mitarbeiter auszuschließen, die Bevölkerung des Landes vielmehr in einem ständigen, potenziell endlosen Spiel gefangen zu halten, in dem gesellschaftliche und individuelle Entwicklung arretiert sind. Ohne 612 613 614 615 616 617

Hilbig, Wolfgang: „Ich“, Frankfurt a.M. 1995, S.338. Hilbig, Wolfgang: Die Kunde von den Bäumen, Berlin 1992, S.41. Vgl. Sistig 2003, S.73. Hilbig 1995, S.62. Hilbig 1995, S.107. Hilbig 1995, S.339.

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klare zeitliche Modellierung gerät das „Ich“ zu einer diffusen Vielgestaltigkeit aus lauter orientierungslosen, da an den jeweiligen Moment gebundenen Doppelgängern, die sich weder mit einer Vergangenheit noch mit einer Zukunft verbunden fühlen und so bloß noch depressiv vor sich hin dämmern. Wie ganz Berlin erscheint auch das Zeitbewusstsein Camberts als Labyrinth618, in dem „Erinnerung und gegenwärtige Realität zu einem diffusen Zeitgemisch“619 zusammenfließen. Demgegenüber wird der Zeit im wiedervereinigten Deutschland insbesondere von den ostdeutschen Autoren elementare Wichtigkeit attestiert. Grub stellt verschiedene Gedichte, Essays und Romane vor, die ähnlich Hilbig auf ostdeutscher Seite Phänomene von Stillstand und Zeitvergessenheit konstatieren, denen im Westen das Phänomen einer sich immer weiter beschleunigenden „rationellen [...] Zeitwirtschaft“620 entgegensteht. Dabei werden offenbar beide Systeme kritisiert: das östliche im Sinne eines Diebstahls an Lebenszeit, der von Christoph Dieckmann in der Formel „Die Zeit stand still; die Lebensuhren liefen“ auf den Punkt gebracht wurde621; das westdeutsche hingegen hinsichtlich seiner Hysterie einer ziellosen Beschleunigung und Temporalisierung der Lebensverhältnisse. Bei Rosenlöcher wird der Unterschied zwischen den temporalen Ideologien wieder durch die Uhr-Metapher veranschaulicht: „‚Ohne Uhr in den Wald?‛ Kopfschüttelnd schloss die Uhrmachersonne ihren Laden auf und verkaufte mir eine fast schon kostenlose Ruhlataschenuhr. Freilich musste das Grobchronometer erst gründlich geschüttelt werden; zu lange standen die Zeiger reglos, aber die eigentlich herrschende Zeit hatte die Uhr an sich selbst gemessen. An ihrer Rasselmechanik und ihrem Plattengehäuse: von vornherein überholt von den zeigerlosen, auf leisen Nummernsohlen daherkommenden Leuchtschriftuhren der digitalen, westlichen Welt: pulsierende Ziffern, auftauchend im Nu und wieder verschwindend ins Nichts. Als wäre die Zeit abgeschafft zugunsten des blinkenden Kurzaugenblicks. Wogegen die Planwirtschaftsuhr jede Weltsekunde erst mühsam herticken musste. Oder eben schon immer stillstand, verdrossen den Tag verwartend.“622

Die Digitalisierung wird hier einmal mehr mit der Abschaffung der Zeit gleichgesetzt. An den neuen Chronometern ist nicht mehr länger die Genauigkeit verblüffend, sondern die Vereinzelung des „Kurzaugenblicks“, der aus keinem mühsam herbeigetickten Zusammenhang mehr resultiert, sondern Autarkie beansprucht. Die Überlegenheit begründet sich dabei durch die Geschwindigkeit, mit der die von jeder Geschichte befreiten Augenblicke auftauchen und verschwinden. 618 619 620 621 622

Das spiegelt sich auch in der Erzählweise. Vgl. Sistig 2003, S.44f. Hilbig 1995, S.55. Vgl. Baier 2000, S.10f. Zitiert nach Grub 2003, S.633. Rosenlöcher 2000, S.36f.

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Das neue, digitale Zeit-Regime negiert tendenziell den Zusammenhang zwischen den beiden Phasen der deutschen Geschichte. Die DDR-Vergangenheit wird kurzerhand zum Fremdkörper innerhalb der Vergangenheit erklärt, die Möglichkeit jeder Kontinuität über die Zäsur der Wiedervereinigung hinweg grundsätzlich verbaut. Auf diese Weise ausgegrenzt, erscheint zumindest den ursprünglich ostdeutschen Protagonisten der Wende-Literatur die eigene Vergangenheit zunehmend als entfremdet. Ein Zitat Helga Königsdorfs, das Grub seinem Zeit-Kapitel als Motto voranstellt, spiegelt diese Problematik treffend wider: „Wenn gestern jemand gesagt hätte, morgen würde sein, was heute ist, ‚Wahnsinn!‛ hätte man nur erwidert. Die Zeit läuft. Schneller und schneller. Schon ist der Herbst neunzehnhundertachtzig nur noch Erinnerung. Eine unwirkliche Erinnerung. Als hätte man geträumt.“623

Insbesondere die Beschleunigung der Zeit im postkommunistischen Deutschland lässt ein Gefühl von Entwicklung und Zusammenhang, von ‚Geschichte‛ gar nicht erst aufkommen. Diese wirkt hingegen als Konzept insgesamt anachronistisch: Wie Kurt Drawert einmal festgestellt hat, kann historischer Sinn heute nur noch unter Bezugnahme auf überholte Geschichtssysteme hergestellt werden, wodurch es immer so scheine, „als wären die Ereignisse um Jahrzehnte nach hinten gefallen.“624 Die beiden deutschen (und auch europäischen) Zeitphilosophien existieren dabei nach Drawert als „Untote“ nebeneinander fort, befinden sich auch heute noch immer in einem unterschwellig beibehaltenen Kriegszustand: Beständig kollidieren „jene zwei Geschwindigkeiten von Geschichte [...], die dieses Jahrhundert hervorgebracht hat und die nur so lange sinnvoll waren, solange sie die Systeme in ihrer Autonomie regulierten und auf getrennte zeitliche Achsen verwiesen.“625 Die Gegenwart erscheint Drawert deshalb kontur- und uferlos, geprägt von einer Orientierungslosigkeit, die sich durch ihr hilfloses Ausschlachten der Vergangenheit nur selbst überführt: „Alle reden zeitgleich über alles, aber aus anderen Zeiten heraus und in anderen Formen der Zeit.“626 Die Sinnverbindungen, die vergangene Ereignisse und Gegenwart zu einem historischen Kontinuum formen sollen, haben sich pluralisiert und temporalisiert. Das wiedervereinigte Deutschland offenbart so ein paradoxes Szenario: Einerseits scheint das beschleunigte Leben ganz und gar von Zeit durchdrungen, ist ein scharfes Zeitbewusstsein der Schlüssel zu Erfolg und gesellschaftlicher Integration. Andererseits jedoch erscheint gleichzeitig jede Herstellung eines 623

624

625 626

Königsdorf, Helga: Unterwegs nach Deutschland. Über die Schwierigkeit, ein Volk zu sein: Protokolle eines Aufbruchs, Reinbek bei Hamburg 1995, S.7. Drawert, Kurt: Die Transparenz des Absurden, in: Ders. (Hg): Das Jahr 2000 findet statt. Schriftsteller im Zeitenwechsel, Frankfurt a.M. 2000 (b), S. 64-72, S.71. Drawert 2000 (b), S.69. Drawert 2000 (b), S.71.

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temporalen Kontinuums, jeder Versuch, der Zeit eine konkrete Form zu geben, als aussichtslos und anachronistisch. Am ehesten kann diese Zeitstruktur deshalb als Staccato unzusammenhängender Erlebniseinheiten gefasst werden, als pluritemporales Gebilde, das abwechselnd Gefühle der Atemlosigkeit und Bewegungslosigkeit, Zeitbewusstsein und Zeitvergessenheit erzeugt. Am Anfang von Rita Kuczynskis ebenso betiteltem, stark zeitreflexiven Roman schildert die Protagonistin eben diese Befindlichkeit wie folgt: „Die Tage, die nun vergehen, werden mir nicht fehlen. Ich werde nicht zurückfinden. Zu weit bin ich fortgetrieben. Zu lange hinter dem Rand. Je mehr ich mich bemühe, desto mehr entferne ich mich. Der Abstand wächst. Mitunter nimmt mir die Geschwindigkeit den Atem. Mitunter treibe ich Tage und Wochen auf ein und demselben Fleck. Ich komme keinen Millimeter voran. Zu lange schon weiß ich nicht mehr, wo Voran liegt.“627

Die kaputte Uhr als dominierende Metapher der neueren deutschen Literatur steht auch hier wieder für eine Zeitform, die sich nicht mehr takten lässt, die sich einem einheitlichen Maß verweigert. Auch bei Kuczynski lässt sich eine Dominanz des Gegenwärtigen und Situativen ausmachen, etwa wenn es heißt, dass, nachdem die Zeit „die moderne geworden war, [...] keiner mehr Sätze [brauchte], die über einen Augenblick hinaus gültig waren.“628 Wie in anderen Romanen müssen sich die Menschen auch hier eine eigene Zeit erschaffen, müssen ihr Leben von sich aus takten, wie es etwa „Timer“, ein Freund der Protagonistin, vorführt. Diese ist dem Verfall des einheitlichen Systems jedoch hilflos ausgesetzt, scheint ihn sogar physisch spüren zu können. Die Qualen, die der Lärm des zerbrechenden Zeitgefüges ihr bereiten, und die Orientierungslosigkeit, die sie in der neuen, in multiple Eigenzeiten zerfallenen Welt verspürt, verbergen dabei kaum noch ein nostalgisches Verhältnis zur untergegangenen Stabilität der Vorwende-Zeit: „Es gibt Tage, da höre ich, wie die Zeit zerfällt. Stunden in Minuten, Minuten in Sekunden. Ich höre eine Zeit ihr Maß aufgeben und Risse in den Zeiträumen entstehen. Ich höre die Risse größer werden und Klangräume ihr Volumen aufgeben. Räume, in denen ich Monate oder gar Jahre lebte. Verlieren sie ihr Maß, kann ein solcher Überdruck in der Zeit entstehen, dass er ganz höllisch in den Ohren weh tut. Mitunter kommen mir dann plötzlich die Tränen, weil der Lärm nicht auszuhalten ist, besonders wenn die Frequenzen der Geräusche auch noch sehr hoch sind. Ich sitze dann da und halte mir die Ohren zu. Mir ist übel vor Lärm. Manchmal bekomme ich kaum Luft.“629

627 628 629

Kuczynski, Rita: staccato, München 2000, S.9. Kuczynski 2000, S.27. Kuczynski 2000, S.45.

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Gerade infolge der Auseinandersetzung mit der Wende tritt auf einmal jedoch auch die Vergangenheit des Nationalsozialismus, die Vorgeschichte jener Zeitsysteme der Nachkriegszeit, wieder zutage. Dem Zeitbruch folgt so ein Zeitsprung, wie ihn etwa die Protagonistin von Bärbel Reetz' gleichnamiger Erzählung erlebt: Auf einer Dienstreise in den Osten finden unvermutet die offenen Enden der durch die Teilung unterbrochenen Geschichten aus der Kriegs- und Vorkriegszeit wieder Anschluss. Erlebnisse werden möglich, die an Prousts Epiphanien erinnern, in denen die unbeschwerte Vergangenheit einer als zeitlos vorgestellten, idealisierten Kindheit, die nur zufällig in die historische Epoche der NS-Zeit gefallen ist, wieder gegenwärtig werden.630 Auch in vielen anderen Romanen und Filmen der Nachwende-Zeit zeichnet sich eine solche neue Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ab, zu der sich die historische Gegenwart nun auf eigene Weise ins Verhältnis zu setzen versucht, indem sie den durch die politische Abgrenzung erzeugten historischen Bruch mittels literarischer Herstellung persönlicher Kontinuitäten konterkariert. Besonders prominent geschieht dies in Martin Walsers Ein springender Brunnen, einem Roman, der ebenfalls stark durch Zeitreflexionen gekennzeichnet ist und in dem die – stets als Konstruktion bewusste – „eigene“ Erinnerung von dem „Museum“ jener Vergangenheit, „die alle zusammen haben“, abgehoben werden soll.631 Im Sinne solcher Bemühungen kritisiert Karl Heinz Bohrer, dass durch die Notwendigkeit der Abgrenzung von der historischen Vergangenheit in Deutschland die „Situation einer verlorengegangenen Zeit“ entstanden sei, die sich durch eine „Nichtexistenz eines Verhältnisses zur geschichtlichen Ferne, das heißt zur deutschen Geschichte jenseits des Bezugsereignis Nationalsozialismus“ kennzeichne. Das „mentale Apriori“ einer leugnenden Haltung der Vorgeschichte der NS-Zeit gegenüber, erzeugt durch eine sozialwissenschaftlich geprägte Historik der Nachkriegszeit, bezeichnet er in einem provokanten und vieldiskutierten Essay zum bundesdeutschen Geschichtsverhältnis als „Anti-Historismus“, der heute genauso viel Einfluss habe wie dereinst der Historismus.632 Der „Reduktion deutscher Geschichte auf Schuldgeschichte“633 steht Bohrer offenbar ablehnend gegenüber: „Deutsche Geschichte wird, indem sie als Vorgeschichte funktionalisiert ist, gleichzeitig zur Nichtgeschichte annihiliert.“ Für das Zeitbewusstsein ergäbe sich daraus jedoch notwendig die Folge, dass „die Gegenwart unserer Epoche immer breiter geworden ist und dadurch 630

631 632

633

Vgl. Reetz, Bärbel: Zeitsprung, Frankfurt a.M. 2002, S.48: „Wir können sie anhalten, schlug Dorothea vor und öffnete die Augen. Eine Handbewegung, und alles stände still. Sie schaute zu ihm auf. Keine Bewegung mehr. Nicht vorwärts und nicht rückwärts. Niemand würde mehr sterben. Niemand geboren werden. Alles bliebe, wie es ist.“ Vgl. auch Kühn 2005, S.549ff. & S.835ff. Vgl. Walser, Martin: Ein springender Brunnen, Frankfurt a.M. 1998, S.9. Bohrer, Karl Heinz: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung, München 2003, S.10 & S.15. Bohrer 2003, S.20.

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die Vergangenheit kürzer.“634 Wenn um 1900 die historische Zeit als individueller Bezugrahmen nicht mehr glaubwürdig war, ist das vollständige Fehlen eines solchen Bezugrahmens heute nach Bohrer alles andere als eine Befreiung des Individuums. Denn so abstrakt und kritisierbar jede Konstruktion der Weltzeit auch erscheinen mag, sie hat doch „immer etwas mit dem Gegenwärtigen zu tun“, führt zur Ausbildung eines „kulturellen Zusammenhangs“, der auch „eine spezifische Objektivierung und Stabilisierung des erinnernden Subjekts“, eine „kulturelle beziehungsweise nationale Identitätsbildung“ ermöglichte. Die Idee einer gemeinsamen, linearen Weltzeit hat also eine psychologische Dimension, denn bricht „ein solches Über-Ich zusammen, bleiben die einzelnen von ihm geprägten leer.“635 In der Literatur, die sich nach der Wiedervereinigung mit den Jahren der NS-Diktatur und ihren Folgen auseinandergesetzt hat, hat diese Markierung einer wesentlichen historischen Zäsur noch weitere Reflexionen erfahren. Dass hier tatsächlich – wie Bohrer angedeutet hat – ein nachhaltiger Einschnitt nicht nur im historischen Bewusstsein der Menschen, sondern eine Veränderung des historischen Denkens schlechthin stattgefunden haben muss, erscheint zum Beispiel als eines der Leitthemen von Dieter Fortes stark autobiographischem Roman In der Erinnerung. Die „alte und allen gemeinsame Zeit gab es nicht mehr“636, heißt es hier hinsichtlich der Nachkriegsjahre unmissverständlich, und die ‚Stunde Null‛ wird erläutert als regelrechtes Ende einer bestimmten Vorstellung der Zeit: „Die Stunde Null, wie alle diese Zeit nannten, Niemandszeit im Niemandsland, wurde geboren aus dem Gefühl der Menschen, dass das Leben sinnlos war. Stunden wie Tage und Tage wie Jahre, ohne dass man ihren Ablauf bemerkte, denn die Turmuhren waren mit den Türmen verschwunden und die Glocken abwesend stumm, als wäre da wirklich nur diese eine einzige Stunde, die nicht zählte, die keine Zeit war, die die Welt anhielt, entstanden aus der Angst, die man nicht los wurde, entstanden aus den Todesbildern, die jeder in sich trug.“637

Nicht zufällig ist unter den Trümmern einer zerbombten Wohnung wohl auch der „Schatten einer verkohlten Wanduhr“638 zu erkennen, Repräsentant einer Ordnungsvorstellung, die mit vielen anderen im Bombenhagel unterging. Die Vorstellung, die Stunde Null müsse ewig anhalten und „das Jahr 1 werde nie eintreten“, erscheint den Überlebenden naheliegend und glaubhaft, denn selbst die Jahreszeiten werden „nicht mehr wahrgenommen, die Erdkugel jagte wie ein erloschener Stern durch das Weltall“: „Weihnachten, das neue Jahr, alles nur ein 634 635 636 637 638

Bohrer 2003, S.21. Bohrer 2003, S.14. Forte, Dieter: In der Erinnerung, Frankfurt a.M. 2001, S.77. Forte 2001, S.75. Forte 2001, S.34.

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Schulterzucken. In dieser schattenlosen Steinlandschaft veränderte sich nichts, man verspürte keine großen Unterschiede.“639 Auch in Fortes Roman wird der Zerfall der Zeit durch eine kaputte Uhr repräsentiert, eine Taschenuhr, der die Zeiger fehlen und die so das adäquate Messinstrument einer Welt darstellt, die sich außerhalb der Zeit befindet. Zugleich bewahrt sie eine Erinnerung an die Zeit vor dem Ende der Zeit, die als „Gewicht“ noch immer auf der Gegenwart lastet: „Das Uhrwerk war schon lange außer Dienst, der abgegriffene Metallknopf drehte sich schnatternd ins Leere, stellte keine Zeiger mehr auf Posten, sie hatten ihre wachhabende Runde aufgegeben, waren ausgeflogen und führten in einem Samtkästchen ein Lotterleben. [...] Die Uhr hatte fast ein Jahrhundert abgezählt, in Stunden, Minuten und Sekunden zerlegt, wie viele Runden ihre Zeiger gedreht hatten, war nur zu erahnen, das Uhrwerk stand nun still, die lange Zeit hatte sich in ein Gewicht verwandelt, das schwer in der Hand lag. Gustav überreichte ihm die Uhr in einer plötzlichen Geste fast wortlos: ‚Mehr ist nicht geblieben.‛“640

Der Zusammenbruch der Weltzeit, des „Zeitplans“641 der Moderne, ermöglicht eine freie Handhabung von Vergangenheit und Zukunft, die nun mit teils erfundenen, teils wahren Geschichten neu gestaltet werden können. Zeit erfährt auf diese Weise – ähnlich wie in den Texten der ‚spielerischen Moderne‛– eine individuelle narrative Ästhetisierung. So leben die Figuren des Romans zeitweilig in der Überzeugung, „dass das Leben aus unglaubwürdigen Geschichten bestehe“: „Jeder erzählte jedem die unwahrscheinlichsten, unglaubwürdigsten, phantastischsten Geschichten und schwor, die reine Wahrheit zu sagen. Je unmöglicher die geschilderte Begebenheit, desto wahrscheinlicher, dass sie sich tatsächlich ereignet hatte.“642 Schließlich wird es sogar zur „Gewohnheit“, „von den Normen der Zeiger befreit in seiner eigenen Zeit zu leben“, was auch anhand der Umgangsweise, die die Romanfiguren mit der kaputten Taschenuhr pflegen, illustriert wird: „Gustav las von der Uhr die von ihm gewünschte Zeit ab, um etwa am Abend zu sagen, es ist zehn Uhr vierzehn, früher Vormittag, da haben wir den Tag ja noch vor uns. Und wenn jemand darüber lachte, sagte er mit befremdetem Gesicht, als ob ihn einer duze, dem er das nicht gestattet hatte: ‚Ich meine es ernst.‛“643

Doch gegen alle Prognosen tritt die ‚offizielle‛ Geschichte nach genau vier Jahren Nullzeit mit der Währungsreform und der sich anschließenden Gründung 639 640 641 642 643

Forte 2001, S.76. Forte 2001, S.212f. Ein solcher „existierte nicht“ mehr: Forte 2001, S.78. Forte 2001, S.157 & S.110. Forte 2001, S.213.

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der beiden deutschen Teilstaaten schließlich wieder in Kraft. Das Wirtschaftswunder kündigt sich an, durch das nun Zukunft neu entworfen werden soll. „Rundherum wurde eine neue Welt gegründet“644, doch – und darin liegt die Pointe von Fortes Roman – diese neue Welt mit ihrer neuen Weltzeit erscheint als Totgeburt. Denn während die alte Zeit der ‚klassischen Moderne‛ noch selbstverständlich tickte, ist die „neue Zeit, die da mit schwarzen Spinnenbeinen ankrabbelte“ und die wieder „feste Gepflogenheiten“ und „unanfechtbare Wahrheiten“ etablieren will, nichts als ein „Marionettentheater“645: „Eine neue Zeit begann und eine neue Zeitrechnung und damit alles wieder neu und altgewohnt, das wollten die meisten, das Neue so wie das Alte, so wie es immer war, aber neu, in der alt-neuen Zeit des Jahres eins nach dem Tag X.“646 Die alte Selbstverständlichkeit der Zeit ist jedoch unweigerlich dahin: Der Beginn der ‚neuen Zeit‛ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unterhalb der Inszenierungen von Fortschritt und Entwicklung die Zeitlosigkeit einer ein für alle Mal in Trümmer geschossenen Ordnung weiter andauert. Die Einsicht in die Unwirklichkeit und Konstruiertheit der Geschichte und der Zeit ist unweigerlich in der Welt; die ‚Nachgeschichte‛ der letzten sechs Jahrzehnte hat sie offenbar nicht wettmachen können. So ist Fortes Roman auch nicht der neuen Zeit gewidmet, sondern eben jener Nullzeit, die zwischen den historischen Epochen sichtbar wird, in der – wenigstens „in der Erinnerung“ – eine neue Form der Zeiterfahrung vorübergehend bestimmend werden kann. Für die Zusammenhänge, um deren Darstellung sich diese Arbeit bemüht, ist dabei insbesondere die Verbindung zwischen dem Verlust der zeitlichen Orientierung und einer Wahrnehmung von Interesse, die in Fortes Roman im Zuge des Zusammenbruchs der Zeit immer wieder „in Halluzinationen überging, in ungeordnet und wahllos herandrängende Bilder, die sich nicht an Zeit und Ort hielten, so dass auch die Erinnerungsbilder in einem unwirklichen Licht erstarrten, rasch abbrechend wieder verschwanden und an anderer Stelle auftauchten, wie in einem Film, dessen einzelne Szenen und dessen Handlung für immer durcheinandergeraten waren.“647 Der Kollaps der offiziellen Zeitordnung findet also direkt in einer Dominanz des Bildlich-Sensitiven ihren Ausdruck, in einer Wahrnehmung, die nicht mehr als distanziert und medialisiert empfunden wird, sondern in der Gegenwart und Vergangenheit unmittelbar verbunden sind. Das assoziative, freie ‚Spiel‛ der Eindrücke und Erinnerungen kann sich entwickeln, „weil das Geschriebene nicht mehr zur Hand war“, weil Bibliotheken und Archive verbrannt sind und deshalb „die Vergangenheit verloren“, die Zukunft hingegen „nur eine von Tag zu Tag größer wer-

644 645 646 647

Forte 2001, S.210. Forte 2001, S.119. Forte 2001, S.211. Forte 2001, S.59.

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dende Ungewissheit“ ist, „die einen mal hierhin, mal dorthin führte, ohne dass man die Bedeutung der einzelnen Schritte erkennen konnte.“648 Auch wenn der ‚Untergang der Gutenberg-Galaxis‛ hier offenkundig in einem anderen Zusammenhang steht als in anderen in dieser Arbeit verhandelten Romanen, ist die Virulenz der Problematik auch in Fortes Text nicht zu übersehen. Im Zuge einer Individualisierung der Zeit, die aus dem Autoritätsverlust der Schrift resultiert, gewinnen Vergangenheit und Zukunft bildhaften Charakter, verlieren ihre Distanz und werden zu gegenwärtigen Erfahrungen, die mit Wahrnehmungen potenziell gleichberechtigt sind. Ins Extrem gesteigert, zeigt sich diese Form eines bildhaft entzeitlichten Bewusstseins an einer durch den Krieg traumatisierten Frau: „Die Welt war ihr ein Bild geworden, in dem sie herumspazierte, ein Spiegel der Vergangenheit, der sich für sie öffnete und ihr zeitweise Frieden schenkte. Sie hatte alle Geschichten gleichzeitig im Kopf, die verschiedenen Zeiten und Orte erwiesen sich als hinderlich und überflüssig, alle Personen konnten überall auftauchen und waren austauschbar.“649 Dagegen ist die schriftlich und objektiv fixierte, „offizielle Geschichte der Welt, in vielen Bänden sortiert und abgelegt, durch alte Dokumente beglaubigt, in Bibliotheken gestapelt“, nicht nur durch die Bombenangriffe in Rauch aufgegangen, sie ist als Konzept nicht mehr glaubhaft, „existierte nur auf dem Papier, sie war nicht wirklich, keiner hatte sie hier einem anderen erzählt.“ 650 Dass sich eine Dominanz des Bildhaften als neue Zeiterfahrung ausdrückt, ist dabei ein für die Gegenwartsliteratur typisches Motiv, dem nachzugehen vor dem Hintergrund der Frage nach dem Zusammenhang von Medialität und Zeit Aufgabe des folgenden Kapitels ist.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien Die Erkenntnis, dass die Entwicklung ‚neuer Medien‛ einen starken Einfluss auf unseren Umgang mit der Zeit ausgeübt hat und weiterhin ausübt, prägt entscheidend die wissenschaftliche Reflexion sowohl der Medien als auch der Zeit im 20. Jahrhundert.651 Insbesondere Radio oder Fernsehen, deren Programm mit aktuellem Geschehen in ständigem Austausch steht, wird dabei die Funktion einer „kulturellen Synchronisation“ zugeschrieben: Die unmittelbare Reaktion auf jedes Ereignis, egal wo auf der Welt es passiert, die diesen Medien möglich ist, vermittelt dem Zuschauer oder Hörer die globale Gleichzeitigkeit unter648 649 650 651

Forte 2001, S.128. Forte 2001, S.203f. Forte 2001, S.224. So bemerkt etwa Kay Kirchmann den „auffälligen Umstand, dass die meisten jüngeren Veröffentlichungen über Zeit gar nicht umhin können, sich zugleich mit MedienDispositiven auseinanderzusetzen (und vice versa).“ Kirchmann, Kay: Verdichtung, Weltverlust und Zeitdruck. Grundzüge einer Theorie der Interdependenzen von Medien, Zeit und Geschwindigkeit im neuzeitlichen Zivilisationsprozess, Opladen 1998, S.347.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

schiedlichster Ereignisse und erzeugt auf diese Weise den Eindruck eines weltzeitlichen Zusammenhangs allen Geschehens.652 ‚Neue Medien‛ und Technologien haben also offenbar die Grundlage dafür geliefert, dass die synchronisierte Weltzeit im Bewusstsein aller Individuen verankert und zur Grundlage einer globalisierten Kultur geworden ist. Auf einer anderen Ebene aber scheinen die neuen Formen medialer Darstellung mit den bisher gültigen Zeitvorstellungen, insbesondere mit den linearen Bedeutungsmustern der ‚historischen Zeit‛ zu kollidieren. Wieder sind hierfür zunächst Phänomene der Beschleunigung ausschlaggebend: Die neuen Medien bewirken hinsichtlich der Erzeugung und Übertragung von Informationen und Bildern eine Raffung und Verdichtung der Zeit, durch die immer mehr Daten in immer unmittelbareren Zeitabständen verfügbar werden. Der soziale Beschleunigungszirkel, der im vorangegangenen Kapitel erläutert wurde, erscheint so nicht zuletzt auch als Konsequenz der technologisch ermöglichten Unmittelbarkeit des Datentransfers. Wie bereits Walter Benjamin festgestellt hat, ist darüber hinaus auch der Verfall einer kontinuierlichen, am Modell der Erzählung orientierten Zeitvorstellung an die aufkommende ‚technische Reproduzierbarkeit‛ von Informationen geknüpft. Dabei dokumentiere der durch Aktualität und temporale Isolation gekennzeichnete Begriff der ‚Information‛ den Unterschied zum zeitgestaltenden Prinzip ‚Erzählung‛, bedeute deren Verfall in unverbundene Zeitatome und sei daher Anzeichen für die fortschreitende Entleerung der Zeit.653 Wie Dieter Thomä erläutert, wird dieser Verfall der Zeit von Benjamin dabei einer ambivalenten Beurteilung unterzogen: „Wenn Benjamin die ‚homogene und leere Zeit‛ der Moderne beschreibt, so richtet sich seine Analyse nämlich nicht nur gegen die informationelle Isolierung von Fakten, denen ihr interner Zusammenhang, also auch die ihnen inhärente Zeitstruktur abhanden kommt. Sie richtet sich auch gegen das Bild eines ‚homogenen Verlauf[s] der Geschichte‛, wie es vom ‚Historismus‛, also gerade in einem narrativen Umgang mit Ereignissen etabliert wird. Die Komplikation von Benjamins Position besteht also darin, dass er zunächst das ‚Erzählen‛ als eine vergangene Kostbarkeit gegen die Welt der ‚Information‛ setzt, dann auf der einen Seite den Versuch einer positiven Vereinnahmung der Technologie wagt und auf der anderen Seite die vermeintlich ‚erzähl‛-freundlichen Historisten heftig kritisiert.“654

Als zentrales Anliegen der klassisch-modernen Literatur zeigt sich hier wiederum die Kritik an der historischen Zeit, die im Zuge der Moderne zu einer bloß 652

653 654

Vgl. Hickethier, Knut: Synchron. Gleichzeitigkeit, Vertaktung und Synchronisation der Medien, in: Faulstich, Werner / Steininger, Christian (Hgg): Zeit in den Medien – Medien in der Zeit, München 2002, S.111-129, S.114ff. Vgl. Benjamin 1977, S.385ff. Thomä, Dieter: Zeit, Erzählung, Neue Medien. Philosophische Aspekte eines Streits der Medien um das Leben, in: Sandbothe, Mike / Zimmerli, Walter Ch. (Hg): Zeit – Medien – Wahrnehmung, Darmstadt 1994, S. 89-110, S.92.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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noch leeren Erfahrung unverbundener und flüchtiger Momente degeneriert. Die alternative Zeiterfahrung, die es auch nach Benjamin zu entwickeln gilt, steht dabei sowohl dem narrativen als auch dem atomistischen Zeitkonzept entgegen: Ziel ist eine neue, erfahrbare Art von temporalem Zusammenhang, die beiden Erscheinungsformen der Zeit entgegenzuhalten wäre. Wie im ersten Teil dieses Buches gezeigt wurde, sind solche Reflexionen um 1900 unweigerlich auch mit einer Infragestellung des alten Leitmediums der Schrift verbunden, das durch den alphabetischen Code Zeit nach Vorlage des ‚Prinzips Zeile‛ als zweidimensionale Ordnung konzipierte: „Die Welt ist alles, worauf am Ende ein Punkt folgen könnte – so lautet im Zeitalter der Satzmetaphysik das heimliche Axiom für die Formulierung von Weltformen oder Systemen.“655 Die Skepsis gegenüber der Schrift artikuliert sich dabei in der Einsicht, dass alle Rekonstruktionen des Vergangenen zu sinnvollen ‚Geschichten‛ dem Geschehen selbst niemals gerecht werden können, da sie notwendig immer nur als medial gebrochene in Erscheinung treten: „Der Glaube, man könne ein Vorgängiges unmittelbar ausdrücken, erweist sich als Illusion, da [...] jedes Medium vorgeprägt ist und das vermeintlich Unmittelbare in der Vermittlung notwendigerweise formt.“656 Für die narrativen Zeitkonzepte des Historismus ebenso wie für die krisenhafte Erfahrung des Verfalls dieser Konzepte findet sich auch für Benjamin gerade in der Tendenz zur Gegenwärtigkeit, die den neuen Medien innewohnt, eine alternative Zeiterfahrung angelegt.657 Inzwischen jedoch hat sich auf globaler Ebene ein Wandel der gesellschaftlichen Machtverhältnisse der unterschiedlichen Medien vollzogen: Während noch zu Zeiten Walter Benjamins die audiovisuellen Technologien als Alternativen zu dem tradierten, ungebrochen gültigen schriftlichen und damit historischlinearzeitlichen System gelten konnten, ist heute die Omnipräsenz der ‚Technobilder‛ längst status quo: Jene „in den tele-technischen Utopien um 1900 prognostizierten Geister-Stimmen und Geister-Bilder“ sind, so Harro Segeberg, „nunmehr tatsächlich in einen heute zur Selbstverständlichkeit gewordenen ‚Geisterverkehr‛ zwischen Zuschauer und ‚Leuchtkasten‛ (Rühmkorf) hineingeholt.“658 Dagegen scheint nun die Schrift ihre Stellung als gesellschaftliches Leitmedium weitgehend verloren zu haben: Die „Vorstellung, einer möglicherweise ausster655

656 657

658

Sloterdijk, Peter: Medien-Zeit. Drei gegenwartsdiagnostische Versuche, Stuttgart 1994, S.58. Förster 1999, S.32. In diesem Kontext ist ein Zitat Robert Musils aufschlussreich, in dem gerade das Abgeschlossene der Schrift, die Reduktion der Wirklichkeit auf vollendete Sätze kritisiert wird: „Solange man in Sätzen mit Endpunkt denkt, lassen sich gewisse Dinge nicht sagen – höchstens vage fühlen. Andererseits wäre es möglich, dass man sich so auszudrücken lernt, dass gewisse unendliche Perspektiven, die heute noch an der Schwelle des Unbewussten liegen, dann deutlich und verständlich werden.“ Musil, Robert: Aus den Tagebüchern, Frankfurt a.M. 1971, S.19. Segeberg 2003, S.316. Diese Entwicklung stehe dabei in Zusammenhang mit einer Entwicklung, derzufolge die alte „physische Real-Präsenz des an [...] eine bestimmte Zeit gebundenen Menschen“ in der „Welt der Telepräsenz“ aufgelöst werde.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

benden Spezies anzugehören, ist“ heute „jedem, der schreibt, vertraut“, und „längst gehört zum Überlebenstraining im Bereich der Literatur die Vorstellung, dass Autoren in vielleicht nicht allzu ferner Zukunft auf die Privilegien der Autorschaft verzichten müssen.“659 Mit ihrem „Monopol des Sinn- und Wirklichkeits-Entwurfs“ aber hat die Schrift möglicherweise auch das ihres „Zeit-Entwurfs“660 eingebüßt: Die noch immer als ‚neu‛ betitelten audiovisuellen Medien scheinen nicht nur einen Verfall der traditionellen zeitlichen Ordnung und damit eine ‚Entleerung‛ der Zeit, sondern wenigstens in Ansätzen auch die Entwicklung völlig neuer, nichtlinearer temporaler Strukturen und Ordnungsmuster bewirkt zu haben. Die Rede ist hier immer wieder von netzartigen Organisationsformen, in denen die Ereignisse flexibel miteinander verknüpfbar sind: „Das Prinzip Zeile insgesamt wird abgelöst vom Prinzip Knoten oder Schnittpunkt, [...] der Text wird vom zweidimensionalen Gewebe zum dreidimensionalen Verweisungsknäuel.“661 An die Stelle einer einheitlichen Geschichte tritt eine Vielfalt von historischen Kontexten, die jeweils spontan und assoziativ aktiviert werden können. Audiovisuelle Medien erscheinen so nicht nur als Instrumente der globalen Synchronisation, sondern gleichzeitig auch als Motoren jener Pluralisierung der Zeitstrukturen, die Hartmut Rosa als Kennzeichen der Spätmoderne vorgestellt hat. Um diese These zu konkretisieren, ist eine genauere Eingrenzung dessen notwendig, was an den ‚neuen Medien‛ eigentlich das ‚Neue‛ darstellt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird die Auseinandersetzung insbesondere mit audiovisuellen Medien wesentlich durch die Kritik oder die Faszination an der Illusionskraft ihrer Darstellungen bestimmt: Schon das Kino scheint tendenziell vergessen zu machen, dass das Geschehen auf der Leinwand nur Projektion ist, und seit die Computertechnologie mit der technischen Perfektionierung ‚virtueller Realitäten‛ begonnen hat, ist die umfassende ‚Simulation‛ menschlicher Wahrnehmung offenbar in greifbare Nähe gerückt. Populär geworden ist im Zuge dieser Entwicklung inzwischen die Vorstellung, dass eine komplexe ComputerMatrix662 eine durch und durch artifizielle Bilderwelt erzeugen und direkt in die Gehirne der Menschen implantieren könnte, wodurch die eigentlich bloß ‚virtuellen‛ Eindrücke mit den „immersiven Bildern“ der ursprünglichen Wahrnehmung tendenziell identisch würden.663 In dieser Vision wird das Medium gewis659

660 661

662 663

Vgl. Becher, Martin Roda: Trink mich oder trink mich nicht. Notizen aus dem Delirium präsens, in: Sloterdijk, Peter (Hg): Vor der Jahrtausendwende: Berichte zur Lage der Zukunft. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1990, S.462-466, S.464f. Großklaus 2004, S.154. Sloterdijk 1994, S.59. Vgl. hierzu auch: Flusser, Vilém: Kommunikologie, Frankfurt a.M. 1998, S.242. Vgl. The Matrix (USA 1999, Andy & Larry Wachowski) „Immersive Bilder“ sind nach Lanbert Wiesing solche, die „den Betrachter glauben“ lassen, „dass die im Bild gezeigte Sache wirklich präsent ist.“ Vgl. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt a.M. 2005, S.107.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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sermaßen unsichtbar: Es ist nicht länger „Vermittler“ einer „Außenwelt“, sondern erzeugt diese mittels technischer Verfahren selbst, wodurch die Unterscheidung zwischen ‚wahren‛ und ‚falschen‛ Abbildungen unerheblich wird: Das Medium ist in dieser Vorstellung zu einem Teil „jenes Außen geworden“, das es früher – wenigstens dem Anschein nach – abbildete.664 Da die ‚simulierte‛ Wirklichkeit sich aber beliebig umprogrammieren lässt, könnte sich das Leben in Zukunft mehr und mehr in unterschiedlichsten ‚möglichen Welten‛ (und Zeiten) abspielen, die alle gleichberechtigt nebeneinander existieren. „Das Zeitalter des Fortschritts ist dabei, dem Zeitalter der Simulation zu weichen. [...] Die Geschichte existiert kaum noch in dem neuen Zukunftsbild. Die neue Vision ist mehr von der populären Psychologie beeinflusst. Die Zukunft wird nicht mehr als etwas gesehen, das sich streng linear auf einer historischen Ebene entwickelt. Sie ist vielmehr etwas, das pausenlos neu programmiert wird, um den vorübergehenden Bedürfnissen jeder aufkommenden Realität zu entsprechen. [...] Menschen träumen heute von unbegrenzten Schöpfungen, die sich in eine endlose Zukunft erstrecken. Der Mensch, Wirkkraft des Wandels, wird der Mensch, Schöpfer von Welten.“665

Wie noch zu zeigen sein wird, spielt diese Vorstellung in einem Großteil der neueren deutschen Zeitromane eine große Rolle. Dennoch ist mit einem solchen Szenario noch nicht erklärt, worin das eigentlich ‚Neue‛ dieser simulierten Wirklichkeiten besteht: Weder die Manipulierbarkeit der Menschen, die von dem in den medialen Gedächtnissen gespeicherten Wissen abhängig sind, noch der Versuch, mittels bildlicher Darstellungen illusionistische Effekte zu erzeugen oder sich in ‚Parallelwelten‛ zu flüchten, sind historisch tatsächlich neu – sie lassen sich mit den technischen Medien nur besser umsetzen. Auch beim Versenken in eine Lektüre wird das Medium vorübergehend vergessen, wird eine alternative Welt zumindest für bestimmte Zeit zur Wirklichkeit. Die Behauptung, dass sich mit der Erfindung der ‚neuen Medien‛ tatsächlich ein grundlegender Einschnitt verbindet, lässt sich mit der Immersions-These allein also nicht begründen. Ein kategorialer Unterschied findet sich hingegen in dem Umstand, dass die durch die Lektüre erzeugte Wirklichkeit die Fähigkeit der Imagination voraussetzt, die dargestellte Welt also in eine Vorstellung ‚übersetzt‛ werden muss, um zu ‚funktionieren‛: Das beschriebene, genauso aber auch das gemalte oder das aus dem Stein gehauene Pferd sind immer nur verdichtete Darstellungen, die das Pferd bloß ‚bedeuten‛ und die in der Phantasie belebt werden müssen, um zu ‚wirklichen‛ Pferden zu werden. Die digitalen Bildmedien aber gleichen „das Bildobjekt an die Imagination“666 an: Das gefilmte und – unter der Voraussetzung perfektionierter Technologie – das computerprogrammierte Pferd können der Phantasie eines Pferdes potenziell zum Verwechseln ähnlich 664 665 666

Kirchmann 1998, S.472. Rifkin 1988, S.193ff. Vgl. Wiesing 2005, S.107ff.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

sehen. Während also die ‚alten Medien‛ auch dann, wenn sie Bilder produzieren, grundsätzlich Zeichencharakter besitzen, da sie die Wirklichkeit immer in gewisser Weise verarbeiten und reduzieren, damit aber auch codieren und semantisieren müssen, wohnt ‚neuen Medien‛ die Möglichkeit inne, die Komplexität ihrer Darstellung der Komplexität der Wahrnehmung ebenso wie der Phantasie weitgehend anzugleichen. ‚Neue Medien‛ erzeugen im Gegensatz zu ‚alten‛ also ‚unmittelbar‛ verständliche Darstellungen: Der Code, der zu ihrer Erzeugung notwendig ist – etwa die Programmierung oder die chemischen Prozesse der Filmentwicklung – müssen nicht bekannt sein, um ihren Inhalt zu erkennen. Damit aber kennzeichnen sich die technologisch erzeugten Bilder offenbar durch eine völlig neue Art der Vermittlung von Informationen, die sich von der Zeichen-Logik der herkömmlichen Medien unübersehbar entfernt hat. Die seit Aufkommen des Kinos um sich greifende Befürchtung, mit den medialen Revolutionen des 20. und 21. Jahrhunderts könnte sich ein Rückfall in eine vor-schriftliche, ja sogar vor-sprachliche Epoche verbinden, in der die differenzierende, aber auch lebensferne „Zeit der Schrift“ durch die „Unmittelbarkeit und Gleichzeitigkeit komplexer Bilderfluten und -fluchten“ 667 abgelöst würde, verfehlt also das Wesentliche des Wandels: Sie übersieht, dass die neue Visualität, wie Vilém Flusser dargelegt hat, selbst auf Codes basiert, die zwar zunehmend unsichtbar werden, die die illusionistischen Erzeugnisse der ‚neue Medien‛ aber offensichtlich von jener ‚ursprünglichen‛ Wahrnehmung menschlicher Ur- und Frühzeit unterscheiden, in die sich einige der ‚modernen‛ Zeitautoren noch zurückträumten. Dabei geht die Definition dessen, was nach Flusser als Beispiel neuer Visualität gelten kann, weit über jene Bilder hinaus, die durch „Filme und Fernsehen“ erzeugt werden: Auch unsere „Strümpfe und Pyjamas, Konserven und Flaschen, Auslagen und Plakate, Bücher und Landkarten, Getränke und Ice-Creams“ erscheinen in „Technicolor“, vermitteln also schon durch ihre Farbigkeit Botschaften, die von den Menschen unmittelbar, also zum wesentlichen Teil unterbewusst aufgenommen werden.668 Flusser befindet, dass es sich hierbei nur auf den ersten Blick „um eine Rückkehr zu einem Urzustand“, um „ein retour avant la lettre“ handelt, auf den zweiten Blick jedoch die Unterschiede deutlich werden: „Die Bilder, die uns programmieren, sind nämlich nicht von jener Art, welche vor der Erfindung des Buchdrucks die Lage beherrschte. Fernsehprogramme sind anders als gotische Kirchenfenster, und die Oberfläche einer Suppendose anders als die Oberfläche eines Renaissancegemäldes. Der Unterschied ist, kurz gesagt, dieser: [...] Der vor-moderne Mensch lebte in einer Bilderwelt, welche die ‚Welt‛ bedeutete. Wir leben in einer Bilderwelt, welche Theorien bezüglich der ‚Welt‛ zu bedeuten versuchen. Das ist eine revolutionär neue Lage.“669 667 668 669

Steiner 1996, S.170. Flusser, Vilém: Medienkultur. Frankfurt a.M. 2005, S.21. Flusser 2005, S.22f.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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Das Revolutionäre der neuen Bildwelten besteht nach Flusser in erster Linie darin, dass sie Ergebnisse eines bestimmten Codes sind, der aber selbst in den Darstellungen nicht mehr sichtbar ist. Codes sind nach Flusser alle symbolischen Systeme, mit denen Aussagen über die Welt getroffen werden können, die also eine kognitive Distanz zur Wirklichkeit bezeugen und eine „sinngebende Absicht“ erkennen lassen. Die frühesten entschlüsselbaren Codes sind die „zweidimensionalen Codes“ der Höhlenmalereien, die die Komplexität der Welt auf konkrete, immer wiederkehrende „Sachlagen“ reduzieren, indem sie sie in „Szenen“ festhalten.670 „Der szenische Charakter der zweidimensionalen Codes hat“ dabei „eine spezifische Lebensweise“ und eine spezifische Zeitvorstellung für die „von ihnen programmierten Gesellschaften zur Folge“: „Für Menschen, die durch Bilder programmiert sind, fließt die Zeit in der Welt, wie die Augen im Bild wandern: sie diachronisiert, sie ordnet die Sachen zu Lagen. Es ist die Zeit der Wiederkehr von Geburt und Tod und Wiedergeburt, und die Magie ist jene Technik, welche für so eine Zeiterfahrung angebracht ist. Sie ordnet die Dinge, wie sie innerhalb des Kreislaufs der Zeit sich verhalten sollen. Und die solcherart kodifizierte Welt, die Welt der Bilder, die ‚imaginäre Welt‛, hat die Daseinsform unserer Ahnen während ungezählter Jahrtausende programmiert und geformt: Für sie war die ‚Welt‛ eine Menge von Szenen, welche magisches Verhalten fordern.“671

Für eine durch zweidimensionale Codes geprägte Gesellschaft wäre die Darstellung eines Pferdes also dann gelungen, wenn sie eine Situation verständlich abbildet, in der für gewöhnlich Pferde eine Rolle spielen: Es geht in ihren Bildern nicht um ein konkretes, historisches Pferd, sondern um die Stellung des Pferdes in der Welt. Aus der Darstellung ist „die Zeit“ deshalb „abstrahiert“: Das Bild gibt keine „konkrete Lage“ wieder, sondern spiegelt eine konventionalisierte Sicht der Dinge, eine überzeitliche „Übereinkunft hinsichtlich der ‚konkreten Lage‛.“672 Das an die Höhlenwand gemalte Pferd dokumentiert nicht dessen Einmaligkeit, sondern gerade seine Wiedererkennbarkeit, hält also die zu erwartende Wiederkehr der festgehaltenen Szene fest. Diese visuelle Kultur, die die menschliche Frühzeit geprägt hat, wird durch die Erfindung der Schrift nur allmählich abgelöst. Denn die Übersetzung der zweidimensionalen in eindimensionale, also lineare Codes stellt nach Flusser eine „Umwälzung von so gewaltigen Folgen“ dar, dass „es uns noch immer den Atem verschlägt, wenn wir das Ereignis selbst nach den sechstausend Jahren, die seither verflossen sind, bedenken.“673 Durch die Transformation der Szenen zu Zeilen wird das Bild selbst noch einmal codiert: Der Text beschreibt nun nicht mehr direkt die Wirklichkeit, sondern „meint die Szene des Bildes, welche 670 671 672 673

Flusser 2005, S.23f. Flusser 2005, S.24. Vgl. Flusser 1998, S.116. Flusser 2005, S.24f.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

ihrerseits die ‚konkrete Sachlage‛ meint.“ Mit dieser medialen Revolution verbindet sich wiederum die Entwicklung eines neuen Zeitbewusstseins: „Will man einen Text entschlüsseln (‚lesen‛), [...] dann muss das Auge der Zeile entlang gleiten. Erst am Ende der Zeile hat man die Botschaft empfangen und muss versuchen, sie zusammenzufassen, zu synthetisieren. Lineare Codes fordern eine Synchronisation ihrer Diachronizität. Sie fordern fortschreitendes Empfangen. Und das hat eine neue Zeiterfahrung zur Folge, nämlich die einer linearen Zeit, eines Stroms des unwiderruflichen Fortschritts, der dramatischen Unwiederholbarkeit, der Entwurfs: kurz der Geschichte. Mit der Erfindung der Schrift beginnt die Geschichte, nicht weil die Schrift Prozesse festhält, sondern weil sie Szenen in Prozesse verwandelt: Sie erzeugt das historische Bewusstsein.“674

Im Gegensatz zu den Bildern der vor-alphabetischen Zeit wird durch die Schrift keine „totale Ordnung“ mehr erzeugt, sondern eine „erklärende“: Der „Rahmen des Bildes“, jenes „Gefäß“, innerhalb dessen die Zeit sich beständig wiederholte, existiert nicht mehr675; stattdessen „strömt“ die Zeit nun „grenzenlos und eindeutig (von der Vergangenheit in die Zukunft) und ordnet die Elemente innerhalb dieser Strömung.“ An die Stelle der bildlichen „Lagen“ tritt das zeitliche „Geschehen“, und die durch Texte programmierten Menschen „erleben die Welt nicht mehr als Szenen, sondern als Ereignisse – und das heißt, sie erleben die Zeit als unwiderruflich.“676 Das beschriebene Pferd ist also im Unterschied zu jenem an den Höhlenwänden des vorhistorischen Menschen eine konkrete und individuelle Erscheinung mit einem unverwechselbaren, möglicherweise dramatischen Schicksal. Das gilt auch für die Bilder, die der historischen Epoche entstammen: So wäre es ohne Zweifel ein Missverständnis, ein gemaltes Pferd des heiligen Georg und eine Illustration von Rosinante, der Schindmähre Don Quijotes, für identisch zu erklären. Mit Nachdruck weist Flusser immer wieder darauf hin, dass die historische Zeit keine ‚objektive‛ Gegebenheit ist, sondern als Vorstellungsweise begriffen werden muss, die einer bestimmten medialen Programmierung entspricht: „Was immer die konkret erlebte Zeit sein mag (und da sie konkret ist, kann man sie nicht kodifizieren), sie kann nicht linear sein: sie kommt von allen Seiten. Sie kann nicht von der Vergangenheit der Zukunft zufließen, denn es ist die Zukunft und nicht die Vergangenheit, die ankommt. Die Gegenwart kann nicht ein Punkt auf dem Strahl der Zeit sein, denn sie ist ja der Ort, an dem alle Zeit sich ansammelt, eben gegenwärtig wird. Andererseits kann die historische Zeit auch nicht abstrakter sein als die magische, denn sie kann ebensogut wie die magische unser konkretes Erleben vorprogrammieren. [...] Es handelt 674 675 676

Flusser 2005, S.25f. Vgl. Flusser 1998, S.119ff. Flusser 1998, S.131f.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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sich bei den beiden Zeitstrukturen um zwei verschiedene Codestrukturen: um Regeln, nach denen Symbole geordnet werden.“677

Bis zum Beginn der Neuzeit ist es allerdings nur eine kulturelle Elite, der die neuen Codes überhaupt zugänglich sind, denn ihre Erzeugung und Dechiffrierung erfordert spezialisierte Kenntnisse, die zu erwerben nur wenigen offen steht. Erst mit der Erfindung des Buchdrucks wird die Welt der Schrift – und damit das Zeitsystem, das sie etabliert – breiten Schichten der Bevölkerung zugänglich. „Die revolutionäre Bedeutung der gedruckten Bücher ist also nicht in erster Linie in der Entstehung der Nation, des Nationalismus, der modernen Kriege usw. zu suchen, sondern weit grundlegender in der Programmierung der westlichen Gesellschaft für Geschichte, für Fortschritt, kurz für jenes Bewusstsein, das bislang immer nur Vorrecht einer alphabetischen Elite war.“678 Und auch nach der Erfindung des Buchdrucks vergeht noch viel Zeit, bis das linearzeitliche Denken sich tatsächlich flächendeckend etabliert. Mit der Entwicklung der „Techno-Bilder“ droht also die „Verflüchtigung des historischen Bewusstseins“ zu einem Zeitpunkt, an dem das lineare System noch gar nicht global durchgesetzt hat.679 Die Folgen dieser Ablösung sind aus Flussers Sicht für jene Generationen, die noch wesentlich mit den textuellen Codes aufgewachsen sind, nicht abzusehen, da sie für die neuen Codes noch nicht „programmiert“ sind: Die Menschen der Gegenwart funktionieren noch weitgehend nach den alten, linearen Mustern, sind also den „Techno-Bildern“ ebenso hilflos ausgeliefert wie einstmals die analphabetische Masse den Predigern der ‚Schrift‛.680 Ein anderer Pionier der Medienphilosophie, Marshall McLuhan, brachte jedoch bereits 1968 zum Ausdruck, dass mit der Veränderung der vorherrschenden medialen Codes eigentlich die Verwirklichung einer uralten Zeit-Utopie verbunden ist: „Wir leben jetzt gewissermaßen mythisch und ganzheitlich, aber wir denken weiter in den alten Kategorien der Raumund Zeiteinheiten des vor-elektrischen Zeitalters.“681 Wieder aber erscheint die wahrhaftig gewordene Utopie inzwischen in einem anderen Licht, denn mit den neuen visuellen Codes scheinen auch neue Formen der Manipulation verbunden: Im Gegensatz zu den „Bildern“ der textuellen Epoche, die die Wirklichkeit gerade nicht identisch zur Darstellung brachten, sondern als immer schon symbolisch verdichtete zeigten, die der Betrachter entschlüsseln musste, um sie zu erkennen, bedeutet das bloß „Visuelle“ der neuen Medienwirklichkeit ein „Schwinden der Ferne“, eine paradoxe „Botschaft ohne Code“, die nicht verstanden, sondern als selbstverständlich aufgenommen, also eigentlich über den Sehnerv bloß noch bestätigt wird. Das beständige ‚Flimmern‛ und ‚Zappen‛ der 677 678 679 680 681

Flusser 1998, S.132. Flusser 1998, S.56. Flusser 2005, S.27. Vgl. Flusser 2005, S.36. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf / Köln 1968, S.10.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

medialen Inszenierungen verhindert offenbar, dass diese „in Piktorialität umschlagen“: Die Visualität verharrt in reiner „Denotation“, in einem „monitoring der Aktualität, [...] das aber keine Information“ mehr übermittelt, sondern das Subjekt nur noch einübt in die „Schock-Reiz-Reaktionen“ der „Erlebniswelt“.682 Im Gegensatz zu derartig scharfen – positiven wie negativen – Klassifizierungen der ‚neuen Medien‛ entscheidet Flusser nicht, ob der Wandel eher „Gefahr“ oder „Hoffnung“ in sich birgt.683 Offenkundig ist für ihn nur, dass er einschneidende Auswirkungen insbesondere auf das Zeitbewusstsein der Menschen haben wird, die in der Welt der Techno-Bilder sozialisiert werden: „In dem Maße, in dem Oberflächencodes überwiegen, in dem Bilder alphabetische Texte ersetzen, hört die Zeiterfahrung auf, die mit den Kategorien der Geschichte, also als irreversibel, fortschreitend und dramatisch erfasst wird. Die kodifizierte Welt, in der wir leben, bedeutet nicht mehr Prozesse, ein Werden, sie erzählt keine Geschichten, und leben in ihr bedeutet nicht handeln. Dass sie das nicht mehr bedeutet, nennt man die ‚Krise der Werte‛. Denn wir sind ja noch weitgehend von Texten programmiert, also für Geschichte, für Wissenschaft, für politisches Programm, für ‚Kunst‛. [...] Der Niedergang des Alphabets bedeutet das Ende der Geschichte im engen Sinne des Wortes.“684

Für Flusser bekundet bereits die ‚Zeit-Krise‛ des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein erlahmendes „Interesse für ‚Erzählungen und Geschichten‛“ und damit einen Vertrauensverlust in die lineare Zeitform der Texte. Am Beginn des nachalphabetischen Zeitalters, das er mit dem 21. Jahrhundert heraufdämmern sieht, hat sich diese Krise zu einer fast unlösbaren Paradoxie verdichtet: Techno-Bilder sind inzwischen längst Bestandteil des Alltags und kollidieren dennoch zunehmend mit der weiterhin gültigen Programmierung auf historische Wahrheit, Sinn und wissenschaftliche Erklärung. „Wir können nicht mehr in der Geschichte dasein, aber ein Dasein außerhalb der Geschichte ist uns vollständig unzugänglich, obwohl wir es täglich selbst programmieren.“685 Die Aneignung und das Verständnis der neuen Codes macht nach Flusser eine neue „Bewusstseinsebene“ notwendig, denn solange diese nicht erreicht ist, „programmieren“ die neuen Codes die Menschen, ohne „in ihrem Wesen durchblickt worden zu sein, und bedrohen uns so als undurchsichtige Wände, anstatt uns als sichtbare Brücken mit der Wirklichkeit zu verbinden. Das ist unsere Krise.“686 682

683

684 685 686

Vgl. Wetzel, Michael: Die Leonardo-Galaxis: Vom Tafel- zum Monitorbild, in: Bickenbach, Matthias / Fliethmann, Axel (Hgg): Korrespondenzen. Visuelle Kulturen zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Köln 2002, S.75-88, S.86f. Vgl. Flusser, Vilém: Gedächtnisse, in: ARS ELECTRONICA (Hg): Philosophien der neuen Technologien, Berlin 1989, S.41-55, S.54f. Flusser stellt hier Vermutungen darüber an, wie viele „unserer bisherigen Kategorien“ in Zukunft neu formuliert werden müssen. Flusser 2005, S.27. Flusser 1998, S.100. Flusser 1998, S.105.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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Im Sinne der Überlegungen Flussers suchen viele Gegenwartsromane zu erkunden, auf welche Weise sich das Zeitverständnis durch den Eintritt in das neue mediale Zeitalter der Techno-Bilder gewandelt hat.687 Im Vergleich zu jenen Vorstellungen, die den literarischen Zeit-Diskurs noch um 1900 dominierten, fällt an heutigen Auseinandersetzungen die Beobachtung einer „Ausdehnung oder Aufblähung der Gegenwart“688 ins Auge. Auch der Medientheoretiker Götz Großklaus diagnostiziert eine solche medial verursachte „Zusammenziehung der Geschichts-Zeit zur Gegenwartszeit“, die umgekehrt eine „Erweiterung der Gegenwartszeit zum ganzen ‚Raum der Geschichte‛“ bewirke, und beschreibt Phänomene „magischer Präsenz“, die „Verdichtung“ von Ungleichzeitigem „zu Punkten intensiver Gegenwart“ und die zunehmende „Verwischung der alten Zeitgrenzen“.689 Auch für Paul Virilio steht mit der Verdichtung der Zeit zur totalen Gegenwart eine entscheidende Veränderung der bisher gültigen Zeitstrukturen bevor: „Wie sollte es heute noch möglich sein, das lineare und vergängliche Wesen der Zeit nicht anzufechten? [...] Diejenigen, die an nichts anderem leiden als daran, dass die Tage vorübergehen, können unbesorgt sein: in Zukunft wird die Gegenwart nicht mehr vorübergehen, beinahe jedenfalls.“690 Und Flusser selbst stellt in den medialen Darstellungen eine „Tendenz zur Vergegenwärtigung“ fest, die jenes Verhältnis von immer schon entzogener Vergangenheit und ungreifbarer, flüchtiger Gegenwart, das das historische Bewusstsein der ‚Moderne‛ prägte, nahezu ins Gegenteil verkehrt: „Für das historische Bewusstsein ist die Gegenwart ein Punkt auf der Linie der Zeit, den die Zeit durchläuft. Daher ist die Gegenwart unwirklich: sobald sie ist, ist sie nicht mehr. Wirklich ist nur das Werden. Für die Technoimagination [...] ist nur Gegenwart wirklich, weil diese der Ort ist, an welchen das nur Mögliche (die Zukunft) ankommt, um verwirklicht (eben gegenwärtig) zu werden. [...] Und die Gegenwart ist, wo ich bin, denn ich bin immer gegenwärtig. Das ist die existentielle Definition der Gegenwart: der Ort, an dem ich mich befinde. Aber eine solche – scheinbar ganz simple – Umformulierung und Relativierung des historischen Zeiterlebens hat unabsehbare Folgen, obwohl nicht nur 687

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Vgl. auch Nowotny 1989, S.13: „Wenn es zutrifft, dass das lineare Kontinuum, das mit dem Fortschrittsglaube seit dem 18. Jahrhundert in die so genannte Neuzeit einzog, zusammengebrochen ist, wenn die Zeit ‚gestorben ist‛, wie es einige Dichter und Philosophen sehen, zumindest jene Zeit, die auf dem Kontinuum aufbaute, was tritt an ihre Stelle? Ist es der Augenblick, der losgelöst von immerwährender Kontinuität, aufgewertet wird zum Hoffnungsspender für das Anhalten der Zeit, der Zwischen-Zeiten ermöglicht, die nicht dem Fluss des linearen Kontinuums unterworfen sind? Oder tritt an Stelle des Kontinuums mit seiner eingebauten Beschleunigung ein neuer Zeit-Zyklus, diesmal durch die technologische Wiederkehr geprägt [...]?“ Kasten, Helmut: Wie die Zeit vergeht. Unser Zeitbewusstsein in Alltag und Gegenwart, Darmstadt 2001, S.114. Großklaus, Götz: Medien-Zeit, in: Sandbothe, Mike / Zimmerli, Walter Ch. (Hgg): Zeit – Medien – Wahrnehmung, Darmstadt 1994, S.36-59, S.38. Vgl. Virilio, Paul: Fluchtgeschwindigkeit. Essay, Frankfurt a.M. 2001, S.189ff.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur jeder Filmoperator, sondern jeder, der je Fotografien in ein Album geklebt hat, diese Umformulierung in die Praxis umgesetzt hat.“691

Nach Großklaus hat diese Tendenz zur Gegenwärtigkeit entscheidend mit einer „Einebnung symbolischer Differenz und symbolischen Abstands“692 zu tun, die durch audiovisuelle Medien verursacht werde. In der Tat ist ein Verschwinden temporaler Intervalle in der Medienkultur der Gegenwart gleich auf unterschiedlichen Ebenen festzustellen: Einerseits erzeugen Techno-Bilder – wie bereits dargelegt – offenbar auf unmittelbarere Weise Bedeutung als Bilder früherer Epochen, da sie „an die gleiche Gegenwarts-Zeitstelle“ kopiert werden, an der „auch Wahrnehmungsbilder“ oder Phantasien entstehen.693 Dadurch wird das aktive ‚Dechiffrieren‛ der Botschaft tendenziell überflüssig, da diese auf direktem, daher aber auch unterbewusstem Weg vermittelt wird. Dabei sind die Techno-Bilder nicht selten sogar ganz absichtlich darauf programmiert worden, „unentziffert empfangen [zu] werden“, den Empfänger also selbst in bestimmter Form zu programmieren. 694 Andererseits speichern Techno-Bilder, die ‚reale‛ Ereignisse abbilden sollen, diese inzwischen fast ohne Verlust, wodurch auch die ‚Differenz‛ zwischen Ausgangsrealität und Abbild zunehmend verschwindet. Im Gegensatz zum ‚Gedächtnis‛ der Bibliotheken verformen die audiovisuellen Medien das Geschehen nicht in Geschichten oder Erklärungen (‚Versionen‛), sondern halten – wenigstens dem Anschein nach – zunehmend die Ereignisse selbst fest, die in der erneuten Rezeption dann nicht ‚rekonstruiert‛ werden müssen, sondern einfach erneut ‚aktiviert‛ werden können. Die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart erscheint dadurch aber nicht mehr von sich aus und unabhängig vom Bewusstsein als gegeben, sondern wird immer erst performativ hergestellt, sobald die historischen Ereignisse in die Gegenwart geholt werden. Die Vergangenheit erscheint dadurch „als eine Art Loch in der Gegenwart [...], in dem Zeit sich staut, allerdings nicht in Gestalt einer“ unabhängigen „Zeitform, sondern als ein Aspekt der Gegenwart“ selbst.695

691 692

693 694 695

Flusser 1998, S.214f. Großklaus 2004, S.180. Die Behauptung, „zwischen historischer und elektronischer Zeit“ ließe sich „wie zwischen Aufschub und Gleichzeitigkeit“ unterscheiden, ist nach Friedrich Kittler allerdings als – wenn auch für das Medienzeitalter symptomatischer – „Mythos“ zu betrachten. Vgl. Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1994, S.201. Großklaus 2004, S.171 & S.164. Vgl. Flusser 1998, S.148. Flusser 1998, S.215. Diese Unterordnung der Vergangenheit unter die Gegenwart zeigt sich insbesondere in dem, was medienkritisch als ‚konsumatorischer‛ Umgang mit der Geschichte bezeichnet werden könnte: „Wenn wir mit Hilfe der Computeranimationen und der Cybertechnologie der Geschichte und Vorgeschichte auf den Leib rücken, bis wir das Weiße im Auge von Tyrannosaurus Rex erblicken oder die virtuelle Türklinke einer Backstube in Paris des Revolutionsjahres von 1789 drücken, eignen wir uns Geschichte nicht an, sondern schaffen sie ab.“ Vgl. Guggenberger 1999, S.53.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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Um diesen „Unfall der Echtzeit“696 auch historisch nachzuvollziehen, verknüpfen Medientheoretiker wie Flusser und Großklaus die Wandlungen des Zeitbewusstseins, die sich im 20. Jahrhundert vollziehen, ganz direkt mit den unterschiedlichen technischen Innovationen, die in dieser Zeit die Medienlandschaft revolutioniert haben. Radio, Film und Fernsehen und zuletzt die digitalen Medien stellen dabei entscheidende Einschnitte dar, doch auch Kommunikationsmedien wie das Telefon oder Zusatztechnologien wie der Videorecorder finden immer wieder bezüglich ihrer Auswirkungen auf das Zeitempfinden der Menschen Erwähnung.697 Als entscheidende Innovation wird die analoge Fotografie betrachtet, in der der Augenblick erstmals seine konstitutive Flüchtigkeit scheinbar zu überdauern lernt: Die Ablichtung eines eigentlich einmaligen Zeitmoments beglaubigt sichtbar dessen Wirklichkeit und erzeugt eine Gleichzeitigkeit von vergangenem Zustand und dessen Repräsentation. Es handelt sich also um eine „Emanation des vergangenen Wirklichen“698, die durch eine textuelle Darstellung niemals auf gleiche Weise zu erreichen wäre. Dennoch bleibt die Fotografie aber insofern ‚textuell‛, als dass in ihr sich auch eine Differenz zwischen einer notwendig immer nur ausschnitthaften, entlebendigten und stilisierten Darstellung und der Erinnerung an das wirkliche Ereignis auftut. Die Irritation der Wirklichkeit erscheint also in Form einer eigentümlichen Mischung aus dokumentarischem Festhalten und Verfälschen der Realität: „Diese Tatsache, dass die Beobachtung das Beobachtete und den Beobachter verändert, ist für den Fotografen selbstverständlich. Die enorme Schwierigkeit, diese Tatsache zu akzeptieren [...], ist nur auf der Bewusstseinsebene des historischen Denkens, nicht auf der des Fotografen vorhanden.“699

Die Fotografie lässt Zeit sichtbar werden, sie hebt den Augenblick aus seiner Flüchtigkeit und macht ihn zu einem Bild, doch ist dieses etwas anderes als der Augenblick selbst, der nach wie vor als vergangener und uneinholbarer bewusst bleibt. Trotzdem steht die Fotografie am Anfang einer medialen Entwicklung hin zu immer umfassenderen und perfekteren Vergegenwärtigungen; denn bereits die Fotografie „duldet nicht das Entstehen von Vergangenheit, sie duldet nicht, dass Ferne entsteht. Das Bild fordert immer wieder zur Vergegenwärti696 697

698

699

Virilio 2001, S.183. So werde etwa beim Abspielen von Videofilmen durch die Möglichkeit, den zeitlichen Fortgang des Films selbst zu unterbrechen, ihn rückwärts oder verlangsamt ablaufen zu lassen oder ihn nach Belieben zu wiederholen, Zeit selbst zur Darstellung gebracht, wodurch die „Ereignisse von ihren chronologischen Gestalten getrennt“ würden. Vgl. Neverla, Irene: Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib, München 1992, S.70. Durch audiovisuelle Medien wird so „Zeit als Medium, in dem sich Wahrnehmung ereignet, ihrerseits zum Gegenstand der Wahrnehmung, d.h. zum Objekt unserer aktiven Gestaltung.“ Vgl. Sandbothe 1996, S.134f. Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1985, S.99. Flusser 1998, S.186.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

gung des Vergangenen auf und stellt damit immer wieder ein aktuelles NahVerhältnis her.“700 Die Spur der Vergangenheit ist im Foto „konkret“ und erzeugt so bereits einen Zustand „magischer Präsenz“, in welchem der „Zwischenraum, der den Zeitraum der Aufnahme von dem der Betrachtung des Fotos trennt“, auf paradoxe Weise gleichzeitig überwunden und bewusst gemacht wird.701 Die Entwicklung des Films führt in erster Linie zu einer Angleichung der Medieninszenierung an die Wahrnehmung, also zu einer Steigerung des illusionistischen Potenzials der Darstellungsform. Gleichzeitig treibt es die Auslöschung des Zeichen-Charakters der Bilder voran, denn mit dem Film ist erstmals die Möglichkeit gegeben, Wirklichkeit auch in ihrer Prozessualität verlustfrei festzuhalten und damit das Intervall zwischen Ereignis und medialer Inszenierung weiter schrumpfen zu lassen. Indem das Abbild zudem synchron zum Geschehen entsteht, unterliegen Fotografie und Film nicht mehr jener Verzerrung, die der grundsätzlich nachträglichen Codierungsform der Schrift notwendig innewohnt: Das Medium codiert dem Anschein nach eigentlich überhaupt nicht mehr, sondern speichert Wirklichkeit nun in ihrer ganzen Heterogenität. Die Montagetechnik des Films ermöglicht dabei eine Darstellungsweise, in der disparates Geschehen in einen nicht-chronologischen, aber kontinuierlich erfahrbaren Zusammenhang gebracht wird, bei dem der Gestus des rekonstruierenden Rückblickens in der Gegenwartsrhetorik der ‚lebenden Bilder‛ aufgelöst erscheint. Historisch spätere Bildmedien wie das Fernsehen setzen diese Entwicklung fort, indem sie jeder Darstellung selbst den Charakter eines momentanen, gegenwärtigen Geschehens verleihen und dadurch das „Zeitgefälle zwischen Bild und Ereignis“ vollständig auslöschen.702 Die „Zeitstrukturen des Fernsehprogramms“ weisen zwar „vordergründig eine strenge Dichotomisierung zwischen einer rekonstruierten Vergangenheit und einer reproduzierten und abgebildeten Gegenwart auf“, lösen diese jedoch „immer wieder in der starken Kontextualisierung der Programme und in deren Verdichtung auf die Wahrnehmungsgegenwart auf dem Fernsehbildschirm auf“: „Ganz anders als das Kinoerleben ermöglicht das Fernsehen also dem Zuschauer, von seinem Sessel aus mit der Fernbedienung quasi in jede Zeit und an jeden – als real oder fiktiv konzipierten – medialen Ort einzuloggen. Zugleich löst er dabei die Differenzen zwischen dem hier und dem dort, dem jetzt und dem dann, dem Realen und dem Fiktiven sowie zwischen Alltags- und medialer Erfahrung, die in den Bildern und den Narrationen oftmals streng aufrecht erhalten bleiben, auf. [...] Dies schafft zugleich die Grundlage für die 700 701 702

Großklaus 1995, S.21. Vgl. Großklaus 1994, S.37. „Bilder entstehen und entweichen“ nun zunehmend „synchron, als wären sie die Ereignisse selbst.“ Vgl. Belting, Hans: Das echte Bild. Bildfragen und Glaubensfragen, München 2005, S.20.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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Auflösung der unmittelbar erlebbaren Differenz zwischen den grundlegenden Zeitstrukturen von Vergangenheit und Gegenwart.“703

Wichtiger als diese trügerische Präsenz der Vergangenheit ist jedoch auch hier wieder die zunehmende Unsichtbarkeit der Codierung, durch die jeder Übertragungsverlust zwischen Ereignis und Darstellung geleugnet wird: Immer mehr „Felder des Gewesenen“ werden „medial eingemeindet“ und bleiben dadurch dem Anschein nach vollständig konserviert, immer mehr „Bild- und Tonspuren“ der vergangenen Wirklichkeit „ruhen in der Latenz der Medienspeicher und können jederzeit medial wiederkehren im Zeitfenster einer beliebigen Gegenwart.“704 Der Prozess der fortschreitenden Auslöschung oder Tarnung des ‚Medialen‛ selbst, der sich hier abzeichnet, kulminiert zuletzt in der TV-LiveÜbertragung, die daher keineswegs als medialer Sonderfall, sondern als zentrales Phänomen mindestens der Fernsehkultur zu begreifen ist. Hier ist nun – wiederum allerdings nur scheinbar705 – endgültig bloß noch das zu sehen und zu hören, was wirklich gerade passiert, erscheinen Realität und Abbildung also als absolut synchron: Im „Begriff der real-time sind jegliche Wege, Aufschübe und Verzögerungen grundsätzlich aufgehoben. Real-time ist der Begriff für den Zusammenfall von Erwartung und Erfüllung auf der sozialen Ebene“ ebenso wie „für den Zusammenfall von Codierung und Decodierung auf der kognitiven Ebene.“706 Entscheidende historische Voraussetzung der Live-Übertragung ist die Entwicklung der digitalen Technologie, die den weltweiten Austausch von Daten in Sofortzeit ermöglicht, denn das „zeitliche Intervall, das traditionell Produktion und Rezeption von Botschaften trennt und begrenzt, schrumpft bei Übermittlung in Lichtgeschwindigkeit gegen null.“707 Großklaus führt zusammenfassend aus: „Intervall-Löschung ist das Prinzip von Vergegenwärtigung. Minimieren wir die zeitlichen Abstände zum Vergangenen und zum Zukünftigen, wird die Gegenwart zum alleinigen Schauplatz aller Zeiten. Überführen wir ständig Ver703

704 705

706

707

Kramer, Stefan: Bilder des Anderen und der kulturelle Ort des Fernsehens, in: Assmann, Aleida / Gaier, Ulrich / Trommsdorff, Gisela (Hgg): Zwischen Literatur und Anthropologie. Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen 2005, S.227-240, S.233 & S.237. Großklaus 1994, S.49. Wie unter anderem Jacques Derrida feststellt, ist jede vermeintlich intervallfreie LiveSendung gleichwohl eine Inszenierung: „Wie direkt und unmittelbar Bild und Ton auch immer zu uns kommen – wenn man uns heute angeblich ‚live‘ überträgt, was geschieht, zum Beispiel das Ereignis des Golf-Kriegs, dann weiß man, dass extrem subtile Aufnahme-, Projektions- und Filtertechniken es ermöglichen, das, was uns gezeigt wird, in Sekundenschnelle zu kadrieren, zu selektieren und zu interpretieren, sodass die Bilder das Ereignis schließlich nicht zeigen, sondern hervorbringen.“ Vgl. Derrida 2003, S.23. Großklaus, Götz: Nähe und Ferne. Wahrnehmungswelten im Übergang zum elektronischen Zeitalter, in: Großklaus, Götz / Lämmert, Eberhard (Hgg): Literatur in einer industriellen Kultur, Stuttgart 1989, S.489-520, S.518. Großklaus 1994, S.39.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur gangenheit in die Medienrealität – und Zukunft in die Gegenwart der Computer-Simulation –, so leben wir zunehmend im künstlichen Präsens abstandloser Augenblicke.“708

Mit der Entwicklung der digitalen Technologie ist noch eine weitere Revolution verknüpft: ‚Authentische‛ Bilder können nun zunehmend verändert, tendenziell sogar synthetisch hergestellt werden und gleichen sich auf diese Weise nicht nur der Realität, sondern auch der Phantasie und der Imagination an. Was dargestellt wird, ist deshalb immer weniger an die Physik der ‚realen‛ Welt gebunden, die auf diese Weise zu einer Art „Sonderfall“ innerhalb eines beständig wachsenden Kosmos ‚möglicher Welten‛ wird.709 Zu diesen gehören auch die in ‚Simulationen‛ vorweggenommenen Ereignisse der Zukunft, die für Technologie, Industrie, Architektur, aber auch für Politik und Wirtschaft eine immer wesentlichere Rolle spielen.710 In der Simulation wird dabei überhaupt kein Ereignis mehr ‚vermittelt‛, sondern durch das ‚Medium‛ selbst – das nun eigentlich keines mehr ist – vorweggenommen, also durch Programmierung in der Gegenwart erzeugt. Sowohl zukünftige als auch vergangene Ereignisse werden so von ihrer Ungreifbarkeit befreit und tendenziell zu Aspekten einer Gegenwart, die als Punkt auf einer Linie nicht mehr gedacht werden kann. „Mediales Gedächtnis (elektronische Speicher), mediale Vorstellung und Erwartung (elektronische Simulation) und mediale Wahrnehmung (elektronische Aufzeichnung) erzeugen und entwerfen“ vielmehr „ein mediales Zeit-Netz von ungeheurer Dichte und Präsenz“711, das eine völlig neue Temporalstruktur erkennen lässt: „Mit der synthetischen Bildwelt der Computeranimationen (CA) betreten wir eine vollkommen neue künstliche Welt, deren Zeitlichkeit sich noch einmal von der aller vorhergehenden Medien-Bildwelten unterscheidet. [...] Erzeugung tritt an die Stelle von Nachahmung und Inszenierung. Hergestellt werden ‚eigene Wirklichkeiten‛ zweiten oder dritten Grades, deren mögliche Ähnlichkeit mit der Erstwirklichkeit unserer Wahrnehmung programmatisch und nicht mimetisch zustande kommt, im Rückgang auf abstrakte Grundstrukturen – und nicht in Orientierung an konkreten Erscheinungen. [...] Was dann wahrnehmbar wird, ist ein Modell von Wirklichkeit. Wie lässt sich die Zeitlichkeit von Wirklichkeits-Modellen beschreiben? [...] In der uns noch vertrauten Sichtweise könnte man [...] sagen: das Operationsfeld der Simulation ist zweifellos die ‚ganze Zeit‛. [...] Die Zeitlichkeit des ‚reinen Modells‛ ist ‚reine Gegenwart‛.“712 708 709

710 711 712

Großklaus 1994, S.44. Nach Wolfgang Welsch öffne sich dabei „unsere Wirklichkeitauffassung“ selbst dann „auf eine mögliche Vielzahl von Welten hin“, wenn weiterhin von einer „eigentlich wirklichen Welt“ ausgegangen werde. Vgl. Welsch, Wolfgang: Künstliche Welten? Blicke auf elektronische Welten, Normalwelten und künstlerische Welten, in: Hammel, Eckhard (Hg): Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien, Essen 1996, S.157-189, S.170f. Vgl. Wiesing 2005, S.120ff. Großklaus 2004, S.166. Großklaus 1994, S.50f.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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Da allerdings die ‚ganze Zeit‛ der verfügbaren Daten für den Betrachter nicht gleichzeitig präsent sein kann, verbleibt im medialen Bezugsfeld letztlich nur noch eine Unterscheidung zwischen aktualisierten und aufgeschobenen Gegenwarten.713 Dabei ist unerheblich, aus welcher Zeit diese Gegenwarten stammen: Die chronologische Dreiteilung Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft wird durch eine neue Form von Zeitstruktur abgelöst, die am ehesten als Variation des vor-historischen ‚occasionalen‛ Zeitbewusstseins beschrieben werden könnte, das nur zwischen ‚Jetzt‛ und ‚Nicht-Jetzt‛ unterscheidet. Da jedes ‚NichtJetzt‛ aber potenziell zum ‚Jetzt‛ werden kann, ist die Zeit der ‚neuen Medien‛ letztlich durch eine Struktur der „technologischen Wiederkehr“714 gekennzeichnet, die sich allerdings nicht nach festen Zyklen, sondern eher nach assoziativen, ständig variierenden Mustern vollzieht. Götz Großklaus erkennt in dieser medialen Zeit-Struktur eine Parallele zu den „neuronalen Mustern“ menschlicher Gehirne und den „im wesentlichen visuell ablaufenden Vorgänge[n] unseres Erinnerns, Erwartens, Vorstellens oder Imaginierens“, die ebenfalls nicht einer linearen Ordnung folgen, sondern „sich gegenwärtig im Aufmerksamkeitsfeld unseres bewussten Erlebens übereinanderschieben und dort ihren Platz – oder besser: den Zeitpunkt ihres Erscheinens – auf ähnliche Weise behaupten wie die medialen Daten und Bilder den ihren im Zeitfenster der elektronischen Schirme.“715 Auf diese Weise scheint eine Angleichung von ‚äußeren‛ und ‚inneren‛, medialen und neuronalen Zeitstrukturen stattzufinden, die sich beide durch den unmittelbaren Zugriff auf ‚audiovisuelle‛ Speicher kennzeichnen. Die Zeitform der digitalen Medien „entspricht dem kognitiven Präsens“, sie lässt sich eher als „Schnittfläche unterschiedlicher Temporalitäten“716 denn als Punkt auf einer Linie veranschaulichen. Eine kybernetische „Symbiose von kognitiven Operationen und Medien“717, die bereits heute technisch möglich ist, würde schließlich potenziell jede Unterscheidung von innerer und äußerer Zeit aufheben. Der Zugriff auf mediale Speicher würde sich dann durch nichts mehr vom Zugriff auf das eigene Gedächtnis unterscheiden: Die Zeit wäre von ihren Inhalten vollständig getrennt, die kognitive Organisation der Erinnerung zum Maßstab der gesellschaftlichen Zeitstruktur geworden. In fiktionalen Texten und Filmen ist die Manipulation nicht nur der medialen, sondern auch der neuronalen Bilder, der Arsenale des individuellen Gedächtnisses, immer wieder in Szene gesetzt worden. Das Motiv einer medial zu713

714 715 716 717

Paul Virilio hat festgestellt, die „drei Zeitformen der entscheidenden Aktion – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – würden heimlich durch zwei Zeitformen ersetzt, die reale Zeit (Echtzeit) und die aufgeschobene Zeit.“ Vgl. Virilio, Paul: Die Sehmaschine, Berlin 1989, S.151. Nowotny 1989, S.13. Großklaus 1994, S.54f. Großklaus 1994, S.56. Vgl. Elsner, Monika / Müller, Thomas: Der angewachsene Fernseher, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hgg): Materialien der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S.392-415, S.393.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

sammenmontierten, manipulierten Erinnerung, das etwa in Filmen wie The Manchurian Candidate, Blade Runner, The Final Cut oder Eternal Sunshine of the Spotless Mind718 im Mittelpunkt steht, reflektiert dabei nicht länger die Unverfügbarkeit der ‚realen‛ Vergangenheit, sondern problematisiert vielmehr die selbstverständliche Verfügbarkeit einer möglicherweise ‚falschen‛ Erinnerung und Wahrnehmung: Die ‚falschen‛ Wirklichkeiten erscheinen hier als ebenso ‚real‛ wie die ‚wahre‛. Die Skepsis gegenüber den Bildern, die sich im kritischen Mediendiskurs der Jahrtausendwende deutlich abzeichnet, bedeutet daher tatsächlich etwas vollkommen anderes als die Einsicht in die Unvollständigkeit der symbolischen Darstellung, die den Zeit-Diskurs um 1900 prägte: Ist die Unzugänglichkeit des Referenten in der schriftlichen Darstellung eine Folge der Inkompatibilität von sinnlicher und symbolischer Wirklichkeit, scheinen falsche Bilder gewissermaßen ‚das Reale‛ selbst zu verändern, und zwar bevor der begriffliche Verstand auf diese Bilder überhaupt zugreifen kann. Die „Bildströme fesseln uns“ regelrecht „an die Gegenwärtigkeit, an die suggestive Präsenz der visuellen Erscheinungen, und gewähren uns die abstandslose Erfahrung des Gegenwärtig-Seins im Gegensatz zu zeit-distanzierten Sätzen und Texten.“719 Im Kampf gegen die Normierung und Manipulation der subjektiven Zeitverhältnisse durch Techno-Bilder stehen wenigstens dem ‚linear‛ programmierten Menschen deshalb keine ausreichenden Mittel mehr zur Verfügung: Es gibt „nicht im gleichen Sinne wie beim Widerspruch des Wortes gegen das Wort einen Widerspruch des Bildes gegen das Bild.“720 So scheint dem Menschen das finale „Delirium präsens“ zu drohen, in dem keine wahren Aussagen über Vergangenheit oder Zukunft mehr sinnvoll zu tätigen sind.721 Die Angst vor medialer Manipulation gewinnt dadurch noch an Brisanz, dass individuelle Erinnerung sich tatsächlich immer stärker auf „das Universum der ‚äußeren Bilder‛ und auf die in den medialen Speichern abgelegten Daten“ stützt.722 Nicht zuletzt die Herstellung eines globalen, audiovisuellen „kulturellen Gedächtnisses“723 durch das Fernsehen bewirkt dabei, dass bloß rezipierte 718

719 720 721 722 723

Vgl.: The Manchurian Candidate (USA 1962, John Frankenheimer), Blade Runner (USA 1982, Ridley Scott), The Final Cut (USA 2004, Omar Naim), Eternal Sunshine of the Spotless Mind (USA 2004, Michel Gondry). Besonders populär war auch Total Recall (USA 1990, Paul Verhoeven). Großklaus 2004, S.169 & S.166. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1995, S.35. Vgl. Becher 1990, S.464. Großklaus 1994, S.54. Das kulturelle Gedächtnis umfasst nach der Definition von Jan Assmann bekanntlich ein in Texten, Bildern und Riten „kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“ Dieses Gedächtnis wird jedoch nicht nur durch seine Inhalte, sondern auch durch die dominanten Speicher- und Vermittlungsmechanismen – in erster Linie die etablierten Medien – figuriert. Vgl. Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identiät, in: Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hgg): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988, S.9-19, S.15.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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und damit in herkömmlichem Sinne unauthentische Erfahrungen zunehmend zu individuellen Schlüsselerlebnissen werden. Die regelrechte Inszenierung kollektiver Traumata wie des Kennedy-Mordes oder des 11. Septembers etwa – Themen, die auch in deutschen Romanen immer wieder aufgegriffen werden – wird durch Bildmedien getragen, die das Erlebnis des Geschehens einerseits ‚live‛ ermöglichen, es andererseits aber auch ständig wiederholen und so im Bewusstsein der Subjekte zu Erinnerungen werden lassen, die möglicherweise einen viel sinnlicheren und realeren Charakter aufweisen als andere, persönlichere Gedächtnisinhalte. Gleichzeitig aber ‚erklären‛ die millionenfach wiederholten Loops der brennenden Türme oder der Schüsse auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten nichts, sondern verbleiben in traumatischer, also nicht verarbeitbarer Präsenz. Wie Eva Horn gezeigt hat, hat sich den Ereignissen deshalb nahezu unmittelbar eine haltlose Produktion immer neuer Erklärungsversuche, Verschwörungstheorien und Beweisführungen angeschlossen, die in erster Linie die mangelnde Fähigkeit der Bilder belegen, die Ereignisse, die sie abbilden, ‚historisch‛ zu kontextualisieren. Im Angesicht des „Delirium präsens“ der Techno-Bilder wird also der narrativ-lineare Zeitmodus der Schrift wieder aufgewertet, die Mittelbarkeit der textuellen Darstellung gerade als jener Aspekt erkannt, der ein kritisches Bewusstsein ermöglicht. Führte die Unverfügbarkeit des Ereignisses in der Moderne zu einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber jeder narrativen Rekonstruktion, führt heute augenscheinlich die sinnliche Anwesenheit solcher Ereignisse zu dem Versuch, gerade in der Fiktionalisierung des Geschehens ein Gegengewicht zu entwickeln, das es erlaubt, den unmittelbaren Augenschein wieder in Reflexion zu überführen. Der Anspruch auf die letztgültige, wahre Version tritt dabei tendenziell in den Hintergrund; wichtig scheint vor allem, der tautologischen ewigen Wiederkehr immergleicher Bilder überhaupt noch den – medienhistorisch zunehmend anachronistischen – Anspruch auf Wahrheit und Zusammenhang entgegenzusetzen: „Es geht darum, durch ein Narrativ der chaotischen und intransparenten Wirklichkeit habhaft zu werden und so das secretum des Ereignisses aufzulösen. [...] Fiktionen, die wissen, dass sie welche sind, scheinen das einzige Medium zu sein, in dem man noch ‚Wahrheiten‛ sagen kann.“724

2.1. „Wann bin ich, verdammt?“ Michael Wallner, Thomas Hettche und Urs Widmer Als jener deutsche Gegenwartsroman, in dem sich die meisten der für das neue Genre der ‚Zeitliteratur‛ charakteristischen Motive versammelt finden, kann möglicherweise Michael Wallners im Jahr 2000 erschienenes Buch Cliehms Begabung gelten. Wie in Nicholson Bakers The Fermata lernt hier ein Protagonist, sei724

Horn 2007, S.423f. Vgl. auch Raulff 1999, S.84.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

ne gelöste Bindung an die Zeit zu kontrollieren und willentlich den chronologischen Lauf des Geschehens zu unterbrechen. Wie in Kraussers UC entstehen auf diese Weise unterschiedliche parallele ‚Versionen‛ seiner Vergangenheit, die in widersprüchlichen, aber dem Protagonisten offenbar gleichermaßen verfügbaren ‚Gegenwarten‛ münden. Wie in Daniel Kehlmanns Roman Mahlers Zeit ist Anton Cliehm ein Physiker, der mittels einer Formel die Zeit widerlegt, und wie in Juli Zehs Schilf725 ist es insbesondere die Parallelwelten-Theorie, die dabei auf einmal zu unerwarteten naturwissenschaftlichen Ehren gelangt. Vor allem aber sind es die merkwürdige Distanzlosigkeit zu den ganz in sinnliche Realität übergegangenen Erinnerungen und Phantasien, die unmittelbare Zugänglichkeit der Bewusstseinsinhalte und die Unfähigkeit des – in Wirklichkeit im Koma liegenden – Anton Cliehm, diese als vollständig fiktionale Produktionen seines eigenen Gehirns zu erkennen, die das Buch als typischen neueren Zeitroman ausweisen. Dass hierbei Bezüge auf mediale Wahrnehmungen vorliegen, haben auch Wallners Kritiker als offenkundig empfunden, wobei die Deutung der Zeitsprünge als Simulation filmischer Wahrnehmung im Vordergrund steht.726 Und tatsächlich lässt sich wohl an keinem anderen der neueren Zeit-Romane der Zusammenhang zwischen der Intensität eines sinnlichen, aber dennoch ‚falschen‛ Erlebens und der Produktion vernetzter, nicht-linearer ‚Fiktionen‛ besser illustrieren. Die Existenz unterschiedlicher paralleler Zeitstränge will der geniale Forscher Anton Cliehm durch den Nachweis einer neuen Teilchenart, der S.O.C.K.S., belegen. Doch muss er erkennen, dass die komplexe Formel am Ende der dritten Zeile einen Fehler besitzt. Sein Lebenswerk zerstört wähnend, entschließt Cliehm, nach Portugal zu reisen und dort seinem Leben ein Ende zu bereiten. Der Versuch misslingt auf groteske Weise, doch stattdessen findet sich der Physiker nun mit einer „Begabung“727 ausgestattet, die ihn in die Lage versetzt, seine physikalischen Theorien am eigenen Leib zu testen: Die Zeit verläuft für ihn nicht mehr linear, sondern springt mit der Erinnerung, wobei jede Phase seiner Vergangenheit, in die sie ihn befördert, für ihn erneut zur erlebten Gegenwart wird: „Ich bin tatsächlich hier, staunt Cliehm.“728 Von Beginn an tritt die Erinnerung wie eine eigenständige ‚mediale‛ Intelligenz auf, die nicht wirklich zu Cliehm gehört, ihn vielmehr nach eigenem Gutdünken durch die verschiedenen Phasen seiner möglichen Leben schleudert: Sie bestimmt, was passiert, nicht selten auch gegen den Willen ihres Eigentümers. Zeitweilig erscheint sie sogar als ein bewusster Akteur, der mit Cliehm in Dialog tritt und dabei Befehle gibt, lacht oder erklärt, was gerade passiert. Cliehm muss mühsam lernen, selbst von der Erinnerung Gebrauch zu machen; er bedient sie wie einen 725 726

727 728

Vgl. Zeh, Juli: Schilf, Frankfurt a.M. 2007. Vgl. z.B. Auffermann, Verena: Als Gedanke könnte Anton Cliehm überall sein, in: Süddeutsche Zeitung (05.01.2001), S. ROM 4. Wallner 2000, S.92. Wallner 2000, S.106.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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Video-Recorder, auf dem er sein Leben vor- und zurückspulen kann: „Cliehm hält Ausschau nach der Erinnerung. Rückwärts gehen!, ruft er. Jetzt!“729 Sowohl Super-Slow-Motion als auch das Rückwärtsspulen der Zeit gehören zum Repertoire der eigentümlichen Erinnerung: So betrachtet der Physiker einmal gedankenverloren das allmähliche „Wachsen der brüllenden Flamme“ eines durch ihn selbst zur Explosion gebrachten Gasofens, entscheidet dann auf einmal, lieber noch ein wenig länger am Leben zu bleiben, und veranlasst die Erinnerung, „die Richtung der flammenden Kugel“ umzukehren und das Feuer „in den schwefeligen Kopf des Holzes“, mit dem er es entzündet hat, zurückkehren zu lassen. 730 Schließlich ist es ein kleiner portugiesischer Junge, der Cliehm darüber aufklärt, dass ein solcher Zeitreisemechanismus mit dem Begriff ‚Erinnerung‛ eigentlich falsch bezeichnet ist: „Erinnerung gibt es nicht“731, erklärt er ihm. Was Cliehm durch die Zeiten treibt und jede Vergangenheit beim ersten Gedanken an sie sofort real werden lässt, ist eigentlich die Einebnung der Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit und damit die Verhinderung von Erinnerung im herkömmlichen Sinne des Wortes. Die Zeitsprünge nämlich verbinden die episodischen Erfahrungen nicht nur zu keinem linearen Zusammenhang mehr, sie lassen es auch ganz unmöglich erscheinen, das, was einer bestimmten Situation in der eigentlichen Chronologie unmittelbar vorausging, ins Gedächtnis zu rufen: „Ich habe keine Erinnerung, erkennt er plötzlich. Was war vorher? Wie bin ich in diese Lage gekommen?“732 Für Cliehm wird Zeit so zu einem Netzwerk unterschiedlicher paralleler Handlungsverläufe, aus denen er wechselweise immer nur bestimmte Gegenwarten erlebt. Den Zusammenhang muss er sich jeweils mühsam erschließen: „Unterwegs in der Zeit, denkt Cliehm panisch. Vorwärts oder rückwärts? Tilly steht mir gegenüber, stellt er fest, hinter ihr ist ein Café. Wann bin ich, verdammt?!“

Ähnlich wie in den Romanen Kraussers, Kehlmanns und Lehrs führt die Situation zu wilden theoretischen Spekulationen über das Verhältnis der so entstandenen Parallelwelten. Was etwa würde passieren, wenn Cliehm aus einer Gegenwart mit einem Telefon in einer anderen, parallelen anrufen könnte? „Würde die Zeit implodieren? Stürzen die Gegenwarten ineinander, wenn sie sich berühren? Oder laufen sie gleichmäßig fort wie zwei Gleise, die zu unterschiedlichen Zielen führen, sich aber irgendwo auf der Strecke begegnen? Eine Weiche in der Zeit? Kann ich sie stellen?“733 Die Variabilität der Zeit erscheint bei Wallner – ähnlich wie bei Krausser – als Folge der Loslösung der Zeit von ihrem Inhalt. Solange Cliehm „sich nirgendwohin wendet, keine Pläne fasst und in keine ihn 729 730 731 732 733

Wallner 2000, S.60. Wallner 2000, S.49. Wallner 2000, S.77. Wallner 2000, S.135. Wallner 2000, S.181.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

umgebende Handlung eingreift, meint er, die Zeit zu sehen“, und zwar als Fülle der Eindrücke, die kontinuierlich an ihm vorbeifließen. Doch gerade diese Verknüpfung der Zeit mit dem Geschehen, das in ihr stattfindet, ist für den Physiker nicht mehr eindeutig gegeben: „Hier ist es die schimmernde Dämmerung. Das Licht, die Geräusche und die Schatten, die Reisenden und die schlafenden Menschen. [...] Nimm einen dieser Teile heraus, denkt er, und es ist nicht mehr dieselbe Zeit. Es könnte ein anderes Universum sein, so groß wäre der Unterschied.“734

Wurde in der klassischen Moderne das Bild eines sinnvollen historischen Kontinuums durch die leere Folge unverbundener Jetzt-Punkte abgelöst, wird im Medienzeitalter offenbar das Prinzip der Linearität endgültig unwirklich. Die Folge der subjektiven Eindrücke, in der Wahrnehmung, Erinnerung und Phantasie gleichberechtigt nebeneinander stehen, gewinnt gegenüber der ‚tatsächlichen‛ chronologischen Folge an Gewicht. Auch bei Wallner wird dabei Zeit auf Gegenwart reduziert: Alles, was erinnert wird, bekommt den gleichen Wirklichkeitsstatus zugesprochen wie die Gegenwart selbst. Die erinnerten Zeiten werden dadurch nicht nur neu erlebt, sie können folgerichtig auch bei jeder neuen Vergegenwärtigung anders ablaufen: „Hier war ich schon einmal!“, beschwert sich Cliehm nach einem seiner Zeitsprünge bei seiner Erinnerung. „Was soll ich ein zweites Mal hier?“ Aber die Erinnerung antwortet ihm: „Es ist nicht das zweite Mal. Es ist jetzt.“735 Jede denkbare Zeit wird zum Jetzt: „Welche [Gegenwart] lebe ich?“, fragt Cliehm, und die Erinnerung antwortet: „Jede, die du kennst“.736 Und ein anderes Mal witzelt sie: „Jetzt ist hier, Jetzt ist dort“, Jetzt ist „an beiden Fronten.“737 Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass Cliehm in Wirklichkeit im Koma liegt und alle seine Erlebnisse nur Resultate der unkontrollierten neuronalen Verknüpfungen seines Gehirns sind. Die Realität der Gedanken ist es so auch, die Cliehm mit seiner Theorie eigentlich zu belegen beabsichtigt: „Wer sagt ihnen, dass etwas, das Sie denken, nicht realer ist als das Würstchen, das Sie essen, oder das Diktafon, das hier steht? Ich glaube an die Realität von Gedanken. Dass Gedanken frei sind, haben sich die Menschen schon viele Generationen vor uns gewünscht. Aber wissen wir wirklich, was passiert, wenn wir einen Gedanken aussenden, der an das Sternbild Orion denkt? Ist es nicht möglich, dass der Gedanke tatsächlich dort ist, so wie wir möglicherweise wirklich bei unserer Großmutter sind, wenn wir an sie denken, auch wenn sie schon vor dreißig Jahren gestorben ist?“738 734 735 736 737 738

Wallner 2000, S.123. Wallner 2000, S.152. Wallner 2000, S.156. Wallner 2000, S.203. Wallner 2000, S.213.

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Sofern aber mit der Solipsismus-Figur, die – wie bereits gezeigt – auch für andere Gegenwartsromane typisch ist, eine Aussage über die akute Problematik des Subjekts getroffen werden soll, scheint sich die Parallele zu den eingeebneten Differenzen und Distanzen in der ‚Medienwirklichkeit‛ nahezu aufzudrängen. Insbesondere die These von Götz Großklaus, „der Entwurf einer sozialen Zeit“ gleiche sich mehr und mehr „den Strukturen der neuronalen Zeit“ an, erscheint hier als Vorbild für Cliehms neues, merkwürdiges Dasein.739 Mit der nicht mehr an textuell-linearen, sondern an assoziativen und präsentischen Mustern orientierten Zeitstruktur muss der Physiker von neuem umzugehen lernen, muss also ganz nach Flusser die Logik der „Techno-Bilder“ erst begriffen haben, um sich aus ihrer Kontrolle zu befreien und selbst die ‚Programmierung‛ seiner Zeit übernehmen zu können. Im Roman finden sich dabei immer wieder auch direkte Bezüge auf ‚neue Medien‛: So vergleicht Cliehm einmal seinen demolierten Computer mit dem „Gehirn eines aufgeschlagenen Schädels“740, und in Portugal trifft er auf Leute, die glauben, dass Gott aus dem Fernseher zu ihnen spricht. 741 Cliehm selbst erkennt seine Erinnerung mehr und mehr als eine Simulation von Vergangenheit, bei der nicht wirklich diese selbst verändert wird, sondern nur das Abbild, das Cliehm in seinem Gedächtnis von ihr vorfindet. Da aber dieses Abbild von der eigentlichen Wirklichkeit nicht zu unterscheiden ist, wird jeder Bezug auf irgendeine Ausgangsrealität letztlich verunmöglicht. Dadurch aber wird auch die Bezeichnung der Vergangenheit als Vergangenheit unsinnig: „Es ist nicht die Vergangenheit, die ich gestalte! Es ist nicht die Zukunft, die ich verändere. Es ist die Gegenwart.“742 Zeit, verstanden als Bewusstsein von unverfügbarer Vergangenheit und Zukunft, löst sich auf, wenn diese Dimensionen ihren zeitlichen Charakter verlieren, wenn sie verfügbar und also selbst zur Gegenwart werden. „Keine Zeit ist vergangen“743, resümiert der Protagonist in diesem Sinne am Ende selbst. In Wallners Roman bleibt zudem kein Zweifel daran, dass mit der Installation einer ‚neuronalen‛ Zeit eine tiefgreifende Veränderung der Identität einhergehen muss. Denn ein „ausgeprägter thermodynamischer Zeitpfeil“, der in einer solchen Wirklichkeit nicht länger Bestand hätte, ist zweifelsohne „die notwendige Vorbedingung intelligenten Lebens.“744 Mit eher unheimlicher denn mitreißender Emphase erfasst Cliehm selbst am Ende seine Situation – und feiert die Freiheit eines Bewusstseinszustandes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schließlich nichts anderes mehr sind als zur Realität gewordene Phantasmen: „Nichts bewegt sich, außer auf den Wegen in meinem Kopf. Ich kann schneller sein als das Licht oder unendlich langsam. Ich bin weit draußen, wo 739 740 741 742 743 744

Großklaus 1995, S.42. Wallner 2000, S.39. Wallner 2000, S.256. Wallner 2000, S.155. Wallner 2000, S.300. Wallner 2000, S.88.

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die Sonne nicht mehr zu sehen ist. Ich bin im Innern des Eises. Ich reise. Es ist meine Begabung.“745 Cliehm glaubt, in ein Reich unbegrenzter Möglichkeiten eingetreten zu sein. Obgleich er keinen Führerschein besitzt, fährt er zuletzt mit dem Auto drauflos, den „Tank voll bis zum Rand“: „Freie Fahrt, denkt er.“ Doch wie schon in John von Düffels Zeit des Verschwindens ist das, was im Bild der nächtlichen Autofahrt zum Ausdruck kommt, nicht Freiheit, sondern eine Isolation, die das Verhältnis des Einzelnen zur Welt so weit zerrüttet hat, dass selbst sein Zeitsinn – die Ordnungsfunktion des Sozialen schlechthin – außer Funktion geraten ist. „Die Straße ist lang und weit, von schwarz-grauen Bäumen gesäumt. Der Maisturm greift in die Kronen. Cliehm schaltet die Scheinwerfer aus. Vor ihm liegt die Nacht, nur erhellt durch seine Gedanken.“746 Die vollends verlorene Distanz zu den synthetischen Bildern, die in Cliehms Begabung vorgeführt wird, findet Parallelen in unterschiedlichen Texten der neueren Gegenwartsliteratur.747 Auf der anderen Seite finden sich aber auch viele Beispiele für ein Fortbestehen des klassisch-modernen Diskurses, in dem die mediale Trennung von Ereignis und Darstellung als Basis der Zeitproblematik behandelt wird. Martin Walser etwa beginnt seinen Roman Ein springender Brunnen mit der folgenden Reflexion: „Obwohl es die Vergangenheit, als sie Gegenwart war, nicht gegeben hat, drängt sie sich jetzt auf, als habe es sie so gegeben, wie sie sich jetzt aufdrängt. Aber solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird. [...] Jetzt sagen wir, dass es so und so gewesen sei, obwohl wir damals, als es war, nichts von dem wussten, was wir jetzt sagen.“748

Das Spannungsverhältnis von historischem Ereignis und unvollständiger Erinnerungsspur wird hier als Grundlage des Zeiterlebens behandelt; die Vergangenheit ist verloren und nur als literarisierte zu rekonstruieren. Das zeigt sich auch an einer anderen Stelle von Walsers Roman, an der mit dem „Wunder von Wasserburg“749 unvermutet ein zeitliches Paradox aufklafft: Der Protagonist erlebt an ein und demselben Tag zwei verschiedene Tagesabläufe, er spaltet sich auf, ohne sich selbst zu begegnen, und erfüllt damit den Kontinuitätsanspruch zweier sich widersprechender Zeit- und Erzählstränge seiner Vergangenheit gleichzeitig. Wie in Nabokovs Ada or Ardor resultiert der Widerspruch aus der Einsicht in die prinzipielle Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses und aus dem äs745 746 747

748 749

Wallner 2000, S.301. Wallner 2000, S.302. Beispiele finden sich bei Sprang, Stefan: Textviren zwischen elektronischen Realitätsprogrammen. Wie Literatur am Thema ‚Medien’ ihre Gegenwärtigkeit beweisen kann, in: Döring, Christian (Hg): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter, Frankfurt a.M. 1995, S.49-81. Walser 1998, S.9. Walser 1998, S.119.

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thetischen Grundsatz, diese Unzuverlässigkeit nicht zu verheimlichen, sondern in der Erzählhandlung selbst sichtbar werden zu lassen. Auslöser der Zeitspaltung ist auch hier eine Medien-Erfahrung: Der junge Protagonist wird eines Tages von einem Wanderfotografen aufgenommen – ein Erlebnis, das in ihm das deutliche Gefühl einer Spaltung, einer Selbstentzweiung erzeugt: „Johann spürte es: er war nicht mehr der, der er gewesen war, bevor der Photograph geknipst hatte.“750 Die Fotografie lichtet nicht nur ab, sie verändert und bildet die Welt, indem sie sie verdoppelt, und tritt mit der Wirklichkeit des eigenen Erlebens in Konflikt. Dennoch bleibt die mediale Reflexion bei Walser grundsätzlich einem symbolischen Medienbegriff verhaftet, denn was hier interessiert, ist eben die Spannung zwischen Abbild und Referenz, wirklicher und erinnerter Vergangenheit. Die Fotografie ist hier noch ein textuelles Medium, das Distanz nicht einebnet, sondern überhaupt erst in die Welt bringt. Doch auch dort, wo die Gegenwartsliteratur solche ‚klassischen‛ medialen Zeitdiffusionen in den Fokus rückt, zeigen sich in einigen Fällen deutliche Unterschiede zum modernen Diskurs. Denn die ‚Verzerrung‛ zwischen Erinnerungsbild und Wirklichkeit gerät den Protagonisten nicht selten selbst zu einer vollständigen Neugestaltung der Vergangenheit; die unvollständige Rekonstruktion geht allmählich wie von selbst in referenzlose Simulation über. Der Unterschied wird in einigen Fällen durch direkte Bezugnahmen auf Werke der literarischen Moderne noch zusätzlich veranschaulicht. So erlebt der Protagonist von Robert Menasses Roman Schubumkehr in einem Traum einmal einen Zustand reiner Gegenwärtigkeit, der allerdings durch einen vorübergehenden kompletten Gedächtnisverlust, durch einen Totalausfall der Erinnerung – wie gezeigt ein beliebtes Motiv der neueren Zeit-Literatur – hervorgerufen wird: „Er sah sich um und erkannte nichts. Er war ein Fremder. Aber wo? Und von wo? Wer?“ 751 Taumelnd bewegt sich der Verstörte durch eine Folge immer neuer, unverbundener Gegenwarten, von zunehmender Panik erfasst und erst durch das plötzliche Erwachen erlöst. Vor seiner als „kreuzhohl“ bezeichneten Freundin, die seine Angst nicht zu verstehen imstande ist, erfindet er jedoch anschließend ein Happy End des Traums, das sich als bittere Persiflage auf Prousts EpiphanieKonzept zu verstehen gibt: Die Erinnerung sei ihm schließlich in einem Straßencafé wiedergekommen, das „Madeleine“ geheißen und in dem er ein kleines „Törtchen“ gegessen habe. Eine „plötzliche eigenartige Euphorie“ habe ihn dabei erfasst, und das Gefühl habe sich eingestellt, „dass von irgendwoher, von diesem Törtchen?, vom Tee?, ein Lichtstrahl in mein Inneres fiel, der nun das Rätsel, wer ich sei, aufklären werde“752. Plötzlich, so erfindet er weiter, habe er sich in die Vergangenheit versetzt gefühlt, sei umgeben gewesen von der vertrauten Szenerie eines Dorfes, das den Namen „Combray“ getragen habe. Die Epiphanie wird hier selbst zur Fiktion, zu einer nahezu zynischen Verklärung 750 751 752

Walser 1998, S.31. Menasse, Robert: Schubumkehr, Frankfurt a.M. 1997, S.26. Menasse 1997, S.31f.

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einer Erfahrung, die keineswegs Euphorie, sondern eigentlich ein „Gefühl grenzenloser Panik“753 hervorgerufen hat. Genüsslich überführt der fabulierende Protagonist das Happy End schließlich in die Erkenntnis, dass die scheinbar authentische Erinnerung in Wirklichkeit nur die Rückbesinnung auf ein Lektüreerlebnis gewesen ist: „Unentwegt dachte ich Combray. Combray, aber das Gefühl der Vertrautheit begann sich wieder zu verflüchtigen, rasch nahm ich noch einen Bissen, noch einen Schluck Tee, schob die breiige Masse andächtig und neugierig im Mund hin und her, wartete, dass deren Geschmack mir die Erinnerung deutlicher vor Augen setzte, die offenbar zu diesem Geschmack gehörte. Combray, dachte ich, wie schreibt man diesen Ortsnamen eigentlich? Ich versuchte ihn mir geschrieben vorzustellen und – plötzlich war die Erinnerung da: Ich bin nicht der, der eine Kindheit in Combray hatte – ich bin der, der das gelesen hat. [...] Durch das plötzliche Aufsteigen von Erinnerungsbildern, die nicht die meinen waren – selbst der Mechanismus, der diese Erinnerungen auslöste, war geborgt –, weiß ich, nein, wusste ich auf einmal wieder, wer ich war und woher ich kam.“754

Wahrhaftigkeit ist auch im epiphanischen Augenblickserlebnis nicht mehr gegeben, da selbst die eigenen Erinnerungsbilder und die Mechanismen, die sie hervorbringen, „geborgt“ sind. Das Gedächtnis selbst ist also ein Relikt aus dem Zeitalter der Schrift; Identität als Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart stellt sich nur noch ein, wenn es gelingt, sich an dieses untergegangene Medium selbst zu erinnern. Ansonsten herrscht ‚Delirium präsens‛, bleibt das Bewusstsein auf die imaginative Gegenwart der Wahrnehmung beschränkt. Mit der Schrift aber ist unweigerlich auch die Fiktionalisierung der Identität verbunden: Während die Unmittelbarkeit einer nicht vorgeprägten, von Bedeutungsschemata befreiten Wahrnehmung den Horror totaler Desorientierung bedeutet, ist jede zeitliche Kontinuität nur noch zum Preis des Eintritts in eine vollends simulierte Wirklichkeit herzustellen. Solch unheimliche Präsenzerfahrungen treten in der neueren Literatur insbesondere dort zutage, wo der mediale Führungswechsel direkt thematisiert, die Auseinandersetzung mit Bildlichkeit und Schriftlichkeit wie im Beispiel Menasses, in dem sich der Protagonist die bildhafte Erinnerung als „geschrieben“ vorstellen muss, um sie als falsch zu begreifen, selbst Inhalt der Texte wird. Die Erkenntnis, dass die Literatur „ihre Rolle als Leitmedium eingebüßt” habe, wie etwa Wieland Freund feststellt, gilt dabei längst als Topos: Ohne „Reflexion seiner medialen Bedingtheit“ komme nahezu „kein Roman der Gegenwart mehr aus.”755 Immer wieder ist es die Einebnung der zeitlichen Distanzen, durch die 753 754 755

Menasse 1997, S.28. Menasse 1997, S.32ff. Vgl. Freund, Wieland: Nach dem Nach. 2001: A Literary Odyssey, in: Freund, Wieland / Freund, Winfried (Hgg): Der deutsche Roman der Gegenwart, München 2001, S.11-15,

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sich die medialisierte Gegenwart auszeichnet und die das Subjekt aus den spannungsreichen Zuständen der Sehnsucht, des Begehrens, der Entfremdung oder der Reflexion in eine Art entgeistigter Hypnose fallen lässt.756 Auf anspruchsvolle Weise wird dieser Diskurs etwa in den Werken Thomas Hettches geführt. In seinem teils essayistischen, teils fiktionalen Buch Animationen etwa ist nicht nur die Schrift, sondern die Sprache insgesamt in unmittelbarer Gefahr: „Die Gebäude der Sprachwelt, in der wir jetzt noch wohnen, werden bald schon weitgehend verlassen und unter dem Sand der Bilder begraben sein. Sprache – eine verlassene Provinz – nicht mehr der universale Code, der die Welt aufschließt. Oft stelle ich mir die blinkende, tönende und sprachlose Bilderwelt vor, die einmal Natur hieß und die nun wuchernd wiedererscheint in Form der neuronalen, namenlosen Datennetze, in denen das Selbstgespräch dieses Planeten längst stattfindet. [...] Ich stelle mir vor, wie die Literatur noch einmal mit derselben Geste, mit der sie einst – immun gegen das Verstummen – der tönenden Bilderwelt der Natur entgegentrat, für jedes Hologramm und jeden simulierten Raum ein Wort finden wird, das deren Geheimnis bannt.“757

Unter veränderten Vorzeichen werden hier die Thesen Horkheimers und Adornos zitiert: Die Begriffe der Sprache sind Werkzeuge, die das „Chaotische, Vielseitige, Disparate“ der Welt packen und kognitiv distanzieren.758 Die positive Umwertung dieser begrifflichen Verdinglichung, mit der nach Horkheimer und Adorno die „Dialektik der Aufklärung“ ihren Anfang nimmt, lässt deutlich werden, welche Bedeutung Hettche den „Hologrammen“ und „simulierten Räumen“ der neuen Medienwirklichkeit zuspricht: Gegenüber dieser „tönenden Bilderwelt“ ist die Sprache selbst zur „verlassenen Provinz“ geworden; ihre bannende, distanzierende Kraft ist der Präsenz der Techno-Bilder nicht mehr gewachsen. Auch bei Hettche ist es insbesondere der Verlust der Referenz, der den ‚virtuellen‛ Realitäten eine unheimliche Eigenständigkeit zu verleihen scheint und sie der Kontrolle der Subjekte zunehmend entzieht: „Die neuen elektronischen Medien begründen eine Bildwirklichkeit, in der die Frage, was ein Bild belegt, gegenstandslos geworden ist.“759 Der Bildlichkeit der Medien entspricht eine Negation der Zeit, denn der „moderne, immer schon medial ge756

757 758

759

S.12f. Ulrike Vedder beispielsweise beschreibt, wie die Einführung auch in der Literatur zu einer Veränderung des Liebesdiskurses geführt hat. Denn während das postalische System durch Aufschub, Abwesenheit und Nachträglichkeit gekennzeichnet war und auf diese Weise eine Struktur des Begehrens schuf, kennzeichnet sich die Email durch Anwesenheit und Unmittelbarkeit: „Das Diktat der Zustellung hat die Ungewissheit des Zustellens abgelöst.“ Vgl. Vedder, Ulrike: Geschickte Liebe. Zur Mediengeschichte des Liebesdiskurses im Briefroman „Les Liaisons dangereuses“ und in der Gegenwartsliteratur, Köln 2002, S.322ff. Hettche, Thomas: Animationen, Köln 1999, S.12. Vgl. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S.46. Hettche 1999, S.144.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

brochene Blick“760 droht sich in dem neuen Zeiterleben der digitalen Welt zu verlieren. Diese erzeuge die „Illusion eines präsenten und zeitlosen Raumes“, in dem „Erfahrung und Erinnerung unmöglich werden, da die Gegenwart nur mehr ein abstrakter, leerer Jetztpunkt ist, der weder mit Vergangenheit noch mit Zukunft in Verbindung steht.“ Gleichzeitig jedoch scheint die „Gegenwart, da sie von keinem anderen Zeitpunkt zu unterscheiden ist, als ewig Gleiche“ ständig wiederzukehren.761 Die Isolation einzelner Erlebniseinheiten führt zur Negation von Vergangenheit und Zukunft, die nur noch als medial wiederholte Inszenierungen, als Bestandteile der Gegenwart in Erscheinung treten können. Gegen dieses Szenario einer sich selbst medial entmachtenden Menschheit versucht der Dichter ein letztes Mal die „bannende“, also distanzierende und reflektierende Macht des Wortes zu werfen. In Hettches erstem Roman, Ludwig muss sterben, wird diese literarische Problemstellung in eindrucksvoller Weise ausgesponnen. Der Erzähler des Romans, ein labiler, in seinem Identitätsgefühl gestörter Mann, verbringt einige Zeit im Haus seines Bruders Ludwig, der an einem tödlichen Herzleiden erkrankt ist, während eines Italienurlaubs aber ein letztes Mal ein amouröses Abenteuer erlebt. Indem der Erzähler die erstaunliche Fähigkeit besitzt, die Erlebnisse des Bruders trotz der Entfernung gewissermaßen ‚live‛ mitzuerleben und weniger nach- als vielmehr mitzuerzählen, scheint in diesem ProtagonistenDuo eine symbolische Trennung zwischen Geist und Körper angelegt zu sein. Der Erzähler verlässt so auffälligerweise auch niemals das Haus Ludwigs. Gesellschaft leisten ihm lediglich zwei höchst merkwürdige Personen: ein alter Arzt und ein junges Mädchen, beide seit endlosen Jahren verstorben und dem Erzähler während der Lektüre auf phantastische Weise aus einem Anatomie-Atlas entstiegen, in welchem sie zu Illustrationszwecken verewigt worden waren. Schon durch diese Erzählsituation ist augenscheinlich eine Menge Stoff für mediale Reflexionen gegeben: Bücher und Schrift, Bilder, Imagination und Erzählung scheinen in Ludwig muss sterben einen regelrechten Dialog der Repräsentationen zu führen; der verwirrende Wechsel zwischen den verschiedenen medialen Dispositionen lässt die Ausgangsrealität hinter der zwar heterogenen, aber durchweg artifiziellen ‚Simulation‛ vollkommen verschwinden. Auch bei Hettche wird dabei zunächst die ‚moderne‛ Inkongruenz von begrifflichem Gedächtnis und bildlicher Wahrnehmung reflektiert: „Ich hatte geglaubt, die Bilder seien den Wörtern gehörig, doch die Bilder sind flüchtig, und das Wirkliche, das sie nachzeichnen, verblasst, was bleibt, das weiß ich heute, sind die Figuren der Wörter, die entstehen, wie man die Punkte eines Rätsels zu einem Gesicht verbindet, neue Bilder, doch nicht wirklich, und der, der spricht, verschwindet hinter ihnen.“762 760 761 762

Hettche 1999, S.91. Hettche 1999, S.126. Hettche, Thomas: Ludwig muss sterben, Köln 2002, S.174. Im Roman findet auch eine kurze Auseinandersetzung mit psychologischen Wahrnehmungskonzepten der Moderne

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Die synthetisch erzeugten Bilder aber scheinen in Hettches Roman nicht nur in immer stärkere Opposition zum reflexiven Modus der Schrift und der Sprache zu treten, sie scheinen diese symbolischen Medien selbst zu verändern. Die kraft der Schrift imaginierten Bilder erzeugen immer wieder eine ‚magische Präsenz‛, in der Erinnertes, Gelesenes oder Erzähltes zu ununterscheidbarer Erlebnisgegenwart werden: Wie die historischen Figuren aus dem Anatomieatlas auf einmal in Ludwigs Wohnung stehen, treten auch die räumlich distanzierten Begebenheiten in Italien dem Erzähler direkt und bildlich vors innere Auge. Ihre Darstellung wird dabei durch ausdrückliche Anspielungen und Bezugnahmen auf konkrete Medien wie Film und Fotografie begleitet: „Wenn er mich hätte hören können in seiner Geschichte, hätte ich ihm geflüstert, mir wachsen Menschen aus einem Buch. Doch als ich mich hineindrängen wollte und die Grenze zwischen mir und seiner Geschichte spürte, als wäre es Lenes Haut, und immer stärker versuchte, mich an den Worten, Gerüchten und Gesten dieses Abends zu einer Öffnung vorzutasten, verlangsamte sich plötzlich die Geschwindigkeit der Bilder, und die beiden dort am Hafen blichen seltsam aus, als fänden sie sich in eine Photographie hinein, in der sich die Bewegung des Geschehens endgültig beruhigt, bis es nur mehr ein Bild hinter meinen Augen war, mit dem ich erwachte, ohne davon zu wissen, geschlafen zu haben.“763

Die mediale Distanz tritt erst ins Bewusstsein, als der Erzähler den Versuch unternimmt, sie zu überwinden und selbst Bestandteil einer Geschichte zu werden, die er längst als gegenwärtig erlebt. Die ‚magische Präsenz‛ wird gebrochen, und der Erzähler erwacht aus einem Traum, der die Irrealität seiner Erfahrungen verdeutlicht. Doch ist dieses Erwachen nicht von Dauer, treten die Zustände der ‚magischen Präsenz‛ immer von Neuem ein, sind Kennzeichen der Erfahrungsweise des Protagonisten geworden, der nicht mehr zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsebenen von Traum, Wahrnehmung, Fotografie, Film und Lektüre unterscheiden kann. Alles verschaltet sich auch hier nach ‚neuronalen‛ Mustern, die sich aber von keiner ‚äußeren‛ Ordnung mehr abheben. Allein eine aktive Teilnahme, eine Gestaltung des Geschehens bleibt dem Protagonisten verwehrt; er ist zu einem Rezipienten seiner eigenen Wahrnehmungen geworden, die unverstanden an ihm vorbeiflimmern und plötzlich als distanziert und unzugänglich bewusst werden, wenn er in sie einzugreifen versucht. Die ‚magi-

763

statt. Mit Breuer wird dabei bildliche Wahrnehmung als Eigenleistung des Gehirns dargestellt, das keine Bilder vom Auge empfängt, sondern sie aus den Tiefen der Seele – referenzlos – selbst erzeugt: „Leise sank zwischen Auge und Seele der Schleier der beide voneinander schied es sieht das Auge aber die Seele empfängt seine Bilder nicht sie zeuget eigene Bilder und schaut sie an mit dem Auge das noch niemand gesehen so gestaltet sich ein seltsam Leben es ist nicht Traum nicht Wachen es ist ein Weilen in selbstgeschaffenen Welten, Bleuer Seite vierzig.“ Ebd., S.12. Hettche 2002, S.43f.

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sche Präsenz‛ wird als Illusion offenbar, zu der sich jedoch keine Alternative im Sinne einer tatsächlichen, gestaltbaren Wirklichkeit mehr finden lässt. Die Gefahr, die Hettche in der Auflösung der reflexiven Distanz erkennt, besteht also in einem totalen Ausgeliefertsein an eine nun tatsächlich ‚holistisch‛ gewordene Wirklichkeit, der auch die Sprache nichts mehr entgegenzuhalten hat. Dem hypnotischen Nahverhältnis, in dem sich der Protagonist zu den Dingen befindet, soll dennoch durch den letzten Versuch einer ‚Erzählung‛, einer verzweifelten Verteidigung der auktorialen Souveränität des Subjekts, entgegengetreten werden. Dabei ist der Erzähler vom Scheitern seines Projektes von Anfang an selbst überzeugt: Ganz ausdrücklich handelt es sich um das letzte Mal, dass er seine Geschichte eigenständig in Worte fasst. „Jetzt, nachdem nachdem ist, und das, was zu bleiben versprach, das Wirkliche, verschwunden ist hinter den Wörtern, hinter ihnen so, als wäre sonst kein Platz, erzähle ich es noch einmal, von diesem Anfang an, der so gut ist wie ein anderer, einmal noch kann ich es. Danach, ich weiß es, wird nichts mehr von alledem sein.“764

Die Referenz der Wörter, die gerade dadurch ins Bewusstsein tritt, dass sie unerreichbar bleibt, droht in Hettches Roman ausgelöscht zu werden; die Medialisierungen selbst – Wörter ebenso wie Bilder – beanspruchen nun, mit ihren Bedeutungen identisch zu sein. Die Sprache verliert ihren reflexiven ebenso wie ihren referenziellen Charakter und wird zu einer Art Code, zu einem Produzenten der bloß noch simulierten, nicht mehr wiedergegeben Welt. Die Erzählung, deren Inhalt nicht rekonstruiert wird, sondern die im Vollzug des Erzählens augenblicklich Realität erzeugt, deren Erzähler seinen Protagonisten deshalb „eingeholt“ hat, „in der Zeit [...] mit ihm auf einer Höhe“765 ist, verändert das Verhältnis des Subjekts zur Welt grundlegend. Nicht mehr ist es eine vorsprachliche Realität, die nachträglich in Worte gefügt wird, sondern die Wörter selbst, zusammengesetzt zu Erzählungen, die jedoch keine bewussten Entwürfe der Subjekte mehr sind, formen nun die Wirklichkeit. Allerdings besitzt der Erzähler keine auktoriale Kontrolle über den Inhalt seiner Erzählungen: Die Geschichten passieren ihm nur noch, spulen sich ohne Möglichkeit der Einflussnahme ab. „So als erfände ich die Gestalt, kam sie aus dem Papier“ 766, heißt es bereits am Anfang des Buches, und schon hier ist der Anspruch des Erzählers, noch einmal seine Geschichte selbst und eigenmächtig wiederzugeben, eigentlich gescheitert. „Ludwig muss sterben konstatiert das Nichtendenkönnen der Geschichten, die längst nicht mehr wahr sind, aber sich immer noch ereignen.“767 764 765 766 767

Hettche 2002, S.9. Hettche 2002, S.51. Hettche 2002, S.18. Scholz, Leander: Die Unvermeidbarkeit der Geschichte. Thomas Hettches „Ludwig muss sterben“ (1989), in: Freund, Wieland / Freund, Winfried (Hgg): Der deutsche Roman der Gegenwart, München 2001, S.126-132, S.132.

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Die Erzählung, die zum Fatum wird, entwickelt in Hettches Roman eine abstrakte, kaum mehr zu beherrschende Gewalt: „[K]eine andere Zeit als die der Geschichte gilt.“768 Diese Zeit hat zunächst die Form der Linearzeit, was durch eine kaputte Digitaluhr veranschaulicht wird, die mit dem Eintritt des Erzählers in Ludwigs Wohnung zu zählen beginnt und infolgedessen die Minuten summiert, die dieser dort verbringt. Dabei hält sie sich an keine Zeitmaße, sondern folgt lediglich dem metrischen System der eigenen Anzeige und zeigt unmögliche Tageszeiten wie etwa 95:13 Uhr an.769 Es handelt sich also nicht um eine für alle gültige, objektive, gesellschaftlich normierte Weltzeit, sondern um eine ganz und gar individualisierte Zeit, die nur für Ludwig und seine Erzählung Relevanz hat: „Erst jetzt verstehe ich, warum der Quarz der Uhr gerade zu dieser Zeit wild wurde, sein Spiel begann, das er fortsetzte bis zum Schluss und während der ganzen Geschichte nebendran lag.“770 Wie Miriam Schaub errechnet hat, wird zum Zeitpunkt des Todes Ludwigs „um vier Uhr dreizehn morgens“ auf der Digitaluhr die Anzeige „00:00“ zu sehen sein.771 Doch nicht nur das Leben Ludwigs, auch die Erzählung selbst und mit ihr der Erzähler bewegen sich mit der Zeit der Digitaluhr unweigerlich auf ihr Ende zu. Mit Ablauf der Uhr wird der Protagonist in die mediale Inszenierung, in die Kunst-Welt des Buches gesogen, so wie vorher die Figuren aus ihm hinausgestiegen sind. Dort ist er der Wirklichkeit endgültig entzogen, hat „nichts mehr von dort“, wo der Leser ist, „keinen Beleg“ mehr. Wähnte er sich anfangs noch in der Lage, vielleicht ein letztes Mal zu erzählen, ist am Ende „die Haut abgestreift, die mich von Ludwigs Geschichte trennte, durchstoßen, Zeitsprung“, die letzte Distanz ist ausgelöscht, die Trennung zwischen Erleben und Kognition, Bewusstsein selbst eliminiert. Auch dem Leser wird nun bedrohlich zu Leibe gerückt: „[I]ch spüre dich“, heißt es dort, „ich spüre, glaube es mir, wie du meine Wörter für dich sprichst, wie du sie in den Mund nimmst, immer näher, die Bewegung, die durch die Wörter hindurchgeht, wenn du sie liest, liege doch unter ihnen und die ganze Geschichte auf deiner Haut“. Geschichten, Wörter und Bilder werden nahes, körperliches Leben, „wie Erde“, die man „frisst und ausstößt“. Für die Entwicklung, die nicht mehr zu begreifen, sondern nur noch zu erleben ist, gibt es „kein Bild“ mehr, „keine Zeit, kein Tod hier.“ Das, was die Digitaluhr eigentlich symbolisiert, so wird am Ende deutlich, ist das Auslaufen der Zeit selbst, ihr programmierter, unaufhaltsamer Kollaps in einem ‚Delirium präsens‛. Dieser Kollaps ist nicht der leibliche Tod, sondern der Tod eines reflektierenden, erzählenden, distanzierten Bewusstseins, das zwischen Außen und Innen, Augenschein und Wissen, Wahrnehmung und 768 769 770 771

Hettche 2002, S.181. Hettche 2002, S.174. Hettche 2002, S.50. Schaub, Miriam: Phantombilder der Kritik. Ein Blick in die Kartei für junge deutschsprachige Gegenwartsliteratur, in: Döring, Christian (Hg): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter, Frankfurt a.M. 1995, S.170-214, S.212f.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

Erinnerung zu unterscheiden vermag. Diese Auflösung der Distanz droht auch dem Leser: „Du aber, du. Musst sterben.“ Wo nämlich? „Dort.“ In der Welt der Wirklichkeit, in der Welt außerhalb der nicht mehr medialen, sondern unmittelbaren und tautologischen Simulation.772 Tendenziell wohlwollend fällt die Beurteilung neuer medialer Zeitformen in Urs Widmers Erzählung Der blaue Siphon aus, die bereits Nikolaus Förster als Beispiel zeitreflexiver deutscher Gegenwartsliteratur analysiert hat.773 Hier wird ein Kino zur Zeitmaschine774: Im ersten Teil des Buches reist der Protagonist, ein 53jähriger Schriftsteller, während einer Filmvorführung in die Welt seiner Kindheit zurück. Als er das Kino verlässt, befindet er sich plötzlich im Jahr 1941, ist aber selbst nach wie vor erwachsen. Seine Eltern, in der eigentlichen Gegenwart längst verstorben, findet er, nachdem anfängliche Orientierungsprobleme überstanden sind, in ihrem alten Haus und in tiefer Sorge um den verschwundenen dreijährigen Sohn (also den Erzähler selbst) vor. Gezwungenermaßen unerkannt bleibend, verspricht der Protagonist seinen Eltern, das Kind, das offenbar ebenfalls in einem Kino verloren gegangen ist, für sie zu finden. Nach einem kurzen amourösen Abenteuer mit seinem ehemaligen Kindermädchen reist er dann – wiederum kraft einer Filmvorführung – in seine eigentliche Gegenwart zurück, begibt sich nach Hause und erfährt dort, dass während seiner Abwesenheit ein kleiner, dreijähriger Junge mit seiner Tochter gespielt hat. Der Leser ahnt bereits, dass es sich um die Kindheitsversion des Protagonisten selbst handelt, und im zweiten Teil der Erzählung erinnert sich dieser dann auch, wie er im Alter von drei Jahren erstmals allein ins Kino gehen durfte, sich nach der Vorführung in einer fremden Welt wiederfand und in einem Haus von einem Mädchen – seiner eigenen späteren Tochter – versorgt wurde. Intuitiv weiß auch der Dreijährige, dass er sich, um wieder nach Hause zu kommen, erneut ins Kino schmuggeln muss, nach dessen Besuch er sich dann zur Beruhigung seiner Eltern wieder in seiner eigenen Gegenwart des Jahres 1941 einfindet. „Die Vergangenheit“, so Förster in seiner Interpretation, ist bei Widmer „kein unnahbarer, abgeschlossener Raum mehr, der sich nur noch in Erinnerung rufen lässt, sondern eine Welt, die sich betreten lässt – zumindest für den Erzähler.“775 Die Veränderungen, die im Zuge dieser vierfachen Zeitreise geschehen, bleiben jedoch auf Kleinigkeiten beschränkt. Einige Gegenstände wechseln die Zeitebenen: Jemand im Jahr 1941 behält einen modernen 20-Franken-Schein, mit dem der Protagonist zu zahlen versucht, der Hund des jungen 772 773 774

775

Hettche 2002, S.184. Vgl. Förster 1999, S.113ff. In einer Dissertation, die das Filmerleben als zentrales Motiv der Gegenwartsliteratur vorstellt, analysiert Claudia Schmitt auch Widmers Erzählung. Der „Traummaschine Kino / Film“ attestiert sie dabei ein „phantastisches Element“, das die „Zeitreise [...] legitimiert.“ Vgl. Schmitt, Claudia: Der Held als Filmsehender. Filmerleben in der Gegenwartsliteratur, Würzburg 2007, S.105. Förster 1999, S.118.

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kommt mit in die Welt des alten Erzählers und bleibt bei dessen Tochter, ebenso wie ein Spielzeug-Feuerwehrauto, das der Dreijährige ihr zum Abschied schenkt. Insgesamt schreckt der Protagonist jedoch vor dem Versuch zurück, verändernd in die Vergangenheit einzugreifen: Seinem Vater gönnt er den Genuss der Zigaretten, obwohl er weiß, dass er an Lungenkrebs sterben wird, und auf eine Affäre mit seinem Kindermädchen möchte er sich nicht einlassen, weil sie beide sonst „verloren gewesen“776 wären. Den Reiz der Zeitreise macht daher nicht so sehr das Bewusstsein der Möglichkeit aus, verändernd in die eigene Biographie eingreifen zu können, sondern vielmehr das Gefühl der Nähe und der Verbundenheit mit der eigenen, dem Vergessen entrissenen, sinnlich präsenten Vergangenheit. Dem Kino als Zeitmaschine kommt dabei eine doppelte Funktion zu. Zum einen zeigt es sich selbst als narratives Medium: Die Filme, die der junge und der alte Protagonist jeweils zu sehen bekommen und in denen sie ihre eigene Situation gespiegelt finden, scheinen miteinander zusammen zu hängen – sie alle spielen in Indien – und erzählen jeweils Geschichten, die die ganze Lebensspanne ihres Protagonisten umfassen. Dabei wirken sie jedoch brüchig und unvollkommen und ergeben häufig keinen rechten Zusammenhang: Einer der Filme beginnt als Trickfilm, wird aber später zu einer „Art Dokument“ in Schwarzweiß und mit Ton777, und ein anderes Mal reißt während der Vorführung die Filmrolle, sodass das Ende offen bleibt. Auch auf inhaltlicher Ebene sind die Spielfilme durch Brüchigkeit gekennzeichnet: So versteht einmal der Protagonist die ihm von einer Wahrsagerin prophezeite Zukunft nicht, weshalb seine Frau dann einem sinnlosen Attentat zum Opfer fällt; ein anderes Mal – im letzten der vier Filme, jenem, den der junge Protagonist während seiner ‚Heimreise‛ ins Jahr 1941 sieht – geht es um das Zerbrechen zwischenmenschlicher Beziehungen, darum, „dass Menschen endgültig getrennt werden können, ohne Wiedergutmachung, für ewig.“778 Anstatt durch historische Konstruktionen der Zeit Sinn und Zusammenhang zu verleihen, werden Kontingenz und Unberechenbarkeit hervorgehoben, womit auch auf die Bedrohungen des Kriegsjahrs 1941 und des Golfkriegsjahrs 1991 Bezug genommen wird.779 Das Motiv der Zeitreise steht in vielen Romanen der letzten Jahrzehnte nach Förster stellvertretend für den Versuch, kraft fiktionaler Neuerzählung der Zusammenhänge den durch die Gesellschaft nicht mehr gewährleisteten Sinn auf ästhetischem Weg herzustellen. Bei Widmer jedoch misslingt dem Kino als jenem Erzähl-Medium, das den Weg in die Erinnerung öffnet, augenfällig die narrative Konstruktion eines historischen Kontinuums. Allerdings besitzt es of776 777 778 779

Widmer, Urs: Der blaue Siphon, Zürich 1992, S.52. Widmer 1992, S.52ff. Widmer 1992, S.98. Der „blaue Siphon“ symbolisiert unter anderem auch eine Bombe, den Inbegriff der Willkür und Unberechenbarkeit, mit der die Möglichkeit des plötzlichen Abbruchs der eigenen Existenz ins Zentrum der Selbstreflexion gerückt wird. Vgl. hierzu auch Förster 1999, S.117.

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fenkundig noch eine andere Qualität, kraft derer die Verbindung zur Vergangenheit auf alternativem Weg hergestellt werden kann: Durch die suggestive Präsenz der bildlichen Darstellung nämlich kann es nichtgegenwärtiges Geschehen in der Gegenwart sinnlich erfahrbar werden lassen. Und Widmer lässt keinen Zweifel daran, dass dem Protagonisten gerade an dieser Qualität des Mediums gelegen ist: „Ich saß vorn wie immer, in der allerersten Reihe, weil ich es mag, im Film zu ertrinken“780, heißt es bereits am Beginn der Erzählung, und aus demselben Grund bevorzugt der Protagonist auch Breitwandfilme: In diese kann er soweit eintauchen, dass er „nie alles“ sieht, „immer nur Teile, wie im wirklichen Leben.“ Das bedeutet aber auch, dass der Film in Wirklichkeit keine Chronologie, keine Zusammenhänge vorgibt, dass im Narrativen zumindest nicht seine wesentliche Faszination begründet liegt. So ist dem Protagonisten etwa im Kino entgangen, dass in dem Film Doktor Schiwago „Julie Christie einmal völlig nackt unter der Tür stand. Ich konnte mich nur an den leeren Blick des Doktors erinnern.“781 Das eigentliche Charakteristikum des Kinos, so scheint es, besteht nicht in der Herstellung von Zusammenhang im Sinne einer chronologischen Abfolge von Handlungen, sondern in der Gegenwärtigkeit sinnlicher Eindrücke, die solche Zusammenhänge gerade auflöst. Dieser Aspekt der filmischen Wahrnehmung wird zudem verknüpft mit der kindlich-naiven, noch vorzeitlichen Wahrnehmung des dreijährigen Protagonisten, die als eine Art verlorenes Paradies erscheint, in das der regressive Erzähler sich im Kino zurückversetzt findet.782 Der dritte der vier Filme – jener, mit dem der Dreijährige in die Welt der Erwachsenen reist – lässt sich in diesem Zusammenhang als Parabel auf das Erwachsenwerden des Kindes verstehen, das durch die Erfahrung des Todes an der realen, gegenwärtigen Welt zu zweifeln beginnt und sie zu einer einzigen Illusion, zu einem „himmelsgroßen Film“783 erklärt. „Der Junge dachte nun, wo ist denn die herrliche Welt hin? Was ist geschehen? Noch immer sah die Welt wie früher aus, aber er war misstrauisch geworden. [...] Der Junge kam endlich zu dem Schluss, dass die sichtbare Welt ein Betrug sei.“784

Die Suche nach der Unterwelt, der Welt hinter der sichtbaren Oberfläche beginnt, inszeniert als Orpheus-Epos, das den Helden des Films auf der Suche nach den Seelen der Verstorbenen begleitet. Die Erfahrung des Todes lässt die Zeit als Nicht-Präsentes gegen die Präsenz der sinnlichen Wahrnehmung auf 780 781 782

783 784

Widmer 1992, S.6f. Widmer 1992, S.7. Die Entwicklung des kindlichen Zeitbewusstseins ist vor allem von Jean Piaget erforscht worden: Piaget, Jean: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, Frankfurt a.M. 1974. Vgl. auch Kasten 2001, S.47ff. Widmer 1992, S.84. Widmer 1992, S.82f.

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den Plan treten; als Sänger und Flötenspieler ist der Filmheld gleichzeitig der Künstler, der die Erfahrung des Verlustes rückgängig zu machen versucht. Doch als sein Spiel zu Ende ist, „standen die Toten der Hölle genauso tot wie ehedem um ihn herum, und die Kinder waren immer noch verkohlt, die Ermordeten steckten auf ihren Pfählen und hingen an ihren Elektrozäunen und lagen in den Kellern und krümmten sich im Schnee oder Schlamm eines Ackers ohne Horizont.“785 Unschwer ist zu erkennen, dass in diese Todesvisionen die Bilder jener Kriege eingegangen sind, die die historischen Eckdaten der Erzählung bilden. Für diese Grunderfahrung des Verlustes gibt es so in der modernen Welt keine Versöhnung mehr: Nicht zufällig ist es jener dritte Film, der vor dem Ende reißt. Der Sinnverlust ist auch in der Kunst nicht mehr rückgängig zu machen, doch bewahrt das Kino, so ließe sich Widmers Erzählung interpretieren, die Erinnerung an eine Wahrnehmungsweise, die durch solche Resignation noch nicht gekennzeichnet war. Für die Literatur bedeutet aus diesem Grund die andere Darstellungsweise des filmischen Mediums keine Konkurrenz, sondern – ganz im Sinne vieler Kino-Reflexionen um 1900 – eine Bereicherung. Nach der Kinoerfahrung ist das Manuskript des schriftstellernden Erzählers – die chronologische Reihenfolge seiner im linearzeitlichen Medium der Schrift verfassten Erzählung – zwar durcheinander gebracht, doch entschließt sich der Geschädigte, dem Schuldigen nicht „den Kopf abzureißen“, wie es sonst seine Art zu sein scheint – er ist „zu glücklich“ dafür.786 Und natürlich stellt sich im zweiten Teil der Handlung dann ohnehin heraus, dass es der Protagonist selbst gewesen ist, der – als Dreijähriger, in einem anderen, vor-narrativen, vor-zeitlichen, vor-schriftlichen Wahrnehmungsmodus – die Papiere durcheinander gebracht hat.787 Befreit von dem Anspruch, der historischen Wirklichkeit gerecht werden zu müssen, kann der Schriftsteller auf diese Weise einen neuen, anderen Umgang mit seinem Material entwickeln und die „erzählerische Stiftung von Zusammenhang, die spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Skepsis und Ablehnung belegt wurde“788, auf völlig neue Weise ins Werk setzen. Widmers Erzählung belegt, dass die Beurteilung der durch ‚neue Medien‛ erzeugten Zeiterfahrungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bis heute schwankt: Einerseits gelten sie als drohende Einebnung von Reflexion und Bewusstsein, andererseits aber – wie schon um 1900 – auch als Simulationen einer unverfälschten, ursprünglichen Wahrnehmung. Neu ist allerdings auch bei Widmer die Selbstverständlichkeit, mit welcher der Protagonist den medialen Zeitsprung erlebt. 785 786 787

788

Widmer 1992, S.88. Widmer 1992, S.64. Vgl. Widmer 1992, S.95. Für Claudia Schmitt bedeutet allerdings die Zeitreise des Dreijährigen ein „Initiationserlebnis“, bei welchem dieser erstmals die Erfahrung von Tod und Diskontinuität mache und dadurch aus der holistischen kindlichen Welterfahrung herausgerissen werde. Vgl. Schmitt 2007, S.106. Förster 1999, S.122.

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2.2. Zeit und Imagination: David Wagner und Klaus Böldl Eine veränderte Bedeutung der Bilder lässt sich nicht nur in solchen Romanen ausmachen, in denen mediale Reflexionen im Vordergrund stehen. Für viele literarische Texte der letzten Jahre ist generell ein gesteigertes bildliches Erleben der Protagonisten charakteristisch, das immer wieder auch zu Irritationen ihres Zeitgefühls führt. Die Unfähigkeit, zwischen Erinnerung und Wahrnehmung zu unterscheiden, hervorgerufen etwa durch die Überlagerung der gegenwärtigen Situation durch Phantasien und Gedächtnisbilder, aber auch das Stocken oder Springen der Wahrnehmung selbst oder die ständige Wiederkehr traumatischer Erinnerungen sind Symptome, die auf eine Infektion der sensitiven und kognitiven Mechanismen durch mediale Darstellungsmuster hinweisen. Die Passivität, in die viele Protagonisten infolge dieser häufig pathologisch erscheinenden Phänomene verfallen, lässt sie regelrecht zu Zuschauern eines aus Sinnesdaten, Erinnerungen und Phantasien zusammengeschnittenen ‚Lebensfilms‛ werden, dessen identifikatorische Kraft aufgrund der Unstimmigkeiten in der Handlung allerdings ständig gebrochen wird. Leben selbst verliert auf diese Weise den Charakter des zeitlich zu gestaltenden Projekts und löst sich auf in ein Kaleidoskop divergierender Impressionen, die zu ordnen keine Anstrengung mehr unternommen wird. Diese impressionistische Wahrnehmungsform steht mit keiner ‚offiziellen‛ Zeitauffassung mehr in Konflikt, sondern lässt gerade deren Fehlen ins Bewusstsein treten. Besonders auffällig werden Zeit- und Bild-Reflexionen etwa in dem Romanerstling Meine nachtblaue Hose von David Wagner miteinander verbunden, der von der Literaturkritik in erster Linie als ein Zeugnis nostalgischer westdeutscher Erinnerungsprosa behandelt wurde.789 Dabei sind es weniger die Erinnerungen selbst, die in diesem Text auffallen, sondern es ist die bildliche Präsenz, mit der sie dem Protagonisten nahezu ohne Unterlass vor Augen treten. Die literarische Strategie, eine Rahmenhandlung – der in Berlin lebende Protagonist besucht mit seiner Freundin Fe deren Eltern im Rheinland – als Ausgangspunkt für die aus verschiedenen vielschichtigen Erinnerungen zusammengesetzte Binnenhandlung zu benutzen, wird immer wieder dadurch ins Groteske verzerrt, dass die beiden Ebenen fortgesetzt miteinander in Konkurrenz treten: Jede Erinnerung beansprucht in der Rahmenhandlung genauso viel Zeit wie ihre Schilderung, wobei der Protagonist mit seiner Aufmerksamkeit immer nur in einer der beiden Welten sein kann. So beantwortet er Fragen von Fes Eltern mit irritierender Verspätung, sitzt beim Frühstück nur apathisch und in sich versunken herum, während ihm Marmelade auf die Hose kleckert, ohne dass er es bemerkt, und als er zu einem späteren Zeitpunkt bei einem gemeinsamen Abendessen mit Fe und seinem eigenen Vater schließlich doch einmal etwas zu sich nimmt, erscheint es ihm lediglich als „Erinnerungsbeilage“. Als in dersel789

Vgl. Kedves, Alexandra M.: Die Klappe von Klementine. David Wagners Romandebüt „Meine nachtblaue Hose“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr.68 (21.03.2000), S.L8.

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ben Szene seine geistige Abwesenheit schließlich aufzufallen beginnt und Fe ihn unter dem Tisch anstößt, um ihn in die Gegenwart zurückzuholen, bemüht er sich einen Moment lang tatsächlich redlich, den Reden seines Vaters zuzuhören und ihn dabei „ohne Erinnerungsverkleidung“790 anzusehen – doch kaum hat er diesen Entschluss getroffen, ist er auch schon wieder in die Vergangenheit abgedriftet. Dort wiederholt sich dann die Szenerie noch einmal: Auch in der Erinnerung sieht der Protagonist seinen Vater bei Tisch monologisieren, auch hier hört er recht bald nicht mehr zu und verliert sich in einer weiteren Schicht seiner retrospektiven Imagination.791 Von seinen geschiedenen Eltern wird die eigentümliche Abwesenheit mit Besorgnis als Folge eines Unfalls interpretiert; tatsächlich aber ist es auch hier andersherum: Der Autounfall, der erst am Ende des Romans geschildert wird, entpuppt sich gerade als Resultat der geistigen Abwesenheit des erinnerungssüchtigen Fahrers, der für einen Augenblick „vielleicht“ vergessen hat, dass er „hinter dem Steuer saß und das Lenkrad bewegen musste“, wodurch er dann ohne äußeren Anlass „kurz vor dem Kottbusser Tor gegen einen der Hochbahnpfeiler aus Stahl“ fährt.792 Der Zustand des Protagonisten ist für verschiedene Romane der jüngeren Gegenwartsliteratur charakteristisch. Das gegenwärtige Nach- und Neuerleben der Vergangenheit fungiert beispielsweise in Helmut Kraussers Roman UC oder Michael Wallners Cliehms Begabung als Grundkonzept der literarischen Zeitverwirrungen. Der Zustand weist Ähnlichkeiten mit gewissen psychischen Störungen auf, die als „Konfabulationen“ bezeichnet werden.793 Die Betroffenen schildern hierbei Erlebnisse aus ihrer jüngeren Vergangenheit, die offenkundig nicht stattgefunden haben können. In vielen Fällen handelt es sich jedoch um weiter zurückliegende Erlebnisse, die aufgrund einer Störung des Zeiterlebens nicht einfach nur erinnert, sondern „als gegenwärtig erfahren und wiedergegeben“ werden. „So berichtete eine alte Frau nach einem schweren Autounfall, der zu erheblichen psychischen Folgeerscheinungen geführt hatte, über das Berlin der zwanziger Jahre, als seien ihre Erlebnisse gestern gewesen.“ In Wirklichkeit aber lagen sie mehr als sechzig Jahre zurück, standen der Patientin aber deutlicher vor Augen als die Gegenwart selbst, in der es ihr nicht mehr möglich war, sich selbst „bescheidene neue Informationen zu merken“. In Wagners Roman, der wie ein großer Teil der deutschen Erzählliteratur der 90er Jahre konsequent aus der Ich- und Innen-Perspektive des Protagonisten erzählt wird, scheint diese Zeitbewusstseinsstörung zum Wesenszug einer ganzen Generation geworden zu sein. Anders als etwa in der Schneesturm-Szene in Thomas Manns Der Zauberberg bedarf es hier keiner Extremerfahrung mehr, um Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden: Die Erinnerung ist omnipräsent, sie erzeugt eine Art 790 791 792 793

Wagner 2000, S.97f. Vgl. Wagner 2000, S.113. Wagner 2000, S.161. Vgl. im folgenden: Weinmann, Sigbert: Störungen des Zeiterlebens, in: Diagonal. Zeitschrift der Universität Siegen. Thema: Zeit. Heft 3, Siegen 1998, S.129-137, S.134.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

dauerhafter Doppelbelichtung der Wahrnehmung, die keine Verhältnisbestimmung zwischen Einst und Jetzt mehr zulässt. Dem Protagonisten liefert die Gegenwart nur das Material für ein ständiges assoziatives Abtauchen in bildliche Gedächtniswelten. Diese werden jedoch kontrastiert mit den immer gleichen Geschichten der Elterngeneration, einem undurchdringlichen Sprachgewebe, mit dem künstlich und unglaubhaft die Vergangenheit festzuschreiben und dabei Sinn und Zusammenhang herzustellen versucht wird. Unaufhörlich geben die Väter Fes und des Protagonisten „Sprech- und Silbenblasen“794 von sich und trennen dabei rote Fäden aus dem dichtgewobenen Stoff der Wirklichkeit, für den die titelgebende nachtblaue Hose die Metapher bildet. Auch in Wagners Roman gibt es also, verborgen unter einem Generationenkonflikt, eine Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher medialer Filterungen der Wirklichkeit, wird bildliches, entzeitlichtes Erleben als Charakteristikum der Jungen, lineares, zeitliches ‚Erzählen‛ hingegen als Kennzeichen der Alten eingeführt. Zwischen fiktiven und realen Erzählungen scheint hierbei jedoch kaum ein Unterschied zu bestehen: Ohne weiteres hält der Protagonist etwa die DDR für eine „Erfindung der Bundeszentrale für politische Bildung“795, und schon als Kind findet er selbst seine Märchenplatten besser als die Monologe des Vaters, denen er keinen Glauben schenkt. Diese haben sich aber trotzdem durch die ständige Wiederholung so weit verfestigt, dass sie die Wahrheit vollständig ersetzt zu haben scheinen: „Vielleicht muss man sich eine Geschichte nur immer wieder selbst erzählen, dann glaubt man am Ende selbst, sie sei wahr und alles habe sich so zugetragen.“796 In der dialogunfähigen, nicht zu versprachlichenden Bildlichkeit, auf die der Protagonist sich beschränkt, liegt also im Kern etwas von jener ‚modernen‛ Rebellion gegen die unglaubwürdig gewordenen ‚Geschichten‛, mit denen eine als autoritär empfundene Gesellschaft Realität festzuschreiben versucht. Im Gegensatz zur Elterngeneration verzichtet der Protagonist nahezu vollständig auf die Konstruktionen großer Erzählungen, begnügt sich allenfalls mit kleinen Anekdoten, und selbst diese erzählt er nur widerwillig – etwa als Fe ihn am Beginn ihres Verhältnisses auffordert, über seine Vergangenheit zu sprechen, so „als bräuchte sie Beweise, dass es mich auch früher schon gegeben hat.“797 Seine eigene Wahrnehmung hingegen scheint ganz aus Bildern zu bestehen, weshalb er auch immer den Wunsch hatte, Maler zu werden: „Mir fielen die Versuche ein, die ich unternommen hatte, ganz, ganz viel wollte ich malen, all mein Innen malen, mein Hirn, mein Herz, meinen Magen [...].“798 Doch anders als in den Romanen der Moderne weiß Wagners Held darum, dass seine Bilder keinen direkteren Zugang zur Wirklichkeit eröffnen als die ausufernde 794 795 796 797 798

Wagner 2000, S.51. Wagner 2000, S.78. Wagner 2000, S.113. Wagner 2000, S.124f. Wagner 2000, S.53.

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Sprachoberfläche der Elterngeneration, dass auch die persönlichsten Eindrücke immer schon durch diese geprägt sind. Als er einmal seinen Vater mit seiner Tante beim Seitensprung erwischt, ist er sich schon im selben Moment nicht mehr sicher, was er auf diesem „Breitwandbild mit Rheinlandschaft“ tatsächlich gesehen hat799, und später befürchtet er sogar die totale Programmierung durch seine Eltern: „Vielleicht hatte mein Vater diese Geschichten nur erfunden und ich mir die dazu passenden Erinnerungsbilder bloß ausgedacht.“800 Gleichzeitig aber schwindet auch der Anspruch, in seinen Bildern überhaupt etwas Wahres entdecken zu wollen: Im Gegensatz zu den Fotos, die er Fe von alten Zeiten zeigt, sind seine Gedächtnisbilder eher gegenwärtige Erlebnisse; sie konservieren nichts, sondern reihen sich ein in einen indifferenten Strom von Innen- und Außenwahrnehmungen. Dagegen betrachtet der Protagonist etwa die Fotos, die auf einer Familienfeier geknipst werden, noch währenddessen aus der Perspektive der Zukunft, in der er das Ereignis selbst längst vergessen haben wird und die Bilder damit jeden Wert einbüßen werden: „Es wurden, wie es üblich ist, Photos gemacht, die konnte ich Jahre später anschauen und dabei so tun, als erinnerte ich mich“801. Wagners Protagonist befindet sich anhaltend in einem Zustand der Epiphanie, das jedes Gefühl von Flüchtigkeit und Vergehen der Zeit ausschaltet. Der Bilderstrom wird auf seine Wahrhaftigkeit nicht mehr befragt, sondern indifferent als Bestandteil eines einzigen großen Lebensfilms wahrgenommen, der zwischen Halluzination, Erinnerung und Wahrnehmung kaum noch einen Unterschied macht: Wenn „ich nur lange genug an weiße Wände und Zimmerdecken starre“, erklärt der Protagonist bereits am Beginn des Romans, „sehe ich, was ich sehen will, sehe ich, was du nicht siehst, dachte ich.“ 802 Das entsprechende Zeitempfinden ist das einer immerwährenden Gegenwart, deren langsamer, gleichgültiger Wandel nur beiläufig zu Bewusstsein gelangt. So wie der Protagonist nebenbei das „Frühstücksstilleben“803 bei Fes Eltern zur Kenntnis nimmt, wird ihm alles zu einem einheitlichen, weil grundsätzlich unglaubwürdigen Bilderstrom, der ohne Referenz auskommt. Die Hierarchie zwischen echter, handgreiflicher Gegenwart und bloß imaginierter, erinnerter und verfälschter Vergangenheit ist vollständig abhanden gekommen, die Ebenen fließen ohne jede geregelte Vermittlung in eins zusammen: So muss der Protagonist während des Frühstücks gelegentlich nach unten schauen, „als ob ich nachsehen müsste, welche Hose ich trug, als müsste ich mich vergewissern, dass nicht irgendeine Erinnerung mich aus- und mir meine dunkelblaue, zu schnell gekaufte Konfirmationshose wieder angezogen hatte.“804 Diese eigenwillige Disposition bedingt, 799 800 801 802 803 804

Wagner 2000, S.86. Wagner 2000, S.110. Wagner 2000, S.27. Wagner 2000, S.19. Wagner 2000, S.31. Wagner 2000, S.32.

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dass der Erzähler von Wagners Roman nahezu permanent in einer anderen, vollends subjektiven Zeit lebt, gegen die gesellschaftliche Zeitordnung indes eine bemerkenswerte Resistenz besitzt. Das Erstaunliche an dieser Resistenz besteht in dem Umstand, dass sie nicht die Folge rebellischer Verhaltensweisen ist, sondern sich nahezu automatisch herstellt, als sei der kognitive Apparat des jungen Mannes mit den überkommenen Strukturen einfach nicht mehr kompatibel. Nur an wenigen Stellen wird ihm das selbst bewusst, wird die Auflehnung gegen die lineare, gleichmäßige Zeit der Uhren, die durch die Elterngeneration, insbesondere durch die mehrfach ins Zentrum der Handlung rückende Uhrensammlung des Vaters repräsentiert wird, eine aktive: „[...] ich schaute auf eine der Uhren, die mein Vater sammelte, und stellte fest, wie viel oder wie wenig Zeit verging, vielleicht verging die Zeit auf seinen alten Uhren, gerade weil sie so alt waren, noch viel langsamer. Oft kam ich in Versuchung, die eine oder andere Uhr zu verstellen, und manchmal, wenn ich keine Lust mehr hatte zu warten, verstellte ich eine der Uhren mit offenem Zifferblatt. Ich wünschte mir, dass etwas passierte, wünschte mir einen Ring oder eine Zauberhandbewegung, mit der ich die Zeit hätte vorspulen können, während die Skelettuhr auf der Kommode im Flur unter ihrer Glashaube, die das Uhrwerk gegen Zugluft und Veränderung der Luftfeuchtigkeit schützte, gedämpft und immer langsamer weiterlief. Unter der Haube bleibt die Uhr ganggenau, meinte mein Vater, ich fügte im Stillen hinzu, jede Sekunde trägt einen Taucherhelm [...]“805

Die gleichförmige, genaue Zeit der Uhren ist hier ein Anachronismus geworden, ein Spleen, der als Hobby veranstaltet wird und nur unter einer Taucherglocke stattfindet, abgeschottet von der Welt. Gegen sie zu rebellieren, kostet den Protagonisten keinen großen Aufwand. Ohnehin bleibt er auch in Fragen der Zeit zumeist passiv, widersteht eher automatisch deren angeblichem Regime, das allerdings schon durch das Alter der väterlichen Uhren, auf denen die Zeit ohnehin anders zu gehen scheint, nicht mehr so recht zu erschrecken vermag. Gerade durch seine temporale ‚Verrücktheit‛ aber rückt Wagners Held deutlich in die Nähe von Sternes Tristram Shandy, dessen Konflikt zwischen Eigen- und Weltzeit ebenfalls nur zum Teil bewusst hergestellt wird, zum Teil indes einfach zu passieren scheint, da das eigenwillige Wesen Tristrams durch die Konventionen nicht zu bändigen ist. An mehreren Stellen spielt Wagner dabei ganz direkt auf Sternes Roman an: So ist der Vater des Erzählers nicht nur ein Uhrensammler, er muss seine antiquierten, mechanischen Geräte auch regelmäßig aufziehen. Wie Tristrams Mutter fragt auch die Mutter von Wagners Protagonisten „immer wieder, und, hat er seine Uhr schon aufgezogen?“, doch versteht der verträumte Junge die pikante Anspielung nicht und sagt nur „ja und er ist jetzt im Garten.“806 805 806

Wagner 2000, S.40. Wagner 2000, S.89.

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Dass der Protagonist in Wagners Roman aus der Zeit gefallen ist, zeigt sich auch noch an anderen Stellen. So bekommt er zur Konfirmation von einer Tante eine goldene Uhr geschenkt, die er allerdings nicht tragen, sondern nur aufheben und vererben soll, da sie schon sehr alt sei. Er widersteht zwar dem unmittelbaren Impuls, die Uhr aus dem Garten in den nahegelegenen Rhein zu werfen, vergisst sie jedoch abzunehmen, als er nur wenig später baden geht. Die Uhr ist natürlich nicht wasserdicht, „woher auch“, und so läuft das Gehäuse voll und bleibt noch wochenlang nass.807 Die Zeitvergessenheit, die in dieser Szene eine ironische Verbildlichung erfährt, wird noch deutlicher, als der Protagonist in den Ferien in der Fabrik seines Onkels arbeiten soll. Die industrielle Produktion ist hier mit ähnlichen Attributen als eigentlich längst anachronistisch gewordene Tradition gekennzeichnet, mit denen auch die Uhrensammlung des Vaters als einer anderen Zeit zugehörig eingestuft wird. Im genormten Rhythmus von zweieinhalb Minuten muss der Protagonist frisch gefertigte Kunststoffplatten vom Rollband nehmen und stapeln und erfährt so das Zeitregime der Industrialisierung am eigenen Leib. Tatsächlich empfindet er insbesondere die Zeit zwischen den Arbeitsschritten als leer und langweilig, doch scheint die Knechtschaft der getakteten Zeit auf seine imaginativen Neigungen nicht nur nicht abtötend, sondern eher anregend zu wirken, denn bald schon driftet er in Gedanken ab und verliert sich in Phantasien, in denen die Zeit wieder aufgehoben erscheint: „[...] ich malte mir aus, eine geheimnisvolle chemische Reaktion setze Tausende Tonnen Harz frei, die sich in Strömen durch die Straßen und Häuser wälzten und die ganze Stadt und deren Bewohner mit einem dünnen Film wie eine zuerst noch weiche und klare Kuchenglasur überziehen würde, unter dem die Menschen sich noch eine Zeitlang bewegen könnten, dann aber erstarrten, weil das Harz auf ihrer Haut trocknete und sie erkaltet festhalten würde, bis das Rheintal vom Venusberg bis zum Siebengebirge hinüber sich in eine riesige, lackierte, zum Stillstand gebrachte Modellbahnanlage verwandelt hätte.“808

Ganz offenkundig scheint diese Vision einer stillgestellten, in zeitlose Bildlichkeit aufgehobenen Welt der Erfahrung des Protagonisten weit eher zu entsprechen als das Gerede von Produktivität und Zeiteffizienz seines Onkels. Bei Wagner scheint tatsächlich ein unsichtbarer Film auf allem zu liegen, der die Wirklichkeit zu einem unbeweglichen, zeitresistenten Gebilde werden lässt. Alle Aspekte der Zeit wie Richtung, Takt, Entwicklung oder Geschichtlichkeit sind in der Wahrnehmung des Protagonisten arretiert. Das zeigt sich auch an den „Gleichlaufschwankungen“, die dieser während des Klavierspielens – einer „Kunst des Übergangs“, wie der Vater meint – an den Tag legt:

807 808

Wagner 2000, S.29ff. Wagner 2000, S.60f.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur „Bist du wieder vor der Wiederholung eingeschlafen, fragte sie und versuchte, Gründe für meine rhythmische Schwäche zu finden, die keine Klavierlehrerin mehr rubato nennen konnte. Vielleicht hatte ich diese Schwäche, weil ich nie mitzählte, weil ich mir einbildete, die Sicherheit der Bewegung, die Technik und das Wissen, wann und wie es weitergeht, fließe mir von außen zu. Leider lauschte und wartete ich meist vergeblich, die Intuition blieb aus, keine Stimme flüsterte mir zu, drück jetzt die Taste, jetzt, die Phrase verlangsamte und verzerrte sich ins Unkenntliche, ich blieb stecken und vergaß, dass eigentlich noch ein Ton folgen sollte, irgendwann wusste ich nicht einmal mehr, ob ich einen bestimmten Ton schon angeschlagen hatte [...].“809

Die Fähigkeit zum Mitzählen, also die Unterteilung der Zeit in rhythmisch getaktete Einheiten fehlt dem Protagonisten810, und auch außen, in der Welt, scheint es kaum mehr Mechanismen zu geben, die ihn dazu antreiben könnten. Er scheint von allen Temporalstrukturen abgekoppelt, weshalb er auch seine Umgebung nur mit einer gewissen trägen Verzögerung wahrnimmt, als wäre sie unter Wasser. Dabei ist es gerade die „Wiederholung“, an der er immer wieder scheitert, in semantischer Hinsicht also die Bedingung für die Erzeugung von Sinn, die in den Endlos-Repetitionen beider Väter als Mechanismus der Wirklichkeits-Konstruktion vorgeführt wird. Während die mit Schrift und Sprache assoziierte Elterngeneration in ständiger Wiederholung Realität bildet und zementiert, ist es dem Protagonisten „schon nicht mehr wichtig, überhaupt etwas zu sagen, zu sagen zu haben“811. Auch das Schreiben misslingt ihm: „Schrieb ich mehr, beschlich mich rasch das Gefühl, mich mit meinem Stift auf einer weichen, widerstandslosen Masse zu bewegen, die auf Druck wie eine träge Flüssigkeit reagierte: Auf der Oberfläche dieser viel zu süßen Creme blieb überhaupt keine Spur.“812 Seine Tendenz zum Bildlichen entspricht dem tiefen inneren Wunsch einer Auflösung der alles umfassenden, nicht mehr distanzierbaren ‚symbolischen Ordnung‛ der Elterngeneration – ein Wunsch, der im Innenleben des Protagonisten schon Wirklichkeit zu werden beginnt. Insofern jede konkrete Bildlichkeit nämlich letztlich doch Unterscheidungen in der Welt zum Ausdruck bringt und damit auf Begriffe zurückgreift, ist dem Protagonisten nicht nur das Schreiben, sondern auch das Malen vollständig unmöglich. Die inneren Bilder lösen sich auf, sobald sie festgehalten werden sollen, denn im Strom des Imaginären ist kein Bild mehr privilegiert. Die eigenen Malversuche enden deshalb damit, dass der Protagonist die Bilder weiß lässt:

809 810

811 812

Wagner 2000, S.54f. Auch dieses Phänomen ist als psychopathologische Zeitstörung bekannt. Verlangsamungen der Zeit bis zum Zeitstillstand sind insbesondere bei Schizophrenen nicht unüblich: Vgl. Weinmann 1998, S.135f. Wagner 2000, S.52. Wagner 2000, S.40.

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„Jeder Strich schien eine Verletzung und Farbe Schmutz zu sein, dabei hätte ich so gern das große Blau, die Kleider des Himmels, gemalt, aber weil es das hohe und das tiefe Blau schon gab, ließ ich die Blätter weiß, und als ich lernte, weiß sei die wahre Farbe der Trauer, strengte ich mich nicht mehr weiter an, meine Bilder waren fertig, sowie ein Blatt vor mir lag [...]“813

Indem auf diese Weise alles gleich wird, verlieren sich auch die Konturen, wird die Wahrnehmung bis zur Bedeutungslosigkeit entleert. Die Welt, die der Erzähler schon vorher nur reduziert wahrnimmt, als befände sich alles „unter Wasser“, verliert sich zuletzt, nachdem Fe sich von ihm getrennt hat, in vollkommener Indifferenz. „Lichteinfall ist immer abhängig von der Wassertiefe, dachte ich, irgendwann sieht man nur noch Blau, der Druck nimmt auf den ersten Metern am stärksten zu, am Ende ist es dunkel.“814 An David Wagners Roman wird deutlich, dass das Verhältnis von Bild, Schrift und Zeit sich in der Literatur der Gegenwart auch dort verschoben hat, wo nicht direkt über ‚die Medien‛ und ihre temporalen Strukturen reflektiert wird. Zwar tauchen hin und wieder Verweise auf unterschiedliche Referenzmedien der Generationen auf – etwa wenn der Protagonist einem Vortrag von Fes Vaters über die Wahlverwandtschaften lauscht, sich aber beim besten Willen an keine Verfilmung erinnern kann815 –, doch bleibt diese Auseinandersetzung eher im Hintergrund. Ähnliches gilt auch für die Reflexionen der Zeit in Klaus Böldls Romanen, die weitere gute Beispiele für eine Veränderung des Zeitempfindens im Zusammenhang mit Bild- und Schriftlichkeit darstellen. In Südlich von Abisko und Studie in Kristallbildung steht dabei die Ruhe und Einförmigkeit der grönländischen Lebenswelt der Hektik und Zwanghaftigkeit des deutschen Alltags entgegen. Bildlichkeit erscheint als ein Attribut der nordischen Umgebung, in der die Dinge in der einsamen, weiten Landschaft zusammenfließen und konturlos und indifferent werden. Wie bei Wagner sind bei Böldl die Protagonisten in einen Zustand beginnender Bewusstlosigkeit verfallen, erscheinen antriebsarm und nur noch von dem Wunsch beherrscht, Abstand zur ‚modernen‛ Lebenswelt zu gewinnen. Grahn, der Protagonist von Studie in Kristallbildung, versucht durch ein selbstgewähltes Exil in Grönland einer unheilvoll nachwirkenden Vergangenheit zu entkommen, die dem Leser bis zum Ende des Buches dunkel bleibt. Nicht die konkreten Inhalte dieser Vergangenheit, nicht Schuld oder Trauma scheinen den Protagonisten zu belasten, sondern in erster Linie der temporale Zusammenhang, die Tatsache des Nachwirkens der Vergangenheit selbst. In dem kleinen, namenlosen Dorf in Grönland, in dem er als Hotelangestellter arbeitet, ist er dieser Vergangenheit, von der stetig die „Gefahr der Veränderung”816 aus813 814 815 816

Wagner 2000, S.53f. Wagner 2000, S.182. Wagner 2000, S.49. Böldl, Klaus: Studie in Kristallbildung, Frankfurt a.M. 1997, S.12.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

geht, offenbar entkommen: Zwar suchen ihn die Erinnerungsbilder noch heim, doch sind sie „für ihn längst kein Thema mehr”817, fehlt ihnen die Verbindung zu seiner Gegenwart: „Ich erinnere mich bedenkenlos, überzeugt, dass ich von der Vergangenheit nichts mehr zu befürchten habe. Es ist nicht unähnlich einem Spaziergang im Zoo: Hinter Gittern geht von den wilden Tieren keine Gefahr aus, aber was einen an ihnen fesselt, ist eben doch, dass es wilde Tiere sind.”818

Ursache dieser Loslösung aus dem temporalen Zusammenhang scheint unter anderem die „fast völlig schriftlose Existenz“819 zu sein, die Grahn führt, verbunden mit der zeitlosen Leere einer Eislandschaft, die sich in erster Linie durch imaginative Anwesenheit kennzeichnet. Grahn ist ursprünglich allerdings ein Schriftmensch, dessen Wahrnehmung durch jenen „Augenblick zwischen dem bloßen Wahrnehmen und dem Wiedererkennen“820 geprägt wird, durch den sich ein symbolischer Zugang zur Welt kennzeichnet. Das „Beschreiben“ der Welt, das er ein „willkürliches“ nennt, erfährt er als „Irritation“, die „man sich so ähnlich vorstellen muss wie den Sturz der Zeichentrickfigur erst in dem Moment, als sie den Abgrund unter sich bemerkt.“821 Seine Erlebnisweise ist durch eine prinzipielle Nachträglichkeit bestimmt, die die Wirklichkeit selbst entstellt, indem sie sie ins Symbolische übersetzt. In einem Buch über die „Nachtseite der Naturwissenschaft“, in dem Grahn gelegentlich studiert, wird in diesem Sinne sogar das Sehen als ein „Selbstleuchten des Auges“ klassifiziert, wird das Verhältnis zur Außenwelt insgesamt zu einem Konstruieren und Produzieren umgedeutet, das die eigentliche Wahrnehmung notwendig verzerrt.822 Was Grahn sucht, ist jedoch gerade ein direkter Zugang zur Welt, der den Umweg über die symbolischen Kategorien des Verstandes auslässt. Die Einförmigkeit Grönlands liefert ihm das Idealbild einer unkategorisierbaren, strukturlosen Umgebung: Sie ist eine „Wirklichkeit ohne Ähnlichkeit, ein Original.“ 823 Die Gegenüberstellung von schrift- und bilddominierter Lebenswelt wird besonders deutlich, als Grahn die Gefährdung der „Sicherheit“, die er in Grönland verspürt, durch die Tätigkeit des Schreibens reflektiert: „Es mag ein wenig lächerlich klingen, aber in manchen Augenblicken habe ich das Gefühl, als ob meine Aufzeichnungen die Sicherheit gefährden könnten. Nicht meine persönliche Sicherheit natürlich, sondern die Sicherheit, in der 817 818 819 820 821 822 823

Böldl 1997, S.145. Böldl 1997, S.18. Böldl 1997, S.8. Böldl 1997, S.40. Böldl 1997, S.72. Vgl. Böldl 1997, S.98. Vgl. Freund, Wieland: Ort ohne Ähnlichkeit. Klaus Böldls „Studie in Kristallbildung“, in: Freund, Wieland / Freund, Winfried (Hg): Der deutsche Roman der Gegenwart, München 2001, S.170-174, S.173.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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sich hier alles vollzieht, nicht mit der Präzision eines Uhrwerks, das wäre der falsche Vergleich, aber doch in der Gesetzmäßigkeit, mit der sich Eiskristalle bilden, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt fällt.“824

Die „Gesetzmäßigkeit“ der bildlich dominierten Welt ist mit derjenigen des Uhrwerks nicht zu vergleichen, da mit diesem genau die Abstraktion eingeführt wäre, die in der schriftlosen „Sicherheit“ fehlt. Glücklicherweise scheinen die Bewohner des Städtchens gegen die Entfremdung der Schriftkultur einigermaßen resistent, befinden sie sich doch grundsätzlich in einer Gegenwart, die sich den Beschreibungen des Protagonisten entzieht, da sie von ihnen immer nur nachträglich erfasst werden kann: „Während ich diesen letzten Satz aufschrieb, hörte ich Larsen draußen in der Küche einen krachenden Rülpser ausstoßen, als wollte er sich damit gegen die Vorstellung verwahren, ihm, in seinem robusten Lebenshass, könnten Worte, Sätze, selbst Urteile, eingetragen in ein schwarzes Wachstuchheft mit blassblauen Linien, zu ungewissem Zweck, irgendetwas anhaben.“825

Grahns Zeitproblem ist offensichtlich mit jenem der Protagonisten um 1900 verwandt. Wie in den Texten um 1900 leidet er nicht nur unter der Flüchtigkeit der „unmessbar kurzen“ Augenblicke826, sondern setzt sich darüber hinaus auch gegen eine gesellschaftlich normierte und getaktete, entfremdete Zeiterfahrung zur Wehr. In Südlich von Abisko ist in diesem Zusammenhang von dem „Signalton einer elektronischen Weckuhr” die Rede, der „Morgen für Morgen, immer zur gleichen Zeit“ den Schlaf beendet, um den Beginn eines Tages „ohne Unwägbarkeiten“ einzuläuten. Als Inbegriff einer „monströsen Maschinerie“ des Alltags repräsentiert er eine abstrakte, funktionalistische Macht: „Man erwacht in eine Ordnung hinein, die dann nur mehr erfüllt und vollstreckt werden muss, mit den geeigneten Worten, Gebärden und Handgriffen, die für die Leute immer schon bereitliegen, wie die Waren im Supermarkt.“ 827 Dem steht in beiden Romanen die idealisierte ‚andere‛ Zeit der ursprünglich schriftlosen nordischen Kultur entgegen, die sich nicht durch Linearität und Zielbewusstsein, sondern immer nur durch den jeweils gegenwärtigen Zugriff kennzeichnet: „Die Menschen hatten hier vorher keine Schrift, sie war vor wenig mehr als einem Jahrhundert hier noch unbekannt, man begnügte sich damals mit dem, was es zu sehen gab oder auch zu spüren, mit dem, an was man sich erinnerte und was überliefert war. Was den Leuten wichtig war, war der Augenblick.“828 Wie in den Texten der Moderne erscheint auch hier der Ansatz zu einer Zeitutopie, die das 824 825 826 827 828

Böldl 1997, S.71f. Böldl 1997, S.72. Vgl. Böldl 1997, S.27. Böldl, Klaus: Südlich von Abisko, Frankfurt a.M. 2000, S.41f. Vgl. Kühn 2005, S.220f. Böldl 1997, S.10.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

Dilemma der Flüchtigkeit ebenso überwunden hat wie das industrielle Regime der linearen Zeitordnung. Es ist jedoch augenfällig, dass Böldls Grönland keineswegs so vollkommen abseits der Zivilisation liegt, wie es in beiden Romanen gelegentlich suggeriert wird. Als Repräsentant einer vorsprachlichen Archaik, als den die Protagonisten es gerne erleben möchten, kann es schon deshalb nicht gelten, da es ständig von Touristen heimgesucht wird. Diese aber bringen nicht die Schrift, sondern die neuen Medien in die Einöde, sie fotografieren und filmen. Und gerade an diesem „so lange sich selbst überlassenen Ort“ kann man „heute mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach gegen hundert Fernsehprogramme der alten und der neuen Welt empfangen, mehr als irgendwo sonst.“829 Die gemeinsamen Fernsehabende sind fest in das Leben im Hotel integriert; im Gegensatz zur Schrift scheint das Fernsehen, scheinen überhaupt die ‚neuen Medien‛ in keinem Widerspruch zum Zeitempfinden der Grönländer zu stehen – es wird hier eigentlich „immer ferngesehen, außer zur Schlafens- und Essenszeit.“830 Jener Zustand der Unverbundenheit mit der Zeit, den der Protagonist sich herbeisehnt, in dem das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit aufgehoben, ihr jede mögliche Bedeutung für die Gegenwart entzogen ist, korrespondiert zudem auf merkwürdige Weise mit jener leichten Betäubung des Zeitempfindens, das einen Fernsehzuschauer beim Zappen überkommt. In Südlich von Abisko wird diese Verbindung offensichtlich: „Die Menge von unzusammenhängenden Bildern, Gestalten, Bewegungsabläufen, die vor mir aufleuchteten und wieder verschwanden, schien die Zeit aufzusaugen: Eineinhalb Stunden waren plötzlich vergangen, ohne dass in mir irgendein Gefühl für das Verfließen dieser Zeit vorhanden gewesen wäre.“831 Ungeachtet der Tatsache, dass hier ein Fernseherlebnis geschildert wird, sieht Ralf Kühn in diesem Zitat ohne weiteres das Ideal eines anderen, erfüllten Zeitempfindens zum Ausdruck gebracht.832 Die Ignoranz gegenüber dem Temporalmodus der Schrift belegt also keineswegs eine Rückständigkeit Grönlands; vielmehr scheint die durch bildliche Gegenwärtigkeit gekennzeichnete Erfahrungsweise hier gerade viele Parallelen mit den Zeitmodi neuer Medien aufzuweisen. Das wird insbesondere an solchen Stellen klar, an denen die Zeit tatsächlich einer „Kristallbildung“ unterzogen, an der etwa die Vergangenheit eingefroren und auf diese Weise musealisiert wird: „Ich versuchte mir damals vorzustellen, dass die hier aufgetürmten, zusammengepressten Eismassen ausreichen würden, um den gesamten europäischen Kontinent damit zu überziehen, mit einer etwa zweitausendfünfhundert Meter dicken Schicht, die alles in sie Eingeschlossene bewahren würde, Jahrhundert für Jahrhundert, Jahrtausend für Jahrtausend, mit einer genauen, melancholi829 830 831 832

Böldl 1997, S.10. Böldl 1997, S.24. Böldl 2000, S.86f. Vgl. Kühn 2005, S.343.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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schen und fast liebevollen Sorgfalt, das Gegenteil einer Sintflut also, die alles unterschiedslos fortwäscht, denn von nun an würde nichts mehr verloren gehen, die arktische Erinnerung ins Unermessliche ausgedehnt, gleichzeitig aber auf einen einzigen Augenblick konzentriert, den Augenblick der Vereisung.“833

Die Nähe zu David Wagners Phantasie einer in Kunstharz fixierten Welt ist augenfällig. Die „Kristallisation“ wird zum Idealbild einer neuen, anderen Zeiterfahrung, die nicht länger durch Sukzession bestimmt ist, sondern durch Präsenz, und aus der sich „Halt und innerer Zusammenhang“834 der grönländischen Lebenswelt ableiten. Eine analoge Verwendung findet die Metapher bereits in Robert Musils Die Vollendung der Liebe, in der sie für die ekstatische Augenblickserfahrung steht: „[...] die Zeit, die wie ein endloser glitzernder Faden durch die Welt läuft, schien mitten durch dieses Zimmer zu gehen und schien mitten durch diese Menschen zu gehen und schien plötzlich einzuhalten und steif zu werden, ganz steif und still und glitzernd, ...und die Gegenstände rückten ein wenig aneinander. Es war jenes Stillstehen und dann leise Senken, wie wenn sich plötzlich Flächen ordnen und ein Kristall sich bildet...“835

Während bei Musil der Augenblick des Zeitstillstands eine besondere und seltene Erfahrung darstellt, ist er bei Böldl und Wagner offenbar Ausdruck einer neuen Normalität, einer tatsächlich veränderten Lebenswirklichkeit. Auf den zweiten Blick trägt diese jedoch nicht mehr nur utopischen Charakter, erscheint vielmehr sogar trügerisch; denn gerade an diesem Ort des „inneren Zusammenhangs“ bleiben die Geschichten, die es eigentlich zu erzählen gäbe, im Dunkeln. So erfährt der Leser niemals, vor welcher Vergangenheit Grahn davongelaufen ist; mysteriöse Todesfälle bleiben ohne Aufklärung, Handlungsstränge verlieren sich im Nichts. Eine „eigentümliche Mischung aus Gefährdung und Geborgenheit“ geht von Böldls Grönland-Darstellung aus, die „Suggestion des Stillstands“ erfüllt sich hier „auf zweierlei Weise.“836 Die Angst des Protagonisten, an besonders ereignislosen Tagen „von einem Augenblick zum anderen das Gedächtnis zu verlieren“837, spricht darüber hinaus für eine fortgeschrittene, der bewussten Kontrolle bereits entzogene Dominanz der gegenwartsbezogenen Erlebnisweise. So erscheint die „Kristallisation“ nicht nur als Metapher einer neuen Zeiterfahrungen, sondern – vielleicht mit Bezug auf Arnold Gehlen – auch als Sinnbild einer posthistorischen, krisenhaften Entlebendigung, einer Ar833 834 835

836

837

Böldl 1997, S.42f. Böldl 1997, S.13. Musil, Robert: Die Vollendung der Liebe, in: Ders.: Gesammelte Werke Bd. II, Hamburg 1978, S.156-194, S.157. Vgl. Kraft, Thomas: Arktische Metamorphosen. Zu Klaus Böldls „Studie in Kristallbildung“ und anderen Geschichten im Eis, in: NdL 6/1998, J.64, Heft 522, S.155-162, S.157 & S.160. Böldl 1997, S.133.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

retierung der Zeit.838 Das wird vor allem dort erfahrbar, wo dem Protagonisten der Kontrast zwischen Grönland und dem Rest der Welt als Auseinanderklaffen von Zeitsystemen bewusst wird: „Wenn Leben Bewegung ist, dann lebe ich wenig. Mein Verbrauch an Zeit ist gering. Meine Tage sind die langsamsten, die sich denken lassen. Mit meinen Mitmenschen von früher würde ich längst nicht mehr Schritt halten können. Sie müssen mir schon unendlich weit vorausgeeilt sein. Wie dem Raumfahrer, der nach Jahren im Universum auf die Erde zurückkehrt. Dort sind Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte vergangen. Er kennt niemanden mehr. Man erinnert sich nicht mehr an ihn. Die er gekannt hat, sind alle tot, doch schon seit so langer Zeit, dass es sinnlos wäre, um sie zu trauern.“839

Die „Erfahrung der Ungleichzeitigkeit der Zeit“ schärft also keineswegs nur „die Erkenntnis des Ewig-Zeitlichen“, die in der profanen, mechanistischen Zivilisation vergessen worden ist und nun – im Austausch mit einer unberührten Natur – durch den Protagonisten wiedergewonnen würde.840 Vielmehr wird gerade das Nebeneinander verschiedener Zeit-Systeme immer wieder als Paradox erfahren, das bereits der Natur selbst anhaftet. So ist etwa auch mit Einsteins Theorien nicht mehr zu begründen, weshalb einige gerade neu entdeckte Sterne, von denen Grahn in der Zeitung liest, „älter zu sein scheinen als das sie umgebende Weltall.“841 Die Annahme eines stabilen temporalen Zusammenhangs, einer longe duree der Natur, in der „ein paar Hundert Jahre [...] keine Rolle“ 842 mehr spielen, erweist sich so als Wunsch-Phantasma des zivilisationsmüden Protagonisten, der selbst gerade nicht mehr in der Lage ist, auch nur innerhalb der wenigen Jahre seiner eigenen Vergangenheit, geschweige denn in der ‚Geschichte‛ irgendeine Einheitlichkeit herzustellen. Grahns Erinnerungen haben sich von dem abstrakten Schema einer linearen Zeit längst gelöst, dessen Genauigkeit, ähnlich wie bei Wagner, mit der – längst vergangenen – Zeit der Jahrhundertwende assoziiert wird: „Es gab da eine Standuhr aus schwarzbraunem Holz. Man konnte nicht erkennen, dass die Zeiger sich bewegten, nicht, solange man hinsah, denn die Zeit verging damals in Sprüngen, und es war so eingerichtet, dass man diese Sprün838

839 840

841 842

Nach Gehlen tritt die „Kristallisation“ einer Kultur dann ein, wenn alle „Möglichkeiten“ und „Gegenmöglichkeiten“ entdeckt und bekannt sind, „so dass nunmehr Veränderungen in den Prämissen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden.“ Alles geschehe in einem „schon abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingelebten Grundansätze, diese werden nicht mehr verlassen.“ Vgl. Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische und kulturanalytische Schriften, Frankfurt a.M. 2004, S.307. Böldl 1997, S.66. Vgl. Schütte, Ulrich: Epiphanien unter eiskaltem Himmel. Zum Prosawerk von Klaus Böldl, in: Neophilologus Nr. 89 (2005), S.419-445, S.428. Böldl 1997, S.15. Böldl 2000, S.126.

2. „Delirium präsens“. Die Zeitmuster der neuen Medien

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ge nicht hören und sehen durfte. Schwere Gewichte hingen an dieser Uhr, durch Glas waren sie vor Berührungen bewahrt, mein Großvater erklärte mir, diese Gewichte seien von großer Wichtigkeit: Ohne sie gäbe es keine Genauigkeit.“843

Diese Genauigkeit der Zeit ist Grahn fremd geworden; in seiner Erfahrungswelt ist das Asynchrone und Sprunghafte längst die Norm. So wechselt in seiner Erinnerung einmal die Szenerie einfach die Jahreszeit „in einem raschen, gleichgültigen Sprung, wie in dem Film Die Zeitmaschine.“844 Immer wieder hat es den Anschein, als wäre es gerade diese mediale Prägung der Wahrnehmung und die aus ihr resultierende Dominanz der Eigenzeiten, an denen die Menschen in Böldls Romanen wirklich leiden. Notwendig fühlt sich die verdrängte Vergangenheit deshalb bald so an, als berge sie dunkle Geheimnisse, eben weil ihr der Rahmen einer überindividuellen, die jeweilige Gegenwart überschreitenden Bedeutungsebene fehlt. Der Schrecken zeitlicher Konturlosigkeit, den etwa Rilkes Malte Laurids Brigge während seiner Krankheit erlebt, ist bei Böldl zur bedrängenden Grunderfahrung des Lebens geworden. Die Motivation seiner Helden charakterisiert sich deshalb in erste Linie durch deren Versuch, sich selbst auszulöschen in einer konturlosen Umgebung, die jede Bedeutung relativiert. Die Flucht aus der Zivilisation ist kein Zu-Sich-Kommen, sondern der Versuch einer völligen Aufhebung von Subjektivität in der bewusst- und damit zeitlosen Natur, in einer Bildlichkeit, die keine Unterscheidungen zwischen wahr und falsch oder früher und später, die mithin auch keine Angst oder Schuld, aber auch keine Verantwortung, keine Entwicklung, kein Individuum mehr kennt. In Böldls knapper, eindrucksvoller Prosa bleibt die Bewertung dieser Flucht ambivalent. Wird einerseits die klassische moderne Kritik an der Anonymität der modernen Lebenswelt und ihrer Zeitdoktrin eindeutig fortgeführt, erweist sich andererseits die nordische Gegenwelt nur vorübergehend als produktive Alternative, stellt sich die „finis terrae [...] letztlich als Sackgasse“845 heraus. Am Ende hebt daher Grahn sein Exil selbst wieder auf – nachdem er sich vorher bereits wieder der Schrift zugewandt hat, wenn auch unter Verzicht auf Datierungen. Der Roman schildert auf diese Weise, wie ein als Alternativerfahrung angestrebtes, ‚anderes‛ Zeitmodell, das durch bildliche Unmittelbarkeit und Augenblickserlebnisse einerseits, Kontinuität und Einheitlichkeit andererseits geprägt ist, selbst umschlägt in eine neue Art von krisenhafter Grunderfahrung. Nach Böldls Roman gehört eine solche „Täuschung, der Zeit entkommen zu können“846, längst genauso zu unserer Kultur wie die lineare Zeitstruktur.

843 844 845 846

Böldl 1997, S.62. Böldl 1997, S.23. Kraft 1998, S.160. Kraft 1998, S.161.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur Im Vorwort zu einem Essayband, der anlässlich der Jahrtausendwende „Schriftsteller im Zeitenwechsel“ zu Wort kommen lässt, fasst Kurt Drawert die tiefgreifenden Veränderungen des gesellschaftlichen und medialen Horizonts präzise zusammen: „Das allmähliche Verschwinden der Schrift vor einer Herrschaft der Bilder, der sukzessive Übergang in virtuelle Realitäten bei gleichzeitiger Abschaffung von physischer Präsenz, die Auflösung kognitiver Wahrnehmungsprozesse und die Neubestimmungen für Raum und Zeit, für Entfernung und Geschwindigkeit, das sind einige ausgesuchte Argumente dafür, dass wir uns in einem Zeitalter das Leben grundlegend verändernder Transformationen bewegen. Gerade in Deutschland kommt eine Vielzahl von Umwandlungen durch den Tod eines als alternativ verstandenen Gesellschaftsmodells hinzu. [...] Für den einzelnen bedeutet es Kündigung langfristiger Perspektiven und Verlust etablierter sozialer Normen und Regeln, Nomadisierung und Individualisierung statt Ansässigkeit und kollektive Verflechtung.“847

Richard Sennett hat diese Veränderungen auch als ein Zerbrechen narrativer Zeitfiguren beschrieben: Im alltäglichen Leben werde es immer schwieriger, Erlebnisse, Erinnerungen, Wissen, Pläne und Wünsche zu einem kontinuierlichen Zusammenhang zu verbinden. Die erzählende Literatur erscheint ihm dabei wie eine nostalgische, aber psychologisch hilfreiche Wiederbelebung der verlorenen Einheitsperspektive: „Der Leser eines Romans“ erfahre „den Trost, Menschen und Ereignisse zu erleben, die einem Zeitmuster eingepaßt sind“; die „‚Moral‛ der Erzählung“ liege daher „in der Form, nicht in der Aussage.“848 Analog dazu findet Hartmut Rosa in der zeitreflexiven Literatur in erster Linie einen kritischen „Be- und Entschleunigungsdiskurs“ am Werk, „in dem der Ruf nach Entschleunigung und die nostalgische Sehnsucht nach der verlorenen ‚langsamen Welt‛, deren Langsamkeit erst im Rückblick zu einer distinkten Qualität wird, in aller Regel die Begeisterung über die Tempogewinne überwiegen.“849 In diesem Anliegen scheinen für Rosa zeitgenössische Bücher wie Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit850, das als ein typisches Beispiel der vielbeschworenen ‚Wiederkehr des Erzählens‛ in der deutschsprachigen Literatur gilt, mit unterschiedlichen Werken der klassischen Moderne ohne weiteres vergleichbar. 847

848 849 850

Drawert, Kurt: Vorwort. Das Jahr 2000 findet nicht statt, in: Ders. (Hg): Das Jahr 2000 findet nicht statt. Schriftsteller im Zeitenwechsel, Frankfurt a.M. 2000 (a), S.7-12, S.9f. Sennett 1998, S.184. Rosa 2005, S.81. Vgl. Nadolny, Sten: Die Entdeckung der Langsamkeit, München 1983. Vgl. zudem: Elm, Theo: Langsam – aber schnell! Zeiterfahrung in der deutschen Gegenwartsliteratur, in: Knobloch, Hans-Jörg / Koopmann, Helmut (Hgg): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Tübingen 1999, S.65-80.

3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur

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Diese Analyse erscheint mindestens für einen Teil der heutigen Erzählliteratur jedoch kaum als zutreffend. Denn obgleich die neueren Zeit-Romane wieder erzählen, schaffen sie keine einheitliche Perspektive, sondern brechen diese auf; und anstatt durch die Konstruktion größerer Zusammenhänge Trost zu spenden, führen sie das Ende der narrativen Zeit gerade als eine Explosion der Erzählstränge vor. Die Vielzahl sich widersprechender oder unzuverlässiger Erzählinstanzen, die Verschachtelungen der Erzählstränge und die Reversibilität von Ereignissen, die sich in vielen Werken finden, lassen dabei den Eindruck entstehen, dass hier ein grundsätzlich verändertes Verhältnis von Zeit und Erzählen zum Ausdruck kommen soll.851 Die Formation der Erzählung gilt nun nicht länger als literarische Entsprechung der überkommenen Postulate kausaler Verknüpfung und historischen Zusammenhangs, sondern stellt diese immer häufiger selbst infrage. Nach Nikolaus Förster ist kurioserweise gerade Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit auch ein Beispiel dieses ganz neuen Erzählens, das den Anspruch auf ein Erfassen und Ordnen der Wirklichkeit längst aufgegeben hat: „Schließlich wird eine literarische Welt vorgeführt, in der ein Erzähler – nach dem verpönten Vorbild des schöpferischen Gottes – [...] schalten und walten [kann], wie er will. Glaubwürdigkeit hingegen, die Erzähler des 19. Jahrhunderts noch für sich reklamierten, kann er nicht mehr für sich in Anspruch nehmen. Seine Wiederkehr steht im Zeichen der Ironie, nicht im Zeichen der Authentizität. Die Entdeckung der Langsamkeit entpuppt sich als Entdeckung der Fiktion.“852

Auch Förster stellt fest, dass viele zeitgenössische Texte „explizit auf die Kategorie der Zeit“ zurückgreifen, „um sie zum Ausgangspunkt“ einer von jedem Mimesis-Anspruch befreiten „Wiederkehr des Erzählens zu machen.“853 Das Zeitmotiv weist demzufolge nicht nur auf eine inhaltliche Auseinandersetzung der Gegenwartsliteratur mit sich möglicherweise wandelnden Zeitstrukturen und -empfindungen hin, sondern bildet auch einen metaphorischen Assoziationsraum für die ästhetische Selbstreflexion eines ebenfalls im Wandel begriffenen Erzählens. „Dem Ringen um Authentizität“, das noch die Literatur um 1900 charakterisiert habe, wird nach Förster nun eine von allen gesellschaftlichen Zweckbestimmungen der Literatur freigesprochene „Lust am Fabulieren entge851

852 853

Stefan Scherer bemerkt, dass auch die konkrete Form dieser Zeitparadoxien sich deutlich von den literarischen Darstellungen innerer Zeit unterscheidet, die die Literatur der Moderne prägten: „Generiert das spätrealistische und moderne Erzählen verschachtelte Zeitstufen, die sich zunehmend in rhizomatisch wuchernden Labyrinthen des Ich simultaneisieren, zeichnet sich in der Erzählliteratur der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts ein Zeitlichkeitsmodell ab, das mit der Reversibilität von Zeitverhältnissen operiert, um sie selbstinvolutiv ineinander zu verschlingen.“ Vgl. Scherer 2000, S.352f. Förster 1999, S.96. Förster 1999, S.113.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

gengehalten“854; die Tendenz zur Phantastik, die viele Gegenwartsromane auszeichne, bedeute gerade keine Verunsicherung der Welt, sondern ihre bewusst abweichende Inszenierung, durch die sich die neue Erzählliteratur sowohl von der realistischen als auch von der avantgardistischen Tradition abhebe: „Die Texte der Wiederkehr des Erzählens üben demnach eine doppelte Kritik: zum einen an der realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, zum anderen an der avantgardistischen, formalistischen Tradition, die sich an einer Ästhetik der Negativität im Sinne Adornos orientiert. Was diese beiden Traditionen trotz der offenkundigen Differenz miteinander verbindet, ist ihr impliziter Mimesis-Begriff“855

Diese Befreiung des Erzählens vom traditionellen realistischen Anspruch lässt noch einmal die geistige Nähe der jüngeren deutschen Autoren zu Schriftstellern wie Nabokov oder Borges deutlich werden. Wie diese ermöglicht die neue Erzähl-Literatur aus Försters Perspektive eine ästhetische Haltung dem eigenen Leben, der eigenen Vergangenheit gegenüber, in der Referenzlosigkeit als Freiheit begriffen und generell bejaht wird. Eine solche Beurteilung übersieht jedoch die Bezugnahmen auf außerliterarische Diskurse, die sich in den Romanen finden. Zudem ebnet sie tendenziell die Unterschiede ein, die sich zwischen den Texten der ‚spielerischen Moderne‛ und der Gegenwartsliteratur ausmachen lassen. So sind in vielen hier vorgestellten Werken Protagonisten zu finden, die einen Anspruch auf klare zeitliche Verhältnisse, auf eine klassische ‚narrative Zeit‛ artikulieren und die die Pluralisierung und Erschütterung ihrer Zeitwahrnehmung als Krise erleben. Die neuen Zeiterfahrungen erscheinen daher heute weder als Ausdruck eines vermeintlich echteren, inneren Zeiterlebens noch als ästhetische Abkehr vom Mimesis-Konzept. Ganz im Gegenteil scheint es in den Romanen immer weniger möglich, die vermeintliche Freiheit eines ungebundenen, referenzlosen Fabulierens von gesellschaftlicher Praxis abzuheben: Bei Thomas Hettche, John von Düffel, Helmut Krausser und anderen Autoren wird gerade die Referenzlosigkeit der eigenen Wahrnehmungen und Erinnerungen als eigentliches Problem behandelt. Nicht mehr der mimetische Anspruch der Literatur ist also ihr konservatives und zu überwindendes Erbe, sondern ihre viel ‚zeitgemäßere‛ Teilnahme an der Pluralisierung von Perspektiven und Geschichten, die die Wirklichkeit zunehmend auszumachen scheinen – ebenso wie es nicht mehr die lineare Einheitszeit der ‚Geschichte‛ ist, die als vorherrschender Diskurs zu attackieren ist, sondern deren schrittweise Deregulierung. Denn wenn Geschichte und Vergangenheit in der Gegenwartsliteratur „als Prägung innerhalb der Gegenwart verstanden“ werden und eben „nicht als etwas, das für die Entwicklung der Gegenwart verantwortlich ist“, wie Sabine Kyora feststellt, hat sich damit längst ein neues 854 855

Förster 1999, S.5. Förster 1999, S.167.

3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur

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Zeitverständnis etabliert, das dem stur wiederholten Lamento über die Vereinheitlichung und Abstraktion der Zeit deutlich entgegensteht: Der „Aspekt des zeitlichen Nacheinander“ ist in vielen Romanen längst „in der Gegenwärtigkeit von Geschichte in der jeweils geschilderten Gegenwart aufgehoben, Geschichte ist nicht vergangen, sondern“ zunehmend nur noch „Teil der kulturellen Muster der Oberfläche Gegenwart.“856 Die ‚Geschichten‛, die die Literatur erzeugt, heben sich dadurch aber von keiner ‚Geschichte’ mehr ab. Die Verantwortung, die einige der Protagonisten für die Zeit-Anomalien tragen, die sie zum Beispiel durch wissenschaftliche Experimente selbst hervorrufen, spiegelt das Dilemma der Autoren, mit jeder weiteren ‚Fiktion‛ diese Pluralisierung selbst antreiben zu müssen. In der Dokumentation eines literarischen Kolloquiums zum Thema ‚Zeit‛, an dem unter anderem Marcel Beyer teilnahm, wird die „Lust“ der Autoren am „Umspringen“ mit der Zeit deshalb unter der Hand als „Zwang“ offenbar: „Neben der ungeheuren Beschleunigung, womit uns die Erfindungen der letzten zweihundert Jahre versorgt haben, hat die Lust, ja der Zwang zugenommen, mit der Zeit umzuspringen, die als bieder empfundene (und wiederum mitunter so betont genossene) Sukzession zu überlisten und außer Kraft zu setzen, das Tempus und die anderen Ordnungssignale der Zeit (analog dem Ich und seinen Entwicklungen) wie ein Zitat zu gebrauchen: zu lesen. Es ist für heutige Autoren längerer Prosa-Texte wohl eines der größten Probleme, wenn sie über ihre Kunst nachdenken, mit dieser Verflüchtigung des ‚ewiggültigen‛ Erzählens und seines Erzählbaren fertig zu werden, sich an den Grenzen der Reduktion und Verdichtung zu erproben, die Lächerlichkeit der Erzählzeit angesichts der Triumphe der Beschleunigung [...] zu verkraften.“857

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass sich Funktion und Beurteilung des ‚neuen Erzählens‛ mit dem Zeit-Diskurs wandeln müssen, welcher von den Werken selbst als gesellschaftlich dominant vorausgesetzt wird. Auf Grundlage der vorausgegangenen Interpretationen lassen sich im wesentlichen drei unterschiedliche Verhältnisbestimmungen von Zeit und Erzählen differenzieren, die zum Abschluss dieses Überblicks exemplarisch festgehalten werden.

3.1. Achronisches Erzählen: Botho Strauß u

Solange eine abstrakte Zeitvorstellung als gesellschaftlicher Status quo gilt, kann das klassische, psychologische und kausale Zusammenhänge konstruierende Erzählen als deren genuiner Ausdruck gewertet werden. Wie die Autoren der klas856

857

Kyora, Sabine: „Helden wie wir.“ Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Oldenburg 2004, S.22. Dittberner, Hugo: Über das Thema: Einleitung, in: Ders. (Hg): Mit der Zeit erzählen?, fragt er. Marcel Beyer, Heiner Egge, Gundi Feyrer, Yoko Tawada. Das zweite Buch, Göttingen 1994, S.95-100, S.96.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

sischen oder der spielerischen Moderne bemühen sich auch heute einige Schriftsteller, dieser Zeit-Konvention eine literarische Alternative entgegenzusetzen, welche die Möglichkeit eines ‚anderen‛ Zeiterlebens zum Ausdruck bringen soll. Dies geschieht zumeist durch ein Erzählen, das die chronologische Reihenfolge des Geschehens nicht nur verändert, sondern alle Zeitbezüge nach Möglichkeit vollständig suspendiert, wodurch ein Zustand der Achronie hervorgebracht werden soll.858 Durch die Betonung der subjektiven Zeiterfahrung, eine Aufwertung der Langsamkeit oder neue Formen des Erzählens oder Schreibens werden andere Zeitmodi entworfen, die der durch Flüchtigkeit, Routine oder Determinismus gekennzeichneten Zeiterfahrung entgegen stehen. Explizite oder implizite Bezugnahmen auf den literarischen Zeit-Diskurs um 1900 liegen daher nahe, doch unterscheiden sich die neueren Zeitromane von ihren Vorbildern häufig durch die verstärkte Aufmerksamkeit, die sie etwa den Zeitmustern der ‚neuen Medien‛ oder anderen kulturellen Spezifika der ‚Spätmoderne‛ zollen. Von den hier exemplarisch vorgestellten Romanen können Peter Høegs Der Plan von der Abschaffung des Dunkels und Urs Widmers Der blaue Siphon dieser Kategorie zugeordnet werden. In besonders elaborierter Weise hat in der deutschen Literatur zudem Botho Strauß eine solche Position vertreten; die vielfachen Zeitreflexionen, die sich durch all seine Werke ziehen, lassen die Suche nach einer ‚anderen‛ Zeiterfahrungen als zentrales Motiv deutlich werden. „Zeit Zeit Zeit. Wie oft fragen mich die Kinder auf der Straße nach der Uhrzeit“859 – mit diesem Stoßseufzer beginnt der 1984 veröffentlichte Roman Der junge Mann. Es folgt eine essayistische Gesellschaftskritik, die an der Relevanz des Zeitproblems keinen Zweifel lässt: Mit der Zeit „kommen die Menschen immer noch am wenigsten zurecht.“860 Im Unterschied zum Raum bleibe die Zeit in ihrem Wesen unverfügbar und unkontrollierbar, entziehe sich den Versuchen, sie zu beherrschen oder zu erobern, entpuppe sich allen Anstrengungen zum Trotz immer wieder von Neuem als „Teil des kosmischen Überschwangs“. Dadurch aber, dass die Menschen dennoch „behelfsmäßige Uhren“ einrichteten, „die abergläubischen und die geschichtlichen, die biografischen und die ideologischen“, seien aus der „unfasslichen Zeit die mächtigsten Täuschungen und Stimmungen des Menschengeschlechts“ hervorgegangen, Konzepte wie „Endzeit“ und „Neuzeit“, teleologische Konstruktionen allesamt, an denen jedoch nichts „Reales dran“861 sei. Offenkundig ist es also in erster Linie 858

859 860 861

„Achronie ist die Auffassung, dass alles, was in der Zeit vorgefallen ist, auch in ihr enthalten bleibt, mehr noch, dass das unabschließbare Ganze der Zeit von jedem ihrer Punkte aus zu erfassen sein muss.“ Vgl. Lenk, Elisabeth: Achronie. Über literarische Zeit im Zeitalter der Medien, in: Pias, Claus: Neue Vorträge zur Medienkultur, Weimar 2000, S.258-299, S.285f. Der Begriff der Achronie wird hier in Erweiterung der von Genette eingeführten, bei ihm allerdings rein narratologischen Kategorie verwendet. Vgl. Genette, Gèrard: Die Erzählung, München 1998, S.54ff. Strauß, Botho: Der junge Mann, München 1987. S.7. Strauß 1987, S.7. Strauß 1987, S.7f.

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die irreversible, durch den „allesdurchbohrenden Zeitpfeil“862 der Physik zusätzlich gestützte Geschichtszeit, deren unterschiedliche teleologische und eschatologische Versionen und Ausprägungen Strauß kritisiert und die auch für jenen „Taumel immer stärkerer Beschleunigung“ verantwortlich zu machen ist, den sie den Menschen durch die Suggestivkraft des Fortschrittskonzeptes eintrichtere, einem „Überbleibsel aus der Epoche der Revolutionen“.863 „Diese Welt also ist von A bis Omega, durch Leben und durch Unbelebtes an die Unumkehrbarkeit alles Geschehens gefesselt, an das Nicht-Gleichgewicht, an die Dynamik von Unordnung und verschwenderischer Struktur. Sie hat offenbar für Sein keinen Platz.“864

Um einen ästhetischen Kampf gegen diese Mega-Maschine der Moderne führen zu können, muss Strauß deren Zeitkonzepte zunächst auf jene vereinheitlichenden, autoritären Merkmale reduzieren, die schon um 1900 die literarische Auseinandersetzung bestimmen. Doch gibt es neben der konstruierten Linearzeit auch noch eine andere Deformation des Zeitempfindens, der Strauß in diesem und anderen Werken Beachtung schenkt. Das „weltzerstückelnde Schalten und Walten“ jenes „großen Mediums“, des Fernsehens nämlich, scheint dazu zu führen, dass niemand mehr Zeit hat, dass auch die Geduld fehlt, um den alten Erzählungen zu lauschen. Stattdessen verfallen die Menschen der „Ideenflucht“ und dem „Wahn“, den sie schon für ihre „ganz normale Wahrnehmung halten“, die „Wahnzeit“ sei zur „Normalzeit“ geworden und habe jedes Gefühl von Bedeutung aufgelöst.865 Kritisiert wird von Strauß das Fragmentarische, Zusammenhangslose und Flüchtige einer ständig ‚zappenden‛ Wahrnehmung, das Kommunikation und Nähe, Entwicklung und Sinn auslösche. Besondere Gefahr besteht für das ästhetische Konzept des Augenblicks, das gerade infolge der Affinität der Massenmedien zu Erlebnis- und Event-Inszenierungen, durch ihre geschichtsvergessene Fixierung auf die Gegenwart banalisiert und entwertet werde.866 Gegen die historischen Konzepte einerseits, den fragmentarischen Sinnzerfall andererseits versucht sich der Schriftsteller Strauß als „empfindlicher Chronist“ zu behaupten und beschreibt, was für ein Typus Künstler darunter zu verstehen sei: „Vielleicht wird er zunächst gut daran tun, sich in Form und Blick zunutze zu machen, worin ihn die Epoche erzogen hat, zum Beispiel in der Übung, die Dinge im Maß ihrer erhöhten Flüchtigkeit zu erwischen und erst recht scharfumrandet wahrzunehmen. Statt in gerader Fortsetzung zu erzählen, wird er dem Diversen seine Zonen schaffen, statt Geschichte wird er den geschichte862 863 864 865 866

Strauß 1987, S.14. Strauß 1987, S.203. Strauß 1987, S.14. Strauß 1987, S.9. Vgl. Damm 1998, S.100ff.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur ten Augenblick erfassen, die gleichzeitige Begebenheit. Er wird Schauplätze und Zeitwaben anlegen oder entstehen lassen anstelle von Epen und Novellen. Er wird sich also im Gegenteil der vorgegebenen Lage stärker noch anpassen, anstatt sich ihr entgegenzustellen. [...] Wo mancher nur den glitzernden Zerfall erkennt, da sieht er viele Übergänge und Verwandlungen, sieht er den verschwenderischen Markt der Differenz, der aus der wesentlichen Unsicherheit und Offenheit dieser Gesellschaft hervorgeht.“867

So gilt es einerseits, dem „Zeit-Pfeil“ mit allen Mitteln zu „trotzen“868, andererseits aber gleichzeitig nicht dem „Kobold“ des Verfalls zu huldigen, der nur das Gegenteil des „verbrauchten Fortschrittsglauben“869 darstellt. Wie in der Literatur der klassischen Moderne ist das Zeit-Dilemma bei Strauß also durch die gegenläufigen Charakteristika der Flüchtigkeit und des linearen Zusammenhangs bestimmt, die beide zu kritisieren sind. Wie Steffen Damm deutlich macht, findet sich die Möglichkeit einer solchen Ästhetik in einer Hinwendung zu einem mythischen Zeitverständnis, das sich in erster Linie durch ein Konzept der Gleichzeitigkeit kennzeichnet, durch ästhetische Konstruktionen der Anwesenheit des Vergangenen im Gegenwärtigen und durch Herstellung von neuen Bedeutungszusammenhängen. Dieses mythische Zeitverständnis soll insbesondere der sprunghaften Innenzeit des Subjekts gerecht werden, die nach Strauß durch die normative Zeitstruktur der Linearzeit potenziell unterdrückt wird.870 Durch die ästhetische Inszenierung von Simultaneität soll dabei einer anderen, weder kausallogisch-linearen noch augenblicksfixierten, sondern vielgestaltigen Zeitvorstellung zum Durchbruch verholfen werden, einer einerseits mythisch-ganzheitlichen, andererseits facettenreich schillernden „Polychronie“871. „Indem Strauß von der simultanen, gleichzeitigen Präsenz unterschiedlicher Zeitebenen in der Gegenwart ausgeht, formuliert er eine Skepsis gegenüber dem Absolutheitsanspruch historisch-linearer Erkenntnismodelle, die aus seiner Sicht einer Reduktion der Zeitwahrnehmung auf ein wissenschaftlich fixiertes, eindimensionales Richtmaß gleichkommen und insofern von der totalitären Selbstbezogenheit des aufklärerischen Denkens zeugen.“872

Zweifelsohne reiht sich Strauß durch diese Kritik an einer gesellschaftlichen Dominanz des linearen Zeitmodells in die Tradition der literarischen Moderne ein, zu der sich in verschiedenen seiner Werke gerade im Zusammenhang mit der Zeit-Problematik auch vielfache Bezüge finden.873 Das Konzept der mythischen Zeit, das Strauß gegen die von ihm kritisierte Modernisierung zu entwer867 868 869 870 871 872 873

Strauß 1987, S.10f. Strauß 1987, S.15. Strauß 1987, S.12. Vgl. Damm 1998, S.9. Kühn 2005, S.312. Damm 1998, S.10. Vgl. Damm 1998, S.12ff.

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fen sucht, ist hingegen nicht bruchlos in diese Tradition einzuordnen. In Der junge Mann wird die ästhetische Aufgabe der Literatur im Zeichen einer neuen, mythischen Weltsicht wie folgt erläutert: „Was nun das Element der Zeit betrifft, so muss uns auch hier eine weitere Wahrnehmung, ein mehrfaches Bewusstsein von den einförmigen und zwanghaften Regimen des Fortschritts, der Utopie, vor jeder sogenannten ‚Zukunft‛ schützen. Dazu brauchen wir andere Uhren, das ist wahr, Rückkoppelungswerke, welche uns befreien von dem alten sturen Vorwärts-Zeiger-Sinn. Wir brauchen Schaltkreise, die zwischen dem Einst und Jetzt geschlossen sind, wir brauchen schließlich die lebendige Eintracht von Tag und Traum, von adlergleichem Sachverstand und gefügigem Schlafwandel.“874

Dichtung erscheint wie in der Literatur um 1900 als „Gegensphäre zur modernen Lebenswelt“875: Indem sie auf mythische Erzählformen zurückgreift, die sich weniger durch ihren konkreten Inhalt als vielmehr durch ihre beispielhafte, bedeutungsstiftende Funktion kennzeichnen, vermag sie „eine Art erfahrungsund erinnerungslastiges Korrektiv zur leichtgewichtigen Bilderflut des Medienzeitalters“ zu bilden.876 Ihr geht es jedoch nicht um historistische Versuche der Verklärung der geschichtlichen Vergangenheit, sondern um die Herstellung einer lebendigen Vertrautheit und Verbundenheit mit dem unbewusst immer schon wirkenden kulturellen Erbe, das nicht als musealisierter Popanz begafft, sondern als Bestandteil gegenwärtigen Seins erfahren werden soll. Die mythische Zeiterfahrung, die bei Strauß der ‚modernen‛ entgegengesetzt werden soll, hat so augenscheinlich auch eine starke soziale Dimension, soll nicht nur das innere Zeiterleben zu emanzipieren helfen, sondern auch die isolierten Individuen miteinander verbinden. Problematisch wird das Verfahren der literarischen Aktivierung dieser verschütteten Bedeutungsräume jedoch durch die „äußerliche Affinität zwischen Mythos und ‚großem Medium‛“, welches seinerseits die ästhetische Herstellung sinnhafter Zusammenhänge ebenso anzustreben scheint. Strauß lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass das Fernsehen diese in Wirklichkeit jedoch durch seine „reelle Kreisschlüssigkeit“ und Referenzlosigkeit fortwährend einebnet.877 Im Gegensatz zu den Bilderwelten der Massenmedien versucht Strauß mit seinem mythologischen Literaturkonzept an der Differenz zwischen Schein und Sein festzuhalten und die Bedeutsamkeit der mythischen Narrativen sowohl von den technologisch erzeugten virtuellen Welten als auch von den eindimensiona874 875 876 877

Strauß 1987, S.11. Damm 1998, S.11. Vgl. Damm 1998, S.20. Damm 1998, S.101. Ähnliches beobachtet Jürgen Daiber hinsichtlich der Analogien und Unterschiede zwischen der Zeit der Kunst und jener der Computer: Vgl. Daiber, Jürgen: Poetisierte Naturwissenschaft. Zur Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien im Werk von Botho Strauß, Frankfurt a.M. 1994, S.144ff.

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len historischen Narrativen abzuheben.878 Gleichwohl finden sich in seinen Werken auch Ansätze zu einer ‚postmodernen‛ Bejahung der „elektronischen Maschinen“, von denen gerade der neue „Zeit-Sinn“, das „Prinzip des rückverbundenen Lebens“ auch erlernt werden könne.879 Die „bruchstückhafte, flüchtige und nichtlineare Weltanschauung“ der Technologie wird also gleichzeitig als Bedrohung wie auch als „Chance“ wenigstens für einige wenige „Berufene“ interpretiert, „den verkümmerten menschlichen Wahrnehmungsapparat zu verfeinern“, das menschliche Zeitbewusstsein aus den Zwängen linear-teleologischen Denkens zu lösen und das telekratische Diktat zu entmachten, „indem man es gleichsam seiner eigenen Mittel enteignet.“880 Ein ähnliches Schwanken zeigt sich auch hinsichtlich anderer Gegensatzpaare, mit denen Strauß arbeitet. Obgleich angeblich ein Gegner der Dialektik, bilden sich in seinen Texten immer wieder Spannungen aus zwischen Augenblick und Vergangenheitsbewusstsein, Stillstand und Entwicklung, Linearität und Zyklizität, „Fleck und Linie“881. So erscheint sogar das Verhältnis, das Strauß in Der junge Mann zur großen „Welt-Ein-Uhr“ der linearen, historischen Zeit entwickelt, auf zweiten Blick als gespalten: Auch diese nämlich eröffne „auf wunderlichem Umweg“ die Möglichkeit, „dem ursprünglichen Äon“ näher zu kommen, „in dem es nur Gleiche Zeit gab.“882 Diese „Gleiche Zeit“ wiederum darf jedoch augenscheinlich nicht verwechselt werden mit der musealisierten und dadurch perpetuierten Anwesenheit der Vergangenheit, wie sie etwa die gegenwärtige deutsche Erinnerungskultur erzeugt habe. Gelegentlich erscheint dem Autor die vorherrschende Zeitvorstellung daher auch als eine, die jede Möglichkeit der Entwicklung längst verabschiedet hat, als „weite Ebene“, die sich „mit Pfützen und Altwasser ausdehnt, Rückständen des verschwundenen Flusses“ einer untergegangenen linearen Zeit.883 Durch welche Zeitdoktrin die Gegenwart aber nun immer auch gekennzeichnet sein mag, in jedem Fall bleibt die Kritik an ihrer durch Banalität gekennzeichneten Zeit-Ökonomie vordergründiges Motiv der Texte, der in der Regel ein nicht modellhaft bestimmbares, lebendiges und spannungsvolles, individuelles Verhältnis zur Zeit als Alternative entgegengestellt wird. Die „zyklische Zeit der Kunst“ ist ein „Zeitmaß, welches das stetige, lineare Voranschreiten der objektiv-messbaren Zeit durch das Erlebnis der Wiederkehr des Vergangenen in der subjektiven Wahrnehmung [...] aufhebt.“884 Die lebendige Erinnerung als menschlicherer, angemessenerer Zugang zur Vergangenheit unterscheidet dabei gleichzeitig auch das ästhetische Zeit878 879 880 881

882 883 884

Damm 1998, S.103f. Strauß 1987, S.203f. Damm 1998, S.110f. Diese beiden Metaphern stehen im Zentrum des Zeitdenkens von Botho Strauß. Vgl. Thomas, Nadja: „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt“. Botho Strauß und die „Konservative Revolution“, Würzburg 2004, S.190ff. Strauß 1987, S.14. Strauß, Botho: Die Fehler des Kopisten, München 1997, S.179. Daiber 1994, S.133.

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konzept von der zirkulären und assoziativen, aber ‚toten‛ „kybernetischen Zeit“ der Medien und Computer.885 Tatsächlich gibt es für Strauß letztlich einen ‚Pfeil der Zeit‛ ebensowenig wie die „bloße Gegenwart, und selbst der reinste oder mystische Augenblick bricht aus der Tiefe der Vergangenheit hervor, der geschichtlichen Erfahrungswelt, aber eben als versprengter Klumpen, nicht als logische Kette, und sein Verglühen im Jetzt ist sein Einleuchten.“886 Strauß' ästhetisches Konzept weist zu den Ansätzen anderer gegenwärtiger Zeitromane kaum Verbindungen auf. Insbesondere der Anspruch, Literatur als ästhetischen Zugang zu einer alternativen Welterfahrung zu etablieren, kann heute nicht mehr als zentrales Anliegen der Zeitliteratur begriffen werden. Nur Helmut Krausser kündigt in seinen Werken ebenfalls eine Wiederkehr der Mythen an und bekennt sich zu einer „historischen Mission“ der Kunst887; und wenn in UC der Schriftsteller Samuel Kurthes „das geläufige menschliche Zeitbewusstsein“ vom „absoluten Chronos“ unterscheidet, „in dem jeder Zeitpunkt originär ist, keiner dem anderen vor- oder nachgelagert“ 888, so schwingt in diesen Visionen ein Pathos mit, das an die ästhetischen Konzeptionen von Botho Strauß erinnert. Andererseits jedoch führt – wie im folgenden Teil der Arbeit noch darzustellen sein wird – gerade die Abkehr vom linearen Zeitmodell den Protagonisten bei Krausser in die Selbstentfremdung und Desorientierung, wird deshalb der Anspruch des Künstlers, in seinen Werken eine nächste, höhere Seinsform des Menschen anzukündigen, mindestens stark problematisiert. Auch stilistisch haben die beiden Schriftsteller offensichtlich wenig miteinander gemein.889 Der Kontrast zwischen Krausser und Strauß illustriert einmal mehr, dass in der Gegenwartsliteratur keine ästhetisch auszubildende Alternative zu den gesellschaftlichen Zeitstrukturen mehr gesucht wird, sondern vielmehr ein bevorstehender oder schon stattfindender Wandel des Zeitbewusstseins in seinen Auswirkungen auf das Individuum erfasst und dargestellt werden soll.

3.2. Situatives Erzählen: Gerhard Roth Eine zweite Gruppe von Texten kennzeichnet sich durch ein situatives Erzählen, in dem die Einsicht zum Ausdruck kommt, dass Zeit als zusammenhängendes Kontinuum, als Lebensgeschichte ebenso wie als Historie ihre gesellschaftliche Gültigkeit längst verloren hat. Erzählungen entstehen hier durch widersprüchliche gesellschaftliche Vorgaben ebenso wie durch die Versuche der Protagonis885 886 887 888 889

Vgl. Daiber 1994, S.96. Strauß, Botho: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie, München 1992, S.129. Vgl. Krausser 2003 (b), S.23. Krausser 2003, S.204. Kraussers gelegentliche Abgrenzungen von Botho Strauß etwa in den Tagebüchern lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Vgl. Krausser 2003 (b), S.19. Dem zum Trotz stellt Ralf Kühn nicht wenige Parallelen zwischen beiden Autoren fest: Vgl. Kühn 2005, S.865ff.

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ten, die verlorene Einheitsperspektive wieder herzustellen, wobei in ihrem ständigen Neubeginnen gleichzeitig die Unfähigkeit zum Ausdruck kommt, irgendeiner dieser Erzählungen über den Moment hinaus Gültigkeit zu verleihen. In diesen Texten ist die Zeit zumeist weiterhin eine existenzielle Grundbedingung des menschlichen Daseins, doch provoziert ihre Entleerung nun bedenkliche Ausfallerscheinungen des individuellen Zeitempfindens sowie eine groteske Pluralisierung der Erzählungen, die den Eindruck erwecken muss, es existierten mehrere Zeiten und Geschichten nebeneinander. Im Gegensatz zu den Romanen um 1900 sind die Protagonisten hier nicht mehr auf der Suche nach neuen, ‚anderen‛ Zeiterfahrungen, sondern sehnen sich nach der Sicherheit des orientierenden linearzeitlichen Rahmens zurück, der ihnen abhanden gekommen ist. Ihre Erfahrungen sind nur noch selten durch die Flüchtigkeit der Zeit geprägt; vielmehr haben die inneren Zeiterfahrungen, die neuronalen Verknüpfungen und die Variationen der subjektiv empfundenen Dauer, eine nicht selten erschreckende Dominanz erlangt. Beispiele für diesen Zeit-Diskurs finden sich bei Peter Kurzeck, Wolfgang Hilbig und John von Düffel, aber auch bei David Wagner oder Klaus Böldl, bei dem der Verzicht auf ein größere Zusammenhänge erfassendes Erzählen durch den Protagonisten nachdrücklich befürwortet wird: „Auch wenn man alles aufschreibt, ändert sich nichts: Die Tage vergehen, lösen einander ab, sie wiederholen sich und verlieren sich zugleich in einem Meer von Zeit. [...] Ich mache mir nichts aus Zusammenhängen, die sich schließlich doch nur als erträumt erweisen würden. Ich wünsche mir keine Biographie. Es genügt, dass sich kleine Geschichten ereignen, die nichts anderes bedeuten als sich selbst.“890

Ein gutes Beispiel für diesen Ansatz liefert auch ein anderer, wie Botho Strauß ebenfalls noch zu Kriegszeiten geborener und daher nicht mehr als ‚jung‛ zu klassifizierender Schriftsteller: Gerhard Roth. Dabei erwehrt sich der österreichische Autor, dem in den letzten Jahren verstärkte wissenschaftliche Beachtung zuteil wurde, ähnlich wie Strauß einer abstrakten und entlebendigten „Normalzeit“, wie etwa folgendem Selbstzeugnis zu entnehmen ist: „Der Baum zeigte mir die Jahreszeiten besser an als jeder Kalender, und ich versank nicht in jenen abstrakten Zeit-Raum, den ich seit einem einjährigen Aufenthalt in einem Hamburger Haus am Holzdamm fürchtete: Vom Fenster aus sah ich dort nur eine Ziegelwand mit einer Uhr und der Überschrift ‚Normalzeit‛. Es gibt seither für mich keinen schlimmeren Ausblick als eine öde 890

Böldl 1997, S.89. Typisch Postmoderne: Geflecht aus „eigentlich unverbunden nebeneinanderstehenden, parataktisch organisierten“, kleinen Zeit-Konstruktionen. Dieter Wrobel reflektiert diese Entwicklung anhand des Chaos-Begriffs, dessen Wertung sich im 20. Jahrhundert nahezu ins Gegenteil verkehrt: Vgl. Wrobel, Dieter: Postmodernes Chaos – Chaotische Postmoderne. Eine Studie zu Analogien zwischen Chaostheorie und deutschsprachiger Prosa der Postmoderne, Bielefeld 1997, S.246.

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Hauswand mit einer Uhr, die immer gnadenlos die vergehende und vertrödelte Zeit registriert. Ein Baum hingegen altert mit mir, und in den Jahreszeiten, den sich verfärbenden und abfallenden Blättern spiegelt sich nicht nur der Tod, sondern im frühlingshaften Grün auch die Wiedergeburt.“891

Der klassische Gegensatz zwischen abstrakter und natürlich-bedeutsamer Zeit verleitet auch bei Roth einmal mehr dazu, eine stehengebliebene Uhr ins Spiel zu bringen. Diese befindet sich in des Autors Lieblingscafé und ist ihm unter allen Umständen sympathischer als ihr funktionstüchtiger Widerpart.892 Als Künstler sucht also auch Gerhard Roth nach einem Refugium der Entschleunigung, das er sich als einen Ort jenseits des Regimes linearer Zeit vorstellt. Die ästhetische Herstellung einer ‚anderen‛ Zeit jedoch, die zum Beispiel als unterschwelliges Thema des schon dem Titel nach zeittheoretisch gefärbten Romans Der Strom erscheint, findet sich anders als bei Botho Strauß dann doch mit sehr grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert. Bereits das Motto des Buches, entstammend dem Roman Die Gabe von Vladimir Nabokov, lässt das Grunddilemma deutlich werden, dass jede Hypothese über die Zeit selbst notwendig immer zeitlich ist, dass also die Zeitkonzeptionen selbst einem Wandel unterliegen und daher immer nur situativ Bedeutung beanspruchen können: „Die für mich verlockendste Auffassung – dass es keine Zeit gibt, dass alles Gegenwart ist, die wie ein Leuchten außerhalb unserer Blindheit liegt – ist eine ebenso hoffnungslos endliche Hypothese wie alle übrigen.“893

In Roths Roman verbindet sich diese Erkenntnis mit einer Reflexion über mediale Gegebenheiten des Schreibens in einer technisierten Welt. Der Protagonist des Romans, Thomas Mach, begibt sich als Aushilfe für eine unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommene Reiseleiterin nach Ägypten, in ein Land also, in dem moderne und archaische Lebenswelt unvermittelt aufeinander treffen. Insbesondere hinsichtlich seiner Wahrnehmung ist der Protagonist, der wohl kaum zufällig den Namen jenes österreichischen Theoretikers eines zeitlich vervielfältigten Ichs trägt, gekennzeichnet als westlich geprägter, mit den ägyptischen Sitten kaum vertrauter Homo faber, der die Welt fast nur durch das Medium seines allgegenwärtigen Fotoapparates wahrzunehmen imstande ist. Seine Prägung durch neuere Bildmedien wird etwa dadurch verdeutlicht, dass er sich ein eigenes Leben immer wieder als Film vorstellt.894 Doch genau die Synthese der einzelnen Zeitmomente zum Kontinuum eines zeitlichen „Stroms“, wie sie 891

892 893

894

Roth, Gerhard: „Die Stadt“. Notizen zu einem geplanten Roman, in: Bartens, Daniels / Melzer, Gerhard (Hg): Gerhard Roth. Orkus. Im Schattenreich der Zeichen, Wien 2003, S.269-273, S.269. Vgl. Roth 2003, S.270. Roth, Gerhard: Der Strom, Frankfurt a.M. 2004, S.5. Vgl. Nabokov, Vladimir: Die Gabe. Deutsch von Annelore Elke-Braunschmidt, Reinbek bei Hamburg 1993, S.558. Roth 2004, S.72.

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der Film leistet, schlägt in seiner Selbstwahrnehmung zunehmend fehl. Während seiner Odyssee durch Ägypten, bei der er den Ursachen des Todes seiner Vorgängerin auf den Grund kommen will, hat der Hobbypilot mehr als einmal das „Bedürfnis, wie sonst nach langen Segelflügen, die Bilder, die er gesehen hatte, an sich vorüberziehen zu lassen, aber er brachte keine Ordnung in den Ablauf, die Chronik zerfiel in eine Summe von Einzelheiten.“895 Der Zerfall der Wirklichkeit in Momentaufnahmen offenbart sich ihm jedoch nicht erst in Ägypten, sondern prägt schon lange seine Wahrnehmung: „Es war die Zeit, als er registrierte, wie rasch sich die Erscheinungen verflüchtigen. Der Hase – so war die Erkenntnis – war nur als ein Teil der Wirklichkeit in einem ganz bestimmten einmaligen Stadium vorhanden gewesen, der lebende ebenso wie der sterbende und der tote. Das Abziehen des Fells war gleichfalls nur eine unwiederholbare Phase der Wirklichkeit gewesen, wie auch das Entfernen der Eingeweide.“896

In Afrika jedoch überkommt Mach die Ahnung eines tieferen Zusammenhalts der Dinge, und im Zuge dessen verdächtigt er die Technik, seine Wahrnehmung beeinflusst und sein Denken fragmentiert zu haben. Das Fotografieren verbietet er sich deshalb schon bald, denn: „Je mehr er sich auf das Fotografieren verlassen hatte, schien es ihm jetzt, desto stiller war es in seinem Kopf geworden.“897 Doch die Skepsis gegenüber der zunehmenden Medialität geht noch weiter: Durch sie scheint die Wirklichkeit nicht nur weniger zugänglich, sondern selbst zunehmend künstlich und kulissenhaft zu werden. Jede Bedeutung verliert sich für Thomas Mach in der Oberflächlichkeit der medialen Inszenierung; selbst authentische Zeugnisse der Geschichte wie die Pyramiden wirken, gesehen durch die Linsen touristischer Fotoapparate, wie banale Simulationen ihrer selbst: „Eine Menschenmenge staunte die Bauwerke an wie eine Sonnenfinsternis. Kamele liefen in die Kulisse, als hätte sich ein unsichtbarer Zeitspalt in die Vergangenheit geöffnet. Thomas Mach hörte die dumpfen Rufe der Touristen und das leise Summen und Schnalzen der Kameramotoren. Einzelne Gruppen schoben sich jetzt im Gefolge von Fremdenführern nach vorne und überschritten so die Grenze zu einem imaginären Bildrahmen.“898

Gegen das Oberflächliche dieser Baedecker-Welt rebellierend, begibt sich Thomas Mach auf die Suche nach den tieferen Zusammenhängen der ägyptischen Lebenswelt, in der es von geheimnisvollen Schriftzeichen und verborgenen Bedeutungen nur so zu wimmeln scheint. Dabei lässt die offenbare Willkür der Vermutungen, die der Protagonist anzustellen beginnt, jedoch schon bald den 895 896 897 898

Roth 2004, S.203f. Roth 2004, S.76. Roth 2004, S.58. Roth 2004, S.81.

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Verdacht aufkommen, dass die Annahme ‚tatsächlicher‛ Zusammenhänge ohne Gegenstand in der Außenwelt bleibt, dass diese vielmehr nur die Reaktion des Subjekts auf die Kulissenhaftigkeit seines Daseins sind, Artikulationen eines Bedürfnisses nach einem Sinn, der mit der medialen Profanisierung der Welt unmöglich geworden ist. Obgleich es zunächst vordergründig um die Aufklärung eines Verbrechens geht – ähnlich wie bei Klaus Böldl verliert sich diese im Fortgang der Handlung in der Anhäufung von unzusammenhängenden Belanglosigkeiten –, folgt Thomas Mach deshalb neben einigen eher zufällig eingesammelten Spuren und Indizien – darunter naturgemäß eine kaputte Uhr899 – in erster Linie einer ominösen „inneren Stimme“, die ihn immer wieder mit eigenartig deplatzierten, jedoch geheimnisvoll und bedeutsam anmutenden Anweisungen versorgt. Die überraschende Aufforderung etwa, sich die Haare rot färben zu lassen, erzeugt schon während ihrer Umsetzung bei den erstaunten Ägyptern im Friseursalon einen Eklat, die sich nun einerseits über ihn lustig machen, ihn andererseits für einen Dschinn halten und vor ihm davonlaufen.900 Die innere Stimme passt auch zu der eher intuitiven Strategie, mit der Thomas Mach der Undurchsichtigkeit seiner Umgebung begegnet: „Er kam allerdings, soviel er auch darüber nachdachte, nicht hinter ein System, das ihm half, die Bedeutungen seiner Wahrnehmung zu entschlüsseln, er wusste nur, dass es sie gab. Ansonsten fand er sich im Meer der Erscheinungen zurecht wie ein Kapitän, der sich an der Gestirnen orientiert.“901

Als zweiter Leitfaden seiner Recherchen, der seine Wahrnehmung von den ‚flachen‛ Bildern auf die bedeutungsschaffende Schrift zurückführen soll, dient ihm das Tagebuch Eva Blums, der ums Leben gekommenen Reiseleiterin: „Besonders reizvoll war, dass das Buch aus den verschiedensten Materialien bestand: ausgeschnittene Zeitungsfotografien neben Ansichtskarten, Schwarzweißabbildungen neben farbigen, Tinte-, Bleistift- und Filzstiftschrift gemischt, alte und neue Landkarten, Röntgenaufnahmen von Mumien, Ausschnitte von Bildern, Artikel aus Illustrierten mit Unterstreichungen, daneben Fahrkarten, Eintrittsbillets und Reklamezettel, und es schien Thomas Mach, als ob er diese ganze beschriebene Reise, die für Eva Blum zuletzt in den Tod führte, nachvollziehen sollte, um ihren Selbstmord zu verstehen.“902

Als zentrales Anliegen Thomas Machs zeigt sich so der Versuch, die heterogene und scheinbar sinnlose Wirklichkeit in eine zusammenhängende Geschichte zu überführen. Dabei stehen die Bilder und Fotos für die banalisierte, auf reine Gegenwart reduzierte Wirklichkeit, die Schrift hingegen für eine ästhetische 899 900 901 902

Roth 2004, S.172. Vgl. Roth 2004, S.96ff. Roth 2004, S.13. Roth 2004, S.87.

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Synthese, die dieser entgegenzuhalten wäre; die mediale Hierarchie scheint sich im Vergleich zur Literatur der Moderne also genau ins Gegenteil verkehrt zu haben. Thomas Mach reflektiert in diesem Sinne den Widerspruch zwischen dem aus Bildmaterial zusammencollagierten Buch Eva Blums und den Aufzeichnungen, die er selbst in sein Flugbuch einzutragen pflegt und die für ihn ebenfalls ein ideales „Erinnerungsmaterial“ darstellen: „Keine Bilder oder Fotografien waren eingeklebt, nur Daten, Zahlen und Fachbegriffe.“ Bei den Nachforschungen über Eva Blum geht es also nicht nur um die Rekonstruktion fragmentarischer Ereignisse zu einer sinnvollen und zusammenhängenden Geschichte, sondern auch um eine Rückführung der kontextlosen Wahrnehmungsbilder in das verbindende Medium Schrift. Dabei soll die Bildlichkeit der Wahrnehmung nicht zerstört, sondern bloß einer allgemeinen, textuellen Ordnung unterstellt werden, durch welche die Interpretation einzelner Ereignisse nicht verhindert, sondern gerade erst ermöglicht würde. So kann Mach aus den schriftlichen Eintragungen anderer Piloten „vieles schließen“, auch wenn es nur aus „eigenen Erinnerungen“ zusammengesetzt ist, die während des Lesens „in ihm aufgeblitzt“ sind, „und nicht“ aus denen „des Piloten.“903 Während die Bildlichkeit einer medial geprägten Wahrnehmung plurale Wirklichkeiten erzeugt, die jedoch als Sammelsurium von fragmentarischen Momentaufnahmen ohne Zusammenhang und Bedeutung bleiben, schafft die Schrift einen Kontext, der die interpretierende und sinnerzeugende Einordnung und Diskussion von bildlichen Eindrücken erlaubt. Diese medientheoretischen Überlegungen werden an der Auseinandersetzung mit ganz konkreten technischen Reproduktionsverfahren noch deutlicher: „Schwarzweißfotografien hatten etwas von Geschriebenem, sie ließen ihm Platz für Einfälle, während ihm Farbfotografien banal erschienen – nur ihr Alterungsprozess, ihr Verblassen, ihr langsames Verschwinden gab ihnen eine Aura. Sie waren dann nicht mehr bloß Kopien eines gesehenen Bildes, sondern Dokumente des unaufhaltsamen Verschwindens allen Daseins.“904

Indem das Schwarzweißbild nicht nur abbildet, sondern sich selbst auch als Abbildung zu erkennen gibt, lässt es die Differenz zwischen dem Augenblick der Betrachtung und dem betrachteten Augenblick hervortreten, der als Merkmal von „Geschriebenem“ erscheint. Diese Differenz, die einerseits schmerzvoll auf das „unaufhaltsame Verschwinden“ hinweist und also nicht einfach nur Gegenwärtigkeit simuliert, erscheint dabei als Bedingung jeder Reflexion und als Ausweg aus der Banalität einer geschichtslosen Wahrnehmung. In Der Strom jedoch wird vorgeführt, dass sich in einer Welt totaler Sichtbarkeit solche textuellen Verfahren nicht nur als anachronistisch, sondern als regelrecht albern darstellen. Immer wieder werden durch den Protagonisten Sinn903 904

Roth 2004, S.87. Roth 2004, S.35.

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konstruktionen hineingebaut in eine Umgebung, die offensichtlich keinen Sinn hat. Diese Konstruktionen haben die Form der Zeit, sie wollen Zusammenhänge liefern, die fragmentarischen Ereignisse als „im Strom“ befindliche begreifen. Dabei bedienen sie sich der Relikte einer Kultur, die einstmals diese Zusammenhänge zu liefern in der Lage war, die nun jedoch selbst in zusammenhangsund damit bedeutungslose Zeichen zerfallen ist. So bleibt der Sinn ein Mythos, da er nur von einem privilegierten, zeitlosen Blickpunkt aus herstellbar wäre, aus der Sicht des Piloten, der die Welt von oben betrachten kann. Glaubwürdig ist nur ein Verständnis von Zeit, in dem auch die linearen oder zyklischen, sinnstiftenden Konzepte als radikal verzeitlicht erscheinen, in denen also der Sinn selbst einem steten Wandel unterliegt: „Kein Gedankengebäude, ahnte er, hielt dem Leben stand – und mochte es noch so viele Wahrheiten enthalten. Schon während ein Gedankengebäude entstand, zerbröckelte es, auch wenn der Auflösungsprozess nur langsam vor sich ging. Er vermutete, dass es nirgendwo Geschlossenheit gab, nichts stimmte tatsächlich, durch jede Wahrheit fraß sich eine Gegenwahrheit, jedes Argument enthielt ein Gegenargument.“905

Wirklichkeit haben tatsächlich nur die aktuellen Wahrnehmungen, die unwiederholbaren Einzelbilder eines Films, in dem der Mensch selbst mitzuspielen verdammt ist und den er daher niemals von außen als Ganzes betrachten kann. Allein sein Denken, geleitet von jener „inneren Stimme“, die ihn als Subjekt brandmarkt, kann sich dieser Wahrnehmung noch nicht endgültig anpassen, zwingt ihn zu einer Sinnkonstruktion, die nicht nur im Verlauf der Handlung zu immer groteskeren Verhaltensweisen führt, sondern die auch zu jedem Zeitpunkt um ihre situative Spontaneität und damit um ihre Artifizialität weiß. Diese Konstruktion kontinuitätsstiftender Geschichten folgt einem eigenartigen Prinzip: In dem Bewusstsein, einen wirklichen Sinn in den vereinzelten Wahrnehmungen nicht finden zu können, versteift sich der seiner inneren Stimme folgende Thomas Mach bewusst auf Irrtümer, auf erfundene und offensichtlich unsinnige Geschichten, um aus der Enttäuschung heraus das Gefühl zu gewinnen, es gäbe doch einen Zusammenhang, eine tatsächliche Wahrheit, die einfach bloß schwer zu erkennen ist. „Thomas Mach war süchtig danach, Geschichten zu hören, in denen sich jemand getäuscht hatte oder getäuscht worden war. Immer, stellte er fest, ließ ein Irrtum ein Stück verborgener Wahrheit sichtbar werden, etwas von jener Wahrheit, die so mühevoll zu erkennen und zu glauben war.“906

In der negativen Beurteilung einer Geschichte als falsch und unzutreffend kann Mach den Glauben an eine referenzielle Funktion der Zeichen aufrecht erhal905 906

Roth 2004, S.78 Vgl. Roth 2004, S.22.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

ten. So kommen ihm die durch seine innere Stimme provozierten „Missverständnisse vor“ wie „eine fehlerhafte Schallplatte, auf der der Tonarm beim Abspielen plötzlich ruckartig weiterspringt, wodurch das dazwischenliegende Stück ausgelöscht zu sein scheint, obwohl es in Wirklichkeit vorhanden ist.“907 Dieser Glaube jedoch folgt keiner Einsicht, sondern einem menschlichen Bedürfnis, weshalb sich hinter der Ironie, mit der Roth seinem fabulierenden Protagonisten folgt, eine Bedeutungsbestimmung der Literatur verbirgt: Sie versucht, die Welt sinnvoll zu ordnen und mit Bedeutung zu versehen, weist aber gleichzeitig nach, dass jeder dieser Versuche immer nur Erzählung, Konstruktion sein kann. Nicht länger sollen also die falschen Erzählungen zerschlagen, die ideologischen Konzepte entlarvt werden; vielmehr erscheint – ähnlich wie bei Borges und Nabokov – der Mensch nun als Wesen, das mit einem Bein immer schon in einer fiktiven Welt steht.908 Unweigerlich entsteht eine immer von Neuem drauflos fabulierende „Zusammenfassung seines Schicksals in einem sinnlos erscheinenden Bild“909, deren Referenzlosigkeit, ja offenkundige Unsinnigkeit früher oder später bedeutungslos wird. Wenn zuletzt jenes Tagebuch Evas, dem Thomas Mach während seiner Recherchen gefolgt ist, durch deren Ehemann verbrannt wird, wird damit letztlich symbolisch das ganze System der Referenz auflöst: „Wenn ich alles verbrannt habe, gibt es diese geisteskranke Wahrheit nicht mehr. Es gibt nur noch meine.“910 Eine solche persönliche, ästhetische Sinnstiftung, die nach der Ausgangsrealität nicht mehr fragt, versuchen die Protagonisten Roths immer wieder herzustellen, auch wenn diese durch die konkreten Ereignisse beständig ad absurdum geführt wird. Der eigentliche „Strom“ der Zeit wird so schließlich spürbar im Wechsel der konstruierten Zusammenhänge, die die Menschen erzählend fortwährend generieren und verwerfen: 907

908

909 910

Roth 2004, S.64. „Es sind die Lücken und die fehlenden Übergänge, aus denen sich die eigentümliche Stimmung von Roths Romanen konstituiert. Der Zufall gibt sich bei Gerhard Roth bedeutungsvoll, und Bedeutung deckt sich mit dem Zufall.“ Rothschild 2003, S.207f. Eine solche Ästhetik ist freilich weiterhin auch von einer oppositionellen Haltung zu jeder ‚offiziellen‛, auf Wahrheitsbezug ausgerichteten Geschichtsschreibung gekennzeichnet, wie Uwe Schütte bemerkt: „Das Chaos der Geschichte kann [...] nur in einem chaotischen Verfahren angemessen abgebildet werden. Roth fügt sich damit in einen allgemeinen Trend der Postmoderne ein, die den chronologisch-kohärenten Totalgeschichten, in denen Historie als erkennbarer Inbegriff der Realität und Quelle der Wahrheit behandelt wird, eine subjektive und fragmentarische ‚Geschichte im kleinen‛ entgegensetzt. Durch eine derartige, bewusst mit Anachronismen, Stilisierungen, phantastischen und fiktiven Elementen durchsetzte Form der Re-präsentation von Geschichte wird zudem die literarische Natur der offiziellen Geschichtsschreibung dekuvriert, welche die Elemente ihres ‚Erzählmaterials‛ in gleicher Weise – je nach Bedarf – unterdrückt, wiederholt, unterordnet und hervorhebt, um den chaotischen Charakter der Historie zu verdecken.“ Vgl. Schütte, Uwe: Auf der Spur der Vergessenen. Gerhard Roth und seine Archive des Schweigens. Wien / Köln / Weimar 1997, S.143f. Roth 2004, S.92. Roth 2004, S.314.

3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur

231

„Seine Sprache klang jetzt anders als zuvor. Thomas Mach sah die Wörter vor sich als arabische Phantasiebuchstaben in Form einer schwebenden Leuchtschrift, die langsam zerfiel. Nachdem sie sich aufgelöst hatte, erschienen neue Wörter von unbeschreibbarer Schönheit und wie selbstverständlich auch mit einem Anflug von Ironie versehen. Die Zeichen machten sich lustig über ihn, und er fand, dass sie recht hatten.“911

3.3. Mögliche Welten: Juli Zeh u

Während sich diese ersten beiden Kategorien von Zeitromanen trotz aller Unterschiede noch mit der Tradition der klassisch-modernen Zeitliteratur in Verbindung bringen lassen, setzt die dritte Gruppe von Autoren eine tatsächliche Pluralisierung der Narrativen und der Zeit in Szene, die eine völlig neue Problematik erkennen lässt. Die gesellschaftliche oder physikalische Zeit wird als Referenzebene für die eigenen Zeiterfahrungen vollends unzugänglich oder unbrauchbar; an ihre Stelle tritt das Nebeneinander unterschiedlicher Zeitauffassungen oder zwar linearer, aber inhaltlich divergierender narrativer Abläufe, denen durch keine ‚andere‘ Zeit, kein Anti-Terra mehr begegnet werden kann. Die entstehenden Zeitstränge sind dabei nicht länger von einer unfassbaren Ausgangsrealität abweichende und diese notwendig verfälschende Konstruktionen, sondern vollständig autarke Realitäten. Auch die Markierung der Gegenwart innerhalb der unterschiedlichen Narrativen verläuft nicht mehr nach einem linearen Schema, sondern kann – wie in Michael Wallners Cliehms Begabung – willkürlich zwischen unterschiedlichen Zeitstellen und Erzählsträngen springen; im Extremfall lässt sich also nicht nur die zeitliche Abfolge der dargestellten, sondern auch die der vom Protagonisten erlebten Gegenwarten in keine Chronologie mehr zurückführen. Die diegetische Welt erhält die Struktur eines Möglichkeitsraums. In vielen Texten wird dabei ganz ausdrücklich das Viele-WeltenTheorem ins Spiel gebracht, das auch in der Erzählforschung als Modell für die Erfassung narrativer Texte inzwischen Verwendung gefunden hat: „Der philosophischen Theorie möglicher Welten liegt die Annahme zugrunde, dass vergangene Ereignisse und Zustandsveränderungen auch einen anderen Verlauf hätten nehmen können, dass die Dinge in der Welt also anders sein könnten, als sie wirklich sind. Wirklichkeit wird infolgedessen als modales System angesehen, das aus einer Vielzahl von Welten besteht: aus einer tatsächlichen Welt (actual world), d.h. der Welt, in der wir leben, und nicht-aktualisierten, d.h. virtuellen Welten (possible worlds), welche die tatsächliche Welt als mögliche Alternativen ‚umkreisen‛.“912 911 912

Roth 2004, S.289. Surkamp, Carola: Narratologie und Possible-Worlds Theory: Narrative Texte als alternative Welten, in: Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (Hgg): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002, S.153-183, S.154. Vgl. zudem Ryan, Marie Laure: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington / Indianapolis 1991.

232

II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

Insbesondere in den Romanen von Helmut Krausser und Michael Wallner, aber in Ansätzen auch bei Daniel Kehlmann, Thomas Lehr oder Thomas Hettche wird jedoch diese Unterscheidung zwischen actual world und possible worlds unmöglich; die klaren Entscheidungskriterien, die diese Differenzierung benötigt, bestehen hier nicht mehr, wodurch sich die Narration tendenziell in eine „Vielzahl miteinander konkurrierender Versionen von Wirklichkeit“ zersplittert.913 Insbesondere bei Helmut Krausser wird diese Pluralisierung durch eine „Multiplizierung von Vermittlunginstanzen“ noch verstärkt, wodurch sich „die Etablierung einer Modalstruktur als besonders schwierig erweis[t], da [...] mehrere, sich widersprechende Entwürfe der fiktionalen Wirklichkeit als die tatsächliche Textwelt ausgegeben werden.“914 Diese Multiplikation erfährt wiederum nicht nur der Leser, der sich mit unterschiedlichen Erzählerfiguren konfrontiert findet, sondern vor allem der Protagonist selbst, dessen Anspruch auf biographische Widerspruchsfreiheit an der Struktur der mysteriös vervielfältigten Wirklichkeit zerbricht. Das „Zeitgewebe“, in das diese Romanhelden wider Willen geraten, geht dabei nach wie vor von „Elementen der konventionellen Zeitvorstellung aus“ und benutzt traditionelle „Zeitvorgaben und Zeiträume, verknüpft“ diese aber nicht mehr „auf einer linearen Zeitachse“, sondern eher nach neuronalen Mustern.915 Der Versuch, durch Erzählen Kohärenz und Einförmigkeit der Wirklichkeit wieder herzustellen, gerät notwendig zu immer neuen Produktionen von Welten, in deren Verästelungen jede kongruente Selbstwahrnehmung und damit der Anspruch auf Individualität sich aufzulösen droht. Eine Problematisierung dieser produktiven Seite des Erzählens findet sich etwa in Juli Zehs 2007 erschienenem Buch Schilf, das zudem ein weiteres Beispiel für einen deutschsprachigen Roman der Gegenwart liefert, in dem auf der Handlungsebene ausführlich über ‚Zeit‛ diskutiert und philosophiert wird. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die beiden brillanten Physiker Sebastian und Oskar, die zwei gegensätzlichen Auffassungen der Zeit anhängen: Ist für den traditionellen Materialisten Oskar die Zeit ein „Feingespinst aus Kausalität“916 und daher grundsätzlich einförmig und linear, kritisiert Sebastian diese Verknüpfung von Zeit und kausaler Logik und argumentiert mit der „Viele-WeltenInterpretation“, die seiner Ansicht nach einen „Ausweg aus dem zentralen Paradoxon der menschlichen Existenz“ bietet: „Nach der Betrachtungsweise der klassischen Physik bleibe es nämlich unerklärlich, warum das Universum mit geradezu monströser Genauigkeit auf die Bedürfnisse biologischen Lebens abgestimmt sei. Wäre zum Beispiel die Ex913

914 915

916

Surkamp 2002, S.178. Zum Parallelwelten-Motiv in der neueren Zeitliteratur vgl. auch Kühn 2005, S.848ff. Surkamp 2002, S.159. Sabine Kyora hat solche Zeitnetze auch in der Literatur der klassischen Moderne nachgewiesen, doch handelt es sich hierbei – etwa in Franz Jungs Novelle Die Telepathen – zumeist eindeutig um „Wahnvorstellungen“ der Romanfiguren. Vgl. Kyora 2007, S.67f. Zeh 2007, S.30.

3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur

233

pansions-geschwindigkeit des Raums nur um einen winzigen Bruchteil größer oder geringer – es gäbe die Menschheit nicht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Universum mit den bekannten Bedingungen entstehe, habe im Moment des Urknalls bei 10 hoch minus 59 gelegen. Somit sei die Existenz der Erde ebenso unwahrscheinlich wie der Versuch, neun Mal in Folge einen Sechser im Lotto zu erzielen. [...] Die einzig logische, nicht-theologische Möglichkeit liege darin, sich den Raum (und damit die Zeit) als einen ungeheuren Stapel von Welten zu denken, der sich mit jedem Augenblick um immer neue Schichten vergrößere. Ein wachsender Zeit-Schaum, in dem jede Blase eine neue Welt vorstelle. Alles, was möglich ist, geschieht [...].“917

Die Auseinandersetzung über diese Streitfrage hat nicht nur die Freundschaft der beiden Physiker getrübt, sondern sie im Lauf der Zeit auch auf verschiedene Lebenswege befördert: Oskar forscht in der Folge der großen Naturwissenschaftler dem Nobelpreis entgegen, während Sebastian eine Familie gegründet hat und seine theoretischen Überlegungen eigentlich nur noch „in der Freizeit“ anstellt.918 Um seinen Kollegen auf die richtige Bahn zurückzuführen, unternimmt Oskar ein gefährliches Experiment: Als Sebastian seinen Sohn Liam in ein Ferienlager bringen will, entführt er den schlafenden Jungen mitsamt dem Auto Sebastians von einem Autobahn-Rastplatz, bringt das Kind dann aber heimlich selbst zum Ziel der Reise. Sebastian erhält nur einen kryptischen Anruf mit einer kurzen Botschaft, die er allerdings als Aufforderung zu einem Mord an einem Freund seiner Frau missversteht. Erst nachdem er diesen Mord tatsächlich verübt hat, erfährt er, dass sein Sohn wohlauf ist und zudem nichts von einer Entführung weiß. Da die Aufklärung der Verwicklung erst am Ende des Romans erfolgt, muss mit Sebastian auch der Leser die längste Zeit annehmen, es hätten sich hier zwei Paralleluniversen ineinander verschränkt: Eines, in dem Liam entführt wurde, und ein anderes, in dem Sebastian ihn wie vorgesehen im Ferienlager abgeliefert hat. Die wissenschaftlichen Ausführungen zum Wesen der Zeit in Schilf sind von der Literaturkritik mit Argwohn betrachtet worden919, obgleich die Multiversen-Theorie, die hier ins Spiel gebracht wird, in der Physik heute einige Anhänger findet – hervorzuheben wäre insbesondere der Oxford-Professor David Deutsch, zu dessen Theorien sich auch in anderen neueren Zeit-Romanen, insbesondere bei Helmut Krausser, deutliche Parallelen zeigen.920 Im Kontext des 917 918 919

920

Zeh 2007, S.64f. Zeh 2007, S.28. Dass Juli Zehs „esoterisch gefärbte Physik selbst einem Laien den Laien verrät“, stellt etwa Burkhard Müller in der SZ verärgert fest: Vgl. Müller, Burkhard: Nicht alle Wecker lügen. Hochgepeitschtes Mittelmaß: „Schilf”, der neue Roman von Juli Zeh, kokettiert mit dem Kosmos und ist darum nicht mal ein guter Regionalkrimi, in: Süddeutsche Zeitung (22.10.2007), S.14. Die Viele-Welten-Interpretation wurde 1957 von Hugh Everett in die physikalische Diskussion eingebracht und wird bis heute von einigen Wissenschaftlern vertreten. Vgl. Deutsch, David: Die Physik der Welterkenntnis. Auf dem Weg zum universellen

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

Romans von Juli Zeh zeigen sich die theoretischen Überlegungen allerdings in erster Linie als erzähltheoretische Reflexionen: Während Oskar eine homogene Existenz der Wirklichkeit voraussetzt, die sich durch Experimente erfassen und durch eine Theorie abbilden lässt, versucht Sebastian dem Augenschein der Wirklichkeit zu widersprechen und in seiner Theorie die Konzeption anderer Welten zuzulassen. Ein mimetischer steht hier also einem ästhetischen Ansatz gegenüber, in übertragenem Sinne das Modell eines die Welt voraussetzenden und diese bloß abbildenden Erzählens dem „referenzlosen Fabulieren“ eines postmodernen Ansatzes. Sebastian vertritt diesen dabei eher als Philosoph denn als Physiker: Sein eigentliches Ziel besteht darin, ausgehend von einer epistemologischen Infragestellung der Sinnesdaten auch in die Physik die Wahrheit einzuführen, dass es sich bei Raum und Zeit lediglich um Bewusstseinsphänomene handelt.921 Im Gegensatz zu dem Empiriker Oskar ist Sebastian offensichtlich von der Produktionskraft des menschlichen Verstandes überzeugt: Er behauptet, „dass es stets der Beobachter ist, der die Realität erschafft“ 922, und die Wirklichkeit erscheint ihm nur wie eine „Filmrolle, die an dem Zeitprojektor hinter unserer Stirn vorbeigezogen“ wird.923 Die Unvereinbarkeit der Prämissen wird in einem spektakulären Fernsehduell deutlich, das unmittelbar vor der Entführung stattfindet und in dem Oskar Sebastian Weltflucht vorwirft, während Sebastian den Ansatz seines Freundes als „moralischen Dogmatismus“924 verurteilt. Mit Hilfe seiner Multiversen-Theorie bemüht sich Sebastian gleichzeitig, einen Begriff von Freiheit in der Physik zu verankern: „In einer linearen Zeit [...] sind unsere Schicksale von der frühesten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft determiniert. Unsere Entscheidungen wären dann nichts weiter als biochemische Hirnprozesse, die den Gesetzen von Ursache und Wirkung unterliegen. [...] Nun stellen wir uns vor, dass alle denkbaren Kausalverläufe nebeneinander existieren, in Paralleluniversen nämlich. Die Entwicklung jedes einzelnen Universums mag vorherbestimmt sein. Aber frei sind wir durch die Möglichkeit, uns mit jeder Entscheidung eine der vielen Welten auszusuchen.“925

Mit dieser Emphase einer anderen, freieren Weltsicht, die sich nicht dem mimetischen Abbild einer kausal determinierten Wirklichkeit verschreibt, sondern deren freie, ästhetische Gestaltung durch den Menschen konzipiert, stellt sich der

921 922 923 924 925

Verstehen, Basel / Boston / Berlin 1996, S.309ff. Deutsch argumentiert ähnlich wie Sebastian: Everett habe als erster die nötigen Konsequenzen aus den Entdeckungen der Quantenphysik gezogen, indem er die „Kopenhagener Deutung“ nicht „als letztverbindliche Wahrheit anerkannt“ habe. Vgl. Zeh 2007, S.38. Sebastian bezieht sich wiederum ganz direkt auf Deutsch: Vgl. Zeh 2007, S.299. Vgl. Zeh 2007, S.205ff. Zeh 2007, S.263. Vgl. Zeh 2007, S.211. Zeh 2007, S.302 Zeh 2007, S.300.

3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur

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heimliche Literaturtheoretiker Sebastian offenkundig in die Folge der Zeit-Diskurse eines Borges oder Nabokov. Juli Zeh gehört so auch zu jenen Autorinnen, die immer wieder insbesondere Nabokovs Ada or Ardor ganz explizit als wesentlichen Einfluss benannt haben. In ihrem Roman Spieltrieb heißt die Hauptfigur selbst Ada926, und in Schilf finden sich gleich mehrfach Anspielungen auf Nabokovs Werk: So wird ein Vortrag Sebastians über das Warten und das Wesen der Zeit in ähnlicher Weise wiedergegeben wie der Vortrag Vans über seine Theorie der Zeit – retrospektiv und mit ironisch einmontierten Zuschauer-Reaktionen927 –, und Sebastian stößt auf seinem Weg zum Tatort einmal mit einem Schmetterlingsjäger zusammen, einer unverkennbaren Hommage auf Nabokov selbst.928 Ähnlich wie Nabokov betont Zeh die „Subjektivität“ des Gedächtnisses, durch die jede Erinnerung zu einer literarischen Schöpfung werde: „Was der Mensch für seine Erinnerung hält, ist bis zu 70 Prozent frei erfunden. Anstatt Fakten zu speichern und abzurufen, reichern wir unwillkürlich Erfahrungen durch Fiktives an. Dichtung und Wahrheit gehen ineinander über. Es findet ein permanenter Prozess der kreativen Welterschaffung statt, der bestimmte erzählerische Muster bildet, die zu Konsistenz und damit zu Sinnerlebnissen führen. Dieser Vorgang ähnelt stark der schriftstellerischen Arbeit. Und ich glaube, dass in dieser Parallele der besondere Reiz liegt, den Literatur seit Jahrtausenden ausübt.“929

Dennoch erscheint die Multiversen-Theorie in Schilf nicht allein als literarischer Befreiungsschlag gegen das Dogma eines mimetischen, realitätstreuen Erzählens, sondern auch als Ausdruck einer tiefen Verunsicherung des Protagonisten: Sie entspricht dem Gefühl Sebastians, „nur noch Gast im eigenen Leben zu sein“930; er ist jemand, „der auf grundsätzliche Art am Wesen der Wirklichkeit zweifelt, ver-zweifelt, so wie man sich in einem Labyrinth ver-irrt.“931 Durch Oskars fehlgeschlagenen Streich werden diese Zweifel Sebastians zur Realität: Ihm wird – wenn auch nur scheinbar – vor Augen geführt, was es bedeuten würde, wenn die Realität tatsächlich nicht mehr verlässlich wäre und das Bewusstsein auf einmal mit unterschiedlichen, sich widersprechenden Kausalitäten zurechtkommen müsste. Der Verlust an Sicherheit wird als ein finaler Zerfall der Zeit beschrieben: „Deutlich spürt Sebastian, wie die Zeit aus der Fassung gerät. Die Kette der Sekunden zerfällt zu winzigen Teilchen.“932 Diese Auflösung der Zeit in separierte, zusammenhanglose Gegenwarten wird zudem mit dem Zeitempfinden des Kindes assoziiert: 926 927 928 929 930 931 932

Vgl. Zeh, Juli: Spieltrieb, München 2006. Zeh 2007, S.115ff. Zeh 2007, S.99ff. Zitiert nach: Schwarz 2007, S.138. Vgl. Zeh 2007, S.67. Vgl. Zeh 2007, S.170. Zeh 2007, S.147.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur „Er erinnert sich an das Gefühl, niemals weiter als ein paar Stunden vorausschauen zu können, weil jeder neue Tag in der Lage war, einen neuen Menschen aus ihm zu machen. So lebte er als Kind. Damals fühlte er sich in der Gegenwart zu Hause und hielt es für normal, dass nicht die Zeit verging, sondern er selbst. Obwohl das ein glücklicher Zustand war, empfindet Sebastian es nicht als angenehm, mit Anfang vierzig seine Zukunft verloren zu haben. Für einen Erwachsenen ist das Fehlen von Zeit offensichtlich eine Art Heimatlosigkeit.“933

Die Auflösung des gesellschaftlichen Zeitgefüges und die Regression in das Zeitempfinden eines Kindes hat auch hier wieder offenkundig jedes utopische Potenzial eingebüßt. Gleichzeitig scheint die Verunsicherung des Kausalitätsgefühls aber durchaus nicht nur den krisengeschüttelten Sebastian getroffen zu haben: In Juli Zehs Roman interessiert sich die breite Öffentlichkeit für Sebastians Ansätze sogar weitaus mehr als für die bloß noch mathematisch nachvollziehbare „Theory of Everthing“934 Oskars. So erklärt Sebastian zum Beispiel in einer großen Zeitschrift die Weltsicht eines gerade erst dingfest gemachten Verbrechers, der als „Zeitmaschinenmörder“ die Menschen in Angst versetzt hat. Dieser behauptet, aus der Zukunft zu stammen und die Morde nur zu dem Zweck begangen zu haben, um zu beweisen, „dass Veränderungen in der Vergangenheit keinerlei Auswirkungen auf spätere Ereignisse zeitigten“; denn die Ermordeten seien in seiner Gegenwart des Jahres 2015 wohlauf und hätten dem Experiment sogar zugestimmt. Die Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sei daher nachweislich nicht gegeben; in den „Dschungeln der Zeit [...] sei jeder Augenblick sich selbst der Nächste.“935 Der Zeitmaschinenmörder, der hier wiederum eine These des Multiversen-Theoretikers David Deutsch vertritt936, teilt mit Sebastian das Schicksal, eine Fiktion mit Wirklichkeit zu verwechseln, die possible worlds von der actual world nicht mehr unterscheiden zu können. Am Ende des Romans freilich wird der Fall gelöst, die Kausalität der Wirklichkeit wiederhergestellt. Der verspätet auftretende Kommissar Schilf, der einzig zur Entwirrung der Erzählstränge in der Lage scheint, besitzt dabei aufgrund eines Hirntumors selbst einen fatal gestörten Wirklichkeits- und Persönlichkeitssinn: Nicht nur lebt er mit einer Frau zusammen, die er selbst für eine Halluzination hält, er kann auch die unterschiedlichen Tätigkeiten, aus denen sein Leben besteht, zu keinem „vollständigen Menschen“ mehr zusammenfügen.937 Vor den anderen Figuren des Romans zeichnet er sich aber gerade dadurch aus, 933 934 935 936

937

Zeh 2007, S.269. Zeh 2007, S.28. Zeh 2007, S.168f. Der Zeitreisende würde nach der Theorie von Deutsch niemals in seine tatsächliche Vergangenheit, sondern immer nur „von einem Universum zu einem anderen reisen“. Vgl. Deutsch 1996, S.300. Vgl. Zeh 2007, S.154.

3. Die ‚Renaissance des Erzählens‘ in der Gegenwartsliteratur

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dass er dem Augenschein längst nicht mehr vertraut. Stattdessen interpretiert er die Ereignisse selbst wie einen Roman, sucht nach Metaphern und Leitmotiven – im Falle des Zeitmaschinenmörders ist eines dieser Leitmotive einmal mehr eine kaputte Uhr.938 Wie für Sebastian ist für Schilf die Welt „eine Schöpfung, die sekündlich im Kopf jedes einzelnen Beobachters geboren, also zur Welt gebracht wird“, und zwar durch eine dahinterliegende vorzeitliche und vorräumliche Wirklichkeit, die er als „Quelltext“ beschreibt und zu der er sich einen intuitiven Zugang zu verschaffen versucht.939 Schilf wird auf diese Weise zu einer jener ‚postmodernen‛ Figuren, die – ähnlich wie der Protagonist von Helmut Kraussers UC – eine Ahnung davon gewinnen, dass sie selbst nur Romanfiguren sind, die ihre Realität als Text und ihren Gott als Autor begreifen. 940 Schilf scheint diesen gelegentlich sogar als innere Stimme zu hören, die seine Handlungen wiedergibt oder erklärt, was der Kommissar gerade denkt: „Wenn ich eins nicht brauchen kann, ist das ein geköpfter Radfahrer, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.“941 Gleichzeitig aber entwickelt er eine Sensibilität für den Umgang mit einer Wirklichkeit, die sich als immer undurchdringlicheres und verwirrenderes Netz aus Geschichten, Imaginationen und Realitätsebenen darstellt. Seine Fähigkeit besteht darin, dieses Netz als Netz begreifen und zu einer Darstellung bringen zu können, die nicht mehr nur eine weitere Theorie, eine weitere Welt den anderen hinzufügt, sondern die auf die „Weisen der Welterzeugung“ selbst rückschließen lässt.942 Mit dieser Fähigkeit aber repräsentiert er den Anspruch der neueren ZeitLiteratur selbst, die weder die mimetische Wiedergabe einer nicht mehr fassbaren Wirklichkeit noch die avantgardistische Abkehr vom Mimesis-Konzept verfolgt, sondern die die wirklichkeitsproduzierende Wirkung des Erzählens selbst vorzuführen beabsichtigt. Denn wenn Realität zunehmend nur noch als bloße Überzeugung gilt, die sich immer wieder ändern kann, wenn ihr die Festigkeit einer verbindlichen Vereinbarung mangelt, wird die Konstruktion anderer Wirklichkeiten potenziell zu einem unheilvollen Verwirrspiel. Die Lösung läge darin, nicht länger – wie Sebastian – neue Welten zu erfinden, sondern „nach Übereinstimmungen [zu] suchen“, ohne dabei jedoch dem ontologischen Dogmatismus Oskars zu verfallen.943 Das eigentliche „Wesen der Zeit“ illustriert am Ende Liam, der Sohn Sebastians, als er das Problem der vierten in die dritte Dimension verlagert: Er „malt zwei rote Kreise, eine Handbreit auseinanderliegend“, und „stellt dann die Spitze des kleinen Fingers in den einen, den Dau938 939 940

941 942

943

Vgl. Zeh 2007, S.166. Zeh 2007, S.155f. Wiederum handelt es sich um ein Motiv, das auch in populären Hollywood-Filmen zunehmend beliebt wird: Vgl. etwa Stranger than Fiction (USA 2006, Marc Forster) oder Adaptation (USA 2002, Spike Jonze). Zeh 2007, S.160f. Zur philosophischen Theorie der möglichen Welten vgl. vor allem Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking, Indianapolis 1978. Vgl. Zeh 2007, S.147.

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II. Neue Zeitkonzepte in der Gegenwartsliteratur

men in den anderen Kreis“. Der Kommissar erkennt: „Jetzt sind sie verbunden“.944 Die Zeit, so die Moral von Zehs Roman, ist das, was die Menschen aus der Isolation befreit, was sie gemeinsam in einer einzigen, verlässlichen Wirklichkeit leben lässt; sie ist ein Apriori nicht so sehr des Verstandes, sondern der Gesellschaft. Die literarische Reflexion der Zeit, die in den letzten Jahrzehnten an Gewicht gewinnt, versucht darauf aufmerksam zu machen, dass es eben diese soziale Dimension der Zeit ist, die zunehmend außer Funktion zu geraten beginnt.

944

Vgl. Zeh 2007, S.218f.

III. Drei Zeit-Lektüren Im vorangegangenen Kapitel konnte gezeigt werden, dass die Zeit-Motivik in den deutschsprachigen Romanen der letzten zwei Jahrzehnte eine neue Konjunktur erfahren hat. Diese steht, so die These, im Zusammenhang mit Verschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen und medialen Zeitstrukturen und erscheint als literarische Reaktion auf ein augenblicklich in Veränderung begriffenes subjektives Zeiterleben. Gleichzeitig lässt sie Anzeichen eines selbstreflexiven literarischen Meta-Diskurses erkennen, in dem die gesellschaftliche Bedeutung der zeitkonstitutiven Formation ‚Erzählung’ und damit der Stellenwert narrativer Literatur überdacht und in Ansätzen neu konzipiert wird. Im folgenden sollen diese Beobachtungen am Beispiel von drei besonders zeitreflexiven Romanen überprüft werden, die zu diesem Zweck detaillierten close readings unterzogen werden. Die Werke zeichnen sich vor allen anderen dadurch aus, dass sie Zeit nicht nur auf der Ebene der Handlung – etwa in umfangreichen Diskussionen, Reflexionen oder Vorträgen der Protagonisten – zum Thema machen, sondern auch auf formaler Ebene mit ungewöhnlichen und neuartigen zeitlichen Anordnungen experimentieren und damit die temporale Dimension narrativer Literatur in den Fokus rücken. Die Reflexionen über Zeit können auf diese Weise jeweils mit allen drei im vorangegangenen Teil vorgestellten Kontexten in Verbindung gesetzt werden. Unter den Werken sind zudem einige erstaunliche Ähnlichkeiten auszumachen, die einen Vergleich als besonders gerechtfertigt erscheinen lassen. So kommen die Dehnungen und Raffungen der Zeit, ihre Deformation durch Sprünge, Brüche, Standbilder oder zirkuläre Verschlingungen oder ihre Aufspaltungen in widersprüchliche, aber gleichberechtigt nebeneinander gestellte Stränge den Protagonisten hier immer deutlich zu Bewusstsein, wodurch gerade die Veränderbarkeit der Zeit zum zentralen Gegenstand ihrer Reflexionen wird. Wie die Romane grundsätzlich in der gesellschaftlichen Gegenwart, also im Deutschland der Nach-Wende-Zeit angesiedelt sind, sind auch ihre Protagonisten zunächst im Sinne klassischer Erzählliteratur als psychologisch stimmige Charaktere konzipiert. Der Einbruch temporaler Unstimmigkeiten tritt so als phantastisches Element in eine ursprünglich als realistisch vorgestellte Welt, wobei in allen Romanen die Frage, ob die Zeitparadoxien sich ‚tatsächlich’ ereignen oder ‚nur’ einem Wahn der Protagonisten entspringen, von diesen selbst gestellt und ausführlich reflektiert wird. Die Grenze zwischen innerer und äußerer Zeit jedoch kann nicht mehr trennscharf bestimmt werden945: Die Sprünge passieren dem Anschein nach zwar ‚tatsächlich’, haben aber dennoch grundsätz945

Dieser Aspekt prägt nach Ursula K. Heise bereits die Zeitreflexionen bei ‚postmodernen’ Schriftstellern wie Borges oder John Barth. Vgl. Heise 1997, S.53.

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III. Drei Zeit-Lektüren

lich subjektiven Charakter, da sie zumeist mit der persönlichen Vergangenheit des Protagonisten in Verbindung stehen – nicht selten ist es die eigene Erinnerung, die eruptiv aus der Vergangenheit hervorbricht und neu – und zuweilen auch anders – erlebt wird. Die Helden der Romane konstatieren so zumeist hilflos die temporale Zersetzung ihrer Erfahrungswelt, geraten aber immer wieder auch in Zustände solipsistischer Allmachtseuphorie. Die Verwirrung, in die sie auf diese Weise gestürzt werden, lässt sie immer auch nostalgisch auf die ‚alten’, verlorenen gesellschaftlichen Zeitmuster zurückblicken. Auf diese Weise wird von den Romanen die Frage aufgeworfen, wie viel Wandel der temporalen Orientierungsmuster das Subjekt vertragen kann und wie viel universale Ordnungsstruktur es auf der anderen Seite benötigt, um als Subjekt existenzfähig zu bleiben. Indem die Protagonisten einer immer stärker werdenden Deregulierung der Zeitstrukturen ausgesetzt werden, wird die Flexibilität der menschlichen Zeitwahrnehmung experimentell ausgetestet. Die Romane erlauben so grundsätzlich zwei unterschiedliche Lesarten: Sie können als ‚realistische’ Verlaufsprotokolle ungewöhnlicher Psychopathologien, aber auch als ganz und gar ‚phantastische’ Romane gelesen werden, in denen tatsächlich die Zeit aus den Fugen gerät.946 Die erste Möglichkeit bleibt allerdings als Erklärung der Zeitparadoxa unbefriedigend, während die zweite dadurch aufgewertet wird, dass an exponierter Stelle Wissenschaftler zu Wort kommen – bei Kehlmann handelt es sich wie schon bei Michael Wallner und Juli Zeh um den Protagonisten selbst –, die naturwissenschaftliche Theorien zum Wesen der Zeit vortragen947 und zu beweisen versuchen, dass die Zeit sich zu verändern im Begriff steht oder gar mathematisch widerlegt werden kann. Wie schon bei Juli Zeh steht auch hier in erster Linie die ‚Viele-Welten-Interpretation’ im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Die wissenschaftlichen Erläuterungen werden in den Texten allerdings zumeist entweder geschickt ausgespart oder stark literarisiert, sodass Paul Smethursts Erkenntnis über den Umgang mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in englischsprachigen Zeit-Romanen auch für die deutschsprachige Literatur mit Einschränkungen als zutreffend erscheint: „Science is used metaphorically rather than literally, and it is transposed into the social and cultural spheres to help us conceive of the multiplicity and nondirectionality of social time.”948

Da die dargestellten Veränderungen der Zeit letztlich in keinem Roman als Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts dargestellt werden, heben sich die Ro946

947

948

Es findet sich hier also jenes Moment der „Unschlüssigkeit“, das nach Todorov zentrales Merkmal der phantastischen Literatur ist. Vgl. Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur, Frankfurt a. M. 1992. Vgl. zum Motiv des naturwissenschaftlichen Zeitforschers in der Gegenwartsliteratur auch Kühn 2005, S.892ff. Smethurst 2000, S.217.

III. Drei Zeit-Lektüren

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mane zudem deutlich vom Genre der Science-Fiction-Literatur ab. Schon ein Vergleich mit dem klassischen Science-Fiction-Motiv der Zeitreise lässt erkennen, dass durch dieses eigentlich vorausgesetzt ist, was in den Texten Kehlmanns, Lehrs und Kraussers, aber auch in vergleichbaren englischsprachigen Romanen gerade experimentell oder analytisch in Zweifel gezogen wird: ein konkretes und stabiles physikalisches Modell der Zeit. Die grundsätzlich im lebenszeitlichen Rahmen individueller Erwartung und Erinnerung angesiedelten Zeitsprünge, die die Protagonisten der Gegenwartsromane erleben, sind daher weniger Zeitreisen als vielmehr Ausdruck einer unverständlichen und unkontrollierbaren Neuorganisation von Vergangenheit und Gegenwart. Mit den im Folgenden vorgestellten Werken wird auf drei deutsche Schriftsteller aufmerksam gemacht, die sich gleichermaßen durch große Popularität und hohen Anspruch auszeichnen und deren Werke als beispielhaft für jene internationale Konjunktur des ‚Zeitromans’ erscheinen, die sich gegenwärtig feststellen lässt. Die Vergleichbarkeit der ausgewählten Texte wird nicht zuletzt auch durch die Autoren selbst bezeugt. Vor allem Daniel Kehlmann und Helmut Krausser nehmen gerade hinsichtlich des Zeit-Themas ausdrücklich aufeinander Bezug: Während Kehlmann in Kraussers gewaltigem Tagebuchprojekt – über 12 Jahre hinweg widmete sich der Autor jeweils einen Monat des Jahres dem minutiösen Protokoll seiner Stimmungen, Lektüreerfahrungen, Kinobesuche, Debatten mit Kollegen, Freunden und seiner Lebensgefährtin, aber auch den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen – den November 1998 hervorhebt, weil Krausser dort „seine Überlegungen zur Natur der Zeit“ entwickelt habe, „die später in den Roman UC einfließen werden“949, bezeichnet Helmut Krausser Daniel Kehlmann als „echtes Genie“ und empfiehlt in einem Interview dem Journalisten: „Lesen Sie mal ‚Mahlers Zeit’, seinen besten Roman!“ 950 Die Aktualität der Werke deutet zudem darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Zeit’ in der deutschen Literatur möglicherweise gerade an einem neuen Anfang steht und dass den hier untersuchten Zeitromanen bald weitere folgen werden.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit Gerade einmal 24 Jahre ist Daniel Kehlmann alt, als er 1999 seinen zweiten Roman Mahlers Zeit veröffentlicht. Der Protagonist, ein junger Physiker, nennt sich David Mahler und gilt – wie der Autor selbst – als Wunderkind. Er arbeitet an einer ambitionierten Theorie, mit der er den zweiten Hauptsatz der Thermody949 950

Kehlmann, Daniel: Wo ist Carlos Montufar?, Reinbek bei Hamburg 2005, S.130. Vgl. Großmann, Patrick: „Den Hang zur ständigen Verfeinerung überlasse ich anderen.“ Interview mit Helmut Krausser, in: Galore. Das Interviewmagazin, Vol. 8 (2005), vollständige Fassung: www.theater-oberhausen.de/_upload/Interview_Helmut_Krausser.pdf

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namik, angeblich die einzige naturwissenschaftliche Definition der Zeit, zu widerlegen versucht. Bereits auf der ersten Seite lässt Kehlmann David in der Nacht die vier Formeln entdecken, die seine Theorie belegen; der Roman schildert daraufhin in erster Linie die Versuche des jungen Genies, für seine Thesen einen Weg in die Öffentlichkeit zu finden. Doch stößt er überall auf taube Ohren: Sein bester Freund Marcel und seine Freundin sind nicht vom Fach und reagieren entsprechend ratlos, sein Professor erklärt David geradeheraus für geistesgestört, und der Einführungskurs, den David an der Universität unterrichtet, macht sich über seine verstörten und paranoiden Äußerungen lustig. Als größtes Hindernis zeigt sich jedoch die Zeit selbst: Je vehementer David seine Thesen vertritt, desto stärker verliert der Ablauf der Dinge an Zuverlässigkeit, scheint die Kontinuität des Bestehenden überall gefährdet. Gegenstände verschwinden einfach vor Davids Augen, Prozesse beschleunigen oder verlangsamen sich in irrealer Weise, Erinnerungen werden plötzlich auf unheilvolle Weise gegenwärtig. So driftet David etwa während des Besuchs bei seinem Professor, dem er die Theorie zu erklären versucht, wiederholt unvermittelt in Gedanken in seine Kindheit ab, verliert sich in seinen Erinnerungen und vergisst, wo er sich tatsächlich befindet. Schritt für Schritt kommt auf diese Weise die Vorgeschichte David Mahlers ans Licht: die Abwehr der Eltern, die erfahren, dass David geniale Fähigkeiten besitzt, die sich aber ein „normales Kind“951 gewünscht haben, die Unattraktivität des dicklichen Schülers, der keine Freundin findet und sich auf seine ehrgeizige Forschung konzentriert, und die Entscheidung, an keine große Universität zu gehen, sondern lieber unbeachtet von der Weltöffentlichkeit seine umstürzlerische Theorie zu entwickeln. Von besonderer Bedeutung ist zudem offenbar ein Erlebnis aus der frühesten Jugend des Protagonisten: David wird als Kind Zeuge des Todes seiner Schwester, die von einem Straßenreinigungsfahrzeug verschluckt wird – ein traumatisches Ereignis, das Davids Rebellion gegen die Unumkehrbarkeit der Zeit entscheidend motiviert. Die eingeschobenen Erinnerungen aber treten mit der Zeitebene der Gegenwart permanent in Konflikt, die ‚Montage’ der unterschiedlichen Zeiten gelingt nicht mehr selbstverständlich. Vielmehr fehlt David die Zeit, die er in seiner Erinnerung verbringt, in der Gegenwart, in der er zwar weiter gehandelt und gesprochen hat, sich daran aber nicht mehr erinnern kann. Zudem verliert sich zunehmend die Klarheit der zeitlichen Bezüge: Immer wieder wacht David in einer Situation auf, die er – ebenso wie der Leser – bereits für beendet hielt – gleich mehrfach zum Beispiel im Büro des zunehmend skeptisch seinen wirren Ausführungen lauschenden Professors Grauwald: „Das déjà vu war so heftig, dass er zu stottern begann. Ja, er musste schon hier gewesen sein. Und zugleich war ihm, als wäre er gerade anderswo, in einem 951

Kehlmann 2001, S.51.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

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Bett, weit entfernt in Raum und Zeit. Er räusperte sich und wollte weitersprechen, aber er wusste nicht mehr, wo er unterbrochen hatte.“952

Auf diese Weise geht David zunehmend das Vertrauen in seine Umwelt verloren; gleichzeitig nehmen seine gesundheitlichen Probleme zu, und er fühlt sich mehr und mehr von geisterhaften, anonymen „Wächtern“ verfolgt, die die fehlerhafte Schöpfung offenbar gegen seine Einwände zu schützen versuchen. Um ihn herum häufen sich zudem merkwürdige Todesfälle, die seine Theorie auch als Gefahr für andere Menschen erscheinen lassen. Den letzten Ausweg sieht David schließlich in einem persönlichen Treffen mit dem Nobelpreisträger Boris Valentinov, den allein er für fähig hält, seine Entdeckung zu verstehen. Die einzige Niederschrift seiner Formeln schickt David bereits zu Beginn des Romans an Valentinov, doch als er keine Antwort erhält, begibt er sich schließlich mit seinem Jugendfreund Marcel persönlich auf die Suche nach dem berühmten Physiker. Wie sich herausstellt, hält dieser sich auf einer Konferenz in einem kleinen Bergdorf auf. Auf dem Weg dorthin sehen sich die beiden jungen Männer einigen Hindernissen ausgesetzt, die die Paranoia Davids als gerechtfertigt erscheinen lassen – so schlägt etwa ein Blitz in das Auto der beiden ein –, doch erreichen sie schließlich tatsächlich das Hotel, in dem die Konferenz stattfindet. David stürmt diese, findet Valentinov nicht vor und versucht, seine Theorie über die Fernsehkameras der Weltöffentlichkeit mitzuteilen. Er wird hinausgeworfen und sucht im ganzen Ort nach dem Forscher, inzwischen gesundheitlich arg in Mitleidenschaft gezogen. Kurz bevor er ihn findet, stirbt er an einem Herzinfarkt. Nur Marcel kann Valentinov noch zu Davids Formeln befragen, doch als dieser behauptet, dass die Theorien fehlerhaft gewesen seien, kommen auch ihm Zweifel: „Er hat sich nie verrechnet!“953, teilt er dem Nobelpreisträger mit. Da dieser aber die Aufzeichnungen vernichtet hat und auch keine anderen Kopien der Theorie David Mahlers mehr existieren, bleibt ein abschließendes Urteil unmöglich, und Marcel tritt allein und offenkundig stark verunsichert den Rückweg an. Die letzten Sätze des Romans deuten an, dass er die paranoide Grundverfassung Davids bereits übernommen hat: „Er musste sich beeilen. Es war noch ein weiter Weg.“954

1.1. Psychologische oder physikalische Dysfunktion der Zeit? In Mahlers Zeit bleibt die Frage, ob die dargestellten Brüche im Zeitgefüge sich ‚tatsächlich’ ereignen und damit Davids Theorie belegen oder ob sie das Resultat einer pathologischen Dysfunktion von Daniels Zeitempfinden sind, letztlich unbeantwortet. Die Trennung zwischen äußerer und innerer Perspektive wird stattdessen selbst in Zweifel gezogen: Die Rebellion gegen das vorherrschende 952 953 954

Kehlmann 2001, S.91. Kehlmann 2001, S.159. Kehlmann 2001, S.160.

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Zeitverständnis geschieht hier nicht im Dienste einer unterdrückten, aber ‚echteren’ Innenzeit, sondern als abstrakter, wissenschaftlicher Rechenprozess, der gerade mit dem subjektiven Zeitempfinden in Konflikt gerät. Durch seine Infragestellung der Zeit stößt David zwar auf die Konventionalität dessen, was er als Wirklichkeit erfährt – eine von „Wächtern“ geschützte, von Autoritäten wie Valentinov beglaubigte Vereinbarung –; gleichzeitig aber entzieht er mit der experimentellen Aufhebung dieser Konventionalität auch seiner eigenen Persönlichkeit die Basis. Denn Erkenntnis und Identität sind selbst nur auf der Grundlage einer zeitlichen Struktur möglich, weshalb die grundsätzliche Infragestellung dieser ‚Vorstruktur’ eine große Gefahr darstellt: „Darauf kommt alles an: rechtzeitig aufzugeben“955, warnt Marcel David schon lange vor der Entdeckung der Formeln. Nur die Vorannahme einer objektiven Zeit, die nicht mit unseren temporalen Erlebnisformen identisch ist, ermöglicht dem Subjekt die Konstruktion einer von ihm unabhängigen Wirklichkeit, in der es sich ‚als Subjekt’ positionieren kann; die Reklamation einer neuen Zeitform indes, die Ersetzung der objektiven durch „Mahlers Zeit“ löscht alle Relationen zwischen Subjekt und Welt notwendig aus. David Mahler aber ist Physiker, und als solcher repräsentiert er zunächst selbst eine objektive, wissenschaftliche Erkenntnisform. Allerdings zeigt sich schon bald, dass diese ihn nicht zur Akzeptanz der Realität, sondern gerade zu einer unüberbrückbaren Distanzierung von dieser geführt hat. Seine Brille hilft gegen die Kurzsichtigkeit, gegen zu große Nähe also, nicht aber gegen die Entfremdung, die ihn ständig Leute übersehen, Situationen falsch einschätzen lässt und die den Graben deutlich macht, der zwischen ihm und der Wirklichkeit klafft. Schon die Entscheidung Davids für die Wissenschaft wird durch einen Fensterblick markiert: Von seiner Jugendliebe abgewiesen, geht der enttäuschte Schüler nach Hause, „setzte sich und blickte eine Weile aus dem Fenster.“ Danach entwirft er den Plan für einen Kondensator, mit dem seine Karriere als Physiker ihren Anfang nimmt.956 Die Distanzierung der Welt ist geglückt, auch wenn diese in der Folgezeit zu einer immer stärkeren Entwirklichung und zu vollendeter Teilnahmslosigkeit führt: David wird die Realität prinzipiell fragwürdig, weshalb es zu einer Grundbedingung seiner Arbeit wird, sich so wenig wie möglich auf sie einzulassen. So verweigert er auch die wissenschaftliche Karriere, die ihm aufgrund seiner genialen Fähigkeiten offen stünde: Er geht trotz eines Angebots nicht nach Harvard, sondern bleibt an der provinziellen Heimatuniversität, wo er keine Blicke auf sich zieht; denn nur, wenn er „an einem gleichgültigen Ort ein ereignisloses Leben“ führt, glaubt er, „vielleicht eine Chance“ zu haben.957 Durch seinen Rückzug aber kommt dem Genie David Mahler die empirische Grundlage seiner Wissenschaft abhanden. Was ihm vorschwebt, ist keine 955 956 957

Kehlmann 2001, S.118. Kehlmann 2001, S.52. Kehlmann 2001, S.62.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

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Erklärung der Welt, sondern ein Duell mit der Natur, mit Gott. Der „Konstruktionsfehler“958, den er kritisiert, liegt nicht in der Wissenschaft begründet, die die Wirklichkeit nicht ausreichend genau beschrieben hätte, sondern in dieser Wirklichkeit selbst. Mahler geht es also nicht um eine genaue Beschreibung dessen, was die menschliche Erfahrungswelt auszeichnet, sondern um den Nachweis, dass die Realität selbst unlogisch, unstimmig, widerlegbar ist. Schon als Kind führt er seinem Freund Marcel vor, dass es Zeit nicht geben könne, weil Vergangenheit und Zukunft nicht gegenwärtig, die Gegenwart aber ausdehnungslos sei.959 Daraufhin wird er von Marcel auf den Boden der Empirie zurückgeholt: Die Beweisführung sei „ein Trick“, denn die Erfahrung zeige eben, dass es die Zeit doch gäbe.960 Davon bleibt Mahler jedoch unbeirrt: Dass die Realität nicht selbstverständlich ist, ist ihm Grundbedingung seines Denkens. „Gott rechnet, aber... manchmal rechnet er schlecht“961, erläutert er später seinen Studenten. Die Formeln, die er findet, erklären nicht das Bestehende, sie sollen vielmehr angewendet werden wie ein alchemistisches Rezept, um die Wirklichkeit zu verändern, sie neu zu gestalten. Vom Ort des Experimentes ausgehend würde „es“ sich dann „ganz von selbst“ ausbreiten: „Die Zeit würde... Das ist schwer zu beschreiben... – Sie würde verschwimmen.“962 Auch die Natur ist für Mahler nicht mehr glaubhaft, „nicht Pflanzen, grüne Wälder, blumenbestreute Hügel, all dieser Kitsch. Natur, das heißt: Gesetze“963, und diese lassen sich auf ihre Stimmigkeit prüfen und grundsätzlich kritisieren. „Und woher überhaupt diese sklavische Neigung der Natur, diese völlige Einwilligung in die Vorschrift? Warum der vorauseilende und bloß manchmal und überraschend aussetzende Gehorsam, als gäbe es eine Truppe dienender Wesen, die sich einmischen, die, wo es nötig ist, für die Durchsetzung der Regeln sorgen, sie vor Entdeckung bewahren, das Fortschreiten der Zeit überwachen und die Unausweichlichkeit des Todes?“964

David übersieht jedoch, dass diese Gesetze nicht nur in der göttlichen Schöpfung, sondern auch in der menschlichen Wahrnehmung verankert liegen und dass ihre Gültigkeit eine notwendige Voraussetzung einer übereinstimmenden Auffassung der Realität ist. Das „Valentinov-Paradoxon“, eine Variante der Heisenbergschen Unschärferelation, die zeigt, dass die Antworten der Wissenschaft abhängig sind von den Fragen, die sie stellt, und dass die unterschiedlichen Ergebnisse sich dabei durchaus widersprechen können, belegt für David 958 959

960 961 962 963 964

Kehlmann 2001, S.107. Die These, die Zeit existiere nicht, ist seit der eleatischen Philosophie immer wieder geäußert worden, populär zum Beispiel bei: McTaggart, John Ellis: The Ureality of Time, in: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy, Nr.17 (1908), S.456-473. Kehlmann 2001, S.52. Kehlmann 2001, S.98. Kehlmann 2001, S.32. Kehlmann 2001, S.67. Kehlmann 2001, S.76f.

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nicht die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis, die immer auf Modelle und Zeichen angewiesen bleibt, sondern führt direkt zu der These, dass „die Realität ein ziemlich unsicherer Ort“ sei.965 Die Anwendung der vier Formeln soll diese Unsicherheit belegen, das Vertrauen in die Kontinuität der Wirklichkeit erschüttern. Ohne Zweifel wäre das regelrecht „das Ende der Welt“966, wie Marcel zutreffend bemerkt. Doch für David zählt weiterhin nur der Blick des Wissenschaftlers, der sich in sicherer Entfernung zu seinem Experiment wähnt. Die „Wächter“, die sich gegen sein Experiment zur Wehr setzen, entstammen indes in zunehmendem Maße seinem sozialen Umfeld, dem der Physiker sich immer vehementer zu entziehen versucht. Davids Infragestellung der Wirklichkeit trägt so einige Züge jener subjektiven Zeit-Rebellionen, die die Literatur um 1900 kennzeichneten – auch wenn sie sich hinter einer wissenschaftlichen Argumentation verbirgt. Denn auch David befindet sich auf der Suche nach Erfahrungen, die der ‚Normalität’ widersprechen, mit denen sich ein ‚anderes’ Zeiterleben etablieren könnte. Die „wichtigste Entdeckung seines Lebens“, jener Zusammenhang von vier Formeln, der den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und damit die Verankerung der Zeit im wissenschaftlichen Weltbild experimentell außer Kraft setzen soll, kommt ihm nicht zufällig in einem Traum, in dem sowohl die Gegenständlichkeit der Erscheinungen als auch die Objektivität der Zeit aufgelöst werden: „Und dann war selbst dieser Horizont nicht mehr da, und nur Davids Angst blieb, wie etwas Abstraktes, abgelöst von jeder Ursache, zurück. Für eine Weile, die er weder als lang noch als kurz empfand, sondern als eine seltsam zerdehnte Gegenwart, war ihm nichts anderes bewusst. Er war völlig allein mit seiner Furcht.“967

Zweimal erwacht David in kurzer Folge aus diesem Traum. Nach dem ersten Erwachen teilt sich ihm seine wissenschaftliche Entdeckung wie von außen, als „Struktur von Zahlen“ und „System gläserner Schönheit“ mit. Gleichzeitig wird die Welt auf den Wissenschaftler fokussiert: Während er im Bett liegt, dreht sich alles um ihn, wodurch er den archimedischen Ruhepunkt seines neuen Zeitsystems zu bilden scheint: „Alles andere durfte sich bewegen – die Welt draußen und auch das Zimmer; sogar sein Bett schien langsam durch den Raum zu treiben. Nur er durfte sich nicht rühren.“968 Vor dem Fenster sieht David schließlich einen Mann durch die Scherben einer kaputten Laterne gehen, in dem er sich selbst erkennt; auch sieht er sich als Schlafenden in seinem Bett liegen, das er gerade verlassen hat. Die Doppelgängererfahrung, die Erkenntnis der Außenwelt als Spiegelung des Selbst führt unmittelbar zum zweiten Erwachen, doch auch nach diesem ist die Laterne noch kaputt: „Gestern abend war sie noch 965 966 967 968

Vgl. Kehlmann 2001, S.97f. Kehlmann 2001, S.32. Kehlmann 2001, S.7. Kehlmann 2001, S.8.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

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ganz gewesen.“969 Die Formeln, die David nach seinem doppelten Erwachen vor Augen stehen, entspringen keinem Erkenntnisvorgang, sondern eher einer solipsistischen Grenzerfahrung, in der die gesamte Wirklichkeit zu einem Produkt des Bewusstseins wird. Seine Theorie wird im Roman so auch nirgends genauer erläutert: Alle physikalischen Erklärungen, denen zufolge die Zeit nicht länger gültig sei, sind aus den klassischen physikalischen Theorien, insbesondere der Quanten- und der Relativitätstheorie entnommen.970 Eigentlich betreibt David Mahler gar keine Wissenschaft; die mathematische Widerlegung der Zeit, die bereits am Anfang des Romans eher als Versuch der Schöpfung einer völlig neuen Realität erscheint – „Formen, noch nicht eingetreten in die Welt“971 –, ist eine verkappte Revolte gegen die Wirklichkeit, deren Kontrolle dem Subjekt David unterstellt werden soll. Gleiches gilt für die Zeit: Das Ticken der Uhr, die auf dem Nachttisch liegt, repräsentiert eine vom Subjekt getrennte Ordnung, die David aufzuheben und durch die kognitive Zeitlichkeit seiner Gedanken, durch seine ‚innere Zeit’ zu ersetzen versucht. Die Theorie wird ihm dabei in dem Maße Gewissheit, in dem er die äußere Zeit internalisiert: „Die Uhr tickte. Und dann war dieses Ticken, die immer gleiche Spanne von Stille zwischen dem immer gleichen Laut, nicht mehr Begleitung, sondern hatte sich ins Innere der Gedanken selbst geflochten; es erschien plötzlich – verständlich. Auf der Straße heulte ein Motor auf, falsch geschaltet. Und in diesem Moment explodierte in ihm, in einem versteckten, noch niemals aufgesuchten Ort seines Bewusstseins, eine Gewissheit.“972

Der „Motor“ der Zeit wird als Fehlschaltung verstanden und explodiert. Aus der Position eines nahezu vollständig aus der Welt gelösten Subjekts kann die Konventionalität des gesellschaftlichen Zeitsystems erkannt und infrage gestellt werden. Was fortan als Außenwelt erscheint, ist folgerichtig nur noch Spiegelung des Inneren: Indem David Dinge vorhersehen und ‚spüren’ kann, ordnet er die objektiven zeitlichen Abläufe seinen eigenen kognitiven Leistungen unter und erhebt so sein Begreifen zu einer konstitutiven Ursache des Begriffenen. Die Erfahrung der Außenwelt wird daher auch mehr und mehr zu einer Körpererfahrung Davids. Gleichzeitig jedoch gewinnt auch diese halluzinierte Wirklichkeit – ähnlich wie in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs – an Eigenständigkeit, wird der Protagonist als Produzent der Welt zunehmend zum Opfer von ihm unverständlichen Mechanismen, die wie ein neues, unheimliches Fatum erscheinen. Auch die vom Subjekt erzeugte Außenwelt bleibt ein Außen, der Schöpfungsakt reflexiv uneinholbar; David existiert immer noch nur innerhalb einer Welt, doch hat es diese nun zusätzlich auf ihn abgesehen: 969 970 971 972

Kehlmann 2001, S.9. Vgl. Kehlmann 2001, S.97. Kehlmann 2001, S.10. Kehlmann 2001, S.10.

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III. Drei Zeit-Lektüren „Er fühlte hinter sich die zerstörte Laterne, sehr deutlich, wie eine schmerzende Stelle an seinem Körper. Und spürte auf seinem Gesicht, wie die Sonne hervortrat, verdeckt wurde, hervortrat, als versuche sie, jemandem Signale zu geben.“973

Auch über die eigenen Vorstrukturen noch Herr zu werden ist also – wie in den Zeit-Romanen der klassischen Moderne – das eigentliche Ziel des theoretischen Kampfes gegen die Zeit, den David Mahler austrägt; denn wie in großen Teilen der literarischen Moderne ist Zeit auch bei Kehlmann das wesentliche Symptom der Unhintergehbarkeit des kulturellen und sprachlichen Wirklichkeitssystems, ist Ausdruck des Ausgeliefertseins an ein Vorgängiges und Nachweis der Notwendigkeit, jeden Gedanken auf unreflektierte Prämissen gründen zu müssen. Aus diesem Grund stellt sich auch jeder Versuch, die Theorie zu publizieren oder zu erklären, als unmöglich heraus: Insofern Theorien die Basis von Wissen bilden, insofern sie einen Beitrag zur Wissenschaft darstellen, auf dem sich in Zukunft aufbauen lässt, der also anderen Gedanken vorgängig werden muss, ist die Widerlegung der Zeit als prinzipielle Verunmöglichung der Vorgängigkeit die Anti-Theorie schlechthin. Marcel hat im Gegensatz zu David begriffen, dass die Publikation eines Gedankens allein schon ausreicht, um die vorherrschende Wirklichkeit zu bestätigen und den Gedanken damit zu verraten: „Dieser Ehrgeiz überall, dieser Kampf, dieser Gestank nach Ehrgeiz! Man soll rechtzeitig aufgeben.[...] Ist dir schon aufgefallen, wie verlogen jedes Buch allein dadurch wird, dass jemand es veröffentlicht hat?“974

Auch David gibt sich zunächst damit zufrieden, auf die Kommunikation seines Zweifels zu verzichten, erkennt die Wissenschaft als einen „Ort umsichtiger Machtpolitik“975 und hält sich dem Anschein nach an ihre Regeln. In Wirklichkeit aber geht es ihm darum, dieses System der Macht aus den Angeln zu heben. In seinen theoretischen Ausführungen, die auf den ersten Blick von Vergänglichkeit und der Flüchtigkeit der Erfahrung handeln – jede „Ordnung“ stürze „ihrer Auflösung zu“ –, kommt so die Rebellion gegen eine Vorstruktur zum Ausdruck, die den Menschen zur Akzeptanz einer ihm unverfügbaren Außenwelt zwingt. Dieser Interpretation schließt sich auch Ralf Kühn mit der These an, hier sei der Physiker eigentlich ein Autor, der kraft einer „selbstgezimmerten Theologie“ den Tod zu besiegen, die Zeit zu überwinden versucht und an der Unmöglichkeit dieser Hybris scheitert.976 Die Traumatisierung Mahlers verleiht dieser Interpretation starke Plausibilität: Die epiphanischen Rückblenden des Romans scheinen selbst darauf zu zielen, im Neuerleben der Vergangenheit diese 973 974 975 976

Kehlmann 2001, S.17. Kehlmann 2001, S.118. Kehlmann 2001, S.84. Vgl. Kühn 2005, S.903.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

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ungeschehen zu machen. In seinen alptraumartigen Visionen wird die tote Schwester immer wieder lebendig als „ein Kind mit durchschnittenem Hals, das ihm unbedingt etwas sagen wollte“977 – eine Warnung womöglich, die David aber nicht hören kann oder will. Um keinen Preis kann er die Irreversibilität der Vergangenheit akzeptieren, die in seinen Träumen weiterlebt und ihn fortwährend unter Druck setzt, seine Forschungen voranzutreiben. Konsequent erscheint auch die Strafe: Schon der Doppelgänger, der David bereits zu Beginn des Romans und danach immer wieder erscheint, verkörpere schließlich „seit den Tagen der Romantik Fatales, meint den herannahenden Tod“, der Mahler kurz vor seiner Begegnung mit Valentinov ja auch tatsächlich scheitern lässt.978 Unbeachtet bleibt in dieser Lesart jedoch die grundsätzliche Irritation der Wirklichkeit, die auch nach Davids Tod noch bleibt. Die Infragestellung der Zeit ist kein ästhetischer Akt Davids, sondern vor allem „reine Mathematik“979, ist durch Formeln zu beweisen, die die Autoritäten der Wissenschaft zwar als wirr bezeichnen, bei denen aber nie klar ist, ob sie falsch oder nur unkonventionell sind. Zwar behauptet Marcel, der beste Freund Davids, die Wissenschaft könne die Wahrnehmung niemals widerlegen – was aber, wenn die Wahrnehmung längst eine andere Wissensform hätte notwendig werden lassen, wenn „es sie gibt? Sprünge und Risse, fallende Menschen im Gewebe; wenn das Netz löchrig ist?“980 Dass David zudem ein Wunderkind ist, unterstützt ebenfalls eine gegenläufige Lesart, derzufolge die Zeit ‚tatsächlich’ verändert werden könnte – oder bereits dabei ist, sich zu verändern. Marcel scheint am Ende des Romans von derselben tiefgreifenden Verunsicherung getrieben, die auch Davids Bemühungen zugrunde lag: Vorher eher ein skeptischer Zuhörer von Mahlers Ausführungen, nimmt er auf einmal jedes Detail seiner Umgebung genau wahr, so als sei selbst das Schreien eines Kindes oder das Flattern eines Vogels Teil einer verdächtigen Inszenierung.981 Die Hybris des Genies hat einen Virus des Zweifels in die Welt gebracht, sein faustischer Kampf mit der beschränkten Realität ist zu einer grundsätzlichen Verunsicherung mutiert: „Atmosphärisches formiert sich neu, eine Ordnung macht sich bemerkbar, die ‚musikalisch in einer anderen Melodie’ (Gottfried Benn) zu sein scheint als die bekannten Naturgesetze. Marcel tritt in ein Spannungsfeld aus Faktoren, die in Mahlers Leben von so entscheidender wie rätselhafter Bedeutung waren: die Sterne, deren Zahl er durch einfaches Hinsehen exakt bestimmen konnte, ein 977 978

979 980 981

Kehlmann 2001, S.113. Vgl. Grimminger, Rolf: Die Angst des Physikers vor der Entropie. In Daniel Kehlmanns zweitem Roman schreibt das Denken gegen den Tod, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 257 (6.11.1999), S.IV. Kehlmann 2001, S.10. Kehlmann 2001, S.24. Vgl. Kehlmann 2001, S.156ff. Diese Umdeutung der Wahrnehmungen zu Zeichen und Botschaften ist nach Manfred Schneider das wesentliche Charakteristikum der Paranoia. Vgl. Schneider, Manfred: Gefahrenübersinn: Das paranoische Ding, in: Engell, Lorenz / Siegert, Bernhard / Vogl, Joseph (Hgg): Gefahrensinn, München 2009, S.161-176.

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III. Drei Zeit-Lektüren Flugzeug oder jedenfalls ‚drei bewegte, blinkende Punkte’ am nächtlichen Himmel, dann, in greifbarer Nähe, eine jener großen Libellen, die, egal, ob Peilsender der Feindeswelt oder freundliche Geister, gleichsam zu Mahlers Ikonographie gehört hatten, und schließlich eine Laterne mit zerbrochenem Kopf, herübergeweht aus Mahlers Zeit, in der sie schon einmal beschädigt worden war, an anderem Ort, aber in der genau gleichen Weise. Magische Hinterlassenschaft: ein Cluster aus Mahlers Sphäre, das nun auf Marcel übergeht.“982

Auch Boris Valentinov scheint auf einmal zu lügen, als Marcel ihn nach Davids Theorie fragt, und wie schon die Lehrer des jungen Törleß appelliert er ausdrücklich an Marcels „Glauben“ an die Wissenschaft, anstatt ihn argumentativ zu überzeugen. „Wir werden es nicht erfahren“, resümiert der Belehrte, „aber das heißt nicht, dass ich ihnen glaube.“983 Auch die Unstimmigkeiten in der Wahrnehmung Davids scheinen teilweise mit der Wirklichkeit übereinzustimmen: Dass etwa die Haushälterin Valentinovs, die Marcel und David ausfragen, um den Aufenthaltsort des Physikers in Erfahrung zu bringen, offenbar gar nicht existiert, stellt sich erst nach dem Tod Davids heraus, kann demzufolge auch nicht als Folge seiner Verwirrung gedeutet werden. Die Zeit, so scheint es, ändert sich bereits von selbst, auch ohne die experimentelle Anwendung der Formeln, allein durch den Vertrauensverlust in die Notwendigkeit ihrer linearen, kausalen, einheitlichen Ordnung. Ein Ansatz für eine solche Lesart wird zudem durch eine Reflexion der grundsätzlichen Medialität von Wahrnehmung und Erinnerung unterstützt, die im Roman angelegt ist. Davids Visionen eignet nicht zufällig das Charakteristikum einer hypnotischen Bildlichkeit; unterschwellig begleitet zudem eine Auseinandersetzung mit tatsächlichen Medien wie Fernsehen, Computer und Schrift sowie ein innerer Konflikt zwischen bildlichem Erleben und distanzierender Reflexion die Forschungen Davids, die – auch im Kontrast zum Mangel an tatsächlichen wissenschaftlichen Reflexionen – für die Entwicklung der ästhetischen Infragestellung der Zeit, die der Roman unternimmt, in besonderem Maße aufschlussreich erscheinen.

1.2. Falsche Referenzen, neuronale Zeitsprünge Wie im ersten Teil dieser Arbeit erläutert wurde, ist Literatur selbst an den Zeitmodus der Schrift gebunden, der auf einer unaufhebbaren Differenz beruht: Das Zeichen markiert die Abwesenheit des Bezeichneten, und das Schwanken zwischen der Performanz des Textes und der Imagination der Referenz ist als 982

983

Nentwich, Andreas: Alltagsmagische Kreaturen. „Mahlers Zeit“: Daniel Kehlmann verschränkt Zeit und Ewigkeit, Alltag und Wahn, in: Neue Züricher Zeitung 237/99 (12.10.1999), S.B13. Kehlmann 2001, S.159.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

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Modell jener kognitiven Operation fassbar, die Zeit eigentlich erst entstehen lässt. In Mahlers Zeit wird dieser Zusammenhang zwischen Zeit und Textualität an verschiedenen Stellen reflektiert. Schon Boris Valentinovs Hauptwerk trägt den sinnfälligen Titel „Die Textur der physischen Welt“ – ohne Zweifel eine Anspielung auch auf Nabokovs Textur der Zeit.984 David selbst versenkt sich einmal, während er am Morgen nach dem Traum die Formeln aufschreibt, um sie an den Nobelpreisträger zu schicken, so tief in seine Theorie, dass er das Gefühl hat, als „wäre ein Riss durch ihn gegangen“, als er wieder zu sich kommt. Dem Eintauchen in die Bedeutung des Textes folgt der Blick von außen auf die „leicht schiefen Kolonnen von Zahlen, Skizzen, Kurven, die sich in weiten Bögen über das Papier schlängelten, Diagramme, die keinen Sinn zu haben schienen, beschriftet mit Zeichen, die er hatte erfinden müssen“. Der Kontrast zwischen der Vertiefung in die „Kolonnen“ und ihrer Wahrnehmung als Text, zwischen Performanz und Referenz löst den Blick auf die Uhr aus: „Auf dem Nachttisch lag noch immer seine Armbanduhr. Es war fast drei.“985 In einer späteren Szene wird dieses Verhältnis auch als Spaltung des Augenblicks selbst erfahren, der in einen Aspekt der Wahrnehmung einerseits, in einen des primären Erinnerns andererseits zerfällt und auf diese Weise das Gefühl der Flüchtigkeit erzeugt: „Da war die Libelle weggeflogen. So schnell, dass sie schon Erinnerung schien, als er sie noch sah.“986 Schon in der Szene am Beginn des Romans aber, in der David seine Theorie verschriftlicht, wird deutlich, dass die textuelle Differenz gestört ist. Er vertieft sich nämlich keineswegs in die Bedeutung seiner Formeln, sondern schaut die ganze Zeit aus dem Fenster. Dort betrachtet er den Regen, drei kleine Mädchen und einen Hund, die am Fenster vorbeilaufen, das Ende des Regens, den Hund, der aus einer Pfütze trinkt – dann schreckt er zusammen; doch trotz seiner Träumerei ist der Text verfasst, sind seine Formeln aufs Papier gebracht. Hierin besteht ein generelles Konstruktionsprinzip des Romans: Beständig erscheint die falsche Referenz, verliert sich David nicht in den Inhalt seiner Rede oder seiner Schrift, sondern in Träumereien, die mit seinen Ausführungen eigentlich gar nichts zu tun haben – und dennoch schreibt er gleichzeitig die Formeln nieder oder führt seine Erklärungen zu Ende: „Seine Gedanken irrten ab, glitten davon, und es gelang ihm nicht, sie festzuhalten; währenddessen hörte er sich weiterreden, immer weiter.“987 Die ‚falsche Referenz’, die anstelle der ‚echten’ erscheint, entführt den Physiker nicht selten vollständig aus seiner eigentlichen Realität, bildet neue Wirklichkeiten aus, die nicht nur in Gedanken, sondern tatsächlich visuell vor Davids Augen erscheinen. Auf diese Weise aber kennzeichnet sie sich nicht länger durch Abwesenheit und Unerreichbarkeit, sondern durch Präsenz und Nähe: Die ‚flüchtige’ Zeit wird durch eine neue 984 985 986 987

Kehlmann 2001, S.50. Kehlmann 2001, S.14f. Kehlmann 2001, S.25. Kehlmann 2001, S.41.

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III. Drei Zeit-Lektüren

Struktur aufgehoben, in der verschiedene tendenziell gleichberechtigte ‚Gegenwarten’ gegeneinander ausgespielt werden. Die Sprünge zwischen den Zeitebenen, die zu Gegenwarten werden, sobald sie in Davids Vorstellung Gestalt annehmen, nehmen dabei schon bald groteske Formen an: „Er malte es sich so deutlich aus, dass er verblüfft war, als es plötzlich – geschah. Und er sich vor dem Saal fand, dem stummen, vieläugigen, und Menschen ihn ansahen, so viele davon, und darauf warteten, dass er sprach. Seine Notizen lagen vor ihm. Er heftete den Blick darauf und bemühte sich, seine Nervosität niederzukämpfen; tief atmen, dachte er, ich muss nur tief atmen; und er hörte seiner Stimme zu, aber es gelang ihm nicht ganz, ihr zu folgen. Seine Gedanken schweiften ab, für einen Moment sah er sehr klar das Meer vor sich und spürte den Geruch von Tang und fragte sich, ob er nicht eigentlich noch dort und dieser Saal nur ein Erzeugnis seiner Phantasie war; und dann fühlte er sich im Gras liegen und das Gesicht von Maria Müller auf sich, und eine Ameise krabbelte kitzelnd an seinem Hals entlang [...]“988

Alles, was David sich vorstellt, wird unmittelbar zur Realität. Dabei fällt es dem Physiker sichtlich schwer, auf die ‚wahre’ Zeit zu verzichten, eine Referenzebene, die ihm die Unterscheidung zwischen Imagination und Erleben ermöglicht. So versucht er sich immer wieder zu vergewissern, in welcher Gegenwart er sich ‚eigentlich’ befindet und welche seiner Erinnerungen eingebildet, welche ‚tatsächlich’ passiert sind. Bei seiner Freundin Katja etwa muss er nach einem Treffen, bei dem er ihr seine Theorie zu erklären versucht hat, sogar telefonisch nachfragen, ob sie wirklich bei ihm gewesen ist, da er seinem Gedächtnis nicht mehr traut.989 Auch Kehlmann orientiert sich bei der Herstellung der Zeitkonfusionen in Mahlers Zeit also offenbar an der ‚Viele-Welten-Theorie’ und an einem Modell neuronaler Zeitverschaltung: David scheint in verschiedenen möglichen Zeiten zu leben, die nicht nur alle gleichberechtigt sind, sondern deren unterschiedliche Phasen er zusätzlich auch infolge seiner merkwürdigen Erinnerungssprünge immer wieder als gegenwärtig und neu erlebt. Nicht nur die Präsenz der imaginierten Erfahrungen, auch die Irritation ihres ‚Ablaufs’ löst bei David zunehmend Panik aus. Denn die hypnotischen Bilder, denen er sich ausgesetzt findet, gehen nicht in derselben Weise vorbei, wie es andere Erfahrungen tun, sondern bleiben häufig vor seinen Augen stehen, frieren ein wie das Bild eines angehaltenen Videofilms. Nur kurz nach der Niederschrift seiner Formeln erlebt der Physiker zum ersten Mal so einen stillstehenden Augenblick, der allerdings nichts Utopisches an sich hat, sondern vielmehr eindeutig mit einem „Unfall“ assoziiert wird, bei dem ein Lastwagen von der Fahrbahn abkommt und umkippt:

988 989

Kehlmann 2001, S.81. Kehlmann 2001, S.114.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

253

„Der Lastwagen stand, ganz ruhig, auf zwei Rädern. Im Gleichgewicht und schwerelos. Als könnte es so bleiben. Und auch die Menschen waren erstarrt. Mitten auf der Straße, im Laufen, unter den schweren Akkorden der Hupen. Nur eine Taube durchkreuzte langsam, mit gleichmäßigem Flügelschlag, den Himmel.“990

Der Augenblick verweilt – doch ist er weit davon entfernt, ein magischer, ergreifender Augenblick zu sein, ist vielmehr ein Moment äußerster Gefahr. Dass die Taube weiterfliegt, während alles andere erstarrt, lässt die gesamte Wirklichkeit als Kunstprodukt, als merkwürdige Simulation erscheinen. Die Szene spielt auf eine Sequenz aus dem Film Barton Fink an, an dessen Ende sich der gleichnamige Protagonist in ein Bild versetzt findet, das früher über seinem Schreibtisch hing und die Rückenansicht einer Frau am Meer zeigt. „Barton bleibt vor der Frau sitzen, die exakt dieselbe Pose eingenommen hat, in der sie auf dem Bild verewigt ist und auf das Meer hinausblickt. Das Geräusch der an den Strand schlagenden Wellen, das Barton schon beim Betrachten des Bildes hörte, ertönt aufs Neue. Barton Fink ist dort angelangt, wo er eigentlich immer leben wollte: in der Welt der Fiktionen, in einem engen Rahmen, eingefroren in der Bewegung, ohne Chance auf Flucht und Hoffnung.“991

Auch in Barton Fink wird die Künstlichkeit der Erfahrung durch einen Vogel verdeutlicht – durch eine Möwe, deren grotesker Absturz die vermeintliche Idylle des Bildes stört. Diese Künstlichkeit wird auch David immer wieder bewusst: Die Welt wirkt auf ihn wie eine bildliche Oberfläche, auf der die Reflexionen und Spiegelungen ständig wechseln – gleich jenen, die er immer wieder auf Pfützen oder Glasflächen bemerkt. Diesen Spiegelungen aber scheint keine Wirklichkeit mehr zu entsprechen: Nach und nach muss der Physiker einsehen, dass seine Wahrnehmungen ihm nur die Simulation einer Realität, eine referenzlose Kulissenwelt vorgaukeln. An einer Szene, in der David das Spiegelbild eines Flugzeugs in einer Pfütze beobachtet, wird dies besonders deutlich: „David streckte den Fuß aus und berührte sanft mit der Schuhspitze das Wasser. Das Flugzeug wuchs, verschwamm, verschwand. Er sah auf, um am Himmel danach zu suchen. Aber dort war es nicht. So scharf er auch hinsah: Es war nicht zu sehen.“992

Nicht mehr wird die Wahrnehmung durch den Einfluss einer begrifflichen Vorstruktur verzerrt, die alles Bildliche in die Muster des Verstandes einordnet, sondern die Bildlichkeit selbst ist hier von jeder Verbindung mit irgendeiner Wirklichkeit entkoppelt, ist bloße Halluzination geworden, die mit keiner ‚eigentli990 991

992

Kehlmann 2001, S.18. Kilzer, Anette / Rogall, Steffen: Das filmische Universum von Joel und Ethan Coen, Marburg 1988, S.88. Vgl. Barton Fink (USA 1991, Joel & Ethan Coen). Kehlmann 2001, S.23. Vgl. auch ebd., S.89.

254

III. Drei Zeit-Lektüren

chen’ Realität mehr in Verbindung zu stehen scheint. Was David sieht, ist nicht einmal mehr der Schatten der wahren Dinge, ist auch keine „spätere, gefälschte Ausschmückung“ seines Gedächtnisses993, sondern bloße Illusion, Zeichen ohne jegliche Referenz. Auch die ‚falschen Referenzen’, die David erscheinen, sind so eigentlich gar keine, sind vielmehr selbst nur weitere von der Zeit gelöste Inhalte, weitere Kunstwelten. Ebenso wie die Medienrealitäten repräsentieren Davids Wahrnehmungen „keine ‚unmittelbare’ Wirklichkeit und Wahrheit mehr, sondern [...] bilden ihre eigenen Wirklichkeiten und Wahrheiten, die nicht mehr rückversichert sein müssen in der Ausgangsrealität.“ 994 Die pure Illusion dieser falschen Wirklichkeit zu zerschlagen ist daher die Aufgabe, die David Mahler sich stellt; die Physik, die Neutralität und Objektivität der Mathematik sollen ihm diese Desillusionierung ermöglichen. Die Analogie der visuellen Eindrücke Davids zu filmischen Darstellungsformen fällt an vielen Stellen des Romans ins Auge. Sie prägt auch die Darstellungsweise des Textes selbst, bei der innere Vorgänge häufig ausgespart werden, die Handlung oftmals im Szenischen verhaftet bleibt. Dass tatsächlich bildliche Medien selbst auch eine Rolle in Kehlmanns Roman spielen, wird nur an einigen wenigen Stellen deutlich – so wird etwa der Fernsehkamera, die Davids Versuch einer Erklärung seiner Formeln in alle Welt überträgt, eine mediale Struktur der Gegenwärtigkeit zugesprochen: „Das alles geschah jetzt, genau jetzt, so schnell, dass die Zeit selbst überlistet wurde.“995 David selbst ist ursprünglich allerdings ein Mann der Schrift: Der Computer, mit dem er zu arbeiten versucht, stürzt immer wieder ab, weshalb er sich angewöhnt, mit der Hand zu schreiben.996 Sein ursprünglicher Versuch besteht darin, die bildliche Wahrnehmung vollständig in Zahlenkolonnen und Formeln, also in eine umfassende und exakte Symbolik zu überführen, die keine Lücken mehr lässt – so als entschlüsselte er die Programmierung einer perfekten, umfassenden Computersimulation.997 David ist davon überzeugt, dass seine Zeichen, seine Berechnungen die Wirklichkeit selbst zu fassen bekommen und nicht nur ein Modell derselben sind. Er glaubt, durch Kenntnis des ‚Codes’ die Wirklichkeit umschreiben zu können; die Formeln erscheinen ihm nicht als Abbild, sondern als Ursache der Welt: „Durch einen unendlich fernen Verstand bewegen sich Zahlen; und die Welt ereignet sich.“998 Die Strukturlogik der Schrift ist in dieser Sichtweise aufgehoben, das Intervall ausgelöscht, das zwischen dem ‚Ereignis’ der Welt und ihrer Beschreibung liegt. Referenz und Performanz werden gleichzeitig, weshalb David schließlich 993 994 995 996 997 998

Kehlmann 2001, S.42. Vgl. Hörisch 1995, S.51. Kehlmann 2001, S.138. Kehlmann 2001, S.80. Vgl. Kehlmann 2001, S.55f. Kehlmann 2001, S.66f.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

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nicht mehr unterscheiden kann, ob die Schrift, ob seine Gedanken die Wirklichkeit abbilden oder erzeugen. Grundlage dieser Veränderung ist jedoch keine pathologische Verwirrung, sondern die konsequente Umsetzung eines neuen medialen Systems, das nicht mehr Wirklichkeit ‚beschreibt’, sondern vielmehr ‚programmiert’, in dem also nicht das Sichtbare dem Zeichen, sondern das Zeichen dem Bild vorausgeht.999 Als Symbol dieser ‚virtuellen Realität’ taucht immer wieder eine Libelle auf, die bereits von Heinrich Heine als „schimmernde, flimmernde Gauklerin“1000 zum Inbegriff der Täuschung erklärt wurde und die David immer dann um den Kopf schwirrt, wenn er sich die „Zeugnisse der Schwäche“ bewusst macht, die „Fehler eines zerstreuten Planers“, die die Mangelhaftigkeit der Weltkonstruktion beweisen.1001 Dass die Wissenschaft selbst mittels dieser mangelhaften Formeln die Wirklichkeit eigentlich erst erzeugt, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass auch der Pokal des „Prix Science de Jeunesse“, den David in seiner Jugend gewinnt, „die Form eines länglichen, vierflügeligen Insektes“ besitzt.1002 Wie der Magier Beerholm, Protagonist von Kehlmanns erstem Roman Beerholms Vorstellung, lebt David so in einer Welt, die immer stärker einer Fata Morgana gleicht, die trügerisch über der leeren Wüste schimmert. Beide Protagonisten lieben die Wüsten und Einöden, die Orte der Leere und der Unendlichkeit, in denen sich die Wirklichkeit in der Konturlosigkeit und Bewegungslosigkeit einer einförmigen Szenerie auflöst, in der auch die Zeit selbst aufgehoben zu sein scheint. Die Konfrontation mit einer solchen Unendlichkeit veranlasst schon Beeerholm zu seinem Theologie-Studium; auch in Mahlers Zeit wird sie als quasireligiöses Erlebnis inszeniert, das in diesem Fall aber die endgültige Entscheidung für die Mathematik bedingt: „In den nächsten Ferien nahm Marcels Familie ihn mit ans Meer. Er sah es zum erstenmal. Die blaue Endlosigkeit, deren Krümmung man am Horizont erkennen konnte, jedesmal, wenn der Bug eines Schiffes vor dem Schornstein verschwand. [...] David stand regungslos. [...] Er nahm die Brille ab und merkte, dass er Tränen in den Augen hatte. Und erst nach einiger Zeit nahmen die Schiffe und die Horizontlinie und die fernen, wirbelnden Möwen wieder Form an.

999

1000

1001 1002

Diese Vorstellung findet in Flussers Überlegungen eine Parallele, der zufolge die Kausalstrukturen, die das Zeitalter der Schrift prägten, durch eine neue Codeform abgelöst werden, die „die Welt selbst programmiert“. Vgl. Flusser, Vilém: Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen. Zusammengestellt und bearbeitet von Volker Rapsch, Düsseldorf 1990, S.69ff. Das Zitat entstammt dem Gedicht Die Libelle. Vgl. Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 3/1: Romanzero. Gedichte 1853 und 1854. Lyrischer Nachlass, Hamburg 1992, S.205ff. Kehlmann 2001, S.25. Kehlmann 2001, S.60.

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III. Drei Zeit-Lektüren Und er wusste jetzt, dass er weitermachen musste. Die Mappe aus der Schublade nehmen und weiter rechnen und es zu Ende führen, wie schwer es auch werden und wie lange es auch dauern würde.“1003

Angesichts der Endlosigkeit des Meeres nimmt David die Brille ab. Der Graben, der ihn von der Wirklichkeit trennt, ist überwunden, sobald ihr ‚ozeanischer’ Ursprung sichtbar wird. Immer wieder begibt David sich nun auf die Suche nach anderen Orten der Leere, nach Erfahrungen, die jede Sprachlichkeit, jede Gegenständlichkeit tilgen. So bereist er nach dem Schulabschluss zusammen mit Marcel die Wüste, deren „warme, trockene Luft“ sich „nicht bewegte, die von nichts bewegt wurde“ – nur ein Vogel ist es wieder, der „sehr hoch oben seine unregelmäßigen Kreise“ zieht.1004 Allein die Leere erscheint David noch als ‚echt’, weil in ihr die Sprache versagen muss; die Wahrnehmung alles Gegenständlichen wird ihm hingegen verdächtig. Die „Fassade“ der dinglichen Welt ist eine „gläserne“ Spiegelfläche wie jene des Hotels, in dem die Konferenz stattfindet; sie liefert nur eine Kulisse oder Inszenierung, die nicht auf das schließen lässt, was hinter ihr liegt, sondern höchstens auf ihren Beobachter. 1005 Die Wahrheit aber ist „umgefaltet, jenseits der spiegelnden Fläche“1006 und nur durch die Überwindung der bloß programmierten Realität, der ‚Textur der Welt’ zu erreichen. Einmal mehr erscheint David so als radikaler Nachkomme jener Protagonisten der klassisch-modernen Literatur, die der Unglaubwürdigkeit einer durch Sprache vorstrukturierten Wahrnehmung der Wirklichkeit eine neue Erfahrung von Totalität entgegenzuhalten versuchen. Ähnlich dem jungen Törleß liegt David gerne an sonnigen Tagen auf dem Rücken und schaut in den wolkenlosen Himmel, dessen Unendlichkeit ihn fasziniert. Auch diese Unendlichkeitserfahrung aber gefriert ihm schließlich zu einem Bild: Während für Törleß der Himmel so weit weg zu sein scheint, dass die Leiter der Reflexion, die er dorthin zu bauen versucht, ihn niemals erreichen könnte, ist er für David auf einmal „plötzlich sehr nah“, schließt alle anderen Wahrnehmungen aus und hypnotisiert den verstörten Physiker kraft einer „Farbe, die er noch nie gesehen hatte“. Der Himmel füllt auch dann noch sein ganzes Gesichtsfeld aus, als David mit letzter Kraft die Augen schließt: 1003 1004

1005 1006

Kehlmann 2001, S.58. Kehlmann 2001, S.62. In Beerholms Vorstellung wird die Wüste als Ort der Leere dargestellt, über der die dingliche Wirklichkeit als Fata Morgana schimmert: „Wir fuhren eine Zeitlang, und plötzlich, mit einem seltsamen Schrecken, fiel mir auf, dass es genauso war, als ob wir stillständen. Um uns bewegte sich nichts, änderte sich nichts. [...] An einer Stelle sah es aus, als ob der Himmel verkrümmt war, gebogen in eine eigenartige Ausbuchtung. Und davor schwebten Farben. Sie bewegten sich aufeinander zu, verschmolzen, glitten auseinander, zerfielen in bunt glitzernden Rauch, setzten sich neu zusammen, zerfielen wieder, setzten sich wieder zusammen. [...] Ein sinnlos leuchtender Tanz der Schönheit vor der unberührbar blauen, ewig blauen Leinwand.“ Vgl. Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung, Frankfurt a.M. 2000, S.197f. Kehlmann 2001, S.131f. Kehlmann 2001, S.152.

1. Die programmierte Zeit: Daniel Kehlmanns Mahlers Zeit

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„Er bewegte sich nicht. Er versuchte einzuatmen, aber da war keine Luft. Der Himmel umschloss ihn fest. Selbst das Gras stand ganz ruhig, war nicht mehr zu fühlen. Der Himmel rückte näher. Er konnte noch immer nicht atmen. Mit aller Kraft schloss er die Augen. Es half nicht: Der Himmel blieb sichtbar. Ein Anfall von Panik, von hilfloser, brennender Angst lief durch seinen Körper. Es dauerte an, immer noch. Und immer noch. Und immer noch.“1007

Die Überwindung der Zeit scheint hier auf grauenerregende Weise geglückt zu sein: Der Moment hält tatsächlich inne, das Meer der Unendlichkeit „umschließt“ David „fest“. Im Gegensatz zu Törleß, der die Begrenztheit des Verstandes nicht auf Dauer überwinden kann, ist es David nicht mehr möglich, aus der ‚momentanen’ Aufhebung der Zeit in die Wirklichkeit zurückzufinden – erst eine Ohnmacht befreit ihn aus dem Gefängnis der totalen Sichtbarkeit. Für Törleß wird die ‚bildliche’ Unendlichkeit auf ein sprachliches ‚Konzept’ reduziert; für Mahler wird sie zu einer totalen Bilderfahrung, die jede Art von Differenz und begrifflicher Unterscheidung ausschließt. Der Künstlichkeit und Oberflächlichkeit der gesellschaftlichen Welt, die auch in der Wahrnehmung zunehmend unwirklich wird, tritt so die Grenzerfahrung einer konturlosen, vorsprachlichen Erlebnisform, das Horror vacui totaler Weltvernichtung entgegen. Auch diese Erfahrung allerdings erscheint keineswegs als die ‚echtere’ oder ‚ursprünglichere’, denn auch sie ist letztlich wieder nur ein Bild, die reine Oberfläche einer im Augenblick stillgestellten Wirklichkeit. Die Zeit-Krise wird in Kehlmanns Roman nicht mehr durch die ‚Mittelbarkeit’ des begrifflichen Verstandes, sondern durch die ‚Unmittelbarkeit’ von Wahrnehmungen gekennzeichnet, die sich jeder kognitiven Verarbeitung widersetzen. Erst in der „Unio mystica von Erleuchtung und Tod“1008 wird diese Bildlichkeit schließlich doch zu einer neuen, anderen Wahrheit: Im Augenblick des Todes wird David geblendet vom Blau eines Bergsees, das „einen umschließen“ konnte, und verliert im gleichen Zuge seinen begrifflichen Verstand. Den herbeieilenden Valentinov erkennt er schon nicht mehr. „Er hätte gerne jemandem gesagt, dass er begriffen hatte. Aber es war zu spät. Und auch nicht mehr nötig.“1009 ‚Zeit seines Lebens’ jedoch erscheinen die intensiven Augenblicke und Erfahrungen visueller Unmittelbarkeit, mit denen David sich konfrontiert findet, weit eher wie Symptome eines delirierenden Verstandes, der Erinnerung und Wahrnehmung nicht länger zur zeitlichen Einheit einer ‚Geschichte’ zu formen vermag. Anders als in der Literatur um 1900 liegt die Ursache hierfür jedoch nicht in der Distanz, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit bewusst 1007 1008

1009

Kehlmann 2001, S.89f. Vgl. Halter, Martin: Und täglich grüßt der Tanklastzug. Literatur Entropie, irgendwie: Daniel Kehlmanns Roman „Mahlers Zeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 270 (19.11.1999), S.42. Kehlmann 2001, S.151.

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III. Drei Zeit-Lektüren

wird, sondern gerade in der Unmittelbarkeit und Nähe, die Erfahrungen und Erinnerungen nun gleichermaßen auszeichnen.

1.3. Die „innere Notwendigkeit“ des Erzählens Aller temporalen Desorientierung des Protagonisten zum Trotz fügen sich die einzelnen Szenen des Romans immer wieder zu einer Erzählung zusammen, besitzt Mahlers Zeit selbst einen linearen Handlungsverlauf: Ein Mann verfällt einer psychotischen Manie, die ihn in immer groteskere Situationen treibt, und stirbt schließlich an einem Herzinfarkt, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Auch David denkt bis zu seinem Ende weiterhin in narrativen Mustern, trägt seinen Kampf mit den „Wächtern“ der Zeit selbst offenkundig in der Zeit aus: Er muss sich beeilen, wie er Marcel erklärt, um zu gewinnen, denn ‚die Zeit’, die ihm noch bleibt, ist offensichtlich begrenzt.1010 Performativ wird auf diese Weise vorgeführt, dass die Struktur ‚seiner’ Zeit weiterhin die Erzählung ist, dass mithin auch die Widerlegung der Zeit als Verwirklichung einer Erzählung zu sehen ist: Seine eigene ‚narrative Zeit’ kann David erst verlassen, als er stirbt. „Diese innere Notwendigkeit“, erläutert Daniel Kehlmann an anderer Stelle, sei „genau das am Erzählen, was sich nicht erklären und auf keine Formel bringen“ lasse.1011 Im Roman wird diese „innere Notwendigkeit“ durch das Bild des Sternenhimmels veranschaulicht, den der Mensch nicht betrachten könne, ohne Zusammenhänge und Bedeutungen in ihm zu erkennen. Valentinov unterstellt, dass Davids Theorien genau das versucht hätten: eine Erzählung zu erfinden, wo es keine gibt. „Sehen Sie, bald werden wir die Sternbilder sehen, von hier oben geht das sehr gut. Aber wie sie genau wissen, sind es keine Bilder; sie haben nichts mit uns zu tun. [...] Und immer wieder treffe ich Menschen, die das nicht akzeptieren. Die sich lieber verfolgt und angegriffen fühlen, als umgeben von einer gleichgültigen kalten Welt.“1012

Tatsächlich scheint es jedoch eigentlich David zu sein, der versucht, die „gleichgültige kalte Welt“ ohne Zugabe von Bedeutungen zu betrachten. Während des Urlaubs in der Wüste versucht er einmal vergeblich, die Sterne von ihren Mustern zu trennen: „David sah auf [...], und langsam schienen [die Sterne] ein Muster zu ergeben, und dann war es ein anderes Muster und dann wieder ein anderes...“ Ursprünglich besteht Davids Absicht also gerade darin, die ‚künstliche’ Verbindung, die der Mensch zwischen den Bestandteilen der Wirklichkeit herstellt – die Zeit nämlich – zu kritisieren. So argumentiert er wie Valentinov, die „Muster“ hätten in Wirklichkeit „nichts zu bedeuten“, seien bloß „Zufall“, die 1010 1011 1012

Kehlmann 2001, S.85. Kehlmann 2005, S.30. Kehlmann 2001, S.157f.

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Zeit lösche sich aus1013; doch stellt sich der synthetische Zusammenhang auch gegen seinen Willen immer wieder ein. Ebenso wird David sein Beweis der Ungültigkeit der Zeit selbst zu einer Erzählung, die notwendig die Form der Zeit besitzt: Die „innere Notwendigkeit“ lässt es nicht anders zu. Auch die Episoden aus der Vergangenheit Davids zeigen sich in Form von ‚Erzählungen’, die das tatsächliche Geschehen mit Sinn anreichern. Die traumatische Jugenderfahrung, der Tod der Schwester, ist dem Protagonisten nur durch die Vermittlung Dritter, durch eine „zurechtgemachte, unglaubhafte Version vom dem [...], was passiert war“, überhaupt bekannt. Dass er sich inzwischen in der Kenntnis „der Wahrheit“ wähnt, zeigt allerdings, dass auch Erzählungen ‚Codes’ werden können, die unsere Vorstellung der Wirklichkeit ‚programmieren’.1014 Denn auch die vermeintliche ‚Wahrheit’ ist nur eine neue Erzählung; diese aber löst das Trauma aus, an dem David leidet, indem sie ein Bild der massakrierten Schwester heraufbeschwört – ein Bild, das David in dieser Form niemals gesehen hat, das er tatsächlich nur aus dem Traum kennt, und das für ihn dennoch unzweifelhaft Realität besitzt. „David wusste, wie das ausgesehen hatte. Er wusste es genau. Denn in dieser Gestalt traf er sie bis heute in seinen Träumen. Sie erschien in nie nachlassender Deutlichkeit und sprach mit ihm und teilte ihm Dinge mit, die offenbar wichtig waren, die er aber niemals über die Grenze des Aufwachens mitnehmen konnte, in den wachen Teil seines Bewusstseins, in den Tag. So blieb ihm jedesmal nur das Bild ihres Gesichtes und ihres eigenartig schief sitzenden Kopfes und der kreisrunden Linie um ihren Hals; als müssten die Toten ihren beschädigten Körper mitnehmen und sich notdürftig damit arrangieren.“1015

Tatsächlich hat David den Unfall jedoch gar „nicht gesehen“, er war bloß „in der Nähe“. Seine „einzige wirkliche Erinnerung an seine Schwester“ zeigt diese am Leben, an einem warmen, idyllischen Sommertag.1016 Während diese „wirkliche Erinnerung“ in Davids Retrospektion bereits etwas verklärt erscheint, ist das Bild der toten Schwester ein vollständiges Kunstprodukt, ist eigentlich nicht Ursprung, sondern Folge einer Erzählung. Selbst dieser aber wird es nicht gerecht – der Unfall mit dem Straßenreinigungsfahrzeug müsste offenkundig andere Verletzungen verursacht haben als die Enthauptung des Mädchens. So wird Davids Trauma, das vordergründig als Ursache seiner Psychose erscheint, als dessen eigene nachträgliche Konstruktion erkennbar. Wie die physikalischen Formeln scheinen die Erzählungen bei Kehlmann die Wahrnehungs- und Erinnerungsbilder nicht in Worte zu fassen; vielmehr programmieren sie diese offenbar und gehorchen somit eher der Logik eines Computer-Codes als derjenigen referenzieller Zeichen. Schon in Beerholms Vorstellung klärt der Ich-Erzähler 1013 1014 1015 1016

Kehlmann 2001, S.63. Kehlmann 2001, S.43f. Kehlmann 2001, S.45. Kehlmann 2001, S.42.

260

III. Drei Zeit-Lektüren

seinen Leser in diesem Sinne über die Unzuverlässigkeit seiner Ausführungen auf: „Nein, was ich erzählt habe, ist nicht wahr. [...] Ich bin Zauberer“1017. Auch die Textwelt des Romans Mahlers Zeit wird auf diese Weise als ‚Schöpfung’ eines Autors bewusst, den Kehlmann selbst – einmal mehr in Anlehnung an Nabokov – auch als „Gott“ dieser Welt beschreibt.1018 Das Erscheinen der geköpften Schwester gleicht in seiner Struktur den aus den klassisch-modernen Romanen bekannten Epiphanien, in denen ebenfalls der Graben zwischen Gegenwart und Vergangenheit kurzschlussartig überbrückt wird. Im Gegensatz zu diesen ‚besonderen’ Augenblicken aber ermöglicht die ‚falsche Referenz’, die David auch hier wieder erscheint, kein reflexives Verhältnis zur eigenen Biographie, sondern erzeugt einmal mehr den Horror reiner Anwesenheit. Für einen Moment sieht David schon während eines Vortrags, den er lange vor der Entdeckung der Formeln hält, „das Gesicht seiner Schwester mit offenen Augen und durchschnittenem Hals, und sein Aufschrei ging in dem Lärm unter, der im selben Moment losbrach und ihn in diesen Saal, an dieses Pult zurück riss.“1019 Später, in der Nacht, verfolgt ihn dasselbe Bild: Mit offenen Augen sieht er sein hell erleuchtetes, leeres Zimmer vor sich, sobald er aber die Augen schließt, steht die Schwester vor ihm, um ihm unverständliche Zeichen zu geben.1020 Dass die Zeichen unverständlich bleiben, hat dabei durchaus einen Sinn: Die Überführung des Bildes in Bedeutung, die Entschlüsselung der Botschaft misslingt; der kreative Akt des Subjekts, mittels einer ‚Erzählung’ die diffusen Sinneseindrücke sinnvoll zu verbinden, scheitert. Stattdessen hat die Logik sich ins Gegenteil verkehrt: Die Erzählungen, die eigenen wie die fremden, erzeugen nun die Bilder, die David verfolgen; seine eigene sprachliche ‚Programmierung’ ist seinem Bewusstsein nicht mehr zugänglich, sondern bewirkt einen regelrechten Exzess der Einbildungskraft, der jedes reflektierende Verhältnis zur Vergangenheit verhindert. Auch die Irritation der Zeitwahrnehmung, so ließe sich schlussfolgern, entsteht in erster Linie als Konsequenz jener Geschichte vom Ende der Zeit, die David sich selbst erzählt und die die verschiedenen Realitäten, in denen er zunehmend lebt, überhaupt erst erzeugt. Mahlers Zeit konstruiert auf diese Weise ein Paradox: Einerseits demonstriert der Roman die ‚innere Notwendigkeit’ des Erzählens und der Zeit, andererseits 1017 1018

1019 1020

Kehlmann 2000, S.245. „Auf die beliebige Frage, mit welcher Figur ein Leser sich denn identifizieren solle, antwortete Nabokov: mit keiner Figur, sondern mit dem Schriftsteller. Man könnte die Essenz der sogenannten Klassischen Moderne nicht besser formulieren. Während der vorflaubertsche Autor ein räsonierender und kommentierender, den Leser von der Seite anredender, dem Geschehen mit manchmal weniger Aufmerksamkeit folgender Begleiter war, ist sein Nachfolger ein unerreichbares, alle Handlungsfäden kontrollierendes Wesen, das sich nicht auffinden lässt und sich nie äußert, obwohl nichts geschieht, das nicht in seiner Macht und Absicht läge, mit anderen Worten: Gott.“ Kehlmann 2005, S.137. Kehlmann 2001, S.82. Kehlmann 2001, S.113.

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erzählt er gleichzeitig die Geschichte vom Niedergang der ‚narrativen Zeit’, die als veraltete ‚Programmierung’ zunehmend durch neue Strukturen ersetzt wird. Auch für den Romantext selbst ist ein stetiges Schwanken zwischen chronologischer Ordnung und den leitmotivischen „Scherben“ symptomatisch, in die die Handlung immer wieder zu zerspringen droht: Die 16 Kapitel des Textes lassen eigentlich keine wirkliche Struktur der Erzählung entstehen, sondern bilden eher Zäsuren zwischen auseinandergefallenen Gegenwarten, in denen sich David – ähnlich wie Cliehm in Michael Wallners Cliehms Begabung – immer wieder fragen muss, wie er überhaupt an die jeweiligen Orte der Handlung gekommen ist. Merkwürdig zirkuläre Strukturen entrücken die Handlung darüber hinaus ins Surreale: Marcel etwa geht nach dem Tod Davids dem Anschein nach durch die Scherben derselben zerstörten Straßenlaterne, durch die am Anfang der noch nicht ganz erwachte David aus seinem Fenster sich selbst gehen sieht. Der Traum, der auf der ersten Seite beschrieben wird, handelt von einem Mann in grauem Mantel, mit Hut und Aktenkoffer, der schnell auf ihn zukommt und sich dabei verwandelt, zuerst in eine Frau, dann in ein kleines Mädchen mit Insektenflügeln. Als David am Ende des Romans stirbt, sieht er wieder einen Mann auf sich zueilen – Valentinov nämlich –, und auch ein kleines Mädchen ist Zeuge der Situation – und wieder trägt es Insektenflügel.1021 Die ‚narrative Zeit’, die den Kampf Davids mit den Wächtern der Zeit strukturiert, wird so beständig durch die Traumlogik einer ‚anderen Zeit’ irritiert, deren verschachtelte und zirkuläre Strukturen an die literarischen Strategien der klassischen Moderne erinnern. Alles könnte hier, wie durch das doppelte Erwachen Davids am Beginn des Romans bereits nahegelegt, wie in Beer-Hofmanns Der Tod Georgs auch nur ein Traum – oder der Traum in einem Traum sein; und nach Aussagen Kehlmanns besteht in einer solchen „Vermischung von Traum und Wirklichkeit“ tatsächlich das Grundkonzept seiner frühen Romane. 1022 Der augenfällige Unterschied zu den literarischen Zeitexperimenten um 1900 jedoch besteht darin, dass die ‚andere’ Zeiterfahrung hier nicht mehr der Innenzeit des Subjekts entspricht: Sie hat sich zu einer neuen Realitätsstruktur verdichtet, die selbst der brillanteste Physiker nicht mehr zu verstehen in der Lage zu sein scheint. Diese Vermischung bleibt bis über Davids Tod hinaus bestehen: Tatsächlich zeigt Kehlmanns Roman die Wirklichkeit zuletzt als „unsicheren Ort“. Das gesamte Raum-Zeit-Kontinuum, so scheint es hier, ist nichts als eine gigantische Illusion, die über der Wüste schwebt; und sie wird nur so lange Geltung besitzen können, wie die Menschen sie als ihre Wirklichkeit akzeptieren. Die nur im Schwarm agierenden Tauben, die David einmal vor dem Fenster beobachtet, lassen diese Abhängigkeit der Wirklichkeit vom ‚Mitmachen’ aller deutlich werden.1023 ‚Zeit’ erscheint auf diese Weise als Pars pro toto aller unhinterfragten Prämissen, auf die wir uns kollektiv ‚programmiert’ haben. Die Möglichkeit al1021 1022 1023

Vgl. Kehlmann 2001, S.7, S.148 & S.153. Vgl. Gollner 2005, S.37. Kehlmann 2001, S.103f.

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III. Drei Zeit-Lektüren

lerdings, unsere ‚Programme’ umzuschreiben, erscheint aus der Perspektive Kehlmanns – anders als in der Literatur um 1900 – durchaus als gegeben – und zugleich als wenig wünschenswert. So kann es auch durchaus als berechtigt gelten, dass die umstürzlerischen Experimente der Wissenschaft in Mahlers Zeit im Giftschrank der Universität landen.1024 Wenn Kehlmanns Roman an der Oberfläche zwar durchaus die klassische literarische Kritik am konventionellen Linearzeit-System zitiert und fortführt, so zeigt er untergründig eben dieses System auch als angreifbar und brüchig. Denn was, wenn die Konventionen tatsächlich nicht mehr bestehen, wenn es sie auf einmal wirklich gibt, die „Sprünge und Risse [...] im Gewebe; wenn das Netz löchrig ist?“1025 Daniel Kehlmann lässt diese Frage am Ende offen, den Disput zwischen Marcel und Valentinov unentschieden. Die Zweifel an der ‚vereinbarten Welt’ aber, die sich am Ende des Romans vom Physiker auf den Autor Marcel – und nach Möglichkeit auch vom Autor Kehlmann auf den Leser – übertragen, repräsentieren auf diese Weise sowohl die ‚moderne’ Suche nach einer ‚anderen’, echteren Wirklichkeit, die David antreibt und die Marcel fortführen wird, als auch die Verunsicherung, die eine ‚postmoderne’, pluralisierte Lebenswirklichkeit, die sich als Ziel dieser Suche ausgibt, im Subjekt auszulösen vermag. Auch die Literatur selbst findet sich in dem Dilemma, sich notgedrungen auf eine dieser beiden Seiten schlagen zu müssen. Dass dabei einiges auf der Strecke bleibt, zeigt sich in Mahlers Zeit nicht zuletzt an Marcel, der selbst schreibt, dessen Arbeit sich im Gegensatz zu Davids hochtrabenden Plänen aber eher bescheiden ausnimmt: Das Buch, das er nach der gemeinsamen Afrikareise verfasst – und das ebenso wie die Formeln des Freundes keinen Erfolg hat –, kennzeichnet sich durch eine Erzählform, in der auf alle größeren Zusammenhänge verzichtet, die eine ‚große’ durch viele ‚kleine’ Geschichten und Beobachtungen ersetzt wird. „Bald nach der Rückkehr aus Afrika veröffentlichte Marcel ein dünnes Buch. Es hieß Abenteuer und war eine Sammlung von kurzen Beschreibungen alltäglicher Dinge: Eine Fahrt mit der U-Bahn (die Gerüche von Pizza, Fäulnis und Metall, der Dreck, das gelbe Staublicht), die Mahlzeit in einem Restaurant unter den plätschernden Akkorden von Schlagermusik, der Einkauf von Schuhen (am Anfang immer, jawohl immer, ein Paar, das einem nicht gefällt, und erst als drittes eines, das man gern hätte, aber es ist eine halbe Nummer zu klein), die allerersten Gedanken morgens zwischen dem über eine halbe Minute gedehnten Moment des Aufwachens und dem Öffnen der Augen, wenn die Geräusche noch ein Teil des Traumes sind und es undenkbar scheint, tatsächlich aufzustehen. Auch das Gefühl, verirrt zu sein: Auf einmal sehen alle Straße einander ähnlich und furchtbar unähnlich jeder Straße in der Erinnerung, und es erwartet einen an jeder Ecke dieselbe Gemüsehandlung mit demselben winselnden Pudel neben der Tür. Und all die ärgerlichen, überflüssigen und doch 1024 1025

Kehlmann 2001, S.34. Kehlmann 2001, S.24.

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seltsam beglückenden Schwierigkeiten bei der Reparatur eines alten Fahrrades mit einer gerissenen, von Rost angefressenen Kette.“1026

Wie schon der Titel des Buches belegt, zeichnet sich dieses episodische Erzählen durch eine große Lebendigkeit aus. Anders als David verfolgt Marcel gar nicht das Anliegen, die Realität in ihren Grundfesten zu erschüttern, Konventionen zu durchbrechen oder ‚andere’ Zeiten und Wirklichkeiten zu erschaffen. Seine Prosa spiegelt das ‚In-der-Welt-Sein’ des Menschen, seine unhintergehbare Verbundenheit mit jener Realität, die David fremd geworden ist. Dabei verzichtet sie gleichzeitig auf das ‚Erzählen’ größerer zeitlicher Zusammenhänge. Auch bei Marcel wird unterschwellig eine Einschränkung der zeitlichen ‚Orientierung’, eine zunehmende Funktionsuntüchtigkeit der „Straßen“, der zeitlichen Abläufe deutlich, wird mit leiser Nostalgie sogar heimlich noch einmal der verlorenen festen Strukturen gedacht: Die gerissene Kette ist zwar rostzerfressen, ihre Reparatur aber doch „seltsam beglückend“. Insgesamt aber erinnert die Haltung Marcels an den resignierten Törleß und seine Einsicht in die Notwendigkeit, die bloß vereinbarte Welt akzeptieren zu müssen. Daniel Kehlmann selbst allerdings folgt diesem ästhetischen Konzept offenkundig nicht. Seinen Roman Mahlers Zeit kennzeichnet weniger Bescheidenheit als vielmehr der Versuch, auf wenigen Seiten über eine Reflexion der ‚Zeit’ eine komplexe literarische Meta-Diskussion zu eröffnen, mit der auf das Spannungsfeld zwischen Mimesis und Anti-Mimesis, Text und Code, Zeichen- und Bildmedien, ‚narrativer’ Ordnung und ‚postmoderner’ Pluralisierung aufmerksam gemacht wird, in dem Literatur sich heute positionieren muss. Wie in den Romanen um 1900 wird hier das Linearzeitmodell kritisiert und versuchsweise durch eine neue Zeitstruktur, durch ‚Mahlers Zeit’ ersetzt. Im Gegensatz zu den Texten um 1900 jedoch schießt die Rebellion über das angestrebte Ziel offenkundig hinaus: Die lineare Ordnung restauriert sich nicht mehr von selbst, sondern muss durch das Individuum mühsam aufrecht erhalten werden, und neben die ‚narrative Zeit’, die sich nun als „innere Notwendigkeit“ herausstellt, treten gleichberechtigt die Muster und Verknüpfungen einer ‚neuronalen Zeit’. In diesen aber kehren die Epiphanien, die den Romanhelden um 1900 nur in seltenen Augenblicken zuteil wurden, auf unheilvolle Weise wieder.

2. Schattenzeiten. Helmut Kraussers UC In den Romanen Helmut Kraussers ist die Auseinandersetzung mit philosophischen Themen keine Seltenheit. Schon Titel wie Thanatos und Eros1027 weisen darauf hin, dass der Autor die großen Mysterien der Menschheit nicht scheut. 1026 1027

Kehlmann 2001, S.69. Vgl. Krausser, Helmut: Thanatos. Das schwarze Buch, München 1996, sowie: Krausser, Helmut: Eros, Köln 2006 (a).

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III. Drei Zeit-Lektüren

Die Zeit aber scheint in seinem Werk einen besonderen Stellenwert zu besitzen: Vorarbeiten und Gedanken zu dem Roman UC – „Ultrachronos“ – finden sich bereits in früheren Werken und Tagebüchern; die Arbeit an dem Roman wird begleitet von Schaffenskrisen und Selbstzweifel, aber auch von euphorischen Zuständen, und nach der Fertigstellung erklärt Krausser das Buch unumwunden zu seinem Hauptwerk: „UC ist die Summe meiner Bücher. Alles vorher war Schleichweg dorthin, und blieb auf halber Strecke liegen, war Vorrats-, Munitionsdepot. Ein Biwak gegen diesen Palast.“1028 So wundert es nicht, dass UC der umfangreichste und komplexeste aller hier beispielhaft behandelten Zeitromane ist. Sein Protagonist, Arndt Hermannstein, wird als ein erfolgreicher, zur Dekadenz neigender Dirigent vorgestellt, der retrospektiv die Geschichte seiner temporalen Desorientierung erzählt. Da auch bei Krausser aber Erzählen identisch ist mit der Herstellung zeitlicher Strukturen, ist dieses Anliegen in sich widersprüchlich, weshalb nicht nur die feste Position des Protagonisten in der Zeit, sondern auch seine Glaubwürdigkeit und Autorität als Erzähler im Fortgang der Handlung immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wird. Die dramatische Entwicklung wird so durch einen Verfallsprozess der narrativen Ordnung nicht nur begleitet, sondern regelrecht angetrieben: In UC müssen nicht nur der Held, sondern auch seine Geschichte, die ‚narrative Zeit’ selbst ums Überleben kämpfen. Aufgrund seiner Heirat mit der Milliardärstochter Laura Feuer führt Arndt eigentlich ein sorgloses Leben. Die Verwirrungen beginnen, als ihm ein Schulfreund telefonisch mitteilt, dass die Polizei die Gebeine der vor Jahrzehnten verschwundenen Klassenkameradin Marita gefunden habe. Die Tote nämlich glaubt Arndt nur wenige Wochen zuvor noch auf einem Klassentreffen gesehen zu haben. Nun wird er auf einmal verdächtigt, vor Jahren an ihrer Ermordung beteiligt gewesen zu sein. Arndt kann sich an die fragliche Nacht jedoch nicht genau erinnern, und auch sonst weist sein Gedächtnis merkwürdige Lücken auf. Seine Erinnerungen lassen sich immer weniger in einen konsistenten Zusammenhang bringen; die verschiedenen Bilder und Episoden treten vielmehr miteinander in Konflikt, scheinen sogar zu vollkommen unterschiedlichen Lebenswegen zu gehören, die alle wie Parallelwelten nebeneinander existieren. Dem ersten Bruch folgen nämlich schon bald weitere: Eine ungewöhnlich harmonische Nacht mit seiner Frau Laura etwa, die nun auf einmal behauptet, nie mit ihm verheiratet gewesen zu sein, scheint bei ihrem nächsten – gewohnt katastrophalen – Aufeinandertreffen niemals stattgefunden zu haben; und eine Londoner Prostituierte hat außergewöhnliche Ähnlichkeiten mit einem sehr hübschen Mädchen aus der ehemaligen Parallelklasse Arndts, das aber eigentlich Ärztin geworden ist. Bald begreift der Dirigent, dass sein Gedächtnis ihm keinen sicheren Zugang zur Vergangenheit mehr bietet. Die Ereignisse, die er sich in Erinnerung ruft, gewinnen zunehmend an Eigenständigkeit, werden zu neuen gegenwärti1028

Krausser, Helmut: März. Tagebuch des Märzes 2003, München 2003 (c), S.22.

2. Schattenzeiten. Helmut Kraussers UC

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gen Erlebnissen, wodurch die Vergangenheit im Vollzug ihrer Rekonstruktion beständig verändert wird. Lassen sich erste Irritationen noch durch den zerrütteten Gemütszustand Arndts oder durch Irrtümer seiner Mitmenschen mühsam erklären, findet sich der Dirigent im Fortgang der Handlung zunehmend gezwungen, die Widersprüchlichkeit seiner paradoxen Erlebnisse und Erinnerungen anzuerkennen. Hinsichtlich des Mordfalls hat das fatale Folgen, denn dem verwirrten Dirigenten drängt sich nun der Verdacht auf, er könne, ohne noch davon zu wissen, möglicherweise tatsächlich in die Angelegenheit verwickelt sein. Hals über Kopf ergreift er deshalb die Flucht, wodurch er aber ins Visier polizeilicher Ermittlungen gerät. Gleichzeitig begibt er sich auf eine ‚Suche nach der verlorenen Zeit’1029, befragt Freunde nach den Ereignissen, an die er sich nicht erinnern kann, versucht die verschiedenen Episoden seines Lebens zu ordnen und eine glaubhafte Erklärung für seine eigentümliche „Chronopathologie“1030 zu finden. Dabei gerät er an den zwar charismatischen, jedoch reichlich undurchsichtigen und verschrobenen Schriftsteller Samuel Kurthes, der Arndt auf einen Vortrag einlädt, der explizit von ‚der Zeit’ und ihren nachhaltigen Veränderungen, implizit damit aber von Arndts Situation handelt. Überhaupt scheint Kurthes viele intime Details von Arndt zu kennen. Dieser ist zunächst skeptisch, folgt dem eigenartigen Schriftsteller jedoch dennoch, bis dessen Hilfe aufdringliche Züge anzunehmen beginnt. Kurthes, der selbst im Auftrag ominöser ‚höherer Mächte’ zu handeln scheint, gewinnt im Fortgang der Handlung nach und nach Kontrolle über Arndt, bewirkt durch geschicktes Taktieren dessen vollständige Isolation und avanciert schließlich – nach dem Tod des Dirigenten – sogar zu seinem Nachlassverwalter. Bis dahin verwickelt sich Arndt immer weiter in widersprüchliche Begebenheiten, die ihn schließlich unweigerlich als mehrfachen Mörder dastehen lassen. Im Fortgang der Handlung wird zudem deutlich, dass Kurthes selbst ein Buch über Arndt schreibt. Die anfangs streng aus der Ich-Perspektive Arndts erzählte Handlung wird außerdem zunehmend unterbrochen durch Einschübe, Korrekturen und Kommentare anderer Erzählinstanzen. Während dem Leser zunächst also die Vermutung nahegelegt wird, der Roman gebe die Aufzeichnungen Arndts wieder, werden mit der Zeit verschiedene andere Möglichkeiten suggeriert: So könnte UC etwa der auf Grundlage von Arndts Notizen editierte 1029

1030

Richard Kämmerlings hebt in seiner Rezension den Proust-Bezug hervor, ohne zu erkennen, dass die Epiphanien bei Krausser völlig anderer Natur sind. Für ihn ist Arndt nur ein weiterer „Vergangenheitssüchtiger“, der seine „Riesenbreze“ im Biergarten „in den Maßkrug“ taucht und dem dann „die Erinnerungen wie beim Proustschen Teetrinken“ vor Augen treten. Vgl. Kämmerlings, Richard: Ich spüre nur, dass irgendwas mit Zeigern nach mir schmeißt. Doppelknoten im Zeitstrahl: Helmut Krausser bittet in seinem neuen Roman zum Klassentreffen im Paralleluniversum, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 75 (29.3.2003), S.46. Der Begriff entstammt einem Aufsatz von Georg Christoph Tholen. Vgl. Tholen, Georg Christoph: Zäsuren der Zeit, in: Bieber, Hans-Joachim / Ottomeyer, Hans / Tholen, Georg Christoph (Hgg): Die Zeit im Wandel der Zeit, Kassel 2002, S.405-429, S.406.

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III. Drei Zeit-Lektüren

oder sogar frei erfundene Roman des Autors Samuel Kurthes sein, der diese Interpretation verschiedentlich selbst nahezulegen bemüht ist – etwa wenn er erklärt, warum er sich in seinem Roman gegen einen „auktorialen Erzähler“ und für die „Undurchsichtigkeit“ eines Ich-Erzählers entschieden habe.1031 Auch könnten die dargestellten Verwicklungen identisch sein mit dem „Ultrachronos“ Arndts, mit jenem Film des eigenen Lebens, den Kurthes zufolge Sterbende im Moment ihres Todes zu sehen bekommen. Die Frage nach der Täterschaft im Mordfall wird im Zuge dieser Verwicklung der Erzählebenen in eine generellere Frage nach Autorenschaft insgesamt überführt: Den Leser beschäftigt zunehmend das Problem, wessen Text, wessen Darstellung er gerade liest. Da das Buch allerdings Szenen enthält, die nach dem Tod Arndts und dem Erscheinen von Kurthes' Buch stattfinden – Kurthes wird viele Jahre später zu den Ereignissen um Arndt Hermannstein von einer jungen Journalistin interviewt und muss sich ebenso wie vormals Arndt mit den Spätfolgen einer für abgeschlossen gehaltenen Vergangenheit auseinandersetzen –, ist zuletzt offensichtlich, dass keine Figur der Handlung als fiktiver Autor des Textes in Betracht kommt. Das – freilich ironische – Auftreten einer höheren Macht, die den wenig übersinnlichen Vornamen „Helmut“1032 des realen Autors Krausser trägt, führt diese Problematik zuletzt ad absurdum. Die Komplexität des verschachtelten Romans lässt es nicht zu, sein temporales Verwirrspiel auf ein einziges Konstruktionsprinzip zu reduzieren.1033 Wie schon bei Kehlmann fällt jedoch auf, dass der Roman äußerlich eine weitgehend symmetrische Struktur besitzt: Er beginnt mit einem „Preludio/Postludio“, in dem die letzten Stunden im Leben des Arndt Hermannstein in einem durch genaue Uhrzeiten dargestellten Countdown zu Ende gehen. Arndt sitzt auf dem Balkon eines griechischen Hotels, beobachtet eines seiner eigenen Appartements, das sich im Nachbarhaus befindet und in dem die Polizei nach ihm sucht, und kündigt seine verzweifelte und unvollständige Bilanz an, die den nachfolgenden Text als Versuch einer Rekonstruktion des Protagonisten selbst ausweist: „Fangen wir mit dem Anfang an. Wo ist der?“1034 Diesem Auftakt folgen vier Bücher, in denen sich die verschiedenen Lebensphasen Arndts und einige weitere Episoden, die zu der Zeit nach seinem Tod gehören, immer stärker kaleidoskopisch verschränken. Die vier Teile sind durch Unterkapitel strukturiert, die zumeist in sich abgeschlossene Sequenzen und Sinneinheiten wiedergeben; die Länge dieser Unterkapitel variiert zwischen wenigen Zeilen und vielen Seiten. Die zahlreichen Einschübe allerdings, die andere Erzählinstanzen in den Text einbringen, gehen über diese Ordnungsmuster hin1031 1032 1033

1034

Krausser 2003, S.420. Krausser 2003, S.475. Helmut Krausser selbst bemerkt vor der Veröffentlichung von UC: „Das Schlimmste an der Rezeption zu UC wird werden, dass jeder der Geschichte auf den Grund gehen und eine Logik präsentieren will, die dem Geheimnis des Buches nicht entfernt nahe kommen kann. Also blasse Simplifikationen.“ Krausser 2003 (c), S.126. Krausser 2003, S.9.

2. Schattenzeiten. Helmut Kraussers UC

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weg: So werden die Ausführungen Arndts immer wieder unvermittelt von anderen Figuren, vor allem von Kurthes, kommentiert und beurteilt, und im vierten Teil des Romans erscheint ein auktorialer Erzähler, der die Handlung auch Jahre nach dem Hinscheiden Arndts noch weiterverfolgt. Hinzu kommen editorische Notizen, die auf ungenaue oder gestrichene Passagen verweisen, anonyme Kommentare in verschiedenen Schriftgrößen, wörtliche Wiederholungen ganzer Absätze sowie Hans-Christian Andersens in Fragmenten über den Text verstreutes Märchen Der Schatten, das dem Anschein nach als Lektüreerfahrung Arndts aus dessen Erinnerung in den Romantext übergesiedelt ist und ebenfalls die Grenzen der Kapitel und Bücher des Romans überschreitet. Schon auf formaler Ebene lässt sich so ein Widerstreit zwischen einer vorausgesetzten chronologischen Ordnung und radikalen Elementen ausmachen, die diese Ordnung zunehmend unterlaufen. Dem korrespondiert der geographische Schlingerkurs des Protagonisten: Arndt besucht während seiner Odyssee unter anderem London, Berlin, München, Paris, Kreta, Las Palmas und die Toskana und trifft dabei immer mehr unterschiedliche Versionen der „fünfzehn bis zwanzig Personen“, die für sein Leben „wichtig sind“1035. Die zunehmende Konfusion der zeitlichen Verhältnisse zeigt sich auf diese Weise als erzählerisches Problem, als Irritation der ‚narrativen Zeit’ und ihrer Bedingungen. Schon im ersten Buch, in dem Arndts Autorität als Erzähler seines Lebens noch weitgehend unbeeinträchtigt ist, ist das zeitliche Gefüge ausgesprochen komplex: Bereits nach 80 Seiten gibt es nicht weniger als drei Erzählebenen, von denen aus immer wieder andere Episoden erinnert werden, die sich vor oder zwischen diesen Zeitebenen abgespielt haben. So erscheint die Handlung des Preludios als Rahmenhandlung, in der Arndt seine Erinnerungen zu Papier bringt, beginnend mit einem Aufenthalt in London, wo er ein Engagement bekommen hat, aber skandalträchtig die Arbeit verweigert. Während dieser Episode tritt mit dem Anruf des Schulfreundes, der von der gefundenen Leiche Maritas berichtet, „ein Rätsel“ in Arndts Leben1036: Die Information widerspricht der detailliert geschilderten Erinnerung an ein Klassentreffen in München, auf dem Arndt Marita getroffen zu haben meint. Diese neue Zeitebene wird daraufhin selbst wieder zum Ausgangspunkt für diverse andere Erinnerungen, etwa an die Schulzeit oder an andere Episoden aus Arndts Leben. Im Gegensatz zu konventionellen literarischen Rückblenden gewinnen die unterschiedlichen Ebenen in UC jedoch eine Art Eigenleben: So werden einzelne Szenen unvermittelt und unkommentiert in Kursivschrift zwischen die Reflexionen Arndts montiert, dem wiederum das ‚Auftauchen’ aus den Tiefen seiner Erinnerung in die Gegenwart nicht mehr selbstverständlich gelingen will:

1035 1036

Krausser 2003, S.9. Krausser 2003, S.28.

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III. Drei Zeit-Lektüren „Warum bin ich noch immer in München? Seltsam. Ich öffne die Augen und sitze auf der Ottomane in meiner Pariser Wohnung Rue Bonaparte.“1037

Seine Flucht vor der Polizei führt Arndt im zweiten Teil des Romans schließlich zu Anne, die er ebenfalls noch aus Schulzeiten kennt und mit der er nach Paris reist. Anne stellt Nachforschungen über die Vergangenheit Arndts an und stößt auf Claudia, eine Berliner Studentin, mit der der Dirigent liiert war, die aber spurlos verschwunden ist. Arndt kann sich nur noch an Teile dieser Affäre erinnern: Sein Gedächtnis kann zwar einzelne Szenen lebensecht in die Gegenwart rufen, der chronologische Zusammenhang aber geht gleichzeitig mehr und mehr verloren. Arndts Vergangenheit wird so für ihn selbst zur Terra incognita, die Erinnerungsarbeit zu einer Spurensuche, die jedoch nur kryptische Details ans Tageslicht befördert. Jeder Versuch der Herstellung eines Zusammenhangs wird auf diese Weise zu einem spekulativen Akt. Während Arndt das Seminar von Kurthes besucht, den er inzwischen durch Anne kennengelernt hat und an dessen Seite er seine Jugendliebe Ala vorfindet, fliegt Anne, von Kurthes angestiftet, nach Berlin, um in die Wohnung einzubrechen, die Arndt und Claudia dort geteilt haben. Bis auf einen mysteriösen Schlüssel jedoch findet sie dort nichts. Bereits kurz vorher – sinnfälligerweise während einer alkoholbedingten Ohnmacht Arndts – werden erstmals in anderen Schriftarten und -größen Kommentare und Korrekturen von Kurthes in den Text eingeflochten, der von nun an laufend die Aufzeichnungen Arndts beurteilt. Zusätzlich treten weitere Rätsel in Arndts Leben: So taucht zum Beispiel während einer Besprechung mit Walter, dem gemeinsamen Anwalt der Hermannsteins, bei der die bevorstehende Scheidung des zerstrittenen Paares geregelt werden soll, auf einer Vermögensaufstellung ein Boot auf, das nach Auskunft Walters von Arndt gekauft wurde, an das dieser sich aber nicht erinnern kann. Arndts Vergangenheit wird offenbar mehr und mehr zum „Möglichkeitsraum“, der sich „ebenso schnell wie die Gegenwart“ verwandelt1038: „Es könnte sein, dass sich manches, was nie geschehen ist, als virtuelle Variante meiner Existenz konstituiert. Das ist vielleicht die Lösung: Alles, dessen ich irgendwann einmal fähig gewesen wäre, ist nachträglich faktisch geworden, gleichberechtigt mit dem tatsächlichen Geschehen.“1039

Der dritte, kürzeste Teil des Romans schildert in erster Linie ein Seminar, das Kurthes auf Gran Canaria gibt und an dem nahezu alle wichtigen Personen der Handlung teilnehmen: Neben Ala und Anne, die Arndt inzwischen verlassen hat, trifft der Dirigent auch hier wieder auf Laura, seine Frau, und Walter, seinen Anwalt, die inzwischen ein Paar geworden sind und ebenfalls gut mit Kurthes bekannt zu sein scheinen. Es stellt sich heraus, dass Kurthes Laura sogar 1037 1038 1039

Krausser 2003, S.76. Krausser 2003, S.202. Krausser 2003, S.46.

2. Schattenzeiten. Helmut Kraussers UC

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zur Scheidung überredet hat. Arndt, der sich von allen seinen Frauen und Freunden im Stich gelassen fühlt und die mehrtägige, im Freien stattfindende Veranstaltung als quälende „esoterische Kaffeefahrt“1040 wahrnimmt, sucht das Gespräch mit Kurthes, der nun immer deutlicher als abgehobene, nahezu übermenschliche Figur erscheint. Arndt selbst vermutet sogar, dass er allein durch den lenkenden Einfluss des ominösen Esoterikers in seine prekäre Lage geraten ist, zumal er sich nach langwierigen Recherchen inzwischen einigermaßen sicher ist, weder an dem Verschwinden Claudias noch an dem Tod Maritas Schuld zu sein. Kurthes unterstützt diesen Verdacht, indem er selbst – wiederum in Einschüben – einige seiner intriganten Strategien erläutert, mit denen er Informationen über den Dirigenten in Erfahrung gebracht und gegen diesen ausgespielt hat.1041 Als Arndt erfährt, dass Kurthes darüber hinaus gerade ein Buch schreibt, in dem er seinen Protagonisten dem „Hyperchronos“ aussetzt, wirft er ihm zuletzt ganz direkt vor, für die Unstimmigkeiten in seinem Leben verantwortlich zu sein: „Sie sind sich mit dem Handlungsverlauf und den Nebenfiguren noch nicht sicher, stimmts? Manchmal entscheiden Sie sich um, oder schreiben Varianten ein und desselben Geschehens. Ist es so?“1042

Der vierte und letzte Teil des Romans schließlich verfolgt parallel mehrere Erzählstränge: Zum einen wird Kurthes viele Jahre nach der Veröffentlichung seines Romans über Arndt und nach dessen Dahinscheiden in Griechenland von einer jungen Journalistin namens Kerstin interviewt, die ihm eine Mitschuld am Tod des Dirigenten nachzuweisen versucht. Zum anderen wird geschildert, wie Kurthes zusammen mit Ala, Anne und seinem homosexuellen Jünger Mucos in einer ehemaligen Villa Arndts in Italien lebt und dort zu einem Zeitpunkt, an dem Arndt noch am Leben, jedoch verschollen ist, seinen Roman über „ArndtHermann Stein“ verfasst.1043 In beiden Episoden erscheint der vorher übermächtige Kurthes nun selbst als Werkzeug einer höheren Gewalt: So telefoniert er regelmäßig mit einem „Chef“, der ihm zwar auf magische Weise Fähigkeiten verleihen kann – Kurthes lernt aus dem Nichts Klavierspielen und Italienisch –, der ihm aber auch Einschränkungen auferlegt und ihn in ein Abhängigkeitsverhältnis zwingt. Auf mysteriöse Weise verschwindet Kurthes zudem unauffindbar, wenn er zu schreiben vorgibt. Der zunehmend exzentrische Schriftsteller trennt sich nun Schritt für Schritt von fast allen seinen Begleitern, die offenbar nur Werkzeuge zur ‚Verwirklichung’ seines Romanprojekts waren. In einem dritten Erzählstrang wird auch der weitere Werdegang des Dirigenten verfolgt. Wieder in Berlin untergetaucht, trifft er auf eine andere ‚Versi1040 1041 1042 1043

Krausser 2003, S.288. Vgl. Krausser 2003, S.328ff. Krausser 2003, S.310. Krausser 2003, S.407.

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III. Drei Zeit-Lektüren

on’ seiner Jugendliebe Julia, die arbeitslos auf einem Bauwagenplatz wohnt und sich kaum an ihn erinnert, auch niemals mit ihm zusammen gewesen sein will und deshalb den Spitznamen Ala, den Arndt für sie erfunden hat, nicht kennt. Diese zweite Julia hat allerdings eine Tochter mit einem mysteriösen Schriftsteller gezeugt, den Arndt als Kurthes identifiziert – die Tochter heißt Kerstin und ist vermutlich mit jener Kerstin identisch, die Kurthes Jahre später interviewen wird. Arndt hilft Julia beim Versuch, geschmuggelte Zigaretten von einem Boot in der Spree zu stehlen, wird dabei von der Polizei gestellt, flüchtet auf ein anderes Boot, das er auf einmal als sein eigenes erkennt und zu dem der Schlüssel passt, den Anne in Claudias Wohnung gefunden hat. Der Polizei entwischt, werden die beiden von den Zigarettenschmugglern aufgespürt, wobei Julia erschossen wird. Der Mord wird Arndt angehängt, der mit falschem Ausweis nach Kreta flüchtet, wo sich die Szenen aus dem „Preludio“ wiederholen und wo Arndt schließlich, vom Balkon stürzend, den Tod findet. Im letzten Buch nähern sich die beiden Antagonisten Kurthes und Arndt auf merkwürdige Weise einander an. Arndt lässt sich seinen falschen Ausweis mit dem Namen des Schriftstellers ausstellen; dieser betont im Interview mit Kerstin seine innere Nähe und Verwandtschaft mit dem Dirigenten. Nachdem alle Figuren bis auf Ala und Kurthes verschwunden sind – in kurzen Zusammenfassungen wird jeweils beschrieben, wie ihr Leben weitergeht und wie jeder sein Ende findet –, stellen sich die beiden Protagonisten zuletzt als zwei literarische Alter egos eines einzigen Autors, eines anderen Samuel Kurthes heraus, der immer schon mit Ala zusammen gewesen ist und die ganze Geschichte um seine eigenen Erfahrungen herum erfunden hat. Den Schlüssel zu dieser Interpretation gibt Ala selbst: Wie aus einer flüchtigen Bemerkung hervorgeht, verbrachte sie den Urlaub in der Provence, der für Arndt ein zentrales Erlebnis darstellte, in Wirklichkeit mit Kurthes.1044 Beide Figuren, Arndt und Kurthes, sind demzufolge zwei Aspekte desselben Schriftstellers, der die fiktiven Erinnerungen der einen benutzt, um mittels der anderen neue, literarische Realitäten zu erschaffen. „Die ganze Welt ist meine Fiktion“, gibt Kurthes auch unumwunden in dem Interview mit Kerstin zu.1045 Dass „Samuel Kurthes“ anagrammatisch nahezu identisch ist mit „Helmut Krausser“, ergibt so am Ende durchaus Sinn. Doch ist auch diese Auflösung nicht komplett: Die letzte Szene des Romans nämlich liegt zeitlich noch vor dem Interview, das Kurthes seiner eigenen Tochter Kerstin gibt – und das lange nach der Veröffentlichung seines Romans stattfindet. Auf diese Weise behält die Kunstwelt des Romans bis zum Ende ein Eigenleben, über das kein Autor (außer dem wirklichen) endgültig zu regieren vermag. Alle Figuren, die sich im Fortgang der Handlung als mögliche Autoren des Romantextes anbieten, disqualifizieren sich zuletzt immer wieder durch ihre eigene Zugehörigkeit zu der Romanwelt, die sie selbst zwar teilweise 1044 1045

Vgl. Krausser 2003, S.477. Krausser 2003, S.406.

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miterschaffen haben, über die sie sich allen Bemühungen zum Trotz aber dennoch nicht zu erheben in der Lage finden.

2.1. „Virtuelle Schizophrenie“ Wie in vielen neueren Zeitromanen wird bei Helmut Krausser die temporale Desorientierung zunächst durch den Protagonisten selbst als Psychopathologie interpretiert. Durch den verdrängten und nun wieder ans Tageslicht gebrachten Mord an Marita scheint auch hier eine traumatische Struktur freigelegt zu werden, bei der ein ehemaliger Mörder sich gegen die Erkenntnis der Vergangenheit wehrt, indem es diese ‚verrückt’. Das Eingeständnis des Irrsinns, so reflektiert der Dirigent selbst, wäre „für alle, auch für mich, am bequemsten“.1046 Als er sich mit psychologischer Fachliteratur auseinanderzusetzen beginnt und dabei die folgende Episode entdeckt, wird ihm jedoch klar, dass sein „Fall“ anders liegen muss: „Anna O. Hysterikerin. Patientin von Dr. Sigmund Freud. Richtiger Name: Berta Pappenheim. Anna O. litt unter einem Symptom, das Zeitstau genannt wird. Extrem selten. Es kam bei der Patientin im Winter 1882/83 zu Zeitverwechslungen. Sie stieß beim Verlassen ihres Zimmers immer wieder gegen die Wand. Wenn man sie fragte, welche Farbe ihr Kleid habe, nannte sie das blaue Kleid braun. Durch einen Zufall kam heraus, dass vor exakt einem Jahr in der Wand, gegen die sie immer wieder rannte, eine inzwischen zugemauerte Tür gewesen war, und sie zu dieser Zeit ein braunes Kleid trug. Anna O. lebte einen Winter lang im Jahr zuvor. Konnte die Ereignisse chronologisch nicht zuordnen. Zeitpathologie. Liegengebliebene Zeit. Doppelbelichtungen des Lebens. Faszinierende Geschichte. Von geringem Nutzen. Jedenfalls schienen mir Übereinstimmungen mit meinem eigenen Fall, und ich war inzwischen bereit, von einem ‚Fall’ zu sprechen, nicht gegeben.“1047

Der psychologische Erklärungsansatz ist zwar „faszinierend“, aber unbrauchbar. Wie auch Kurthes bestätigt, trägt Arndt keinerlei offenkundige Anzeichen eines verrückten Menschen1048: Anders als Anna O. lebt er nicht in einer Scheinwelt, sind ihm die Widersprüche und Paradoxien, die um ihn herum geschehen, selbst jederzeit bewusst. Auch erscheint er nicht als gespaltene Persönlichkeit, denn in den „durcheinandergeschwappten“ Paralleluniversen gibt es keinesfalls verschiedene „Arndt Hermannsteins“, sondern immer nur denselben.1049 Offenbar ist es nicht der Dirigent, sondern vielmehr die Wirklichkeit selbst, die sich als unzurechnungsfähig erweist, während das Subjekt in ihr den Anspruch auf die Herstellung von Kontinuität, die Vereinheitlichung der Zeit nicht aufgeben 1046 1047 1048 1049

Krausser 2003, S.42. Krausser 2003, S.127. Vgl. Krausser 2003, S.308. Vgl. Krausser 2003, S.120f.

272

III. Drei Zeit-Lektüren

kann. Arndt verdrängt nicht nur nichts, er wäre sogar froh, sich an einen Mord zu erinnern, wenn er dadurch Klarheit über seine Vergangenheit und über die Paradoxien in seinem Leben bekäme. Aus Arndts Sicht spricht zudem gegen die Chronopathologie-These, dass das Verhältnis des Individuums zu den gesellschaftlichen Zeitstrukturen als derart grundlegend zu betrachten ist, dass eine Entkoppelung der Eigenzeit überhaupt nicht vorstellbar wäre. Auch Anna O. müsse daher eine Simulantin, der Fall ein „konstruierter, gefälschter“ gewesen sein: „Mehr als erstaunlich, dass das menschliche Gehirn fähig sein soll, sich in so extremer Weise gegen die es umgebende Zeit zur Wehr zu setzen.“1050 Obgleich Arndt gesellschaftliche Zeitsysteme damit als historisch relativ erkennt, ist ihm deren Verbindlichkeit für die Individuen bewusst, die in ihnen sozialisiert wurden. Die Verunsicherung eines als selbstverständlich vorausgesetzten linearen und kausallogischen Weltzeitmodells kann also keine individuellen, sondern nur soziale Gründe haben. Und tatsächlich finden sich an verschiedenen Stellen des Romans, insbesondere im Vortrag von Samuel Kurthes, den Arndt auf Einladung des Schriftstellers und auf Anraten Annes besucht, viele jener Faktoren zitiert, die für den gesellschaftlichen Niedergang einer intakten historischen Zeitvorstellung und die Konjunktur neuer Zeitformen verantwortlich gemacht werden können. So begreift sich nach Kurthes der Bewohner der Gegenwart nicht mehr – und noch nicht wieder – als „Kettenglied einer langen, zielgerichteten Linie“, sondern nur als „punktuelle Geworfenheit“, als ein vereinzeltes Atom in der Zeit, dessen Existenz durch keine größeren Zusammenhänge mehr gerechtfertigt ist.1051 Sein Zeitempfinden kennzeichne sich in der durch Medien und Konsum banalisierten Gesellschaft vor allem durch ein Nebeneinander von „unerträglicher Langeweile“ und Stagnation sowie unheilvoller und zielloser Beschleunigung: „[I]mmer Neues müsse her“, um das „körperinnere Zeitfett [...] abzubauen“, das unweigerlich „depressiven Zeitschweiß“ erzeuge.1052 Gleichzeitig erlebten die Menschen aber eine merkwürdige Pluralisierung ihrer Identität, die nach Kurthes als Anzeichen eines fundamentalen Wandels gewertet werden könne: So müsse „heutzutage der Mensch von Niveau eine multiple Persönlichkeit“ sein, „virtuell schizophren, nicht im Sinne eines Krankheitsbildes, einfach nur, um die vielen Erfordernisse, die eine rasante und vielschichtige Gegenwart 1050 1051 1052

Krausser 2003, S.128. Krausser 2003, S.188. Krausser 2003, S.187f. Schon im ersten großen Roman Kraussers, Melodien, attestiert ein Mythenforscher namens Krantz, der einige Ähnlichkeiten mit Kurthes aufweist, dem „quecksilbrigen Zeitalter“ der Gegenwart eine fatale Tendenz zur Beschleunigung, die das Identitätsgefüge der Menschen notwendig erschüttern müsse: „Heutzutage, im quecksilbrigen Zeitalter, geht alles schnell, selbst die Untergänge und Renaissancen. Die Liebe zum Spiel ist die Liebe zum Untergang. Woher nähmen auch Sieger den Willen, ein neues Spiel zu beginnen? Der Untergang selbst ist das Endziel des Spiels.“ Vgl. Krausser, Helmut: Melodien oder Nachträge zum quecksilbrigen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg 2002, S.673. Vgl. auch Kühn 2005, S.673ff.

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an die Persönlichkeit stelle, verarbeiten und erfüllen zu können.“ Als Ursache dieser Zersplitterung der Identität analysiert Kurthes mit soziologischer Genauigkeit eine Dynamik der ‚funktionalen Differenzierung’ des modernen Lebens in unterschiedliche berufliche und private Felder: „Der Konkurrenzkampf im Beruf fordert ganz andere Tugenden und Charaktereigenschaften, als etwa die Partnerschaftspflege daheim oder die innere Ruhe der Selbstbewusstheit, in die man sich zurückziehen kann. Der moderne Mensch, will er in allen Bereichen erfolgreich sein, muss für die Erfordernisse der verschiedenen Ebenen spezifische Persönlichkeitsstrukturen entwickeln, ansonsten kann er als einfältiger Charakter nur partiell optimal reagieren. [...] Die diversen Persönlichkeiten, passend zur Situation, sofort wechseln zu können, sei eine sich stetig verfeinernde Kunst der sozialen und emotionalen Intelligenz. [...] Die Persönlichkeit spalte sich zwangsläufig in diverse Rollen, die schnell organisch und nicht mehr als Rollenspiele verstanden würden.“1053

Kontinuitäten aber würden auf diese Weise außer Kraft gesetzt: Die „diversen Persönlichkeiten“ müssten situativ gewechselt werden und gehörten darüber hinaus dem Anschein nach verschiedenen Lebensphasen an, sodass ein Dreißigjähriger „mal wie ein Vierzigjähriger, mal wie ein Zwanzigjähriger“ auftrete. 1054 Aus dieser „virtuellen Schizophrenie“ ergäbe sich, dass Realität und Leben zunehmend künstlich und inszeniert erschienen und dass der moderne Mensch zu einem Schauspieler werde, der seine Persönlichkeit zunehmend nur noch darstelle. Immer mehr agiere er dabei so, „als würde er von Kameras beobachtet werden“: „Die Gesetze der medialen Welt haben uns so tief infiziert, dass wir uns beobachteter glauben, als wir sind. Wir tragen eine innere Jury in uns, die bei allem, was wir tun, sofort das Schildchen mit den Haltungsnoten zückt.“ Auf diese Weise jedoch gehe jede Identität im Sinne einer festen Persönlichkeitsstruktur verloren, wüssten die Menschen schon bald nicht mehr, „wo die Kulisse endet, wo ihr Kern beginnt. Sie haben sich verloren hinter aufgepressten Masken, finden nicht mehr zu sich selbst zurück.“1055 Für Arndt treffen diese Beobachtungen in besonderer Weise zu: Sein Leben besitzt tatsächlich einen stark darstellerischen Zug, wie sich bereits an jenem Skandal zeigt, den er während seines Engagements in London provoziert und den er nicht nur offenkundig genießt, sondern zudem als förderlich für den Fortgang seiner Karriere betrachtet. Sein Leben erscheint ihm als „Spiel“1056, wozu auch seine finanzielle Sicherheit beiträgt. Der Unterschied zwischen seiner eigenen Arbeitsmoral und klassischen modernen Arbeitskonzepten wird von Arndt selbst reflektiert, indem er die Vermutung äußert, „dass der übliche Arbeitstrott als betäubender Mechanismus womöglich ausgereicht hätte, um Dinge, die weit weg von mir ih1053 1054 1055 1056

Krausser 2003, S.193f. Krausser 2003, S.193. Krausser 2003, S.194f. Krausser 2003, S.385.

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ren Lauf nahmen, gar nicht erst geschehen zu lassen.“1057 Die Brüchigkeit der Zeit wird auf diese Weise direkt an die Abkehr von Arbeitsroutinen und der einheitlichen Zeitstruktur der industriellen Moderne gekoppelt: Arndt wechselt in eine neue Art von Persönlichkeits- und Wahrnehmungsstruktur, in ein anderes Modell gesellschaftlichen Daseins über, ohne es richtig mitzubekommen. In seiner Jugend folgte Arndts Identitätskonzept noch offenkundig klassisch-modernen Zeitmustern, die als Folge seiner konkreten gesellschaftlichen Zieldefinitionen erscheinen, seines Bedürfnisses, „wichtig zu sein, wenigstens inmitten jener Zeit, die mich und meine Freunde kennt.“1058 Als „strikt rationaler Mensch, der in präzisen Konstrukten dachte“1059, entwirft er deshalb schon früh einen „großen Plan“1060 seines Lebens und seiner Karriere, dem er mit Bestimmtheit und Kompromisslosigkeit folgt und dem er auch die Beziehung mit Ala opfert, die ihrerseits – damals noch ein Hippie-Mädchen – stärker gegenwartsorientierten Zeitmustern gehorcht: „Für sie zählte der Moment und dessen Intensität, ich verachtete diese Einstellung als selbstzerstörerisch und schwächlich.“1061 Arndt vertritt somit als junger Mann die für die ‚klassische Moderne’ charakteristische Leistungsethik, die Erfolg als Folge der langfristigen Planung und genauen Strukturierung der Zeit definiert, während Ala die oppositionelle Position einer ‚anderen’, den Augenblick des Erlebens hervorhebenden Zeitvorstellung vertritt. Dass mit Kurthes Ala wieder in Arndts Leben tritt, bezeugt den späten Sieg dieses ‚anderen’ Zeitkonzeptes in Arndts Leben. Wie in verschiedenen Selbstreflexionen des Dirigenten deutlich wird, resultiert diese Veränderung nicht zuletzt aus dem Niedergang des Lebensplans als sinnstiftendem Konzept: „Jeder Lebensplan beruht auf einem selbstgewählten Verhältnis von Sein zu Zeit. Manchmal erhält man mehr Zeit, als man sich für seine Ziele erbeten hat. Als Kind habe ich nachts mit Gott verhandelt, später mit den Göttern, noch später mit dem Tod. Gib mir fünfunddreißig Jahre, die brauche ich, um zu verwirklichen, was ich will. Gib mir die fünfunddreißig, ohne wenn und aber, dann nimm dir, was übrig ist. Mein Garantiedatum ist überschritten. Ich frage mich, wie viele Jahre ich mir jetzt noch vom Tod erbeten würde, käme es zu einer Nachverhandlung, aber ich besaß kein klar definiertes Ziel, würde wohl sagen – soviele Jahre, wie du erübrigen kannst. Und wenn der Tod mich fragte: „Wofür?“ Was antworten? Es ist herrlich, hier zu sein? Rilke zitieren?“1062

Die situative Erfahrungsweise, die nach dem Niedergang aller Entwicklungsvorstellungen und Zielsetzungen von Arndt Besitz ergreift, wird durch ein RilkeZitat repräsentiert, durch ein modernes Augenblicksmotiv, das für Arndt jedoch 1057 1058 1059 1060 1061 1062

Krausser 2003, S.18. Krausser 2003, S.309. Krausser 2003, S.22. Krausser 2003, S.74. Krausser 2003, S.67. Krausser 2003, S.142f.

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jeden Sinn verloren hat. Allerdings erscheint es ihm durchaus als fraglich, ob er sich in der „alten Ordnung“, „in der ich aufwuchs“1063, überhaupt noch zurechtfinden würde: Im Fortgang seines Lebens hat er die gegenwartsorientierten Zeitmuster selbst adaptiert, die er in seiner Jugend an Ala verabscheute. Gegenüber Kurthes beschreibt er das Glück erfüllter Augenblicke, „ob es die Liebe Alas war oder ein schlichtes Mahl, sofern man hungrig ist, oder eine der besseren Symphonien von Bruckner.“1064 Seine an erotischen Erlebnissen orientierte Erinnerung weist ebenso wie sein willkürliches Wechseln von Freunden, Beziehungen und Wohnorten auf die vollständige Abwesenheit fester Strukturen hin: Arndt ist das Extrembild eines „flexiblen Menschen“1065. Insbesondere die vielen Ortwechsel sind hierfür beispielhaft: So überredet Arndt Anne zu der Fahrt nach Paris nicht aus rationalen Erwägungen, sondern weil ihm ihr „überheiztes, vollgestelltes Wohnzimmer [...] auf die Nerven“1066 geht. In anderen Situationen ist es Arndt jedoch wieder ein „Greuel [...], festzustellen, dass die Vergangenheit sich meinem Zugriff immer mehr entzog, nur noch Rudimente übrig ließ, einzelne tragende Pfeiler aus Konzertterminen und Frauennamen.“1067 Auf diese Weise zeigt sich die Widersprüchlichkeit zwischen der Suche nach einer „allumfassenden Ordnung“1068 und einem hedonistischen Verhalten, das gerade diese Ordnung notwendig unterläuft. Der Zerfall der Zeit in UC kann demzufolge im Kontext der für die ‚Spätmoderne’ charakteristischen Veränderungen der gesellschaftlichen Zeitstrukturen betrachtet werden. Wann genau diese Veränderung ihren Anfang genommen haben, ist jedoch nicht genau zu datieren: „Meinem Gefühl nach lässt sich der große Umbruch kaum auf einen Zeitpunkt festlegen, er kam schleichend.“1069 Unterschiedlich fällt in UC die Beurteilung dieses Verlustes an Zeitstrukturen aus. Arndt lauscht Kurthes so einerseits mit steigender Faszination, erwartet sich eine Erklärung seiner beunruhigenden Situation; andererseits jedoch kann er die nietzeanische ‚Umwertung aller Werte’, die der brillante Redner propagiert, nicht vorbehaltlos akzeptieren: Als Kurthes schon am Beginn seines Vortrags die Menschen als „Probanden“ bezeichnet, gehen bei Arndt und „bei etlichen anderen überzüchteten Individuen im Saal“ unmittelbar „die roten Lichter an“.1070 Nach Kurthes ist das herkömmliche Zeitverständnis Ausdruck einer defizitären Wahrnehmungsform, deren baldige Überwindung in Aussicht stehe. Gleich den fraktalen Mustern der Chaostheorie entstehe dabei der Sinn aus dem Chaos neu, allerdings auf einer anderen, gleichsam höheren Ebene. Kurthes bejaht ausdrücklich die Fragmentierung der Persönlichkeit, indem er den „Homo 1063 1064 1065 1066 1067 1068 1069 1070

Krausser 2003, S.77. Krausser 2003, S.308. Vgl. Sennett 1998, passim. Krausser 2003, S.123. Krausser 2003, S.142. Krausser 2003, S.307. Krausser 2003, S.13. Krausser 2003, S.184.

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Privatissimus“ zum spießigen Relikt „einer hybrid individuellen Ära“ erklärt, in der die „inneren Gartenzäune“ die Entwicklung eines „kollektiveren Selbstbewusstseins“ verhindert hätten.1071 Der neue Mensch aber werde seine zeitliche und individuelle Beschränkung überwinden und zu einem einzigen, göttlichen „Lichtwesen“ werden, das im „Hyperchronos“ zu leben in der Lage sein werde. An dieser Stelle jedoch werden die Ausführungen des Schriftstellers zu esoterischem Budenzauber. Besonders deutlich wird das an einer „Reise“, die er selbst in den Hyperchronos unternommen haben will, deren Schilderung sich aber in pathetischem und inhaltsleerem Pomp verliert.1072 Kurthes „füllte die Leute mit Sinn ab“ und vermittelt ihnen, „eine große Maschinerie sei im All zugange, mit starkem sozialen Gewissen, die für jeden am Ende irgendwie sorgen würde“1073, verdient mit diesen Thesen aber in erster Linie eine Menge Geld – und so wundert es nicht, dass auch er – wie Arndt – ein Begünstigter des alten Feuer gewesen ist.

2.2. Der multimediale Hyperchronos Im Fortgang seines Vortrags versucht Kurthes seinen Zuhörern eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie genau die ‚neue Zeit’, die er heraufdämmern sieht, aussehen könnte. Das herkömmliche, lineare Verständnis der Zeit reduziert er dabei radikal auf eine bloße Ordnungsfunktion des Subjekts, die eigentlich nur Spiegel seiner „Organzeit“1074 sei und daher als Sinnbild der geistigen Beschränkung des Menschen gesehen werden müsse: „Zeitbewusstsein ist keine Errungenschaft, die uns von den Tieren trennt, sondern ein Defizit, das uns von höheren Wesen trennt.“1075 Indem der Mensch „die Welt durch die eigene Hirnkamera filtert“, bis sie „lebbar wird“1076, reduziere er die Realität auf „eine enge, luftabgeklemmte Röhre aus Zeit“1077 und passe sie auf diese Weise seinen „physischen Voraussetzungen“1078 an. Wieder spiegeln die Ausführungen Arndts Situation, der ebenfalls den Eindruck gewinnt, dass die zeitliche Anordnung der Wirklichkeit eigentlich nur ein Produkt seiner Wahrnehmung ist: „Ich glaube, alles was geschehen wird, ist bereits geschehen und wartet darauf, dass ich es wahrnehme.“1079 Die These wird von Kurthes schließlich durch ein – ungekennzeichnetes – Zitat des Physikers John A. Wheeler auf den Punkt gebracht: „Zeit existiert nur deshalb, damit nicht alles auf einmal passiert.“1080 1071 1072 1073 1074 1075 1076 1077 1078 1079 1080

Krausser 2003, S.184. Vgl. Krausser 2003, S.299ff. Krausser 2003, S.216. Krausser 2003, S.203. Krausser 2003, S.206. Krausser 2003, S.204. Krausser 2003, S.210. Krausser 2003, S.206. Krausser 2003, S.39f. Krausser 2003, S.212.

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Doch scheint der Mensch nun in seiner Entwicklung an einen Punkt gelangt zu sein, an dem die alte Reduktion der Welt, die Konstruktion einer einheitlichen, durch einen einzigen Zeitstrahl dimensionierten Wirklichkeit nicht mehr länger funktioniert, an dem die Zeit das „Subjekt als Entscheidungsträger [...] nicht länger anerkennt.“1081 War dieses Subjekt noch dazu verdammt, sich auf dem Zeitbaum in vorgegebener Richtung entlang zu bewegen, wodurch jede Entscheidung irreversibel, jede nicht wahrgenommene Möglichkeit irreal wurde, erlaubt die ‚Draufsicht’ auf diesen Zeitbaum die gleichzeitige Anwesenheit aller Zweige: „Wenn die Konjunktive der Vergangenheit zu leben begännen, mit dem Geschehen gleichberechtigt würden, wenn die Erinnerung nicht mehr unterscheiden könnte zwischen dem, was Wirklichkeit geworden, was Traum geblieben ist. Wenn alles jemals Erwogene, Gewünschte, Vermiedene nachträglich faktisch wird und den noch lebenden Menschen mit allen Konsequenzen überfällt – dann hat er den Zustand der Suprazeit erreicht, und wenn er darin eindringen könnte, würde die Suprazeit zum Hyperchronos.“1082

Dass die menschliche Wahrnehmung sich diesem Wandel noch nicht anzupassen versteht, liegt ausdrücklich auch an den ‚Konstruktionen von Dauer’, die unser Bild der Zeit bislang bestimmt haben: Unsere veraltete „pädagogisch-historische Sozialisation“, die uns als „Nachfahre Roms“ oder der „Gallier um Asterix“ konzipiere, verhindere das Verständnis einer völlig neu strukturierten Wirklichkeit. In dieser aber könnte die alte Bindung der Ereignisse an konkrete Zeitstellen sich auflösen: „Die Zeit ist in unserem Dasein aufgelöst wie der Zucker im Kaffee, deshalb für uns so schwer erreich- und formbar. Das Problem ist: Wir könnten an einen Punkt gelangen, wo Existenz und Zucker voneinander zu trennen wären, aber da lägen bereits viele verzuckerte Jahre hinter uns [...].“1083

In bilderreichen Beschreibungen der 5. bis 11. Dimensionen versucht Kurthes, dieses Leben in einer aufgelösten Zeit seinen Zuhörern vor Augen zu führen. Die Vergleiche und Metaphern, derer er sich dabei bedient, entstammen nicht ohne Grund bevorzugt aus der Welt der Medien, die offensichtlich ebenfalls mit dem historischen Modell der Zeit nicht mehr kompatibel sind. Bereits in seinen Tagebüchern reflektiert Krausser eine Veränderung des Zeitbewusstseins, die eine offenbar an die Darstellungsformen ‚neuer Medien’ angelehnte ‚magische Präsenz’ anderer Zeiten in der Gegenwart ermögliche:

1081 1082 1083

Krausser 2003, S.206. Krausser 2003, S.209. Krausser 2003, S.215f.

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III. Drei Zeit-Lektüren „Unser Bewusstsein ist inzwischen fähig, sich problemlos in die Konditionen einer vergangenen Ära einzudenken und die Welt mit deren ästhetischem Blick zu betrachten. Wir haben uns die vierte Dimension geöffnet. Historie bietet uns die Vergangenheit, Science Fiction bietet uns die Zukunft an – und beide sind in gleichem Maße wahr. Da gibt es die Stimme, das Dekor, den Sound der Zeit als Gegenwart nicht mehr. Wir sind kein Punkt mehr auf der Linie, wir sind die ganze Linie.“1084

Auch in Kurthes' Vortrag wird das neue Zeitbewusstsein als Auflösung der Einmaligkeit und Uneinholbarkeit des Ereignisses, als Zugänglichkeit und Verfügbarkeit anderer Zeiten in der Gegenwart konzipiert. Kurthes assoziiert das menschliche Leben dabei wiederholt mit einem Film: „Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Wir drehen mit unserem Leben einen Film, dessen Ende unser Tod ist. Der Film wird danach in unendlich vielen Kinos unendlich oft gezeigt, jeder Moment des Films ist gerade in irgendeinem der Kinos zu sehen. Und ich – der Hauptdarsteller meines Films, laufe auf der Leinwand herum, ohne Ahnung, dass ich nur ein Teil des Films bin.“1085

Dem Vergleich korrespondiert das Grundgefühl des Protagonisten, Opfer einer Inszenierung und dadurch selbst nicht mehr wirklich real zu sein. Der Roman konstatiert auf diese Weise einen Verlust an Realität, ein Bewusstsein der Menschen für das Inszenierte und Virtuelle ihres Daseins, aus dem es aber keinen Weg zurück in eine ‚echtere’ Wirklichkeit mehr zu geben scheint. Wie Kurthes fortsetzend erläutert, ist im Ultrachronos der Unterschied zwischen Original und Kopie suspendiert, beides sind „falsche Begriffe“: „Jede der sogenannten ‚Kopien’ ist in jedem Moment das Original, keine empfindet irgendeine Form von Wiederholung – weil es keine Wiederholung gibt. Das Dasein ist von der Kette, von seiner Babelturmhaftigkeit befreit, ist kein chronologisches Nacheinander mehr, sondern in ein Nebeneinander entkommen.“1086 Die textuelle Unterscheidung zwischen Original und Kopie, zwischen einem Zeichen und der ihm vorgängigen Referenz wird in dieser Sichtweise hinfällig: Die Referenz ist selbst wieder nur Zeichen, nur eine Fiktion hinter der Fiktion, denn schlussendlich sei „alles [...] auf Zeichen reduzierbar.“ 1087 Die durch Zeichen erzeugte Wirklichkeit ist also kein Reflex ‚echter’, aber unwiederholbarer Erfahrung mehr, sondern vollends in Simulation übergegangen. Wem der Film seines Lebens nicht gefällt, weil er „ihn nicht begreift oder weil der Sitzplatz zu schlecht 1084

1085 1086 1087

Krausser, Helmut: Oktober. Tagebuch des Oktober 1997. November. Tagebuch des November 1998. Dezember. Tagebuch des Dezember 1999, Reinbek bei Hamburg 2000, S.294. Krausser 2003, S.205. Krausser 2003, S.205. Krausser 2003, S.283.

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ist“, dem steht deshalb jederzeit die Möglichkeit offen, „den Sitzplatz zu wechseln, oder, noch einfacher, selbst einen besseren Film zu drehen.“1088 Die Irritation der Zeit in UC lässt sich so auch fassen als Aufhebung der Vorgängigkeit: Was als vorgängig erscheint, ist nicht nur die immer schon verfälschte Version eines unerreichbaren, aber dennoch in der Vorstellung notwendig vorhandenen Referenten, sondern selbst bloße Fiktion. In diesem Zusammenhang sind auch die Déjà-vu-Erlebnisse aufschlussreich, die sich bald schon in Arndts Leben breit machen. „Ich bin schon einmal hier gewesen“, bemerkt er etwa, als er in Berlin mit der zweiten Julia das Boot der Zigarettenschmuggler betritt: „Das Gefühl legt sich wie ein Schmierfilm auf meine Haut. Es ist eine Falle. Natürlich.“1089 Wie bei einem Déjà-vu üblich, kommt Arndt die entscheidende Erkenntnis aber erst, als es schon zu spät ist: Die Referenz, der primäre Moment des Déjà-vus, beginnt eigentlich erst zu existieren, als Arndt den sekundären, zweiten Moment bereits erlebt; ohne diesen zweiten Moment wäre Arndt niemals in den Sinn gekommen, dass er eine solche Erfahrung hätte gemacht haben können. Und obgleich das Déjà-vu richtig ist – es handelt sich tatsächlich um eine Falle –, ist seine Referenz bloß eingebildet: Arndt war noch nie auf diesem Boot. So existiert in Wirklichkeit nur die Gegenwart einer Wahrnehmung, die auf ihre Echtheit nicht überprüfbar ist, da ihre ‚Referenz’ selbst performativ konstruiert wird.1090 Der Unterschied zwischen ‚echt’ und ‚falsch’ wird hinfällig, da in der Zeichenwelt Fiktion, Erinnerung, Erlebnis und Traum den gleichen Aggregatzustand besitzen: Arndt erinnert sich nicht an das Boot, weil er es tatsächlich gekauft hätte, sondern er hat es selbst gekauft, weil er sich auf einmal daran ‚erinnert’. Wie bei Michael Wallner sind es also die – hier ausdrücklich so benannten – „neuronalen Verknüpfungen in der Zeit“1091, die ihre Linearität unterlaufen. Die beiden Mordfälle, die die Romanhandlung an der Oberfläche antreiben, sind deshalb auch gar nicht darauf angelegt, wirklich gelöst zu werden: Als Kurthes zu seinem Roman und zu den Vorgängen befragt wird, die zu Arndts Tod geführt haben, gibt er ausdrücklich zu, dass es ihm egal gewesen sei, ob Arndt tatsächlich ein Mörder war oder nicht.1092 In einer vollends konstruierten, beliebig veränderbaren Wirklichkeit spielt für ihn – ähnlich wie für den Zeitmaschinenmörder in Juli Zehs Schilf – die Frage nach der Ausgangsrealität schlichtweg keine Rolle mehr. 1088 1089 1090

1091 1092

Krausser 2003, S.202. Krausser 2003, S.429. Schon Guyau interpretiert das Déjà-vu, das falsche Gedächtnis, als eine pathologische Verselbständigung wahrgenommener Bilder: Der Eindruck sei so intensiv, dass er sich zu einem halluzinatorischen Zustand steigere, hinter dem die in Wirklichkeit zeitgleiche und identische Realität wie etwas anderes erscheine. Dabei geschehe eine „Zeitumkehrung“: Das Erinnerungsbild dominiere die Wirklichkeit derart, dass es deren Position einnehme, „jüngeren Datums zu sein“ scheine. „Mit anderen Worten, [...] man hält das lebendige Bild der Erinnerung für die reale Sinnesempfindung und die schon verblasste reale Empfindung für eine Erinnerung.“ Vgl. Guyau 1995, S.86. Krausser 2003, S.388f. Krausser 2003, S.353.

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III. Drei Zeit-Lektüren

Der Bruch der Zeit, der schleichend in Arndts Leben getreten ist, scheint auf diese Weise identisch mit seinem allmählichen Eintritt in ein halluzinatorisches „Reich der Bilder“, als das auch der „Hyperchronos“ charakterisiert wird. Diese Bilder aber sind keine Abbilder mehr, sondern selbst Realität: Kurthes spricht von dem „Nichts, das sich zum Bild aufwirft und bleibt und keimt“. 1093 Wie bei Kehlmann ist der endgültige Eintritt in dieses Reich der Bilder mit dem Tod assoziiert: „Gleich gebe es Kino“, kündigt ein imaginärer „Wächter“ dem sterbenden Arndt an1094, und Kurthes ergänzt: „Den UC kann man nur sterbend betreten und lebend ihm nicht mehr entkommen.“1095 UC beschreibt aber nicht eigentlich die Erfahrung eines sterbenden Menschen, sondern das Delirium der subjektiven, individuellen Existenzform selbst, auf die Kurthes seine extravagante Grabrede hält. Wie stark die Bilderwelten längst das Denken der „überzüchteten Individuen“ infiziert haben, zeigen nicht zuletzt auch die zahlreichen Parallelen, die sich zwischen Arndts Wahrnehmungen und medialen Darstellungsformen herstellen lassen. Für Arndt wird die Strukturanalogie zwischen Gedächtnis und Schrift, die noch für die Literatur der Moderne Geltung besaß, immer stärker durch andere mediale Modelle aufgehoben: Seine Erinnerungen sind nicht nur durch eine halluzinatorische Bildlichkeit gekennzeichnet, sondern unterliegen auch einem zunehmenden Zweifel an der Referenz, erscheinen als bloße „Imagination“ und nicht mehr als referenzielle „Faktensammlung“.1096 Auch Arndt zitiert immer wieder konkrete Medien, etwa wenn er sich an einen „Film mit Gwyneth Paltrow“ erinnert, der eine ähnliche „Parallelwelt-Situation“ wie die seine zum Thema habe – gemeint ist der Hollywood-Streifen Sliding Doors.1097 Die realitätsgenerierende Kraft des Films wird hingegen von Claudia hervorgehoben, die einen Besuch im Kino mit der Begründung ablehnt, das sei ihr „zuviel Wirklichkeit“.1098 Und das Internet schließlich gibt noch eine weitere Bedeutung des Kürzels „UC“ preis: Auf der Homepage von Samuel Kurthes findet der überraschte Arndt einen Link, der ihn persönlich auf das Seminar auf Gran Canaria einlädt. Dabei klingt „UC“ für ihn in englischer Aussprache wie „YOU SEE“1099: Mit der Auflösung der Zeit verbindet sich offenbar ein Paradigma der Sichtbarkeit, das das alte Modell der ‚narrativen Zeit’ ablöst. Mit dem „Reich der Bilder“ aber etabliert sich auch eine neue Erfahrung von Gegenwart, wird das Erlebnis einer linearen, aber ‚flüchtigen’ Zeit zunehmend durch neue Präsenzerfahrungen abgelöst. Am Anfang des Romans, als Arndt noch von der Verlässlichkeit der temporalen Grundstruktur seines Le1093 1094 1095 1096 1097

1098 1099

Krausser 2003, S.311. Krausser 2003, S.462. Krausser 2003, S.311. Krausser 2003, S.206. Krausser 2003, S.120. Vgl. Sliding Doors (USA 1998, Peter Howitt). Krausser vergleicht UC zudem auch mit dem Film Mullholland Dr. (USA 2001, David Lynch). Vgl. Krausser 2003 (b), S.225. Krausser 2003, S.422. Krausser 2003, S.254.

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bens überzeugt ist, sind seine Reflexionen über die Zeit allerdings noch stark durch das – klassisch moderne – Flüchtigkeitsmotiv geprägt. So gelingt es ihm nicht, einen Augenblick im Bewusstsein als denselben festzuhalten: „Ich wusste es einen Moment lang, dann wandte ich mich um, stürzte über die Treppe auf die Straße, und da bereits war jener Moment Vergangenheit und unhaltbar geworden, hatten sich alle verfügbaren Zweifel auf ihn gestürzt und ihn zerpflückt.“1100 Die ersten Zeitparadoxa, die Arndt erlebt, erlauben ihm so zunächst die Erkenntnis der Diskontinuität des Zeitbewusstseins, das die Zusammenhänge immer retrospektiv herstellt und dabei notwendig die Vergangenheit verändert. Auch die Utopie einer verlustfreien Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, einer Epiphanie, in der „Ereignis und Reflexion zusammenfallen“, scheint am Anfang des Romans in Arndts Überlegungen auf: „Ich weiß um die Zerbrechlichkeit der Zeit. Nicht nur der Dinge, die in ihr geschehen und verlorengegangen sind, auch der Zeit selbst. Man kann einen Tag erleben oder ihn erinnern. Und ist doch in beiden Fällen in ihm, mit seinem Körper, seinem Geist, beheimatet, ist ihm ausgeliefert. Die Erinnerung an die Gegenwart, die Erinnerung in die Gegenwart hinein, wird, weil es kein Wort dafür gibt, meist der Traumtänzerei gleichgesetzt, einer Flucht vor äußeren Faktoren. Der seltene Zustand, in dem Ereignis und Reflexion zusammenfallen, eins werden, ist von viel höherer Natur.“1101

Die Momente, in denen Ereignis und Reflexion tatsächlich eins werden, sind in Arndts Leben jedoch bald schon weniger selten, als er es sich anfangs noch vorstellen kann. In der „Hölle“1102 des Hyperchronos, auf die er sich zubewegt, gibt es nach Kurthes nur noch Erlebnisgegenwart, nur noch die Identität von Geschehen und Wahrnehmen. Die Flüchtigkeit der Augenblicke aber verschwindet, wie Kurthes ganz ausdrücklich erläutert: „Was auf der Welt geschehe, geschehe in den seltensten Fällen ‚plötzlich’ – nur die menschliche Wahrnehmung“ – eben jene, die Arndt zu überwinden im Begriff steht – „finde beinahe immer plötzlich statt.“1103 Schon mit dem Auftritt Alas, der Gegenwartsfrau, wird dem Dirigenten deshalb unvermittelt klar: „Das alles geschieht jetzt.“1104 Darin liegt der Schlüssel zu allen Paradoxien, die er fortan erlebt: Was geschieht, ist immer ein autarkes, verbindungsloses ‚Jetzt’, ebenso wie seine Erinnerungen nicht die Vergangenheit spiegeln, sondern immer wieder zu neuen, eigenständigen Gegenwarten werden. Konsequenterweise ist es zuletzt die Schrift, mit der Arndt dieses diffuse Chaos der Wirklichkeit in eine lineare Ordnung zu bringen versucht, indem er seine Erlebnisse aufzuzeichnen beginnt. Die Gegenwehr aber kommt zu spät: 1100 1101 1102 1103 1104

Krausser 2003, S.22. Krausser 2003, S.38. Vgl. Krausser 2003, S.310. Krausser 2003, S.351. Krausser 2003, S.173.

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Die ‚Festschreibung’ der Wahrheit auf eine konkrete Version misslingt und weicht jenem wirren Nebeneinander widersprüchlicher Passagen, als das auch der Romantext selber generiert ist. Bereits am Beginn des Romans reflektiert Arndt die Unmöglichkeit, schriftlich eine Chronologie der Geschehnisse zu erstellen: „Ich schreibe auf, was mir gerade einfällt, ohne Ordnung, aber vielleicht liegt dahinter ja doch eine Ordnung, die ich nicht kenne, ich schreibe hier und sehe aufs Meer hinaus und man könnte von mir Ordnung erwarten, eine Chronologie der Geschehnisse, eine Biographie, einen Werdegang, Daten, Verdienste, aber das entspräche nicht dem, was ich aufzeichnen will. Nicht dass ich wüsste, was ich aufzeichnen will. Es ist alles lächerlich geworden und das Gegenteil davon. Geht es darum, etwas festzuhalten? In einem ganz maßlosen Sinne geht es wohl darum.“1105

Festzuhalten nämlich wäre der Wandel selbst, jener schleichende Bruch, mit dem das textuelle System selbst hinfällig wird. Die Unauflösbarkeit der verworrenen Handlung von UC repräsentiert letztendlich also auch die Unmöglichkeit, diesen medialen Bruch selbst wiederum im Medium der Schrift abzubilden: Das Buch erklärt sich selbst zum medialen Anachronismus. Kurthes geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn er in seiner Rede sogar die Überwindung allgemein sprachlicher Muster ankündigt: So stellt er seinem Auditorium etwa die Entwicklung neuer, unmittelbarer Kommunikationsformen wie die der Telepathie in Aussicht, die den einstigen „Fortschritt“ der Sprache nun ihrerseits überwinden könnten. Die „grammatische Telepathie“1106, mit der auch komplexe Gedankengänge unmittelbar und verlustfrei ‚im Moment’ übertragen werden können, scheint ihm gelegentlich sogar in Ansätzen schon zu gelingen: „Ich sah in einer Sekunde alles, woran er sich erinnerte.“1107 Am Ende von Kurthes' Vortrag steht ebenfalls eine Gegenwarts-Vision: Die Auflösung der Zeit durch den Zusammenschluss der Menschen zu einem einzigen „Lichtwesen“, das die ganze Realität immer schon umfasst. Licht, als Ursprung alles Sichtbaren, ist dabei gleichzeitig ein Synonym für Zeitlosigkeit, denn aus der Sicht eines Photons existiert keine Zeit. „Wenn wir erst Licht geworden sind, wird die Zeit um uns ungeahnte Formen annehmen“, verspricht Kurthes seinen Zuhörern.1108 Dennoch versucht letztlich auch Kurthes, schreibend Kontinuität herzustellen, denn auch seine Utopie von der Licht gewordenen Menschheit ist in die Form einer Erzählung, einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit gefasst, ebenso wie sein Ausflug in den Hyperchronos als esoterische ‚Reise’ dargestellt wird. Dieser Hyperchronos aber, das Reich der Bilder, trägt dem heimlichen oder offenkundigen Widerstand der Romanfiguren zum Trotz am Ende den 1105 1106 1107 1108

Krausser 2003, S.23. Krausser 2003, S.182f. Krausser 2003, S.300. Krausser 2003, S.310.

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Sieg über die Schrift davon: „Egal, was ich aufschreibe, es ist nicht mehr da“, konstatiert bereits Arndt, als er auf Kreta angekommen ist, und Kurthes notiert auf der letzten Seite symbolisch seinen „letzten Satz“. Mit dem Ende des Buches tritt daraufhin die Stagnation totaler Visualität ein: „Kurthes hörte nicht zu, er notierte seinen letzten Satz, für das nächste Seminar. Und mit einem Moment hielt er inne, starr, blieb so, die Spitze des Kugelschreibers auf dem Notizblock, auch Ala stand erstarrt, in einer grotesken Position, vor dem Fernseher, vor dem sie die Arme gehoben hatte, wie um ihre Hände an der Illusion des Kaminfeuers zu wärmen. Die Tränen, die eben noch aus ihrem Auge gequollen war, lag wie eine künstliche Perle still auf ihrer Wange. Kurthes saß am Tisch, über den Block gebeugt, und beide atmeten nicht mehr, weder Atem, noch Blut oder überhaupt eine Spur von Leben schien ihren Körpern geblieben.“1109

2.3. Künstler und Schatten Die temporalen Widersprüche, die in Arndts Leben treten, begründen sich jedoch nur partiell durch seine ungewöhnlichen Gegenwartserfahrungen. Neben dem intensiven, präsentischen Neuerleben der Vergangenheit bleibt immer auch ein ‚konventionelles’ Erinnern für Arndt charakteristisch, sind ihm auch die Ungenauigkeiten und Verzerrungen, die die ‚Bilder’ der Vergangenheit im Lauf der Zeit erfahren, vollkommen bewusst: All „der Zauber, die leuchtenden Details unsres wilden provencalischen Herbstes entschwinden meiner Erinnerung“, stellt er einmal fest. Auch die Erinnerungsbilder werden also „blass, wie peinliche Filme aus den Siebzigern, die man wiedersieht und nicht fassen kann, dass das einmal bunte Realität gewesen sein soll und aufregend.“1110 Zudem ergeben alle seine Erinnerungen immer ein konsistentes und stimmiges Bild seiner Vergangenheit – einer Vergangenheit allerdings, in der Marita nie gestorben ist, Ala seine Jugendliebe war und in der er unglücklich mit Laura Feuer verheiratet ist. Die Unstimmigkeiten entstehen eigentlich erst, als in der Gegenwart Ereignisse geschehen, die mit dieser ‚Geschichte’ von Arndts Leben nicht übereinstimmen: Marita ist vor langer Zeit ermordet worden, Laura kann sich auf einmal vorübergehend an keine Hochzeit, eine zweite Version von Julia nicht einmal an ihren Spitznamen ‚Ala’ erinnern. Die genauen bildlichen Erinnerungen, die Arndt besonders am Anfang des Romans überwältigen, werden so wiederum nicht als Ursachen, sondern eher als Folgen einer konkreten Lebenserzählung behandelt. Erst indem diese biographische, ‚narrative Zeit’ auf einmal als veränderbar erscheint, entstehen auch Zweifel am Wahrheitsgehalt der eigenen Erinnerungen, fallen Arndt zudem die vielen Gedächtnislücken auf, die seine Biographie als 1109 1110

Krausser 2003, S.477f. Krausser 2003, S.75.

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unzusammenhängend, die Geschichte seines Lebens als zweifelhaft erscheinen lassen. Eben diese Variabilität der ‚narrativen Zeit’ bildet auch die Grundlage von Kurthes’ esoterischer Zeitphilosophie, mit der er gleichzeitig sein Kunstverständnis artikuliert: „Das Leben ist eine Art Kunstwerk, ein Wohnzimmer, das man sich für die Unendlichkeit einrichtet“ und in dem die Menschen „in jeder Sekunde absolute Handlungsfreiheit“ haben.1111 Als Schriftsteller steht Kurthes unverkennbar in der Tradition der ‚spielerischen Moderne’: Es finden sich zahlreiche Anklänge sowohl an die Zeitlabyrinthe bei Borges als auch an die These der retrospektiven, ästhetischen Gestaltbarkeit der Zeit, die Nabokov in Ada or Ardor entwickelt hat. Auch für Kurthes soll die Zeit der menschlichen Gestaltungsfreiheit verfügbar gemacht werden: Menschen werden zu ihren eigenen „Göttern“1112, zu Demiurgen ihres Lebens, können ihre ‚Geschichte’ eigenständig verändern: „Die Möglichkeit, sein Heil im Gegenentwurf zur Wirklichkeit zu suchen. Wer Sinn sucht, hat wenigstens etwas zu tun. Und wenn er gut ist, gehört er irgendwann vielleicht zu jenen, die Sinn erschaffen.“ 1113 Der Mensch ist also nach Kurthes in einen Zustand zu erheben, in dem er selbst gleichzeitig als Autor und als Protagonist seiner Geschichte fungieren kann, in dem die erlebte Wirklichkeit zu einem Produkt souveräner ‚auktorialer’ Gestaltung wird. Kurthes spricht in diesem Zusammenhang von „Sinndesign“ und verhöhnt die „Suchenden, die ihr Leben lang durchs Leben laufen, wie Erstsemester durch eine Universität.“1114 Die „Wissenschaft“, die für ein solches Unterfangen nötig wäre, müsste sich freilich von einer bloß objektiven, die Welt passiv widerspiegelnden Disziplin zu einer schöpferischen, kreativen Form des Wirkens weiterentwickeln: „Wir ahnen bereits soviel mehr, als unsre Urenkel einst wissen werden, das, das allein ist das Interessante an der Spezies Mensch – diese Diskrepanz – die wir im Unterschied zu allen anderen Spezies – zu einer Art Laboratorium verwandelt haben, in ein Spielfeld, das heißt Kunst – und es sind ungeheuerliche Fortschritte zu erwarten, wenn das, was wir Wissenschaft nennen, und jenes, was gemeinhin und oft nebulös, als Kunst gilt, zusammenfließen werden.“1115

Insbesondere die freie Gestaltbarkeit der Vergangenheit wird von Kurthes immer wieder als künstlerische Möglichkeit des Menschen hervorgehoben. So hält er Zeitreisen in die Vergangenheit auch eher für vorstellbar als solche in die Zukunft: „Wer rückwärts gewandte Zeitreisen für möglich hält, glaubt in letzter 1111 1112

1113 1114 1115

Krausser 2003, S.204. Kurthes führt aus: „Ich gebe meinen Göttern weder Namen noch Form. Sie sind virtuell, eine Instanz, die ich über mein Ego setze. Ein Akt scheinbarer Demut, der letztendlich doch nur selbstreferentiell ist.“ Krausser 2003, S.200. Krausser 2003, S.202. Krausser 2003, S.202f. Krausser 2003, S.213.

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Konsequenz daran, dass nichts für immer tot ist, dass es lebt, an einem anderen Ort.“1116 Die physikalischen Ausführungen des Schriftstellers, der an gleicher Stelle betont, „Poet“ zu sein, „kein Wissenschaftler“, lassen sich demzufolge als Objektivierungen einer radikalen Kunstphilosophie begreifen, in der letztlich ästhetische Ansätze der klassischen Moderne zwar „genialverrückt und gemeingefährlich“1117 überzeichnet, aber mitreißend weiterentwickelt werden. Die These von der Veränderbarkeit der Vergangenheit gründet einmal mehr auf der Erkenntnis, dass alle bildlichen Modelle der Zeit, etwa „das Bild eines Flusses, in dem wir schwimmen, von der Wiege bis zur Bahre“1118, nur unzulängliche Abstraktionen sind, dass Zeitlichkeit vielmehr eigentlich aus der Medialität des Bewusstseins, aus der Darstellung der Vergangenheit als Vergangenheit in der Erinnerung eigentlich erst entsteht: „Die Zeit bewegt sich in beide Richtungen fort, wobei dem Vorwärts die Physik, dem Rückwärts das Bewusstsein Grenzen verleiht. Die Vergangenheit formt sich aus ihrer Beurteilung, verwandelt sich ebenso schnell wie die Gegenwart.“1119 Wie in den Romanen von Borges oder Nabokov ist die Struktur der Zeit, die durch diese künstlerischen Zeitreisen in die Vergangenheit geschaffen werden soll, die eines ‚Multiversums’: „Manchmal [...] ist es, als wäre die Gegenwart in einen Fächer aus soundsoviel möglichen Verläufen geteilt, und man müsste nur noch diesen oder jenen wählen, beschreiten, Fakt werden lassen. Und indem man den einen wählt, bleibt der andere dennoch so möglich und stark, dass er an Faktizität nicht nachrangig wird. Er wird nur momentan nicht gebraucht, also eingelagert, wartet dort auf seinen Einsatz.“1120

Obgleich Helmut Krausser in seinen Tagebüchern selbst immer wieder Gedanken artikuliert, die den Visionen von Kurthes zumindest ähnlich sind1121, scheint sich der Roman UC dessen ambitionierten ästhetischen Utopien letztendlich nicht anschließen zu wollen. Am Ende des Buches ist es so auf einmal der einstmals übermächtige Schriftsteller, der als tragische Figur erscheint. 1122 Mit der Veröffentlichung seines Romans UC hat er jede Gestaltungsfreiheit aus der Hand gegeben: Die Verbindung zwischen Darstellung und Realität geht in die Verantwortung seiner Leser über, die nun – in Gestalt der jungen Journalistin Kerstin – auch zu Co-Autoren von Kurthes' eigener Identität werden können. Kerstin wird ein weiteres Buch über Arndt und Kurthes schreiben, das das Ver-

1116 1117 1118 1119 1120 1121 1122

Krausser 2003, S.207. Krausser 2003, S.226. Krausser 2003, S.218. Krausser 2003, S.201f. Krausser 2003, S.122. Vgl. z.B. Krausser 2003 (b), S.275 & S.279ff. Krausser 2003 (c), S.38.

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hältnis zwischen beiden in anderer Weise darstellen, das vor allem aber den Autor für seine Entscheidungen zur Verantwortung ziehen wird: „Kurthes betrachtet traurig seine Schuhe. [...] Es wird dieses Buch geben. Es wird noch andere Bücher geben. Man wird mal besser von Samuel Kurthes reden, mal schlechter. Er kann sich bald gegen keines dieser Bücher wehren, warum soll er es jetzt tun?“1123

Aufschlussreich ist in diesem Kontext die Aussage Kraussers, in der „Auseinandersetzung zwischen Arndt und Sam“ spiegelten sich zwei „antipodische Positionen zur Kunst“1124. Dabei repräsentiert der Schriftsteller offenbar eine ‚postmoderne’ Kunst der referenzlosen, antimimetischen Schöpfung, während Arndt sich als ‚sekundärer’ Künstler begreift, der mit der vorhandenen Realität zu arbeiten versucht. Auch er will nach eigener Aussage Neues schaffen, aber immer nur im Sinne der Komponisten, deren Werke er vertont. In einem Gespräch mit Kurthes erläutert er in diesem Sinne das notwendige Zusammenwirken zweier unterschiedlicher Kräfte: „den geist des komponisten dort und meinen taktstock hier.“1125 Die chaotische, „vulkanische Schönheit der Schöpfung“ versucht er lediglich in der „menschlichen Ordnung der Rezeption“ zu bändigen und zu gestalten1126; seine Kunst versteht er als Hommage auf eine Wirklichkeit, hinter deren Großartigkeit jedes Kunstwerk notwendig zurückbleiben muss: „Die Welt, wie sie ist, ist großartig, und egal, was mir zustößt, will ich an diesem Fazit festhalten, weil ich es für die Wahrheit halte.“1127 Während Kurthes sich zum ‚Gott’ seiner künstlerischen Schöpfung erhebt1128, ist für Arndt die Wirklichkeit selbst ‚göttlich’, während der Künstler diese bloß spiegelt, um sie den Menschen zugänglich und verständlich zu machen. Wieder stehen sich hier also ein referenzielles und ein anti-referenzielles Darstellungsmodell gegenüber. Und auch die ‚Zeitlichkeit’ der Musik, die der Dirigent Arndt vertritt, steht – als gewissermaßen ‚natürliches’ Abbild des Vergehens – zu jener ‚Kunst-Zeit’ in schroffer Opposition, die in Kurthes' synthetischem „Hyperchronos“ herrschen soll. Die längste Zeit hat es den Anschein, als sei die Kunstauffassung Arndts derjenigen von Kurthes unterlegen. Der schöpferischen Kraft des nietzeanischen Künstlerphilosophen gehorcht augenscheinlich die nurmehr inszenierte 1123 1124 1125 1126 1127 1128

Krausser 2003, S.449. Krausser 2003 (c), S.38. Krausser 2003, S.466. Krausser 2003, S.307. Krausser 2003, S.309. Wie Kehlmann vergleicht Krausser die Rolle des Autors häufig mit der eines Gottes. Der „Hyperchronos“ wird auf diese Weise zu einem überirdischen Ort: „Es gibt für eine Romanfigur tatsächlich so etwas wie einen Hyperchronos – das ist die reale Welt des sie erschaffenden Autors. (Eigentlich eher ein Hyperspace, aber der HC ist auch ein space.) Wir sind von unserem HC so weit entfernt, wie die meisten Romanfiguren von ihrem. Nur Arndt wird ein Blick in die höheren Gefilde erlaubt – das ist locker einen Fenstersturz wert.“ Vgl. Krausser 2003 (c), S.29.

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Welt, und Arndt versucht eine Weile sogar, sich in sein Schicksal, seine Abhängigkeit von Kurthes zu fügen: „Aber angenommen, dies wäre das Leben, mein Leben, denn welches besäße ich sonst? Ich treibe durchs All, ein Raumfahrer, vom Mutterschiff verstoßen, und was ich berühre, wird Phantasie. Es ist großartig, im Kosmos, diese Ohnmacht, dieses Ausgestoßensein.“1129 Doch indem sich diese Welt als eine mögliche Version unter vielen herausstellt, wird auch die Begrenztheit der Autorenmacht langsam sichtbar. Kurthes bemerkt schließlich, dass er im Zuge seines Schaffens das Leben selbst versäumt hat: „Aber in Wahrheit bin ich ein Papiertiger, und wenn es darüberhinaus eine höhere Wahrheit gibt, ist sie poetischer Natur, kriminologisch nicht zu erfassen.“ 1130 Im Gegensatz zu Arndt hat Kurthes selbst nichts „erlebt“, seine Welt ist über den Status einer Inszenierung niemals herausgekommen, und so bewundert und beneidet er sein Alter ego für die Echtheit, die er dessen Erfahrungen beimisst: „Arndt hat gelebt. Ich habe geschrieben. War ein gelehrter Mann, und bin nur noch der Schatten eines Schattens.“1131 Auch der Hyperchronos, den Kurthes seinen Zuhörern in Aussicht stellt, erscheint auf den zweiten Blick eher als „Hölle der Zeit“1132 denn als neues Paradies. Die „Passion zum Transhistorischen“1133 verliert sich in Beliebigkeit, im Horror eines ‚Anything goes’, in dem nur noch Chaos herrscht. Was in Kurthes' Vortrag als utopische Alternative zu einem konventionellen Geschichtsnarrativ entwickelt wird, seinen freiheitlichen Impuls also im Kontrast zu einer zwar infrage gestellten, aber immer noch fest verankerten Wirklichkeit gewinnt, ist in der Welt von UC eigentlich längst schon selbst gesellschaftliche Realität. Hier ist jeder Autor, kann jeder die Geschichte neu erfinden, sodass die unterschiedlichen Konstrukte der Handlung fortwährend miteinander in Konflikt geraten. Eine Referenz, eine Folie, vor der die verschiedenen Versionen sich als ästhetische Schöpfungen abheben können, scheint immer weniger zu existieren. „Was ist Lüge?“, fragt Kurthes an einer Stelle den verzweifelten Arndt, und gibt selbst die Antwort: „Lüge ist, woran wir uns nicht erinnern. Ich kann etwas erfinden, woran ich mich erinnere. Und es lebt und wirkt. Existiert.“1134 So lässt sich die Zeitverwirrung in UC letztlich als Folge einer unklar gewordenen Autorität hinsichtlich der Festschreibung von Realität zusammenfassen. Da keine gesellschaftliche Instanz mehr die Wirklichkeit der Vergangenheit bezeugt, treten die differierenden Versionen unterschiedlicher Personen, aber 1129 1130 1131

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Krausser 2003, S.432. Krausser 2003, S.439. Krausser 2003, S.449. Diese im Roman selbst angelegte Problematisierung übersieht Ralf Kühn, wenn er UC nur in Kurthes' Sinne als ästhetische Rebellion gegen die Zeit und den Tod deutet, deren „teilweise höchst problematischen Mythisierungen“ die Wissenschaft kritisch zu hinterfragen hätte: Vgl. Kühn 2005, S.1080. Krausser 2003, S.310. Krausser 2003, S.201. Krausser 2003, S.298. Konsequenterweise tut Arndt als Repräsentant einer anderen Kunstauffassung solche Ausführungen entnervt als „Gequatsche“ ab.

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auch die zahlreichen Varianten der jeweils individuellen Erinnerung miteinander in Konflikt, wobei keine Version mehr auf Dauer als verbindlich erscheinen kann. Die komplex angelegte Handlung von UC gibt sich als Versuch zu erkennen, das Gefühl des Lesers für das Verhältnis von Erzählinstanz und erzählter Wirklichkeit außer Kraft zu setzen. Krausser selbst analysiert seinen Roman in diesem Sinne wie folgt: „UC ist ein achtdimensionaler Raum, mit mehreren zusammengesperrten Handlungsvarianten, die sich langsam vermischen. Mehrere auktoriale Erzähler, aber auf abgestuft hierarchischen Meta-Ebenen. Unklar, welches Glied der Befehlskette sozusagen die Wahrheit vertritt. Und eine Wahrheit wäre zu wenig für die Logik dieses Textes. Zum Schluss werden sogar die Akteure gegeneinander ausgetauscht, denn sie sind als Schatten der jeweiligen Kontrahenten angelegt. Ausgehend von diversen Knotenpunkten haben sich mehrere Realitäten entwickelt [...] Und all das ergibt, wenn man sich lang genug damit beschäftigt, eine stringente neue Hyperlogik, eine Ahnung von einem neuen Weltbild.“1135

Die Bewertung dieser neuen Hyperlogik fällt im Roman offensichtlich nicht so positiv aus wie in den Tagebuchaufzeichnungen. Die Konkurrenz der Weltdeutungen ist keine Freiheit, sondern sichtlich ein Machtspiel, das durch eine kapitalistische Dynamik angetrieben wird. Die größte Wirklichkeit kommt dabei jeweils jenen possible worlds zu, an die die meisten Menschen zu glauben bereit sind: „Wirklichkeit ist die Übereinkunft einer Mehrheit der in ihr lebenden Zeugen“1136. Genau diese Übereinkunft jedoch stellt sich als unmöglich heraus: Die Konkurrenz um die Deutungshoheit bleibt unentschieden. So kommt es, dass Arndt bald den Darstellungen dritter Personen mehr Glauben schenkt als seinen eigenen Erinnerungen. Dabei kann jedoch keine der Informationen, die er über seine eigene Vergangenheit recherchiert, letztendlich als glaubwürdig gelten – zumal er sich von Heerscharen nahezu pathologischer Lügner umgeben findet: Neben Kurthes, der Arndt bewusst in die Irre führt, belügen etwa die frustrierte Sybille und ihr gescheiterter Ex-Freund Markus, durch die die MaritaGeschichte überhaupt erst in Arndts Leben tritt, den ehemaligen Klassenkameraden – teilweise gegen Unsummen von Geld – mit immer neuen und immer abwegigeren Versionen der Vergangenheit. Als Sybille zuletzt behauptet, sie selbst habe den Mord begangen, erscheint auch dieses finale Geständnis schon nicht mehr glaubhaft: Sie ist nichts weiter als eine „geisteskranke Rentnerin“1137, die jede Autorität im Wahrheitsspiel längst verloren hat. Arndt indes sieht sich in ein Netz unterschiedlichster Geschichten und Verknüpfungen eingespannt, in dem jede Information über die eigene Vergangenheit unter dem Vorbehalt der möglichen Unglaubwürdigkeit ihrer ‚Zeugen’ steht. Gleichzeitig findet er 1135 1136 1137

Krausser 2003 (c), S.78. Krausser 2003, S.33. Krausser 2003, S.448.

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sich auf die Geschichten reduziert, die andere über ihn erzählen, entsteht ein Gefühl der Schicksalshaftigkeit, da für die eigene Existenz immer auch andere ‚Autoren’ wesentlich mitverantwortlich zu sein scheinen. Dieses Dilemma gewinnt zudem durch den Umstand Gewicht, dass die fremden Erzählungen Arndts eigene Erfahrungen sogar aktiv verändern können, dass sie einmal mehr die Realität eher zu schaffen als darzustellen scheinen.1138 Das gilt insbesondere für Kurthes: „Sam schreibt“, und „Menschen verschwinden, Hunde verschwinden, selbst Gerüche verschwinden“1139, wie Mucos, der fanatische Jünger des Schriftstellers, am Ende verunsichert registriert – wie bereits gezeigt, äußert Arndt sogar einmal den Verdacht, selbst eine Figur des Schriftstellers zu sein. Wieder zeigt sich hier also die radikal konstruktivistische Umkehrung der Zeichenlogik, in der nicht mehr das Zeichen ein unvollständiges Abbild der Welt ist, sondern die Welt vollständig das Resultat der Zeichen, die sie zu beschreiben bloß noch vorgeben. In dem Maße, in dem Arndts Identität sich in einem Spiel von Möglichkeiten auflöst, wird auch seine Autorität als Erzähler des Textes in Mitleidenschaft gezogen. Bald hat es den Anschein, als würden unterschiedlichste Autoren an einem Text schreiben, ohne sich auf konkrete Varianten einigen zu können. Bereits im ersten Teil des Romans scheint Arndt, der nicht nur Verfasser, sondern immer wieder auch verwirrter Leser seiner Patchwork-Lebensgeschichte ist, diese Einmischung anderer Erzählinstanzen zu bemerken: „Ich schreibe auf, was war. Was geschah. Schreibe auf, was mir geschah. Was ich gesehen habe. Was ich erlebt habe, was ich zu erleben glaubte, oder was mich erlebt hat und noch immer erlebt. All diese Formulierungen klingen labil, halten gründlicheren Betrachtungen nicht stand. Ich schreibe auf. Werde aufgeschrieben. Auch das ist möglich.“1140

Was sich hier andeutet, ist ein Leben ‚im Schatten’ einer allumfassenden Medialität, die jeder Autorenschaft vorgelagert und durch die jede subjektive Wahrnehmung immer schon wesentlich bestimmt ist. Die Problematik der beiden Künstler Arndt und Sam ist dabei spiegelbildlich angelegt: Während Arndt die Welt, die ihn umgibt, ebenso wie die Geschichten, die ihm erzählt werden, immer für voll nimmt und auf diese Weise nicht Herr über die Dinge zu werden in der Lage ist, vergisst Kurthes, dass er selbst Teil der Welt ist, die er um Arndt

1138

1139 1140

So etwa in einer Episode, in der sich Arndt durch Annes Intimgeruch gestört fühlt, dieser aber plötzlich verschwindet, als Kurthes – der von solchen Details natürlich keine Ahnung haben dürfte – darauf anspielt. „Anne riecht nicht mehr. [...] Arndt Hermannstein saß im Abendzug und meditierte stundenlang um diese Feststellung herum.“ Krausser 2003, S.232. Krausser 2003, S.358. Krausser 2003, S.42.

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herum inszeniert, und wird schlussendlich von seinen ‚Schöpfungen’, seiner Tochter nämlich, selbst eingeholt und zur Verantwortung gezogen. Auch Hans Christian Andersens Märchen Der Schatten, das vollständig, wenn auch in kurze Abschnitte unterteilt, in die Handlung des zweiten und dritten Teils eingeflochten ist, lässt sich in diesem Kontext interpretieren.1141 Thema des Märchens ist die Menschwerdung eines Schattens durch die Macht der Poesie, die schöpferische Kraft der Kunst. Zu einem reichen und angesehenen Mann geworden, gelingt es dem Schatten, seinen ehemaligen Herren zu unterwerfen und zu seinem eigenen Schatten zu degradieren. Die Gegenwehr des Herren endet in der Katastrophe: Der gesellschaftlich einflussreichere Schatten bewirkt die Hinrichtung des Mannes, dem keiner Glauben schenken will. Der Schatten, der sich in der Nacht in das Zimmer der Poesie schleicht und dort zum Menschen wird, ist nicht zuletzt ein Kunstsymbol, ein ‚Werk’, das wie die Erfindungen von Kurthes durch den Einfluss einer höheren Macht – die Poesie ist im Märchen eine autonome Kraft – zu eigenem Leben erwacht. Gleichzeitig ist der Schatten aber auch das ‚Abbild’ eines Menschen, das sich gegenüber seiner ursprünglichen ‚Referenz’ verselbständigt, der gesellschaftlich definierte Umriss einer Persönlichkeit, der sich soweit verfestigt, dass die Wahlfreiheit des Individuums darüber verloren geht. Im Unterschied zu Andersens Märchen gibt es in Kraussers Roman aber offenbar mehrere Schatten, fungiert jede Person gleichzeitig als Autor und Romanfigur, denn jede entwirft mit seinen Geschichten eine Wirklichkeit, in der die anderen zu seinen Geschöpfen, seinen Schatten werden, gehört aber auch selbst – als Schatten – den Erzählungen dieser anderen an. Wie die Raumzeit sich in die unterschiedlichen Dimensionen des Ultrachronos ausdifferenziert, multiplizieren sich die Personen des Romans so in verschiedene Versionen ihrer selbst, die alle auch wieder erzählen und so immer neue Wirklichkeiten, neue ‚Schatten’ erzeugen.

2.4. Multiversum der Intertextualität Wie schon bei Juli Zeh finden sich auch bei Helmut Krausser zahlreiche Bezüge zur ‚Viele-Welten-Interpretation’ und insbesondere zu den Thesen des Multiversen-Theoretikers David Deutsch. So hält dieser – ebenso wie Kurthes – das herkömmliche Verständnis des Universums für beschränkt, wobei seine Argumentation nicht allein auf Beobachtungen der Quantenphysik aufbaut, sondern auch viele andere Aspekte mit einbezieht – etwa erkenntnistheoretische Überlegungen, Ergebnisse biologischer Forschung oder die Theorie der ‚virtuellen Realität’. Vor allem aber enthält sein Werk eine fundamentale Kritik des Zeitbewusstseins, die von ausführlichen Reflexionen zur Möglichkeit von Zeitreisen begleitet wird. Diese, sollten sie tatsächlich einmal realisiert werden können, 1141

Nach Krausser stellt es allerdings „keinen Schlüssel“ für das Verständnis des Romans, sondern „nur eine Dreingabe“ dar. Vgl. Krausser 2003 (c), S.89.

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würden die Vergangenheit des Zeitreisenden unweigerlich als Geflecht unterschiedlichster gleichberechtigter Welten zeigen.1142 Wie Kurthes behauptet Deutsch, dass sich im Multiversum der Unterschied von Kopie und Original aufhebt, dass also unendlich viele Kopien von uns irgendwo tatsächlich existieren, wobei alle für sich genommen Originale sind1143: „Es gibt uns in vielfachen Fassungen in Universen, die ‚Augenblicke’ heißen. Jede Fassung von uns ist sich der anderen nicht unmittelbar bewusst, hat aber Hinweise auf ihre Existenz [...]. Es ist ein verführerischer Gedanke, dass der Augenblick, dessen wir uns bewusst sind, der einzig wirkliche ist, oder zumindest etwas wirklicher als die anderen. Alle Augenblicke sind physikalisch wirklich.“1144

Für Deutsch ist es dabei keineswegs kontraintuitiv, von einer Vielzahl von Universen auszugehen, denn schon das Denken selbst begreift er als einen Erzeuger unterschiedlicher Wirklichkeiten, als einen Produzenten „virtueller Realität“. Für sich genommen bleibt freilich jede einzelne der von uns simulierten Welten als Modell der Wirklichkeit ungenau, da diese immer nur als ein einziges Universum konzipiert werden, „während es in Wirklichkeit viele gibt.“1145 Für Deutsch ist das Multiversum die Summe aller Geschehnisse, die physikalisch zu irgendeinem Zeitpunkt möglich sind, weshalb er von einem „Gewebe der allumfassenden Möglichkeiten“1146 spricht, die alle gleichzeitig als real gelten müssen. Eine weitere Parallele zu Kraussers Roman findet sich darin, dass Deutsch die quantentheoretische Argumentation, die die Existenz anderer Wirklichkeiten nachweisen soll, mit Hilfe von „Schatten“ veranschaulicht, die die Parallelwelten zu ‚Schattenwelten’ der unseren machen.1147 Die Entdeckung solcher Schattenwelten durch die Quantenmechanik begreift er als kopernikanische Wende, wobei

1142

1143 1144 1145 1146 1147

Vgl. Deutsch 1996, S.277ff. Den gleichen Gedanken äußert Krausser im Tagebuch des Novembers 1998: „Ich glaube inzwischen an die Möglichkeit einer Zeitmaschine, die in die Zeit vor ihrer Erfindung zurückreisen könnte. Was Hawking aus ziemlich dünnmaschigen Gründen für unmöglich hält. (Er nimmt, denke ich, auf Paradoxe Rücksicht, die in jedem Fall – und jeder Richtung – entstehen würden, lösbar nur durch Parallelwelten, die, wenn sie denn existieren, nur dank der Errungenschaft des Zeitreisens existieren werden. Sie hätten sonst keinen Existenzbedarf.)“ Eine solche Reise in Vergangenheiten, die durch die Zeitreise selbst eigentlich erst als neue Parallelwelten entstehen würden, bezeichnet Krausser als „das allerhöchste Kino“: Vgl. Krausser 2000, S.159. Vgl. auch Kühn 2005, S.855ff. Im gleichen Monat begeistert sich Krausser auch für den Film Lola Rennt (D 1998, Tom Tykwer), den er als „dargestellte Quantenphysik“ und ebenfalls als ParallelweltenSzenario deutet. Vgl. Krausser 2000, S.288ff. Deutsch 1996, S.264ff. Deutsch 1996, S.275. Deutsch 1996, S.136 & S.150. Deutsch 1996, S.149. Deutsch 1996, S.35ff.

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das Festhalten an der Theorie eines einzigen Universums aus seiner Sicht nur die Engstirnigkeit etablierter Wissenschaft belegt.1148 Während allerdings für Deutsch die Entdeckung ‚alternativer’ Vergangenheiten und Gegenwarten auch unseres eigenen Lebens offenbar keine größeren Widersprüche erzeugen würde, zeigt sich das literarische Experiment von Helmut Krausser diesbezüglich deutlich skeptischer. So hat es auch den Anschein, dass die zeittheoretisch reflektierte Ästhetik der ‚spielerischen Moderne’, in der ebenfalls das Modell des ‚Zeitnetzes’ im Mittelpunkt steht, in UC zwar zitiert, aber auch entscheidend verändert wird. Denn hier pluralisiert sich die Vergangenheit gegen den Willen des Protagonisten, erscheint sie als die Realität, die hinter der bloß geglaubten, nun aber nicht mehr gültigen Einförmigkeit unserer Wirklichkeit immer schon verborgen lag. Nicht mehr also ist ‚Terra’ die Ausgangswirklichkeit, von der sich die Kunst- und Erinnerungswelt ‚Anti-Terra’ abhebt; vielmehr mutiert die Wirklichkeit selbst immer deutlicher zu einem – sogar wissenschaftlich fundierten – ‚Garten der Pfade, die sich verzweigen’. Dieser Unterschied zwischen Kraussers Roman und den ästhetischen Konzepten der ‚spielerischen Moderne’ gewinnt vor dem Hintergrund der auffälligen Parallelen, die sich vor allem zwischen Nabokovs Ada or Ardor und UC ausmachen lassen und auf die weiter oben bereits hingewiesen wurde, noch zusätzlich an Gewicht. Wie Kurthes definiert so auch Nabokov eine Rangfolge des Bewusstseins, auf der der Mensch nur eine Zwischenstufe auf dem Weg hin zu einem „absoluten Chronos“ darstellt, „in dem jeder Zeitpunkt originär ist, keiner dem anderen vor- oder nachgelagert“1149: „Time without consciousness – lower animal world; time with consciousness – man; consciousness without time – some still higher state”1150 Und wenn Arndt die Intensität der Erinnerungen für wichtiger erklärt als ihren Wahrheitsgehalt, so findet sich darin eine offenkundige Parallele zur ästhetisierter Erinnerungswelt aus Ada. Wie für Van van Veen spielt für Arndt zudem die Erotik eine zentrale Rolle, orientiert sich sein Gedächtnis sogar fast ausschließlich an Frauen: „Wenn ich an irgendeine zurückliegende Zeit denke, ist sie stets mit dem Namen der jeweiligen Frau verbunden, mit der ich zusammen war, zusammen sein durfte“1151. Vor allem aber steht im Mittelpunkt beider Romane eine Verhältnisbestimmung von Zeit und Erzählen, mittelbar damit aber auch von Zeit und Kunst. Die wirkliche und die bloß möglich gewesene Vergangenheit werden hier in erster Linie im Blick des Künstlers zu gleichberechtigten Realitäten, „weil die Vergangenheit nur in deren Wechselbeziehung zu leben beginnt“1152 – ein eindeutiger Zeitverlauf, der keine unterschiedlichen Rekonstruktionen zuließe, würde schließlich ein entwickeltes Zeitbewusstsein – und damit implizit auch die Lite1148 1149 1150 1151 1152

Vgl. Deutsch 1996, S.178. Krausser 2003, S.204. Nabokov, Vladimir: Strange Opinions, New York 1973, S.30. Krausser 2003, S.13. Krausser 2003, S.389.

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ratur – überflüssig machen. Ähnlich wie in Kraussers Roman gibt es auch in Ada Phänomene der „Transtemporalität“, die an den Hyperchronos bei Krausser erinnern, allerdings viel eindeutiger an kognitive Muster, an das Verhältnis von Erinnerung und Phantasie gebunden sind: Sie sind „a complex form of anachronism in which the present can antedate the past.”1153 Beispielhaft ist der Moment der ersten Begegnung von Van und Ada, der Van als Auslöser seiner lebenslangen Liebe jederzeit genau vor Augen steht – obwohl er offensichtlich fiktiv ist. Die Hierarchie von Ereignis und Rekonstruktion wird dabei umstandslos ins Gegenteil verkehrt: „Ada hielt einen unordentlichen Strauß wilder Blumen. Sie trug einen weißen Rock mit einer schwarzen Jacke, und in ihrem langen Haar war eine weiße Schleife. Er sah diese Kleidung nie wieder an ihr, und wenn er sie bei rückblickender Betrachtung erwähnte, beharrte Ada darauf, dass er geträumt haben musste, sie hatte nie so etwas besessen, konnte niemals an einem so heißen Tag einen dunklen Blazer getragen haben, aber er hielt an seinem allerersten Bild von ihr bis zum Schluss fest.“1154

Diese konstruktive Macht des Erinnerns bietet bei Nabokov einen Ausweg aus dem Schematismus der linearen Zeit. Das Privileg des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen besteht in der Fähigkeit zur beliebigen Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, in der auch die menschliche Freiheit begründet liegt. Bei Krausser hingegen kollidieren die unterschiedlichen Versionen miteinander, wird die Vergangenheit so lange in widersprüchliche Fiktionen überführt, bis die ‚eigentliche’ Chronologie nicht mehr erkennbar ist. Bei Nabokov repräsentiert die gelöste Heiterkeit und der spielerische Gestus der Figuren ein Verhältnis schöpferischer Distanz zur dargestellten Wirklichkeit; in Kraussers Roman wird eben diese zum grundsätzlichen Dilemma: In einer künstlichen Welt hat die Kunst nicht nur ihre Aufgabe und ihre Position, sondern auch ihr Anliegen verloren, fehlt ihr der Hebel für eine wirksame Kritik der herrschenden Zustände, da sie sich aus der Fülle der Inszenierungen nicht mehr herausheben kann. In Ada or Ardor wird die Kunstwelt des Romans als eine Abweichung inszeniert, ist ‚Anti-Terra’ deshalb das Land der Freiheit, weil es sich von der Folie ‚Terra’ abhebt: Über den anderen Planeten ‚Terra’ kann man sich auf ‚Anti-Terra’ zwar im Kino oder durch Bücher, etwa Vans „Briefe von Terra“, informieren, die Kriege und Grausamkeiten dort aber haben in der Kunstwelt ‚Anti-Terras’, deren Geschichte immer ein paar Jahrzehnte hinter derjenigen ‚Terras’ hinterher hinkt, schlicht keine Realität.1155 Die Romanwelt von UC hat keine solche Referenz mehr; sie erscheint als ein ‚Anti-Terra’ nach dem endgültigen Untergang ‚Terras’, weshalb es in ihr nicht nur ein Kino gibt, 1153

1154 1155

Swanson, Roy Arthur: Nabokov’s Ada as Science Fiction, in: Science Fiction Studies 5/1975, http://www.depauw.edu/sfs/backissues/5/swanson5art.htm. Nabokov 1977, S.55. Zu den „Briefen von Terra“ vgl. Nabokov 1977, S.414ff.

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sondern unendlich viele, in denen letztlich auch unendlich viele unterschiedliche Versionen der Wirklichkeit zu sehen sind. Inszeniert wird keine ‚Abweichung’ mehr, da es nichts mehr gibt, wovon abgewichen werden könnte – jede Kopie ist selbst ein Original, und gleichzeitig ist „nichts“ mehr „endgültig real.“1156 Der Unterschied lässt sich an einer weiteren Metapher verdeutlichen, die beide Romane analog verwenden: der rekonstruierten Altstadt. Wie das malerische Städtchen Zembre, von dessen Rekonstruktion Van in Nabokovs Roman berichtet, ist es bei Krausser das „im 18. Jahrhundert verlassene Dorf Monterrano westlich des Lago Bracciano“, das eine moderne Neuinszenierung erlebt. Während das originale Zembre jedoch noch existiert, sich im Laufe der Zeit jedoch so verändert hat, dass eine Rekonstruktion der Altstadt auf der anderen Seite des Flusses unternommen wird, um den ursprünglichen Zustand zu dokumentieren, ist Monterrano zunächst eine Anhäufung architektonischer Trümmer: „Die zivilisatorischen Relikte aus so unterschiedlichen, weit auseinanderliegenden Epochen ergeben eine Art Querschnitt durch die Zeit, es ist ein schweigsamer, entmutigender Ort.“1157 Anders als bei Nabokov wird diese verfallene, unzugängliche Vergangenheit unmittelbar „nach Erscheinen von UC“, dem Roman von Samuel Kurthes, nun vollständig „zerstört“ und durch eine Fiktion ersetzt, die mit dem originalen Monterrano eigentlich nichts mehr zu tun hat: „Man sicherte die verbliebenen Mauerreste mit Stahldraht, stellte Hinweistafeln auf, Dixiklos, schlug eine Straße durch den Wald für die Reisebusse, baute einen Parkplatz. Vor der verfallenen Kirche San Bonaventura wurde, um die Sehenwürdigkeitendichte des Ortes zu erhöhen, die Kopie eines von Bernini entworfenen Brunnens errichtet.“1158 Wie bei Nabokov ist die Vergangenheit auch bei Krausser nur als Rekonstruktion erfahrbar, weicht die gegenwärtige Inszenierung immer von der vergangenen Wirklichkeit ab. Doch ist diese Abweichung hier unkenntlich gemacht, verliert die Neugestaltung den Bezug auf das Original, das nicht – wie in „Zembre“ – ‚historistisch’ musealisiert, sondern tatsächlich „zerstört“ wird. Die Erfindung der Wirklichkeit ist in UC so zu einer vollends referenzlosen Betätigung geworden, die Vergangenheit zu einem „Reich des Fantastischen“, in dem „ohne Sattel, Netz und doppelten Boden“ geritten werden muss.1159 Die Zeitmotivik in Kraussers Roman zeigt so auf allen Ebenen offenkundige Unterschiede zum literarischen Zeit-Diskurs um 1900. Kurthes' Opposition gegen das lineare Zeitverständnis zitiert zwar die ästhetischen Ansätze insbesondere der ‚spielerischen Moderne’, beschreibt aber eigentlich eine längst im Wandel begriffene Erfahrungswelt, in der die Zeitstrukturen und Zeiterfahrungen der Vergangenheit nicht länger Gültigkeit besitzen. An ihre Stelle aber treten neue Muster, tritt auch eine neue Struktur der Macht: „Alles ist ein Spiel und ge1156 1157 1158 1159

Krausser 2003, S.435. Krausser 2003, S.371f. Krausser 2003, S.377. Krausser 2003, S.353.

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fährlich“, erkennt Arndt einmal, „man kann in diesem Spiel draufgehen, aber wer sich ihm von vornherein entzieht, ist ganz schnell tot, nur dass er es eben, weil er scheinbar noch lebt, viel schmerzhafter zu spüren bekommt.“ 1160 Das einstmals nur literarische Konzept einer ‚spielerischen’ Welterzeugung ist zu einem Element der Wirklichkeit, das Spiel auf diese Weise „gefährlich“ ernst geworden.

3. Nach dem Ende der Zeit: Thomas Lehrs 42 Dass im Augenblick des Todes die Zeit stehen bleiben und die ganze Welt zu jenem ‚Bild’ gefrieren könnte, das sie, verschleiert durch die bewegliche Illusion der Zeit, in Wirklichkeit immer schon war, ist eine bei den neueren Zeitautoren häufig wiederkehrende Phantasie.1161 In Kraussers Roman UC hält jede Bewegung inne, als der Text und mit ihm die Reise durch den Ultrachronos am Ende angekommen ist: Kurthes und Anna erstarren, und „weder Atem, noch Blut oder überhaupt eine Spur von Leben schien ihren Körpern geblieben.“ 1162 Kurthes selbst beschreibt in seinem Vortrag den Tod als Stillstand der Zeit: „Im Moment des Todes steht für den Sterbenden die Zeit still. Vielleicht verharrt er in diesem Moment ‚in alle Ewigkeit’, sozusagen – gibt ja keine Organzeit mehr, wohl aber eine zeitlose Landschaft, die aus unseren Träumen und Lieben und Göttern besteht.“1163

Ein vergleichbares Motiv steht auch am Ende von Daniel Kehlmanns bereits erwähntem ersten Roman Beerholms Vorstellung: Der Magier Beerholm wird um genau 12 Uhr, in gleißender Mittagssonne, den Sprung vom Fernsehturm wagen; der Himmel wird dabei „klar und weit ausgespannt“ sein und das Flugzeug, das darauf zu sehen ist, wird im schattenlosen Mittag auf einmal stehenbleiben: „Funkelnd, umstrahlt vom Mittag und wie erstarrt in der hellen Luft.“1164 Die Komposition erinnert an Nietzsches „großen Mittag“: „Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrtums; Höhepunkt der Menschheit“1165, ist dieser als ein exponierter Moment konzipiert, in dem sich der Mensch, „da ihn nichts trägt, selbst in die Hand nehmen“, sich „in absoluter Leere selbst zu einem Ziele umschaffen“1166 muss. Gelöst von seinen Irrtümern, wird der Mensch bei Nietzsche in der Zeitlosigkeit des Mittags frei für einen neuen Weg der Er1160 1161 1162 1163 1164 1165

1166

Krausser 2003, S.385. Zahlreiche Beispiele finden sich bei Kühn 2005, S.447ff. Krausser 2003, S.478. Krausser 2003, S.203. Kehlmann 2000, S.286. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: KSA 6, S.81. Schlechta, Karl: Nietzsches großer Mittag, Frankfurt a.M. 1954, S.51.

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kenntnis. Gleichzeitig eignet dem mittäglichen Augenblick aber auch eine merkwürdige Ambivalenz: In der Evidenz unmittelbarer Anschauung wird die Welt zu einem Gleichnis für etwas anderes, Unsichtbares, wird damit aber selbst unwirklich und zu einer Erfahrung, die einem „Tod mit wachen Augen“ gleichkommt.1167 Thomas Lehr hat aus dieser Vision einen ganzen Roman gemacht. Wie bei Daniel Kehlmann klebt auch in 42 ein Flugzeug an einem in greller Mittagshelligkeit erstarrten Himmel und kündet den 70 Besuchern des Schweizer Forschungszentrums CERN von ihrem Eintritt in einen völlig unglaublichen, ‚anderen’ Zustand. Der Protagonist heißt Adrian und ist Wissenschaftsjournalist; zusammen mit anderen Interessierten hat er sich gerade den gigantischen unterirdischen Teilchenbeschleuniger DELPHI unterhalb der „fünf Hallen des PA-8Geländes“ angesehen, wozu er wie Lewis Carrols Alice tief in die Erde herabfahren musste.1168 Als er in Begleitung seiner Kollegen und einiger Forscher wieder ans Tageslicht gelangt, ist die Zeit stehengeblieben: Ein Flugzeug klebt bewegungslos am Himmel, ein im Sprung befindlicher Polizist verharrt in der Luft. Nur die besinnungslos aus dem Fahrstuhl taumelnden „Chronifizierten“ – später nennen sie sich auch „Zombies“ – können sich noch bewegen. Um sie herum haben sich schmale Sphären gebildet, in denen die Zeit normal weiterläuft. Kommunikation ist nur möglich, wenn die Chronifizierten sich so dicht nebeneinander befinden, dass sich ihre Sphären zusammenschließen: „Innerhalb dieser Grenzen, die wir in panischem und halb wahnsinnigem Zustand erkunden mussten, hören wir uns. Ein Schritt beiseite, ein Kopfdrehen, augenblicklich umfängt uns dann wieder die Stille oder vielmehr: nur noch der Lärm, den wir selbst machen.“1169 Auch Bewegung gibt es nur innerhalb der Sphäre: Schon „ein Besenstiel ist zu breit“1170, bleibt notwendig in der unsichtbaren „Hülle“ der Zeitlosigkeit stecken. Allerdings bewegen sich die Sphären mit den Protagonisten, sodass diese sich vollkommen frei über eine im Augenblick erstarrte, dabei zuverlässig konservierte Standwelt bewegen können. In ihr bleibt alles, wie es ist: das Essen warm, der im Fluss befindliche Sekt ein stehender Strahl in der kristallisierten Luft, die Autos, Menschen, Tiere eingefroren mitten in ihrer Bewegung. Nur wenn sich einer der Chronifizierten den Dingen oder Menschen nähert, gehorchen sie bei Eintritt in seine Sphäre wieder den normalen Gesetzen der Natur: In der Luft schwebende Dinge fallen zu Boden, ebenso Personen und Tiere, die zwar weiterleben, aber sich wie willenlose Puppen verhalten. Nur Licht, Luft und Wasser ‚funktionieren’ innerhalb der Sphären erstaunlicherweise in althergebrachter Weise: „Das fast ist die Illusion“, wie Adri1167

1168

1169 1170

Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches – Ein Buch für freie Geister (mit zwei Fortsetzungen), KSA 2, S.690. Lehr 2005, S.28. Vgl. zudem Auffermann, Verena: Thomas Lehr: 42, in: Literaturen 10/2005, S.46. Lehr 2005, S.32. Lehr 2005, S.38.

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an einmal zusammenfasst.1171 Damit ist zugleich ein wesentliches Konstruktionsprinzip des Romans auf den Punkt gebracht: Der ehemalige Naturwissenschaftler Thomas Lehr entwirft seine Romanwelt unter Zuhilfenahme eines breiten sowohl natur- als auch geisteswissenschaftlichen Wissens, fügt dabei aber immer wieder Fehler und unlogische Elemente ein, die eine abschließende Erklärung für den „Störfall“1172 unmöglich erscheinen lassen. Wie die meisten neueren Zeitromane enthält Lehrs Roman offenkundig Elemente der Science Fiction, spielt aber dennoch in der Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts und entwirft so ein Szenario, das „auf eine verstörende, irreale Weise“ realistisch wirkt.1173 Aus der Ich-Perspektive Adrians schildert der Roman die fünf Jahre, die nach dem Stillstand der Zeit für die Chronofizierten vergehen. Ihnen entsprechen fünf Entwicklungsphasen der Chronifizierten, die gleichzeitig die Überschriften der fünf Hauptkapitel bilden: Schock, Orientierung, Missbrauch, Depression und Fanatismus. Die Kapitel halten sich inhaltlich allerdings nur vage an diese Einteilung; vielmehr wird grundsätzlich auf mehreren Ebenen gleichzeitig erzählt, sodass der Leser die Chronologie der Ereignisse selbst rekonstruieren muss. Besonderes Augenmerk wird zunächst auf die Umstände des Zeitstillstands selbst gelegt: Dem Entsetzen der „Chronifizierten“ nach dem Verlassen des Fahstuhls folgt eine erste Bestandsaufnahme des noch bewegungsfähigen Teils der Menschheit. Unter den 70 weitgehend männlichen Besuchern sind auch einige Wissenschaftler des CERN, vor allem der „Repräsentant“ Thillet, ferner Mendecker, der Leiter der Exkursion, der humanistisch gebildete Sperber1174 sowie zwei japanische Forscher, Hayami und Daisuke, die bereits früh die eigentliche Erklärung für den merkwürdigen Unfall liefern, als sie auf den genauen Zeitpunkt aufmerksam machen, an dem der Stillstand eingetreten ist: 12 Uhr, 47 Minuten, 42 Sekunden. „42“, der Titel des Romans, sage dabei „jedem etwas, der Japanisch verstehe: shi ni, zweiundvierzig, heiße auch Tod.“1175 Erst auf der letzten Seite des Romans, nach fünf Jahren in der „Unzeit“, wird sich herausstellen, wie sehr dieser Titel passt: Zwei Chronifizierte, die in den Fahrstuhlschacht hinabgestiegen sind, haben dort ihre eigenen verstümmelten Leichen und den von einer Explosion zerrissenen Teilchenbeschleuniger entdeckt. Es sind also tatsächlich Nietzsches Tote mit wachen Augen, von denen der Roman erzählt. Der ersten Orientierung folgt ein gemeinsamer Rückzug der Chronifizierten nach Genf, wo man sich zu besprechen versucht. Die Forscher des CERN aber sind ratlos, die unzähligen Zusammentreffen bleiben ohne Ergebnis, und so beginnt die Gruppe sich nach einigen Wochen zu zerstreuen – auch im Auftrag 1171 1172 1173

1174 1175

Lehr 2005, S.41. Lehr 2005, S.35. Böttiger, Helmut: Wenn plötzlich die Zeit stillsteht. Thomas Lehrs Thriller „42“ über die Relativitätstheorie bezieht seine Spannung allein aus der Literatur, in: Die Zeit Nr. 42 (13.10.2005), S.L24. Vgl. Lehr 2005, S.26f. Lehr 2005, S.36.

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der Physiker, die herausfinden wollen, wie groß die vom Stillstand betroffene Fläche ist. Grenzen werden im Verlauf der fünf folgenden Jahre jedoch keine entdeckt, das Universum scheint insgesamt stillzustehen. Stattdessen fragmentiert sich die Gruppe zunehmend, wandert jeder allein durch das gigantische Europa-Museum, entweder auf der Suche nach seinen Angehörigen oder einfach den inneren, willkürlichen Eingebungen folgend. Am Anfang ist die Erwartung, die Zeit könne bald wieder einsetzen, noch weit verbreitet, und viele Chronifizierte nutzen den Stillstand, um in die ‚Wirklichkeit’ einzugreifen, etwa um verbrecherische Politiker zu ermorden oder mit Prominenten ihren Schabernack zu treiben. Mit der Zeit aber nimmt der Fatalismus zu: Zunehmend perverser „Mißbrauch“ der sogenannten „Fuzzis“, jener Menschen also, die nicht chronifiziert wurden und die in der „FOLIE“ verharren, kennzeichnet die Sinnlosigkeit der Existenz, die die „Zombies“ empfinden. Neuigkeiten aus der „Unzeit“ – etwa bezüglich der Morde, die auch unter den Chronifizierten stattfinden – werden in einem von Sperber herausgegebenen „Bulletin“ gesammelt, das an Bahnhöfen hinterlegt wird. Vor allem aber ist das Leben der Chronifizierten rückwärtsgewandt, auf die ‚Zeit’ vor dem Unfall gerichtet. Adrian ist dabei tatsächlich auf der Suche nach der verlorenen Zeit, nach den Überresten seiner vormaligen Existenz. In seinen Rückblicken gibt er sich dem Leser als Ehemann zu erkennen, der kürzlich seine Frau Karin mit Anna betrogen hat, die mit ihrem Freund Boris ebenfalls den Teilchenbeschleuniger besucht hat und deshalb auch chronifiziert wurde. Adrian wähnt seine Frau im Urlaub an der Ostsee, zusammen mit einer guten Freundin, findet sie aber am Ende seiner ersten, langen Reise quer durch Deutschland – zu Fuß, da keine Fortbewegungsmittel mehr funktionieren – dort nicht vor. Viel Aufwand verwendet Lehr auf die Modalitäten des Reisens und alltäglichen Lebens in der „FOLIE“: Während das Beschaffen von Nahrung aufgrund der in der Zeitlosigkeit bestens konservierten Nahrungsmittel kein Problem ist, sind für längere Wanderungen in ständiger Mittagshitze einige Vorkehrungen nötig. Probleme bereitet der Schlaf, da die Sonne niemals untergeht und es keinen Schutz vor anderen, möglicherweise gewalttätigen Chronifizierten gibt – wie alle „Zombies“ schläft Adrian deshalb grundsätzlich in ausgetüftelten Verstecken. Nach weitläufigen Recherchen, die ihn unter dergestalt erschwerten Bedingungen zu einer Wanderung durch ganz Europa nötigen, ertappt er seine Frau Karin schließlich inflagranti bei einem Seitensprung in Florenz, eingefroren in der mittäglichen Trägheit, die dem vollzogenen Akt folgt. Für den Fall, dass die Zeit auch für ihn wieder einsetzen könnte, stürzt Adrian den wehrlosen Liebhaber aus dem Fenster. Den Großteil der Handlung bildet Adrians Rückreise nach Genf, fünf Jahre „Unzeit“ nach dem Unfall und ausgelöst durch ein Ereignis, das die Chronifizierten als „RUCK“ bezeichnen: Die Weltzeit ist doch noch einmal weitergegangen, wenn auch nur für drei Sekunden. Nun scheint es neue Hoffnung zu geben, und zum ersten Mal wird erwartet, dass es bei der Jahreskonferenz tat-

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sächlich Neues zu hören geben wird. Bereits der erste Absatz des Romans macht die Bedeutung dieses Ereignisses deutlich: „Ein Augenblick. Ich sah das Höllenflackern, den tödlichen paradiesischen Schimmer, der durch die Nachtzellen der Pupillen in die kristallisierten Gehirne schoss und sie vor Angst und Hoffnung hätte zerspringen lassen müssen. Dieses wahnwitzige, einzig wirkliche, sanfte Vibrieren des Gefüges! Schritte. Die Ahnung eines sommerlichen Luftzugs. Musik. Das Herz der Welt, wieder erwacht für einen einzigen Schlag. Seither ist jeder Gegenstand verdächtig. Klar und ohne Ausflucht erkennen wir, dass der Ort, an dem wir uns befinden, unmöglich ist.“1176

Auf seiner Rückreise trifft der – mangels durchsetzbarer Gesetze inzwischen notwendigerweise bewaffnete – Adrian zunächst auf Boris und Anna, später dann auch auf weitere Chronifizierte. Gemeinsam finden sie ein Dorf, in dem einige Zombies eine von Fuzzis „gesäuberte“ Gemeinschaft gegründet haben, allerdings von einer unbekannten Seuche weitgehend dahingerafft worden sind. Der japanische Forscher Hayami, der den „RUCK“ vorausgesagt haben soll, wird seiner perversen Neigungen überführt, als man eine umfangreiche Installation nackter Frauen und kopulierender Paare in „erstaunliche[n] Pose[n]“ vorfindet.1177 Ein „Scheinklon“ von Daisuke, ein „Fuzzi“ also, der dem zweiten der beiden chronifizierten Japaner zum Verwechseln ähnlich sieht, wurde von Hayami so zurechtgemacht, dass die Illsuion erzeugt wird, der Forscher habe seinen Landsmann in die „wirkliche Zeit“ zurückbefördert. Später aber treffen Adrian, Boris und Anna selbst auf den wirklichen Daisuke, der sich ihrer Gruppe anschließt. Gemeinsam finden sie das „Château de Chillon“, in dem Sperber sich verschanzt hat und sein Bulletin druckt. Der Forscher erscheint dabei anfangs als von einer seiner eigenen Tretminen getöteter „blutig marmorierter Feuerball“1178 auf der Zugbrücke der Burg, was sich ebenso wie der Scheinklon Daisukes später jedoch als Irrtum und als weitere der zahlreichen Finten herausstellt, von denen die Romanhandlung durchzogen ist – der Tote ist ein anderer Chronifizierter. In der Burg befinden sich zwölf eingefrorene Doppelgänger Sperbers, die ihn in verschiedenen Situationen seines Tagesablaufs zeigen. Offenbar mit dem „RUCK“ zusammenhängend, ist dies ein weiteres Rätsel der Standwelt, das ungelöst bleibt – so wie der „RUCK“ selbst, der sich nichtwiederholt und bis zum Ende des Romans unerklärt bleibt. Später geben sich die vier Wanderer einem Gelage hin, bei dem sie die Ereignisse in einem philosophischen Kontext beleuchten und das in einer Orgie endet. Gemeinsam kehrt die Gruppe nach Genf zurück, wo sich fast alle Chronifizierten eingefunden haben, weil sie auf eine Möglichkeit hoffen, das „GANZ NORMALE FORTFAHREN“ gemeinsam bewerkstelligen zu können 1176 1177 1178

Lehr 2005, S.11. Lehr 2005, S.194. Lehr 2005, S.225.

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– die Terminologie der „Zombies“ ist von solchen in Initialien gesetzten Begriffen durchzogen. Inzwischen hat man herausgefunden, dass das P8-Gelände, der Ort des „Störfalls“, inzwischen eine „Kopierzone“ geworden ist: Wer sich dorthin begibt, findet nach einem kurzen Moment der Todesangst einen erstarrten Doppelgänger seiner selbst vor. Je mehr Leute gleichzeitig diese Kopierzone betreten, desto jünger werden die Doppelgänger – was die Hoffnung nährt, dass bei einer möglichst großen Anzahl von Chronifizierten eine Rückkehr in die normale Zeit, die fünf Jahre zuvor geendet hat, möglich werden könnte. Bis auf wenige Skeptiker, unter ihnen Anna und Boris, schließen sich alle „Zombies“ dem Experiment an. Nach dem Eintritt in die „Kopierzone“ sieht Adrian noch einmal sein ganzes Leben vor dem inneren Auge ablaufen, begibt sich also in eine Art ‚Ultrachronos’, aus dem erwachend er sich selbst lebendig, die anderen Chronifizierten aber nun auch in der Zeitlosigkeit erstarrt vorfindet. Dem Hinweis eines anderen Chronifizierten folgend, mit dem er kurz vor dem Experiment noch gesprochen hat, findet der nun von allen anderen Menschen endgültig isolierte Adrian einige Fotos aus der unterirdischen Anlage des Teilchenbeschleunigers DELPHI, die ihm die Wahrheit über seinen Zustand verraten: „Die Aufnahmen zeigen den Detektor zunächst in der Totale, so dass man die unversehrte obere Hälfte gut mit dem unteren, zerfetzten und wie leck geschlagenen Teil vergleichen kann, aus dessen Schwärze eine verbogene eiserne Leiter ragt. Dann nähert sich das Bild unserem Leichenfeld, das zu beschreiben ich mir hier, in meinem sechsten Notizbuch, erspare. Das vorletzte Bild zeigt, ob aus purem Zufall oder infolge einer bewusst getroffenen Auswahl, mich selbst, direkt neben Anna und Boris, so als hätte ein irrer chirugischer Experimentator ohne geeignetes Werkzeug uns zu einem einzigen Menschen zusammenfügen wollen. Das also ist mein Zustand, und nichts anderes habe ich seit Monaten gedacht.“1179

3.1. Die Irrationalität der „Unzeit“ Der Bruch in der Zeit ist in 42 offenkundig angelegt als Aussetzen der Weltzeit. Während die individuellen Handlungen zeitlich intakt und durch direkte Kommunikation auch weiterhin zwischen den „Zombies“ koordinierbar bleiben, tritt ihr allgemeines Bezugsfeld, die Weltzeit, außer Funktion. Zwar liefert trotz des Stillstands weiterhin die ‚Gesellschaft’ die notwendigen Lebensmittel für die Chronifizierten und bildet auch den wesentlichen Rahmen ihrer Handlungen, doch finden diese nicht mehr in Form einer Interaktion statt: Für die Individuen gibt es keine Möglichkeit der Teilhabe, alle Handlungsoptionen sind auf – zunehmend dekadente – Formen individueller Bedürfnisbefriedigung begrenzt. Dabei fällt auf, dass für alle „Zombies“ die Zeit weiterhin gleich schnell und gleich verlässlich verläuft: Es gibt keine außergewöhnlichen temporalen Brüche 1179

Lehr 2005, S.368.

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in der individuellen Erfahrungswelt, wie sie etwa in den Romanen von Krausser, Kehlmann oder Wallner strukturbildend sind. Trotz der Begrenztheit der einzelnen Zeitblasen lebt das Personal in dem Roman Thomas Lehrs eigentlich weiter in einer gemeinsamen Zeit – allein dass die Gemeinschaft, für die diese Zeit gilt, begrenzt und zufällig zusammengewürfelt und der Kontakt zu den anderen Menschen, den „Fuzzis“, endgültig abgebrochen ist. Verändert hat sich in 42 also in erster Linie der Raum, der einer anderen, neuartigen Physik gehorcht, einer Physik totalen Stillstands nämlich, die sich nur durch unmittelbare körperliche Nähe zeitweilig unterbrechen lässt. Nur die ‚gesellschaftliche Zeit’ hat ausgesetzt, während das individuelle Zeitempfinden intakt bleibt. Die Kristallisation der Welt bedeutet für die Betroffenen deshalb auch keine Widerlegung der Zeit, wie sie etwa im Zentrum der Romane Kehlmanns oder Wallners steht. Der Schock wird hier vielmehr durch die Erkenntnis ausgelöst, dass durch den plötzlichen Stillstand ein nachträglicher Beweis für die einstmalige Existenz der Zeit geliefert ist: Wenn die Welt in einem einzelnen Moment anhalten konnte, bedeutet dies schließlich, dass die mathematisch abstrakte, aus endlosen Zeitpunkten zusammengesetzte Zeitlinie existiert haben muss, dass die Konvention der Weltzeit tatsächlich einmal Wirklichkeit besaß. Das Paradox Zenons, das eigentlich die Unlogik dieses Zeitmodells aufweisen sollte – ein durch die Luft fliegender Pfeil kann in jedem ausdehnunglosen Zeitpunkt nur eine konkrete Position einnehmen und befindet sich deshalb in einem Ruhezustand –, wird nicht nur immer wieder zitiert, es wird zum Symbol der Chronofizierten, zu dem Logo, das den Kopf ihres Bulletins schmückt. Dabei ist das Paradox Zenons aus wissenschaftlicher Sicht längst widerlegt: Der „Gefrierschnitt der Welt“ ist „unmöglich, niemals realisierbar, denn unter die Planck-Sekunde, eine 10 hoch minus 43 Sekunde niedrige Latte, könne der große Limbo-Tänzer sich niemals biegen, eine Fotografie der Welt somit nicht existieren, allenfalls eine Nebelkammer läge im Bereich des Vorstellbaren oder ein waberndes universelles Protoplasma, der Schaum der nächsten Zukunft, mit dem alles schon immer ausgestopft gewesen sei.“1180 Dennoch aber ist der „Pfeil Zenons, der in der Luft erstarrt“1181, auf erschreckende Weise Wirklichkeit geworden, und nun wird deutlich, was den Chronifizierten verloren gegangen ist: Ohne die Referenzebene eines vertrauenswürdigen temporalen Ablaufs der Welt verlieren sie sich in eine radikale, anarchische Individualität, in der es kaum mehr eine gemeinsame Geschichte gibt. Die auf diese Weise nachgewiesene „himmelschreiende Unlogik der Chronosphäre“ erspart den Chronifizierten aber nicht die Auseinandersetzung mit ihren unlösbaren Fragen: Wieso etwa erlischt das Licht nicht, obwohl Radiowellen nicht durch die „FOLIE“ dringen können? Wie zirkuliert die Luft, wie bleiben die Chronifizierten in ihren Eigenzeit-Blasen am Leben? Und wieso bewegen sich die Zeitkapseln mit den dazugehörenden Menschen, „wenn doch jeder 1180 1181

Lehr 2005, S.148. Lehr 2005, S.17.

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Papierflieger, jeder Ball, jedes Wurfmesser, jede Pistolenkugel in der unsichtbarem Hülle stecken bleibt“ – vom Schall einmal ganz abgesehen. Nirgends scheint es noch irgendeine Form von Elektrizität zu geben, aber „die elektrochemischen Vorgänge in unserem Nervensystem mussten sich doch weiterhin vollziehen“, wie Adrian überlegt.1182 Die Schwierigkeit, den Zustand zu erklären, besteht also offenkundig in einem eigentümlich unphysikalischen Verhältnis der Subjekte zur Außenwelt: Die naturwissenschaftliche Erkenntnisform und ihr Anspruch auf Objektivität beruhen auf der Prämisse einer zwar ‚relativistischen’, aber doch vom Menschen unabhängigen universalen Zeit, in der die einzelnen Wahrnehmungs- und Erlebniszeiten nur untergeordnete, für die Theorie unerhebliche Einheiten darstellen. Indem in der „FOLIE“ aber letztere einzig noch Realität zu besitzen scheinen, misslingt notwendig jede Synchronisation zwischen eigenem Erleben und wissenschaftlichem Weltbild: „Wenn in uns Zeit ist und um uns keine Zeit, dann hätten seit fünf unmöglichen Jahren schon sämtliche relativistischen Dämonen vernichtend toben müssen, mit Gravitationswirbeln, Schwarzen Löchern und weißen Unlöchern, sich ungeheuerlich verbiegenden Koordinatennetzen, in denen die Lichtstrahlen sich selbst überholten und durch den im Fusionsfeuer schmelzenden Uhrensalat schossen.“1183

Das Verhältnis von Subjekt und Welt kann folglich als das zentrale Thema des Romans angesehen werden. Die Verfremdung des Zeitstillstands verweist dabei auf Aporien, die insbesondere der Vorstellung des freien Handelns innewohnen. Totale Freiheit nämlich bedeutete notwendig auch totale Bindungslosigkeit: „Entweder alles ist Feuer, Freiheit und Bewegung und nichts wird wiederkehren.“ Diese Unverbindlichkeit widerspricht jedoch dem Gefühl und Bedürfnis, selbst zu einer Welt zu gehören, die bestimmten Regeln folgt und so den Hintergrund sinnvollen Handelns liefert. In diesem Fall aber müsste – physikalisch konsequent gedacht – „alles, was geschieht, geschehen ist, geschehen kann“, schon da sein, „unverrückbar, gewaltig, in einem ungeheuerlichen, wahnsinnig verästelten, eisernen Baum der Welt, an dem sich kein Blättchen regt.“ 1184 Beide Vorstellungen sind für das menschliche Handeln eine ungenügende Grundlage, da es im ersten Falle willkürlich, im zweiten aber unfrei wäre. Die unmögliche Lösung dieses Problems wird für die Chronifizierten schon in Bezug auf das „Ereignis“ selbst zur wesentlichen Fragestellung: Haben die Forscher des CERN den Stillstand zu verantworten, oder ist er einfach ‚passiert’? Die Ratlosigkeit der Forscherelite legt bereits früh nahe, dass Letzteres der Fall zu sein scheint. Über den gesamten Roman hinweg bleibt dennoch die Suche nach Erkenntnis das treibende Motiv der Chronifizierten, bis hin zur letzten der fünf 1182 1183 1184

Lehr 2005, S.147. Lehr 2005, S.148. Lehr 2005, S.367.

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Phasen, derjenigen des „Fanatismus“, der aber eher ein „fanatischer Fatalismus“ ist, wie auch die Zombies selbst wissen.1185 Als heillos überforderte, trotzdem aber weitgehend anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Welterklärung erscheint – wie schon in den Romanen von Wallner und Kehlmann – bis zum Ende die Naturwissenschaft, repräsentiert durch den Forscherstab des CERN. Auf ihren Jahresversammlungen präsentieren die Physiker immer neue Theorien, die den Zustand der Chronifizierten erklären sollen. Doch ist offenkundig, dass es für diesen Zustand keine vernünftige Erklärung geben kann, dass die Weltbeschreibung an dieser Stelle versagen muss, und so verlieren auch die „Eggheads“ nach und nach an Ansehen. Die Absurdität der vorgebrachten Thesen und Argumentationen weist dabei gleichermaßen nach, dass auch unter der Voraussetzung normaler Umstände die Verbindung zwischen Wahrnehmung der Welt und wissenschaftlicher Erklärung längst gekappt ist. Insbesondere die Zeit als jeder Erklärung und Überlegung immer schon vorgängiges und inhärentes Element erscheint dem objektivierenden Denken prinzipiell vollkommen unzugänglich. Die Unglaubwürdigkeit räumlicher Zeitvorstellungen wird von Adrian selbst nachgewiesen: „Die Zeit, dachten wir damals, als der Apfel noch unbeschwert normal beschwert vom Baume fiel, die Zeit also – plötzlich schien die Luft knapper zu werden und der Boden unter unseren nackten Philosophenfüßen zu knirschen –, das ist der große Fluss, der durch den endlosen gläsernen Schacht des Raumes strömt, der jedes Ding erfasst, überspült, mitreißt auf seinem unumkehrbaren Lauf in die Zukunft. Ein Fluss ohne Ufer, weil nichts nicht in ihm treibt. Der also gar nicht fließt, weil er an nichts vorüberfließt. Um den Fluss zu messen, brauchen wir den Fluss, die Zeit müsste in sich selbst fließen und wiederum in sich. Also gibt es keinen Strom, keinen Pfeil, kein Verrinnen?“1186

Der Fluss der Zeit, der von der Vergangenheit in die Zukunft strömt, erscheint – in Einsteins Worten, die auch das Motto des Romans liefern – als eine ausgesprochen „hartnäckige Illusion“.1187 Ihr tritt nach und nach die Einsicht in die Subjektivität der Zeit entgegen: Wie bei Krausser ist sie auch bei Thomas Lehr ganz offenbar von einem Subjekt abhängig, das sich gedanklich aus dem „Strom“ erheben und sich selbst als Referenzpunkt setzen kann, an dem der Fluss der Zeit vorbeifließt. Wie schon Daniel Kehlmann, der den Einfluss der Beobachtung auf das Ergebnis in Experimenten der Quantenphysik als Anlass seiner Fiktion benutzt, weiß also auch der studierte Naturwissenschaftler Lehr um die Abhängigkeit des Phänomens Zeit von den Bedingungen der Erkenntnis. In 42 erscheint das Reflexivwerden der Zeit – das Wissen um ihre theoretische Unwirklichkeit, die im Einstein-Zitat ausgedrückt ist – als Auslöser für eine nicht nur ‚theoretische’, sondern durchaus handfest ‚reale’ Krise der Erlebens. 1185 1186 1187

Vgl. Lehr 2005, S.283. Lehr 2005, S.221. Lehr 2005, S.7.

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Bereits die erste ernsthafte Diskussion über die Bedingungen und Möglichkeiten der „FOLIE“ in den ersten Tagen nach dem Ereignis lässt deutlich werden, dass das Denken selbst immer nur in der Zeit stattfinden kann und deshalb die Erklärung der aus den Fugen geratenen Zeit selbst nicht möglich ist: Wie lange „es“ dauert und wann „es“ aufhört, will Boris wissen, womit er jedoch den Kern der Problematik – dass nichts mehr dauert und alles aufgehört hat – offenbar verfehlt. Der Stillstand der zum totalen Objekt degradierten Welt zwingt die Chronifizierten aber erst recht dazu, objektive Theorien zu entwickeln, die das Ungeheuerliche erklären könnten. Als „nächstliegende Illusion“ wird die Glasglocken-These erörtert, die von einem begrenzten räumlichen Bereich ausgeht, in dem die Zeit stillsteht, der aber an seinen Grenzen den Übergang in die normale Welt erlauben würde. Da jedoch die Sonne weiter im Zenit steht, führt diese These zu einer fatalen Vorstellung: Das „gesamte chronostatische Gebiet“ müsste sich, demzufolge an ein und derselben Stelle der sich unter ihm weiterdrehenden Erdkugel verharrend, „wie ein riesiger Hobel aus Glas über die Erdoberfläche bewegen [...], Straßen, Dörfer, Städte verwüstend.“1188 Die Gegentheorie besteht in der ungeheuerlichen Annahme, es sei tatsächlich der ganze Kosmos stehen geblieben – ein nahezu unvorstellbarer Gedanke, der zudem sogleich als „egozentrisch“ bezeichnet wird, da die siebzig „Zombies“ auf diese Weise zu den alleinigen Trägern der Zeit würden, zur einzigen Bewegung in einem endlosen erstarrten Raum und damit zum Mittelpunkt des Universums.1189 Auf diese Weise aber kommt wiederum das Subjekt ins Spiel, dessen konstitutive Bedeutung für die Zeit in den folgenden Theorien immer deutlicher wird: Die Annahme einer „Verzauberung oder Immunisierung der unsrigen gegen die Verzauberung aller anderen“, auch „Dornröschen-Theorie“ genannt1190, verzichtet bereits auf naturwissenschaftliche Erklärungen, auch wenn sie in Form der von den meisten Chronifizierten favorisierten „MUFO-Theorie“, die ein außerirdisches Experiment als Ursache des Zustands annimmt, immerhin noch eine „Science Fiction“-Variante erhält.1191 Freilich erscheint diese Theorie aber nur als Abwandlung der Glasglocken-These und entgeht so ebenfalls nicht der Problematik, dass sie unter Voraussetzung eines räumlich begrenzten, stillgelegten Bereichs physikalisch katastrophale Folgen für den Rest der Erdkugel und des Sonnensystems nach sich zöge. Radikaler ist dagegen die sogenannte „Museumstheorie“, die die Realität des Wahrgenommenen selbst bestreitet und eine „Kulisse oder Simulation“ annimmt, eine Art von „Ausstellung“: Die sichtbare Wirklichkeit wäre so nur eine Kopie der Welt, ein riesiges Artefakt, „zu welchem lehrreichen, bösartigen, gnädigen Zweck auch immer es errichtet war.“1192 Eine physikalische Variante dieses Ansatzes ist die Schwarze1188 1189 1190 1191 1192

Lehr 2005, S.64. Lehr 2005, S.120. Lehr 2005, S.121. Lehr 2005, S.191. Lehr 2005, S.122.

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Loch-Theorie: „Man könne annehmen, dass jedes Schwarze Loch die Geburtsstätte eines neuen Universums sei, dass es das seine Umgebung bildende gesamte Universum widerspiegele und – mit gewissen Verzerrungen allerdings – gleichsam auf die andere Seite kopiere.“ Dadurch wäre wiederum die Hoffnung auf eine mögliche Rückkehr in die eigene Welt gegeben, über die „Einstein-Rosen-Brücke“ nämlich, allerdings um den Preis, dass dort die Zeit dann verkehrt herum abliefe.1193 Besondere Probleme bei der Erklärungssuche bereitet schließlich der „RUCK“, also die Fortsetzung der ‚Realzeit’ für die kurze Zeitspanne von drei Sekunden. Die Annahme der physikalisch geschulten Zombies, ein Fortgehen der Zeit müsste die Fülle von Bewegungen, die von den Chronifizierten in der „Unzeit“ vollführt wurden, mit einem Mal Realität werden und diese deshalb unmittelbar in einer „Perforationslinie“ aus „Myriaden schwarzer Löcher“ explodieren lassen, wird durch das dreisekündige Ereignis zwar widerlegt1194; gleichzeitig aber unterstreicht es noch einmal die vollkommen unphysikalische Realität der „maßlos authentische[n], unmögliche[n] Standwelt“1195 und erhöht die Schwierigkeiten, diese glaubhaft zu erklären. Auch der „RUCK“ lässt die Zeit dabei als jene Linie erscheinen, als die sie im Weltzeitmodell konzipiert war, die aber keiner physikalischen Betrachtung standzuhalten vermag. Auffällig ist die Begrenzung der „FORTSETZUNG DES GANZEN“ auf genau drei Sekunden: Ausreichend lang, um das Intervall einer „bewusst erlebten Gegenwart“ zu bilden1196 – wenn auch weit hinter jenem „Rekordglissando des Bewusstseins“ zurückbleibend, der nach menschlichen Maßstäben „größtmögliche[n] Ausdehnung der Insel Gegenwart“ von 20 Sekunden –, befähigt sie die kurzzeitig wiedererwachten „Fuzzis“ jedoch zu keiner erkennbaren Reaktion auf ihre seltsam plötzlich veränderten Zu- und Umstände. Der ganze „Prozess“ scheint „im Nachhinein so geringe Veränderungen hervorgerufen zu haben [...], dass man ihn kaum glaubt, ganz als hätte man in einem Museum, vor einem Kolossalgemälde mit zahlreichen Figuren stehend, einen Augenblick lang sich des Eindrucks erwehren müssen, die Ölfarbe habe sich erhitzt und von der Leinwand gelöst.“1197 So verloren die Chronifizierten sich in der gefrorenen Welt auch fühlen – alles scheint auf sie selbst zurückzuweisen, auf die Gegebenheiten menschlicher Wahrnehmung, für die das Licht weiter scheint und nach deren Möglichkeiten sich der dreisekündige „RUCK“ bemisst. Die Naturwissenschaft sieht sich also mit ihrem toten Punkt konfrontiert: Alle Phänomene sind trotz ihrer Unfassbarkeit zu menschlich, als dass die objektiven Erklärungsmodelle ihnen gegenüber Bestand haben könnten.

1193 1194 1195 1196 1197

Lehr 2005, S.302. Lehr 2005, S.98. Lehr 2005, S.145. Vgl. Fetz 2007, S.143. Lehr 2005, S.82.

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Die allmählich ins Märchenhafte mutierenden Theorien lassen mit der Zeit deutlich werden, dass hier von einem Anspruch auf Objektivität und Empirie schon bald nicht mehr die Rede sein kann, dass sich Aberglaube in die physikalische Weltsicht mischt. So verfallen auch die Physiker völlig ohne rationalen Grund der „magischen Annahme“, dass nach genau 24 Stunden Stillstand die Zeit vielleicht wieder weiterlaufen werde1198; später fühlen sich die Chronifizierten selbst zunehmend „wie im Märchen“ und bezeichnen die Welt als einzige große „Verwunschenheit“1199, und Adrian hält seine eigenen physikalischen Erklärungsansätze für „ungefähr so angebracht und bescheiden [...], als trüge ich einen Elefenatenrüssel zwischen den Beinen.“1200 Auch die physikalischen Forschungen vor der Chronifizierung werden in diesem Sinne kritisch beleuchtet: Jenes neue Teilchen, das die Forscher des CERN zu finden versuchten, das HIGGS-Teilchen nämlich, wird als „der GRAL“1201 bezeichnet, wissenschaftliche Forschung damit auf eine letztlich religiöse Form der Sinnsuche zurückgeführt, die mit ihrer vorausgesetzten Rationalität nicht in Einklang zu bringen ist. Wie Anna feststellt, geht es bei allen Theorien letztlich eigentlich nur um den „großen Onkel, den man nicht sieht, die göttliche Papa-Maschine.“1202 Gesucht wird eine Philosophie, eine Welterklärung, die dem eigenen Dasein einen Grund zu verleihen in der Lage wäre, die den Ort des Subjekts in der Welt sicher bestimmte. Die jeweilige Unfassbarkeit der verschiedenen Vorstellungen lässt indes deutlich werden, was den Chronifizierten bald selbst schon schwant, was ihnen als „große Menge Philosophie“ zustößt „wie ein Unfall“1203: Sie sind allein gelassen von allen Erzählungen, Erklärungen und Modellen, bleiben auf sich selbst, die eigenen Gedanken und die eigene Körperlichkeit beschränkt. Bezüglich der Überlegungen zur Zeit korrespondiert mit dieser Einsicht das Eingeständnis der totalen Autarkie der Eigenzeit, die als Ursprung und Grundlage aller ‚objektiven’ Zeitmodelle verstanden wird und der einzig noch Realität zugesprochen werden kann. „Die Zeit existierte nicht unabhängig von uns, wir mussten sie mitbringen, in unseren Köpfen ausspannen, mit unseren Gedanken und Gefühlen, unseren Körpern, in unseren Augen erst nahm der Strom seine Fahrt auf, schwarz aus der Zukunft hervorbrechend, randlos die Gegenwart erfüllend und mit Milliarden von Gedächtnistrümmern übersät, in die Vergangenheit fließend. Infolgedessen lag es an uns, wenn alles stillzustehen schien, sich in das schweigende, steinerne Genfer Mittagsrelief verwandelt hatte, in dessen Schächten und Gängen wir seit Wochen umherirrten.“1204 1198 1199 1200 1201 1202 1203 1204

Lehr 2005, S.66. Lehr 2005, S.96 & S.114. Lehr 2005, S.284. Lehr 2005, S.99. Lehr 2005, S.151. Lehr 2005, S.116. Lehr 2005, S.116.

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Die Schuld für den Stillstand trägt die Menschheit, die sich in ihrer Vereinzelung selbst gegen das Getriebe der Zeit gewendet hat, der der Zusammenhang ihrer Handlungen abhanden gekommen ist. In physikalischer Sprache kommt dieser Einsicht einmal mehr das Viele-Welten-Modell am nächsten, das nicht ohne Grund erst am Schluss des Romans verhandelt wird und das zwar keine befriedigende Erklärung liefert, aber die Situation dennoch präzise veranschaulicht. Grundlage ist hier das Baummodell der Zeit, das ursprünglich in erster Linie die Zukunft als offen darstellen sollte. Doch nun sind die Menschen auf einen „abgesägten Ast der Zeit“ geraten, auf ein „Totenholz, dessen weitere Verzweigungen sämtlich unter der einen Voraussetzung beginnen, nämlich der, dass nur 70 Zombies sich bewegen können, sonst aber nichts und niemand.“1205 Die gesamte „FOLIE“ erscheint auf diese Weise als autarkes Universum mit eigener Zeit, das nun ohne Kontakt zum nur zufällig noch sichtbaren Ausgangsuniversum existiert, von dem es sich abgespalten hat. Mit dem Eintritt in die „KOPIERZONE“ splittert sich am Ende auch dieses Universum noch einmal in verschiedene Unteruniversen auf, bis jedes Individuum in seiner eigenen Wirklichkeit vollständig isoliert ist. Dort freilich ist es endgültig „frei, so fürchterlich frei, dass sich mit einem Mal die vergessene Philosophie bewahrheitet, nach der deine Angst nichts weiter sein sollte als das Erschrecken vor den eigenen Möglichkeiten.“1206 Dazu passt, dass die FOLIE selbst gelegentlich wie eine Art unheimliche Parodie auf den verdinglichenden Zugriff eines brachial der Welt entrissenen und entgegengestellten Subjekts auf die ‚Objekte’ seiner Wahrnehmung erscheint. Die Diskussion um Wesen und Realität der Zeit wird deshalb in 42 nicht ganz willkürlich von einem politischen Diskurs begleitet, der sich in erster Linie auf die aufgeklärten politischen Ansätze des 18. Jahrhunderts beruft und in dem das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft zum Thema gemacht wird.

3.2. Das Ende der Zeit als soziale Vereinbarung Die Stellung des Subjekts in der Welt ist in Thomas Lehrs Roman endgültig hoffnungslos und sinnlos. Keine Theorie erscheint mehr zur Erklärung der Welt oder der Verortung des Menschen in irgendeiner Weise dienlich; den „Zombies“ bleibt einzig, zwischen den „Phasen“ der „Depression“ und des „Missbrauchs“ hin und her zu wechseln. Die Selbstfindung geschieht dabei allein noch auf Grundlage der Erinnerung an ein ‚Früher’, in dem die Fiktion einer gemeinsamen Zeit noch Bestand hatte, von dem die Romanfiguren aber nun durch einen unüberwindlichen Graben getrennt sind. Zu der geschichtslosen Welt, in der sie fortan existieren müssen, entwickeln sie indes einen durch 1205 1206

Lehr 2005, S.336. Lehr 2005, S.200.

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und durch konsumatorischen Zugang, der Dinge und Menschen allein noch als Werkzeuge unmittelbarer Triebbefriedigung brauchbar erscheinen lässt. Auch die eigene Vergangenheit wird dinghaft fetischisiert, in konkrete Bilder und Objekte verlegt. Dem Wunsch, diese frühere, gewordene Existenz vollständig auszulöschen – Adrian will alle Spuren seines Münchner Leben vernichten – steht eine tiefe Verunsicherung gegenüber, durch die die Kontinuität der eigenen Identität zunehmend als irreal erscheint: Das Doppelgänger-Motiv, das auch Lehrs Roman wieder durchzieht, lässt die früheren Versionen des Ichs tatsächlich zu fremden Personen werden. Konfrontiert mit diesen früheren Ichs, wird die Erlebnisgegenwart ständig „ihren Vergangenheiten zum Fraß vorgeworfen“, und die Annahme einer tatsächlichen ‚Identität’ zwischen den verschiedenen temporären Versionen der eigenen Person erscheint als unheimliche Konstruktion: „Ich bin, was ich war, und ich bewege die Hand vor meinen Augen, um sehen zu können, wie sauber und spurlos die Gegenwart ihre älteren Schwestern beseitigt, ohne dass ich verschwinde.“1207 Dem Anhalten der Zeit korrespondiert also eine Entfremdung des Subjekts, das sich mit seiner gesellschaftlich kontinuierten Existenz und mit seiner „wie aufgebrochenen, polypenartig erweiterten Erinnerung“ nicht länger in Einklang bringen kann. Das „Kaleidoskop“ der Welt „sind: wir“, das ist die Erkenntnis eines aus allen Zusammenhängen gekippten Protagonisten, der eine sinnvolle Konstruktion seiner Existenz als Teil der Welt nicht mehr leisten kann.1208 Die Wirklichkeit wird dabei zu einer beliebigen, rein ‚situativen’ Konstruktion, die sich mit jedem ‚Augenblick’ ändern kann: „Es gibt keine Fotografie oder Folie, die zu dünn wäre, uns zu beherbergen. Stattdessen leben wir auf Inseln, dauerhaften, komfortablen, sonnigen Refugien im Strom, die wir mit einem Schließen und Öffnen unserer Lider wechseln, stets angenehm beschattet von Erinnerung, stets die leichte Brise der Zukunft auf dem Gesicht.“1209

Die sozialen Implikationen des Zeitstillstands liegen auf der Hand – und werden auch von den Chronifizierten selbst diskutiert. So reflektiert Adrian, dass Zeit eine einzige große „Illusion“ sei, die als Grundbedingung einer funktionierenden Gesellschaft von allen mitgetragen werde, dass es sich also tatsächlich um eine menschliche „Sphäre“ handele, „die wir uns gemacht haben, die uns macht“. Das allerdings lässt die Vermutung aufkommen, dass die Menschen sich „schon immer“ in „MUFOs befunden“ haben und die naturwissenschaftlichen Vorstellungen einer universalen Zeit nur über deren eigentlich sozialen Ursprung hinwegtäuschen.1210 Indem Lehr die soziale Zeit experimentell ausfallen lässt, macht er ihre Wichtigkeit aber umso deutlicher: Alle „Zombies“ tragen 1207 1208 1209 1210

Lehr 2005, S.240f. Lehr 2005, S.357ff. Lehr 2005, S.145. Vgl. Lehr 2005, S.223f.

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mindestens drei Uhren bei sich, die sie ständig miteinander vergleichen („triangulieren“), um wenigstens untereinander noch eine gemeinsame Zeit zu besitzen. Diese „Zombie-Zeit“1211 hat ihre Selbstverständlichkeit allerdings eingebüßt, ist tatsächlich nur noch eine Vereinbarung, die mit großem Aufwand aufrecht erhalten werden muss – ‚natürliche’ Realität besitzen nur die individuellen Chronosphären. Der vorübergehende Zusammenschluss mehrerer Individualzeiten zu einer einzigen großen „Soziosphäre“1212 etwa während der Jahrestreffen der Chronifizierten, die tatsächlich zeitweise den Zeitstillstand vergessen machen kann, legt deshalb auch einen gewissermaßen politischen Lösungsansatz für die Misere nahe: Die Gründer einer neuen, Fuzzi-freien „Gemeinschaft echter, wirklicher, lebendiger Menschen“ in den Bergen gehen davon aus, dass ein Zusammenschluss aller chronifizierten Menschen und deren Nachkommen auf Dauer mit dem „Wiedereinsetzen der Echtzeit“ identisch wäre.1213 Und das „FINALE EXPERIMENT“ am Schluss des Romans basiert auf der Annahme, dass die Rückkehr in die Weltzeit ausschließlich als „gemeinsame[r], synchrone[r] Eintritt von möglichst allen Zombies“ möglich ist.1214 Die tatsächliche soziale Entwicklung der Gemeinschaft der 70 Zombies weist jedoch in eine völlig andere Richtung. Die fünf Jahre, die die Handlung des Romans umfasst, sind von einer regelrechten Dramaturgie der Vereinzelung gekennzeichnet, die sich vor allem in der abnehmenden Anzahl der Teilnehmer an den Jahreskonferenzen spiegelt: „Etwa fünfzig Zeitgespenster hatten an der ersten Jahreskonferenz teilgenommen (Silvester Eins, wie Boris sagt). Siebenunddreißig genau erschienen noch zwölf Monate später, einige davon bereits Tage zu früh, da sie ihren Privatkalendern misstrauten oder nicht sauber trianguliert hatten.“1215

Der fanatische Versuch, während des letzten großen Treffens fünf Jahre nach dem Zeitstillstand den Fortgang der Zeit zu erzwingen, führt schließlich in die endgültige Vereinzelung Adrians, der nun auch noch die 70 anderen Chronifizierten als Eingefrorene vorfindet und sich in der stillgelegten Umgebung fortan völlig alleine zurechtfinden muss. Die ‚Gesellschaft’ löst sich in Lehrs Roman also schrittweise auf; den auf sich selbst gestellten Subjekten wird die Aufrechterhaltung der sozialen Beziehungen schließlich vollends zur Unmöglichkeit. Da keine Staatsmacht mehr für Recht und Ordnung sorgt, wird schon während der fünf Jahre der „Unzeit“ das Tragen von Waffen für nahezu alle Zombies obligatorisch: Jeder andere Chronifizierte ist ein potenzieller Mörder, das Vertrauen in die soziale Rechtschaffenheit der von allen moralischen Skrupeln befreiten Indi1211 1212 1213 1214 1215

Lehr 2005, S.271. Lehr 2005, S.42. Lehr 2005, S.213. Lehr 2005, S.325. Lehr 2005, S.170.

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viduen ist gebrochen.1216 Die ersten Tage direkt nach dem Stillstand der Zeit erscheinen Adrian nach fünf Jahren einsamen Wanderns durch sein privates Europa in der Rückschau wie eine „warme, soziale, noch vertrauensvolle Zeit.“1217 Die Sehnsucht nach sozialem Zusammenhalt, die die meisten Romanfiguren artikulieren und die nicht nur Adrian am Ende dazu bewegt, seine Waffe freiwillig abzulegen, markiert jedoch nur umso deutlicher das reale Fehlen sozialer Bindungen. Nicht zufällig sind es Beweise für das Scheitern seiner Beziehung, denen der Protagonist bei seinen Streifzügen durch Europa auf die Spur kommt: Die Verlässlichkeit ‚echter’ Bindungen wird ersetzt durch das konsumatorische ‚Verbrauchen’ der Fuzzi-Frauen, gleichermaßen verfügbare wie unbeteiligte Opfer der sexuellen Phantasien der chronifizierten Männerwelt. Gegen diese Vereinzelung artikuliert sich immer wieder der Wunsch nach gesellschaftlicher Zugehörigkeit: „Das Zeitraumschiff sind immer nur wir, diese unauflösliche Verknetung von Bewusstsein mit Fleisch, Knochen, Mark und Gallerte, in der 100 Billionen Zellen im Takt ihrer Schrittmacher schwingen. Wir sind Rhythmus, Sound, Melodie, raffiniert dirigierte Koordination, die triumphiert und zerfallen muss in kakophonischen Schlussakkord. Holt uns also heraus, herauf, hinweg oder schießt uns zurück in den Ozean, unter die Milliarden von intakten, pulsierenden Kreisläufen, aus denen ihr uns am PA 8 entführt habt“.1218

Der Zusammenhang zwischen neuzeitlichem Individualismus und der Zersplitterung einer intakten „Soziosphäre“ bewegt die Chronifizierten zu einer philosophischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Geistesgrößen der Aufklärung. Schon die Genfer Zusammenkünfte finden traditionell auf Ile Rousseau statt, dem „intuitiven“ Konferenzort der Zeitgestrandeten.1219 Bei einem gemeinsamen Gelage auf dem Rückweg nach Genf identifizieren sich Anna, Boris, Adrian und Daisuke zum Spaß mit „Madame de Staël, Rousseau, Voltaire, Diderot“, die alle in der „unmittelbaren Umgebung gewohnt und gewirkt“ haben – der japanische Forscher Daisuke hat sogar im Chateau Voltaire vorübergehend Quartier bezogen. Als „individualistische Intellektuelle in einer erstarrten Welt am Vorabend der Revolution“1220 werden diese Denker bezeichnet und 1216

1217 1218 1219 1220

Diese Dimension des Romans wird auch von einigen Rezensenten betont: „Wo keine Zeit ist, hören auch die Begriffe von Besitz und Eigentum, von persönlicher Integrität und Tabu, hört im Grunde die ganze Moral auf. Das Phantasma einer relativistisch entgleisten Welt, in der die Kausalketten von Handeln und Strafen zerrissen sind, beweist, wie deterministisch verworren unsere moralischen Systeme eigentlich sind.“ Vgl. Langner, Beatrix: Odyssee durch die Gegenwart. Thomas Lehrs 42, Neue Züricher Zeitung Nr.243 (18.10.2005), S.61. Lehr 2005, S.186. Lehr 2005, S.192. Lehr 2005, S.288. Lehr 2005, S.267.

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auf diese Weise als passender intellektueller Hintergrund für die Debatten angesehen, die sich um die Gesellschaft der Chronifizierten drehen. „Bei Rousseau, bei Voltaire, bei Diderot gab es doch das Bild von den Wilden, die eigentlich die Guten gewesen seien, die Unverfälschten und Unverbildeten, nicht in den Ketten der alten Gesellschaftsverträge Liegenden, Freie und froh Gemutete wie wir, die ihre Vorgesetzten und Untergebenen, die Gläubiger, Vermieter, Zahnärzte und Rechtsanwälte losgeworden sind, um nackt unter ihnen dahinzugehen, unverletztlich und nicht mehr zu kolonialisieren. Der zerbrochene Goliath der Zivilisation liegt zu unseren Füßen, und wir können ihn bemalen, schänden oder auffressen, ganz wie es uns beliebt.“1221

Die Gesellschaftsordnung ist „zerbrochen“, ihre einzelnen Institutionen sind zur Inspektion freigegeben, und Daisuke schlägt vor, die „Netzknoten und Schaltzentralen, die Parlamente, Ministerbüros, Vorstandsetagen“ aufzusuchen, um zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Niemand scheint diesen Vorschlag sinnvoll zu finden: Man mutmaßt, die Verantwortlichen befänden sich ohnehin geschlossen „beim Mittagessen“, und Adrian gibt zu verstehen, dass er angesichts der dösenden, arbeitenden und essenden Leute „kein Urteil“ und „keine Theorie“ mehr habe. Wie die Chronifizierten selbst sind auch die Menschen, die sie betrachten, nur „X-beliebige Einzelne“, deren „freilich überwältigende Summe“ zu „nichts anderem als zur Depression“ führe.1222 Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist eine Fiktion, die Freiheit des Individuums zu einer verhängnisvollen Ideologie mutiert, die die Menschen aus jeder sozialen Verankerung entwurzelt hat. Im 20. Jahrhundert stellen sich die Ideen der Aufklärung, vor allem aber die Vorstellung eines aus freier Willensentscheidung der Einzelnen herbeigeführten „Gesellschaftsvertrags“, völlig anders dar: „Der Donner des 20. Jahrhunderts erstickt die frühen Pfeifenmelodien der Aufklärung. Dabei ging es ihnen doch um das, was man uns als endlich geschaffen nicht müde wurde anzupreisen, die politischen und sozialen Voraussetzungen für individuelle Freiheit, unabhängiges Denken, mündige Entscheidungen souveräner Staatsbürger.“1223

Das „Panzerglas“ der Körpersphären veranschaulicht die Isolation des völlig auf sich gestellten Subjekts. Zusammenkünfte gibt es lediglich noch in der Form des archaischen „Potlatsch“1224, als Relikt aus vormodernen Zeiten. Die Aufklärung wird im Roman auch mit der Erfindung der Zeitmessung assoziiert: „Nichts wird der Zeit entgehen, nichts aber auch der Feinfühligkeit der sie vermessenden Instrumente“, die seit dem 17. Jahrhundert entwickelt 1221 1222 1223 1224

Lehr 2005, S.270. Lehr 2005, S.268f. Lehr 2005, S.268. Lehr 2005, S.114.

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werden.1225 Mit der metrischen Vereinheitlichung der Zeit wird jener allgemeingültige Rahmen geschaffen, der die als von Natur aus frei definierten Individuen auf bestimmte soziale Verhaltenscodices festlegt, der die inneren Normen bestimmt, denen das Subjekt scheinbar freiwillig Folge leistet – ironischerweise trägt einer der „Zombies“ den Namen Bentham und erinnert damit an den Erfinder des Panoptikums, das Michel Foucault als Grundlage seiner Beschreibung diskursiver Macht diente.1226 Wie bereits gezeigt, spielt im Zusammenhang dieser Normierungen insbesondere die von Max Weber analysierte ‚protestantische Ethik’ eine Rolle: Adrian behauptet zwar, mit Calvin nichts anfangen zu können, doch Stuart Miller, jener Chronifizierte, der Adrian darüber aufklären wird, dass er eigentlich längst gestorben ist, belehrt ihn eines Besseren, indem er ihn darauf hinweist, dass Calvins Philosophie „im logischen Sinne“ Wirklichkeit geworden sei: „Wir können Entscheidungen fällen, obwohl alles schon festgelegt ist.“1227 Die Gleichzeitigkeit von individueller Freiheit und gesamtgesellschaftlicher Wirkungslosigkeit, die in der erstarrten Welt der Chronifizierten auf die Spitze getrieben wird, erscheint so auch als Resultat eines kapitalistischen Menschen- und Weltbildes. Dieses war intakt, solange der Prozess der Weltgeschichte auf ein Ziel hinsteuerte, für das hedonistische Verhalten des Einzelnen eine ‚himmlische’ Belohnung zu erwarten war. Mit dem Ausbleiben dieses Zieles steht der weltgeschichtliche Verlauf der Zeit jedoch still, und der Hedonismus des Subjekts wird tatsächlich anarchisch: Das autarke Individuum schwankt zwischen seiner an keine Norm mehr gebundenen Freiheit und der Feststellung, dass jede Entscheidung für das gesellschaftliche Ganze kaum noch eine Bedeutung hat, da individuelles Verhalten einzig Legitimität besitzt und Gemeinschaften notwendig den Charakter von Sekten annehmen. In nostalgischer Rückwendung zu den sinnstiftenden Bindungen der Moderne, die die Individuen inzwischen abgeschüttelt haben, simulieren die Chronifizierten sich selbst ein intaktes Familienleben, indem sie sich fremden Familien anschließen und „zur Miete“ vorübergehend ein gewöhnliches Leben führen. In der Rolle des „Paterfamilias“ betrachten sie dann „gerührt“ die Unordnung in „ihrem“ Heim, sehen sich die Fotoalben der Familie an, lesen „die alten Briefe“ oder räumen den Speicher auf: „Wir zügeln, beruhigen, moderieren uns, indem wir Mitglieder einer frei gewählten Familie werden, uns damit erleichtern, was uns einstmals beschwerte, die Fessel suchen, das Spezielle, das uns aus der maßlos geöffneten Welt schafft.“1228

Die ‚Normalbiographien’ der Moderne können bloß noch nostalgisch zitiert werden; die Geschichte ist buchstäblich zu Ende gegangen, und die Subjekte 1225 1226 1227 1228

Lehr 2005, S.77. Vgl. Foucault 1977, S.256ff. Lehr 2005, S.334. Lehr 2005, S.210.

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können sich nun nicht mehr länger als ‚Projekte’ begreifen, die es ‚in der Zeit’ zu gestalten gilt. Das „Narkotikum des Zeittods“1229 repräsentiert so auch eine ‚posthistorische’ Erstarrung der Gesellschaft, ein Aussetzen verbindlicher sozialer Orientierungsmuster. Die „Abwesenheit“ im „eigenen Leben“, die Adrian beklagt, erscheint hier ebenso als Symptom wie der „RUCK“ selbst, der eine unbegreifbare, aber letztlich bedeutungslose ‚historische’ Bewegung markiert: „Erstens: Alles ist, wie es war. Zweitens: Nichts ist wie zuvor.“1230 Auch die sozialen Maßnahmen, etwa das „Bulletin“, sind in der stillgestellten Soziosphäre nur noch Anachronismen, wie die ironisch altertümelnde Ausdrucksweise des Blattes deutlich werden lässt, in dem etwa das „Complette Verzeichnis der Menschheit (insofern sie chronifiziert ist) zu Genf“ erscheint.1231 Das Ende der historischen Zeit, in die die individuelle eingebettet ist, bewirkt also eine starke Vergangenheitsfixierung, die sich in ähnlicher Weise in allen neueren Zeitromanen findet. Sie richtet sich auf das „große Regal“ eines weltzeitlichen Zusammenhangs: Zwar lässt es sich gut leben in der „FOLIE“, doch bleibt dieses Leben ohne Sinn, ohne Perspektive und Entwicklung, wodurch die Augenblicke ihren Kontext verlieren und „total“ werden: „Der springende Punkt mag nun sein, dass sie eben nicht springen, sich nicht ineinander verwandeln, dass das große Regal nicht geliefert wurde und sie bleiben, was sie sind, totale Momente ohne äußeres Medium.“1232 So sitzt Adrian fünf Jahre lang „vor dem geschlossenen Vorhang der Welt [...] in einer Zeit, die nur noch mir und meinesgleichen gehört.“1233 Auffällig ist jedoch, dass der zumeist einhellig negativen Beurteilung des Zeitstillstandes durch die Chronifizierten eine offenkundige Faszination gegenübergestellt ist, die auch den Roman selbst kennzeichnet: Die Vorstellung einer hilflos den eigenen Phantasien ausgelieferten Welt bildet nicht wirklich ein Alptraum-Szenario, sondern scheint dem Charakter der meisten Betroffenen durchaus zu entsprechen, und ihre Isolation erscheint immer wieder auch als gerechte Folge ihres früheren Lebens.1234 Insbesondere dann, wenn die Chronifizierten gerade „eine sensationelle Flasche Dole entkorkt haben“, löst auch bei ihnen die Vorstellung von der einsetzenden „Zeitlawine“ eine regelrechte „Zombie-Nostalgie“ aus, und die „Jahre in der Unzeit“ erscheinen ihnen wie etwas, „das man bedauernd verlieren würde, in ihrer vernichtenden Schönheit, mit ihren bizarren Schrecken.“1235 Wie bei Krausser wird also auch bei Thomas Lehr das Ende der alten Zeitordnung nicht ausschließlich nur kritisiert; vielmehr übt es augenscheinlich auch eine große Faszination aus, verleitet der Roman darüber hinaus immer wieder zur Identifikation mit den „Zombies“, wobei die Standwelt als wahr gewordene heimliche 1229 1230 1231 1232 1233 1234 1235

Lehr 2005, S.56. Lehr 2005, S.90 & S.81. Lehr 2005, S.234. Lehr 2005, S.223. Lehr 2005, S.240. Vgl. etwa Lehr 2005, S.67. Lehr 2005, S.169.

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Wunschphantasie, als anti-modernes, radikal entschleunigtes Aussteigerszenario aufgefasst werden könnte.1236

3.3. Nachgeschichtliche Bilderwelten Der Verfügbarkeit der objektivierten Welt entspricht ihre Bildlichkeit: Die „FOLIE“ wird in 42 immer wieder als gigantische visuelle Inszenierung behandelt, für die jedoch keine schlüssige Interpretation zur Verfügung zu stehen scheint. Sie ist für die Chronifizierten ein „Sommergemälde“ geworden, „auf das ein genialischer Fotorealist seine Glanzlichter, intimen Tönungen und lebensechten Schattierungen verteilt hat“, ein „Spitzweg-Bild“ gar oder vielmehr ein „Spitzweg-Film, [...] in dem sich prinzipiell alles bewegen könnte“, wäre es nicht festgehalten in der Unwirklichkeit einer einzigen riesenhaften Darstellung.1237 Adrian stellt fest, dass die Welt nach dem Zeitstillstand vollkommen auf ihre optische Erscheinung reduziert worden ist: „Wie würde ein Blinder die Katastrophe bemerkt haben?“1238 In der gleißenden Mittagssonne erscheint die Welt zudem jederzeit klar und scharf konturiert, ein für allemal auf den Begriff gebracht und unverrückbar „wie die Eigernordwand“.1239 Der gigantischen Monumentalisierung des Bestehenden ist das Individuum aber gleichzeitig auch hilflos ausgeliefert: Das Gefühl der Ohnmacht ist bestimmend für die Gesellschaft der Chronifizierten, die auf ihre Welt ebensowenig wirklichen Einfluss nehmen können, wie sie in der Lage sind, sich von ihr abzuwenden. Die stetige Präsenz einer nicht mehr flüchtigen, nicht mehr ungreifbaren, sondern perpetuierten Gegenwart führt dabei auch zu Reflexionen über den Status der unterschiedlichen Zeitmodi vor dem Eintritt in die „Unzeit“: „Wenn man es genau nehme, sagt Boris, sei die Gegenwart schon immer mächtiger als jede andere Zeit gewesen. Nur weil wir dahinflossen, weil sich alles mit uns im großen trägen Strom befunden hat, weil wir zu rutschen glaubten, im Rücken wie eine ungeheure Schlammlawine den Rest der Welt mit ausgestreckten Armen und der Vorwölbung der Denkerstirn immer schon im aufplatzenden leeren Kokon der Zukunft zu stecken wähnten, konnte uns das Gültige und Definitive der Gegenwart verborgen bleiben. Die Gegenwart ist jedoch erhaben, sie ist präzise und gewiss, aufragend und deutlich wie die massive Spitze der Nordwand. Sie sagt, dass sie ist. Nichts kann so sicher sein.“1240 1236

1237 1238 1239 1240

Auch in populären Filmen finden sich vergleichbare Szenarien, in denen einigen wenigen vereinzelten Überlebenden nach dem Untergang der Menschheit die gesamte Konsumwelt des Kapitalismus zur Verfügung steht. Vgl. z.B.: The Quiet Earth (Neuseeland 1985, Geoff Murphy), 28 Days Later (UK 2002, Danny Boyle), I am Legend (USA 2007, Francis Lawrence). Lehr 2005, S.11, S.124 & S.132. Lehr 2005, S.92. Lehr 2005, S.143f. Lehr 2005, S.144.

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Die Welt der Chronifizierten erscheint also auch bei Lehr als Wirklichkeit gewordene Zeit-Utopie. Mit der Bildhaftigkeit der Welt verbindet sich zudem wiederum ein Diskurs über deren Echtheit und die Verlässlichkeit der Wahrnehmung. Denn der in musealen Stillstand gefallenen „Simulation“ fehlt es an der „Winterluft der wirklicheren Wirklichkeit“, sie ist eher ein „Skulpturengarten“, bevölkert von „Mumien“ und „Wachsgestalten“, „Schaufensterpuppen eines größenwahnsinnig gewordenen Dekorateurs“.1241 Auch Adrian beschäftigt angesichts der vielen fehlschlagenden Theorien insbesondere die Frage, „inwieweit das, was sich vor meinem Augen nicht mehr abspielt, den Anspruch erheben kann, tatsächlich die gefrorene Wirklichkeit zu sein.“1242 Die „Museumstheorie“ scheint ein Favorit der Chronifizierten zu sein, da sie die Annahme gestattet, alles Wahrgenommene sei nicht mehr als eine große Ausstellung: „Die Wirklichkeit des Museums waren immer nur Kopien.“1243 Dennoch findet sich keine Alternative zu dieser Simulation, die Gestrandeten finden den Ausgang aus dem Museum nicht. Der Zyniker Hayami bringt das auf den Punkt: „Nennen Sie es Illusion. Was macht das für einen Unterschied?“1244 Die Museums-Theorie erinnert auf diese Weise nicht nur an die bekannten ‚postmodernen’ Reflexionen zum Simulationsgehalt der Wirklichkeit, sondern wiederum an Nietzsches Vision des „großen Mittags“: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht?“, fragt dieser, um sich selbst zu antworten: „Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“1245 Insbesondere irritieren die vielfachen „Scheinklone“ das Realitätsempfinden der Gestrandeten – „Fuzzis“, die anderen Menschen so ähnlich sehen, dass oft großer Aufwand nötig ist – etwa die Suche nach Muttermalen –, um die Verwechslung überhaupt verifizieren zu können. Ebenso wie die Doppelgänger, die später auftauchen, verursachen sie Zweifel an der Originalität der unerreichbar gewordenen anderen Menschen. So bemüht sich Adrian einmal fürsorglich um eine „idealisierte Kopie“ seiner Frau, die er zufällig auf einem Bahnsteig entdeckt und von der er zugeben muss, dass der Vergleich „zu Gunsten der größeren und jüngeren Frau“ ausfällt – ein Erlebnis, das alle Chronifizierten in ähnlicher Form kennen und das aus der „Schamlosigkeit unseres Blicks“1246 resultiert. Solche Erlebnisse bedingen erhebliche Irritationen des eigenen Identitätsempfindens: So überkommt Adrian zeitweilig das „Gefühl, inszeniert zu sein oder gar ausgedacht“, abhängig von den anderen, zu denen ein echter „Übertritt“ oder „KONTAKT“ aber unmöglich bleibt.1247 Nachdem einer von Hayamis Doppelgängern, eine frühere Version seiner selbst, erschossen worden ist 1241 1242 1243 1244 1245

1246 1247

Lehr 2005, S.236, S.33f., S.53 & S.63. Lehr 2005, S.121. Lehr 2005, S.122. Lehr 2005, S.148. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: KSA 6, S.81. Lehr 2005, S.126. Lehr 2005, S.236 & S.344.

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und er selbst sich einfach in Luft ausgelöst hat, verschwimmt die Erinnerung der anderen an ihn, und er wird zunehmend „ungewiß im Sinne realer Vergangenheit“1248 – so als sei seine Existenz tatsächlich nur real, so lange er sichtbar bleibt. Die Abhängigkeit der Identität von einem ‚Image’, von der Wahrnehmung der anderen, verdichtet sich auf diese Weise zu einer existenziellen Problematik: Ein vollständig autonomes Subjekt verlöre alle Konturen, da jede Wirklichkeit – auch diejenige der eigenen Persönlichkeit – sich überhaupt erst in der Koordination unterschiedlicher Wahrnehmungen herstellt. So versuchen die Gestrandeten, die Welt der „Unzeit“ selbst für die anderen zu gestalten, ihre Wahrnehmung zu lenken und auf diese Weise Sinn zu erzeugen. Allen Bedenken zum Trotz greifen die Chronifizierten im Fortgang der Handlung immer stärker in die erstarrte Kulissenwelt ein, stellen nach Belieben Arrangements zusammen, mit denen sie sich gegenseitig subtil in die Irre führen. Anna und Boris etwa verkleiden sich, als sie Adrian bemerken, und spielen Fuzzis, um ihn durch ihre plötzliche Bewegung zu überraschen 1249 – eine Strategie, die auch die Mordlustigen unter den Chronifizierten benutzen, um ihre Opfer in einen Hinterhalt zu locken. Andere Inszenierungen sind obszöne Arrangements wie dasjenige der nackten und von Hayami gefesselten Frauen, subtile Unsinnigkeiten, die die Welt zu einem „Suchbild“ werden lassen, in dem „der Fehler“ gefunden werden muss1250, oder auch das Installieren von „Scheinklonen“ in irreführender Weise. Die Welt wird zunehmend zu einer Bühne, auf der die Chronifizierten Bedeutungsvolles aufzuführen versuchen wie Stücke in einem großen „Illusionstheater“.1251 Doch jedes Einwirken auf die monumental erstarrten Zustände bleibt bloße Behauptung, ist nichts als eine Inszenierung von Bedeutung und Veränderung, die an der allgemeinen Bewegungslosigkeit nichts ändert. In der Welt totaler Sichtbarkeit, die die „FOLIE“ darstellt, liegen Anspielungen auf ‚neue Medien’, insbesondere auf die Fotografie, mehr als nahe: „Alles würde bleiben, ganz wie in einer Fotografie: das regungslose Geknäuel der Straßenbahnen am Bellevue; die Spaziergänger am Utoquai; die grüne Kuppel des Opernhauses; die seltsam kleingroßen Stadtgebäude; die Balustrade zum See“, heißt es bereits auf den ersten Seiten des Romans.1252 Auch auf Computer und Internet und die mit ihnen verbundene hypnotische Zeitvergessenheit wird verschiedentlich Bezug genommen – so soll zum Beispiel ein CERN-Mitarbeiter einmal an Skorbut erkrankt sein, weil „er monatelang nicht daran gedacht hatte, Obst oder Gemüse zu essen, hingegen an die Computerdarstellung der Teilchenkollision.“1253 Dazu passt, dass das World Wide Web selbst (von den 1248 1249 1250 1251 1252 1253

Lehr 2005, S.345f. Lehr 2005, S.73. Lehr 2005, S.337. Lehr 2005, S.148. Lehr 2005, S.12f. Lehr 2005, S.53.

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Chronifizierten zum „Weltweiten Weitermachen“ verballhornt1254) ursprünglich am CERN entwickelt wurde – was Lehr im Roman allerdings verschweigt. Häufiger sind jedoch Vergleiche mit dem Film: Der „RUCK“ etwa wird einmal gefasst als „Anheften eines grandiosen vierdimensionalen Drei-Sekunden-Streifens unmittelbar an die Risskante der Welt“1255, wodurch auch diese einzige Bewegung, die die Standwelt noch erlebt hat, einen illusorischen Charakter erhält. Die wesentlichen Reflexionen bedienen sich aber vieler Analogien zu klassischen Bildmedien. Wie die Abbilder der Malerei oder der Fotografie ist die Welt der FOLIE gleichzeitig echte Präsenz und artifizielle Kulisse, gleichzeitig Gegenwart und Vergangenheit, gleichzeitig bestätigte Realität unserer Erinnerungen und das Auftreten unserer selbst und unserer Bekannten als fremde, merkwürdig ästhetisierte und von unserem Gedächtnis verfälschte Figuren: „Fotografien machen uns wütend, von Jahr zu Jahr mehr. Oder sie lassen uns verzweifeln, nämlich dann, wenn wir uns selbst darauf wieder finden, als aus dem Strom herausgefrorene zweidimensionale Miniaturen wie die abgezogenen und platt gedrückten Häute uns täuschend ähnlicher, aber gerade mausgroßer historischer Lebenwesen aus dem Eozän oder dem Tertiär vor der Nullzeit an der Seite ebensolcher Geliebter [...]“1256

Dass es eben eine solche verfälschende Ästhetisierung der Identität ist, die auch die Chronifizierten zu erleben meinen, wird durch die leitmotivische Verwendung der Foto-Metapher immer wieder hervorgehoben: „Fotografiert worden zu sein, auskristallisiert im Fixierband der Welt – das Kinderwort bleibt unübertrefflich, auch für die dritte Dimension.“ 1257 Die Welt, „diese riesige Linse vor unseren Augen“, erscheint als eine „Dauerbelichtung“, als im visuellen Leitparadigma gefangen.1258 Wie bei Daniel Kehlmann symbolisieren dabei das Blau des Sees und die Leere des mittäglichen, wolkenlosen Himmels die Totalität einer Wahrnehmung, der zunehmend auch die begrifflichen Strukturen abhanden kommen: „Die Zukunft ist immer noch schwarz, so als wäre das strahlende Wasserblau, Himmelsblau, die weite Öffnung des Sees und wolkenlosen Himmels von Ungewissheit durchsetzt wie von den Rasterpunkten einer zu stark vergrößerten Fotografie.“1259

In 42 wird so offenkundig wie in keinem anderen Zeitroman eine Wirklichkeit vorgeführt, deren visuelle Präsenz den differenziellen Mechanismus der Zeit 1254 1255 1256 1257 1258 1259

Lehr 2005, S.321. Lehr 2005, S.95. Lehr 2005, S.138f. Lehr 2005, S.33. Lehr 2005, S.253. Lehr 2005, S.329.

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III. Drei Zeit-Lektüren

aushebelt. „Die Gegenwart zerfällt nicht mehr“1260, und damit ist ein Bruch hergestellt zu jener Zeit vor dem Eintritt in die Unzeit, in der es gerade die Unfassbarkeit der „zweidimensionalen weißen Klinge der Gegenwart“ im Bewusstsein gewesen war – ihre strukturelle Abwesenheit, ihr bloßer Reflex als „Spur“1261 – die das Gefühl der Zeit bedingte. Zeit ist „das Zittern der Erinnerung“, ist die Anwesenheit des Abwesenden im erkennenden Blick und die Abwesenheit des Anwesenden im Akt des Begreifens. In Anspielung auf Musils Zug-Metapher, die bereits für die Zeitreflexionen in Nabokovs Katze eine zentrale Rolle spielte, findet sich in 42 so auch ein Zitat des bekannten Flüchtigkeitsmotivs der Moderne: „Die Gegenwart war immer die gerade unter der Lok verschwundene Markierung. Sie war der Floh in der Haarwolle des Heraklit, immer schon davongesprungen, ehe die Philosophenfinger ihn zerquetschen konnten, der eben verklungene Ton, das vom Schatten des Sekundenzeigers verlassene haarfeine Segment des Zifferblattes, der unwiederbringliche Millimeter, Pikometer, Nanometer im Zählwerk der Atomuhr, nicht zu erwischen auf der Flucht in die Vergangenheit, die es selbst doch schon nicht mehr gab, während uns die Zukunft stets noch fehlte. Was war, ist nicht mehr; was ist, is schon gewesen; was sein wird, ist immer noch nicht da. So rasch ging uns einmal die Zeit aus, wenn wir an sie dachten.“1262

An gleicher Stelle wird offenbar, dass es eben die Suche nach der Gegenwart ist, welche die Geistesgeschichte des Abendlandes kennzeichnet, und dass das Problem mithin aus dem über Jahrhunderte kultivierten Versuch resultiert, das Defizit temporaler Differenz zu überwinden. Das „Jetzt war uns doch gar nicht so neu, wir kannten es bereits aus den Vorzeiten der Unzeit“, aus den Reflexionen „schwuler mediterraner Philosophen, müßiger Lokführer, grübelnder Physikstudenten, schottischer Finaldenker, cernitischer Spekulierer und niemals betrunkender Kirchenväter“, die den Blick auf die „unter dem Zug in den Schlund des Unsichtbaren rasenden einzelnen Schwellen zu heften versuchten.“ Die Anspielungen sind vage, aber sie lassen spekulative Bezüge zu prominenten Theoreti1260 1261 1262

Lehr 2005, S.144. Lehr 2005, S.106. Lehr 2005, S.78. In Nabokovs Katze findet sich eine ähnliche Beschreibung der Zeit: „Er dachte sich die unvorhersehbare Gestaltung der Zeit als fortwährendes Zerreißen des Bildes, durch das die Spitze der Lokomotive stieß, als unendlich kompakte Folge explodierender, infinitesimal feiner Schichten, auf die das Gleis, die Erde, der Himmel gemalt waren. Alles Sichtbare, Erlebbare, Denk- und Fühlbare war vollkommen in diesen Schichten erfasst, wurde im Bruchteil eines Sekundenbruchteils in jedem Detail zerstört und sogleich in jedem Detail wiedererrichtet – mit winzigen, aber entscheidenden Änderungen, deren absolut ungewisse Aggregation den Lauf der Dinge bestimmte. Er sah nichts, nicht das geringste voraus [...]“ Die unterstellte Folgerichtigkeit der Welt wird hier zu einer aus einem menschlichen Wahrnehmungsdefizit resultierenden Illusion erklärt. In 42 ist diese Illusion hinfällig geworden. Vgl. Lehr, Thomas: Nabokovs Katze, Berlin 1999, S.255f.

3. Nach dem Ende der Zeit: Thomas Lehrs 42

319

kern der Zeit zu – so könnte mit dem „schwulen mediterranen Philosophen“ unter Bezugnahme auf die bekannten Mutmaßungen hinsichtlich seiner sexuellen Neigung und seine Glorifizierung des Mittelmeerraums Nietzsche gemeint sein, während der „müßige Lokführer“ an Musils Zuggleichnis erinnert; der Kirchenvater ist zweifelsohne Augustinus, der „schottische Finaldenker“ möglicherweise Adam Smith, womit der Bezug zur marktwirtschaftlichen Grundproblematik hergestellt wäre. Der alte Wunsch, den Augenblick festzuhalten, die Flüchtigkeit der Zeit aussetzen zu lassen, wird auch durch die Schmuckstücke eines Hasen und einer Wespe symbolisiert, die – jeweils mit Schweizer Uhren versehen – zu den Beutestücken der Chronifizierten gehören, eingesammelt für den Fall, dass die Zeit doch noch einmal ganz normal weitergehen könnte: „In den Lauf des Hasen einzudringen, in den Flug der Wespe, verheißt aber noch mehr, nämlich das Unmögliche, das nur unsereinem (zum täglichen, stündlichen Überdruss) gegebene Zerdehnen der Gegenwart. [...] DELPHI gab uns Zeit, ihr größtes Juwel sogar, Gegenwart, das Orakel ihrer kompliziertesten und gefährlichsten Dimension.“1263

Auf Grundlage einer solchen Tradition der Suche nach dem Augenblick wundert es nicht, dass auch die Gestrandeten selbst die „Lust“ an der Gegenwart erleben, sie sogar mit einer sexuellen Exstase vergleichen, in der „man sich ein Kondom abzieht mitten im Geschehen, um es zukunftslos und ohne Erinnerung auf die Spitze zu treiben.“ 1264 Das Anhalten der Zeit wird so als Folge einer philosophischen Verirrung gedeutet, die auf das „Phantom“ eines Punktes oder Anfangs zielte, den es eigentlich aber gar nicht gibt.1265 „Manchmal erscheinen mir die Fotografierten wie Opfer einer Gehirnblockade mit anschließender kompletter Paralyse, hervorgerufen durch unsachgemäße philosophische Reflexion, als wäre am CERN ein globales Signal ausgesandt worden, mit dem einmodulierten Befehl, augenblicklich falsche Überlegungen anzustellen.“1266

Dass es also die Differenz zwischen Ereignis und Bewusstsein ist, die die Zeit ausmacht, jener „Abgrund, in den wir fallen, seit dem Augenblick unserer Geburt“, verweist noch einmal nachdrücklich auf die ‚Menschlichkeit’ der Zeit: Sie ist die Verhältnisbestimmung zwischen Subjekt und Welt, und ohne Subjekt wäre ihre Hypostasierung nutzlos. „Wir sind Zeit, Zeitmacher, Zeitgemachtes, Eingemachtes der Zeit. Gibt es sie denn ohne uns [...]?“, fragt sich Adrian und kommt zu dem Schluss, dass die Krise der Zeit aus einer Krise des Subjekts resultieren müsse: „Wer denkt sie für uns weiter, wenn wir uns weggedacht ha1263 1264 1265 1266

Lehr 2005, S.77. Lehr 2005, S.161. Vgl. Lehr 2005, S.222. Lehr 2005, S.78f.

320

III. Drei Zeit-Lektüren

ben?“ Die Fragmentierung und Zerstörung des Subjekts, die in der Schlussszene des Romans angedeutet ist, in der Adrian sich als gestorben und von der Explosion des CERN zerfetzt entdeckt, zerstört die Zeit selbst, da die ihr zugrunde liegende Differenz nur als solche wahrgenommen werden kann, solange das Postulat einer Einheit des Subjekts Bestand hat, das seine Erfahrungen ‚synchronisieren’ kann. Wenn aber die Subjekte sich auf „Milliarden von Inseln“ zerstreuen, dann zerfällt auch die Zeit notwendig, „schwindet, dehnt sich, erstarrt, hängt so schief in der Welt wie wir in der Neige der Asymmetrie und den Vernarrtheiten der Dekohärenz.“1267 Auch auf die Medialität des Gedächtnisses wird in diesem Zusammenhang Bezug genommen. So erscheinen Adrian seine Erinnerungen als „flackernde Filmsequenz[en]“, als „an einem wirren Zeitmischpult herangeholte Videoclips meiner Kindheit, Jugend, meiner gestrigen, vorjährigen, der eben gerade aus dem Jetzt geschnittenen Erfahrung.“ Auch wenn die technischen Medien in der Standwelt der 42. Sekunde nicht mehr funktionieren – in der Wahrnehmung und Erinnerung bleiben sie als prägende Einflüsse offenkundig. Dabei hängt die Realität der eigenen Identität an der Glaubhaftigkeit der Gedächtnisinhalte: „Es sind die Filme, von denen ich unbedingt glauben muss, dass sie echt und dokumentarisch sind, dass sie eine lebensfüllende Grundlage hatten.“1268 Das Bewusstsein der Differenz von erinnerter und ‚echter’ Wirklichkeit, „Erinnerung an ein noch so authentisches Zelluloidkunstwerk“ und – unmöglicher – „Erinnerung an die Wirklichkeit“1269 hat jedoch diese Lebensgrundlage zunehmend zerstört: „Ich bin mir über nichts sicher“, erklärt Adrian, wenn auch in Bezug auf die „Scherben“ einer unter reichlichem Alkoholkonsum zur Orgie ausgearteten Nacht.1270 Die Erinnerungsdelirien, die Adrian beim Eintritt in die „Kopierzone“ am Ende des Romans erlebt, machen deutlich, dass seine Persönlichkeit als Produkt einer kontinuierlichen Entwicklung nicht mehr existiert, dass die Wirklichkeit hinter den erinnerten Bildern verloren gegangen ist: Die Lebensgeschichte fügt sich verkehrt herum zusammen „wie in einem umgekippten Stundenglas.“1271 Dieser Unsicherheit begegnet Adrian damit, dass er seine Erlebnisse aufschreibt. Nur in Form dieses verzweifelt rekonstruierenden, von der tatsächlichen Vergangenheit aber uneinholbar getrennten Schreibens kann ein zeitlicher Zusammenhang überhaupt noch hergestellt werden. Am Ende wird deutlich, dass das erste und das letzte Kapitel – beide tragen die Überschrift „Am See“ – den Rahmen bilden für die retrospektiv erzählten Ereignisse, die in den fünf Jahren zwischen der Explosion im CERN und dem gescheiterten Wiedereintritt in die Zeit geschehen sind. Beide Sphären sind im Buchtext formal und inhalt1267 1268 1269 1270 1271

Lehr 2005, S.221f. Lehr 2005, S.243. Lehr 2005, S.347. Lehr 2005, S.277. Lehr 2005, S.359.

3. Nach dem Ende der Zeit: Thomas Lehrs 42

321

lich voneinander vollkommen getrennt: Hier die Gegenwart des Erzählers, gekennzeichnet durch absolute Vereinsamung, dort, jenseits der Grenze, die erzählte Welt, eine aus einzelnen Fragmenten der Vergangenheit zusammengefügte, poetische „Kolonisation der Erinnerung“1272. Die Zukunft hingegen spielt wie bei Nabokov keine Rolle für die Zeit, sie gehört nicht zu der Reflexionsbewegung zwischen ‚Jetzt’ und ‚Damals’. Die textuelle Spaltung bleibt bei Lehr also die Grundlage der Zeit und erscheint dabei als letztes Refugium eines Subjekts, das ohne die Reflexion der Schrift der Welt widerstandslos verfallen würde. Die Gegenwart, in der die Formulierung der Geschichte stattfindet, ist von der Zeit der Geschichte jedoch selbst immer durch einen tiefen Graben getrennt, sie ist „der Ort, an dem wir verletzt werden können“ 1273, an dem das Subjekt sich in Gefahr befindet. Die Visualität, die in dieser Gegenwart vorherrscht, löscht das Zeitbewusstsein tendenziell aus, reduziert alles Geschehen auf das, was davon unmittelbar und gegenwärtig sichtbar ist. In einer solchen Welt scheinbar vollkommener Objektivität aber erinnert allein die Schrift daran, dass die Vergangenheit immer eine Interpretation, Sinn unweigerlich das Resultat einer unvollständigen Rekonstruktion ist, und wird dem verzweifelten Subjekt auf diese Weise zu einem notwendigen Werkzeug der Selbstvergewisserung.

3.4. Schreiben gegen den Tod „Wer nicht schreibt, wird unsere Welt kaum ertragen“ 1274, heißt es an einer der wenigen Stellen des Romans, an denen der Erzähler über sich selbst als Autor reflektiert. Die Schriftsteller der Nachgeschichte schreiben allerdings fast immer nur für sich: Die Schrift ist offensichtlich nicht mehr das Leitmedium ihrer Gesellschaft, sondern in ihrer Funktion marginal, ohne Leserschaft und Aufgabe und deshalb auch ohne Bedeutung. Den Gestrandeten, die fast alle Tagebuch schreiben, dient sie trotzdem als – allerdings anachronistisches – Werkzeug der „Selbstvergewisserung“: „Man stelle sich einen streunenden Hund vor, wenn man sich mich vorstellt, der immer wieder das Schreibbein am Laternenpfahl der Selbstvergewisserung hebt. [...] Nur einige schreibenthemmte Louis-seize-Aristokraten, die sich noch den Weg zur Guillotine mit dem Verfassen von Maximen und sacht ins Kopflose stolpernden Reflexionen verkürzten, dürften ähnlich versessen gewesen sein.“1275

Durch die Schrift kann die Bildlichkeit der Standwelt intellektuell distanziert werden, nur die Aufzeichnungen ermöglichen also einen Standpunkt außerhalb 1272 1273 1274 1275

Lehr 1999, S.326. Lehr 2005, S.77. Lehr 2005, S.161. Lehr 2005, S.161.

322

III. Drei Zeit-Lektüren

des totalen Ausgeliefertseins. Das Buch selbst, das ausschließlich die Aufzeichnungen Adrians wiedergibt – es gibt keine weitere Erzählinstanz –, stellt also den Versuch eines in vollendeter Gegenwärtigkeit gefangenen Menschen dar, sich schreibend von seiner Umgebung zu distanzieren, auktoriale Souveränität zu gewinnen gegenüber seinen Lebensumständen. Dementsprechend hat die Geschichte Adrians, hat auch der Roman selbst allen seinen Finten zum Trotz die Form einer zwar nicht chronologischen, zeitlich aber dennoch bruchlosen, geordneten Erzählung. So lassen sich zwei Zeitebenen ausmachen, die als Rahmenhandlungen für die episodische Darstellung der fünf Jahre in der FOLIE sowie der Vorgeschichte Adrians dienen: die beiden Kapitel „Am See“, die die fünf Hauptkapitel einrahmen, sowie der Rückweg nach Genf im Kreise von Anna und Boris und die Entwicklung vor Ort bis hin zum „finalen Experiment“, die über die gesamten fünf Kapitel hinweg einen durchgehenden Erzählstrang darstellen. Diese gemeinsame Reise wird, abgesehen von einigen Finten und unterbrochen durch die Rückblenden und Reflexionen, ebenso chronologisch wiedergegeben wie die ersten Stunden nach dem Besuch des CERN, in denen der Stillstand der Zeit entdeckt wird. Auch die Suche Adrians nach seiner Frau Karin, die Entwicklung der Zombie-Gesellschaft über die Jahre und die verschiedenen Treffen hinweg sowie die unterschiedlichen Episoden, die den anderen Chronifizierten zugestoßen sind, ordnen sich nach einigen Irritationen immer in eine nachvollziehbare Abfolge. Auf diese Weise bleibt der Leser auch in der Zeitlosigkeit weitgehend zeitlich orientiert. Dem Stillstand entspricht also keine neue, ‚andere’ Erzählweise; vielmehr wird die angehaltene Welt im Zuge ihrer narrativen Erkundung ‚mit der Zeit’ für den Leser erschlossen, erhält in der Rekonstruktion eine temporale Dimension zurück. Allerdings finden die Erzählungen zu keinem befriedigenden Ende mehr, sie markieren nur noch Bewegungen innerhalb eines Rahmens, der Sinn und Bedeutung grundsätzlich negiert. In einer Rezension ist dieser Umstand wie folgt zum Ausdruck gebracht worden: „Denn Lehr erzählt ja im Grunde das Nicht-Erzählbare, die ewige Gegenwart, das «gläserne Meer» in uns, die starre Wahrnehmung in der Depression. Was fehlt, ist das tröstende Präteritum; Sukzession, Entwicklung, Vergänglichkeit. Dahin wollen wir zurück. Zeit ist das Medium der Sprache. Die Sprache kennt keine Nullzeit, sie ist Zeitlichkeit, Rhythmus, Vereinbarung schlechthin. Darum lieben wir Romane und Märchen: weil sie enden.“1276

Der Tod, der am Ende der Handlung als Ursache des ‚Ereignisses’ ermittelt wird und den die chronifizierten Autoren schreibend zu überwinden versuchen, ist in diesem Kontext zu verstehen als ein symbolischer Tod. Das Individuum wird nicht mehr von einer gleichgültig fließenden Zeit bedroht, es kämpft auch nicht länger gegen seine Endlichkeit; die Marginalisierung durch eine wie auch 1276

Langner 2005, S.60.

3. Nach dem Ende der Zeit: Thomas Lehrs 42

323

immer gestaltete ‚Weltzeit’ erscheint ihm vielmehr als das kleinere Übel, verglichen mit der Bedeutungslosigkeit seines restlos individualisierten Daseins, in dem kein symbolischer ‚Big Brother’ mehr sein Auge auf ihn wirft: In der „FOLIE“ empfindet sich Adrian nun erst recht als „Furz in der Zeit“1277. Die ‚fotografierte’ Wirklichkeit bedrängt den Protagonisten durch ihre Präsenz wie durch ihre Sinnlosigkeit: Gezwungen, die Wahrnehmung zu Sinn zu codieren, wird ihm die Landkarte Europas zu einer geographischen Anordnung seiner eigenen Lebenserzählung, die doch in Wirklichkeit nichts anderes als ein zielloses Driften ist und für die er längst keine Zuhörer mehr findet. Der ‚wirkliche’ Tod aber, die Erlösung aus dem Kerker einer radikal subjektivierten Welt, ist nur noch theoretisch vorhanden, die eigene Endlichkeit in der Permanenz der „FOLIE“ ausgelöscht. Das eigentliche Schicksal Adrians ist es deshalb, nicht mehr sterben zu können: Die Fortexistenz in der Vereinsamung ist an die Stelle getreten, an der vormals ‚das Ende’ stand. Für den Tod nämlich wäre der sichere Glaube an eine Außenwelt Voraussetzung; das Verhältnis des Subjekts zu dieser Außenwelt jedoch ist es, was in Lehrs Roman gekappt ist. Die Folge ist eine weitgehend entlebendigte Existenz, ein Fortvegetieren des Subjekts über den Moment seines symbolischen Todes, seiner Fragmentierung und Zerstörung hinaus. Dass dennoch weiter erzählt wird, dass wir auch nach dem Ende der Geschichte noch Geschichten brauchen, erscheint auf diese Weise als letzte Hoffnung des Menschen. Die anachronistischen, aber geistvollen und ironischen Bulletins, mit denen sich Sperber über die eigene Situation lustig zu machen versteht, erscheinen so als letzte Gegenwehr der Menschheit. Das erzählende Herstellen von Zusammenhängen ist überlebenswichtig, auch wenn jeder Anspruch auf Wahrhaftigkeit ausgesetzt ist. „Alle Vergangenheit ist gleichermaßen erfunden oder real“, heißt es dabei in offenkundiger Anlehnung an Nabokov1278, den Lehr immer wieder ausdrücklich als literarisches Vorbild ins Spiel bringt, nach dem er sein bislang umfangreichstes Buch Nabokovs Katze benannt und dem er nach dem Vorbild eines berühmten Fotos auch in 42 ein Denkmal gesetzt hat – in der Figur eines aus Wachs gefertigten Schmetterlingsjägers, der deplatziert in einem Hotelfoyer herumsteht und aussieht wie ein tatsächlicher Mensch. Das poetische Credo, das sich hinter dieser Bezugnahme verbirgt, ist in der stehenden Gegenwart des Romans allerdings kein Ausdruck einer freien, künstlerischen Weltsicht mehr, die den brüchig gewordenen ‚großen Erzählungen’ eine individuelle Neugestaltung der Vergangenheit gegenüber stellte. Sie ist vielmehr der letzte verzweifelte Versuch eines marginalisierten Subjekts, die Leere seiner situativen und fragmentierten Existenz wenigstens mit einem er1277 1278

Lehr 2005, S.29. Lehr 2005, S.243. Den Bezug auf Nabokov bemerkt auch Helmut Böttiger in seiner Rezension. Seiner Ansicht nach gelangt „die Hauptperson bei Lehr“ wie viele Figuren Nabokovs „am Schluss zu der Erkenntnis, eine literarische Figur zu sein.“ Vgl. Böttiger 2005, S.L24.

324

III. Drei Zeit-Lektüren

fundenen Sinn zu füllen. Wie bei Nabokov ist es gerade die Künstlichkeit der Konstruktionen, ihre ‚Falschheit’, die der Selbstvergewisserung des Subjekts dient: Schreibend und erfindend gestaltet es sich in Opposition zu der reinen Objektivität der Wirklichkeit, die hier nun aber keine ‚festgeschriebene’, sondern eine nurmehr ‚fotografierte’ ist. Die Nabokov-Figur ist deshalb auch selbst kein „Fuzzi“, sondern tatsächlich eine „perfekt gearbeitete Wachsfigur“, die frappierende Illusion einer menschlichen Existenz, entsprungen einem erstaunlichen „Faible für Kunst“, der im Jahre Null die Menschen offenbar erfasst hat: Seine täuschende Echtheit ist – im Gegensatz zu jener der „FOLIE“ – tatsächlich nur eine Täuschung, lässt also die Differenz zwischen Werk und Wirklichkeit bewusst werden und öffnet so wieder jenen interpretativen Spielraum, ohne den der Mensch auch im ‚Posthistoire’ nicht leben kann.1279 Solchen ironischen Volten zum Trotz erscheint das Erzählen bei Thomas Lehr jedoch letztlich – anders als bei Nabokov – als „Symptom einer Verzweiflungsstimmung“ 1280, als pure Überlebensstrategie, angetrieben durch den „fatalistischen Fanatismus“ der versprengten Bewohner einer Kultur der Unverbindlichkeit und Zusammenhanglosigkeit. Oder, wie Adrian die verzweifelten Bemühungen seiner ‚Zeitgenossen’ kommentiert, ihrer isolierten Existenz einen Sinn zu verleihen: „Wir wollen eine ANTWORT. Sie muss noch nicht einmal gut sein.“1281

1279 1280 1281

Lehr 2005, S.239. Lehr 2005, S.326. Lehr 2005, S.332.

Schlussbetrachtung Der exemplarische Überblick über die gegenwärtige Zeit-Literatur, der in den vorangegangenen Kapiteln unternommen wurde, hat ein Kaleidoskop verschiedenster Motive, Analysen, theoretischer Ansätze und ästhetischer Konzepte zutage gefördert. Zeit erscheint in vielen Romanen nicht mehr als universale apriorische Struktur, sondern als brüchiges, vielfältiges, unberechenbares Gebilde; sie hält an, springt und variiert ihre Geschwindigkeit, sie spaltet sich in widersprüchliche parallele Zeitstränge auf oder krümmt sich zu eigenartigen Zeitschleifen zusammen, die die Handlung unvermutet an ihren Ausgangspunkt zurückkehren lassen. Ausführliche Reflexionen über das Wesen der Zeit werden in Form von Essays oder fiktiven Vorträgen in die Handlungen eingebettet, und in vielen Romanen treten an exponierter Stelle Zeitforscher auf, die das alltägliche Verständnis von Zeit für überholt erklären und einen Wandel des menschlichen Zeitbewusstseins, ja sogar der Beschaffenheit der Zeit selbst verkünden. Aufgrund der „innerfiktiven Pluralisierung von Zeitebenen“1282 lassen sich die neueren Zeitromane dabei in die Tradition der literarischen Phantastik einordnen. Diese definiert sich seit Todorov in erster Linie durch einen „ungelösten Streit zweier inkompatibler Erklärungsweisen“1283, der sich in den neuen ZeitRomanen als Konflikt unterschiedlicher Erklärungsmodelle wiederfindet: So können die Zeitparadoxien zumeist als pathologische Krisenerscheinungen ebenso wie als Einbrüche des Wunderbaren interpretiert werden. Wie in den großen Zeit-Romanen der klassischen Moderne bleibt der „psychologische Zeitpfeil“1284, durch den Erlebnisse und Wahrnehmungen, aber auch Gedanken, Erinnerungen und Phantasien niemals gleichzeitig, sondern prinzipiell nacheinander auftreten, in den aktuellen Werken Grundlage der literarischen Zeitdarstellung: Obwohl die Erlebnisse nicht selten auf eine sprunghafte oder diskontinuierliche Wirklichkeit hinzuweisen scheinen, werden sie weiterhin von ‚Subjekten’ erfahren, die sie unweigerlich in einer bestimmten Reihenfolge zur Kenntnis nehmen müssen. Anders als in vielen avantgardistischen oder ‚postmodernen’ Texten bleibt also das Subjekt – wie stark es sich durch die ungewöhnlichen Zeiterfahrungen auch immer bedroht fühlen mag – in allen Romanen als diejenige Instanz grundsätzlich intakt, der das ungewöhnliche Geschehen zustößt. Die Paradoxien entstehen allein dadurch, dass die Inhalte der Erlebnisse nicht mehr in eine Reihenfolge, in ‚objektive’ Narrativen und Zusammenhänge zu bringen sind. Das gilt selbst für jene Augenblickser1282

1283 1284

Simonis, Anette: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur: Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg 2005, S.232. Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur, Tübingen / Basel 2001, S.37. Vgl. Hawking, Stephen W.: Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Reinbek bei Hamburg 1988, S.181ff.

326

Schlussbetrachtung

fahrungen, in denen die Zeit vorübergehend vollständig stehenzubleiben scheint; denn wenn etwa in Daniel Kehlmanns Roman Mahlers Zeit dem Protagonisten die Außenwelt vor den Augen einfriert und selbst das Schließen der Lider das Bild nicht mehr auslöscht, wird ihm der Stillstand nur dadurch überhaupt bewusst, dass sein Zeitempfinden die Dauer dieser Erfahrung zu erfassen in der Lage ist: „Mit aller Kraft schloss er die Augen. Es half nicht: Der Himmel blieb sichtbar. Ein Anfall von Panik, von hilfloser, brennender Angst lief durch seinen Körper. Es dauerte an, immer noch. Und immer noch. Und immer noch.“1285

Auch die Zeitsprünge, die in den Romanen Helmut Kraussers, Michael Wallners oder Urs Widmers vorkommen, widersprechen jeder objektiven Chronologie, teilen sich den Protagonisten aber doch als eine – wenn auch verwirrende – Abfolge von Eindrücken mit, die nur zwischen unterschiedlichen Kontexten und Wirklichkeiten zu ‚zappen’ scheint. Ebenso ändern die Flüchtigkeitserfahrungen bei Hofmannsthal oder Rilke oder jene Dehnungen und Raffungen subjektiver Dauer, die Hans Castorp auf dem Zauberberg erlebt, nichts an der Tatsache, dass Zeit weiterhin von einem Subjekt wahrgenommen wird und dadurch unweigerlich die Struktur eines Nacheinanders erhält. Die literarische Auseinandersetzung mit der Zeit bewirkt im 20. Jahrhundert demzufolge eine „Scheidung zwischen Zeit und dem Inhalt von Zeit“1286: Die innere Kette der Erlebnismomente steht in keiner Relation zur Chronologie des tatsächlichen Geschehens, die durch das Subjekt immer erst a posteriori konstruiert werden kann. Gleichzeitig steht die Zeitmotivik der Gegenwartsliteratur aber auch in einem scharfen Kontrast zu jenen Paradigmen, die die letzte große ‚Konjunktur’ des Themas in der Literatur um 1900 beherrschten. In der zeitreflexiven Literatur der klassischen Moderne steht die Montage der Zeitinhalte zu glaubhaften Narrativen in einer grundsätzlichen Abhängigkeit von kulturell geprägten ‚Konstruktionen von Dauer’: Nicht nur die ‚kollektivsingularen’ Zeitkonzepte, etwa Fortschritt oder Geschichte, werden als solche Konstruktionen empfunden, sondern schon so grundlegende Strukturen wie die Kausalität, die von Naturwissenschaft, Philosophie und Literatur gleichermaßen hinterfragt wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der Zeit überall in der Gesellschaft als lineare Chronologie begriffen wird, kann aus Sicht der Zeitkritiker nicht darüber hinwegtäuschen, dass die tiefe Prägung des Subjekts durch die gesellschaftlichen Strukturen eine grundlegende Abhängigkeit und Unfreiheit bedingt, dass das Leben durch sie entwertet, das Individuum in eine entfremdete, mechanisierte Lebenspraxis gezwungen wird. In der klassischen Moderne ist die Gesellschaft deshalb durch ein „ziemlich strenges Gerüst offizieller Zeit“1287 gekennzeichnet, ge1285 1286 1287

Kehlmann 2001, S.89f. Nabokov 1977, S.444. Ziolkowski 1972, S.179.

Schlussbetrachtung

327

gen das es den Strom des Bewusstseins, der die wahrgenommenen oder erinnerten Inhalte nach völlig anderen Prinzipien ordnet, zu emanzipieren gilt. Der Diskontinuität der Zeit-Inhalte entspricht dabei eine tiefere Kontinuität der psychischen Eigenzeit, deren spezifischer Wert gegen die objektiv-chronologischen Ordnungsmuster zur Geltung gebracht werden muss. Zwei ästhetische Konzepte scheinen für diese Emanzipation der subjektiven Zeit besonders geeignet zu sein: die Inszenierung besonderer Gegenwartserfahrungen, in denen die Dynamiken der ‚offiziellen’ Zeit sich für einen Moment aufzulösen scheinen, und die Abkehr vom Anspruch auf einen authentischen Zugang zur erlebten Vergangenheit, durch die ein ästhetisches Verhältnis zur Zeit, eine Pluralisierung und Relativierung ihrer scheinbaren Einförmigkeit möglich wird. Bei Autoren wie Borges oder Nabokov schließlich, auf deren Zeitreflexionen viele Schriftsteller der Gegenwart Bezug nehmen, entwickelt sich in der Folge des klassisch-modernen Diskurses ein spielerischer Umgang mit der Zeit, bei dem tendenziell der Anspruch auf mimetische „(Re-)Konstruktion der Vergangenheit“ durch eine freie „Konstruktion einer literarischen Welt“1288 abgelöst wird. Gerade die Hierarchie von gesellschaftlich formiertem Zeitbewusstsein und individuellem Zeitempfinden jedoch, gegen die sich auch die Literatur der ‚spielerischen Moderne’ implizit noch zur Wehr setzt, ist in den Romanen der letzten 20 Jahre offenbar kollabiert. Der Gegensatz von ‚individueller’ und ‚offizieller’ Zeit funktioniert nicht mehr, denn die Zeitkultur der Postmoderne entlässt die Individuen in eine „kollektive Vereinzelung“1289, in der sie für ihre gesellschaftliche Integration, für Sinn, Zusammenhang und Kontinuität ihres Lebens selbst Verantwortung tragen müssen. Dadurch aber gewinnen in den Texten die subjektiven Zeiterfahrungen auf einmal eine nahezu erschreckende Dominanz: Die solipsistische, sprunghafte Struktur der ‚neuronalen Zeit’, die als Kompositionsprinzip der Zeitparadoxien bei Daniel Kehlmann, Helmut Krausser, Michael Wallner, Thomas Hettche und anderen Autoren festgestellt wurde, lässt es offenbar nicht mehr zu, die Erfahrungsinhalte reflexiv in eine Ordnung zu bringen. Gerade die ästhetischen Ansätze der klassischen Moderne, nämlich der Rückfall in die „präsemiotische Unmittelbarkeit“1290 rein gegenwärtigen Erlebens und die Pluralisierung der Zeit in widersprüchliche, aber gleichberechtigte ‚Fiktionen’, werden nun zu Merkmalen der Krise: Die auktoriale Bestimmungsgewalt über das ‚Multiversum’ gleichberechtigter Vergangenheiten geht verloren, die gegenwärtige Erfahrung längst vergangener oder völlig fiktiver Ereignisse geht in Distanzlosigkeit, in ein ‚Delirium präsens’ über. Die Struktur der äußeren Zeit hat sich der neuronalen Struktur des Gehirns angeglichen; die Wahrnehmungen und Erinnerungen werden immer stärker durcheinandergewürfelt, ohne dass dieses Chaos noch als Refugium des Subjekts, als Ausdruck eines ‚anderen’ Zeiterlebens erfahren werden könnte. Zwar empfinden einige der Ro1288 1289 1290

Förster 1999, S.115. Beck 1994, S.53. Steiner 1996, S.173.

328

Schlussbetrachtung

manfiguren ihren ungewöhnlichen Zustand vorübergehend als neue Freiheit, deutet Samuel Kurthes in Helmut Kraussers UC die Paradoxien im Leben des Protagonisten sogar als erstes Anzeichen einer mystischen Überwindung der individuellen Existenzform. Dominant aber bleiben in nahezu allen Romanen Zustände der Isolation, Verwirrung und Panik sowie eine nostalgische Sehnsucht nach der alten, verlorenen Einförmigkeit der Zeit, die solche Interpretationen Lügen strafen. Während in den Werken der klassischen Moderne das Subjekt in einem grundsätzlichen Konflikt mit den gesellschaftlichen Strukturen und Normen steht, gegen die es seine Eigenzeit zur Geltung zu bringen versuchte, wird in der Gegenwartsliteratur also gerade die Aufwertung dieser „Eigenzeit“ als Zerstörung der sozialen Zeit und infolgedessen als Schwächung des Subjekts bewusst, das nun erst – „nachdem nachdem ist“1291 – seine Abhängigkeit von einer orientierenden, äußeren Struktur erkennt. Nicht mehr die individuelle, sondern die soziale Dimension der Zeit ist es deshalb auch, die in den auffälligsten neueren Zeitromanen als bedroht erscheint. So wird etwa bei Daniel Kehlmann die soziale Zeit als fragile, ‚unsichere’ Einrichtung vorgeführt, deren Infragestellung nicht nur prinzipiell als möglich erscheint, sondern deren drohende Auflösung das Subjekt unweigerlich in solipsistischen Wahnsinn und gesellschaftliche Isolation fallen lässt. Bei Helmut Krausser mutiert die Utopie einer ‚anderen Zeit’ zu einem tödlichen Spiel, in dem alle Individuen zu Produzenten immer neuer möglicher Welten werden. Diese ‚Netzwelten’, die sich ganz ausdrücklich durch eine Trennung der Zeit von ihren Inhalten kennzeichnen – die „festgeglaubten Knoten der zurückliegenden Zeit lösen sich auf“1292 –, werden zwar zumindest potenziell als erstes Stadium einer neuen, zeitenthobenen Existenzform vorgestellt, lassen aber auch deutlich werden, dass jedes ‚herkömmliche’ Subjekt in diesem ‚Hyperchronos’ nicht existenzfähig wäre. Thomas Lehr schließlich setzt in seinem Roman 42 den gesellschaftlichen Zeitrahmen gleich vollständig außer Betrieb: Der Protagonist wird zum Nomaden in einer Welt ohne kosmischen und sozialen Zeitpfeil, in der seine individuelle Freiheit zwar unbegrenzt, aber bedeutungslos geworden ist. So zeigt sich deutlich, dass die ‚anderen’ Zeiterfahrungen in den neuen Romanen keine Utopien mehr darstellen: Ohne den Widerpart gültiger kultureller ‚Konstruktionen von Dauer’ erscheint eine ästhetische Position, in der die spezifische Zeitlichkeit der Literatur oder des Erzählens als Alternative zur vorherrschenden Zeitkultur aufgewertet werden könnte, als unmöglich.1293 1291 1292 1293

Hettche 2002, S.9. Krausser 2003, S.206. Zwar behauptet Ansgar Nünning, dass die englischsprachigen Zeit-Romane der letzten Jahrzehnte nicht nur „die historische Variabilität von epochenspezifischen Zeitmodellen“ sowie „die Disparatheit heutiger Zeiterfahrungen erzählerisch zur Anschauung“ brächten, sondern auch „ästhetische Lösungsversuche“ der dargestellten Probleme zu liefern versuchten Abgesehen von Botho Strauß jedoch entwirft augenscheinlich keiner der hier behandelten deutschsprachigen Schriftsteller solche Ansätze. Das vordergründige Anliegen scheint vielmehr darin zu bestehen, die Mechanismen zu

Schlussbetrachtung

329

Die ‚Renaissance des Erzählens’, die sich in vielen der neueren Zeitromane vollzieht, ist daher weder als Wiederkehr der ‚großen Erzählungen’ noch als Bekenntnis zur Konfabulation zu begreifen. Vielmehr verdeutlicht sie die Abhängigkeit des Subjekts von einem Narrativ, einer Zeit, in der es sich orientieren kann, die aber im Fortgang der Moderne unwiederbringlich zerbrochen ist. Weil der Mensch jedoch nicht anders kann, erschafft er sich diese Zeit selbst immer wieder von Neuem, erzählt die Geschichten, die nicht mehr wahr und dennoch nicht „vermeidbar“ sind und die ihm, noch während er sie erfindet, „unter der Hand“ zu neuer Wirklichkeit gerinnen, die auf einmal doch wieder „ihre Zeit hat, unumgänglich“.1294 Eine solche Zeit, die wir selbst uns erzählend erschaffen und die gleichzeitig uns erschafft, ist selbst ‚Fiktion’, doch beruht sie nicht mehr – wie noch um 1900 – „auf Gewöhnung und Übereinkunft“, kann daher auch nicht mehr „punktuell durch Eruptionen“1295 aufgebrochen werden. Die Vereinbarungen der Zeit gelten immer nur vorübergehend und partiell, sie wandeln und vervielfältigen sich in dem Maße, in dem ihre Selbstverständlichkeit abnimmt. Die Literatur kann diesen Wandel nur mit- und nachvollziehen. Zwischen den Zeilen und den Zeiten aber wird ihr eigentliches Plädoyer erkennbar, das – mit Worten, die der Soziologe Georges Gurvitch bereits in den 60er Jahren niederschrieb – wie folgt zu formulieren wäre: „Es stimmt, dass uns ohne eine Vereinigung der divergierenden sozialen Zeiten in den Ensembles der hierarchisierten Zeit weder unser persönliches Leben noch das Leben der Gesellschaft [...] möglich erscheinen. Aber es handelt sich nicht um eine Einheit, die uns gegeben ist, sondern um eine Vereinigung, die durch menschliche Anstrengung erreicht werden muss. [...] Wir wissen nicht und können es niemals wissen, ob es eine Einheit der Zeit für sich gibt. Alles was wir tun können, ist, zu kämpfen, um nicht verloren zu gehen in der Multiplizität der Zeit, um uns anzuschließen an ihre relativen Vereinigungen auf den Stufen der Zeit.“1296

1294 1295 1296

veranschaulichen, mit denen sich die Entregelung der Zeit heute vollzieht. Vgl. Nünning 2002, S.418. Hettche 2002, S.173. Vgl. Assmann 1999, S.99. Gurvich, Georges: La vovation actuelle de la sociologie. Tome II. Antécédents et perspectives, Paris 1969, S.332. Deutsch zitiert nach Kraus, Wolfgang: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne, Pfaffenweiler 1996, S.115.

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4. Filmverzeichnis 28 DAYS LATER (UK 2002, Danny Boyle) ADAPTATION (USA 2002, Spike Jonze) BACK TO THE FUTURE (USA 1985, Robert Zemeckis) BARTON FINK (USA 1991, Joel & Ethan Coen) BLADE RUNNER (USA 1982, Ridley Scott) THE BUTTERFLY EFFECT (USA 2004, Eric Bress & J. M. Gruber) DONNIE DARKO (USA 2002, Richard Kelly) ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (USA 2004, Michel Gondry) FIGHT CLUB (USA 1999, David Fincher) THE FINAL CUT (USA 2004, Omar Naim) THE GROUNDHOG DAY (USA 1993, Harold Ramis) I AM LEGEND (USA 2007, Francis Lawrence) JFK (USA 1991, Oliver Stone) LOLA RENNT (D 1998, Tom Tykwer) THE MANCHURIAN CANDIDATE (USA 1962, John Frankenheimer) THE MATRIX (USA 1999, Andy & Larry Wachowski) MEMENTO (USA 2000, Christopher Nolan) MULLHOLLAND DR. (USA 2001, David Lynch) THE QUIET EARTH (Neuseeland 1985, Geoff Murphy) SLIDING DOORS (USA 1998, Peter Howitt) STRANGER THAN FICTION (USA 2006, Marc Forster) TEN MINUTES OLDER – THE CELLO (UK / D / F 2002, Bernardo Bertolucci, Claire Denis, Mike Figgis, Jean-Luc Godard, Jiri Menzel, Michael Radford, Volker Schlönndorff, István Szabó) TEN MINUTES OLDER – THE TRUMPET (UK / D u.a. 2002, Kaige Chen, Victor Erice, Werner Herzog, Jim Jarmusch, Aki Kaurismäki, Spike Lee, Wim Wenders) TOTAL RECALL (USA 1990, Paul Verhoeven) TWELVE MONKEYS (USA 1996, Terry Gilliam)

Danksagung Der vorliegende Band ist eine geringfügig überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im Sommer 2008 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Gefördert wurde sie durch ein Stipendium nach dem Nachwuchs-Förderungs-Gesetz (NaFöG) des Landes Berlin. Die Drucklegung wurde von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften großzügig unterstützt. Herzlich bedanken möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Ulrich Profitlich für das Vertrauen in mein Projekt und die Unterstützung vor, während und nach der Promotionsphase. Prof. Dr. Wolfgang Neuber danke ich für seine Bereitschaft, sehr kurzfristig ein Zweitgutachten zu verfassen. Dr. Frank Stucke, der die Promotion durch alle Phasen hindurch begleitet hat, gilt für zahllose Ratschläge, Korrekturen und Gespräche ein ganz besonders herzlicher Dank. Für Korrekturen, Hinweise und Anregungen danke ich Dr. Jon Albers, Volker Hunold, Sabine Donauer, Merle Amelung und Niels-Oliver Walkowski. Sigrid und Dr. Georg-Magnus von der Goltz möchte ich für ihr nachhaltiges Interesse an meinem Projekt ebenfalls meinen herzlichen Dank aussprechen. Meinen Eltern Karla und Jochen Pause, die mich während meines Studiums und meiner Promotionsphase auf jede erdenkliche Weise unterstützt haben, ist dieses Buch gewidmet.

Michael Br aun

Die Deutsche GeGenwartsliter atur eine einführunG (utB für wissenschaft 3352 M)

Diese Einführung vermittelt Orientierung im weiten Feld der deutschen Gegenwartsliteratur. In sieben Kapiteln werden literarhistorische Voraussetzungen, mediale Kontexte, folgenreiche Kontroversen sowie maßgebliche Autoren und Werke der letzten zwanzig Jahre vorgestellt, konzentriert auf Prosa und Lyrik sowie auf den Film. Dies geschieht im Wechsel von kursorischem Überblick und modellhafter Kurzinterpretation. Weiterführende Literaturangaben, eine kommentierte Auswahlbibliografie, Kontroll- und Übungsfragen runden die Kapitel ab. Das Buch ist als Lehrwerk und Grundriss angelegt, auf dem Dozentinnen und Dozenten wie Studierende im modularisierten Studium aufbauen können. 2010. 247 S. Mit 15 S/w-Abb. br. 150 x 215 MM. iSbN 978-3-8252-3352-5

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