Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur: Wissensordnungen im Wandel [1 ed.] 9783737012706, 9783847112709

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Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur: Wissensordnungen im Wandel [1 ed.]
 9783737012706, 9783847112709

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Yvonne Nilges (Hg.)

Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur Wissensordnungen im Wandel

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © iStock.com/PPAMPicture (ID: 854583530) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1270-6

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peggy Gehrmann »ruhe auf der flucht«: Zeiterleben bei Wolfgang Hilbig . . . . . . . . . . .

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Francesca Goll Wendezeit als Frei-Zeit? Die Entgrenzung der Zeiterfahrung in Brigitte Burmeisters Unter dem Namen Norma . . . . . . . . . . . . . . .

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Yvonne Nilges Frei-Zeit im Konsum-Dispositiv: Gleichzeitigkeit, Beschleunigung, Zeichenprozesse im deutschsprachigen Roman der Jahrtausendwende . .

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David Österle »wir schlafen nicht«: Über das Zeitregime der New Economy im Roman der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nils Lehnert »Bitte nicht so laut, bitte nicht so schnell, bitte nicht zuviel«: Frei-Zeit, Nicht(s)tun und Verweigerung bei Wilhelm Genazino . . . . . . . . . . .

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Riham Tahoun Das Unfreisein des Erinnerns oder Die Macht des Augenblicks in Marlene Streeruwitz’ Morire in levitate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Hans-Joachim Schott Auf der Suche nach der Walachei: Die Heterotopie als Ort der Krise und der Frei-Zeit in Wolfgang Herrndorfs Tschick . . . . . . . . . . . . . . . . 143

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Inhalt

Pierre Mattern Epiphanien: Zum Aussetzen von Routinezeit in aktueller deutschsprachiger Erzählprosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Anita Gröger Stillstand und Übergang: Augenblickserfahrungen in Botho Strauß’ Die Fabeln von der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Ursula Klingenböck »[Z]eitvergessen«: Figurationen von Frei-Zeit in Axel Ruoffs Apatit . . . . 205 Florian Gassner Frei-Zeit am Abgrund: Herkunft von Sasˇa Stanisˇic´ . . . . . . . . . . . . . 223 Die Autorinnen und Autoren der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Einleitung

Der 26. Deutsche Germanistentag 2019 (22. bis 25. September 2019 an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken) stand unter dem Oberthema »Zeit«. Aus dem dortigen Doppel-Panel »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur« (24. September 2019) ist dieser Band hervorgegangen, der elf einschlägige Forschungsbeiträge versammelt. »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur« wird in den folgenden elf Beiträgen aus multiplen Perspektiven differenziell beleuchtet. Wie die unkonventionelle Schreibung darlegt, ist der Begriff der »Frei-Zeit« nicht auf eine singuläre Lesart festgelegt; er bezeichnet – als ambige »Zeit des Freiseins«/»Zeit der Freiheit« und als »Freizeitgestaltung« – ein weitläufiges Diskursfeld, dessen einzelne Spezialdiskurse potenziell interferieren. Der Band akzentuiert diverse Wissensordnungen von »Frei-Zeit« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, indem über Gattungs- und Genregrenzen hinweg paradigmatische Erscheinungsformen von »Frei-Zeit« seit dem Ende des 20. Jahrhunderts literaturwissenschaftlich untersucht werden. Vor diesem Hintergrund reflektieren die Beiträge den Begriff der »Frei-Zeit« ihrerseits aus pluralen Forschungsperspektiven, welche gleichfalls miteinander korrelieren können (z. B. Literatur und Medien, Literatur und Gedächtnis, Kinder- und Jugendliteratur, Ecocriticism, Literatur und Migration, kulturwissenschaftliche Raumforschung, Narratologie). Im Sinne des »Netz[es], dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden«,1 stellt das Diskursfeld »FreiZeit in der Gegenwartsliteratur« ein komplexes interdiskursives Netzwerk dar. Dabei befinden sich, so wird sich zeigen, nicht allein die Wissensordnungen von »Frei-Zeit«, sondern auch deren Werte auf dem Prüfstand und in tiefgreifendem Wandel.

1 Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et écrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, aus dem Französischen von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann [u. a.], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001–2005, Bd. 4, S. 931 (»Von anderen Räumen«).

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Yvonne Nilges

1.) Als »Zeit des Freiseins«/»Zeit der Freiheit« schließt »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur« die politische Freiheit ebenso ein wie Figurationen von FreiZeit aus sozialer, wirtschaftlicher, emotionaler und spiritueller Sicht. FreiZeit-Praktiken in differenziellen Bezugsrahmen gelten hier jeweils dem Freisein/Freiwerden von rigiden Konventionen, belastenden Gewohnheiten und begrenzenden Weisen der Zeitwahrnehmung (sowie ggf., damit zusammenhängend, auch von tradierten literarischen Präsentationsformen). Der Begriff der »Frei-Zeit« umfasst hier das Freisein/Freiwerden von Traumata, aber auch von Hoffnungen, Illusionen usw., was damit natürlich auch mögliche Kehrseiten der Frei-Zeit, d. h. Frei-Zeit ex negativo impliziert: Darstellungen von kollektiver und/oder individueller Unfreiheit; gesellschaftliche und/oder persönliche Enttäuschung; schmerzhafte und/oder gefährliche Befreiung; Desorientierung und Haltlosigkeit; Depression oder Aktionismus; Stagnation; Frustration; Entwurzelung; Dissolution; die Wahrnehmung von ›leerer Zeit‹ in der Kontrastspannung zu einer ›neuen Zeit‹; Transiterfahrungen im Schwebezustand ›freier‹ Zeitempfindung usw. 2.) Im Sinne von »Freizeitgestaltung« verweist »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur« auf die progressive Aufhebung der Grenzen von Arbeitszeit und Freizeitverhalten. Hier rücken folgende Schlagwörter ins Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung: Taktung und Organisation; Beschleunigung oder Entschleunigung; Abkehr und Einkehr; Spielformen und Spielwelten; Konsumverhalten; Reisen; Tourismus usw. Die pluralen Lesarten von »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur« sind potenziell miteinander verbunden und zirkulieren in sich wandelnden Wissensformationen. Das Diskursfeld »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur« ist gekennzeichnet durch mehrdeutige Konnotationen und diskursive Wechselwirkungen. Dabei steht die Frei-Zeit stets auch in Beziehung zum Frei-Raum (was – im Kontext des Forschungsfeldes »Literatur und Raum« – sich z. B. anhand der kulturwissenschaftlichen Konzepte des Chronotopos, der Heterotopie, der Semantisierung des Raumes oder aber auch mittels der Literaturtopographie oder der Literaturgeographie analysieren lässt). Hybride Erfahrungszeiten in heterogenen Erfahrungsräumen konstituieren das Phänomen der Frei-Zeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Als Ertrag des Doppel-Panels auf dem Deutschen Germanistentag 2019 zielt der vorliegende Band nicht auf eine erschöpfende Darstellung von Frei-Zeit, sondern soll gerade die Vielfalt und Vielschichtigkeit literarischer Differenz- und Alteritätserfahrungen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts punktuell akzentuieren. Er soll zur weiteren, vertieften Diskussion von Frei-Zeit beitragen, Frei-Zeit als interdisziplinäres Diskursfeld zur Disposition stellen (v. a. im Hinblick auf soziologische, psychologische, philosophische und medientheoretische Aspekte

Einleitung

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der »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur«) sowie zu differenzierten Forschungen auch für die Zukunft anregen. Die elf Forschungsbeiträge beginnen mit dem Zeiterleben in Erzähltexten und in der Lyrik Wolfgang Hilbigs, wo Frei-Zeit vor und nach der deutschen Wiedervereinigung als Aus-Zeit im Dazwischen, als ein fragiler Augenblick der Ruhe jenseits aller Ein- und Zuordnungen manifest wird. Frei-Zeit bedeutet hier, momentweise einen befreienden inneren Abstand zu gewinnen: in der Distanz zu sich selbst, die neue Erkenntnisse ermöglicht; in der Flucht aus der DDR, ohne jedoch die BRD zu idealisieren; im Zulassen authentischer Gefühle. Frei-Zeit entsteht in diesem ersten Beitrag durch die (selbst)reflexive Analyse der Vergangenheit, woraus sich neue Einsichten mit Aussichten ergeben (Peggy Gehrmann: »›ruhe auf der flucht‹: Zeiterleben bei Wolfgang Hilbig«). – Im Anschluss daran wird Brigitte Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma (1994) untersucht, der die Zeitenwende der Wendezeit – in Verschränkung mit anderen Zeitenwenden historischen Ausmaßes – als Frei-Zeit ex negativo reflektiert. Die deutsche Wiedervereinigung wird im Erleben der Erzählerin gerade nicht als eine befreiende Zeit, sondern als destabilisierende Zäsur, als Auflösung vertrauter Wissensordnungen und als Strukturwandel, der neue Unfreiheiten mit sich bringt, geschildert. Auch hier kann Frei-Zeit – in abweichender Kontextualisierung – daher nur im Moment erfahren werden: In diesem Beitrag ist es der äußere Abstand im nivellierenden Chronotopos des Zuges, des Reisens und der Durchreise, der eine befreiende, entlastende, ›neutrale‹ Zeit im Hier und Jetzt ermöglicht. Die einzige dauerhafte Frei-Zeit ist die Freiheit der Erzählung: Durch die Verwerfung einer chronologischen Erzählstruktur unterminiert der Roman die Linearität in einer ›Befreiung‹ des Zeitverständnisses an sich (Francesca Goll: »Wendezeit als Frei-Zeit? Die Entgrenzung der Zeiterfahrung in Brigitte Burmeisters Unter dem Namen Norma«). – Der sich anschließende Beitrag führt differenzielle Freizeit-Praktiken in der Post-Wende-Literatur sowie der Popliteratur zusammen. Konsum als zeichenbasiertes Kommunikationssystem wird hier unter Rekurs auf Jean Baudrillards Medientheorie analysiert. Dabei treten an die Stelle der Freizeit als »freie Verfügung über Zeit« gouvernementale Praktiken freizeitlicher Konsumtion, im Zuge derer die Zeichen- und Symbolhaftigkeit von ›Frei-Zeit‹ als Simulacrum kenntlich wird. Erzähltechniken der Simultanität und Akzeleration verdeutlichen und intensivieren dies auch in formaler Hinsicht (Yvonne Nilges: »Frei-Zeit im Konsum-Dispositiv: Gleichzeitigkeit, Beschleunigung, Zeichenprozesse im deutschsprachigen Roman der Jahrtausendwende«). – Der darauffolgende Beitrag untersucht das Verhältnis von Arbeit und Freizeit im Roman nach der Jahrtausendwende, wo Freizeit entweder als Quantité négligeable oder aber als gezielte, karrierefördernde Selbsttechnologie präsentiert wird. In beiden Fällen illustriert die Divergenz von Inhalt und narrativer Form jedoch das subversive Potenzial der Texte; die dys-

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funktionale Aufhebung von Frei-Zeit verdeutlicht ›in verdeckter Schreibweise‹ gerade deren Unverzichtbarkeit (David Österle: »›wir schlafen nicht‹: Über das Zeitregime der New Economy im Roman der Gegenwart«). – Die ›innere Emigration‹ von Konsum und Erlebnisdiktat beleuchtet der sich anschließende Beitrag über Variationen der Frei-Zeit in den Werken Wilhelm Genazinos. Hier opponieren die Protagonisten vehement gegen den gesellschaftlichen Mainstream, was im Erzählverfahren des »gedehnten Blicks« gespiegelt wird. Doch während diskursiver Konformismus im Hinblick auf die Frei-Zeit scheiterte – s. o. –, problematisiert auch die individualistische Anti-Attitüde eine Frei-Zeit, die letztlich mehr begrenzt, als dass sie tatsächlich befreiend wirken könnte (Nils Lehnert: »›Bitte nicht so laut, bitte nicht so schnell, bitte nicht zuviel‹: Frei-Zeit, Nicht(s)tun und Verweigerung bei Wilhelm Genazino«). Vom »Unfreisein des Erinnerns« handelt der nachfolgende Beitrag, der Marlene Streeruwitz’ Novelle Morire in levitate (2004) vor dem Hintergrund eines unverarbeiteten Familientraumas analysiert, das von der Zeit des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart hineinreicht. Hier ist es die Montage nicht vergessener, subjektiv gefärbter Augenblicke, die im Kontext eines normativen Gedächtnisdiskurses das Erleben von Frei-Zeit gerade verhindert (Riham Tahoun: »Das Unfreisein des Erinnerns oder Die Macht des Augenblicks in Marlene Streeruwitz’ Morire in levitate«). – Im Anschluss daran wird Wolfgang Herrndorfs Jugendroman Tschick (2010) im Hinblick auf die Frei-Zeit untersucht. Dies ist das erste literarische Beispiel, in dem Frei-Zeit weder als scheiternd noch auf flüchtige Momente beschränkt illustriert wird; eine ›freie‹, selbstständige, dauerhafte Krisenbewältigung gelingt – hier in der »Walachei« als Heterotopie, wo der jugendliche, psychisch belastete autodiegetische Erzähler lernt, sich und seine Individualität zu wertschätzen und gesellschaftliche Normalitätsstandards zu relativieren (Hans-Joachim Schott: »Auf der Suche nach der Walachei: Die Heterotopie als Ort der Krise und der Frei-Zeit in Wolfgang Herrndorfs Tschick«). – Die plötzlich eintretende Frei-Zeit als »Epiphanie« erörtert der sich anschließende Beitrag unter Rekurs auf einschlägige Romane Thomas Hettches, Martin Mosebachs, Robert Seethalers und Thomas Stangls. Durch den Einsatz verschiedener narrativer Verfahren wird die »Routinezeit« hier exemplarisch außer Kraft gesetzt, so dass epiphanische Momente unterschiedlicher Observanz entstehen und gestaltet werden können (Pierre Mattern: »Epiphanien: Zum Aussetzen von Routinezeit in aktueller deutschsprachiger Erzählprosa«). – Eine unvermittelt auftretende Frei-Zeit behandelt auch der nachfolgende Beitrag, doch nun anhand interpersonaler Augenblickserfahrungen der Schwelle. In Botho Strauß’ Die Fabeln von der Begegnung (2015) wird Frei-Zeit als eine plötzliche Ernüchterung, teilweise auch als plötzlicher Genuss erfahren: Sowohl das Freiwerden vom anderen als auch das Freiwerden mit ihm ist hier jeweils möglich. Der Augenblick fungiert in diesem Beitrag als ein Aus- oder auch Zu-

Einleitung

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gang vom bzw. zum Bezugspartner, indem der Moment befreiender Klarheit im Hinblick auf das Gegenüber zugleich auch einen zwischenmenschlichen Wendepunkt bedeutet (Anita Gröger: »Stillstand und Übergang: Augenblickserfahrungen in Botho Strauß’ Die Fabeln von der Begegnung«). – Der darauffolgende Beitrag gilt dem mineralogischen Roman Apatit (2015) des Filmemachers und Autors Axel Ruoff; der Text wird hier literaturwissenschaftlich zum ersten Mal analysiert. Wie das filmtheoretische »Zeit-Bild« von Gilles Deleuze als »ästhetische Eigenzeit« in die literarische Praxis übertragen werden kann, verdeutlicht dieser bislang kaum bekannte ökologische Roman in experimenteller Frei-Zeit. Auch hier gelingt Frei-Zeit schließlich anhaltend und über den fliehenden Augenblick hinaus – in glücklicher ›Zeitvergessenheit‹, welche die Zeit als solche transzendiert (Ursula Klingenböck: »[Z]eitvergessen: Figurationen von Frei-Zeit in Axel Ruoffs Apatit«). – Der letzte Beitrag schließlich beleuchtet die autobiographisch orientierte Migrationserzählung Herkunft (2019) von Sasˇa Stanisˇic´, die mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnet wurde. Flucht, Identität und Zerrissenheit schlagen in dieser letzten Untersuchung eine thematische Brücke zurück zum Beginn des Bandes, indem erneut – und modifiziert – der Frage nachgegangen wird, was Heimat im Zusammenhang von Frei-Zeit sein kann. Eine offene, ›freie‹ Form der Erinnerungsliteratur offeriert hier auch und insbesondere die nicht-lineare, interaktive Erzählstruktur, die in Form eines Text Adventure den Begriff der »Frei-Zeit« akzentuiert (Florian Gassner: »Frei-Zeit am Abgrund: Herkunft von Sasˇa Stanisˇic´«). Auch auf formaler Ebene, so zeigt der Band, beinhaltet Frei-Zeit mithin eine Vielzahl polychroner Darstellungsweisen. Neben der Geschichte oder der erzählten Welt, der Welt des Textes usw. wird auch die Narration oder die Art der Aussage zentral: als poetische Kategorie pluriformer Frei-Zeiten, die v. a. als FreiZeit von tradierten Zeit-, Gattungs-, Genre- und/oder Erzählmustern und deren Assoziationen verstanden werden will. Analog zur motivischen Frei-Zeit, die zumal vermittels temporärer Augenblickserfahrungen geschildert wird – vgl. hierzu Bachtins Chronotopos der Schwelle: Die Zeit in diesem Chronotopos ist der Augenblick –, scheint Frei-Zeit in formbezogener Hinsicht nur in der Negierung der Temporalität möglich: als erzähltechnische Entschleunigung, Befreiung von der Chronologie oder Aufhebung der Zeitlichkeit als Ganzes, was in diversen Präsentationsformen literarisch variiert wird. Stets ist die literarische Darstellungsweise signifikant, indem die Ebene der Form eine thematische FreiZeit entweder besonders begünstigt oder aber sie gerade unterläuft (bisweilen auch beides zugleich als ›Coincidentia Oppositorum‹). Wandlungsprozesse verweisen auf sich wandelnde Wissensordnungen, deren Werte und Bewertungen ebenfalls dem Wandel unterworfen sind. Dies demonstrieren die folgenden elf Studien in ebenso ergiebiger wie anregender Diversität: im Interdiskurs der Frei-Zeit, der einschlägige Spezialdiskurse und -kulturen in

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Yvonne Nilges

der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vermittelnd miteinander vernetzt. Der vorliegende Band lädt dazu ein, das facettenreiche Diskursfeld »Frei-Zeit in der Gegenwartsliteratur« seit dem Ende des 20. Jahrhunderts vielschichtig zu entdecken und es systematisch weiter zu erforschen: in seinen dynamischen, interdisziplinären Referenzrahmen und Praktiken, mit seinen Herausforderungen und mit seinen Chancen. Yvonne Nilges

Peggy Gehrmann

»ruhe auf der flucht«: Zeiterleben bei Wolfgang Hilbig

Das Grundthema der Texte Wolfgang Hilbigs ist die Unterdrückung bis hin zur Vernichtung der Identität, Individualität und Lebendigkeit des Einzelnen. Seine Texte thematisieren also v. a. gerade das Gegenteil der ›Frei-Zeit‹ im Sinne einer Zeit der Freiheit oder Befreiung. Die Poetik Hilbigs ist geprägt durch das Evozieren einer stehenden oder kreisenden, einer nicht-vergehenden Zeit. Dies wird auch in der Forschung immer wieder bemerkt. So konstatiert Dahlke: »Sich wiederholende Endlosbewegungen […] lassen die Dimension Zeit zugleich vorwärts und rückwärts laufen.«1 Wehdeking beschreibt es so: »Hilbig wählt eine unbestimmte, durch häufige Rückblenden fast statische Zeitstruktur, die immer wieder Türen in eine vorvergangene […] Geschichts- und Kindheitserinnerung öffnet.«2 Hier soll nun untersucht werden, inwiefern in Hilbigs Lyrik und Prosa dennoch eine freie oder befreiende Zeit aufscheint. Interessant scheint in diesem Zusammenhang ein Vergleich von Texten, die das Leben in der DDR darstellen, mit solchen, deren Handlungsort auch Westdeutschland ist. Lässt sich hier eine Befreiung der Zeit und der Figuren feststellen? Für meine Untersuchung wähle ich die Erzählungen »Die Weiber« und »Der Gegner«, das Gedicht »die ruhe auf der flucht«, alle um 1985 entstanden, und den Roman Das Provisorium aus dem Jahr 2000. Die Reihenfolge markiert eine zunehmend stärkere Thematisierung des Lebens in der Bundesrepublik.

1 Birgit Dahlke, »Verspätet, verkrüppelt, verschlissen, verkalkt: Zur ›negativen‹ Poetologie des ostdeutschen Dichters Wolfgang Hilbig (vor und nach 1989)«, in: Interlitteraria 18/2 (2013): 462–475, S. 464. 2 Volker Wehdeking, Die deutsche Einheit und die Schriftsteller: Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989, Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 1995, S. 51.

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I

Peggy Gehrmann

»Die Weiber«

Die gesamte Erzählung »Die Weiber« thematisiert, dass das Leben in der DDR keine liebevolle Bestätigung des Einzelnen in seiner Besonderheit zulässt. Dargestellt wird dies in dem zentralen Bild eines Landes, aus dem die »Weiber« verschwunden sind.3 Die Erzählung betont eindringlich die Unmöglichkeit des Menschen, ohne die »weibliche« Form der Liebe und Zuwendung eine eigene Identität und eine Verankerung in der Realität auszubilden. Die eigentliche Story setzt in dem Moment ein, da dem Protagonisten namens C. gekündigt wird. Dieser Moment fällt auch mit seiner Entdeckung zusammen, dass alle »Weiber« aus der Stadt verschwunden sind; er markiert den Beginn wachsender Erkenntnis. Zuvor, als Arbeiter, lebte C. in der Illusion der Zugehörigkeit; der erlittene Mangel wurde ihm nicht bewusst. Er führte ein Leben der Flucht, des halbbewussten Verdrängens und blinden Weitermachens. Mit dem Verlust der Arbeit und damit mit seiner, allerdings höchst eingeschränkten, sozialen Einbindung schärft sich die Wahrnehmung des Protagonisten für das, was ihm fehlt. Die gewonnene Freizeit im engeren Sinne und die deutliche soziale Isolation steigern sein Verlustgefühl ins Unerträgliche. Die Erzähler-Figur gerät in eine Position am Rande, die es ihm ermöglicht, innezuhalten und Distanz zu nehmen. Sie begibt sich gedanklich und poetisch auf die Suche nach den Gründen für das eigene Leid und nach Möglichkeiten der Abhilfe. Zeitlich kann sich der Leser, ja selbst der Erzähler, nur schwer orientieren. Erlebte und erinnerte oder imaginierte Situationen werden übereinandergeblendet. Es entsteht der Eindruck eines rastlosen Kreisens um ein Problem.4 Daher erscheint in diesem Text zuweilen das Epische fast aufgehoben im Lyrischen – das Erzählen einer Handlung tritt zurück hinter das poetische Beschreiben und Reflektieren der inneren Situation.5 Die unerträgliche Gewalt, die von der Ordnung ausgeht, scheint das Subjekt so sehr beschädigt zu haben, dass dessen Handeln aussichtslos erscheint, solange es sich selbst nicht gefunden hat. 3 Wolfgang Hilbig, »Die Weiber«, in: Ders.: Werke, Bd. 3 (Die Weiber. Alte Abdeckerei. Die Kunde von den Bäumen. Erzählungen), hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer 2010, S. 7–112, S. 18. 4 Eckart zufolge gerät bei Hilbig das Geschichtenerzählen notwendig in die Krise, denn Narration hat etwas mit Legitimation, mit der Anerkennung des Erzählten als wirklich zu tun. »Verleihen wir den Ereignissen […] einen Aspekt von Erzählbarkeit, legitimieren wir letztlich die herrschende Realität. Und jene benötigt unsere Erzählungen, um sich ihrer selbst zu versichern.« – Gabriele Eckart, Sprachtraumata in den Texten Wolfgang Hilbigs, New York [u. a.]: Peter Lang 1996, S. 173f. 5 Es ließe sich die These aufstellen, dass es sich hier um einen – allerdings umfangreichen – lyrischen Text handelt, so dicht erscheint hier die Metaphorizität, so kunstvoll komponiert das Motivgeflecht, so auffällig die rhythmische Gestaltung der Sätze. Das Hauptgewicht liegt auf der Deskription subjektiven Erlebens, dem die Narration funktional nachgeordnet ist.

»ruhe auf der flucht«: Zeiterleben bei Wolfgang Hilbig

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Die Erzählung der Story wird durch ungeordnete Rückblenden, Traumerzählungen sowie längere Passagen der Reflexion unterbrochen. Neben den zahlreichen Rückwendungen gibt es auch noch eine Fülle an variierenden Wiederholungen bestimmter Situationsmotive, die dem Voranschreiten der Handlung entgegenarbeiten, etwa das Leitmotiv der Suche im Müll. Die räumlichen Aufenthalte der Figur verdeutlichen ihre Außenseiterposition. C. begibt sich auf die Müllhalden an der Peripherie der Stadt und steht außerhalb der bisherigen, schützenden Aufenthalte wie dem Betrieb, einem sogenannten Frauenbetrieb, oder dem Pendler-Bus, den er mit einer Vagina vergleicht.6 Frauen vermag er nur von ferne, von hinten oder von unten her aus dem Kellerschacht zu sehen. Direkte Begegnungen sind ihm nur mit Vertreterinnen der Staatsmacht möglich, die alles Weibliche abgelegt haben und sich ihm gegenüber feindselig-abwertend verhalten. Diese Distanz und Einsamkeit beschreiben das Grundgefühl seines Lebens und sein Selbstverständnis als Schriftsteller, die aber in ihrer aktuellen Wucht sein Leben als Mensch existenziell bedrohen. Die persönliche Erfahrung, bestätigende, weibliche Liebe zu entbehren, beginnt vorbewusst in der frühesten Kindheit. Als die Mutter des Protagonisten ihren Mann im Krieg verliert, ersetzt sie ihre Gefühle für ihn durch die Identifikation mit dem Staat – einem Staat, der seinerseits alle Weiblichkeit und Mütterlichkeit negiert. So wird die unbedingte, bestätigende ›mütterliche‹ Liebe zu einer ›väterlichen‹ Liebe gewandelt, die allein Leistungen, insbesondere Anpassungsleistungen, mit Zuwendung belohnt. Die Erwartungen, mit denen der Heranwachsende seitens seiner Mutter wie auch der staatlichen Ordnung konfrontiert wird, sind Unterordnung, Tüchtigkeit und Sauberkeit.7 Individualität und Sexualität werden entwertet. Sie sind stets nur Quelle von Scham- und Ohnmachtsgefühlen. Als Junge wie als Mann verbirgt und verheimlicht C. seine Innenwelt, seinen sprachlichen Zugang zur Welt, seine Männlichkeit und Erotik. Er findet dafür das Bild der (Selbst-)Kastration: Dem »Vaterland« habe »man offenbar alle weiblichen Bestandteile kastriert«, C. aber hat sich selbst ›kastriert‹, um den Erwartungen der Frauen in dieser vermännlichten Ordnung zu genügen.8 Die Beschneidung weiblicher Aspekte wie Sinnlichkeit, Liebe und Wertschätzung des Besonderen, auch Geheimnis und Schönheit hat also eine gesellschaftliche und historische Dimension und reicht zurück in die Zeit des Dritten Reichs, an die die Ordnung der DDR anknüpft. Der Ich-Erzähler denkt zurück an das Bild der zur Arbeit ziehenden, kahl geschorenen Insassinnen des KZs am 6 Vgl. Wolfgang Hilbig, »Die Weiber« (Anm. 3), S. 91. 7 In beinahe wörtlich übereinstimmenden Wendungen machen ihm die Mutter und eine Beschäftigte des Arbeitsamtes Vorhaltungen. Vgl. ebd., S. 27f. und S. 61–64. 8 Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 76. Zur Vermännlichung der DDR-Ordnung äußert sich ausführlich Eckart im vierten Kapitel ihrer Monographie. Vgl. Gabriele Eckart, Sprachtraumata in den Texten Wolfgang Hilbigs (Anm. 4), S. 85–106.

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Peggy Gehrmann

Rande seiner Heimatstadt. Dieses Bild hat er als Kind aufgenommen, und es schließt sich mit dem letzten Bild der Erzählung zu einem Kreis zusammen, da der Protagonist auf die weiblichen Gefangenen eines Gefängnisses in Ost-Berlin blickt. Mehrfach und über mehrere Seiten hinweg wird in eindringlichen Bildern das Fluten des abgeschorenen Frauenhaars als das Verlorengegangene beschrieben. So beobachtet der Protagonist, wie sich Fahrzeuge auf den Müllkippen am Stadtrand entleeren: Kreiselnder Wind schlug sich in die wüst auffliegenden Ladungen … und ich hatte den Eindruck, es würde in ungeheuren Mengen über die Halden gestürzt, ich bildete mir ein, kolossale Ballen verfilzten Haars aller Farbschattierungen würde hier dem Wetter preisgegeben, oh, ich sah, wie das Haar in der Ebene rauchte, wie Wolkensträhnen davon in Richtung der letzten kahlen Bäume abgetrieben wurden […], um dort zu wehen, schwarze Fahnenfetzen, Fahnen der Klage über die mörderischen Traditionen meiner Heimat.9

Allmählich erkennt der Erzähler seine unselige Bindung an den Staat und die Analogien der gegenwärtigen zu jener vergangenen unmenschlichen Diktatur: Eine Wurzel des Kollektivismus und Militarismus der DDR-Ordnung reicht in die NS-Diktatur hinein. Der Schlussabschnitt der Erzählung ist deutlich vom übrigen Darstellungsduktus abgehoben. Die Handlung setzt nun an neuen Orten noch einmal an. Die Figur befreit sich aus den Verschlingungen der Gedanken, Erinnerungen und vergeblichen Handlungen, die den übrigen Text dominieren. Aus der räumlichen Distanz von seiner Heimatstadt und seiner Mutter gewinnt C. einen neuen Blick, der ihn die »Weiber« wieder sehen lässt. Denn er gelangt nun auch zu einer größeren Selbstdistanz. Der Protagonist erscheint nicht mehr als so stark gefangen im eigenen Leid; er ist in der Lage, der unterdrückten Weiblichkeit gegenüber eine solidarische Haltung zu gewinnen. Dies wird daran deutlich, dass er die Frauen nicht mehr von unten her beobachtet wie etwa zu Beginn der Erzählung, als er selbst gleichsam eingekerkert war, sondern einen Blickpunkt von oben her einnimmt. Er hockt auf einem Mauerrand, nämlich auf der Mauer eines Frauengefängnisses, und schaut in den Hof hinab. So erkennt er, dass auch die Frauen ihrerseits Gefangene sind wie er. Anders als der Protagonist bislang bei seiner Suche vermutet hat, sind nicht alle Frauen dem Staat verbunden oder aber ›mit ihren Unterleibern im Westen‹, sie verbergen sich auch nicht absichtlich vor ihm.10 Vielmehr erweisen sie sich als Gefangene wie der Erzähler, wie die DDR-Bürger überhaupt, überwacht von Aufsehern, Hunden und der Stasi, aber ungebrochen, voll Liebe und Lachen und voll Hoffnung.

9 Wolfgang Hilbig, »Die Weiber« (Anm. 3), S. 26. 10 Vgl. ebd., S. 54ff.

»ruhe auf der flucht«: Zeiterleben bei Wolfgang Hilbig

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C. nimmt Kontakt zu den Frauen auf, er ruft ihnen laut »ich liebe dich …« zu und drückt so seine Liebesfähigkeit statt der eigenen Liebesbedürftigkeit aus.11 Dabei wird die bedrohliche, liebesfeindliche Staatsmacht nicht ignoriert oder gar beseitigt, doch kann er die Angst vor ihr überwinden.12 In »Die Weiber« scheint ›Frei-Zeit‹ auf, wenn der Protagonist eine distanzierte Beobachterhaltung einnimmt, die ihm Erkenntnis ermöglicht. Zudem wird hier sogar eine Form von Zukunftshoffnung evoziert, wenn es heißt, die Gefangenen hätten ihm ein Zeichen gegeben. »Und es bedeutete […]: warte auf uns … warte noch einige wenige Jahre …«.13 Eine solche Zukunftsperspektive lassen die anderen Texte zunehmend vermissen.

II

»Der Gegner«

Die poetische Reflexion über den Ich-Verlust wird auch in der Kurzgeschichte »Der Gegner« aufgegriffen. Anders als in »Die Weiber« gerät hier bereits das Verlassen der DDR Richtung Westen in den Blick. Auch in dieser Kurzgeschichte changiert das Erzählen zwischen Handlung und Reflexion. Ein Strom an Erinnerungen und Überlegungen wird immer wieder unterbrochen durch die Erzählung eines zeitgleich stattfindenden nächtlichen Besuchs des Protagonisten im Haus seiner Mutter. Diese Handlung ist in das Erzählen zeitlich eingeschoben, d. h. noch nicht abgeschlossen. Die gedankliche Rückwendung in die eigene Vergangenheit spiegelt sich in der Handlung um die räumliche Rückkehr ins Haus der Kindheit und Jugend wider. Die Erzählerfigur begibt sich auf die Suche nach den Gründen, die zum Verlust der eigenen Identität geführt haben. Zu Beginn dringt der Protagonist in ungewöhnlicher Weise ins Haus ein. Er zwängt sich »mit Todesverachtung« in das »gähnende […] Loch des Kellerfensters«.14 Im Keller empfangen ihn Nässe und Gerüche von Fäulnis, Exkrementen, »Gas und Rattengift«.15 »Der brandige Hauch der vorschnell in Vergängnis stehenden Erdoberfläche durchdrang die Kellerfundamente«.16 In diesem Bild des Einstiegs in den Keller des mütterlichen Hauses vermischen sich 11 Ebd., S. 109. 12 C. verspürt in diesem Moment durchaus Angst vor einem ihn beobachtenden Stasispitzel. Vgl. ebd., S. 110f. 13 Ebd., S. 111. 14 Wolfgang Hilbig, »Der Gegner«, in: Ders.: Werke, Bd. 2 (Erzählungen und Kurzprosa), hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer 2009, S. 348–355, S. 348. 15 Ebd. 16 Ebd.

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verschiedene bildliche Ebenen. Die Erkundung der eigenen Herkunft beginnt mit dem Blick auf die eigene Zeugung und Geburt. Das enge dunkle Kellerloch, die Fäkalgerüche lassen an die weiblichen Sexual- und Ausscheidungsorgane denken. Doch diese Rückschau auf das beginnende neue Leben verlangt von dem, der sie wagt, »Todesverachtung«.17 Es scheint, als ob der Tod das Leben von Anfang an grundiert. Schon im Moment des Kriechens durch das Kellerfenster, so heißt es später, habe der Protagonist »ein merkwürdiges Anwachsen von Umsicht und Wachsamkeit in sich verspürt«.18 Permanente drückende Furcht begleitet das Leben der Figur von Anfang an. Es scheint, als sei bereits der Eintritt in die Welt etwas Unerlaubtes wie ein Hauseinbruch, bei dem sie nicht ertappt werden darf, als habe sie kein Existenzrecht. Der Blick auf die eigenen Anfänge beschränkt sich aber nicht nur auf das individuell Biographische, sondern richtet sich auch auf die gesellschaftliche Ordnung und ihre Geschichte. Das Haus symbolisiert auch das soziale System, in dem der Protagonist aufgewachsen ist. Er ist zum Zeitpunkt der Handlung 44 Jahre alt, d. h. mit der Erinnerung an seine Herkunft blickt er zugleich auf die Zeit vor der Staatsgründung der DDR zurück. Deren Ordnung baut auf vergiftetem, verwesendem Grund auf, ihr Erbe sind die Toten von Krieg und Vernichtungslagern. Das enge Zusammenrücken der Worte ›Gas‹ und ›Gift‹ bei der Beschreibung des Kellers verweist auf die Massentötung von Menschen mit Giftgas. Das faulende, sich schon zersetzende Fundament des Hauses setzt die brüchige Basis der gesellschaftlichen Ordnung ins Bild. Im Kontrast dazu steht das Äußere des Hauses: »Das Haus war neu verputzt worden, und man hatte die alte Haustür ausgewechselt. Für die Fassade war gesorgt worden, wie es wahrscheinlich für anerkennenswert galt.«19 Der Besucher interessiert sich jedoch nicht für die übertünchte Vorderfront und passiert nicht die neue Tür, für die auch sein Schlüssel nicht mehr passt. Er erkundet vielmehr die Innenräume, die ihm deprimierend alt erscheinen, stehengeblieben in der Zeit. Die dürftigen Einrichtungsgegenstände stammen aus der Jugendzeit des Betrachters.20 Ihre Beschreibung enthält Todessymbole wie Galgen, Schlinge und welke Zweige.21 Auch dies lässt sich unschwer auf die Situation der DDR beziehen. Die offizielle Selbstdarstellung als fortschrittliches Land gerät mehr und mehr in Widerspruch zu ökonomischem Niedergang, kultureller Stagnation und gesellschaftlicher Resignation. Die Fassade täuscht nicht mehr über das marode Innere hinweg.

17 18 19 20 21

Ebd. Ebd., S. 353. Ebd., S. 348. Vgl. ebd., S. 349. Vgl. ebd.

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Der Protagonist erkennt in der Rückschau, dass sein bisheriges Leben nichts als eine blinde Flucht vor Vereinnahmung gewesen ist: [E]r war nach Möglichkeit allem ausgewichen, was zuviel Widerstand erforderte, er war, nicht ohne sich erniedrigen, beleidigen oder belobigen zu lassen von dem Pack, das schneller war als er, mächtiger und korrupter, endlich, ohne sich zu wenden, bis in dieses Jahr geraten, und das meiste war ohne Hast vonstatten gegangen. Er hatte seine Flüche verschluckt, wenn es opportun war, seine faden Freuden halb gekostet und vertan […], noch bis zuletzt hatte er den merklichen Verrat an allen Versicherungen und Zukunftsaussichten für im Grunde schlecht möglich, für ungeheuerlich gehalten, […] nun aber hielt er plötzlich und er war erschöpft … es schien, sie hatten ihn jetzt, wo sie ihn wollten.22

Das hier beschriebene frühere Verhalten der Erzählerfigur wird ebenfalls in der Handlung noch einmal vorgeführt. Dem Leser wird zunächst der Eindruck vermittelt, es handele sich um einen nächtlichen Einbruch und Diebstahl, nicht um eine Heimkehr. Der Protagonist kommt unangekündigt in der Nacht, bricht die Wohnungstür auf, sucht beim Licht einer Taschenlampe nach einer Geldkassette, die er gewaltsam öffnet. Er nimmt Geld an sich, bleibt noch eine Weile am Fenster sitzen, trinkend, nachdenkend, dabei besorgt, ob er beobachtet wird. Die schließlich im Zimmer erscheinende Hausherrin – seine Mutter, wie sich nun überraschend herausstellt – belügt er und sorgt für eine ›Fluchtmöglichkeit‹. Dem Verhalten des Sohnes steht die Rede der Mutter gegenüber, sie habe ihn angeblich längst sehnlich erwartet, wünschte, er möge längere Zeit bleiben, und sie habe Geld, Wein und ein Bett für ihn bereitgestellt.23 Der Mutter, die im Haus die ›Ordnung‹ im Kleinen repräsentiert, tritt der Sohn unehrlich, beschwichtigend und opportunistisch entgegen, wenn er ihr Angebot, ihm Geld zu geben, abwehrt und nicht eingesteht, dass er es bereits an sich genommen hat, und wenn er behauptet, längere Zeit bei ihr bleiben zu wollen, obgleich seine Bitte um die sofortige Aushändigung eines Schlüssels zeigt, dass er fortzugehen beabsichtigt. Er scheint eine Abneigung dagegen zu haben, von ihr etwas geschenkt zu bekommen und es vorzuziehen, es sich gewaltsam anzueignen. Dass der Besucher meint, sich gewaltsam Einlass und Geld verschaffen und bald wieder fortgehen zu müssen, zeigt eine höchst distanzierte, sich nicht einlassende, sich nicht vereinnahmen lassende Haltung.24 Auch zu sich selbst geht der Protagonist immer wieder auf Abstand. Vom eigenen Tun wird abwechselnd in der Ich- oder ErForm erzählt, aber auch mit »Du« oder »Wir« spricht der Erzähler sich selbst mitunter an. Die Rolle als Einbrecher im eigenen Elternhaus, die Beobachtung 22 Ebd., S. 349f. 23 Vgl. ebd., S. 354f. 24 Auch die im Zitat erwähnten »faden Freuden« kehren in der Handlung wieder, da der Wein, den er in der Küche findet und direkt aus der Flasche trinkt, schal und bitter ist.

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und Selbstbeobachtung bilden gleichsam auch hier den ›Mauerrand‹, auf dem er sitzt. Worin aber besteht der ›Verrat‹, den die ›Ordnung‹ an ihm begangen hat? Dieses Haus […] schien im plötzlich angefüllt mit Ahnungen, die noch aus der Zeit seiner Jugend zu stammen schienen … Ahnungen, daß ihm alles Selbstgefühl entzogen werde. […] [D]ie herrschende Ordnung hatte dieses Gefühl für Verrat an ihrem Eigentumsrecht an seiner Jugend gehalten. Die Ordnung selbst nannte sich dauernd jugendlich … und mit dieser Ordnung hatte er sich nach vorn geflüchtet, bis er seine Atemlosigkeit bemerkt hatte, bis er bemerkte, daß er seine Jugend dreingab, aber vergeblich auf einen Gegenwert wartete. Der Gegenwert war irgendeine halbwegs vereinbarte spätere Hälfte … ein Drittel, ein Fünftel, eine winzige Summe … in einem Haus wie diesem, unter dem die erschöpfte Erde zu zucken schien.25

Hier wird deutlich, dass die Ordnung einen Rechtsanspruch auf den Protagonisten und seine Jugend behauptete, dem er bislang gehorcht hat. Er passte sich ihren Zielen und Wünschen an und verlor darüber sein »Selbstgefühl«, seine Identität. Er meinte, dafür in einem späteren Lebensabschnitt mit einem eigenen Platz in der Gesellschaft – im Haus der Ordnung – belohnt zu werden. Nun, da seine Jugend schwindet, spürt er, dass er seine Lebenskraft, seine Jugendlichkeit, ja sich selbst schon verloren hat. »Der Tod hat mich berührt«, heißt es an anderer Stelle.26 Der Erzähler begreift, dass der Tod nicht ein zukünftiges Ereignis ist, dass ihm – heute noch fern und fremd – nach einer gewissen Anzahl von Jahren zustoßen wird. Er trägt bereits den Tod in sich, der sich in ihm ausbreitet, je mehr ihm seine innere Lebendigkeit, seine Jugend von der Ordnung entzogen wird. Die Flucht ist in dieser Erzählung nicht vorrangig eine Flucht aus der Diktatur, sondern bezeichnet zunächst die Lebensform innerhalb dieser Ordnung, ja die Existenzform der Ordnung selbst. Das Gesellschaftssystem flüchtete vor dem Wissen über das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit, auf der auch sie als totalitäre Ordnung fußt. Die Flucht des Protagonisten ist eine doppelte: Er ist bestrebt, sich dem Zugriff des Systems zu entziehen und flüchtet zugleich vor der wachsenden Erkenntnis, dass seine Anpassungsleistung, die Verausgabung seiner Lebenskräfte von diesem System niemals belohnt werden würde. Wie die Ordnung hoffte er vordergründig auf eine bessere, menschenfreundlichere Zukunft, dem doch ein tieferes Wissen in ihm widerspricht.27 Die Erzählung handelt von einem Innehalten, von einer Besinnung und von dem Versuch einer Umkehr. Die Erzählerfigur erkennt, dass sie eine Kehrt25 Ebd., S. 353f. 26 Ebd., S. 352. 27 Birgit Dahlke konstatiert in Hinblick auf Hilbigs »Autorfiguren«, sie schleppten »mehr Vergangenheit mit sich herum«, als sie »Zukunft haben könnte[n]. […] Schon am Ausgangspunkt des Eintritts der Figuren in den Text ist in ihren Körpern so viel Vergangenheit gespeichert, dass sie immermüde und erschöpft, ja beinahe gelähmt sind.« – Birgit Dahlke, »Verspätet, verkrüppelt, verschlissen, verkalkt« (Anm. 1), S. 466.

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wendung hätte vollziehen müssen, stattdessen aber ins Leere weitergerannt ist: »[I]m Rauch des Acheron aber ist jeder Schritt zu weit«.28 Der titelgebende »Gegner«, gegen den sich der Protagonist zur Wehr zu setzen hat, ist sein anderes Ich: das Ich, das ihm die Ordnung zuweist. Er fühlt, wie ihm die eigene Autonomie verlorengeht. An die Stelle seines Ichs schiebt sich immer wieder jener »Gegner«, der fortwährend weiter voranläuft, keine Reflexion, keine Rückschau ermöglichen will. [S]chon lange hatte er das Gefühl, […] nur das Abbild eines Subjekts zu sein, wie irgendwer es für ihn vorausgedacht hatte. […] [W]enn er weiterging, würde er das Opfer seines Gegners werden. […] Dieser Gegner […] war nichts anderes als sein eigenes Ich in der Zukunft.29

Für das System ist es zu spät für einen »Umsturz«.30 Und auch die Erzählerfigur hat keine Hoffnung mehr darauf, sich selbst zu finden, das Leben als ein eigenes neu zu beginnen: »Was ich bin, liegt längst hinter mir.«31 Der Protagonist will aber nunmehr wenigstens erkennen, was er versäumt hat, warum er sich selbst preisgegeben hat. Er wendet sich in und mit der Erzählung zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, »[w]eshalb wir uns gebeugt haben«.32 An dieser Stelle spricht der Erzähler in der Pluralform von sich. Das »Wir« umfasst damit zugleich sein anderes Ich, seinen »Gegner«. Aber die Frage: ›Weshalb haben wir uns gebeugt? ‹ ließe sich auch weiter fassen als eine, die sich an die Leser richtet, seien es gleichfalls DDR-Bürger oder auch Personen, die in anderen entfremdenden Verhältnissen leben. Das nicht mehr erzählte Ende von »Der Gegner« besteht anscheinend in einem Verlassen der Ordnung im aufrechten Gang. Der Protagonist versieht sich nicht nur mit einem Schlüssel, um durch die Vordertür des Hauses hinausgehen zu können. Bei dem entwendeten Geld handelt es sich um Devisen, womit auch die Richtung gen Westen angedeutet ist.33 Die zentrale Figur verlässt das Haus der Mutter, so wie der Autor im selben Jahr die DDR verlässt. Aber nicht die Zukunft in einem anderen Haus beziehungsweise in der Bundesrepublik stellt hier die befreiende Zeit dar, sondern die ganze Episode des Besuchs, die gleichsam eine Negation der Heimkehr darstellt: der nächtliche Aufenthalt im Herkunftshaus als Fremder, ja als Gegner, die bewusste reflexive Distanznahme gegenüber der vertrauten Ordnung – sitzend an der Außenmauer des Hauses und durchs Fenster schauend. 28 29 30 31 32 33

Wolfgang Hilbig, »Der Gegner« (Anm. 14), S. 350. Ebd., S. 351. Ebd., S. 350. Ebd., S. 353. Ebd. Vgl. ebd., S. 351.

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III

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»sitzen auf dem mauerrand«: Unmögliche Einordnung bei Wolfgang Hilbig

Einen prekären Moment des Friedens gerade in einer Grenzsituation beschreibt auch das Gedicht »die ruhe auf der flucht«. Eine Gedankenfigur, die in den Prosatexten Hilbigs variantenreich entfaltet wird, enthält dieses Gedicht in nuce. die ruhe auf der flucht 1 2 3 4 5

warten – oh noch einmal einen abend ausruhn vor der unendlichkeit der nacht die uns mit allem vieh zu paaren treibt und sich schon sammelt vor den abgestreiften schuhn …

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reglos

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im angesicht der flut die bald erwacht noch eine stunde sitzen auf dem mauerrand stille im schädel und den fuß im sand dem atem nachsehn der uns aus den lungen schwindet dem zorn dem gold das in den augen sichtbar bleibt wenn die erschöpfung uns in dem entschluß verbindet noch eine stunde vor dem dunklen ufer auszuruhn – und dieses tags zu denken der zuletzt uns wärmte des großen abends der uns unerschrocken sonnte indes fernher ein kupferrotes lohen lärmte und schon erlosch im riesengong der horizonte.34

Das Gedicht thematisiert den Wert, den eine Situation des Dazwischen haben kann. Hinter dem lyrischen Subjekt – einem »Wir« – liegt eine erschöpfende Lebenslage, die Zorn in ihm zurücklässt. Vor ihm aber wartet etwas Dunkles, Überwältigendes, das es mit einer gewissen Resignation erwartet. Gerade die Situation des Übergangs ermöglicht das Erlebnis von Gemeinschaft, von Mut, von Ruhe. Die metrische und lautliche Gestaltung des Gedichts wirkt sehr lebendig, z. B. aufgrund der unterschiedlich weit ausgreifenden Endreime und Assonanzen. Für Nachdruck sorgen die betonten Versanfänge und -schlüsse. Die aus einem zweisilbigen Wort bestehenden Kurzverse »warten –«, »reglos« und »dem zorn« erzeugen längere Pausen im Lese- oder Sprechfluss und machen das Innehalten und Warten erfahrbar. Wiederholungen am Beginn der Verse 10, 11 und 12 wirken wie ein immer wieder neu erprobtes Ansetzen, bei dem versucht wird, 34 Wolfgang Hilbig, »die ruhe auf der flucht«, in: Ders.: Werke, Bd. 1 (Gedichte), hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 155.

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mittels verschiedener Ausdrücke mehrere Aspekte ein und desselben Verlusts einzufangen: »dem atem […] / dem zorn / dem gold«. In der letzten Strophe kommt das Gedicht metrisch und klanglich zur Ruhe. Dafür sorgen der Kreuzreim, der alle Verse der Strophe miteinander verschränkt und die reichen Assonanzen, die den Eindruck von Geschlossenheit und Dichte verstärken, insbesondere durch den zehnfach auftretenden Vokal »o« und die Wiederholung von Konsonanten, oft als Alliteration, nämlich ›d/t‹, ›l‹ und ›sch‹. Die Verse beginnen und enden hier unbetont. Die Bilder des Gedichts laden einerseits zur Identifikation ein, wenn sie Vorstellungen eines gemeinschaftlichen Ausruhens, des scheidenden Abends und einer Strandsituation wachrufen, doch wirken sie auch zugleich verstörend. So lässt der Vers »stille im schädel« einerseits an Ruhe und Kontemplation denken, andererseits aber auch an den Tod. Die Wendung »dem atem nachsehn der uns aus den lungen schwindet« erinnert einerseits an ein entspannendes, tief seufzendes Ausatmen, andererseits an den letzten Atemzug. So ziehen sich die Ambivalenzen durch das ganze Gedicht. Die letzten zwei Verse des Gedichts wirken besonders rätselhaft. Zum einen, weil das Lohen und der Horizont synästhetisch als akustische Phänomene beschrieben werden, zum anderen, weil das lyrische »Wir« nicht auf einen Horizont, sondern auf eine Vielzahl an Horizonten blickt. Das Gedicht seinerseits eröffnet eine verwirrende Vielfalt an ›Horizonten‹, nämlich an sozio-kulturellen Kontexten, aus denen Elemente ausgewählt und im Gedicht in eigentümlicher Weise kombiniert sind und die vom Leser zur Sinnkonstruktion herangezogen werden können. Diese bildlichen Motive sind sehr kunstvoll in vielfältiger Weise miteinander verknüpft.35 Dennoch soll zunächst der Versuch gemacht werden, sie voneinander zu sondern, um die einzelnen Sinn-Horizonte des Textes unterscheiden zu können. Die beschriebene »flucht« als eine Flucht aus der Diktatur aufzufassen, wird durch die Worte »flucht«, »warten«, »mauer«, »rot« und »horizonte« nahegelegt sowie durch die Tatsache, dass das Gedicht unmittelbar nach der Ausreise Hilbigs aus der DDR im Jahre 1985 entstanden ist. Als Ort der Handlung wird mit der »mauer« das Symbol der deutsch-deutschen Teilung – die Berliner Mauer – aufgerufen. Der »sand« bezeichnet in diesem Zusammenhang den typischen Boden der märkischen Landschaft, in die hinein Berlin und die Mauer gebaut worden sind, und zugleich im redensartlichen Sinn einen Grund, auf dem sich nichts Haltbares errichten lässt. Wie der Sand drücken auch das Erlöschen des Lohens und das Schwinden des Atems die Unhaltbarkeit der realsozialistischen 35 Zum Thema Selektion und Relationierung von Diskurselementen im literarischen Text vgl. Wolfgang Iser, »Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?«, in: Funktionen des Fiktiven, hg. von Dieter Henrich und dems., München: Fink 1983, S. 121–151.

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Ordnung aus und den Mangel an Lebensmöglichkeiten, die sie dem Einzelnen zu geben vermag. Von der Zeit in der DDR bleibt nichts zurück als erschöpfender Zorn, der nun, beim Verlassen des Staates, allmählich schwindet. Die Zeit des Zorns scheint vorbei, mit ihm drohen aber auch Wärme, Atem und Lebendigkeit – das »gold […] in den augen« – verlorenzugehen. Indem das Wort »zorn« zugleich in die Nähe des Wortes »erschöpfung« und der Wendung »gold das in den augen sichtbar bleibt« gerückt wird, erscheint der Zorn als gleichermaßen kräftezehrend wie wertvoll: als dasjenige nämlich, was den Blick beseelt, ihm Glanz und Lebendigkeit verleiht. Nur im Moment der »ruhe auf der flucht« kann dieses ›Gold des Zorns‹ überhaupt wahrgenommen werden. Denn sowohl das, was vorausging als auch das, was nachfolgt, ist sinnbetäubend: ein lärmendes »kupferrotes lohen« und der »riesengong der horizonte«. Die Wendung »kupferrotes lohen« enthält das Farbmotiv Rot und damit einen Bezug zur Symbolik der Arbeiterbewegung und damit zur DDR. Sie erinnert auch an die Arbeitswelt Hilbigs, der lange Zeit als Heizer das Feuer in Fabriköfen genährt hat. Der zurückgelassenen Welt des lohenden Feuers und Zornes gegenüber steht die vorausliegende Welt, die in der Bildlichkeit des Sterbens und der Verwirrung dargestellt wird: ›unendliche Nacht‹, ›erwachende Flut‹, »dunkle[s] ufer« und »riesengong der horizonte«. Der »riesengong der horizonte«, angesichts dessen jenes »lohen« erlischt, ist auf die offene, pluralistische, aber für Übersiedler aus der realsozialistischen Enge und Tristesse auch beängstigende und verwirrende westliche Gesellschaft zu beziehen. Das lyrische »Wir« erwartet, wie das »vieh zu paaren« getrieben zu werden, d. h. die Gemeinschaft »unerschrocken[er]«, ›zornig-stolzer‹ Individuen wird allein auf die animalisch-biologischen Beziehungen reduziert werden. Die Rastenden blicken auf eine aggressiv begrenzende Ordnung zurück und voraus auf eine mit Auslöschung drohende entgrenzende Ordnung. Üblicherweise wird der Diskurs zur Ausreise aus der DDR dadurch beherrscht, dass über die Fragen gesprochen wird: Welche Gründe haben zur Ausreise geführt? Welche Erlebnisse gab es bei der Reise? Wie hat man die ersten Schritte im Westen erlebt? Welches System war oder ist das bessere? In diesem Gedicht wird all dies nur angedeutet. Im Zentrum stehen weder das Leben im verlassenen System noch im angestrebten System und auch nicht die dramatischen Erlebnisse des Grenzübergangs, sondern der Moment der Pause und Besinnung. Diese Ruhe und Enthobenheit stellt sich auf einer Grenze ein, die räumlich verstanden werden kann (Mauerrand, Ufer) oder zeitlich (der scheidende Abend). Sie kann aber auch als innere, seelische Grenzerfahrung aufgefasst werden, worauf noch einmal zurückzukommen sein wird. Das Gedicht beschreibt auch die resignierte Erwartung des Todes. Das »dunkle[] ufer« verweist auf den Acheron-Strom, über den der griechischen

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Mythologie zufolge die Toten durch den Fährmann Charon übergesetzt werden. Die »unendlichkeit der nacht« bezeichnet vor diesem Horizont den nahen Tod. Dies kann sich auf eine Erwartung für die Zukunft beziehen, aber auch auf die Wahrnehmung, dass bereits aktuell die eigene innere Lebendigkeit verlorengegangen ist, so wie »der atem der uns aus den lungen schwindet«. Der Sprecher hält angesichts des Gedankens an den Tod als ständigem Begleiter inne und denkt über sein Leben nach, das ihm als permanente, die Lebenskräfte erschöpfende Flucht erscheint. Die Grenzsymbole Mauer und Ufer und ebenso der Abend bezeichnen den Moment der inneren Distanznahme und Reflexion, der, so prekär er auch ist, doch zu Ruhe und Überschau über die Seelenlandschaft verhilft. Dieser Moment der Selbstbetrachtung bezeichnet die Situation des Schriftstellers beim Schreiben oder des Rezipienten bei der Texterfahrung. Der lyrische Text kann also auch als ein selbstreflexiver gelesen werden. Das Gedicht selbst heißt nicht nur, es ist auch jene »ruhe auf der flucht«, die es im Titel aufruft. Einige Ausdrücke des Gedichts wecken Assoziationen an Menschen auf dem Weg ins Konzentrationslager. In Vers vier heißt es: »die uns mit allem vieh zu paaren treibt«, dies lässt an Menschen denken, die zum Abtransport ins Lager auf Viehwaggons getrieben werden. Die Erschöpfung wäre in diesem Kontext aus der zurückliegenden Zeit der Verfolgung, Verhaftung und Deportation zu erklären. Dass der »atem […] aus den lungen schwindet«, lässt sich in Zusammenhang mit den Gaskammern bringen. Der Ausdruck »schädel« gemahnt ebenfalls an den Tod, auch lässt er an die rasierten Köpfe von Häftlingen denken. In diesem Sinnzusammenhang erhält der vorletzte Vers eine andere Bedeutung: »indes fernher ein kupferrotes lohen lärmte« ist nun auf die Krematorien der KZs zu beziehen. Die abgestreiften Schuhe erinnern den Leser an historische Fotographien und Gedenkstätten, welche die wohlsortierten Berge von Habseligkeiten zeigen, die den Menschen vor ihrer Ermordung im KZ abgenommen worden sind.36 Auch dieses bildspendende Feld kann nicht das ganze Gedicht erschließen, sondern erweckt eher einzelne Assoziationen und Konnotationen. Die Überschrift und viele Aussagen des Textes passen sich nicht in diesen Kontext ein. Ebenfalls nur hinsichtlich einzelner Verse und Wendungen des Gedichts erscheint ein anderer Kontext sinnstiftend, nämlich der Bezug auf die Sintflut und Noahs Arche. In den Versen 1 bis 4 und 6 bis 7 ist vom Warten auf die Flut bzw. die Nacht die Rede, »die uns mit allem vieh zu paaren treibt«. Im Alten Testament heißt es: »Alles was einen lebendigen Odem hatte auf dem Trockenen, das 36 Literarisch gestaltet wird dieses Motiv in der Ballade »Die Kinderschuhe von Lublin« von Johannes R. Becher, die in der DDR zum Schulstoff gehört hat. Vgl. Johannes R. Becher, Hundert Gedichte, hg. von Jens-Fietje Dwars. Berlin: Aufbau 2008, S. 92–100.

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starb.«37 Nachdem Noah auf Gottes Geheiß die Arche gebaut hat, kündigt dieser an, dass in sieben Tagen der Regen beginnen soll. Diese sieben Tage bleiben Noah, um Mensch und Tier in den Kasten zu treiben. Möglicherweise lässt ihm diese Frist auch Zeit, zur Ruhe und Besinnung zu kommen. Das Gottesgericht überleben allein Noah und seine Frau, die Söhne und deren Frauen sowie die Tiere, die er paarweise in seine Arche aufnimmt. Nach der Flut müssen sie auf einer entvölkerten Erde ein völlig neues Leben beginnen.38 Ein weiterer alttestamentarischer Stoff, aus dem sich Elemente im Gedicht ausfindig machen lassen, ist der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Die Menschen brechen von hier mit »sehr viel Vieh«39 auf, um in das ihnen verheißene »Land, darin Milch und Honig fließt«, zu gelangen.40 Gott geht ihnen nachts als eine Feuersäule voran und gebietet ihnen, sich am Meeresufer in der Wüste zu lagern. Verfolgt von den Ägyptern teilt Moses dann mit Gottes Hilfe das Meer und lässt sein Volk trockenen Fußes hindurchziehen, »und das Wasser war ihnen für Mauern zur Rechten und Linken«.41 Auch hier sind es einzelne Orts- und Situationsmotive wie die Ruhe auf der Flucht, das Vieh, die lodernde Flamme, Sand, Ufer, Flut und Mauer, die im Gedicht auftauchen. Eine Parallele stellt aber auch die Gesamtsituation dar, nämlich die einer Befreiung aus der Unterdrückung und die Hoffnungen und Befürchtungen in Hinsicht auf das Ziel der Reise. Angesichts des Gedichttitels drängt sich noch ein anderer Bezug auf ein biblisches und v. a. ikonographisches Motiv auf: Die Flucht Marias und Josephs mit dem Jesuskind aus Bethlehem nach Ägypten wird im Evangelium des Matthäus geschildert.42 Vor allem ist »Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten« ein verbreitetes Bildmotiv. Joseph und Maria fliehen nach Ägypten vor dem kindermordenden Tyrannen Herodes in ein vorübergehendes Asyl. Ähnlich dem lyrischen Subjekt im Text ist weder das Land ihrer Herkunft noch das Ziel ihrer Reise von Bedeutung für die biblische oder bildkünstlerische Erzählung, sondern nur die Flucht selbst und hier auch nicht die Bewegung durch den Raum, sondern allein die Rast unterwegs. Zumeist strahlen die Darstellungen Geborgenheit und Ruhe aus. Ein wiederkehrendes Bildelement ist ein zu überquerendes Wasser; bei Orazio Gentlileshi rastet die Familie hinter einer Mauer, d. h. es finden sich Symbole des Grenzübertritts.43Ein anderes häufiges Symbol ist das Feuer – etwa 37 38 39 40 41 42 43

1. Mose, 7. Vgl. ebd. 2. Mose, 12. 2. Mose, 13. 2. Mose, 14. Matthäus 2,13–15. Orazio Gentileschi, Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1625–1626, Kunsthistorisches Museum Wien). Dieses Bild veranschaulicht deutlich Erschöpfung, Gemeinschaft und Zuversicht der Reisenden.

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bei Rembrandt und bei Runge.44 Analog zu dem inneren Leuchten – dem »gold […] in den augen« – im Gedicht wird auch hier das Feuer als inneres Feuer göttlicher Liebe verstanden. Einen Sinnhorizont kann das Gedicht in heutigen Lesern noch aufrufen, den der Text selbst nicht verantwortet, da er ahistorisch ist, nämlich die Wendezeit in der DDR. Dabei machte ein großer Teil der DDR-Bürger die für sie neuartige kollektive Erfahrung der Selbstwirksamkeit, des Überwindens von Angst und der Möglichkeit, aus einem allzu lang verhaltenen Zorn heraus Veränderung, Befreiung und Aufbruch aus der Erstarrung zu bewirken. Es entstand das Gefühl, ein »Wir« zu sein, Grenzen überwinden zu können und für einen kurzen Moment aus der Ordnung aufzutauchen, einen Blickpunkt jenseits des östlichen wie des westlichen Systems einnehmen zu können. Nach der Grenzöffnung, in einer Zeit des Nicht-Mehr und Noch-Nicht, saßen Deutsche aus Ost und West buchstäblich »auf dem mauerrand«. Dieser denkwürdige »große[] abend[]«, als vielen das »gold […] in den augen« glänzte, war dazu angetan, zu ›wärmen‹ und zu ›sonnen‹. Gleichwohl sahen viele DDR-Bürger, als nur wenige Zeit später der Beitritt zur Bundesrepublik beschlossen wurde, unsicher und orientierungslos den »horizonte[n]« entgegen, die sich ihnen plötzlich öffneten und ihre bisherige Identität in Frage stellten. Diese und andere ahistorische Lesarten ermöglicht das Gedicht, da es mit seiner schillernden Bildlichkeit und der anthropologisch grundlegenden Erfahrung von Flucht eine Fülle an Anknüpfungspunkten und Bezugsmöglichkeiten bietet.45 Nutzt man das Modell Jurij M. Lotmans zur Beschreibung des Raums, so erscheint es hier auf dem ersten Blick so, dass dieser sich in zwei semantische Felder teilt, die allerdings beide der Figur zugänglich sind. Nicht der Übertritt ist somit das sujet-erzeugende Ereignis, wie es Lotman beschreibt.46 Und doch lässt sich auch dieser Text mit Hilfe von Lotmans Modell treffend beschreiben. Das lyrische Subjekt strebt aus beiden Ordnungen heraus und hin zu einem sich von ihnen räumlich und zeitlich abhebendem Grenzbereich. Das Ereignis der erlebten ›Frei-Zeit‹ besteht in der Situation der Rast auf der Flucht, des ›Sitzens auf dem Mauerrand‹ und der Möglichkeit, sich von beiden zeitlich-räumlichen 44 Otto Philipp Runge, Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1805, Kunsthalle Hamburg). Rembrandt von Rijn, Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten (1647, National Gallery of Ireland, Dublin). In einer symmetrischen Komposition schauen Joseph auf das Feuer und Maria auf das Jesuskind hernieder. Joseph löscht das Feuer, das in der Nacht gebrannt hat. An dessen Stelle, so ließe sich deuten, tritt mit dem anbrechenden Tag Christus und das Feuer göttlicher Liebe. 45 Zu leserverantworteten Formen der Intertextualität vgl. Peggy Fiebich, »Gefährten im Unglück«: Die Protagonisten narrativer Texte von E.T.A. Hoffmann sowie von Novalis, Goethe und Kleist, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 55–61. 46 Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil, 4. Aufl., München: Fink 1993, S. 329–347.

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Feldern zu distanzieren. Die Grenze selbst ist das Feld, in das die Figur strebt. Diese Grundstruktur findet sich, wie gezeigt, auch in Hilbigs Prosatexten wieder. Die Erzählung »Die Weiber« fragt danach, warum genau die Integration in die alte Ordnung unmöglich ist, die Kurzgeschichte »Der Gegner« stellt den Aufenthalt im Grenzbereich in den Vordergrund, und der Roman Das Provisorium verdeutlicht, inwiefern auch die neue Ordnung keine bessere Alternative zur Herkunftsordnung darstellt.

IV

»Hinter der Grenze«: (K)ein Ausblick

Der Roman Das Provisorium aus dem Jahr 2000 stellt die Situation des aus der DDR stammenden Schriftstellers C. hinter der Grenze dar. Tatsächlich war Hinter der Grenze einer der zunächst erwogenen Titel für den Roman.47 Der Protagonist, der ein befristetes Visum zur Ausreise in die BRD erhält, steht vor der Frage, ob er gänzlich hierbleiben soll. Dass das Leben in Westdeutschland nicht seine Flucht beendet, wird allerdings von Anfang an deutlich gemacht. Gleich in der grotesken Eingangsepisode in einer Boutique fühlt sich der Protagonist buchstäblich verfolgt. Er setzt sich gegen den (vermeintlichen) Verfolger mit Fausthieben zur Wehr. Auch als er feststellt, dass es sich bei seinem Gegner um eine Schaufensterpuppe handelt, scheint er seinen Angriff nicht als Irrtum zu betrachten oder zu bereuen. Auch im übertragenen Sinne wird C. weiterhin durch einen ›Gegner‹ vor sich hergetrieben, wie es der Protagonist in der gleichnamigen Erzählung erfährt. Wie in der DDR also werden auch im Westen Erwartungen an die zentrale Figur gerichtet, die ihre Identität bedrohen. Es sind dies nunmehr die Erwartungen des Marktes, einschließlich des Literaturmarktes. Die Unerfüllbarkeit dieser fremden Erwartungen versetzt den Schriftsteller C. in eine permanente Selbstwert- und Schreibkrise. Die Marktwirtschaft erweist sich gleichfalls als Ordnung, in der das Individuum in seiner Eigenheit, seiner Innenwelt und Sprache nicht wertgeschätzt wird. Auch Weiblichkeit und Erotik besitzen hier Warencharakter; sie dienen als Träger von Werbung, die ihr Versprechen nie einlöst.48 Bücher wie auch Zeitungen erscheinen hier entwertet, dienen literarische wie journalistische Texte doch lediglich der Zerstreuung und der Simulation von Sinn. Den Zynismus, der darin liegt, dass dem Individuum seine Unterwerfung unter die 47 Jürgen Hosemann, »Nachbemerkung zu dieser Ausgabe«, in: Wolfgang Hilbig, Werke, Bd. 6 (Das Provisorium), hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 321f., S. 321. 48 Das Motiv der Peepshow, das in variierter Form mehrfach im Roman auftritt, deutet Dahlke als »Allegorie kapitalistischer Öffentlichkeit«. Vgl. Birgit Dahlke, »Verspätet, verkrüppelt, verschlissen, verkalkt« (Anm. 1), S. 472.

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Marktordnung als Befreiung verkauft wird, fasst der Roman in das drastische Übereinanderblenden von Motiven des Einkaufens und des Holocaust: Im Halbschlaf sah er sich mitten auf der Breiten Gasse stehen […]; rings um ihn wallte das von der Nachmittagssonne beschienene Leben, die unaufhörliche Feier von Shopping & Fun. Schon lange stand er so, er sah ziemlich abgekämpft aus, […] er wartete auf den Abtransport. – Aber niemand achtete auf ihn; und links und rechts von ihm gerierte sich die Konsumrevolution, der absolute Zeitgeist stelzte durch den Sonnenbrei. – Der würde, so sagte sich C., drüben in der DDR in tausend Jahren noch nicht ankommen … die Breite Gasse in Nürnberg, das ist der Nabel der Welt […]. Denn die Welt ist dort, wo sich Käufer und Verkäufer mit leuchtenden Gesichtern am Eingang zum Elysium begegnen … Shopping macht frei, so steht es in attraktiven Lettern über all diesen Eingängen zu lesen … […] Und sie strömen ein und aus, und weiter in stetem Handel und Wandel durch die Fußgängerzone […]. Und sie tragen alle ihr Firmenlogo auf der Brust oder auf dem Rücken, den Schriftzug ihrer Weltmarke oder den flotten Spruch ihrer Herstellerfirma: Bitte ein Bit … […] Sie haben endlich ihre Namen.49

Der Protagonist richtet sich in der für ihn neuen Ordnung nicht ein – er lebt dauernd im ›Provisorium‹. Hilbig betont hinsichtlich seines Romans: »Der Protagonist wird praktisch in einen Konflikt versetzt, der der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten vorweggenommen ist und erst viel später für viele relevant wird.«50 Die Möglichkeit zur Distanznahme und zur Reflexion bietet in diesem Text der Bahnhof. Die Bahnhöfe in Ost und West sind dem Erzähler Orte des Möglichen; dem Pendler zwischen Ost und West versprechen sie eine Alternative zur jeweiligen Ordnung, ohne dass diese Alternative realisiert würde. Im Laufe des Romans überschreitet C. wie getrieben wieder und wieder die deutsch-deutsche Grenze oder sucht Bahnhöfe auf, er hält sich gleichsam beständig ›auf dem Mauerrand‹ auf. In einem Rückblick schildert er ein Erlebnis im Leipziger Hauptbahnhof: Ein bestimmtes Leuchten dort in der Bahnhofshalle, er sah es noch im Halbschlaf. Ein Licht, nur von einem auszumachen, der den Bahnhof genau kennt und der die Muße hat, es unter dem riesenhaften Gebäude aufzufinden. […] Niemand sonst aus der verschlafenen Menschenmenge, die um diese Zeit schon auf den Beinen ist, beachtet das Licht, dieses Funkeln, das sich verdichtet zu einem Gleißen; es ist der strahlende Schmutz in dieser seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gereinigten Kathedrale. […] – Dieser Mensch, der fast allein auf dem Bahnhof zurückbleibt, hat sich von den werktätigen Massen getrennt, vor ein paar Jahren schon, es war ein Schritt in die Unsicherheit, davon ist ihm die Angst geblieben, so als wäre er aus der menschlichen

49 Wolfgang Hilbig, Das Provisorium, in: Ders.: Werke, Bd. 6 (Das Provisorium), hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 244f. 50 Wolfgang Hilbig, »Hinter der Grenze: Exposé«, in: Ders.: Werke, Bd. 6 (Das Provisorium), hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel, Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 325.

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Gesellschaft ausgetreten, wie aus einer Partei. […] Dieses halbrunde Tor, die Ausfahrt, klein wirkend auf die Entfernung, ist jetzt von starkem Licht erfüllt. Und von diesem Halbkreis ausgehend – einer Morgensonne im Aufgang ähnlich, die erst zur Hälfte sichtbar ist –, ziehen sich unter dem Bahnhofsdach neun leuchtende Streifen entlang, die immer breiter werden, noch bis über den Standort des Betrachters hinweg. Es sind die noch lichtdurchlässigen Glassegmente der Dachwölbung […]. Und durch die Sonne hindurch sind die Züge ins Freie gefahren und haben sich im blendenden Licht verloren.51

In dieser Passage wird wie schon in »Die Weiber« der Verlust der Arbeitsstelle als verunsichernde soziale Isolierung dargestellt, hinzu kommt hier aber auch ein positiver Aspekt: Die Trennung von den ›Werktätigen‹, der Versuch, eine Existenz als Schriftsteller zu führen, ermöglicht es, den Kopf zu heben, öffnet den Blick für Reste an Schönheit und Freiheit. Der Protagonist sieht das Leuchten des Schmutzes – dies erinnert an das ›Gold in den Augen‹ der Flüchtlinge, das im besprochenen Gedicht aufgerufen wird. Auch die westlichen Bahnhöfe erlauben dem Protagonisten ein Auftauchen aus den Festlegungen durch die Ordnung. Von einer Lesereise durch westliche Städte heißt es: Es kam vor, daß er vor der Abreise ein oder zwei Züge versäumte, um sich noch auf dem Bahnhof aufhalten zu können. […] – Zuvor hatten ihn noch die Buchhandlungen angelockt, die Antiquariate rund um den Bahnhof, bald stand er lieber am Fenster eines Bistros am Rand der Bahnhofshalle und schaute der Welt zu, aus dem Innern eines Refugiums hervor, das schon nicht mehr ganz zu ihr gehörte, obwohl es sich meist an exponierten Plätzen befand, um die sich im Halbkreis das städtische Treiben scharte. Zum Bahnhof hielt das Treiben dichte Verbindung, er jedoch war davon schon abgetrennt, im Bahnhof fiel er mit seiner Form der Unruhe nicht auf, im Gegenteil, hier erreichte ihn Gelassenheit, hier mußte er nichts weiter bedeuten als Flucht und Vorbeigang.52

Doch allmählich verlieren die Bahnhöfe ihre aus der Ordnung herausgehobene Position. Mit Bedauern stellt der Erzähler fest: »[D]ie westlichen Bahnhöfe [glichen] Einkaufszentren, in zunehmendem Ausmaß, wie es schien, die sich von jenen in der Stadt nur dadurch unterschieden, daß hier die Ladenschlußgesetze aufgehoben waren.«53 In der Schlusspassage des Romans wird erneut der Leipziger Hauptbahnhof nach der Wiedervereinigung beschrieben, umlagert von Bettlern und verschandelt durch provisorische Verkaufsbuden und Werbeplakate »für allen Tand und Pfusch«.54 Weiter heißt es: 51 52 53 54

Wolfgang Hilbig, Das Provisorium (Anm. 49), S. 34f. Ebd., S. 114f. Ebd., S. 116. Ebd., S. 292.

»ruhe auf der flucht«: Zeiterleben bei Wolfgang Hilbig

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Eigentlich hatte C. nichts gegen die Anarchie, und nicht viel gegen Unordnung, aber das war nicht die Anarchie, das war die Diktatur des Schachers und der Dummheit. Die kleinen Raubfische, die Bankrotteure und Trickbetrüger, die Schrottwagenverkäufer und Schnäppchenvertreter waren zuerst gekommen, sie hatten dem Freiheitsgefühl der Ostdeutschen einen solchen Dämpfer verpaßt, daß die ihre Mauer zurückhaben wollten.55

Der Text endet mit der variierten Wiederaufnahme des Bildes von der strahlenden Kuppel des Leipziger Hauptbahnhofs. [D]as halbrunde Tor war von Licht erfüllt wie eine aufgehende Sonne. Und unter dem Dach des Bahnhofs zogen sich Strahlen herüber, der Schmutz auf dem Glasdach leuchtete auf und erfüllte die Halle mit Licht. Es waren neun Strahlen, die man da oben sah, es war eine magische Zahl. Und in der aufgehenden Sonne an Ende des Bahnhofs tauchten drei Buchstaben auf, die sich dunkel in der leuchtenden Scheibe abzeichneten, es waren die drei Buchstaben, die für eine große Industriefirma standen, und das siegreiche Zeichen gab der aufgehenden Sonne ihren Namen … AEG56

Es wird deutlich, wie aufgrund der historischen Ereignisse diese Zuflucht gänzlich verschwunden ist. Die ›Mauer‹ ist gleichsam eingeebnet worden. Die Auflösung der Grenze hat etwas Beklemmendes, da es nunmehr weder eine Wahl zwischen den bekannten Ordnungen noch einen Ort jenseits und außerhalb dieser Ordnungen zu geben scheint.57 Wenn Hilbigs Erzählschlüsse bisher durch das Aufscheinen einer neuen Perspektive geprägt waren, so wird diese Erwartung hier in bitterer Ironie enttäuscht. Wenn im Roman Das Provisorium die Wiedervereinigung dargestellt wird, so wird dabei nicht der Verlust der alten Ordnung betrauert, sondern das Verschwinden der Freiheit, sich im Leben wie im Schreiben in einem Transitbereich zwischen und jenseits von beiden Ordnungen aufhalten zu können. Was bleibt, ist der Roman selbst als Zeugnis einer poetischen Kontemplation, die nur aus der Distanz zur Ordnung heraus möglich ist.

55 Ebd., S. 293. 56 Ebd., S. 296. 57 Dagegen gelangt Petra Thore in ihrer recht oberflächlichen, Fiktion und Fakten vermischenden Analyse zu der Auffassung, dass der Fall der Mauer nur geringe Bedeutung im Text habe. Vgl. Petra Thore, »Brüchige Identitätskonstitutionen: Zu Wolfgang Hilbigs Provisorium und Natascha Wodins Nachtgeschwister«, in: Studia Neophilologica 85 (2013): 196–201, S. 197.

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V

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Befreiende Wahrhaftigkeit im Blick zurück und auf die Gegenwart: Synthese

Wolfgang Hilbigs Erzählen kennzeichnet ein unablässiges Pendeln und Kreisen. Auf der Suche nach einem nicht auffindbaren Halt bewegt sich die Narration hin und her zwischen verschiedenen Orten und Zeiten, zwischen Handlung und Reflexion, zirkuliert die Sprache unermüdlich um einen schmerzlich empfundenen Mangel. Doch das Gesuchte, sei es eine authentische Identität, seien es Liebe oder sexuelle Erfüllung, seien es Herkunft oder Heimat, entzieht sich oder erweist sich als trügerisch. Zuweilen eröffnet der Erzählschluss, etwa in »Der Gegner« oder »Die Weiber«, eine neue Perspektive, die über das Bisherige hinausweist. In allen untersuchten Texten aber – ob vor oder nach der Ausreise Hilbigs aus der DDR verfasst – scheint ein prekärer Moment der Ruhe und Muße auf, der an eine Situation des ›Dazwischenseins‹ geknüpft ist. Dieser Moment bezeichnet auch die Situation des Schriftstellers beim Schreiben, lässt sich also als ein selbstreflexives Moment der Texte verstehen. Das Subjekt strebt einem allem Zwang zur Ein- und Unterordnung enthobenem Grenzbereich zu. Allein die ›Ruhe auf der Flucht‹, das ›Sitzen auf dem Mauerrand‹ bedeutet ›Frei-Zeit‹. Der ostdeutsche Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz bemerkt: »Ost- und Westdeutschland haben eine gemeinsame Geschichte, die im nationalsozialistischen Dritten Reich einen vorerst absoluten Höhepunkt individueller und gesellschaftlicher Pathologie erreicht hatte.«58 Die deutsche Teilung sei dann »als Chance zur kollektiven Abwehr gemeinsamer, belastender Vergangenheit und verdrängter Innerlichkeit«59genutzt worden. »Unser gemeinsames Grundleiden war unterschiedlich kompensiert worden und hatte mit der Mauer […] wechselseitige[] Abspaltungen und Projektionen ermöglicht«, »mit der verbindenden Absicht, das Fühlen zu vermeiden«.60 »Was auf der einen Seite der Wohlstandsrausch expandierend besorgte, war bei uns in der zunehmenden Kontraktion von Angst, Abhängigkeit und Unterwerfung gesichert«.61 »Hier sollte sich das Ich im Kollektiv aufgeben, dort sollte das geputzte und narzisstisch gestylte Ich die kollektive Not vergessen machen.«62 In Hilbigs Texten ergibt sich eine ›Frei-Zeit‹ im Sinne einer Zeit der Befreiung nicht durch den Fortgang der Handlung. Wichtig scheint vielmehr die Wendung in die Vergangenheit und das Erspüren der Verluste und Beschädigungen. Die Äußerung von Maaz erklärt die 58 Hans-Joachim Maaz, Der Gefühlsstau: Psychogramm einer Gesellschaft, 2. Aufl., München: C. H. Beck 2014, S. 196. 59 Ebd., S. 205. 60 Ebd., S. 200 und S. 197. 61 Ebd., S. 197. 62 Ebd., S. 198.

»ruhe auf der flucht«: Zeiterleben bei Wolfgang Hilbig

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zeitliche Stagnation und das Verhaftetsein in der Vergangenheit in Hilbigs Erzählen. Die Zuversicht, durch immer fortdauernde Arbeit, Anpassung und Konsumtion die vermisste Bestätigung der eigenen Identität noch zu erlangen, erweist sich als illusionär. Erst die Erinnerung, die gedankliche und emotionale Realisation vergangener und aktueller Unmenschlichkeit, das mutige Zulassen authentischer Gefühle von Schuld, Angst, Schmerz und Trauer können befreiend wirken.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Becher, Johannes R.: Hundert Gedichte. Hg. von Jens-Fietje Dwars. Berlin: Aufbau 2008. Hilbig, Wolfgang: Das Provisorium. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Das Provisorium). Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2013. –: »Der Gegner«. In: Ders.: Werke. Bd. 2 (Erzählungen und Kurzprosa). Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2009, S. 348–355. –: »die ruhe auf der flucht«. In: Ders.: Werke. Bd. 1 (Gedichte). Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 155. –: »Die Weiber«. In: Ders.: Werke. Bd. 3 (Die Weiber. Alte Abdeckerei. Die Kunde von den Bäumen. Erzählungen). Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2010, S. 7–112. –: »Hinter der Grenze: Exposé«. In: Ders.: Werke. Bd. 6 (Das Provisorium). Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 325.

Sekundärliteratur Dahlke, Birgit: »Verspätet, verkrüppelt, verschlissen, verkalkt: Zur ›negativen‹ Poetologie des ostdeutschen Dichters Wolfgang Hilbig (vor und nach 1989)«. In: Interlitteraria 18/2 (2013): 462–475. Eckart, Gabriele: Sprachtraumata in den Texten Wolfgang Hilbigs. New York [u. a.]: Peter Lang 1996. Fiebich, Peggy: »Gefährten im Unglück«: Die Protagonisten narrativer Texte von E.T.A. Hoffmann sowie von Novalis, Goethe und Kleist. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Hosemann, Jürgen: »Nachbemerkung zu dieser Ausgabe«. In: Wolfgang Hilbig: Werke. Bd. 6 (Das Provisorium). Hg. von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel. Frankfurt a.M.: Fischer 2013, S. 321f. Iser, Wolfgang: »Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text?« In: Funktionen des Fiktiven. Hg. von Dieter Henrich und dems.. München: Fink 1983, S. 121–151.

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Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil. 4. Aufl. München: Fink 1993. Maaz, Hans-Joachim: Der Gefühlsstau: Psychogramm einer Gesellschaft. 2. Aufl. München: C. H. Beck 2014. Thore, Petra: »Brüchige Identitätskonstitutionen: Zu Wolfgang Hilbigs Provisorium und Natascha Wodins Nachtgeschwister«. In: Studia Neophilologica 85 (2013): 196–201. Wehdeking, Volker: Die deutsche Einheit und die Schriftsteller: Literarische Verarbeitung der Wende seit 1989. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 1995.

Francesca Goll

Wendezeit als Frei-Zeit? Die Entgrenzung der Zeiterfahrung in Brigitte Burmeisters Unter dem Namen Norma

»Die Geschichte geht doch auf«, denkt die Erzählerin, die Übersetzerin Marianne Arends, in Brigitte Burmeisters Roman Unter dem Namen Norma (1994). Das Verhältnis von Geschichte und Geschichten, d. h. politisch-historische Umwälzungen und ihr Einfluss auf das Leben der normalen Leute spielen in diesem Roman eine zentrale Rolle. Das, was die Erzählerin hier »Geschichte« nennt, sind die Veränderungen, die durch das Fortschreiten der Zeit eintreten. Die verschiedenen Wahrnehmungen von Zeitlichkeit, der Anbruch einer neuen Zeit durch den Mauerfall und die Wiedervereinigung sowie das Verhältnis zwischen Freiheit und Zeitlichkeit in Burmeisters Roman sind einige der Themen, die in diesem Aufsatz untersucht werden sollen. Drei Aspekte der Zeitlichkeit stehen ganz besonders im Fokus dieser Analyse: das Spannungsverhältnis von Geschichte im Sinne der Zeiterfahrung der Figuren, die raumzeitliche Spezifizität gewisser Chronotopoi und die erzähltechnischen Strategien der Temporalität.

I

»Weißt du, was für ein Tag heute ist?« Individuelle Zeiterfahrung und historische Narrative: Der 17. Juni, der 14. Juli und die Wiedervereinigung

Geschichtstheoretische Reflexionen von der Art wie Johann Gustav Droysens Grundriss der Historik1 scheinen in den letzten Dekaden Konjunktur zu haben – »Wenden« und Tendenzen im Sinne theoretischer und methodischer Neubegründungen haben, spätestens seit den 1960er und 1970er Jahren, maßgeblich die geschichtswissenschaftliche Diskussion geprägt. Die Überlegungen darüber, was das Entscheidende an der Wissenschaftlichkeit des historischen Denkens sei und inwiefern ein bestimmter Modus der Sinnbildung über Zeiterfahrung durch Erzählen angeregt werden könne, stellen nach wie vor einige zentrale Aspekte der 1 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig: Veit 1868.

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Diskussion dar.2 Anregungen kamen u. a. aus der Richtung der Literaturtheorie vom amerikanischen Historiker Hayden White, der sich in seinem Buch Metahistory3 auf die erzählerischen Vorgänge der Geschichtsschreibung konzentriert und sie aus dem Blickwinkel postmoderner bzw. poststrukturalistischer Ansätze beleuchtet. White argumentiert, dass Geschichte immer narrativ sei, auch wo sie vorgibt, es nicht zu sein, und dass somit die Darstellung historischer Zusammenhänge poetologischen Kategorien unterliege. Stephen Greenblatt, einer der Begründer des New Historicism, hat aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Anregungen Whites aufgenommen und weiter verarbeitet: Er betrachtet das literarische Werk als eine kollektive, gesellschaftliche Produktion und untersucht die Mechanismen der Machtstrukturen und Einflüsse zwischen literarischen Texten und gesellschaftlichen Verhältnissen. Während Paul Michael Lützeler noch 1997 vor einer »Verschleifung von Historiographie und Fiktion«4 warnte, stellt die Literaturwissenschaftlerin Franziska Meyer die Frage, ob die Dichotomie zwischen »Literatur und Geschichte« nicht allmählich obsolet werde.5 Jörn Rüsen versucht sich in einem Balanceakt: Der Definition der geschichtswissenschaftlichen Methode als »Plausibilität, Triftigkeit, Begründungsfähigkeit […]: Wahrheit«6 stellt er die Imagination in erzählerischen Vorgängen der Historiographie gegenüber. Laut Rüsen handele es sich um einen Aspekt, durch den »die Faktizität, das pure Geschehen des Erzählten transzendiert« werde.7 Dass Geschichte Geschichten erzählt, scheint relativ unumstritten; problematisch wird die Auseinandersetzung erst dann, wenn es um die Bestimmung der erzählerischen Leistung geht. Zahlreiche analytische Ansätze vonseiten der Historiker haben sich mit der Sprachtheorie als aufschlussreichem Konzeptfeld zur Beleuchtung des Spezifikums der erzählerischen Leistung historischer Texte befasst, wobei die unterschiedlichen narrativen Zeitebenen (die Unterscheidung eines »Zuvor« und »Danach« sowie die Zeit, von der aus der Historiker zurückblickt) oft einen zentralen Punkt darstellen.8

2 Jörn Rüsen, Historik: Theorie der Geschichtswissenschaft, Wien: Böhlau 2013. 3 Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1973. 4 Paul Michael Lützeler, Europäische Identität und Multikultur, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 18. 5 Franziska Meyer, »Zur Schärfung des historischen Möglichkeitssinns: Ein Jahrhundert der Gewalt in Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 42 (2014): 209–224. 6 Jörn Rüsen, Historik: Theorie der Geschichtswissenschaft (Anm. 2), S. 54. 7 Ebd., S. 196. 8 Vgl. Franklin Rudolf Ankersmit, Historical Representation, Stanford: Stanford University Press 2002; Elizabeth A. Clark, Theory, History, Text: Historians and the Linguistic Turn, Cambridge, MA: Harvard University Press 2004; Peter Schöttler, Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

Wendezeit als Frei-Zeit?

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Dass in Burmeisters Roman die historische und die persönliche Zeit oder, um es mit Fernand Braudel zu sagen, die individuelle, die soziale und die geographische Zeit eng miteinander verwoben sind,9 lässt sich schon an der Gliederung des Textes erkennen. Der erste Teil heißt »Am 17. Juni«, der zweite Teil »Am 14. Juli«.10 Der historische Referenzrahmen umfasst allerdings drei Aufstände bzw. Revolutionen: Neben dem 17. Juni 1953 und dem 14. Juli 1789 spielt die »unblutige Revolution«11 vom November 1989 eine tragende – wenn auch kaum explizit genannte – Rolle. Die Zeitwahrnehmung der Erzählerin, die in der ersten Person und mit vielen spontanen Flashbacks und Assoziationen die Überlegungen, Gedanken und Begebenheiten schildert, die sich an zwei Tagen ereignen, unterstreicht ihre gefühlte Unfreiheit: [E]ines Nachts träumte ich […], ich würde an mein Ziel gelangen […,] bevor die Frist verstrichen war […;] zu jeder Fahrt nach drüben [gehörte] die zugeteilte Zeit, die zu überschreiten mir nicht im Traum einfiel, und die einen Druck erzeugte, keine deutliche Angst, ein Gefühl wie auf dem Weg zur Schule, zur Arbeit dann, du darfst nicht zu spät kommen.12

Die Zeit wird hier als Zugeständnis vonseiten der Ordnungsinstanzen wahrgenommen: Sie wird zugeteilt und verfällt, man muss sich an sie halten, sie erzeugt Druck und Anspannung. Der Roman spielt 1991 oder 1992, nach der Wiedervereinigung. Marianne träumt davon, nach Westberlin zu fahren und bleibt aber im Traum den alten Strukturen verhaftet. Der Raum und die Zeit werden als begrenzt wahrgenommen, das Vergehen der Zeit als zählbarer, messbarer Verlauf ist Teil der Machtausübung, bei der Fristen gesetzt werden, die man nicht verstreichen lassen sollte. Die Un-Frei-Zeit, also die staatliche Kontrolle über die Zeit als Mittel der Freiheitsbeschränkung, ist einer der Aspekte, den die Erzählerin mehrmals aufgreift bei der Überlegung darüber, was an meiner wachen Wirklichkeit faul war, mit ihren eigeteilten Zeiten und abgegrenzten Räumen, die erst recht normal erschien angesichts der Absurdität einer Mauer mitten durch die Stadt und der Willkür, mit der bestimmt wurde, wann und für wie lange jemand diese Mauer passieren durfte.13

Die scheinbare Normalität der eingeteilten Zeit und des abgegrenzten Raumes werden aus einer Post-Mauerfall-Position reflektiert, doch die Un-Frei-Zeit staatlicher Vorgaben wird, trotz der »unblutigen Revolution«, nicht von einer 9 Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris: Armand Colin 1949, S. 13. 10 Brigitte Burmeister, Unter dem Namen Norma: Roman, Stuttgart: Klett-Cotta 1994, S. 5 und S. 173. 11 Ebd., S. 42. 12 Ebd., S. 23. 13 Ebd., S. 24.

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Frei-Zeit abgelöst. Einerseits bleibt die Erzählerin mental den alten Strukturen verhaftet; sie träumt weiterhin von den eingeteilten Zeiten und denkt an Westberlin als »drüben«. Andererseits wird das Spannungsverhältnis zwischen individueller und sozialer Zeit als Ergebnis der Ordnungsinstanz des Kalenders beschrieben: »Das liegt weit zurück, obwohl mich nach dem Kalender keine zweieinhalb Jahre davon trennen«.14 Der Kalender erscheint hier als regelnde Instanz, die den Lauf der Zeit misst und in eindeutigem Kontrast zum Zeitempfinden der Figuren steht. Dieser Unfreiheit kann man nicht entkommen: Der Kalender taktet das Leben und sortiert Ereignisse in eine nahe oder ferne Vergangenheit ein. An anderer Stelle im Roman stellt die Erzählerin, als sie von ihren Nachbarinnen, den Schwestern Minna und Ella König erzählt, die Zeit mit dem Leben gleich: »Zu ihren Lebzeiten […] habe ich mich manchmal gefragt, ab wann das Leben, die Zeit gleichgültig wurden, eine leere Bewegung sozusagen«.15 Die Befreiung von der Zeit, also vom sich ewig fortsetzenden Lauf, durch den auf der Waagschale des Lebens mit zunehmendem Alter die Vergangenheit immer mehr ist als die zu erwartende Zukunft, impliziert, dem Leben zu entsagen. Aus dieser Perspektive ist Frei-Zeit ein Paradox: Für Marianne kann es jenseits jeder politischer Machtordnung keine Freiheit geben, solange der Lauf des Lebens vom Kalender getaktet wird. Sieht man von den vielen ineinandergreifenden Rückblenden ab, die besonders im ersten Teil des Romans dominieren, so spielt sich die tatsächliche Handlung des Romans an zwei Tagen ab, dem 17. Juni und dem 14. Juli. Die Jahreszahl wird nie genannt, wodurch die Anspielungen auf den Arbeiteraufstand in der DDR und den Sturm der Bastille noch eindeutiger sind. Anders formuliert: Es bedarf keiner Jahreszahlen, weil die Ausstrahlung der beiden Ereignisse über die historischen Begebenheiten hinaus als Revolutionsnarrativ in die kollektive Wahrnehmung bestimmter gesellschaftlicher Kreise eingegangen ist. Das schräge Verhältnis von Historie und Alltag wird im Laufe eines Dialoges zwischen Marianne und Max, einem Freund, deutlich: »– Weißt du, was für ein Tag heute ist?« »– Ich denke doch, das siebente Mal.« Er meinte etwas anderes, das Datum. […] »Ach das. Und ob ich mich erinnere. Siebzehnter Juni […]« – »[…] Sehr warm, ähnlich wie heute, zu Mittag gab es überbackenen Blumenkohl«.16

Die Schieflage macht sich zu Beginn der Unterhaltung gleich durch das Missverständnis bemerkbar: Max meint das Datum, Marianne dagegen bezieht sich darauf, wie oft sie sich schon getroffen haben. Die Zeitrechnung verläuft hier, ähnlich wie oben, auf zwei parallelen Bahnen. Einerseits fungiert das Datum, also 14 Ebd., S. 31. 15 Ebd., S. 33. 16 Ebd., S. 66.

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der Kalender, als Ordnungsinstanz, andererseits knüpft es an die persönliche Zeitwahrnehmung an. In Mariannes Erinnerungen an den 17. Juni 1953 spielen vornehmlich ihre Alltagssorgen eine wichtige Rolle: was sie gegessen hat (»[E]s gibt nur wenige Tage […] von denen ich noch weiß, was ich da gegessen habe«17), dass die Innenstadt voller Demonstranten war und vor allem ihr kompliziertes Verhältnis zur Schulfreundin Jutta. Die Wahrnehmung des Aufstands ist gefiltert durch das, was er im Alltagsleben der Figuren bewirkt: nicht das politische Ereignis wird reflektiert, sondern das, was es für die Freundschaft zwischen Marianne und Jutta bedeutet. Marianne traut sich nicht, ihrer Freundin zu widersprechen: Nicht weil die Arbeiter demonstrieren, war ich dafür, sondern weil es ein Schrei nach Freiheit war, hatte ich zu Hause gehört, eine Erhebung gegen die Kommunisten, also auch gegen euch, und ich bin auf der Seite eurer Gegner, hätte ich sagen müssen und brachte es nicht heraus.18

Ihre Anteilnahme am Aufstand ist durch das gefiltert, was sie zu Hause gehört hat, und ihre Wahrnehmung der politischen Ereignisse als eine Abrechnung (»wir« gegen »euch«) hebt die Dominanz der individuellen, persönlichen Ebene über die politisch-gesellschaftliche hervor. Als Marianne und Max durch die Stadt flanieren, hören sie aus einem offenen Fenster Musik, es »tauschten Berliner Stimmen Nachrichten vom Tage, einem siebzehnten Juni ohne Geschichtsfracht«.19 Der siebzehnte Juni wird zu einem 17. Juni: ein Datum, das sich immer wiederholen wird, regelmäßig und pünktlich, wie der Kalender es vorsieht. Die Geschehnisse vom 17. Juni 1953 werden als »Fracht« wahrgenommen; an den gescheiterten Aufstand wird erinnert, doch die persönliche Zeit überschreibt den historischen Tag immer wieder aufs Neue. In Burmeisters Roman ist die Gegenwart die entscheidende Zeit – der Versuch, sie zu verstehen, sich den Lauf der Dinge und der Zukunft auszumalen, in der neuen raumzeitlichen Dimension des wiedervereinigten Deutschlands. Der Mauerfall und die neue gesellschaftliche Ordnung müssen erst noch verdaut werden: »Vor drei Jahren ist die Ewigkeit zusammengebrochen, die Zeit seitdem entfesselt, und wir geistern durch die alten Räume und versichern uns, hier zu sein, als wüßten wir noch, wo das ist«.20 Der paradoxale Zusammenbruch der Ewigkeit deutet auf einen Bruch der Gesetzmäßigkeit der Zeit: Die Braudel’sche longue durée der langsamen, historischen Zustände wird in gefühlter Plötzlichkeit durch ein Ereignis (événement), den Mauerfall, unterbrochen. Nun ist die Zeit »entfesselt«, also befreit und richtungslos, die »alten Räume« sind noch erhalten, aber wie der größere 17 18 19 20

Ebd. Ebd., S. 68. Ebd., S. 77. Ebd., S. 79.

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Rahmen aussieht, also die neuen gesellschaftlichen und politischen Umstände, ist noch ungewiss. Die Befreiung der Zeit aus den alten Fesseln führ hier zu keiner Zeit der Freiheit bzw. Frei-Zeit, sondern zu Orientierungslosigkeit und Unsicherheit, die teleologische Richtungsbahn ist unterbrochen. Für Marianne wirkt es so, »[a]ls sei eben, im Morgengrauen des achtzehnten Juni, hier alles in völliger Stille an sein Ende gekommen«;21 die Formulierung lässt offen, was genau »an sein Ende gekommen« sein soll. Diese Verschränkung zwischen Privatem und Gesellschaftlichem, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zieht sich durch den gesamten Roman und wird nicht aufgelöst. Was bestimmt »im Morgengrauen des achtzehnten Juni« zu Ende gegangen ist, ist der 17. Juni – der Tag, an dem der »Schrei nach Freiheit« stattfand und scheiterte. Der historische Rahmen der Ereignisse im Herbst 1989 bis hin zur Wiedervereinigung wird von der Erzählerin ebenfalls als eine Destabilisierung der Zeitlichkeit wahrgenommen: Vom Anbruch einer neuen Zeit, von zwei Jahren Tumult in meiner Erinnerung wäre mir nichts geblieben als das Gefühl, geträumt zu haben […], so daß mir diese Lebensjahre fraglicher erscheinen würden als alle zuvor, hätte ich nicht im letzten November, an meinem Geburtstag, mich abends noch hingesetzt und eine Art Chronik verfasst, mir schwarz auf weiß bestätigt, daß bestimmte Ereignisse sich zugetragen hatten von einem Herbst bis zum übernächsten.22

Die gesellschaftlichen Umwälzungen, die schließlich zum Anbruch der neuen Zeit geführt und die alte (Zeit-)Ordnung gesprengt haben, sind nur durch die Erstellung einer Chronik nachvollziehbar: Durch ein eigenes Ordnungssystem wird eine Struktur geschaffen, welche die alte Struktur ersetzt. Der Anfang der Chronik ist im November, am Geburtstag der Erzählerin: eine der wenigen zeitlichen Angaben, an denen kein neuer Kalender und kein neues Ordnungssystem etwas ändern kann. Das Anbrechen einer neuen Zeit ist ein Motiv, das sich durch den gesamten Roman zieht, was sich sowohl auf den Mauerfall und die Wiedervereinigung bezieht als auch auf die beiden Aufstände bzw. Revolutionen, auf die der Text anspielt. Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 scheiterte, weil er niedergeschlagen wurde; der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, also 200 Jahre vor dem Mauerfall, läutete dagegen tatsächlich eine neue Zeit ein. Auf der Rückfahrt aus Mannheim sitzt die Erzählerin im Zug und denkt über das Datum nach: Wenn sie dort [in Frankreich] ihr Nationalfest feierten – hier war es ein gewöhnlicher Tag, sollte in meiner Erinnerung zu anderen gewöhnlichen Tagen fallen […]. Was hatte

21 Ebd., S. 171. 22 Ebd., S. 196.

Wendezeit als Frei-Zeit?

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der Tagesstempel auf meiner Karte mit dem Sturm auf die Bastille zu tun. Hätte ich die Karte nicht angesehen, wüßte ich gar nicht, den wievielten wir heute haben, wäre es ein Tag ohne Datum […], weiß Gott kein Anbruch einer neuen Zeit […] – das Ende einer Geschichte, ich wollte nicht daran denken, ich wollte nur, daß die Zeit verging.23

Nach dem vorzeitig abgebrochenen Besuch bei ihrem Freund Johannes in Mannheim sitzt Marianne im Zug zurück nach Berlin, es ist der 14. Juli. Wie auch im Fall des 17. Juni wechseln die Gedanken zwischen dem historischen Datum und der tatsächlichen Lebenssituation und überlagern sich, wobei für Marianne diese Rückkehr nach Berlin das Ende der Beziehung zu Johannes bedeutet. Säße sie nicht im Zug (und hätte auf die Karte gesehen) und wäre sie in Mannheim geblieben, wäre es ein Tag ohne Datum gewesen – ein so gewöhnlicher Tag, dass er von anderen überschrieben würde und dabei unterginge, als hätte es ihn nie gegeben. Das Datum allerdings hebt den Tag von den »anderen gewöhnlichen Tagen« ab – nur handelt es sich, anders als beim Sturm der Bastille, nicht um einen Neuanfang, sondern um »das Ende einer Geschichte«. Das Datum, also die zeitliche Ordnungsinstanz des Kalenders, bedingt, vom gesellschaftspolitischen System abgesehen, eine unausweichbare Unfreiheit, weil jeder Tag nach Stunden und Minuten gemessen wird. Gleichzeitig hebt es allerdings jeden Tag vom vorangegangenen und vom nachfolgenden ab und schafft dadurch die Möglichkeit, sich an ihn zu erinnern. Der Umgang mit der Erinnerung spielt in Bezug auf die beiden historischen Daten, auf die sich der Roman bezieht, eine ambivalente Rolle, da sich Vergangenheit und Gegenwart immer wieder überlagern. Die Erzählerin übersetzt eine Biographie von Saint-Just, und die Französische Revolution ist in ihren Ausführungen so gegenwärtig, dass es immer wieder zu Parallelen zur Lage in Deutschland kommt: »Da ist er [Saint-Just] gerade zweiundzwanzig, nach einigen Eskapaden, einem halben Jahr Zwangsverwahrung auch, in seinen Heimatort zurückgekehrt, der in der Region den traurigen Rekord in Armut hält […]« – »Doch nicht zu uns etwa?« »[…] Die Revolution, hofft er, wird weitergehen, unblutig und zum Wohle aller, namentlich der Armen. War das Regime, unter dem wir so lange gelitten haben, hinterhältig und grausam, wie mild erscheint uns nun […] der Übergang zu einem anderen, edel und rein«.24

Die Zeitlichkeit und historische Nähe sind bei der Auseinandersetzung mit den beiden Daten, 17. Juni und 14. Juli, in Bezug auf die narrative Gegenwart insofern entfesselt, als der Roman eine engere Verwandtschaft mit der Französischen Revolution als mit den Aufständen 1953 in der DDR suggeriert. Die Ironie ist kaum zu überlesen: Das neue Regime, das im Gegensatz zum alten (»hinterhältig 23 Ebd., S. 183. 24 Ebd., S. 165.

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und grausaum«) »edel und rein« sein soll, bezieht sich auf die Lage in den 1790er Jahren in Frankreich und spielt dabei auf die geläufigen Stilisierungen von BRD und DDR an. Die Gegenüberstellung von Französischer Revolution und Wiedervereinigung entfernt die Ereignisse von 1989/1990 vom gelebten Leben der Figuren und setzt sie in Relation zur Ebene historischer Ereignisse. Während der erste Teil des Romans den Mauerfall und die Wiedervereinigung aus der internen Perspektive persönlicher Beobachtungen und Assoziationen reflektiert, ist der Zugang im zweiten Teil des Romans ein anderer. Das Nebeneinander von Französischer Revolution und DDR erhebt die Ereignisse in Deutschland Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre von der Ebene der persönlichen Geschichte Mariannes in den Rang der Historie – also in eine Kategorie von Fakten und Wissen, die einen Anspruch auf Universalität und Gemeingültigkeit haben. Die Pointe des Romans, auf die der Text allmählich hinarbeitet, ist der Moment, in dem Marianne, zu Besuch in Mannheim, sich selber als historische Figur inszeniert, um die Erwartungen der westdeutschen Freunde von Johannes zu bedienen. Sie erfindet eine Biographie von sich als Stasi-Mitarbeiterin, als IM, sowie ein familiäres Umfeld, das, so denkt sie, dem entspricht, was von einer DDR-Bürgerin erwartet wird. Corinna Kling, die Frau, der sie ihre fiktive Biographie erzählt, ist von der Geschichte berührt: »[E]s fällt mir nur schwer, die Entbehrungen und Zwänge nachzuvollziehen, unter denen die Menschen im Osten leben mußten, sogar willig gelebt haben, wie Sie es schildern, als aktive Opfer könnte man sagen«.25 Nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung und dem Anbruch einer neuen Zeit wird die gesellschaftliche Unfreiheit der DDR durch neue Unfreiheiten ersetzt, z. B. durch gegenseitige Erwartungen der ost- und westdeutschen Menschen aneinander. Ähnlich wie Corinna, die sich in einen ostdeutschen Opferdiskurs einschreibt, sind Mariannes Erwartungen an die Westdeutschen zum Klischee erstarrt: »[A]llesamt wissen sie immer schon Bescheid, diese aufgeblasenen Originale, für die der Osten bevölkert ist von Stereotypen«.26 Die Ironie dieses Satzes besteht darin, dass für sie selber der Westen auch von Stereotypen, die alles besser wissen – »Besserwessis«27 – bevölkert ist. In dem Augenblick, wo der Mauerfall und die Wiedervereinigung Teil der Historie, also der Geschichte werden – in einer Riege mit der Französischen Revolution –, verliert sich die nuancierte Schilderung der Befindlichkeiten und persönlichen Erfahrungen und wird durch angenommene Wahrheiten, Opferund-Täter- bzw. Sieger-und-Verliererdiskurse ersetzt. Die Frei-Zeit – als Zeit der Freiheit – bleibt erneut aus: Erwartungen, Vorurteile und Klischees beschränken 25 Ebd., S. 235. 26 Ebd., S. 252. 27 Ebd., S. 219.

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den freien Austausch und die freie Entfaltung. Die Frei-Zeit als Befreiung von der Zeit scheint, wie Marianne schildert, unmöglich: Ohne eine Chronik und ohne das Datum ist nichts mehr nachvollziehbar, die Erinnerung bleibt aus. Für die Schwestern König wurde die Zeit gleichgültig, als auch das Leben seinen Reiz verloren hatte. »Die Geschichte geht doch auf«, denkt die Erzählerin und deutet damit auf den Kreislauf der Zeit, wodurch das Ende einer Geschichte den Anfang einer neuen Geschichte bedingt.

II

»Um die Mittagszeit erreichten wir den neuen Landesteil«:28 Der Chronotopos des Zuges

Die Ost-West-Gegenüberstellung, die sich durch den gesamten Roman zieht und im letzten Teil, im Laufe von Mariannes Besuch in Mannheim, explizit gemacht wird, verweist sowohl auf eine räumlich-geographische als auch auf eine zeitliche Dimension: die 40-jährige Existenz zweier deutscher Staaten und ihre Wiedervereinigung 1990. Die Verflechtung der räumlichen und zeitlichen Ebene lässt sich in Burmeisters Roman deutlich an der Zugepisode ablesen, welche die Handlung vom ersten Teil in den zweiten überleitet. Michail M. Bachtin geht davon aus, dass in der Literatur Raum und Zeit in einem grundlegenden, wechselseitigen Zusammenhang stehen; diesen Zusammenhang nennt er »Chronotopos«. Laut Bachtin verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale [in der Literatur] zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.29

Die Tatsache, dass für Bachtin der Chronotopos nicht transzendental, sondern historisch variabel ist, impliziert, dass verschiedene historische, gesellschaftliche und politische Umstände von unterschiedlichen raumzeitlichen Kategorien geprägt sind. Geht man davon aus, dass literarische Texte Geschichtsnarrative ausbilden und erweitern bzw. ihrerseits zu Quellen für weitere Texte oder gesellschaftlich relevante Diskurse werden, so lohnt es sich, zu untersuchen, inwieweit gewisse Chronotopoi die diskursive Gestaltung der Wiedervereinigung 28 Ebd., S. 183. 29 Michail M. Bachtin, Chronotopos [Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik], mit einem Nachwort hg. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, aus dem Russischen von Michael Dewey, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 8.

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mittragen. Auf die Dynamik gegenseitiger Einflussnahme im Hinblick auf literarische Texte und gesellschaftliche Narrative geht Bachtin selber ein. Der Text ist das Produkt bestimmter gesellschaftlicher Umstände, und gleichzeitig trägt er auch dazu bei, diese zu verändern. Andrea Geier formuliert die Rolle der Literatur in diesem interdiskursiven Prozess folgendermaßen: In ihr [der Literatur] spiegelt sich die Heterogenität individueller Erinnerungen und eines kommunikativen, d. h. gruppenbezogenen Gedächtnisses. Zugleich ist die Literatur als symbolisches Medium in Auswahlprozesse ebenso wie in die Herausbildung von Geschichtsnarrativen, welche das über die heute lebenden Generationen hinausgreifenden kulturelle Gedächtnis bestimmen werden, involviert.30

Aus diesem Blickwinkel betrachtet kommt Burmeisters Roman, laut Wolfgang Emmerich einem der »leisesten und differenziertesten Wenderomane«,31 eine wichtige Rolle zu bei der Herausbildung von Geschichtsnarrativen über die Wende und Wiedervereinigung. Bachtins Konzept des Chronotopos kann als eine angewandte Poetik von Zeit und Raum verstanden werden, eine Brücke zwischen der literarischen Fiktion und der gesellschaftlichen Realität. Die Zugepisode in Burmeisters Roman fungiert als Brücke sowohl zwischen den beiden Kapiteln als auch zwischen Ost-und Westdeutschland. Bis auf die Stelle im Zug spielen sich alle weiteren Handlungsstränge entweder in Ost- oder in Westdeutschland ab. Zeitlich betrachtet ist die Zugepisode eine der wenigen Stellen im Roman, die sich in der narrativen Gegenwart abspielen; es ist keine Rückblende der Erzählerin und kein Exkurs, sondern das tatsächliche Geschehen, das sich am 14. Juli zuträgt. Der zweite Teil des Romans, der von der Zugepisode eingeleitet wird, beginnt mit dem Kollektivpronomen »Wir«. Dieses »Wir« bezieht sich allerdings auf eine andere Form des Kollektivs als im ersten Teil des Romans, wo auf Mariannes Frage: »Wer ist wir?« Max’ Antwort lautet: »[E]ben die, denen ich mich zugehörig fühle«.32 Wenige Seiten später wird die Frage der Zugehörigkeit erneut thematisiert, als es um Mariannes Arbeit in der Fabrik geht: »Bald nicht mehr wir«,33 denn Marianne würde aufhören und somit nicht mehr dazugehören. Das »Wir« zu Beginn der Zugepisode – »Wir haben die Stadt erreicht«34 – bezieht sich auf eine etwas anders gelagerte Form des Kollektivs: Es geht hier weder um eine Frage der gefühlten Zugehörigkeit noch um eine Frage des gemeinsamen Alltags. Das »Wir« bezieht sich auf die Passagiere des Eurocity »Ricarda Huch« von Basel nach 30 Andrea Geier, »Literatur als Archiv und Modell: ›1989‹ und die DDR in der Literatur seit der Jahrhundertwende«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2008/2. hg. von Ellen Schindler-Horst und Thomas Anz, S. 156–171, hier S. 156. 31 Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Berlin: Aufbau 1996, S. 501. 32 Brigitte Burmeister, Unter dem Namen Norma: Roman (Anm. 10), S. 79. 33 Ebd., S. 92. 34 Ebd., S. 175.

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Berlin: Eine kurzlebige Zweckgemeinschaft, die gemeinsam das wiedervereinigte Deutschland durchquert. Diese neue Form des Kollektivs entsteht in der speziellen raumzeitlichen Dimension des Zuges und wird von der Erzählerin entgegen der Fahrtrichtung, d. h. zeitlich und räumlich rückwärts erzählt. Während die Fahrt von Mannheim nach Berlin führt, beginnt die Erzählung mit der Ankunft des Zuges in Berlin und spult sich dann durch freie Assoziationen und Gedanken zurück durch die Fahrt. Der Zug ist ein bewegter und sich bewegender Raum, der andere Räume durchfährt und dabei unverändert bleibt. Er besteht aus Teilräumen, nämlich verschiedenen Waggons, und obwohl der Zug als räumliche Einheit wahrgenommen wird, nehmen die Passagiere in den einzelnen Abteilen die Mitfahrer jenseits ihres Blickfeldes nicht wahr. Der Zustand des Passagierseins überschreibt die anderen Merkmale der Personen und hat etwas Gleichmachendes: Herkunft, Geschlecht, Alter oder Beruf spielen – anders als sonst in Burmeisters Roman – keine Rolle. Es werden alle aufgenommen, solange sie in die gleiche Richtung reisen wollen; allerdings ist es ein Kollektiv, das sich ständig verändert, jedes Mal, wenn jemand ein- oder aussteigt. In diesem Kollektiv haben alle eine gemeinsame Richtung, nur die Endziele unterscheiden sich. Anders als bei den Kollektivformen, die im Roman sonst vorkommen, handelt es sich hier um eine kurzlebige Form, die ab dem Moment, wo der Zug losfährt, schon anfängt, sich aufzulösen. Diese kollektive Erfahrung ist eine, die gegen die Zeit läuft – wenn der Zug ankommt, ist es vorbei. Obwohl Bachtin den Zug in seinen Schriften nicht explizit als einen Chronotopos anführt, beschreibt er den Chronotopos der Straße, der gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Zug aufweist. Beide Orte sind öffentlich, inklusiv, d. h. jeder ist zugelassen, und die Menschen, die sich dort aufhalten, nehmen einander größtenteils nicht bewusst wahr, sind nicht miteinander bekannt, und nur zufällig, für die kurze Zeit der Fahrt, kreuzen sich ihre Lebenswege. Die verschiedenen Lebenserfahrungen der ost- und westdeutschen Passagiere, der Anbruch der neuen Zeit und die Vorurteile und Erwartungshaltungen werden alle durch die gemeinsame Erfahrung relativiert. Das Spannungsverhältnis von Neuanfang und Flüchtigkeit trifft auf verschiedenen Ebenen zu: Einerseits steht Mariannes verfrühte Rückfahrt nach Berlin für das Ende der Beziehung zu Johannes und somit für einen (temporären) Lebensabschnitt; andererseits steht die Fahrt quer durch Deutschland für den (dauerhaften) Neuanfang im vereinigten Deutschland. Die diskursive Gestaltung der Wiedervereinigung über den Chronotopos des Zuges erfolgt über die Verhandlung des Zeitlichen: Gegenwart und Vergangenheit überlagern sich in Mariannes Gedanken, einmal fühlt sie sich als ›Überständige‹, einmal fühlt sie sich zugehörig. Marianne hört Floskeln und Konversationen der anderen Fahrgäste mit, die aber in Bezug auf die ost- bzw. westdeutsche Herkunft der Fahrgäste völlig unergiebig sind. Der gleichmachende Effekt der Zugfahrt ist stark, und die Menschen in Ost- und West-

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deutschland sind in dieser Hinsicht gar nicht unähnlich, alle wollen nach Hause: »[A]ber jetzt erstmal nach Hause, genau, wir warn im Osten, wir warn im Westen, doch in der Heimat, da ists am besten«.35 Während der Zugfahrt unterhält sich die Erzählerin mit einer Figur, Emilia, die an anderer Stelle im Roman auch vorkommt: Es ist eine imaginäre Gesprächspartnerin, ein Alter Ego von Marianne. »Wenn du hier herumgehst, achte mal auf die Unterschiedlichkeit der Fahrgäste.« –»Ist doch klar […,] Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Junge, Alte, Raucher, Nichtraucher, erste und zweite Klasse. Oder meinst du unterschiedliche Nationalitäten?« – »Ob du es einigen ansiehst, daß sie die alten Zugerfahrungen noch in den Knochen haben«.36

Der Versuch, den Fahrgästen ihre unterschiedlichen Erfahrungen anzusehen, also die Annahme, dass die Vergangenheit beobachtbare Spuren in der Haltung der Fahrgäste hinterlasse, die sich somit als »Ehemalige«37 identifizieren ließen, scheitert. Das Interesse und die Offenheit der Erzählerin ihren Mitfahrenden gegenüber, die sie zunächst wohlwollend beobachtet und deren Verhaltensweisen ihr universell und unspezifisch erscheinen, wandelt sich im Laufe der Fahrt. Ihr eigener Kummer holt sie ein, sie stellt sich das Gespräch zwischen sich und einem weiteren »Ehemaligen« vor, erinnert und romantisiert die Fahrten der Vergangenheit: »Was haben wir gelacht, wenn so ein Trottel erschien und Fahrkarten sehen wollte […]. Kopf hoch, und seien wir nicht ungerecht, denn alles an diesem Zug ist besser als das, was wir aus Erfahrung kennen, wir Ehemaligen«.38 Das Bezugskollektiv des »Wir« verändert sich im Laufe der Zugfahrt: von der Zugehörigkeit zu der Gruppe der Zugfahrer über den Perspektivwechsel und die Identifizierung Mariannes mit den Westdeutschen (»Um die Mittagszeit erreichten wir den neuen Landesteil«) bis zum Kollektiv der »Ehemaligen«, also der DDR-Bürger. Die diskursive Gestaltung eines Geschichtsnarrativs der Wiedervereinigung über den Chronotopos des Zuges erfolgt im Spannungsverhältnis zwischen der Vergangenheit (»wir Ehemaligen«) und der Gegenwart, die durch die gleichmachende Wirkung des Zugfahrens alle Passagiere, ost- oder westdeutsch, jung oder alt, gleichstellt. Die Frei-Zeit kann hier im Sinne der Befreiung von der Vergangenheit beobachtet werden: Dann, wenn Marianne in die Gegenwart eintaucht, sich mit dem Kollektiv der Mitfahrenden identifiziert und die Herkunft der anderen Passagiere egal wird, ist sie vom Ballast der Vergangenheit befreit.

35 36 37 38

Ebd., S. 176. Ebd., S. 180. Ebd., S. 182. Ebd., S. 182.

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III

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Narrative Strategien der Temporalität

Burmeisters Roman erzählt Geschichte – im Sinne der Historie – über die Geschichten, die ihrer Erzählerin Marianne und ihren Bekannten in den Sinn kommen und die ihnen widerfahren. Unter dem Namen Norma setzt sich kritisch mit dem linearen Narrativ historischer Darstellungen auseinander, das als »Ursachen, Anlaß, Verlauf, Gründe des Scheiterns, Lehren«39 beschrieben wird. Der Roman sträubt sich konsequent gegen eine geregelte zeitliche Abfolge, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reibungsfrei ablösen und die Haupt- von den Nebenhandlungen klar zu unterscheiden sind. Die Erzählerin setzt mit der Beschreibung des großen Hauses im Bezirk Mitte und der Mieter, die dort wohnen, an und geht dann über Umwege auf ihre Lebensläufe und Biographien ein. Beim Abendspaziergang mit ihrer Freundin Norma fallen Marianne ihre ehemaligen Nachbarinnen Ella und Minna König ein, deren Hausstand sie teilweise übernommen hat, mitsamt einigen Kartons mit Briefen von ihrer Freundin Claire Griffith, ehemals Clara Lentz, die 1926 in die Vereinigten Staaten emigrierte. Die langen Zitate aus den Briefen, die Auseinandersetzung mit der Biographie des Hausmeisters sowie die Spekulationen über den Selbstmord der Nachbarin Margarete Bauer und ihre mutmaßlichen IM-Tätigkeiten sind Aspekte, die aus der Vergangenheit von der Erzählerin in die Gegenwart geholt werden. In Mariannes Gedanken überlagern sich ihre Überlegungen zur Beziehung mit Johannes, der nach Mannheim gezogen ist und wünscht, sie käme nach, und ihre Treffen mit Max und Norma, mit den vielen Erinnerungen aus der Vergangenheit. Die narrative Gegenwart, der 17. Juni und der 14. Juli eines Jahres Anfang der 1990er, nimmt vergleichsweise nur einen kleinen Teil der Erzählung ein, wobei der Akt des Erinnerns selbst einen Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart darstellt. Das Nachdenken und Erinnern erfolgt in der narrativen Gegenwart, das Erinnerte dagegen liegt in der Vergangenheit. Das Erinnern selbst wird zum Streitgegenstand zwischen Marianne und Johannes, weil es, wie die Erinnerung an die Zugfahrten zu DDR-Zeiten, ein selektives Gedächtnis impliziert, das nur gewisse Episoden aus der Vergangenheit in die Gegenwart übernimmt. Als Marianne an das Glücksgefühl der gemeinsamen Urlaube an der Ostsee erinnert, antwortet Johannes sarkastisch: »Weil du dich an anderes nicht erinnern willst. Weil sie zur Abwehr von Ichweißnichtwas in der Gegenwart herhalten sollen, deine alten Zeiten«.40 Die Vergangenheit fungiert laut Johannes als Schutzschild gegen die Gegenwart und, mehr noch, gegen die Zukunft. Das Verhältnis zwischen Vergangenheit, Erinnerung und 39 Ebd., S. 14. 40 Ebd., S. 104.

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Wahrheit wird nur am Rande im ersten Teil des Romans erwähnt und stellt dennoch ein Hauptthema des Romans dar: Und warum konnten wir nicht, wenn ich es mir wünschte, an jene Stelle zurückkehren, falls ich sie wiedererkannte, oder zu anderen Anhaltspunkten, die bewiesen, daß Erinnerungen keine Erfindungen waren, zumindest etwas zu tun hatten mit diesen wirklichen Orten, an denen wir gewesen waren […].41

Die Bestätigung des Wahrheitsgehaltes von Erinnerungen, nach der sich Marianne sehnt, wird im selben Satz auch wieder verworfen – »falls ich sie wiedererkannte« und »zumindest etwas zu tun hatten« spielt auf die Unmöglichkeit an, mit enzyklopädischer Genauigkeit und Vollständigkeit das Vergangene zu behalten. Die Erzählung der Vergangenheit ist ein Akt der Gegenwart und im Verhältnis zum Präsens wird die Erinnerung moduliert. Das Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit und Vergangenheit spitzt sich beim Akt des Erzählens zu. Die eigentliche Pointe des Romans besteht in der Erzählung von Mariannes Vergangenheit auf Johannes’ Gartenparty in Mannheim – handelt es sich dabei, wie Johannes provokativ formuliert, nicht tatsächlich um die Wahrheit, die als Erzählung getarnt ist? In dem Moment, wo sie sich als historische Figur inszeniert, um die mutmaßlichen Erwartungen der westdeutschen Partygäste zu erfüllen, wird sie von der Gegenwart eingeholt: Johannes kann nicht mehr unterscheiden, was wahr ist und was nicht – und damit endet ihre Beziehung. Marianne erzählt Corinna Kling, ihr IM-Deckname sei Norma gewesen, was offenkundig auf ihre Freundin anspielt und einer der ersten Namen ist, der ihr einfällt. Andererseits ist »Norma« das Anagramm von »Roman« – was wiederum das Verhältnis von Wahrheit und Narrativität problematisiert und die Frage aufwirft, ob das »unter dem Namen R-O-M-A-N« Erzählte nicht tatsächlich die Wahrheit ist. Die durch spontane Assoziationen und Gedankensprünge geprägte Erzähltechnik sowie die Selbstreflexion über das Verhältnis von Wahrheit und Erinnerung verhindern ein Verständnis von linearer Temporalität, geregelten Zeitabläufen und einer kalendarischen Chronik. Im Gegensatz zur Chronik, die Marianne zum Festhalten der Ereignisse um den 9. November 1989 herum erstellt, befreit sich der Roman von der Chronologie. Die Entgrenzung der Zeitlichkeit in Burmeisters Roman erfolgt über die Überlagerung von Historie und Alltag und über den Chronotopos des Zuges, der zwar eine neue raumzeitliche Dimension konstruiert, aber daran scheitert, sie konsequent aufrechtzuerhalten. Allerdings wird keine Frei-Zeit im Sinne einer Zeit der Freiheit eingeläutet, die Vergangenheit ist immer noch zu nah an der Gegenwart und die neuen gesellschaftlichen Umstände rufen auf ost- wie westdeutscher Seite neue Erwartungen 41 Ebd., S. 108.

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und Vorurteile hervor. Die eigentliche und einzige Freiheit, die es zu geben scheint, ergibt sich aus der Verwerfung der Zeitlichkeit, aus dem Durcheinander der Ebenen und Gedankenabläufe, dem Kippen der linearen, teleologischen Chronologie des Lebens. Die Befreiung erfolgt durch die Art der Narration, wo die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Erfindung nicht mehr möglich ist. Die Freiheit der Erzählung ist die einzig mögliche Freiheit.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Burmeister, Brigitte: Unter dem Namen Norma: Roman. Stuttgart: Klett-Cotta 1994.

Sekundärliteratur Ankersmit, Franklin Rudolf: Historical Representation. Stanford: Stanford University Press 2002. Bachtin, Michail M.: Chronotopos [Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik]. Mit einem Nachwort hg. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. Paris: Armand Colin 1949. Clark, Elizabeth A.: Theory, History, Text: Historians and the Linguistic Turn. Cambridge, MA: Harvard University Press 2004. Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig: Veit 1868. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Berlin: Aufbau 1996. Geier, Andrea: »Literatur als Archiv und Modell: ›1989‹ und die DDR in der Literatur seit der Jahrhundertwende«. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2008/2. Hg. von Ellen Schindler-Horst und Thomas Anz, S. 156–171. Lützeler, Paul Michael: Europäische Identität und Multikultur. Tübingen: Stauffenburg 1997. Meyer, Franziska: »Zur Schärfung des historischen Möglichkeitssinns: Ein Jahrhundert der Gewalt in Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend«. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 42 (2014): 209–224. Rüsen, Jörn: Historik: Theorie der Geschichtswissenschaft. Wien: Böhlau 2013. Schöttler, Peter: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. White, Hayden: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore: Johns Hopkins University Press 1973.

Yvonne Nilges

Frei-Zeit im Konsum-Dispositiv: Gleichzeitigkeit, Beschleunigung, Zeichenprozesse im deutschsprachigen Roman der Jahrtausendwende

I

Zur Kultur- und Medientheorie freizeitlicher Konsumtion

Die Unterteilung in »Freizeit« und »Erwerbsarbeit« kam erst in der Neuzeit auf – und hat seither, zumal seit der Industriellen Revolution, beständig an Signifikanz gewonnen. Während die vormoderne Freizeit noch durch den »Rhythmus« geprägt worden war (Freizeit im Jahreszyklus, bestimmt durch kirchliche, familiäre und ständische Feste), ging die Freizeit seit der Industrialisierung analog zur Arbeitsprogression vom Rhythmus in den optimierten »Takt« über, der seinerseits von (Stempel-)Uhren, Maschinen und automatisierten Abläufen diktiert wurde. Seit der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie ist die Freizeit im Begriff, sich nochmals weiter und rasant zu einem neuen Paradigma hin zu wandeln: dem der Simultanität.1 Kulturhistorisch »konstituierte sich Freizeit« gegenüber der Arbeitszeit »von vorneherein als Restkategorie«, indem sie der Erwerbsarbeit subordiniert wurde: »als Sphäre der Reproduktion, deren Aufgabe es letztlich sein soll [,] die Sphäre der Produktion«, d. h. der Arbeit, »zu stabilisieren«.2 Da die Freizeitgestaltung die Arbeitswelt spiegelt und sich an ihr orientiert, entwickelt sich auch im Bereich der Freizeit die Gleichzeitigkeit zur Leitkultur: als Komprimierung von Zeit und Reduktion unproduktiver Zwischenzeiten, als effiziente (Gewinn-)Maximierung, 1 Klaus Thien, »Rhythmus – Takt – Gleichzeitigkeit: Zur Geschichte der Frei-Zeit [!]«, in: Bewegte Zeiten: Arbeit und Freizeit nach der Moderne, hg. von Sabine Gruber, Klara Löffler und dems., München/Wien: Profil 2000, S. 11–26. »Simultanität« wird hier sowohl im quantitativen als auch im qualitativen Sinn verstanden, d. h. als temporales Phänomen (»Gleichzeitigkeit«) ebenso wie als Koinzidenz von Differentem. Im Hinblick auf die letztere Definition vgl. auch den Beitrag zu Marlene Streeruwitz’ Novelle Morire in levitate (2004) im vorliegenden Band, wo disparate Wahrnehmungen, die aus einer Montage von »Augenblicken« bestehen, einschlägig untersucht werden. 2 Klaus Thien, »Rhythmus – Takt – Gleichzeitigkeit: Zur Geschichte der Frei-Zeit«, in: Bewegte Zeiten: Arbeit und Freizeit nach der Moderne (Anm. 1), S. 12f. Insofern ist die bis in die Antike zurückreichende »Muße« natürlich anders konnotiert als das bedeutend jüngere Konzept der »Freizeit«.

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so dass – in den Worten des Postmoderne-Theoretikers Jean-François Lyotard – eine »potentielle Zeit« ›gewonnen‹ und ›erwirtschaftet‹ wird, welche die »Realzeit« außer Kraft setzt.3 Dabei interferiert der Wandel der (Frei-)Zeit auch mit einem Wandel des (Frei-)Raumes, und es entsteht ein beschleunigtes und »punktuelle[s]« Zeitverständnis4 im raumzeitlichen Kontinuum des »Netz[es], dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden«. Letzteres bekanntes Diktum stammt von Michel Foucault: »Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit«, das zugleich ein »Zeitalter des Raumes« ist, »des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und Zerstreuten.«5 Simultanität und Akzeleration prägen die (Frei-)Zeit-Praktiken der Gegenwart. Der Digitalen Revolution kommt in diesem Kontext eine dynamisierende Bedeutung zu. Währenddessen steigt die in der Freizeitforschung sogenannte »Obligationszeit« kontinuierlich an: als Zeit, die theoretisch der Freizeitbeschäftigung zuzurechnen ist, in der Praxis jedoch aus obligaten, aufwändigen Alltagsarbeiten besteht.6 Zu beobachten ist, semiotisch gesprochen, eine rapide Zunahme und Zirkulation der Zeichenbestände, die eine mächtige, suggestive ebenso wie normative Kraft entfaltet. Medientheoretische Konzepte, die für die Literaturwissenschaft besonders einflussreich geworden sind, reichen zurück bis zu Walter Benjamins konstatierter Einbuße der Aura im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Tatsächlich kann Benjamins Analyse als eine frühe Antizipation der Trias von Gleichzeitigkeit, Beschleunigung und der Bedeutsamkeit von Zeichenprozessen im Konsum-Dispositiv verstanden werden – als eine Vorwegnahme exponentieller (Zeichen-)Expansion und Produktion von Differenz, deren gesellschaftliche Wirksamkeit weit über das »Kunstwerk« (im Sinn des Artefakts) hinausreicht: »Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein 3 Jean-François Lyotard mit Jacques Derrida, François Burkhardt [u. a.], Immaterialität und Postmoderne, aus dem Französischen von Marianne Karbe, Berlin: Merve 1985, S. 51. Der Begriff der »Immaterialität« impliziert hier keine Depotenzierung der Materialität als solcher, sondern einen komplexen gesellschaftlichen Verlagerungsprozess, der zunächst und zumal eine verstärkte Devaluation im Hinblick auf natürliche Materie umfasst. 4 Ebd., S. 40. 5 Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et écrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, aus dem Französischen von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann [u. a.], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001–2005, Bd. 4, hier S. 931 (»Von anderen Räumen«). Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Raum als Abstraktion und als Abstraktum in der topologischen Unterscheidung von glattem und gekerbtem Raum bei Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie II, hg. von Günther Rösch, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve 1992. 6 S. hierzu das Standardwerk von Horst W. Opaschowski: Einführung in die Freizeitwissenschaft, 4., überarbeitete und aktualisierte Aufl., Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 34.

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Vorgang von unbegrenzter Tragweite für das Denken wie für die Anschauung« – ein Vorgang, der in weiterer Konsequenz auch schon eine Diversifizierung der Massenkultur in sich birgt.7 Im Vergleich dazu wird das Prinzip der Linearität in Vilém Flussers medientheoretischem Ansatz der »Kommunikologie« bereits als nicht mehr zeitgemäß erachtet. Flusser prognostiziert den Niedergang der nicht simultan konsumierbaren, d. h. der ›linearen‹ Medien und damit auch der Literatur und Schriftkultur, ebenso des Radios sowie des Films.8 Die zunehmende Bedeutung nicht-linearer, interaktiver Formen fiktionalen Erzählens, die bereits auf dem Paradigma der Simultanität (anstatt der Sukzession) beruhen – Text Adventures oder Game Books, elektronische Hyperfictions usw. –, scheint Flussers Prognose zu bestätigen.9 Die Zukunft, so Flusser, liege in »technoimaginären Codes« und in der – vorerst nicht komplementären, sondern substituierenden – Konsumtion technischer Bilder: Die Welt verliert […] für uns ihren historischen, prozessualen, […] kurz dialektischen Charakter. [… Sie] wird in dem Maße unbegreiflich, wie lineare Texte zu Erklärungen von Flächen herabsinken und wir dazu neigen, Erklärungen zu verachten. Andererseits ist aber ebenso klar, daß die Welt begreiflicher als früher werden könnte, in dem Maße nämlich, wie lineare Texte tatsächlich ihre Funktion als Erklärungen von Bildern ausüben könnten. Noch verstehen wir nicht, die neuen Codes mit den linearen in Einklang zu bringen.10

Freizeitgestaltung ist in Anlehnung an die Diskursanalyse wirkungsreich als »Kunst des Handelns« beschrieben worden.11 Die »Archäologie des Wissens« als

7 Walter Benjamin, Illuminationen: Ausgewählte Schriften, ausgewählt von Siegfried Unseld, mit einer biographischen Notiz von Friedrich Podzus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, hier S. 143 (»Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«). – Zum Begriff des »Dispositivs« vgl. die einschlägige Theoriebildung von Foucault über Deleuze bis zu Agamben. 8 Aktuelle, populäre Versuche, Simulanität in ›linearen‹ Medien wie der Literatur und dem Film zu realisieren, finden sich etwa im gleichzeitigen Erzählen (s. hierzu auch weiter unten) oder in der Graphic Novel bzw. in der Verbindung von »aktuellem« und »virtuellem« [d. h. Erinnerungs- und Gedächtnis-]Bild v. a. seit dem Film der Nachkriegszeit (Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, aus dem Französischen von Klaus Englert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991). Wie das filmtheoretische »Zeit-Bild« von Deleuze als »ästhetische Eigenzeit« in die literarische Praxis übertragen werden kann, analysiert der Beitrag zu Axel Ruoffs Roman Apatit (2015) im vorliegenden Band. 9 Zu nicht-linearen, interaktiven Formen fiktionalen Erzählens vgl. auch den Beitrag im vorliegenden Band, der Sasˇa Stanisˇic´s autobiographisch orientierte, mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnete Migrationserzählung Herkunft (2019) untersucht. 10 Vilém Flusser, Kommunikologie, hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 264 und S. 268f. 11 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988.

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Untersuchung synchroner Aussagesysteme akzentuiert vor diesem Hintergrund eine ›aktive Konsumtion‹ vonseiten der Verbraucher.12 Demgegenüber betont die »genealogische« Methode, um auch hier noch einmal mit Foucault zu sprechen, einschlägige Praktiken in ihrer diachronen sozialen Gewordenheit als Formen institutionalisierter Macht. Den hierfür repräsentativen Begriff der »Gouvernementalität« hat Foucault noch weitergehend definiert: als »anatomische Politik«, die auf staatlichen Disziplinierungsmaßnahmen basiere, sowie – alternativ – als »Biopolitik«, die auf die Regulierung einer durch biologische Prozesse gekennzeichneten Gruppe ausgerichtet sei (z. B. auf Menschen einer bestimmten Generation).13 Der Neoliberalismus in postfordistischer Ausrichtung – und damit indirekt auch die Frei-Zeit im Konsum-Dispositiv – ist im Anschluss an diesen letztgenannten Referenzrahmen ebenfalls maßgebend denn auch als »Biopolitik« verstanden worden.14 Im Folgenden sollen Gleichzeitigkeit, Beschleunigung und Zeichenprozesse als Parameter des freizeitlichen Handelns indessen nicht so sehr im Hinblick auf Foucault analysiert werden, sondern zumal unter Rekurs auf den bedeutenden Medientheoretiker Jean Baudrillard. Baudrillards mediensoziologische Studie zur »Konsumgesellschaft« datiert bereits aus dem Jahr 1970, erschien allerdings erst vor wenigen Jahren – 2015 – in deutscher Übersetzung und wurde bislang nur selten rezipiert. In Baudrillards Medientheorie freizeitlicher Konsumtion wird nicht nur die »Macht der Zeichen«, sondern auch deren Verabsolutierung – als

12 Zur Selbstoptimierung des Individuums, das »auf sich selbst einwirkt«, vgl. auch Michel Foucault, Schriften in vier Bänden: Dits et écrits (Anm. 5), Bd. 4, hier S. 969 (»Technologien des Selbst«). 13 Ebd., Bd. 4, hier S. 236 (»Die Maschen der Macht«). Der Begriff der »Gouvernementalität« bezieht sich also primär auf kontrollierende Machtpraktiken institutionalisierter Kollektive, ist sekundär jedoch auch auf individuelle Formen der Kontrolle anwendbar. Dies, da beide Lesarten – die »anatomische Politik« und die »Biopolitik« bzw. die o.g. Selbsttechnologien – jeweils vom ›Willen zur Macht‹ ausgehen. 14 Vgl. z. B. Lars Gertenbach, Die Kultivierung des Marktes: Foucault und die Gouvernementalität des Neoliberalismus, Berlin: Parodos 2007, S. 170f.: »Während der klassische Liberalismus besonders im engeren ökonomischen Bereich maßgeblich reaktiv war […], betreibt der Neoliberalismus eine vorsorgende, quasi prophylaktische Politik [und hat insofern einen dezidierten Aufforderungscharakter]. Er ist damit noch deutlicher als der klassische Liberalismus eine Form der Problematisierung des Staates. […] Das als Kennzeichen der Gouvernementalität herausgestellte ›Regieren über Freiheit‹ wird an dieser Stelle zugleich perfektioniert und perpetuiert.« S. zuletzt auch Grégoire Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft: Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2019; in Anlehnung an den Anthropologen Arsène Dumont beschreibt Chamayou den Neoliberalismus dort als politische »Ethonomie«.

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»Glaube an die Allmacht der Zeichen« – reflektiert und mit Rücksicht auf die Frei-Zeit eingehend zur Diskussion gestellt.15 Beide Romane, die wir im Folgenden exemplarisch untersuchen, illustrieren ebenso eindringlich wie divergent die Aporie der Frei-Zeit im Konsum-Dispositiv. Die zwei Romane haben eine unterschiedlich breite Resonanz erfahren, datieren jedoch beide aus demselben Jahr: 1995. Hier wie dort geht es um »Jetztzeitarchivalik«: Ein Begriff, der in der literaturwissenschaftlichen Fachdiskussion v. a. für die zeitgeschichtliche Archivierung von Markenwaren in der Literatur geprägt wurde.16 Gegenstände und (Marken-)Produkte markieren Zeiten und Zäsuren, stellen Sicherheit, Identität, Konstanz und Kontinuität in Aussicht; sie beruhen, u. a. auch durch kommerzielle Wirtschaftswerbung, auf Kommunikationsprozessen, die sozialen Gedächtnisinhalten gelten und die Macht- und Herrschaftspraktiken im kleinen wie im großen Stil voraussetzen. Die beiden heterogenen Romane, von denen nachfolgend zu handeln sein wird, sind Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen und Christian Krachts Faserland. Sparschuhs Post-Wende-Roman Der Zimmerspringbrunnen begegnet dem gesellschaftlichen Umbruch und der beschleunigten Zeiterfahrung nach dem Ende der DDR mit differenzierter Komik. Bereits der Untertitel als Teil des Paratextes – Ein Heimatroman – verweist auf eine ›Suche nach der verlorenen Zeit‹ als einer vergangenen Gesellschaftsform, die nach der Wende in ostdeutschen Wohnzimmern wiedergefunden werden soll. So die erfolgreiche Geschäftsidee Hinrich Lobeks, eines ehemaligen Angestellten der Ost-Berliner Kommunalen Wohnungsverwaltung: Er findet nach der Wende flexibel neue Wege, entwickelt einen Zimmerspringbrunnen als Sehnsuchtsobjekt im Gedenken an die DDR und verkauft ihn lukrativ an seine ostdeutschen Zeit-Genossen. Der Zimmerspringbrunnen als ein ostalgisches, »leise plätscherndes Nein zur rasenden Gesellschaft«, mit dessen Hilfe altvertraute Identität neu gestiftet sowie konsumiert wird:17 Sparschuhs Roman vergegenwärtigt eine für die 15 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen, hg. von Kai-Uwe Hellmann und Dominik Schrage, aus dem Französischen von Annette Foegen, Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2015, hier S. 127 und S. 48. 16 Vgl. – dort im Hinblick auf die Nachkriegsliteratur – Björn Weyand, »Jetztzeitarchivalik: Markenwaren als zeitgeschichtliche Archivalien der Nachkriegszeit. Heinrich Bölls Das Brot der frühen Jahre (1955) und Wolfgang Koeppens Tauben im Gras (1951)«, in: Keiner kommt davon: Zeitgeschichte in der Literatur nach 1945, hg. von Erhard Schütz und Wolfgang Hardtwig, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 74–86; ferner, unter Rekurs auf die Popliteratur: Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman: Die neuen Archivisten, München: C. H. Beck 2002. 17 Jens Sparschuh, Der Zimmerspringbrunnen: Ein Heimatroman [1995], 2. Aufl., Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020, S. 36. Alle folgenden Zitate aus dem Zimmerspringbrunnen werden im Fließtext mit der Sigle ZSB gekennzeichnet und beziehen sich auf die Seitenzahl ebendieser Ausgabe.

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DDR typisch lineare Zeiterfahrung als symbolisches Kapital, die vom Protagonisten auch zum ökonomischen Kapital umgewandelt wird. Das Konsum-Dispositiv, das Assoziationen von Freizeit und Freiheit miteinander verknüpft, illustriert Christian Krachts Roman Faserland vor dem Hintergrund der Popliteratur im gleichen Jahr anhand des Westens auf denkbar abweichende Weise. Hier reist der namenlose Ich-Erzähler rast-und wahllos vom Norden in den Süden Deutschlands und schließlich weiter in die Schweiz, so dass der Osten Deutschlands gar nicht erst ins Blickfeld rückt. Stattdessen wird die Feierkultur ungebundener, privilegierter Westdeutscher von Sylt bis München und zum Bodensee geschildert, wobei auch Faserland als »Heimatroman« ex negativo gelesen werden kann: Der Neologismus Faserland impliziert Auflösung und Haltlosigkeit, u. a. auch im Kontext eines historisch vorbelasteten, zersetzten ›Vaterlandes‹.18 Als Illuminationsobjekt bietet der Zimmerspringbrunnen, der als Generationenmarker der DDR fungieren soll, in Sparschuhs Roman die Möglichkeit gezielter Ritualisierung freizeitlicher Konsumtion, die ihrerseits an einen besonderen Erinnerungsraum gebunden ist: das ostdeutsche Wohnzimmer als überschaubare Heterotopie mit klaren Konturen. Hier sollen Heim und Heimat als Vergegenwärtigung einer alternativen Frei-Zeit sowie als Negation des neoliberalen Zeitgeistes buchstäblich ineinanderfließen, während Krachts Roman gerade die ›Zerfaserung‹ und Fragmentierung einer jungen, westlich geprägten Generation beleuchtet, die sich im Wohlstand, in scheinbarer Sicherheit und in der weitesten Bedeutung des Ausdrucks ›auf der Durchreise‹ befindet: »[W]ir brauchen etwas Gemütliches, etwas, das nach Heimat klingt, aber gleichzeitig auch nach High-Tech, nach Flugzeug und nach Geschwindigkeit.«19

18 Vgl. die ausgeprägte Abwehrhaltung des autodiegetischen Erzählers gegenüber den Schatten der deutschen Vergangenheit und Robert Harris’ kontrafaktischen, drei Jahre zuvor erschienenen Roman Fatherland (1992): Dieser spielt in einem modifizierten realen Raum, in dem der Zweite Weltkrieg von den Nationalsozialisten gewonnen worden ist. – Zur Verhandlung totalitärer Weltentwürfe im Werk Christian Krachts s. neuerdings auch Tobias Unterhuber, Kritik der Oberfläche: Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht, Würzburg: Königshauen & Neumann 2019. 19 Christian Kracht, Faserland: Roman [1995], 9. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2018, S. 86. Alle folgenden Zitate aus Faserland werden im Fließtext mit der Sigle FL gekennzeichnet und beziehen sich auf die Seitenzahl ebendieser Ausgabe.

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Post-Wende-Literatur: Jens Sparschuh, Der Zimmerspringbrunnen

Jens Sparschuhs Roman Der Zimmerspringbrunnen gehört (im Hinblick auf die DDR) nicht nur zur Erinnerungsliteratur, sondern rekurriert auch auf die Tradition des Schelmenromans.20 Komik als Antwort »auf die Identitätskrise der Deutschen nach 1989« ist im Wenderoman durchaus verbreitet, wenn wir nur etwa an Thomas Brussigs Roman Helden wie wir aus demselben Jahr (1995) über die Maueröffnung denken.21 Der Zimmerspringbrunnen orientiert sich jedoch dezidiert an der Schemaliteratur des Pikaro-Romans, indem der Ich-Erzähler als Sonderling-Figur veranschaulicht, wie – hier als Folge der Wiedervereinigung – »aus einem Menschen ein anderer wird«. So die Definition von Michail Bachtin, der als Chronotopos des Schelmenromans und seines antiken Vorläufers die genretypische »Verknüpfung [… von] Abenteuerzeit […] und Alltagszeit« bestimmt.22 Dabei besitzt der »Schelm« keinen persönlichen Eigenwert und durchlebt keine individuelle, psychologische Entwicklung; die »Wandlung des Menschen, seine Metamorphose« beruht vielmehr auf einem typisierten Verlauf von »Krise und Wiedergeburt«, während sein soziales Umfeld unverändert bleibt.23 Der Pikaro-Roman hält der Gesellschaft satirisch ihren Spiegel vor. In Sparschuhs Zimmerspringbrunnen sind die traditionellen Elemente der Episodenhaftigkeit sowie der extensiven Raum-Durchschreitung abgeschwächt.24 Gleichwohl 20 Zu Variationen dieses Themas im deutschen Roman der Jahrtausendwende s. eingehend Mirjam Gebauer, Wendekrisen: Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2006. 21 Julia Kormann, »Satire und Ironie in der Literatur nach 1989: Texte nach der Wende von Thomas Brussig, Thomas Rosenlöcher und Jens Sparschuh«, in: Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (1990–2000), hg. von Volker Wehdeking, Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 165–176, S. 176. 22 Michail M. Bachtin, Chronotopos [Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik], mit einem Nachwort hg. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, aus dem Russischen von Michael Dewey, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017, S. 40 und S. 36. 23 Ebd., S. 45 und S. 40. 24 Der Protagonist überschreitet hier heimatlich-ostdeutsche Konventionen und Erwartungen, was mit einer markanten, semiotisch indizierten Ortsveränderung einhergeht: Hinrich Lobek begibt sich am Anfang des Romans zum Firmensitz seines zukünftigen Arbeitgebers nach Süddeutschland und erlebt diese einmalige Reise als beträchtliche Zäsur. Hingegen sind in Faserland kontinuierliche Ortswechsel im Sinne des »Netz[es], dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden« (Foucault, s. Anm. 5), bereits zur routinierten Norm geworden. – Zu Lotmans narratologischer Sujettheorie (Semantisierung des Raumes) als der »Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes« vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, aus dem Russischen von Rolf-Dietrich Keil, 4. Aufl., München: Fink 1993, S. 332.

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bleiben »Abenteuerzeit« und »Alltagszeit« miteinander verbunden, indem der homo- und zugleich auch autodiegetische Erzähler vom Wende-Verlierer zum -Gewinner avanciert und insofern eine »Metamorphose« durchläuft: Nach der deutschen Wiedervereinigung werden in den alten Bundesländern Handelsvertreter für den neuen, ostdeutschen Absatzmarkt gesucht. Diese Markterweiterung der Bundesrepublik nutzt Hinrich Lobek, um seiner erzwungenen Frei-Zeit der Arbeitslosigkeit zu entkommen, indem er sich als Vertreter für Zimmerspringbrunnen im Berliner Osten bei einer oberrheinischen Firma des ingeniösen Namens »PANTA RHEIn« bewirbt. Dass Lobek und seine Vertreter-Kollegen im weiteren Verlauf »nicht etwa Staubsauger oder Kosmetika, sondern ausgerechnet Zimmerspringbrunnen (ZSB) verkaufen«, erlaubt es diegetisch illustrativ, »die Überflüssigkeit eines Großteils der neuen Warenwelt zu entlarven.«25 Im Zimmerspringbrunnen wird das Vertreter-Metier als »Not eines Handlungsreisenden«, die Lobek in seiner neuen Anstellung erfährt, vielfältig karikiert.26 Dabei verschwimmen die Grenzen von Lobeks Arbeitszeit und der Freizeit seiner Kundschaft ebenso wie die Grenzen von öffentlichem und privatem Raum: Lobek, der seinen Lebensunterhalt mit der Freizeit anderer verdient, so dass deren Freizeit mit seiner Arbeitszeit koinzidiert, ist dazu angehalten, die offizielle Angelegenheit des Kaufvertrages in den Wohnzimmern seiner Kunden abzuschließen. Der Zimmerspringbrunnen seinerseits – als Zimmer-Springbrunnen – symbolisiert einen differenziellen Zeichenprozess, im Zuge dessen die ursprünglich öffentliche Funktion des Springbrunnens in die Privatsphäre der Konsumenten verschoben worden ist. Arbeitszeit und Freizeit sowie öffentlicher und privater Raum werden von den Involvierten daher zeitgleich wahrgenommen – über das Medium des Zimmerspringbrunnens, der einen spezifischen Konsum-Raum darstellt; denn auch »Objekte […] wie z. B. […] Springbrunnen […] können zu Räumen der erzählten Welt werden.«27 Bei »PANTA RHEIn« wird der Zimmerspringbrunnen als gefälliges LifestyleProdukt produziert, das sowohl einen »Ort spiritueller Ich-Erfahrung« als auch einen spannungsgeladenen »Ereignisspringbrunnen« in Aussicht stellt, so dass – je nach Bedarf – diverse Zielgruppen sich gleichzeitig und gleichermaßen angesprochen fühlen können (ZSB, S. 29 und S. 32). »Ereignis« soll das Unzulängliche in den eigenen vier Wänden indessen allemal werden: So gilt das neue Modell »Jona« als ein besonders vielsprechendes Produkt, da hier ein Walfisch im Springbrunnenbecken auf- und abtaucht und kleine Wasserfontänen aus25 Mirjam Gebauer, Wendekrisen: Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre (Anm. 20), S. 112. 26 Zu diesem Wortspiel in Anlehnung an Arthur Millers Drama (1949) s. Stefan Sprang, »Not eines Handlungsreisenden: Jens Sparschuhs irrwitzige Ost-West-Burleske Der Zimmerspringbrunnen«, in: Rheinischer Merkur, 8. September 1995, S. 36. 27 Katrin Dennerlein, Narratologie des Raumes, Berlin/New York: De Gruyter 2009, S. 72.

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schnaubt. Das »Jona«-Modell steht dabei auch für die deutsche Wiedervereinigung in ihrer begleitenden Problemstellung: »So wie Jona vom Wal verschlungen wird, so verschlingt der Westen den Osten und es verwundert daher nicht, dass das ›Kaufinteresse‹ im Osten ausbleibt.«28 Angebot und Nachfrage, so muss Lobek erfahren, stehen zunächst in keinem Verhältnis zueinander. Die neue Warenvielfalt überfordert seine potentielle Kundschaft; auch die kompetitive Verkaufstaktik in offensiver, bisweilen martialischer Diktion, die Lobek sich in Vertreterratgebern erliest – sein Kollege »nannte sie ›Frontberichte‹« (ZSB, S. 53) –, reüssiert im Berliner Osten nicht und kann dort den Umsatz nicht forcieren. Der Durchbruch gelingt Lobek erst, als er sich gezwungen sieht, ein versehentlich unbrauchbar gewordenes »Jona«-Modell für den Verkauf wieder instand zu setzen. Auf diese Weise entsteht ein improvisiertes neues Modell für den ostdeutschen Absatzmarkt, und Lobek weiß sofort: Es muß ATLANTIS heißen. [… In meinem Schrank befanden sich noch alte] Geschenkartikel, ca. 250 Stück Kugelschreiber in Form des DDR-Fernsehturms, die ich noch aus meiner KWV-Zeit herübergerettet hatte. […] Das Bemerkenswerte, was ich nun herausgefunden hatte, war: Schraubte man so einen Kugelschreiber auseinander und nahm Mine und Feder heraus, ergab sich eine ideale Hohlform, in die der JONA-Wasserzuleitungsschlauch genau hineinpaßte! Die goldene Aufschrift »Berlin – Hauptstadt unserer Republik« hatte ich bei meinem ersten Versuch […] ausgekratzt; später, als ich mit ATLANTIS in Serie ging, ließ ich sie einfach stehen. (ZSB, S. 93f.)

»Auferstanden aus Ruinen« (ebd., S. 93): Lobeks »Atlantis«-Zimmerspringbrunnen wird bei den Kunden im Berliner Osten zum Verkaufsschlager und veritablen Kultobjekt – ohne das Wissen seiner westdeutschen Firma, welche die steigenden Gewinne dem zeitverzögert populär gewordenen »Jona«-Modell zuschreibt. So gerät Lobek – tüchtig, unreflektiert und vom plötzlichen Erfolg berauscht – in ein Doppelleben hinein, das gänzlich anders geartet ist als die von seinen Kollegen unzutreffend vermutete Doppelexistenz als einstmaliger Mitarbeiter im Staatssicherheitsdienst. Eifrig funktioniert Lobek seine Wohnung zum Zwischenlager für zahlreiche Zimmerspringbrunnen um, so dass auch hier der öffentliche mit dem privaten Raum verschmilzt: Der vom unverhofften Umsatz überwältigte Protagonist entäußert sich seines privaten Hobbyraumes – und damit zugleich auch seiner Freizeit, die nun, in ebendiesem Zimmer, zugunsten der Produktion neuer »Atlantis«-Modelle nutzbar gemacht wird. Bald 28 Dominik Orth, »Literarisch archivierte Zeitgeschichte? Das Leben nach der Wende in Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen und Alexander Osangs Die Nachrichten«, in: NachWende-Narrationen: Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film, hg. von Gerhard Jens Lüdeker und dems., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 103–118, S. 114.

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nimmt dies zwanghaft-exzessive Züge an: Lobeks Arbeit überlagert, ohne dass er es bemerkt, seine Freizeit und mit ihr sein Privatleben, so dass er beide Lebensbereiche gleichzeitig erfährt, während er alles außer seiner Arbeit bereitwillig vernachlässigt. Die Akzeleration in der Vermengung seiner Alltagszeiten beschleunigt unterdessen auch Lobeks Verkaufsbilanz und seinen Eindruck, persönlich gebraucht und wertgeschätzt zu werden: »Tagsüber hastete ich von Kunde zu Kunde […]; nachts aber saß ich in meinem Hobbyraum und frisierte, Stück für Stück, die JONA-Modelle um.« (ZSB, S. 103) Ein geschwinder, firmeninterner Aufstieg zum »Vertriebsleiter Ost« (ZSB, S. 118) scheint so zum Greifen nahe.29 Die Weihnachtsfeiertage bescheren eine jäh hereinbrechende Freizeit, die Lobeks neue Vorstellung von Frei-Zeit unterbricht und mit der er abermals nicht umzugehen weiß. Seine Ehefrau hat ihn verlassen; das dysfunktionale Ungleichgewicht der Zeiteinteilung wird unübersehbar, Lobek erleidet einen Nervenzusammenbruch. Die Zeit ›zwischen den Jahren‹ verbringt er als sinnentleerte ›Zwischenzeit‹ unausgesetzt am Bahnhof, um einen etwaigen »Fluchtversuch« seiner Frau zu vereiteln (ZSB, S. 155). Dort schließt er sich zuletzt, desorientiert und überfordert, einer Obdachlosengruppe an. Spätestens hier erfordern die ernsten, tragischen Untertöne des Romans größere Aufmerksamkeit.30 Das Ende in der Welt des Textes bleibt ein offenes; ob der Neujahrsmorgen am Ende des Romans auch einen Neuanfang bedeuten kann, lässt der Ich-Erzähler Lobek in der Schwebe.31 29 In der Forschung ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass es sich bei Lobek um einen unzuverlässigen Erzähler handelt. Vgl., um hier nur ein Beispiel anzuführen, Christian Neumann, »Ostalgie als Abwehr von Trauer: Zur Heimat-Sehnsucht in Jens Sparschuhs Nachwenderoman Der Zimmerspringbrunnen«, in: Literatur für Leser 27/2 (2004): 102–112, S. 102f. Unzuverlässiges Erzählen kennzeichnet auch den autodiegetischen Erzähler in Christian Krachts Faserland; das unzuverlässige Erzählen in der fixierten internen Fokalisierung korrespondiert dabei in beiden Fällen narrativen Strategien der Subjektivität. 30 Vgl. hingegen Regine Criser, die das Gelingen von Lobeks Post-DDR-Leben betont, indem sie sich einseitig auf den beruflichen Aufstieg des ›Schelmes‹ Lobek konzentriert: Regine Criser, »Zwischen Anpassung und Instrumentalisierung: Hybride Lebensnarrative in der Literatur nach 1989«, in: Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989: Narrative kultureller Identität, hg. von Elisa Goudin-Steinmann und Carola Hähnel-Mesnard, Berlin: Frank & Timme 2013, S. 199–212. 31 Auch in Wolfgang Hilbigs Roman Das Provisorium (2000) sucht der verunsicherte Protagonist vergeblich Zuflucht auf dem Bahnhof; s. dazu den einschlägigen Beitrag im vorliegenden Band. Zum Bahnhof als prekärem Gegenort und Heterochronie im deutschsprachigen Roman der Jahrtausendwende vgl., repräsentativ für diverse disparate Beispiele, etwa auch W.G. Sebalds Austerlitz (2001): »Das Vorbild [des Zentralbahnhofes in Antwerpen war der …] Bahnhof von Luzern [….; a]n höchster Stelle [stand] die durch Zeiger und Zifferblatt vertretene Zeit. [… Von dem großen Uhrwerk aus] ließen sich die Bewegungen sämtlicher Reisender überwachen, und umgekehrt müßten die Reisenden alle zu der Uhr aufblicken und seien gezwungen, ihre Handlungsweise auszurichten nach ihr. Tatsächlich, sagte Austerlitz,

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Die Gesellschaftssatire in Sparschuhs Zimmerspringbrunnen beleuchtet Stereotypen west- und ostdeutscher Provenienz umfassend und differenziert. Trotz seiner »Metamorphose« bleibt Lobek wie im Schelmenroman sich selber gegenüber unkritisch und ähnelt hierin seiner Umwelt. Im Zimmerspringbrunnen treffen klischeebehaftete Ost-West-Oppositionen aufeinander und erhellen einander wechselseitig. Dabei haben »Ost-Kugelschreiber und West-ZSB« sich »überraschenderweise als kompatibel« erwiesen, »was symbolisch veranschaulicht, daß der Roman keine Ost-West-Dichotomie erzeugen soll«: Der westlichen Waren-›Wunderwelt‹ wird die ebenso exotisch anmutende Ansammlung von DDR-Waren und -Symbolen gegenübergestellt. Der Zimmerspringbrunnen findet […] in beiden Welten Platz – mit dem jeweils richtigen Etikett. […] Im Konsum des ZSB vereinigen sich Ost- und Westdeutsche. Die Satire erscheint so zwischen den Schwächen westlicher und östlicher Gesellschaft […] gleichmäßig verteilt.32

Der Zimmerspringbrunnen verweist auf »Zeichen- und Bezeichnungszusammenhänge«, die imstande sind, »Deutungen aufzunehmen und […] solche wieder abrufbar zu machen.« Als Medien »maximieren« Produkte »mögliche individuelle Bedeutungen zu kollektiven Deutungsangeboten«, die hier als beispielhaft mutabel, in ihren zugrunde liegenden Zeichenprozessen jedoch als Konstante präsentiert werden.33 Lobek passt sich den westlichen, für ihn ungewohnten Gepflogenheiten so gut als möglich an. Dabei rekurriert seine Durchmischung und ungesunde Formen annehmende Gleichzeitigkeit von Arbeit und Freizeit sowie von öffentlichem und privatem Raum bei näherer Betrachtung gleichfalls nicht nur auf den Westen, sondern auch (und anders) auf den Osten, wo das sozialistische Verständnis der »Arbeiter-Freizeit« – wie das des zugeteilten Wohnraumes – »systemstabilisierenden« Charakter hatte.34 In der ersten Verfassung der DDR von 1949 fehlte der Begriff der »Freizeit« noch, wohingegen er in der novellierten Fassung des Jahres 1968 einen wesentlichen Stellenwert zur »Herausbildung der ›sozialistischen Persönlichkeit‹« einnahm.35 Das nicht trennscharfe Verständnis

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gingen ja bis zur Synchronisierung der Eisenbahnfahrpläne die Uhren in Lille oder Lüttich anders als die in Gent oder Antwerpen, und erst seit der um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Gleichschaltung beherrsche die Zeit unbestrittenermaßen die Welt.« – W.G. Sebald, Austerlitz, München/Wien: Hanser 2001, S. 14 und S. 17f. Mirjam Gebauer, Wendekrisen: Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre (Anm. 20), S. 114f. Thomas A. Bauer, »Geschichte verstehen: Eine kommunikationstheoretische Intervention«, in: medien & zeit: Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart 21/1 (2006): 26–39, hier S. 35. S. hierzu Lisa Maubach, »Es war ja doch Arbeit«: Freizeit im Spannungsfeld zwischen Staat und Individuum am Beispiel der organisierten Numismatiker im Kulturbund der DDR, Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2012, S. 25. Ebd., S. 29.

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von Arbeit und Freizeit wie auch das von öffentlichem und privatem Raum eignet(e) mithin beiden deutschen Staaten, wobei die »Freizeit« in der DDR explizit kodifiziert wurde. Zur »Arbeiter-Freizeit« gehörten dort auch staatlich intendierte »Überschneidungen« von Arbeitszeit und Freizeit, z. B. in der »Besorgung von Erledigungen für das ›private‹ Hobby während der Arbeitszeit«.36 Auch in der DDR fiel die »Obligationszeit«, d. h. die Diskrepanz zwischen »potentieller« und »realer« Zeit, beachtlich aus, wenn auch aus anderen Gründen als in der Postmoderne Lyotards: War doch die Freizeit im Osten Deutschlands durch notwendige Tätigkeiten übermäßig in Anspruch genommen, da aufgrund infrastruktureller Mängel in der DDR deren Behebung – etwa beim Einkauf Schlange stehen, Reparaturen selber ausführen etc. – zu viel Zeit erforderte.37

Insofern bezeichnet das Prinzip der Gleichzeitigkeit (von Arbeit und Freizeit sowie von öffentlichem und privatem Raum) ein Tertium Comparationis im Zimmerspringbrunnen: als ein – wiewohl anders gelagertes und unterschiedlich ausgeprägtes – letztlich gemeinsames Erscheinungsbild von BRD und DDR, das verschiedene politische Systeme und gesellschaftliche Formen vorderhand noch mehr zu einen scheint als zwischenmenschliche Verbundenheit. Das Prinzip der Beschleunigung kannte Lobek aus der DDR noch nicht; es wird im Zimmerspringbrunnen bedeutsam als Konsequenz des Umstandes, dass die Erfahrung steten, kompetitiven Wachstums sich nur durch stete, kompetitive Steigerung sowie Forcierung ihrer selbst erhalten kann (»dynamische Stabilisierung«38). Dies bis zur Überlastung und zum schließlichen Zusammenbruch, den Lobek im Roman erfährt. Sowohl im Hinblick auf die BRD als auch im Hinblick auf die DDR werden Arbeit und Freizeit bzw. Öffentlichkeit und Privatheit indessen – dem Romantitel gemäß – als ›ineinanderfließend‹ impliziert. Dabei substituiert, mit Baudrillard zu sprechen, »die Akkumulation der Zeichen des Glücks«39 das eigentliche Glücksempfinden, die eigentliche Frei-Zeit hier wie dort. Freizeitliche Konsumpraktiken machen dies besonders deutlich, denn, so Baudrillard, »dies ist der Anspruch, der hinter der ›Frei‹zeit [!] steht: der Zeit ihren Gebrauchswert zurückzugeben, sie als leere Dimension zu befreien, um sie

36 Ebd., S. 268. 37 Ebd., S. 32. 38 So die Formulierung des Soziologen Hartmut Rosa in seinem Festvortrag des 26. Deutschen Germanistentags am 22. September 2019 an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken (»Alltagszeit, Lebenszeit, Weltzeit: Eine resonanz- und beschleunigungstheoretische Perspektive auf Literatur und Gesellschaft«). Rosas Thesen finden sich z. T. auch in seiner Monographie Alienation and Acceleration: Towards a Critical Theory of Late-Modern Temporality (2010). 39 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen (Anm. 15), S. 48.

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mit der eigenen […] Freiheit auszufüllen«.40 Die hinter der jeweiligen »Freiheit« stehenden Unfreiheiten dekuvriert Der Zimmerspringbrunnen jederzeit und allenthalben: in Lobeks westdeutscher Firma, bei Lobeks ostdeutschen Kunden und – nachdrücklich – auch bei dem autodiegetischen Erzähler selbst. Denn »überall beobachten wir hier die […] Auflösung von Strukturen, die im Zeichen des Konsums gewissermaßen gleichzeitig ihren realen Untergang und ihre Wiederauferstehung als Karikatur feiern.«41 Dies gilt auch für die folgende Erscheinungsform, die Baudrillard als »Heilsdimension« in der »Liturgie des Objekts« bezeichnet:42 Praktiken freizeitlicher Konsumtion können eine ersatzreligiöse Signifikanz erlangen, indem sie über entsprechende Zeichenprozesse zu ›erlösenden‹ Heiligkeitsriten der Frei-Zeit stilisiert werden. Dies ist erneut von übergeordneter Bedeutung und nicht abhängig von politischen, wirtschaftlichen, sozialen, spirituellen und/oder emotionalen Hintergründen. Auch das Zimmerspringbrunnen-Modell »Atlantis« wird von Lobeks Kundschaft als ostalgische ›Reliquie‹ in »regelrechte[n] Altarecken« (ZSB, S. 103) des heimischen Wohnzimmers verehrt, so dass die Konsumenten des Zimmerspringbrunnens eine hybride Realität als ein gemachtes Faktum wahrnehmen. Bruno Latour hat hierfür den Begriff »Faitiches« geprägt: Fakten und Fetische verschmelzen miteinander, sind also – erneut, auch hier – gleichzeitig präsent.43 Auf diese Weise entsteht eine säkulare und zugleich »postsäkulare«,44 idiosynkratische Perzeption, im Zuge derer das Konsum-Dispositiv mit einer ›Heilsfunktion‹ versehen wird. Lobek seinerseits beginnt, sich aufgrund seines exorbitanten Verkaufserfolges von »Atlantis« als quasireligiöser ›Heilsbringer‹ zu sehen; gegenüber den Obdachlosen am Bahnhof gibt er sich in biblischem Duktus als messianischer »Vertriebsleiter« aus, obgleich diese Personalentscheidung noch gar nicht getroffen wurde. Ich öffnete meinen Rucksack und sprach: »Hört! Ich will mein Brot mit euch teilen.« Sie aber sprachen zu mir: »Mann, warum sagste’n det nich gleich!« Und so geschah es. Ich hatte meine Freude daran, zu sehen, wie es ihnen, obwohl sie ihre Hände nicht gewaschen hatten, schmeckte. Brot und Schnaps, Salami und abgepackte Käsescheibletten. Und war es auch nicht viel, so war es doch gut. In ihren Gesichtern stand Zufriedenheit ob der Gaben. (ZSB, S. 150f.)

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Ebd., S. 223f. Ebd., S. 146. Ebd., S. 229 und S. 37. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, aus dem Englischen von Gustav Roßler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 327. 44 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen [Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001], Frankfurt a.M.: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 2001, S. 10.

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Lobeks »kulturelle[s] Recycling«45 hat den Preis, dass er sich darin verliert, Schein und Sein vermengt und zwischen beidem nicht mehr klar differenzieren kann. Auch bei ihm wird der »Glaube an die Allmacht der Zeichen« zum akzelerativen, vermeintlich befreienden »Faitiche«. Hier, so Baudrillard, gelangen wir zu dem paradoxen Schlusspunkt, an dem es die Arbeit selbst ist, die konsumiert wird. In dem Moment, wo sie der freien Zeit vorgezogen wird, wo der Wunsch nach Arbeit, die »neurotische« Befriedigung in ihr entstehen und ihr Übermaß ein Index von Prestige ist, befinden wir uns auf dem Gebiet des Arbeitskonsums. [… Auf diese Weise kann] alles und jedes zum Gegenstand von Konsum werden [.]46

Das Ergebnis ist bei Lobek Arbeitssucht (auf dem Gebiet der Freizeit), wie denn auch der Konsum in Faserland die Dimension von Sucht annimmt.

III

Popliteratur: Christian Kracht, Faserland

Auch Christian Krachts Roman Faserland thematisiert das Gewahrsein von Identität mittels Konsum. Eine Desequenzierung der Alltagszeiten, d. h. eine progressive Nivellierung von Arbeit und Freizeit kommt aufgrund der prononcierten Abwehrhaltung des autodiegetischen Erzählers in diesem Falle nicht zustande; der Fokus liegt in Faserland vielmehr auf einer absolut gesetzten Freizeit im absolut gesetzten Konsum-Dispositiv, so dass eine etwaige Erwerbsarbeit des Protagonisten nirgends erwähnt wird. Die oben skizzierte Verflechtung von öffentlichem und privatem Raum, die für das Konsum-Dispositiv signifikant ist, trifft jedoch auch für Faserland zu (im ›Reisekonsum‹ des IchErzählers), ebenso die Überhöhung der Frei-Zeit zur »Heilsdimension« im Zuge einschlägiger Heilspraktiken – nur jetzt in exklusiver Form und dadurch zum »Genusszwang« potenziert. In Faserland manifestiert sich das Prinzip der Existenzmaximierung durch Vervielfachung der Kontakte und Beziehungen, durch intensiven Gebrauch von Zeichen und Objekten, durch systematisches Ausnutzen aller Genusspotenziale. […] Alles muss ausprobiert werden: Den Menschen des Konsums treibt die Befürchtung um, er könne irgendetwas verpassen, einen wie auch immer gearteten Genuss. […] Hier geht es nicht mehr um das Begehren und nicht einmal um den »Geschmack« oder spezifische Vorlieben, sondern um eine generalisierte, in eine diffuse Umtriebigkeit verwandelte Neugier [,]47

die Anfang der 1990er Jahre auch mit dem Begriff der »Erlebnisgesellschaft« belegt wurde.48 45 46 47 48

Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen (Anm. 15), S. 146. Ebd., S. 230. Ebd., S. 117f. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart (1992).

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Hatte Der Zimmerspringbrunnen sich an die Tradition des Schelmenromans angelehnt, so rekurriert Faserland auf die Tradition der Popliteratur, d. h. auf die amerikanische Beat Generation. Der aus der Musik stammende Begriff »Pop« zielt vor diesem Hintergrund sowohl auf die Populärkultur als auch onomatopoetisch auf eine plötzliche Entladung,49 wobei die sogenannten Beatniks das temperamentvolle Aufbegehren junger Menschen in einem politisch engagierten Kontext akzentuierten; dies in der Subkultur urbaner, subversiver Alltagserfahrungen (u. a. auch durch bewusstseinserweiternde Rauschmittel). Der politische Protest trifft auf die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre nicht länger zu, wiewohl eine – unfokussierte – Oppositionshaltung weiterhin konstitutiv ist. Charakteristisch sind die unpolitische »Abgrenzung von der Vorgängergeneration«, das Verlangen nach »Grenzerfahrungen«, um »sich zu ›spüren‹, also seine eigene Identität wahrzunehmen«, sowie Desorientierung und Bindungsunfähigkeit in allen zwischenmenschlichen Bereichen, wobei »Marken und Medienelemente […] als Ready Mades« zur Identitätskonstruktion genutzt werden. Das Resultat ist ein wechselhaftes, »vielgestaltiges, meist in sich widersprüchliches ›Identitätenpatchwork‹«.50 Die Reise, die der namenlose Ich-Erzähler in Krachts Faserland beschreibt, ist eine verunsicherte Suche auf der Reise zu sich selbst – von Party zu Party, haltlos und in jedem Sinne flüchtig. Simultanität wird hier sowohl über gleichzeitig konsumierte (Marken-)Produkte – vgl. bereits den Romananfang – als auch über die narrative Grundstruktur erzeugt. Mit Genette zu sprechen, generieren die isochrone Darstellung der Zeit (szenisches Erzählen), der unmittelbare, dramatische Modus (mit »Realitätseffekt«51) und v. a. die zeitgleiche Präsentation der Stimme (gleichzeitiges Erzählen) eine simultane Wirkung mithilfe der Erzählpragmatik. Erzählendes und erlebendes Ich greifen direkt ineinander, während die erzähltechnisch erzeugte Nähe zu den Rezipientinnen und Rezipienten einer umgekehrt proportional großen Distanz zur erzählten Welt korrespondiert. Die Aufwertung der eigenen Person durch die Abwertung anderer

49 Thomas Ernst, Popliteratur, Hamburg: Rotbuch 2001, S. 7. 50 Anja Larch, Ich, zerfasert: Postmoderne Pop-Identitäten in Christian Krachts Roman »Faserland«, Marburg: Tectum 2013, S. 64f. Zur deutschsprachigen Popliteratur der Jahrtausendwende werden zumal die Autoren Christian Kracht, Joachim Bessing, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre gerechnet. Allerdings sind nicht alle Romane Christian Krachts der Popliteratur zuzurechnen, wiewohl sie stets eine misslingende oder zumindest problematische Identitätsstiftung thematisieren (vgl. differenzierend z. B. Krachts Roman 1979 aus dem Jahr 2001). 51 Roland Barthes, Das Rauschen der Sprache: Kritische Essays IV, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 164–172 (»Der Wirklichkeitseffekt«).

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lässt dabei »keine Position der Freiheit [erkennen …], sondern ein problematisches, weil defizitäres Selbst- und Weltverständnis.«52 Die Stationen dieser »Gegenwartsmitschrift«53 sind Sylt, Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München, Meersburg am Bodensee und schließlich Zürich. Dabei kann auch in Faserland Zeit nur ›verdient‹ werden: »Man kann seine Zeit stets nur ›in Wert setzen‹, und sei es, dass man von ihr einen spektakulär sinnlosen Gebrauch macht.«54 Eben dies kennzeichnet die Frei-Zeit des autodiegetischen Erzählers. Auf die Akzeleration verweist bereits das Motto des Romans: »Give me, give me – pronto – Amaretto« (FL, ohne Paginierung). Die Handlung gestaltet sich eindringlich episodisch, fragmentiert und sprunghaft, wobei auch in Faserland die Zeichen- und Symbolhaftigkeit von Identitätsstiftung existenziell wird. Noch augenfälliger als bei Sparschuh beruhen die Zeichenprozesse in Krachts Roman jedoch auf einem Simulacrum: Als Hyperrealität werden die Zeichen zum Surrogat für die Erfahrung, so dass Konsumpraktiken dieselbe nur mehr simulieren können. In Baudrillards mediensoziologischer Theorie verfügt die »Werbung insgesamt« über »keinen Sinn, sie ist nur Träger von Bedeutungen. Ihre Bedeutungen (und die Verhaltensweisen, an die sie appellieren) sind niemals persönlich«, obgleich die Werbung sich mittels individueller Ansprache der Personalisierungsstrategie bedient.55 Im Zimmerspringbrunnen wurde die Zeichendynamik im Konsum-Dispositiv – bis auf die Beschleunigung im Hinblick auf die DDR – als eine übergeordnete, universal gültige Konstante auf den zweiten Blick erkennbar; in Faserland ist sie direkt ersichtlich, indem eine allgemeine Referenzlosigkeit der Zeichen und Bilder in den Fokus rückt. Noch markanter als bei Sparschuh ist auch in Krachts Roman kein solider »Halt abseits der Signifikantenketten« gegeben,56 und hier wie dort bleibt der Protagonist von tiefen, wenn auch schmerzlichen Gefühlen – den eigenen wie anderen – dissoziiert. Als Symbol dafür fungiert die Barbourjacke des Protagonisten, die in Faserland nicht im ursprünglichen Sinne leitmotivisch, wohl aber mit Nachdruck rekursiv erwähnt wird: »Wie deren wachsversiegelte Oberfläche keinen Regen durchlässt, bleibt der Erzähler auf der Zeichenaußenseite seiner Mitmenschen.«57 52 Julia Catherine Sander, Zuschauer des Lebens: Subjektivitätsentwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bielefeld: transcript 2015, S. 18. 53 Thomas Hecken, Marcus S. Kleiner und André Menke, Popliteratur: Eine Einführung, Stuttgart: J. B. Metzler 2015, S. 13. 54 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen (Anm. 15), S. 227. 55 Ebd., S. 128. 56 Marco Borth, »Christian Krachts Faserland an den Grenzen der Erlebnisgesellschaft«, in: Überfluss und Überschreitung: Die kulturelle Praxis des Verausgabens, hg. von Christine Bähr, Suse Bauschmid, Thomas Lenz und Oliver Ruf, Bielefeld: transcript 2009, S. 89–106, hier S. 98. 57 Ebd., S. 96, Anm. 6.

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Die Oberfläche – als bloße, substanzlose Anhäufung von Signifikanten – prägt die Lebenswelt des autodiegetischen Erzählers in Faserland auch in seinem Bildungshorizont. Obwohl er in seiner Schulzeit das Eliteinternat Salem besucht hat, hält er Walther von der Vogelweide für einen »mittelalterliche[n] Maler« (FL, S. 69), wohingegen er gut zu erklären weiß, »warum Hanuta Hanuta heißt«: »Hanuta heißt natürlich […] Haselnußtafel.« (Ebd., S. 37.) Mit Marken, d. h. Eigennamen, Bildern und Symbolen, Zahlenkombinationen, Akronymen und einschlägigen Phantasiewörtern kennt der Erzähler sich eindrucksvoll aus;58 gerade Marken offerieren, mit Derrida zu sprechen, »Spur« statt Substanz in einer dekonstruktivistischen Affirmation des Differenz-Denkens, das sich im beständigen Verweisungsspiel der Zeichen zeigt.59 Das aber heißt, noch einmal und anders ausgedrückt: Ein Signifikat ist nicht gegeben, nur die Differenzen von Signifikanten in einem offenen System; und diese Subversion der Signifikation – als ›zerfaserte‹ Strukturalität der Struktur – ist in Krachts Roman bezeichnend nicht allein für eine Zeichenüberlastung, sondern auch für eine zunehmende Inhaltslosigkeit der Zeichen, die jedoch mit noch mehr Zeichen angereichert und insofern überdeckt wird. Die Abspaltung von Emotionen, seien sie positiver oder negativer Art, entspricht in beiden Romanbeispielen dem jeweiligen Genre. Die Typisierung im Pikaro-Roman wurde bereits dargelegt, so dass es nur folgerichtig ist, wenn eine Kapitel-Überschrift des Zimmerspringbrunnens »Haifischbecken der Gefühle« heißt (ZSB, S. 81); dies unter Rekurs auf den haifischartigen Konkurrenzkampf im Vertreter-Metier, das Walfisch-Modell »Jona« und Lobeks Unfähigkeit, mit Gefühlen im Allgemeinen wie Besonderen zurechtzukommen. Doch auch für die Popliteratur ist die emotionale Desintegration paradigmatisch, wobei auch das Motiv des Dandytums im deutschen Pop-Roman um die Jahrtausendwende relevant wird.60

58 Rainer Olbrich, Marketing: Eine Einführung in die marktorientierte Unternehmensführung, Berlin/Heidelberg: Springer 2001, S. 114: »Als Marke gelten […] Eigennamen (West), Bilder bzw. Symbole (Mercedes-Stern), Zahlenkombinationen (4711), Akronyme (Hanuta für Hasel-Nuss-Tafel) und Phantasieworte (Twix).« – Thomas Andre hat 76 Markennamen in Faserland gezählt: Kriegskinder und Wohlstandskinder: Die Gegenwartsliteratur als Antwort auf die Literatur der 68er, Heidelberg: Winter 2011, S. 224. 59 Jacques Derrida, »Die différance«, in: Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart, mit einer Einführung hg. von Peter Engelmann, aus dem Französischen von Eva Pfaffenberger-Brückner, Stuttgart: Reclam 1990, S. 76–113, hier S. 104. 60 Vgl. hierzu Bärbel Westphal, »Haben Dandys Gefühle? Ein Vergleich von Texten der Jahrhundertwenden von 1900 und 2000 im Hinblick auf die Darstellung von Emotionen bei Thomas Mann, Stefan Zweig, Christian Kracht und Elke Naters«, in: Emotionen: Beiträge zur 12. Arbeitstagung schwedischer Germanistinnen und Germanisten. Text im Kontext in Visby am 15./16. April 2016, hg. von Frank Thomas Grub und Dessislava Stoeva-Holm, Berlin/Bern/ Wien: Peter Lang 2018, S. 105–139.

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Der adoleszente Ich-Erzähler leidet unter seinem »Oberflächenfetischismus«,61 doch affirmiert und zelebriert er ihn. Die »innere Leere« (FL, S. 150) und Mutlosigkeit, sich auf sich selbst und andere wahrhaftig einzulassen, zeigt sich in Faserland vielfältig variiert, u. a. am Konzept des utopischen Körpers.62 Besonders evident wird sie auch im Fluchtverhalten des Protagonisten, der, anstatt Gespräche und zwischenmenschliche Beziehungen zu führen, sich mit Alkohol und Zigaretten narkotisiert und Markenprodukte von Bekannten entwendet, mit denen er im Anschluss ziellos flieht. Sie werden jedoch nicht von ihm gepflegt, sondern als temporäre Ersatzbefriedigung wenig später wieder uninteressant (so im Hinblick auf Alexanders Barbourjacke in Frankfurt und Rollos Porsche in Meersburg am Bodensee). Mit dem fremden, eigenmächtig mitgenommenen Porsche fährt der Protagonist in die Schweiz und lässt den Wagen am Flughafen in Zürich wieder stehen. Wie »innere Leere« versucht wird, mit immer mehr und mehr Objekten auszufüllen, zeigt in Faserland die hedonistische Wohlstandsverwahrlosung einer insofern gesteigerten »Generation Golf«.63 Doch ahnt der Ich-Erzähler, dass seine Distinktionen über Differenzen im Grunde »keine sind und dass sie, anstatt« ihn »in seiner Singularität zu kennzeichnen, im Gegenteil seine« Dependenz »gegenüber einem Code markieren, seine Integration in eine mobile Werteskala«.64 Indem »so eine Art Abhängigkeit« bei seinen Bekannten vage erahnt wird (FL, S. 131), projiziert der autodiegetische Erzähler seine eigene Innenwelt zumal auf seine Mitmenschen. Manchmal jedoch »frage ich mich, […] ob ich nicht vielleicht auch so bin« (ebd., S. 72). Auch in Krachts Roman bleibt das Ende offen. Die letzten zwei Sätze: »Bald sind wir in der Mitte des [Zürich-]Sees. Schon bald.« sagen nichts darüber aus, ob der Ich-Erzähler nach dem vergeblichen Bemühen, Thomas Manns Grab auf dem Kilchberger Friedhof zu lokalisieren, ebenso wie sein Bekannter Rollo seinem Leben in einem See ein Ende setzen oder aber am anderen Seeufer einen neuen Anfang wagen wird. 61 Eckhard Schumacher, Gerade Eben Jetzt: Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 24. Das Wort bezieht sich dort auf Benjamin von Stuckrad-Barres Roman Soloalbum (1998). 62 Michel Foucault, »Der utopische Körper«, in: Ders., Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, zweisprachige Ausgabe, aus dem Französischen von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert, 3. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017, S. 23–36. – Das Thema »Körperlichkeit« kann als eines der zentralen Diskursfelder der 1990er Jahre verstanden werden. Vgl. auch die ›Körperwelten‹ im literarischen Diskurs und erneut bei Baudrillard (»Das schönste Konsumobjekt: der Körper«: Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen [Anm. 15], S. 189). 63 Zur »Generation Golf« als Beschreibung junger Erwachsener im Deutschland der Jahrtausendwende s. Florian Illies’ gleichnamige Darstellung: Generation Golf: Eine Inspektion (2000). 64 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen (Anm. 15), S. 128.

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Es wurden zwei besonders heterogene Romane desselben Jahres – 1995 – untersucht, um die pluralistische »Archivierung der Kultur«,65 hier speziell anhand der Frei-Zeit im Konsum-Dispositiv, prägnant zu illustrieren. »Freizeit« hat sich in beiden disparaten Romanen der Jahrtausendwende vorerst noch nicht als eine »freie Verfügung über Zeit« erwiesen,66 sondern deutet auf eine unfreiwillige Obliquität im Hinblick auf Konsumstrukturen hin, die individuell wie kollektiv oft nicht als solche ins Bewusstsein dringen. Denn das – alltägliche, vertraute – Verständnis von Zeit als einem Objekt und von Objekten im Sinne des ›Zeitkonsums‹ grundiert sowohl Jens Sparschuhs Zimmerspringbrunnen als auch Christian Krachts Faserland. Hier wie dort scheitert die Freizeit daran, dass sie tatsächlich nur mehr ›konsumiert‹, nicht aber reflektiert, neu und selbstverantwortlich gedacht und authentisch gestaltet wird.67 Nach Baudrillard ist der Mensch im Konsum-Dispositiv seinerseits als ein »Objekt gefangen […] in einer […] objekthaften«, d. h. zum Objekt gemachten »Dimension der Zeit«.68 Hierin, so Baudrillard, liege die »Erstarrung unserer Macht« begründet: an der Virtualität einer insofern nur mehr abstrahierten Zeit, »an unsere[r] fehlenden Präsenz« für uns selber und, als Folge, »füreinander«.69 Für die »Konsumgesellschaft« bedeutet dies nach Baudrillard unabhängig von konkreten Hintergründen die Ausrichtung auf ein avanciertes, universal gültiges Zeichensystem, dessen Kommunikationsdynamik zu »synthetische[n] Individualität[en]« führe.70 Diese künstlichen Identitäten sind in Faserland zu einer beständig wechselhaften, situativen Qualität verdichtet und insofern im Vergleich zum Zimmerspringbrunnen nicht prinzipiell, wohl aber graduell noch eindrücklich intensiviert: Ich ziehe den Knoten fest, mit beiden Händen, und sehe dabei in mein Gesicht im Spiegel. Ich sehe nicht wirklich hin, nur so an die Ränder. […] Die Mitte von meinem Gesicht, die will ich gar nicht mehr sehen, nur noch die Umrisse. (FL, S. 133)

Gleichzeitigkeit, Beschleunigung, Zeichenprozesse sind in beiden behandelten Romanen auf jeweils andere Weise grundlegend. Das Gewahrsein für sich selbst

65 Frank Degler und Ute Paulokat, Neue Deutsche Popliteratur, Paderborn: Fink 2008, S. 34. 66 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen (Anm. 15), S. 233. 67 Dies gelingt auch den Romanfiguren Wilhelm Genazinos nicht, obgleich diese das KonsumDispositiv aufs Schärfste kritisieren. Vgl. dazu eingehend den Beitrag im vorliegenden Band. 68 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen (Anm. 15), S. 227. 69 Ebd., S. 39. 70 Ebd., S. 127.

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und andere läuft jedoch hier wie dort Gefahr, sich in einer Welt der Zeichen zu verlieren, die in ihren medialen Suggestionen Frei-Zeit nur mehr simuliert.71 Durch den Tauschwert von Zeichen seien Konsumpraktiken, so Baudrillard, als elaboriertes Zeichensystem letztlich objektlos und kompensatorisch. So differenziell die Zeichen, »die in der Freizeit einen sozialen Tauschwert (den Spielwert von Prestige) erhalten«, sich auch im Einzelfall erweisen mögen: Es gehe immer um Entfremdung und die Suche nach Identität. Im universalen Zeichensystem des Konsums werde »Identität« als eine »Ware«, als ein ›Produkt‹ sowie als ›Handelsgegenstand‹ betrachtet.72 »[W]ahre Freiheit«, so Baudrillard, könne damit indes nicht kohärieren, sich nicht durch eine ›Konsumtion‹ von Zeit und eine »Beherrschung« der Zeit auszeichnen; vielmehr lasse sie sich – als FreiZeit – gerade an deren »Abwesenheit« erkennen.73 Konsum als zeichenbasiertes Kommunikationssystem, das zeigen die beiden untersuchten Romane, offeriert einen vielversprechenden Ansatz für vertiefte, interdisziplinär orientierte Forschungen an der Schnittstelle von Literatur- und Medienwissenschaft. In Baudrillards Medientheorie freizeitlicher Konsumtion wirken Technologien des Selbst – als individuelle Selbst(er)findung – und kollektive, institutionalisierte Erscheinungsformen der Gouvernementalität zusammen, indem sie einander bedingen und wechselseitig fördern. Baudrillards »Konsumgesellschaft« kann in ihrer komplexen Synergetik auch als »Risikogesellschaft« angesehen werden. Sie veranschaulicht – mit einem spezifisch medientheoretischen Fokus –, was der Soziologe Ulrich Beck Mitte der 1990er Jahre im Zuge der sogenannten »Zweiten Moderne« folgendermaßen formuliert hat – als die zentrale Herausforderung, die aus dem Übergang von der Industrie-, d. h. ›Konsumgesellschaft‹ hin zu einer reifen Informations- und Wissensgesellschaft notwendigerweise mit erwachse: Die Konstellationen der Risikogesellschaft werden erzeugt, weil im Denken und Handeln der Menschen und der Institutionen die Selbstverständlichkeiten der Industriegesellschaft (der Fortschrittskonsens, die Abstraktion von ökologischen Folgen und Gefahren, der Kontrolloptimismus) [zunächst noch weiter] dominieren. Die Risikogesellschaft ist keine Option, die im Zuge politischer Auseinandersetzungen gewählt oder verworfen werden könnte. Sie entsteht im Selbstlauf verselbstständigter, folgenblinder, gefahrentauber Modernisierungsprozesse. Diese erzeugen in der Summe und

71 Zum »Zeitregime der New Economy im Roman der Gegenwart« – d. h. hier namentlich seit der Jahrtausendwende –, wo die hier dargelegten Tendenzen nochmals potenzierte Formen angenommen haben, s. den gleichnamigen Beitrag im vorliegenden Band. 72 Jean Baudrillard, Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen (Anm. 15), S. 232. 73 Ebd., S. 227. Unterdessen sei es die Konsumorientierung, die alles durchdringe, »lenkt und leitet« (ebd., S. 67); »[f]ür uns folgt daraus, dass« selbst der »Gegendiskurs, der ja [bis dato] keinerlei wirkliche Distanz schafft, der Konsumgesellschaft ebenso immanent ist wie nur irgendeiner ihrer sonstigen Aspekte.« (Ebd., S. 288)

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Latenz Selbstgefährdungen, die die Grundlagen der Industriegesellschaft in Frage stellen, aufheben, verändern.74

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74 Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen: Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 36.

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David Österle

»wir schlafen nicht«: Über das Zeitregime der New Economy im Roman der Gegenwart

»Unterdessen ist es Feierabend geworden; die Landschaft im Fensterrahmen wird dunkler und dunkler. Sie deutet es also an. Die Commis verlassen mit fröhlichem Geräusch ihre Plätze, legen das Werkzeug zusammen und springen davon. Dies geschieht sehr schnell, so wie es in der Wirklichkeit ebenfalls zu geschehen pflegt.«1

So heißt es in einer der episodenhaften Erzählungen aus Robert Walsers Anthologie Im Bureau (1897/1898), in der facettenreiche Einblicke in das Angestelltenleben versammelt sind, das der Autor als Banklehrling in Bern, als Commis in Basel und Bankangestellter in Zürich über viele Jahre selbst führte. In Walsers Bürouniversum hält es nach Feierabend niemanden mehr am Schreibtisch, besonders Helbling nicht, einen der phantasiebegabten Protagonisten. Von dem Umstand, dass die ›Entzauberung der Welt‹ nun auch für den Angestellten Akkordarbeit, Leistungsdruck, strenge Kontroll- und Disziplinierungsprozeduren bedeutet, zeigt er sich merkwürdig unbeeindruckt. Seine Gedanken sind ganz auf den Feierabend gerichtet, der »glitzert« und »Zerstreuendes« bietet, während der Morgen »scheinbar ohne Schimmer« ist.2 Schon in der ersten Arbeitsstunde des Tages »prügelt« Helbling »in Gedanken die Minutenzeiger tot.«3 So aktuell sich Walsers entzauberte Angestelltenwelt in vielerlei Hinsicht auch aus heutiger Perspektive ausnimmt, so historisch mutet die Widerstandsfigur Helbling an. Sorgen, dass er mit seiner permanenten Befehls- und Leistungsverweigerung Gefahr läuft, irgendwann seinen Schreibtisch räumen zu müssen, macht er sich keine. Dem Pflichtbewusstsein setzt er äußerst kunstvoll Ver1 Robert Walser, Im Bureau: Aus dem Leben der Angestellten [1897/1898], ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Reto Sorg und Lucas Marco Gisi, Berlin: Insel 2011, S. 22. 2 Ebd., S. 102. 3 Ebd., S. 27. Für Siegfried Kracauer sollte gerade der Umstand, dass die Kultur- und Unterhaltungsindustrie die Angestellten in einen Hypnosezustand versetzte, um vom mechanischen Arbeitsalltag abzulenken, Grund genug sein, den Amüsierbetrieben – als freizeitkulturellen »Obdachlosenasylen« – mit Skepsis zu begegnen. Vgl. hierzu Siegfried Kracauers soziologische Studie Die Angestellten: Aus dem neuesten Deutschland [1930], 15. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 98.

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träumtheit, Müßiggängertum und wortakrobatische Provokation entgegen: »Und wenn er’s zu nichts bringt, so hat er doch reich gelebt«.4 In der Literatur, die sich ca. hundert Jahre später der Arbeitswelt widmet, hat man es überwiegend mit Figuren zu tun, die sich Leistungsverweigerung schlichtweg nicht mehr leisten können. Egal ob sie sich in oberster Managementetage bewegen oder sich als Unternehmensberater, Werbeagenten, OnlineRedakteure oder Web-Designer verdingen, ihnen ist gemein, dass sie im Wettbewerb um den mustergültigsten Lebenslauf nicht nur ihre Arbeitszeit, sondern auch die Freizeit völlig den Marktgesetzen unterwerfen. Kathrin Rögglas 2004 veröffentlichter Roman wir schlafen nicht und Philipp Schönthalers Roman Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn (2013), die im Zentrum dieses Aufsatzes stehen, bieten anschauliche Beispiele für die »Ausweitung der Zonen der Selbstoptimierung« in der New Economy.5 Es sind Romane, die die täglichen Leistungsroutinen ihres arbeitssamen Personals derart genau sezieren, dass Freizeit darin zwingendermaßen zu einem Nebenschauplatz verkommen muss. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche narrativen und poetologischen Strategien Röggla und Schönthaler wählen, um die marktwirtschaftliche Konditionierung des Zeitgefühls – und insbesondere die Reduktion von Frei-Zeit – adäquat abzubilden. Dabei gilt es auch die Möglichkeiten und Grenzen der Literatur auszuloten, an dem Diskurs über die neue Arbeitswelt beizutragen.

I

Kathrin Röggla, wir schlafen nicht

In ihrem Roman wir schlafen nicht lässt Kathrin Röggla sechs prototypische Figuren, von denen der Klappentext sagt, »daß sie unsere Gegenwart gestalten«,6 Einblicke in die Welt der New Economy geben: eine Key-Account-Managerin, eine Praktikantin, eine Online-Redakteurin, einen Programmierer, einen Senior Associate und einen Consultant, die alle auf einer IT-Fachmesse anzutreffen sind, wo sie einer Interviewerin Rede und Antwort stehen. Der Text, der auf reale Interviews zurückgeht, die Röggla von 2001 bis 2003 mit Proponenten der neuen Arbeitswelt führte und die sie für ihren Roman ent-

4 Robert Walser, Im Bureau: Aus dem Leben der Angestellten (Anm. 1), S. 39. 5 Felix Klopotek, »On Time Run: Immer unterwegs, niemals ankommen, auf dem Weg durch die Zonen der Selbstoptimierung«, in: Zonen der Selbstoptimierung: Berichte aus der Leistungsgesellschaft, hg. von dems. und Peter Scheiffele, Berlin: Matthes & Seitz 2016, S. 9–35, hier S. 20. 6 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2004, Klappentext.

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sprechend fiktionalisierte und sprachlich verdichtete,7 ist als Gesprächsprotokoll gestaltet. Ohne dass die fiktive Interviewerin (die gleichzeitig auch die Erzählerin ist) dabei selbst als Sprechersubjekt zu Wort kommt, verwebt diese im Modus der direkten oder (zumeist) indirekten Rede die Aussagen der sechs Figuren collagenartig ineinander. Mit ihrem Textverfahren erzeugt Röggla einen dokumentarischen ›Realitätseffekt‹, unabhängig davon, dass die scheinbare Unvermitteltheit des Gesagten aufgrund des Verzichts auf eine manifeste Erzählinstanz doch eigentlich »erhöhte Konzentration auf das Gemachte der Sprache« lenkt.8 Indem der Text das sich in der Sprache manifestierende »Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit des New Managements in der betrieblichen und in der privaten Realität« vorführt,9 lässt er sich auch als Reaktion auf die boomende neoliberale Ratgeberliteratur verstehen, die längst nicht mehr vor dem Privaten halt macht. Die Aussagen der sechs Figuren im Roman kreisen fortwährend um die Nivellierung der Grenzen von Arbeitszeit und Freizeit und die betriebswirtschaftliche Organisation des Privatlebens. In dieser Arbeitswelt, so bringt es die »keyaccount managerin« auf den Punkt, herrsche ein von der herkömmlichen Zeitordnung vollkommen losgelöstes Zeitregime: »es ist 16.30!« das werde man doch mal aussprechen dürfen – nein? dürfe man nicht? »ist gut«. sie rede schon von was anderem weiter, sie rede gleich von anderen dingen weiter, sie hätte sich nur gerne einen moment lang in dem gedanken gesonnt, dass jetzt eben eine uhrzeit sei, die traditionellerweise den späteren tageszeiten zuzuordnen wäre, auch wenn das hier nicht von bedeutung scheine, auch wenn man hier auf alles pfeife: tageszeiten, müdigkeiten, feierabend. sie habe schon verstanden, ja, ja.10

Der Arbeitstag der selbstdisziplinierten Workaholics, so zeigt Rögglas Roman, ist derart verdichtet, dass Zeit – hinsichtlich der tradierten Tätigkeitsbereiche Arbeitszeit und Freizeit – als Ordnungskategorie letztlich unbrauchbar wird. Flexible Arbeitszeitenregelungen fernab der Stechuhr stellen sich im Zeichen des Effektivitätspostulats selbst in Frage. Im Wissen, dass in ihrer Welt Schlafverzicht als Wettbewerbsvorteil gehandelt wird, üben die Figuren einen Lebensstil ein, der sich als Kampfansage an die lästigen biologischen Prädispositionen des eigenen 7 Die Autorin fu¨ hrte rund 25 Interviews mit Unternehmensberatern, Journalisten und Programmierern. 8 Dag Kemser, »Neues Interesse an dokumentarischen Formen: Unter Eis von Falk Richter und wir schlafen nicht von Kathrin Röggla«, in: Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, hg. von Hans-Peter Bayerdörfer, Tübingen: Niemeyer 2007, S. 95–102, hier S. 111. 9 Thorsten Unger, »Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur: Texte dreier Jahrhundertwenden«, in: Repräsentationen von Arbeit: Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen, hg. von Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten [u. a.], Bielefeld: transcript 2013, S. 59– 86, hier S. 81f. 10 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 20.

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Körpers verstehen lässt: »short-sleeping«, »quick-eating«,11 »minutenschlaf« oder der »killerschlaf im flugzeug«12 sind Zeugnisse dafür, dass das Rationalisierungsparadigma in die Verkehrssprache der High Performer Eingang gefunden hat. Die Frage, ob die vollkommene Verabschiedung der Normalarbeitszeitverhältnisse schlicht als Zumutung empfunden wird oder doch als Befreiung von unerträglichen Routinen – wie es die erste Generation der New Economy noch erfuhr –,13 bleibt im Roman dennoch unentschieden. Bei aller Kritik am ignoranten Umgang des Arbeitsmilieus mit »tageszeiten, müdigkeiten, feierabend« sind Rögglas Messefiguren doch gleichzeitig überaus fasziniert von den im Zeichen des Selbstunternehmertums entfaltbaren Kräften körperlicher Selbstbeherrschung, die selbst »standardbedürfnis[se]« wie Schlaf in Frage stellen. »Wer hält am längsten durch?« wird hier zum handlungsanweisenden »motto«.14 Dass die Identifikation mit den ökonomischen Imperativen auch dort keinesfalls aufgegeben wird, wo die Gefahr des beruflichen und ökonomischen ›Schiffsbruchs‹ als Zustand der Permanenz erfahren wird, zeichnet das System der »Gouvernementalität« letztlich aus.15 Ausgerechnet Andrea Bülow, die den Abstieg von einer Fernsehjournalistin zur Online-Redakteurin am eigenen Leib erfahren musste, erklärt, dass »leistung, effizienz und durchsetzungskraft« für sie »positiv besetzte Werte« seien: »sie bewundere menschen durchaus, die sich überwinden könnten, die sich einer anforderung stellen könnten, die ihre möglichkeiten zunächst einmal überschreite.«16 Da, wo Selbstoptimierung beinahe widerspruchslos zum Teil des alltäglichen sozialen Handelns und damit zur moralischen Kategorie der Selbstbeschreibung einer Gesellschaft wird, ist sie als gesellschaftliche Praxis internalisiert: »[Z]usammenreißen«17 lautet entspre-

11 Ebd., S. 37. 12 Ebd., S. 21. 13 Vgl. Annemarie Matthies, Spielbälle: Neuverhandlungen der Arbeitswelt im Medium Literatur, Köln: Halem 2017, S. 111. 14 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 35. Im Text heißt es weiter: »er habe sich zeitweise runterdimensioniert auf drei stunden schlaf. das könne er eine ganze weile durchhalten, und wenn es sein müsse, sage er mal könne er auch einige zeit praktisch ohne schlaf existieren. das ginge aber nur wenige tage gut. ›tatsache ist, man kann diese dinge trainieren.‹ er kenne einen, der braucht konstant nur eine stunde schlaf am tag, also er müsse schon sagen, das bewundere er sehr. er finde es immer wieder erstaunlich, wozu der menschliche körper fähig sei.« 15 Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik: Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Colle`ge de France 1978/1979, hg. von Michel Sennelart, aus dem Französischen von Jürgen Schröder, mit einem Vorwort von François Ewald und Alessandro Fontana, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 208. 16 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 144. 17 Ebd., S. 147.

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chend die Direktive, die die Online-Redakteurin Bülow an ihren eigenen Körper richtet. Der Ort, an dem Röggla ihre Charaktere zusammenkommen lässt, könnte sprechender nicht sein. Nicht nur erweist sich die Messe mit ihrer explizit religiösen Semantik als »kalvarienberg«18 für all jene, die dem Gott des Neoliberalismus ihren ›Dienst‹ erweisen und das Feld der Ökonomie damit zu einer sekundären Religion erhöhen. Die mehrfachen Hinweise darauf, dass auch private Besucher in Massen hierher strömen würden, verstärken den Bedeutungsgehalt der Handelsmesse als Pilgerstätte.19 Was fu¨ r Jochen Ho¨ risch die Welt- und Finanzwirtschaft auszeichnet, kann auch für die Messe geltend gemacht werden: Sie ist erhaben, denn »[e]rhaben ist, was alle Modellierungen sprengt, was sich allen Formeln entzieht, was alle Rahmungen u¨ bersteigt« und was dem Menschen mit seiner Imaginationskraft kaum erschließbar ist.20 V. a. aber steht die Handelsmesse als monofunktionaler, identitäts- und relationsarmer Ort, der mit dem französischen Anthropologen Marc Augé als »non-lieu« kategorisiert werden kann, paradigmatisch für die Geschlossenheit und Totalität des Universums der New Economy. Für die darin handelnden Akteure bewirkt die Messe, wie Röggla zeigt, eine maximale Raum-Zeit-Verdichtung: die »messehimmelsrichtungen«21 dienen als internes Koordinatensystem, das »klimagefälle«, das die Luftkühlanlagen der Messehalle bewirken, sowie das Neonlicht, das den natürlichen Rhythmus von Tag und Nacht sabotiert, verstärken die Kontrastivität von Innen- und Außenwelt und erschweren für die dort Tätigen den Transfer zwischen den Sphären. Wenn die Key-Account-Managerin davon berichtet, sich bei einem Messebesuch in San José nach Feierabend in der Parkgarage verloren zu haben und schließlich »drei stunden unterwegs gewesen [sei], um dieses verdammte auto zu finden«,22 dann ist damit nicht nur gesagt, dass der Weg ins Freie hart erkämpft werden muss, sondern auch der Weg in die Frei-Zeit. Dass es kaum einen Ausstieg aus diesem Prinzip des Arbeitens gibt, macht auch die selbstbezügliche Kommunikationsstruktur der Messe und damit auch des Romans deutlich: Röggla erklärt die Arbeitswelt der New Economy, mit Luhmann gesprochen, zum autopoietischen System, das Konflikten mit internen Lösungsstrategien begegnet und damit die Möglichkeit auf ein grundsätzliches 18 Ebd., S. 15f. 19 Iuditha Balint, Erzählte Entgrenzungen: Narrationen von Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, München: Fink 2015, S. 86. 20 Jochen Ho¨ risch, Man muss dran glauben: Die Theologie der Ma¨rkte, Mu¨ nchen: Fink 2013, S. 10. Vgl. auch Iuditha Balint, Erzählte Entgrenzungen: Narrationen von Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Anm. 19), S. 86. 21 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 16. 22 Ebd., S. 93.

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Korrektiv von vornherein ausschließt.23 Die geschlossenen Informations-, Kommunikations- und Interaktionsverha¨ltnisse, die Röggla mit der Wahl des Handlungsorts und des homogenen Figurenarsenals betont, verunmo¨ glichen geradezu eine Infragestellung der Werthaltungen zu Arbeit und Freizeit. Stehen Rögglas Figuren ihrer »freien zeit« unisono eher »ratlos« gegenüber,24 teilen sie doch zumindest die Gewissheit, dass die »Vertrieblichung der Lebensführung« – wie es Joseph Vogl ausdrückt – notwendigerweise auch die »Liquidierung a¨ lterer symbolischer Grenzen« bedeuten muss:25 »da kursierten so vorstellungen, da würde plötzlich sauber getrennt, die arbeitszeiten von den freizeiten, als ob man das noch könnte. Also er müsse sagen, er finde diese vorstellungen seltsam, um nicht zu sagen, so ziemlich absurd«,26 meint exemplarisch der Consultant Gehringer. Freizeit hat für die literarischen Figuren keinen substanziellen Eigensinn, sondern dient ausschließlich der Regeneration und ist damit erst recht auf die Arbeitszeit hin funktionalisiert. Gerade die Erfahrung, dass das »runterkommen« und »akkulöschen«27 mit Anstrengung verbunden ist, scheint ein Signum dafür, dass work and life ganz grundsätzlich aus der balance geraten sind. Weil es also einer Transferleistung bedarf, die an einen hohen Energieaufwand geknüpft ist, verzichtet die Key-Account-Managerin etwa gänzlich auf eine eigensinnige Auslebung von Freizeit. In ihrem Sprechen zeigt sich, dass die Suspendierung der tradierten Zeitordnungen das meiste Irritationspotential bereits verloren hat. sie sei ja nun keine von denen, die sagten: die firma sei ihr privatleben, wie man das heute so schnell sage, ohne sich großartig was zu denken, aber etwas wahres sei schon dran, müsse sie zugeben. man hänge eben mit der zeit immer mehr da rum. sie denke schon, daß sie oft länger auf der arbeit bleibe als unbedingt notwendig, aber wenn man mal einen gewissen punkt überschritten habe, dann bleibe man oft, mache weiter, weil es einfach anstrengender wäre, sich sozusagen in eine andere stimmung hineinzubewegen, sich sozusagen auf andere sozialkontakte einzulassen, die sich in einer völlig anderen welt abspielten. man gerate ja auf so projekten immer in eine ganz eigene gesprächslogik und gesprächsmuster hinein, also beispielweise würde man nur noch insiderwitze reißen. ja, es seien dann insiderwitze und insidergespräche, das bekomme durchaus was sektenthaftes […].28

23 Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 30ff. Vgl. dazu auch Iuditha Balint, Erzählte Entgrenzungen: Narrationen von Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Anm. 19), S. 94. 24 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 203. 25 Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zu¨ rich: Diaphanes 2010, S. 173. 26 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 132. 27 Ebd., S. 71. 28 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 73.

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Im Rahmen der Systematisierungsversuche der Relation von Erwerbsarbeit und Freizeit, die im Anschluss an Jürgen Habermas’ Bestimmung der Komplementärfunktion von Freizeit entwickelt wurden,29 ließen sich die spärlich zur Sprache kommenden Freizeitpraktiken in Rögglas Roman im Sinne der Kontinuitätsthese begreifen.30 Kontinuitives Freizeitverhalten ist dadurch bestimmt, dass »aufgrund internalisiert arbeitsethischer Wertvorstellung«31 eine Übernahme »arbeitstypischer Verhaltensweisen«32 in die Freizeit vorgenommen wird. Das trifft auch auf Rögglas Figuren zu, die Arbeit als primären Identitätslieferanten empfinden und das leistungsmotivierte Arbeitsethos zum Leitprinzip ihrer Freizeit erheben. Was Rögglas Figuren von der Erwerbsarbeit in die Freizeit überführen, ist jedoch nicht die Aktivität selbst, sondern die mit dem Arbeitsstress verbundene Intensität der Adrenalinproduktion. Die Adrenalinsurrogate führen den Senior Associate dabei wie automatisch in Grenzbereiche der guten Moral und der Gesetze: indem er die Steuerung seines Autos derart riskant anlegt, dass er einmal monatlich einen Autounfall verzeichnet; indem er außerdem in seinen privaten Steuererklärungen komplexe Konstruktionen erprobt, gerät er in einer Tour mit dem Gesetz in Konflikt.33 Seine aus der Balance geratene Energie- und Affektökonomie lässt er durch einen libidinösen Überaktivismus wieder ins Gleichgewicht kommen. Daran zu denken, dass hinter seinem funktionalistischen und egomanischen Zugriff auf den Emotionshaushalt seiner Liebes- bzw. Geschlechtspartnerinnen ein moralisch verfehltes Verhalten stehen könnte, liegt ihm fern. »das ist ja ein ziemlicher organisationsaufwand, wenn du 2–3 frauen suggerieren mußt, daß sie die einzigen sind. aber irgendwann schafft dich das schon.« da arbeite er lieber

29 Vgl. Jürgen Habermas, »Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit [1958]«, in: Freizeit- und Konsumerziehung, hg. von Hermann Giesecke, 3. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974, S. 105–122, S. 105ff. Freizeit hat für Habermas entweder eine »suspensive« oder »kompensatorische« Funktion: »In einem Fall wird während der Freizeit ein Arbeitsverhalten geübt, das von der mit der Berufsarbeit verbundenen Fremdbestimmung, Abstraktheit und Unverhältnismäßigkeit suspendiert […; die Berufsarbeit wird dadurch bestätigt]. Im anderen Fall wird während der Freizeit ein arbeitsfremdes Verhalten geübt, das die Arbeitsfolgen einer voraus psychisch erschöpfenden und nervös verschleißenden Tätigkeit kompensiert.« (S. 120) 30 Vgl. Helmut Giegler, Dimensionen und Determinanten der Freizeit: Eine Bestandsaufnahme der sozialwissenschaftlichen Freizeitforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S. 136f. 31 Ebd., S. 137. 32 Heinz Günter Vester, Zeitalter der Freizeit: Eine soziologische Bestandsaufnahme, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 41. Vgl. auch Hubert Schäfer, Freizeitindustrie: Struktur und Entwicklung, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1955, S. 22–26. 33 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 124f.

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seine 16 stunden durch. also kurz gesagt: nein, so einfach abschalten, das ginge eben nicht.34

Freizeit verliert hier ihren Status, Schutzhaus der Affekte (Familie, Freundschaft) zu sein und entfaltet bei den High Performern – weil diese ihre Energie nicht »suspensiv« oder »kompensatorisch« zu entladen wissen – eine gegen sich selbst und andere gerichtete Destruktivität. In einem mit »unheimlichkeit« überschriebenen Kapitel meint der »it-supporter«, dass man davon ausgehen ko¨ nne, auf der Messe nur »psychisch gesto¨ rte Menschen« anzutreffen.35 Dass die Unternehmensberater sich nach Feierabend in trostlosen Flughafenhotels in ihre »pornowelt« verkriechen würden – auch von »kinderpornographie« ist in Rögglas Text die Rede –, um sich am Morgen danach wieder in ihre »headhuntergespräche über verträge und mögliche verträge« zu vertiefen, lässt bei der KeyAccount-Managerin unwillkürlich ein »Bret-Easton-Ellis-Gefühl« aufkommen.36 Ellis beschreibt in American Psycho (1991) episodenhaft das Leben Patrick Batemans, eines ästhetizistischen Wallstreet-Yuppies, der seine Leere im Leben – zunächst im Geheimen – mit Drogen, sadistischem Geschlechtsverkehr und Gewalteskapaden füllt, bis er irgendwann nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden kann. Da, wo die Freizeit als Störmoment der Routine wahrgenommen wird, läuft sie auch in Rögglas Roman Gefahr, Störmomente zur Routine werden zu lassen. Auch aus der Kommunikationsweise der Figuren, von der uns die fast unsichtbar bleibende Erzählerin mit der direkten und indirekten Vermittlung der Figurenrede einen nachhaltigen Eindruck gibt, lässt sich ein gewisser Adrenalinüberschuss herauslesen. In Rögglas Messewelt wird permanent und schnell gesprochen, der Redefluss scheint keine Selektion oder Sortierung der Gedanken zuzulassen und trägt zum Eindruck bei, dass es den Figuren an (reflexiven) Ruhephasen mangelt. Die durchgehende Kleinschreibung akzentuiert nicht nur das Gefühl der Dynamik der Sprechweisen, sie schafft auch eine Indifferenz im Textbild und forciert damit auch bei den Leserinnen und Lesern das Gefühl der Unruhe und Desorientierung.37 Dass die Figuren die – außerhalb ihrer Arbeitsroutinen stehende – Interviewsituation nicht als Gelegenheit wahrnehmen, in 34 35 36 37

Ebd., S. 170. Ebd., S. 117. Ebd., S. 99. Vgl. Natalie Moser, »Angebot ohne Nachfrage: Die strukturelle Endlosigkeit des KrisenDiskurses am Beispiel von Kathrin Ro¨ gglas ›der u¨ bersetzer‹ (2010)«, in: Der große Crash: Wirtschaftskrisen in Literatur und Film, hg. von Nicole Mattern und Timo Rouget, Wu¨ rzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 305–320, hier S. 313 sowie Felix Maschewski und Nina Peter, »Finanz- und postindustrielle Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur«, in: Handbuch Literatur und Ökonomie, hg. von Joseph Vogl und Burkhardt Wolf, Berlin: De Gruyter 2019, S. 642–652, S. 649.

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reflektierende Distanz zu ihrem Arbeitsalltag zu gehen, sondern sich ganz im Gegenteil in einen »klaustrophobischen ›Messekoller‹« hineinreden,38 scheint die logische Konsequenz dieser – auf ein permanentes Sprechen ausgerichteten – Kommunikationsweise. Der eklatante Mangel an freier Zeit im Leben der Consultants, Manager, Programmierer und Redakteure findet seinen konstitutiven Ausdruck so auch im Akt des Sprechens. Wenn die Online-Redakteurin zudem meint, dass sie auch in ihrer Freizeit »unter redezwang« stehe, dann zeigt sich, in welcher Weise die Kommunikationspraktiken der Erwerbstätigkeit ein kontinuitives Freizeitverhalten befördern: sie »mu¨ sse sta¨ ndig mit freunden telefonieren, stundenlang. und wenn mal keine freunde da sind – ›na dann gnade ihnen gott!‹«39 Wie in Derridas Konzept der Iterabilita¨ t Wiederholungen schrittweise Bedeutungsverschiebungen des Gesagten zum Vorschein kommen lassen, nehmen auch die Figuren in Rögglas Text durch das repetitive Sprechen Korrekturen und Bestätigungen des Gesagten vor und generieren erst dadurch Sinn.40 Sprechen hat hier den Zweck einer Selbstvergewisserung. Bei ihrer Recherche im ConsultingMilieu, so berichtet Röggla, sei ihr aufgefallen, »dass die Leute, wenn sie sich erkla¨ ren mu¨ ssen, oft anfangen, in Schleifen zu sprechen. Sie geben Glaubenssa¨tze von sich, die sie drei Minuten spa¨ter halb widerrufen, aber dann doch wieder besta¨tigen – wie um es sich immer wieder selber einzubla¨uen«.41 Indem die Interviewerin in Rögglas Roman ihre Gesprächspartner mehrfach auf Wiederholungen hinweist, entlarvt sie – als in der Abwesenheit anwesendes Korrektiv – die sprachlichen Prozesse der Selbstvergewisserung und dekonstruiert die verselbstständigten Glaubenssätze. Das betrifft v. a. jene Stellen im Text, in denen die Sprechenden den Wegfall von Frei-Zeit verharmlosen oder im Gegenteil die Fiktion eines intakten bürgerlichen Lebensstils (mit entsprechender Work-LifeBalance) mit Phrasen und Worthülsen aufrechtzuerhalten suchen. Den Consultant, Herrn Gehringer, berichtigt sie: – sie telefonieren eben oft, klar. – seine familie geht ihm über alles. – ach, hat er das schon gesagt?42 38 Eva Kormann, »Jelineks Tochter und das Medienspiel: Zu Kathrin Ro¨ gglas wir schlafen nicht«, in: Zwischen Inszenierung und Botschaft: Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, hg. von Ilse Nagelschmidt, Lea Mu¨ ller-Dannhause [u. a.], Berlin: Frank & Timme 2006, S 229–246, S. 237. 39 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 124. 40 Vgl. Felix Maschewski und Nina Peter, »Finanz- und postindustrielle Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur« (Anm. 37), S. 648f. 41 Susanna Brogi und Katja Hartosch: »›Manage dich selbst oder stirb‹: Die Autorin Kathrin Röggla im Gespräch«, in: Repräsentationen von Arbeit: Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen (Anm. 9), S. 491–502, hier S. 497. 42 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 71.

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Klarerweise ist nicht nur der Bereich der Freizeit mit seinen auf Nähe und Intimität ausgerichteten Sozialformen von der Rhetorik und Dynamik des »strategischen Sprechens u¨ ber Effizienz« affiziert,43 sondern auch die Arbeitsbeziehungen. Wie wenig das Arbeitsteam als funktionelles Äquivalent für Familienoder Freundschaftsbeziehungen taugt, machen bereits die diskreditierenden Aussagen der Figuren über ihre Kollegen deutlich. Sie führen vor Augen, wie das geltende Prinzip der gnadenlosen Konkurrenz innerhalb der New Economy zu einer Kommunikationspraxis wird und bestätigen damit insgeheim,44 was nach Richard Sennett die Arbeits- und Lebensverhältnisse in den avanciertesten Sektoren der Wirtschaft mit sich brächten, nämlich Vereinzelung, Angst und den Verlust langfristiger, emotionaler Bindungen.45 Dies reflektiert auch die Erzählweise des Romans. Obwohl die Sprecherfiguren in ihren Reden ständig Bezug aufeinander nehmen, vermeidet es die Erzählerin, die die Herrschaft über das zu collagierende Interviewmaterial innehat, einen stimmigen Dialog zwischen den Figuren zu arrangieren. Auch hinsichtlich der Textgestalt aktualisiert sich hier das Gefühl beim Leser, dass die arbeitsamen Figuren der New Economy eher neben- und gegeneinander agieren als im Team.

II

Philipp Schönthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn

Philipp Schönthalers 2013 veröffentlichter Roman Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn nimmt sich ebenfalls der Zumutungen und Herausforderungen der gegenwärtigen Arbeits- und Lebenswelt an. Wie Röggla richtet Schönthaler seinen Blick dabei auf die Leitberufe der Wirtschaft und sieht wie die österreichische Autorin davon ab, sich auf eine einzelne literarische Figur zu zentrieren. Was Röggla und Schönthaler zeigen, sind keine Einzelschicksale, sondern die perfiden Mechanismen der Internalisierungsmacht, welche die literarischen Subjekte dazu nötigen, sich mit den hiesigen Marktgesetzen, Handlungsspielräumen und Kommunikationsweisen zu arrangieren.

43 Anke S. Biendarra, »Preka¨ re neue Arbeitswelt: Narrative der New Economy«, in: Das erste Jahrzehnt: Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts, hg. von Julia Scho¨ ll und Johanna Bohley, Wu¨ rzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 69–82, S. 80. 44 Vgl. Annemarie Matthies, Spielbälle: Neuverhandlungen der Arbeitswelt im Medium Literatur, Köln: Halem 2017, S. 111. 45 Richard Sennett, Der flexible Mensch: Die Kultur des neuen Kapitalismus, aus dem Amerikanischen von Martin Richter, 2. Aufl., Berlin: Berlin-Verlag 2005. Vgl. auch Eva Kormann, »Jelineks Tochter und das Medienspiel: Zu Kathrin Ro¨ gglas wir schlafen nicht« (Anm. 38), S. 235.

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Im Zentrum des Romans steht ein international agierender Kosmetikkonzern, »Pfeiffer Beauty« (BP), mit Firmensitz in Stuttgart. Das Personal des Romans steht in der Firma unter Vertrag oder ist in einer Beraterrolle lose mit dem Unternehmen assoziiert. Die Namen der Figuren sind so sprechend, wie ihre Berufsbezeichnungen unaussprechlich und diffus sind: der aufstrebende Erik Jungholz ist Managing Director einer Kosmetikproduktlinie für Männer; Dr. Frederick Quass ist »Assistant Director of Human Resources«; eine Unternehmensberaterin mit Namen Pamela J. Smaart erstellt im Auftrag von PB Leistungsprofile der Mitarbeiter; die promovierte Philosophin Posner schwört als »Career Center Coach« ihre Workshopteilnehmer auf das KLP-Prinzip ein: Kompetenz, Leistungsorientierung, Persönlichkeit. Schönthalers Universum ist auf Qualitätsmanagement aus. Für diese Qualitätssicherung ist es charakteristisch, dass sie nicht mehr von einer sanktionierenden Ordnungsmacht, sondern von ihren Stellvertretern, den Statthaltern der Macht, geleistet wird. In diesem Text wimmelt es von Personalberatern und Coaches, Verhaltenstherapeuten, Neurologen, Schlafforschern, ConsultingAgenturen und Assessment-Centern, die den Figuren den Weg vom Monitoring zum Selbstmonitoring weisen. Schönthaler führt vor, wie die optimierungsbedürftigen Subjekte einen Zustand permanenter Selbstbeobachtung internalisieren, um den Imperativen der zeitgenössischen Ökonomie gerecht zu werden. Die Unternehmensberaterin Smaart erklärt exemplarisch das Verfahren: »Nur wenn wir Sie prospektiv in die Pflicht nehmen, einen Vertrag aufzusetzen, den Sie mit sich selbst schließen, werden Sie sich bessern, und zwar auf qualitativ belegbare Weise, die sich im operativen Gescha¨ ft des Konzerns niederschla¨ gt«.46 Der Selbstvertrag sieht sich hier zwangsläufig auf die Stufe eines neuen Gesellschaftsvertrags gehoben. Der Roman führt die Mechanismen des »demokratischen Panoptismus«,47 jenes »nichthierarchische[n] Modell[s] reziproker Sichtbarkeit«,48 das vom Einzelnen die permanente Steigerung seines Humankapitals verlangt, eindrücklich vor. Was Ulrich Bröckling über das Wesen der Norm schreibt, nämlich dass sie »allein relational bestimmt und nach oben hin offen« sei,49 gilt auch für die Welt des Romans.50 Wie wenig konfliktbehaftet dies

46 Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman, Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 48f. 47 Ulrich Bröckling, »Totale Mobilmachung: Menschenfu¨ hrung im Qualita¨ts- und Selbstmanagement«, in: Gouvernementalita¨t der Gegenwart: Studien zur O¨ konomisierung des Sozialen, hg. von Thomas Lemke, Susanne Krasmann und dems., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 131–167, S. 152. 48 Ulrich Bröckling, »Über Feedback: Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie«, in: Die Transformation des Humanen: Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, hg. von Michael Hagner und Erich Hörl, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 345. 49 Ebd., S. 345.

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alles für Schönthalers feedbackgesteuerte Figuren ist, zeigt sich gerade darin, wie leicht es ihnen fällt, die unternehmerischen Lehrsa¨tze auch in die außerberuflichen, privaten Kommunikationspraktiken zu integrieren.51 Eine Ausnahme bildet Rike, ein annagrammatischer Querverweis auf den selbstbewussten High Achiever Erik Jungholz und namentlich nur einen Konsonanten vom sprachmächtigen Rilke entfernt. Sie leidet signifikanterweise an einer psychosomatischen Logophobie, welche v. a. in Situationen aufkommt, die sich durch hohe Systemanforderungen auszeichnen wie etwa Bewerbungsgespräche. Rikes Leidensdruck wird so groß, dass sie sich schließlich stationär behandeln lässt. Wie unbarmherzig die dargestellte Leistungsgesellschaft ist, zeigt sich gerade darin, dass auch vermeintliche Frei-Räume, die Urlaub von den allumfassenden Systemzwängen versprechen, zur Optimierung aufrufen. Rikes Zimmerkollegin erkennt angesichts der fordernden Einzel- und Gruppentherapien, es werde einem »auch hier nichts geschenkt«.52 In Schönthalers zwar fiktivem, der außertextuellen Welt indes verdächtig ähnelndem Universum werden auch die heterotopischen Räume und Lebensbereiche anhand von gouvernementalen Maßnahmen erfasst. Die Optimierung des Geschlechtsverkehrs leistet das »Ressourcen-Aktivierungs-Modell« in Kombination mit dem Modul »Mehr Lust (ML)«, die Optimierung des Schlafs ermöglicht das Schlaflabor, und zur Verbesserung der Sterbebegleitung im Krankenhaus trägt ein Evaluationsbogen Sorge, der von Angehörigen der Verstorbenen gleich im Anschluss an deren Ableben ausgefüllt werden soll. In einer auf Rationalisierung getrimmten Welt wird alles von Eros bis Thanatos zum Objekt ubiquitärer Bemessung und Optimierung, auch wenn diese Bereiche sich grundsätzlich dem verwehren. Dass von der »Ausweitung o¨ konomischer Erkla¨rungsmodelle auf alle Lebensbereiche«53 zwangsläufig auch die Literatur betroffen sein muss, zeigt Schönthaler anhand einer ausgefallenen Textintervention. Etwa in der Mitte des Romans findet sich ein Fragebogen, der sich auf den ersten Blick als eine Zwi-

50 Vgl. Felix Maschewski und Nina Peter, »Finanz- und postindustrielle Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur« (Anm. 37), S. 650. 51 Als sich die Unternehmensberaterin Pamela J. Smaart in Macau in ein Gespräch mit einer Ansässigen verwickelt, das sie als ungewohnt »ungezwungen« und »vorbehaltslos« erfährt, richtet sich ihr ganzes Interesse – im Sinne einer Déformation professionelle – unmittelbar auf deren »Pläne in drei Jahren, in fünf, wie sie diese Pläne erreichen wolle, was ihre kurz- und langfristigen Perspektiven hier in Macau seien? Wie sieht es mit dem Ausland aus?« – Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman (Anm. 46), S. 206. 52 Ebd., S. 255. 53 Felix Maschewski und Nina Peter, »Finanz- und postindustrielle Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur« (Anm. 37), S. 650.

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schenevaluierung von Schönthalers Buch ausnimmt.54 Die Einstiegsaussage – »Meine bisherigen Erwartungen wurden erfüllt« – und Folgeaussagen wie »Ich bin generell ein belesener Mensch (umfassende Allgemeinbildung)«55 lassen sich als potentiell ernst gemeinte Aufforderung an die Leser und Leserinnen verstehen, eine Punktevergabe (von 0 bis 5) vorzunehmen. Dass Schönthaler mit seiner als paratextuell zu interpretierenden Intervention bestehende Internetportale persifliert, die tatsächlich zur »Zwischenevaluierung« von Büchern einladen,56 macht diese auch aus literatursoziologischer und rezeptionsästhetischer Sicht gerade so reizvoll. Die Kritik des Autors zielt hier augenscheinlich auf die Ausweitung der Qualitätsbemessung (auf Basis zahlenmäßig erfassbarer Parameter) auf Bereiche, die sich gerade durch ihre gesetzesma¨ßige Andersartigkeit den Optimierungs- und Rationalisierungsprozeduren grundsätzlich verweigern. Bereits Max Weber hob in seiner Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse die spezifische Rolle der Kunst hervor, nämlich von den Rationalisierungsprozessen keineswegs unberu¨ hrt zu bleiben, aber im System der Rationalita¨ten gleichzeitig eine Gegenordnung darzustellen.57 In der von Schönthaler präsentierten Managementwelt ist dies anders. Literatur ist hier gerade nicht als »dialektische Opposition gegen zermalmende Kra¨fte der Routinisierung und Rationalisierung« bedeutsam,58 sondern im besten Falle dort, wo sie sich mit systeminternen Kriterien erfassen lässt, d. h. über »Verkaufszahlen« oder öffentlichkeitswirksame ›Konsekrationen‹ – »Booker Prize, Pulitzer Prize«, so heißt es im Roman.59 Indem Schönthalers Figuren Freizeit und Arbeit zugunsten ihres beruflichen Vorankommens völlig amorphisieren, handeln sie, analog zu Rögglas Personal, 54 Auf textinterner Ebene stellt der Fragebogen ein Dokument dar, das den PB-Workshopteilnehmern zur Veranschaulichung neuer Evaluationsverfahren und innovativer Talentmanagement-Portale vorgelegt wird. 55 Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman (Anm. 46), S. 137. 56 Auf dem Internetportal lovelybooks.de haben im Zuge eines Bewerbungsverfahrens ausgewählte User die Möglichkeit, sich über ihre Lektüre-Erfahrungen kapitelweise auszutauschen. Dass in der »Leserunde« auch Schönthalers Buch – wenig wohlwollend – besprochen wurde, macht die kritische Pointe des Buches ungewollt lebendig. 57 Vgl. dazu Max Weber, Gesammelte Aufsa¨tze zur Religionssoziologie I, Tu¨ bingen: Mohr 1978, S. 558. 58 Ursula Klinger, Flucht, Trost, Revolte: Die Moderne und ihre ästhetischen Gegenwelten, München/Wien: Hanser 1995, S. 17. 59 Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman (Anm. 46), S. 111. Auf formaler Ebene führen die in den Text integrierten dokumentarischen Elemente zudem in aller Plastizität vor, wie in einer Welt unternehmerischer Vernunft die Aufwertung von Erhebungsbögen, Statistiken und Tortendiagrammen zu einer Ersetzung textuell-kommunikativer Verfahren führt. Die Einverleibung textexterner Dokumente in den literarischen ¨ konomisierung literarischer Verfahren‹ verstehen. Text lässt sich so auch im Sinne einer ›O Vgl. dazu Felix Maschewski und Nina Peter, »Finanz- und postindustrielle Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur« (Anm. 37), S. 650.

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den spezifischen Eigengesetzlichkeiten der tradierten Zeitordnungen völlig zuwider. Auch in der Freizeit sind hier die Organisationsprinzipien und -formen des Projektmanagements prägend. Dafür, dass die Zeit zur Partnerschaftspflege nicht gänzlich vom Arbeitsalltag annulliert wird, trägt bei Erik Jungholz und seiner Lebensgefährtin ein »Jour Fixe« Sorge, ein obligatorischer Regeltermin.60 Dass das Liebespaar den Abend, der ganz im Zeichen der Beziehungshygiene steht, später in »Partner’s Night« umtauft, deutet zumindest ein gewisses Maß an Problembewusstsein für die Versachlichung ihres Liebeslebens sowie eine gewisse Sensibilisierung für die Deutungsabha¨ngigkeit sprachlicher Zeichen an. Das Spannungsverhältnis von Arbeit und Freizeit stellt bei Schönthalers Figuren ein Verhältnis enormer Spannung dar. Besonders im Argen liegt der Emotionshaushalt beim Personaler Quass. »Kennst du das eigentlich auch«, beginnt Quass, er verharrt in der Hockstellung, zögert einen Moment, bevor er fortfährt, »dieses Unwohlsein am Abend, das man nach Hause gehen muss?« […] »Normalerweise bildet der Donnerstag eine Ausnahme«, erklärt Quass. […] »Du fährst um sieben heim, trittst kurz zu Hause auf, zeigst dich, vielleicht bringst du die Kinder zu Bett, dann geht’s wieder los, zum Fußball, das passt. […] Auf dem Rasen kannst du dich ausstoben, manchmal geht man danach etwas trinken. Das stimmt einfach, der Kontrast: Arbeit, Familie und so weiter. Danach fühlst du dich gut.« […] Wenn es gut laufe, seien sowieso schon alle im Bett. Denn setze er sich noch ein wenig ins Wohnzimmer, lege die Füße hoch, er wisse ja schon gar nicht mehr, ob dieses Haus, das er in monatlichen Raten abbezahle, noch sein Haus sei – rein emotional.61

Der Roman führt in didaktischer Überanschaulichkeit vor, wie die völlige Identifikation mit der Erwerbsarbeit zur emotionalen Entfremdung vom Zuhause führt: »Sonntagsmorgen frühstücken zum Beispiel […]. Da ist mir jedes Firmengespräch lieber […]. Da weiß man wenigstens, wie man dran ist.«62 Das, was für die Figuren im Roman Entfremdung schafft, ist nicht wie im herkömmlichen Sinne die kompensations-, suspensions- oder ausgleichswürdige Arbeit, sondern wie bereits Röggla in wir schlafen nicht in paradoxer Umkehrung zeigt, der Bereich der Freizeit selbst. Dass Schönthalers Personal bis in die späten Abendstunden so emphatisch seiner Arbeit nachgeht, liegt auch an der wohltuenden Atmosphäre des Bürokomplexes mit seinen oasenhaften Grünzonen, Bistros und lichtdurchfluteten Meetingpoints, die »eine große, wechselseitige Durchlässigkeit von Innen- und Außenraum suggerieren«.63 Weil das ›Innerhalb‹ der Arbeitswelt all jene Qualitäten erfüllt, die das ›Außerhalb‹ traditionellerweise auszeichnet, stellt der Bü-

60 61 62 63

Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman (Anm. 46), S. 165. Ebd., S. 126f. Ebd., S. 129. Ebd., S. 143.

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rokomplex aus architektonischer, infrastruktureller und sozialer Perspektive die identifikatorische Substanz von Freizeit infrage: Die Mitarbeiter sollen sich zufällig begegnen, so wie man Nachbarn am Briefkasten oder vor der Haustür trifft, um sich bei Kaffee und kühlen Softgetränken in einer entspannten Atmosphäre, die die Arbeit vollkommen vergessen lässt, über Wochenendaktivitäten, Fußball oder persönliche Anliegen zu unterhalten. Wissenschaftliche Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, dass diese privaten Gespräche über individuelle Interessen in der richtigen Umgebung die unerlässlichen Bausteine bilden, um in einem zweiten Schritt auf die Arbeit und aktuelle oder geplante Projekte zu sprechen zu kommen, und zwar in einem lockeren, spielerischen Modus, der die Kreativität und Innovation optimal fördert – eine absolute Zielvorgabe für ein Unternehmen wie PB, das von der kontinuierlichen Innovation und Entwicklung seiner Produkte lebt.64

Erzählperspektivisch sind die Leser und Leserinnen in dieser Sequenz in die Rolle der Zuschauer einer Führung durch die Büroräumlichkeiten des Unternehmenskomplexes versetzt. Sie folgen den – intern fokalisierten – Ausführungen des ›Kustos‹ über die lebensweltliche Ganzheitlichkeit der Raumkonzepte bei »Pfeiffer Beauty«, die an Arbeitswelten von Technologie-Giganten im Silicon Valley denken lassen sowie an die Internetfirma »The Circle« in Dave Eggers gleichnamigem Beststeller.65 Die »südländisch anmutende Innenraumbegrünung«,66 ebenso die fotografischen Abbildungen der internationalen, geschützten Nationalparks, die an den Meetingpoints auf eine Leinwand projiziert werden, schaffen eine Atmosphäre, die den Raum der Arbeit als eine natürliche, alle Lebensbereiche miteinbeziehende Lebenswelt erfahrbar macht. Von dem rein auf Funktionalismus ausgerichteten Konzept des Bürosaals Lee Galloways, der Frederick W. Taylors – auf die Fabriksarbeit zielenden – Principles of Scientific Management (1911) ins »Office Management« übersetzte, ist man hier weit weg.67 Die Arbeitskultur der New Economy setzt – im Geiste der an der Kybernetik orientierten Bürolandschaft, die Anfang der 1960er Jahre vom Team um die Bru¨ der Wolfgang und Eberhard Schnelle konzipiert wurde – auf die Herstellung einer »Arbeitswohnlichkeit«,68 welche die Einbindung privater Wohnelemente in die Arbeitsumgebung vorsieht. Der Umstand, dass die Gebäudearchitektur und Büroinfrastruktur auf wissenschaftlichen Untersuchungen zur Effizienzsteigerung der Mitarbeiter basiert und nicht selbstzweckhaft deren Zufriedenheit im

64 Ebd., S. 46f. [Hervorhebung des Verfassers] 65 Der Roman erschien im gleichen Jahr wie Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Dave Eggers, The Circle: A Novel, New York: Alfred A. Knopf 2013. 66 Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman (Anm. 46), S. 174. 67 Vgl. Gianenrico Bernasconi und Stefan Nellen, »Einleitung«, in: Das Büro: Zur Rationalisierung des Interieurs, 1880–1960, hg. von dens., Bielefeld: transcript 2019, S. 9–27, S. 12. 68 Andreas Rumpfhuber, Architektur immaterieller Arbeit, Wien: Turia + Kant 2013, S. 30.

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Auge hat, weist das persuasive Sprechersubjekt dieser Sequenz als Nachfahre Taylors, Galloways oder der Gebrüder Schnelle aus.69 Die neue, prekäre Qualität der Internalisierungsmacht ist ihr Verhüllungsmechanismus: Im Kontext eines Privatheit suggerierenden Kommunikationsrahmens, der sich aus internalisierten Akten einer lustvollen Freizeitbeschäftigung speist – spontane Treffen, ungezwungenes Plaudern in gemütlicher Atmosphäre –, scheint Arbeit für die Generation der New Economy selbst zu einem spielerischen Akt geworden zu sein, wie der Roman augenfällig vorführt. Kommunikation im »spielerischen Modus«70 wie auch Golfturniere, kostenlose Produkttestungen und Teambildungsspiele, die wa¨hrend der Erwerbsarbeit oder im Rahmen betrieblicher Freizeitunternehmungen stattfinden, erfüllen hier letztlich die Funktion von Mitarbeiterpartizipation, -kontrolle und -evaluation.71 Spiele im herkömmlichen Sinne sind sowohl zeitlich als auch räumlich und konzeptuell der Sphäre der Freizeit zuzurechnen.72 Sie basieren auf Freiwilligkeit, sie sind nicht auf einen außerhalb des Spiels stehenden Zweck gerichtet oder an längerfristigen Resultaten interessiert, sondern dienen schlicht der Entspannung, Zerstreuung, Kreativität und dem Erleben der eigenen Spontaneität. Wettspiele, Lernspiele und insbesondere Sport, bei dem ein hohes Maß an Disziplin an den Tag gelegt werden muss, stellen freilich Graubereiche dieser Spieldefinition dar.73 Weil das Spiel keine typischen Charakteristika der Arbeitswelt aufweist, stellt es für Marcuse explizit den Kontrastbereich zur Arbeit dar.74 Marcuses Überlegungen zu Spiel und Arbeit zielen – das sei hier nur nebenbei erwähnt – v. a. auf eine Um- bzw. Aufwertung des Arbeitsbegriffs. Der Soziologe äußert sein Unbehagen daran, dass die »ökonomische Theorie« nur an einem Verständnis von Arbeit interessiert sei, das auf »wirtschaftliche[r] Tätigkeit« basiere. Diese »Verengung des Arbeitsbegriffs« repräsentiere »eine ganz bestimmte Auffassung vom Wesen und Sinn des wirtschaftlichen Seins im Ganzen des menschlichen Daseins«,75 und so plädiert er für eine Loslösung der ¨ ber den groß69 Vgl. Adriana Kapsreiter, »Bu¨ rosaal – Großraumbu¨ ro – Bu¨ rolandschaft: U fla¨ chigen Raum der Verwaltung«, in: Das Büro: Zur Rationalisierung des Interieurs, 1880– 1960 (Anm. 67), S. 123–138, hier S. 130. 70 Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman (Anm. 46), S. 47. 71 Vgl. Iuditha Balint, Erzählte Entgrenzungen: Narrationen von Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Anm. 19), S. 33. 72 Vgl. Johan Huizinga, Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel [1938], aus dem Niederländischen von Hans Nachod, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 16–19. 73 Vgl. Iuditha Balint, Erzählte Entgrenzungen: Narrationen von Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Anm. 19), S. 33. ¨ ber die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen 74 Herbert Marcuse, »U Arbeitsbegriffs«, in: Kultur und Gesellschaft, hg. von dems., Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 7–48, S. 32. 75 Ebd., S. 7.

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Arbeit vom schlicht ökonomischen Denken zugunsten einer Aufwertung eines »allgemeinen« Arbeitsbegriffs. Was nun das Spiel und die Freizeit von Arbeit unterscheidet, sind nach Marcuse drei Eigenschaften. Zum ersten die Dauer: Während das Spiel völlig losgelöst von zeitlicher Kontinuität ab und an stattfindet, fülle Arbeit das ganze Leben und alle Bereiche des Lebens aus. Zweitens die »Ständigkeit der Arbeit«: Marcuse erklärt, dass Arbeit auf Vergegenständlichung ziele, was heißt, dass im Prozess der Arbeit etwas Bleibendes geschaffen werde, das dem Arbeitenden »einen Stand in seiner Welt« ermögliche.76 Und drittens sei die Arbeit im Gegensatz zur Freizeit mit »Anstrengung« verbunden, was für Marcuse keineswegs bedeutet, dass Arbeit »Unlust« erzeuge.77 Den Akteuren in Schönthalers Roman nun sind freizeitliche Aktivitäten, die keinen längerfristigen, über das »Spiel« hinausreichenden Zweck erfüllen, grundsätzlich fremd. Nicht nur liegt allen ihren Unternehmungen (also über das klassische Nine to Five hinaus) die handlungsleitende Maxime zugrunde, sich einen »Stand in der Welt« zu sichern; sie verwechseln dabei auch das, was Marcuse mit »Stand« gemeint hat – nämlich dem eigenen Dasein anhand eines materialisierten Produkts einen Ort in der Geschichte zu geben –, mit Bourdieus gesellschaftlichem »Status«. »Anstrengung« und »Mühe« schließlich kostet den Figuren höchstens ihr Freizeitleben. Dass nun alle ihre spielerischen Aktivitäten zum Scheitern verurteilt sind, ist im Kontext des Romans nicht wenig aussagekräftig. Das gilt etwa für den Ermittler List, der es sich irgendwann abgewöhnt hat, mit seinen Freunden nach der Arbeit in der Kneipe Dart zu spielen, denn »das freiberufliche Unternehmertum« droht »alles aufzuzehren, jede freie Minute will in Arbeitszeit verwandelt werden. Grenzen zwischen was Arbeit ist und was nicht, gibt es kaum mehr.«78 Als er nach einem verkorksten Arbeitstag seinem Bedürfnis nach Gesellschaft dann doch wieder einmal nachgibt, wird er in der Bar beinahe in eine Handgreiflichkeit verwickelt. Die sonst überaus smarte Unternehmensberaterin Pamela J. Smaart lässt sich im chinesischen Macau von einer Bande Kleinkrimineller in ein schäbiges Gassenlokal verführen, wo sie anschließend beim Poker Jack – eine Art Black Jack – abgezockt wird. Auf das Karten-Glückspiel in dem für seine Kasinokultur bekannten Macau lässt sie sich nicht zuletzt deshalb ein, »um nach ihrer Rückkehr sagen zu können, dass sie in Macau auch spielen war«.79 Und 76 Ebd., S. 18. 77 Ebd., S. 19. Vgl. auch: G. Günter Voß, »Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs«, in: Handbuch Arbeitssoziologie, hg. von Fritz Böhle, dems. und Günther Wachtler, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 23–81, hier S. 44. 78 Philipp Scho¨ nthaler, Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn: Roman (Anm. 46), S. 147. 79 Ebd., S. 213. Gespielt habe die Unternehmensberaterin, so heißt es an der Stelle signifikanterweise, »seit Langem nicht mehr«.

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schließlich wird der von Ehrgeiz angetriebene Erik Jungholz anhand eines Videos der Schwindelei beim Golf überführt. Dort, wo die Romanfiguren ihre Freizeit spielerisch verleben, scheitern sie – weil sie oder andere Akteure die Spielregeln missachten. Dass aus dem Spiel sowohl bei Schönthalers als auch bei Rögglas Figuren leichthin Ernst wird, indem es an die Grenze der Legalität stößt, deutet in aller Drastik an, dass ihr Handeln fast ausschließlich auf einen außerhalb des Spiels, außerhalb der Freizeit stehenden Zweck gerichtet ist und entsprechend längerfristige Konsequenzen nach sich zieht. In gleicher Weise, wie Schönthalers Personal der selbstzweckhaften Unterhaltung entsagt, verwehrt auch der Autor seinen Lesern und Leserinnen jene typischerweise im Akt des Lesens erfahrbare Unterhaltung. Die Erzählweise ist mit dem Erzählsujet des Romans verschränkt. Schönthalers Verweigerung, dem Leser eine handlungsreiche Erzählung zu bieten, wird gerade dort sichtbar, wo er verheißungsvolle Spannungsbögen aufbaut, nur um sie kurz danach wieder abreißen zu lassen. Die Episode der Unternehmensberaterin Smaart im chinesischen Macau, Erik Jungholz’ auf Video festgehaltene Golf-Schwindelei und vielmehr noch der angedeutete Handlungsstrang um Marcus Vestlund, der bei PB ein mehrstufiges Bewerbungsverfahren durchläuft und unter Verdacht steht, seinen CV gehörig frisiert zu haben – all das hätte ohne große Mühe zu einer handlungsreichen Geschichte weitergesponnen werden können. Doch Schönthalers Erzähler besinnt sich auf seine ursprüngliche Intention, die perfiden Strukturen der Hochleistungsgesellschaft zur Darstellung bringen zu wollen – und lässt die kriminalistischen Spannungsmomente ins Leere laufen. Der Verzicht auf Handlung geht hier auch mit der Eliminierung zeitlicher Strukturen einher. Aus was sich Schönthalers multiperspektivisch angelegter Roman letztlich zusammensetzt, sind kurze Szenen zumeist kommunikativen Charakters – Workshop-Diskussionen, Agenturpitches, Gespräche zwischen Kollegen in und außerhalb der Firma, Betriebsfeiern und -ausflüge –, die nur in geringem Maße aufeinander aufbauen und mit wenigen Ausnahmen auch in anderer Reihung denkbar wären. Schönthaler bringt eine Textökonomie hervor, die sich mit der Verschwendung narrativer Mittel – u. a. mit dem ineffizienten Aufbau und schlagartigen Abbruch von Handlungssträngen, der generellen Ereignisarmut, der Inexistenz von Handlungsabfolgen und Figurenentwicklung, dem damit einhergehenden Fehlen von Teleologie und schließlich mit unnötiger Detailgenauigkeit, die in manchen Fällen mehr ein Aufzählen als ein Erzählen zur Folge hat80 – gerade

80 Das betrifft u. a. die detailreiche Beschreibung von Jungholz’ Position bei »Pfeiffer Beauty«

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jener Optimierungslogik verweigert, die die Romanwelt auf der Ebene der Histoire von ihren Figuren einfordert.81 Während Schönthalers Erzählinstanz damit narrativ gegen die Welt der Ökonomie opponiert, gehen deren Figuren vollkommen in ihr auf. Dass das Personal aus dem Feld des Managements und Consultings jedoch ausgerechnet in Bereichen scheitert, die der Nicht-Arbeit zuzuordnen sind und sich traditionellerweise der ökonomischen Funktionalisierung und Optimierung verweigern, ist im Kontext des Romans signifikant. Es ist der Schlaf, der Geschlechtsverkehr, das Spiel, die »Quality Time« mit der Familie und mit Freunden, es sind Bereiche der Selbsterfahrung.

III

Resümee

Röggla und Schönthaler erzählen von einer Welt, in der sich das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Freizeit, Öffentlichkeit und Privatheit ganz grundsätzlich verschoben hat. Sie sezieren und entblößen die Mechanismen einer Gesellschaft, in der Zeit den Charakter einer Ware angenommen hat und in der so auch die Frei-Zeit den gouvernementalen Prozeduren unterzogen wird. Die Besonderheit beider Texte liegt in der Divergenz von inhaltlicher und formaler Aussagestruktur: Auf der inhaltlichen Ebene thematisieren die Romane die Widerstandsfähigkeit des Systems. Während der Roman Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn dessen Unangreifbarkeit bereits im Titel trägt, ist es bei Röggla v. a. das Schlusskapitel mit dem Titel »wiederbelebung (ich)«, das die Unerschütterlichkeit des Systems aktualisiert: »die beiden partner trudeln wieder ein. […] wieder da, das ganze bwler-deutsch. auch sie ist wieder da, die handytelefonistin, die traurige handy-telefonistin, wie sie wieder ihr gera¨ t bespricht. ja, wieder da, das ganze bwler-deutsch«.82 Dass sich Akteure und Akteurinnen immer wieder selbst aus dem Spiel nehmen – nur zwei Kapitel davor wird der Selbstmord eines Unternehmensberaters angedeutet –, bringt das System keinesfalls grundsätzlich ins Wanken. Was die beiden literarischen Texte auf ihrer Oberflächenstruktur aussagen, steht quer zur formalen Ebene. In dem kaum mehr entwirrbaren polyphonen Stimmengeflecht der Messehalle sowie der ständig zwischen direkter und indi(ebd., S. 18f.) oder die ausführliche Schilderung des Werdegangs von Privatdetektiv List (ebd., S. 83). 81 Zum unökonomischen Erzählen siehe Annika Nickenig und Agnieszka Komorowska, »Einleitung«, in: Poetiken des Scheiterns:. Formen und Funktionen unökonomischen Erzählens, hg. von dens., München: Fink 2018, S. 9–24, hier S. 16ff. 82 Kathrin Röggla, wir schlafen nicht: roman (Anm. 6), S. 219. Vgl. auch Felix Maschewski und Nina Peter, »Finanz- und postindustrielle Arbeitswelt in der Gegenwartsliteratur« (Anm. 37), S. 650.

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rekter Rede, Nähe und Distanz changierenden Sprache Rögglas genauso wie in Schönthalers sequenzieller Erzählweise deuten sich den Lesern und Leserinnen unüberlesbar Widersprüche an. »Das Narrative heilt traditionell durch Struktur, nicht durch die Vermittlung direkter Ratschla¨ ge. Die ›Moral‹ der Erza¨ hlung liegt in der Form, nicht in der Aussage«, vermerkt Richard Sennett in seinem Bestseller Der flexible Mensch – ganz im Geiste von Adornos Kunsttheorie.83 Diese Wirkungsabsicht, die widerstandsfähigen literarischen Texte gemein zu sein scheint, ist auch in Rögglas und Schönthalers Romanen unverkennbar. Ihre eigensinnigen Texträume erfüllen die Funktion, Sand im Getriebe der blinden Betriebsamkeit zu sein.

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Nils Lehnert

»Bitte nicht so laut, bitte nicht so schnell, bitte nicht zuviel«: Frei-Zeit, Nicht(s)tun und Verweigerung bei Wilhelm Genazino

Wilhelm Genazinos Romanwerk wurde in den Nachrufen anlässlich seines Todes im Dezember 2018 (und auch davor schon) häufig etwas leichtfertig über einen Kamm geschoren und er selbst für ideengeschichtliche wie poetologische Denkfiguren in Beschlag genommen.1 Eine Zuschreibung indessen trifft nicht nur ins Herz seiner Figurenromane und Romanfiguren, sondern bildet auch einen passenden Aufhänger für die Fokussierung auf Frei-Zeit in allen Schattierungen. Es ist die Attribution Genazinos als »Apologet der Erfolgsunwilligen«.2 Denn in der Tat sind seine Hauptfiguren häufig namenlos Gescheiterte oder im Scheitern begriffen, kapitalstrukturell wenig exponiert, zurückhaltende MüßiggängerInnen,3 zudem überfordert und mit allerlei Makeln, Marotten und Merkwürdigkeiten bespickt, schließlich alles andere als Menschen der Tat. Allerdings auch, bezogen auf die Agency, selbstgewählt erfolglos, selbstgewählt taten- und talentlos! Diese Widerständigkeit, die sich gegen Konsumkapitalismus und Erlebnisgesellschaft wendet, führt dazu, dass sich Genazinos Romane wie Fallstudien des ›Nicht(s)tuns‹4 lesen: Der ›Figurenbasistypus‹ ist ein die Grenze der Vorhandlungsphase selten überwindender Vermeidungs- und Verweigerungskünstler, der auch im urbanen Raum Hektik und Geschäftigkeit sprichwörtlich aus dem Weg zu gehen weiß. Um den als ›zu hart‹ empfundenen Umständen – sei es der ermüdende Büroalltag, Beziehungszumutungen oder als überfordernd wahrgenommene All1 Vgl. Nils Lehnert, »Wilhelm Genazino, seine Figurenromane und Romanfiguren: Ein Nachruf als wissenschaftliche Nachlese«, in: literaturkritik.de (12/2018): 162–172. 2 Helmut Böttiger und Gisa Funck, »Zum Tod von Wilhelm Genazino: Apologet der Erfolgsunwilligen«, in: Deutschlandfunk, 14. Dezember 2018, https://www.deutschlandfunk.de/zum -tod-von-wilhelm-genazino-apologet-der-erfolgsunwilligen.700.de.html?dram:article_id=436 029. 3 Vgl. dazu den Sammelband Ökonomie des Glücks: Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur, hg. von Mirko Gemmel und Claudia Löschner, Berlin: Rippberger & Kremers 2014. 4 Vgl. Leonhard Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns: Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, München: Fink 2008.

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täglichkeiten – Lebensqualität abzutrotzen, wird etwa der ›gedehnte‹ Blick kultiviert, der die ›Probleme‹ an Beobachtungen knüpft und mit dem Verschwinden Letzterer auch Erstere aufzulösen sucht. Zudem finden sich Handlungsroutinen wie Lügen, Schweigen und kommunikativer Ungehorsam, die allesamt die Absicht eint, aus der Verantwortlichkeit ›auszusteigen‹ und Selbstschutz zu betreiben. In diesem Distrikt finden sich Fluchten und Verstecke als Strategien, um den Anforderungen einer (post-)modernen Leistungsgesellschaft und dem Turboindividualismus, welche als Ausweis von (empfundener) Un-Freiheit inszeniert werden, zu entkommen. Zusätzlich ist das Figurenensemble aufgrund seiner ›Frühvergreisung‹ auch insofern aus der Zeit gefallen, als es gar nicht explizit aus der Gesellschaft aussteigen muss, sondern von vornherein nicht in die jeweils fiktionalisierte Gegenwart zu passen scheint. Zur Grobgliederung dieser vielfältigen Bezugspunkte zwischen Genazinos Roman-Œuvre und der Doppelbedeutung von Frei-Zeit – Zeit des (Un-)FreiSeins vs. Freizeitgestaltung – bietet sich der folgende Vierschritt an: Zunächst (I) muss ein kurzer Parforceritt durch die Poetik der Langsamkeit bzw. Entschleunigung die narrative Modellierung von (Frei-)Zeit mit Vorliebe für Pausen und das Vage, die Wahrnehmungsreflexionen im ›gedehnten Blick‹, die Zeit- und Geschichtslosigkeit der Diegese etc. beleuchten, bevor die Ex-negativo-Freiheit in den Blick rückt (II). Hier haben die geballten Zumutungen an das (post-)modern zerstückelte, erschütterte, unrettbare Individuum ihren Platz: kulturelle, soziale, emotionale Unfreiheiten. In einem dritten Abschnitt (III) werden die durchaus von Resilienz zeugenden, mitunter auch subversiven Besänftigungsstrategien gegen die Übermacht von außen skizziert, um schließlich (IV) auf Vorbehalte gegen eine kulturindustriell verderbte und Empfehlungen für eine im wahrsten Wortsinn angemessene Freizeitgestaltung einzugehen, wie sie Wilhelm Genazinos Figuren gutheißen würden: viel Ernst, wenig »PARTYMEILE« (s. u.). Der Beitrag analysiert anhand ausgewählter Romanfiguren Wilhelm Genazinos5 deren Persönlichkeitsfacetten und Handlungsstrategien, die sich letztlich als Selbstsicherungsmechanismus im »Trainingscamp der Postmoderne« (Lantermann), als Aufbegehren gegen Konsumterror und Erlebnisdiktat beschreiben lassen.

5 Vgl. für grundlegende Charaktereigenschaften, Einstellungen und Weltanschauungen Genazinos Romanfiguren betreffend auch die Dissertation des Verfassers: Wilhelm Genazinos Romanfiguren: Erzähltheoretische und (literatur-)psychologische Zugriffe auf Handlungsmotivation und Eindruckssteuerung, Berlin: De Gruyter 2018, S. 189–298.

Frei-Zeit, Nicht(s)tun und Verweigerung bei Wilhelm Genazino

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Poetik der Langsamkeit und Frühvergreisung: Frei-Zeit und Zeitlosigkeit erzähltheoretisch fokussiert

Bezüglich der Dauer des Erzählens lässt sich testieren, dass das Erzähltempo schwankt: zwischen eher seltenen zeitdeckenden Szenen, sehr häufigen Dehnungen (Reflexion) bis hin zu Pausen und Ellipsen (insbesondere an Kapitelenden). Raffungen werden höchst sparsam eingesetzt, was dem Zeitempfinden eine mitunter zähe Langsamkeit verleiht und den typischen »Genazino-Sound«6 bedingt. Dadurch werden aber eine ungeheure Präzision, die Suggestion der Eigenständigkeit des Augenblicks und eine Wichtigkeit unwichtig scheinender Momente ermöglicht. Innerhalb mitunter viele Druckseiten einnehmender Pausen in der erzählten Zeit – wenn also das Erzählen weitergeht, während die Handlung stillsteht7 – handelt es sich weniger darum, »eine signifikante Dehnung der Dauer von Vorgängen in der äußeren Welt in der Regel durch Einschübe« zu realisieren,8 wie es ein Definiens für zeitdehnendes Erzählen besagt, als vielmehr um die Grundfaktur vieler Romane. In Ein Regenschirm für diesen Tag (2001) etwa wird dem Fakt Rechnung getragen, dass es um die Figur und deren Innenleben geht, ›Tempo‹ mithin eine untergeordnete Rolle spielt: Altmodisch gekonnt porträtiert Genazino diese skurrile Existenz. Leise ironisch, ohne Larmoyanz, ohne Angst, altmodische Gefühle wie Melancholie zu beschreiben, ohne Angst vor der Langsamkeit, vor der Langeweile. Mit Action, mit Tempo hat dieser brillante Erzähler nichts am Schuh. Dass sich dieses stille Buch viel verkauft, gehört zu den kleinen Wundern des lauten Marktes.9

»Bis zu einem Extremwert wird das Erzähltempo […] verringert«,10 was man auch inhaltsanalytisch untermauern kann, sind doch bei Genazino gleich mehrere ›entschleunigende‹ Erzähltechniken zu beobachten. Viele Romane zeichnet eine fast extreme Handlungs- und Ortswechselarmut aus – für Falsche Jahre (1979) könnte man beinahe von einer ›Einheit des Ortes‹ sprechen –, und auch die konkretisierende Deixis findet sich nur vereinzelt.11 Global betrachtet sind Genazinos Romane nicht nur »still«, sondern eben auch ›langsam‹. Besonders zu 6 Susanne Kunckel, »›Ich bin ein humoristischer Leisetreter‹: Besuch beim Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino«, in: Welt am Sonntag, 17. Oktober 2004, https://www.welt.de/print-wams /article116799/Ich-bin-ein-humoristischer-Leisetreter.html. 7 Vgl. Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 7. Aufl., München: C. H. Beck 2007, S. 42–44. 8 Ebd., S. 44 [eigene Hervorhebung]. 9 Anita Pollak, »Müßiggang ist aller Tugend Anfang: Wilhelm Genazino [,] Ein Regenschirm für diesen Tag. Eine diskrete Sensation«, in: Wiener Kurier, 29. September 2001, S. 30. 10 Matías Martínez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie (Anm. 7), S. 44. 11 Vgl. Jost Schneider, Einführung in die Roman-Analyse, 3., aktualisierte Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 36.

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Romanbeginn finden sich ›selbstvergessene‹ Parataxen. Eine Betrachtung der Kompositionsstruktur lässt in Einklang mit diesem Befund in den Fokus treten, dass bei Genazino im Allgemeinen die Deskriptions- und Reflexionssequenzen massiv die Dialog- und Aktionssequenzen überlagern:12 Zwei Schüler stehen vor einer Litfaß-Säule und spucken auf ein Plakat. Dann lachen sie über die Spucke, die die Litfaß-Säule herunterrinnt [Deskription; N. L.]. Ich gehe ein wenig schneller [Aktion; N. L.]; früher war ich solchen Vorkommnissen gegenüber viel duldsamer [Deskription und Reflexion; N.L.]. Ich bedaure, daß ich neuerdings so schnell abgestoßen bin [Reflexion; N. L.]. Wieder fliegen ein paar Schwalben durch die Fußgänger-Unterführung. Sie stürzen die U-Bahn-Station hinab und stoßen acht oder neun Sekunden später durch den gegenüberliegenden Ausgang wieder nach oben [Deskription; N. L.]. Ich würde gerne selber die Fußgänger-Unterführung durchqueren und mich dabei seitlich von den rasenden Schwalben überholen lassen. Aber diesen Fehler darf ich nicht noch einmal machen. Vor etwa zwei Wochen […] [Deskription und Reflexion; N. L.].13

Effektiv bewegt sich der Ich-Erzähler auf den zwei hier zusammengeschnittenen Druckseiten ca. 50 Meter – man merkt schnell: »[E]s ist nicht so wichtig, was sich ereignet und was dann geschieht, aber wichtig ist, daß jemand durch die Welt geht wie ein Kind, mit den Techniken des Sehens, die ein Kind entwickelt, und sich mit diesen Techniken einen Reim auf die Welt machen möchte.«14 Hier geht es darum, wie sich was im Bewusstsein der Figur spiegelt und weitaus weniger darum, was sich in der erzählten Welt ereignet.15 Auch die Frage, wann genau sich die Diegesen situieren lassen, tritt in den Hintergrund. Am ehesten wird man Genazinos Komposition gerecht, wenn man die Zeitlosigkeit, ja die überzeitliche Gültigkeit in Anschlag bringt. Viele Erlebnisse und Reflexionen wären in den 1950ern ebenso zu erleben gewesen wie in den 2000ern: Bekannt ist, dass Genazino keinen Computer besitzt, nicht einmal eine elektrische, sondern eine mechanische Schreibmaschine benutzt. Er hat, wie er gern in Interviews erzählt, kein Handy, keinen Fernseher und kein Auto. Man mag dies als liebenswürdige Marotten eines alternden Schriftstellers abtun, doch es hat Konsequenzen für die Literatur. Gegenwärtige Realität scheint in Genazinos Romanen seltsam ausgeblendet: Da kennt ein Zeitungsredakteur weder Internet noch Laptop, und den Flaneuren gerät

12 Ebd. 13 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman, München: Hanser 2001, S. 7. 14 Christian Scholz und Wilhelm Genazino, »›Ich bringe ja auch das Bild in Schwung‹: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Wilhelm Genazino über Photographie«, in: Neue Zürcher Zeitung, 7. Mai 2001, https://www.nzz.ch/article77D96-1.494792. 15 Vgl. Anja Hirsch, »Schwebeglück der Literatur«: Der Erzähler Wilhelm Genazino, Heidelberg: Synchron 2006, S. 16f.

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nicht in den Blick, dass die Passanten auf der Straße mit Smartphones und Tablets beschäftigt sind.16

Zwar gibt es immer wieder konkrete zeitgeschichtliche Fixpunkte, die für die jeweilige situative ›Stimmung‹ eine gewisse Relevanz haben, aber es scheint fraglich, ob sie in der Lage sind, einen ganzen Roman psychosozial in diese Zeit zu versetzen. So changieren die flächendeckend ›neuen schlechten Zeiten‹, welche sich sowohl retrospektiv auf Wirtschaftskrisen als auch auf neuere Aspekte beziehen können, zwischen Vagem und Konkretem: Es gab in der Stadt immer mehr Leute, die plötzlich ohne Arbeit waren und nach einer Weile die Miete nicht mehr zahlen konnten. Jetzt waren die Mieter verschwunden, vertrieben, verstoßen oder vielleicht sogar verstorben, und die Sachen, mit denen sie gelebt hatten, verwandelten sich in diesen Minuten in Sperrmüll.17

Dieses und ähnliche Phänomene werden bei Genazino immer wieder mit der Markierung der Neuartigkeit bedacht, wobei offen bleibt, ob diese Unvermitteltheit je sozialgeschichtlich durch gesellschaftlichen Wandel verbürgt, eher der erstmaligen Aufmerksamkeit des Protagonisten geschuldet ist oder es sich eventuell gar um eine Floskel handelt, um sozialen Problemen in der Diegese mehr Gewicht zu verleihen. Unverkennbar werden in Genazinos »als Gegenwart kostümierte[n] Retro-Welt«18 sowohl die sozial meist marginalisierten Hauptwie Nebenfiguren als unfreiwillige Teilnehmer eines sozialen ›Kriegs‹, eines mehr oder minder metaphorischen ›Überlebenskampfs‹ dargestellt: Aber wer wie Theo in einem heutigen Krieg kämpft, trägt keinen Verband, sondern ein paar schmutzige, ineinandergeschobene Plastiktüten. Die heute Kämpfenden wissen nicht recht, wer oder was sie angreift und gegen wen oder was sie sich wehren müssen. Sie wissen nicht einmal genau, wann und warum ihnen der Krieg erklärt wurde. Sie gehen nur immer wieder auf ein sonderbar ruhiges Schlachtfeld, von dem sie jeden Tag ein wenig elender zurückkehren.19

Das hat wiederum durchaus Auswirkungen auf das Selbstkonzept, welches Genazino in seinen Romanen verhandelt, denn es handelt sich um gebeutelte Individuen, um unfreie, mit mannigfachen Spleens ausgestattete, desorientiere und haltlose, depressive, frustrierte und zwischen Aktionismus und Stagnation verhedderte AntiheldInnen, die an den Unzumutbarkeiten zu zerbrechen drohen.

16 Thomas Reschke, »Wilhelm Genazino: Essay«, in: Munzinger Online/KLG, 1. Juni 2008, https://www.munzinger.de/search/klg/Wilhelm+Genazino/176.html. 17 Wilhelm Genazino, Die Kassiererinnen: Roman, Reinbek: Rowohlt 1998, S. 113. 18 Richard Kämmerlings, »Genazino gilt als bedeutender Autor: Warum nur?«, in: Welt.de, 26. Juli 2011, https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article13507983/Genazino-gilt-alsbedeutender-Autor-Warum-nur.html. 19 Wilhelm Genazino, Die Liebe zur Einfalt: Roman, Reinbek: Rowohlt 1990, S. 153.

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Un-Frei-Sein: Die Zeit der Überforderten

Genazinos Romanfiguren sind vielschichtig angelegt, aber literarhistorisch besehen definitiv typische »Mißvergnügte« und »Sonderling[e]«. Denn sie kennzeichnet eine »Unzufriedenheit nicht nur mit den Verhältnissen, sondern mit dem Leben überhaupt«,20 Melancholie, ein vom Durchschnittlichen abweichendes Verhalten, eine partielle Unangepaßtheit und ein Eigenbrötlertum […], das ihnen ein hilflos-rührendes bis lächerliches Ansehen verleiht. Sonderlinge gehen bestimmten, nicht allgemein verbreiteten Neigungen nach, leben nach Ideen, die nicht oder nicht mehr die der Allgemeinheit sind, fühlen sich von Abneigungen oder Ängsten ergriffen, die andere Menschen zu überwinden vermögen, setzen sich, ohne aggressiv zu werden, über die Gesellschaft und ihre Maßstäbe hinweg und sehen ihre Selbstverwirklichung in anderen Lebensformen als den üblichen.21

Für Genazinos Figuren lässt sich konstatieren, dass sie »ihren einzelgängerischen Neigungen und ziellosen Träumen nachgehen, um sich einer an Tüchtigkeit und Leistung orientierten Welt zu entziehen.«22 Versagensängste, Hypochondrie und eine fast zwanghafte Beobachtung des eigenen Ichs und der Umwelt charakterisieren diese Figuren ebenso wie Melancholie und Langeweile. Beides kann erneut gesellschaftskritisch (als Entfremdungserscheinung einer irrwitzigen, ökonomisch grundierten Leistungsgesellschaft) wie als Ausdruck individueller Krisen gewertet werden: als Spätfolgen einer problematischen Kindheit, Krise der Lebensmitte, Alterungsprozesse oder Vorbote des Todes.23

Außerdem fühlen sie sich in der motivationalen Bewusstseinslage wohler als in der Handlung selbst: Jene »ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass verschiedene Handlungsalternativen miteinander verglichen werden, und zwar insbesondere hinsichtlich der jeweiligen subjektiven Werte und der subjektiven Wahrscheinlichkeiten, dieses Ziel auch tatsächlich zu erreichen.«24 Das kann bei Genazino so weit gehen, dass die Figuren beim lustvollen Nebeneinander von etlichen Varianten verharren und erst gar nicht in die nächste Handlungsphase eintreten, was sich sinnfällig in Honolds Beitragstitel spiegelt: »Unentschieden-

20 Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 5., überabeitete und ergänzte Aufl., Stuttgart: Kröner 1999, s.v. ›Der Mißvergnügte‹, S. 353–550, hier S. 533. 21 Ebd., s.v. ›Sonderling‹, S. 643–656, hier S. 643. 22 Ebd., S. 656. 23 Andrea Bartl und Friedhelm Marx, »Wiederholte ›Verstehensanfänge‹: Das literarische Werk Wilhelm Genazinos«, in: Verstehensanfänge: Das literarische Werk Wilhelm Genazinos, hg. von dens., Göttingen: Wallstein 2011, S. 7–20, hier S. 12. 24 Udo Rudolph unter Mitarbeit von André Körner, Motivationspsychologie kompakt, 2., vollständig überarbeitete Aufl., Weinheim: Beltz 2009, S. 162.

Frei-Zeit, Nicht(s)tun und Verweigerung bei Wilhelm Genazino

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heit als erzählte Lebensform«.25 Genazinos Figuren ist es mithin qua Anlage nicht vergönnt, Entscheidungsfreudigkeit an den Tag zu legen, Zögern und Zaudern sind eher ihre Sache: Soll ich zu ihr hingehen und sagen: Sie haben ein Kaugummi verloren? Vielleicht würde es genügen, wenn ich sagte: Ihnen ist etwas heruntergefallen. Oder einfach: Sie haben etwas verloren. Zur Verdeutlichung (und weil ich das Wort Kaugummi nicht aussprechen mag) könnte ich mit dem Zeigefinger auf den am Boden liegenden Gegenstand deuten. Allerdings wäre (ist) mir das Deuten mit dem Finger peinlich. Es ist schrecklich […]. Vermutlich will die Frau gar nicht auf den Verlust hingewiesen werden.26

Wird hier der Konflikt zwar durch Komik beigelegt bzw. durch eine Selbstrechtfertigung umgedeutet, so ist die ›Entscheidungsfeindlichkeit‹ des Basistypus immer wieder Gegenstand der Reflexion. Fuest spürt in seiner Poetik des Nicht(s)tuns den – so der Untertitel – Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800 nach und systematisiert in seiner Einleitung die durch die Klammer des Haupttitels angelegte Doppeldeutigkeit wie folgt: Zunächst also NICHTSTUN als gleichsam passivischer Begriff, der auch übersetzbar und jedenfalls erläuterbar ist über den Begriff der PASSIVITÄT und in jedem Fall Schnittmengen mit dem Begriff der FAULHEIT oder auch der TRÄGHEIT aufweist. Es geht also hier buchstäblich um ein Überhaupt-Nichts-Tun. Kein Tun, vor oder nach allem Tun passiv verharren und natürlich nicht arbeiten. […] Das NICHTTUN ist gewissermaßen der lebendigere, aktivischere, offenere und weniger extreme Begriff. Er erlaubt bzw. erfordert die jeweilige Spezifizierung eines Objekts der Negation durch das Nicht: Beim Nicht-tun wird irgendetwas nicht getan, das nicht immer nichts ist. Gut zu übersetzen oder doch zu verschränken ist dieser Begriff mit der VERWEIGERUNG. Der Sprechakt »Ich tue dieses oder jenes nicht« dürfte den gleichen perlokutionären Effekt haben wie »Ich weigere mich, dieses oder jenes zu tun«. Spezifiziert man das Objekt dieser aktiven Verweigerung dahingehend, daß man nicht mehr nur von einem Tun spricht, sondern einem geregelten und vielleicht erforderten Tun, nämlich der Arbeit, dann hat man es eben mit der Arbeitsverweigerung zu tun, die in gewisser Weise auch als MÜSSIGGANG aufzufassen ist. Der Müßiggänger ist ein NichtArbeiter, aber kein Nichtstuer, denn er tut ja noch etwas. Vielleicht ist es mehr als ein Wortwitz, wenn man sagt: Schließlich geht er ( jedenfalls bleibt er beweglich).27

Alle Dimensionen spielen für den Genazino’schen Basistypus eine entscheidende Rolle,28 so wie auch die Majuskelschrift schablonenhaft Stücke aus dem Figurenensemble auszustechen vermag: Nicht nur Flanerie, auch Passivität, Verwei25 Vgl. Alexander Honold, »Doppelleben, halbbitter: Unentschiedenheit als erzählte Lebensform bei Wilhelm Genazino«, in: Verstehensanfänge: Das literarische Werk Wilhelm Genazinos (Anm. 23), S. 33–56. 26 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 13. 27 Leonhard Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns (Anm. 4), S. 14. 28 Vgl. Otto A. Böhmer, »Die Süße des Nichtstuns: Wilhelm Genazino feiert wieder die Lebensuntüchtigkeit«, in: Die Zeit, 23. April 2009, https://www.zeit.de/2009/18/L-Genazino.

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gerung, Trägheit und Müßiggang sind im wörtlichen oder übertragenen Sinn – und zwar zu Recht – auf seine Figuren projiziert worden. So ist spätestens für die Figuren der 1980er Jahre die Notwendigkeit von Lohn und Broterwerb weit in den Hintergrund gerückt.29 Trotzdem weisen sie motivische Verbindungen zur traditionellen Psychologie des Flaneurs auf: Einsamkeit, Melancholie, Absage an die Ideale der Arbeit und Zweckrationalität, und dann die Haltung des Zögerns und Zauderns. Einen sanften Nicht(s)tuer könnte man den IchErzähler nennen.30

Während geschichtlich immer wieder auftretende externe Sanktionsinstanzen (Religion, Politik etc.) das ›Zögern und Zaudern‹ als lebenswichtig erscheinen ließen, lässt sich für Genazinos Romanfiguren der individuelle Verzicht auf Äußerungen oder Handlungsweisen ›aus freien Stücken‹ anführen. Laut Hirsch ist zu beobachten, dass in der Prosa Genazinos die Ich-Erzähler selbst meistens ihre stärksten Kritiker sind: Die Trägheit ihrer Handlungen, ihre allgemeine Unentschlossenheit, hängt oftmals zusammen mit der Ausbildung eines starken Über-Ichs. Weniger die soziale Angst vor äußeren Autoritäten als die Gewissensangst prägt also Rede und Akte jener Reihe von Hauptfiguren [.]31

29 Vgl. Florian Öchsner, »Subjekte der Arbeit in der Gegenwartsliteratur: Enno Stahls Diese Seelen und Wilhelm Genazinos Das Glück in glücksfernen Zeiten«, in: Repräsentationen von Arbeit: Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen, hg. von Susanne Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten [u. a.], Bielefeld: transcript 2013, S. 347–364. In der Regel handelt es sich um Angestellte, später auch um Selbstständige, deren Ansehen im jeweiligen Mikrokosmos tadellos sein mag – und meist auch ist –, indessen wenig Strahlkraft darüber hinaus entwickelt. Der Regenschirm-Ich-Erzähler problematisiert den Zusammenhang von inkorporiertem kulturellem und symbolischem Kapital drastisch: »Meiner Bildung nach könnte ich bedeutend sein, meiner Stellung nach nicht. Wirklich bedeutend sind nur Personen, die ihr individuelles Wissen und ihre Position im Leben haben miteinander verschmelzen können. Außenstehende Leute wie ich, die nur gebildet sind, sind nichts weiter als moderne Bettler, denen niemand sagt, wo sie sich verstecken sollen.« (Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman [Anm. 13], S. 76.) Im Textverlauf wird er arbeitslos werden. (Vgl. zum Komplex von Erwerbslosigkeit, Kapitalismus(kritik) und Individualität Melanie Fischer, »›Schläft ein Lied in allen Dingen‹ – Wilhelm Genazinos Prosa im Kontext des literarischen Ding-Diskurses«, in: Wilhelm Genazino: Begleitheft zur Ausstellung 11. Januar–25. Februar 2006, hg. von Winfried Giesen, Frankfurt: Universitätsbibliothek J. C. Senckenberg 2006, S. 9–18, hier S. 14–17.) Dieses Schicksal teilt er mit der Hauptfigur des Romans Außer uns spricht niemand über uns (2016): »Ich war schon öfter arbeitslos, aber ich nannte mich nicht arbeitslos. Meine Sprachregelung lautete: Ich bin gerade ohne Engagement. Wenn ich diesen Satz gesagt hatte, musste niemand über meine Lage erschrecken, auch ich selbst nicht. Der Kontakt zur Behörde musste deswegen vermieden werden, weil das Arbeitsamt dann mit einer Umschulung drohen würde.« (Wilhelm Genazino, Außer uns spricht niemand über uns: Roman, München: Hanser 2016, S. 90.) 30 Leonhard Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns: Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800 (Anm. 4), S. 165. 31 Anja Hirsch, »Schwebeglück der Literatur«: Der Erzähler Wilhelm Genazino (Anm. 15), S. 90f.

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Man könnte es programmatische Unentschiedenheit nennen, die sich aus einer externen Perspektive zum poetologischen Prinzip ausbauen lässt: Die Figuren dürfen sich nicht entscheiden, weil dadurch erst mangelnde Selbstwirksamkeit, Folgenlosigkeit, Stillstand, Lethargie etc. resultieren können, die für Genazinos Figurenzeichnung wichtige Funktionen übernehmen. Namentlich dann, wenn es um derart profane Dinge geht wie das Aufheben eines Geldstücks oder das Stutzen der Nasenhaare, kann das Nicht(s)tun der Figuren auch den Leser strapazieren. Die Handlungsarmut wird sowohl vom Feuilleton gegen Genazino als auch von den Neben- gegen die Hauptfiguren als Vorwurf gewendet. Genauso in Verruf wie eine Absage an objektiv einsichtige Erfordernisse sowie Feigheit und/oder mangelndes Selbstbewusstsein ist im Auge des Betrachters unnötige Prokrastination. Denn Verstöße gegen die ›preußischen Tugenden‹ wiegen schwer im vermeintlich dem freien Willen unterworfenen Sektor der Notwendigkeiten. Damit geht auch eine bürgerliche Abneigung gegen das Lustprinzip einher: Wer sich sofort und auf dem Weg des geringsten Widerstands Befriedigung verschafft, gilt als faul, nutzlos und willensschwach:32 Ich litt an der zärtlichen Krankheit des Innehaltens, über die ich praktisch mit niemandem sprechen konnte, mit Sonja schon gar nicht. […] Mein Innehalten bestand im Wesentlichen darin, dass ich irgendwo stehenblieb und etwas Nichtiges so lange betrachtete, bis es sich in meiner Betrachtung nahezu aufgelöst hatte.33

Als »zärtlich« klassifiziert er seine »Krankheit«, die ihn faktisch permanent im Alltag lähmt; auch ein entstehungsgeschichtlich junger Spross des Figurenfamilie bekennt: »Auf dem Weg zum Supermarkt litt ich unter meiner Angewohnheit, dass ich notwendige Erledigungen zu oft und zu lange hinausschob. Mit diesen Aufschiebungen hing es zusammen, dass aus meinem Leben mehr und mehr ein vertagtes Leben wurde.«34 Das Nicht(s)tun überschreitet ohne viel Aufhebens die Grenze von der Faulheit zur (pathologischen) Antriebslosigkeit. Kleinste Vorhaben können aus Energieverlustgründen nicht mehr ausgeführt werden. Allein das Ausmaß des Gedankenraums, welchselben die zögerlichen Handlungsintentionen einnehmen, spricht dafür, von psychisch problematisch gestalteten Figuren zu sprechen: Sie leiden an Traumata der Kindheit, der Bürotristesse und als Zumutung empfundenen sozialen Kontakten wie Lebenssituationen etc. Jedenfalls sind sie und fühlen sie sich permanent überfordert. Ein vordergründiger Faktor ist es, der dem Genazino’schen Basistypus zu »seinem Glück einzig fehlt: die Souveränität der vollkommenen Lösung vom

32 Vgl. Ökonomie des Glücks: Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur (Anm. 3). 33 Wilhelm Genazino, Bei Regen im Saal: Roman, München: Hanser 2014, S. 50. 34 Wilhelm Genazino, Außer uns spricht niemand über uns: Roman (Anm. 29), S. 104.

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Beifall.«35 In nuce findet sich hier die Absage an die öffentliche Selbstaufmerksamkeit in einem einzigen Satz – üblicherweise Lebensaufgabe für viele Figuren Genazinos. Aber es ist auch die »[s]ubjektive Einschätzung einer Person, Ereignisse beeinflussen und ihren Ausgang verändern zu können«,36 die dem Basistypus häufig abgeht. Diese mangelnde Kontrollüberzeugung respektive Selbstwirksamkeit verbalisiert auch der Ich-Erzähler aus Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (2003): »Obwohl er mich de facto wie seinen Diener behandelte, sagte er gerne: Herr Weigand, würden Sie bitte so freundlich sein…«37 Er thematisiert damit das verlogene Gebaren eines eigentlich die Selbstwirksamkeit untergrabenden Abhängigkeitsverhältnisses, das dem Individuum schlicht keine Kontrollüberzeugung angedeihen lässt. Addiert man diese problematischen Bestandsaufnahmen, nimmt es nicht wunder, dass sowohl der Neurosenwert hoch ist als auch die Offenheit für neue Erfahrungen mangelt: »In der Langsamkeit verarbeite ich, daß ich wenig verstehe und nicht viel Neues kennenlernen möchte.«38 Zentral ist dabei, dass die Figuren äußerst wendig in ihren Reflexionen sind, doch ihre Innenwelten für sie »im Kern unverständlich, obwohl jedem Menschen sofort einleuchtend« bleiben, wie es in Das Glück in glücksfernen Zeiten (2009) heißt.39 Dass sich die Figuren permanent unfrei fühlen, liegt zu einem beträchtlichen Teil auch an deren Empfindsamkeit bzw. Überempfindlichkeit.40 Der Ich-Erzähler aus dem Roman Ein Regenschirm für diesen Tag etwa fragt sich diesbezüglich, »ob ich selbst winterhart bin. Ich bin es nicht, im Gegenteil, zur Winterhärte hat mir immer viel gefehlt, ich bin ja nicht einmal sommerhart!«41 Allerdings wird die Grenze von der Empfindsamkeit zum (neurotischen) Überempfindlichen regelmäßig überschritten: »Als Todesursache würde er in den Totenschein eintragen: Überempfindlichkeit.«42 Oder: In diesen Sekunden war ich so überempfindlich, dass ich fürchtete, bei der nächsten Berührung mit der sogenannten Realität in meine Einzelteile auseinanderzufallen. Ich

35 Wilhelm Genazino, Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz: Roman, Reinbek: Rowohlt 1989, S. 57. 36 Susanne Jurkowski, Soziale Kompetenzen und Lernerfolg beim kooperativen Lernen, Kassel: Kassel University Press 2011, S. 14. 37 Wilhelm Genazino, Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman, München: Hanser 2003, S. 36. 38 Wilhelm Genazino, Das Glück in glücksfernen Zeiten: Roman, München: Hanser 2009, S. 73. 39 Ebd., S. 41. 40 Vgl. Jan Wiele, »Der Überempfindliche hat keine Wahl: Der Künstler als empfindsamer Vorturner des Scheiterns«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Juni 2014, S. 12. 41 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 77. 42 Wilhelm Genazino, Das Glück in glücksfernen Zeiten: Roman (Anm. 38), S. 95.

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überlegte, dass es das Beste sei, mich in meiner Wohnung zu verschanzen und diese nur noch in Härtefällen (arbeiten und einkaufen) zu verlassen.43

Psychische Verwandte sind Überforderung und Stress, insbesondere im Kleid der Geräuschempfindlichkeit und der dazugehörigen Ruhebedürftigkeit. ›Lärm‹ vs. ›Stille‹ werden bei Genazino immer wieder durchdekliniert. Dabei sind die Grenzen zur allgemeinen Ablehnung bestimmter Facetten der Außenwelt, zu Modernitätsverweigerung und ›Frühvergreisung‹ als »Fortschrittsrevisionist und Besinnungskonservativer«44 fließend: »Es gibt zuviel Lärm, sogar hier. […] Immer wieder fahren Taxis vor und laden Betrunkene aus. Schrille Frauen kommen zurück und reden so laut«.45 Diese Überzeugung ist in Genazinos Werken familienähnlich konsensfähig: »Wieder habe ich das Gefühl, daß sich fast alle Menschen leicht an neue Geräusche gewöhnen, nur ich bleibe mit meinen Anpassungsleistungen zurück.«46 Auch Rotmund aus Mittelmäßiges Heimweh (2007) bekräftigt: Durch meine Geräuschempfindlichkeit lebe ich in einer Art Dauerlärmangst. Früher waren Samstage und Sonntage ruhige Tage. Die Autos blieben zwei Tage am Straßenrand stehen, umhergrölende Fußballfans gab es noch nicht, offene Fenster mit dröhnender Popmusik auch nicht. […] Mann + Motor = Lärm.47

Aber nicht nur die Unruhe des Geräuschpegels, sondern auch die Unruhe selbst ist ein für die Figuren wichtiger Punkt, der zu Unfreiheit führt und sich am Eigenschaftskomplex von ›Unentschlossenheit‹, ›Unstetigkeit‹, ›Rastlosigkeit‹ und ›Stimmungsschwankungen‹ festmachen lässt:48 »Ich verhülle, oft mit erheblicher Anstrengung, daß ich es nirgendwo lange aushalte. Kaum bin ich im Büro, will ich wieder nach draußen. Bin ich endlich draußen, will ich zurück in einen geschlossenen Raum.«49 Dieses Getriebensein, dieser ungerichtete Aktionismus und die parallele Unzufriedenheit darüber lassen sich dem Basistypus flächendeckend attestieren. Warlich aus Das Gück in glücksfernen Zeiten (2009) erkennt: »(Dieser überraschende Wechsel der Stimmungen ist ein wichtiger Teil der Fremdkompliziertheit.)«50 43 Wilhelm Genazino, Wenn wir Tiere wären: Roman, München: Hanser 2011, S. 155. Vgl. zu »[p]sychosozialen Probleme[n] der Freizeit« wie Vereinsamung in der Wohnung etc. Horst W. Opaschowski, Einführung in die Freizeitwissenschaft, 5. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 208ff. 44 Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit: Roman, München: Hanser 2005, S. 25. 45 Wilhelm Genazino, Das Licht brennt ein Loch in den Tag, Reinbek: Rowohlt 1996, S. 52. 46 Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit: Roman (Anm. 44), S. 61. 47 Wilhelm Genazino, Mittelmäßiges Heimweh: Roman, München: Hanser 2007, S. 119. 48 Vgl. Anja Hirsch, »Geheimgeschichten. Die (Ent)deckung der Scham«, in: Wilhelm Genazino: Begleitheft zur Ausstellung 11. Januar–25. Februar 2006 (Anm. 29), S. 61–69, hier S. 66. 49 Wilhelm Genazino, Das Glück in glücksfernen Zeiten: Roman (Anm. 38), S. 112. 50 Ebd., S. 156.

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Mit Kompliziertheit ist ein weiterer Kern von Genazinos Figuren angesprochen: »Eines meiner innerlichsten Probleme ist, daß ich nicht mehr mit der Kompliziertheit des Lebens in Berührung kommen will. Erst vor ein paar Tagen habe ich mir vorgenommen, meinen Alltag so einzurichten, daß ich nur einfache Verhältnisse mit einfachen Personen darin vorfinde.«51 Aus Scheu vor emotionalen wie sozialen Labyrinthen vermuten die Figuren aber immer wieder, dass sie ihre Verquastheiten »von einem Unbekannten übernommen haben. Es handelt sich um eine Fremdkompliziertheit, wenn es so etwas gibt.«52 Damit rückt der Distinktionswunsch gegenüber einer unfrei machenden Gesellschaft in den Blick. Samuel Moser erhebt die »Aspekte der Individuation bei Genazino« zu seinem Gegenstand: Genazinos Philosophie des »Abstands« […] besagt, dass sich das Subjekt nur in der Differenz zum Andern bilden kann: »Individualität gewinnen wir nur in der Abweichung.« […] Mit Vehemenz wehrt er sich gegen Habermas’ Forderung, Anderssein bedürfe der Akzeptanz durch die andern […]. Darin sieht die Lehrerin in der Obdachlosigkeit der Fische [1994] den Horror der »Vergesellschaftung« […]. Genazino ist gar noch provokativer: Er meint mit Differenz nicht einmal Konfrontation. Seine Figuren sind keine Kämpfer des Entweder-Oder: Gesellschaft oder Individuum […]. Es geht ihnen um die »Erfindung« ihres Lebens in der Mitte der Gesellschaft, die sie entweder zu zerdrücken oder an den Rand zu schleudern droht. […] Dafür brauchen sie Fluchträume, Ausweichstellen, Täuschungsmöglichkeiten und Tricks wie die »Nebenbeschäftigungen« […], zu denen die Lehrerin greift. Genazino nennt sie die »interessanten Manöver«, mit denen sich das Ich konstituiert […]. Während alle »an der Erfindung des Gefühls« arbeiten, »zur Welt zu gehören« […], arbeitet er deshalb in die Gegenrichtung: an seiner Nichtzugehörigkeit.53

Der Protagonist aus Ein Regenschirm für diesen Tag erträumt sich gar den radikalen Ausstieg aus der Gesellschaft und den (dauerhaften) Eintritt in die Welt der »Verwirrten, Halbverrückten und Durchgedrehten«: Ich stelle mir dann vor, daß ich bald zu ihnen gehören werde. Dann werde ich davon befreit sein, mir einen endgültigen und sicheren Beruf suchen und mein Leben so gestalten zu müssen, daß es zu diesem endgültigen und sicheren Beruf paßt. Und ich werde, wenn ich erst selber verwirrt bin, endlich die Kraft haben, alles niederzuhauen und totzumachen, was nicht in dieses endlich gefundene Leben paßt.54

Zwar sind Wilhelm Genazinos Romanfiguren nicht für ihre großen Worte und Taten bekannt, und selbst proaktiv »alles niederzuhauen und totzumachen« – frei nach dem Motto: ›Mach kaputt, was dich kaputt macht‹ –, ist ihre Sache nicht. 51 Wilhelm Genazino, Mittelmäßiges Heimweh: Roman (Anm. 47), S. 10. 52 Wilhelm Genazino, Das Glück in glücksfernen Zeiten: Roman (Anm. 38), S. 156. 53 Samuel Moser, »Isola Insula: Aspekte der Individuation bei Wilhelm Genazino«, in: Wilhelm Genazino, hg. von Heinz L. Arnold, München: edition text+kritik 2004, S. 36–45, hier S. 42f. 54 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 62f.

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Auch »starre Ordnungen infrage zu stellen und normative Grenzziehungen zu irritieren, zu verschieben und zu überschreiten«,55 gelingt ihnen nur bedingt – aber durch verschiedene Besänftigungsstrategien zu reüssieren, um sich selbst Frei-Zeiten und -Räume im Sinn einer Zeit der Freiheit zu verschaffen, sehr wohl.

III

»Schule der Besänftigung«: Verweigerung zum Selbstschutz

Aufgrund des Leidensdrucks entwickeln die Protagonisten vielfältige Besänftigungsstrategien bzw. Lösungsansätze, mittels derer sie sich etwa aus den Fängen des manischen Beobachtens zu befreien suchen: »Ich möchte einmal aufhören dürfen, über mein Leben nachzudenken. Aber offenbar ist das niemandem erlaubt«56 – weil wir »überforderte Bildmaschinen sind, die von ihrer eigenen Produktion paralysiert werden.«57 Seit Genazinos Erstling hat dieses Prinzip Bestand. Der Schuhtester aus Ein Regenschirm für diesen Tag ärgert sich: »Guter Gott, wie mir dieser Zwang zum bedeutungsvollen Sehen auf die Nerven geht.«58 Das Vorhandensein von viel (freier) Zeit ist sowohl für den Leidensdruck des »bedeutungsvollen Sehen[s]« als auch für dessen Antidot, den besänftigenden ›gedehnten Blick‹ essentiell. Rotmund erkennt diesen Zusammenhang: »[U]nd ich habe wieder viel zuviel Gelegenheit, mich in die Vorgänge um mich herum zu vertiefen.«59 Genazino bemüht den Vergleich mit einem Kleinkind,60 das die Unverständlichkeit der Welt qua Auge zwar vorbewusst schon ahnt, dabei aber nicht die Resignation des Erwachsenen an den Tag legt, keine standardisierte und ökonomisierte Zeit für seine Beobachtungen veranschlagt und mithin den gedehnten Blick, der erst beginnt, nachdem es vermeintlich nichts mehr zu sehen gibt, perfektioniert hat: »Ich will nichts Bestimmtes sehen, ich will mich durch sehen beruhigen«.61 Genau genommen möchten die Protagonisten sich nicht durch Sehen beruhigen, sondern durch Schauen besänftigen: »Beobachten ist dann nicht nötig; an

55 Julian Osthues, Literatur als Palimpsest: Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2017, S. 131. 56 Wilhelm Genazino, Das Licht brennt ein Loch in den Tag (Anm. 45), S. 11. 57 Wilhelm Genazino, »Der gedehnte Blick«, in: Ders., Der gedehnte Blick, München: Hanser 2004, S. 39–61, hier S. 50. 58 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 158. Vgl. hierzu auch Esther Grundmann, »Zur Konstruktion von Mikrowelten: Genazino und die Kunst des bedeutungsvollen Sehens«, in: Psyche: Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 70 (2016): 337–350. 59 Wilhelm Genazino, Mittelmäßiges Heimweh: Roman (Anm. 47), S. 20. 60 Vgl. Wilhelm Genazino, »Der gedehnte Blick« (Anm. 57), hier S. 42–52. 61 Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit: Roman (Anm. 44), S. 112.

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seine Stelle tritt das Schauen, das nichts herausfinden muß.«62 Als Topos der Schau des Ewigen im Kontrast zu kurzlebigen (Deutungs-)Arbeitshypothesen ist diese Form der ungezwungenen ästhetischen Wahrnehmung via Auge bei Genazino nur selten zu haben und wenn, dann in Begleitung eines der vier Signalkonzepte: Tiere, Flanieren, Meer (, Sport). Besonders die omnipräsenten Flanerien dürfen als »Allheilmittel[]«63 gelten: So gehen wir eine Stunde lang im Schweigen des Meeres umher. Bei der Rückkehr in das Dorf […] setzt das andere Leben wieder ein, das Registrieren, das Aufmerken, das Beobachten, die unablässig tätige Zurechtfindungsmaschine, die beim Anblick des Meeres einmal ausfallen durfte.64

Der Flaneur flaniert, um die »Zurechtfindungsmaschine« ruhen zu lassen, allgemein Ruhe vor Gedanken und Sorgen zu finden oder auch, um sich nicht erinnern zu müssen. Die Figuren suchen dabei »ein zarteres Leben als das, was ich bisher hatte […]. Ebendiese Suche ist das Thema der Schule der Besänftigung.«65 Um im Bild zu bleiben, müssten die Unterrichtsfächer »Verborgenheit«,66 »Sehen, ohne gesehen zu werden«,67 und ›Fliehen für Fortgeschrittene‹ eingeführt werden – und das Curriculum würde die in Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz (1989) zum Zentrum der Überlegungen erhobene »Theorie der Verborgenheit« als Bezugspunkt wählen: Was wir brauchen, ist eine Theorie der Verborgenheit. Der Grundgedanke könnte sein, daß das Subjekt die Gesellschaft beobachten darf, diese aber nicht das Subjekt. Die Beteuerung, der beobachtete Bewohner sei auch der behütete Bewohner, darf als verwirkt angesehen werden. Solange es die Theorie nicht gibt, muß ich auf meine verschlissene Hose zurückgreifen. Sie hält immerhin Prospektverteiler […] fern.68

Gefordert wird hier ein ›latebraischer Imperativ‹, welcher denjenigen Schutzraum schaffen würde, den die Protagonisten stets verzweifelt suchen. Die verborgenen Lebensläufe bei Genazino sind demgemäß nicht als Manko entworfen. Vielmehr sind die Stille, die Zurückgezogenheit, die Flucht in die Unsichtbarkeit 62 Wilhelm Genazino, Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz: Roman (Anm. 35), S. 227. Vgl. auch Werner Jung, »›Umhergehen und Zeitverschwenden‹: Skizze zu einer literarischen Phänomenologie der Wahrnehmung«, in: Wilhelm Genazino (Anm. 53), S. 65–69, hier S. 66f. 63 Wilhelm Genazino, Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze: Roman, München: Hanser 2018, S. 25. 64 Wilhelm Genazino, Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz: Roman (Anm. 35), S. 177. Zum Meer als besänftigendem Trostspender vgl. auch Wilhelm Genazino, Die Obdachlosigkeit der Fische, Reinbek: Rowohlt 1994, S. 82. 65 Wilhelm Genazino, Das Glück in glücksfernen Zeiten: Roman (Anm. 38), S. 147. 66 Helmut Böttiger, »Wilhelm Genazino und die Verborgenheit der Verkäuferinnen«, in: Nach den Utopien: Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von dems., Wien: Zsolnay 2004, S. 55–67. 67 Michael Bauer, »Sehen, ohne gesehen zu werden«, in: Süddeutsche Zeitung, 8./9. April 1989, S. XVI. 68 Wilhelm Genazino, Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz: Roman (Anm. 35), S. 189.

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Wunsch und Ziel der Protagonisten. Genau in diesen ephemeren Momenten des äußerlichen Verschmelzens mit der Umgebung, die den Figuren möglichst wenig Kontur verleiht und damit möglichst wenig Format abverlangt, sind sie bei sich: »Ich wollte […] ein weißer Schneehase sein, der am Rand eines riesigen Schneefeldes sitzt und von niemandem bemerkt wird.«69 Drei unterschiedlich weit entfernte ›Fluchtpunkte‹ lassen sich in diesem Gemälde unterscheiden: erstens tatsächliche Fluchtbemühungen, die als konkrete Reaktion auf unzumutbare Zustände und Gefahr gewertet werden können und Fight-or-flight-Mechanismen umfassen; zweitens Verstecke(n) und Verborgenheit, die nicht mehr unmittelbar mit einer Flucht in Verbindung stehen (müssen); und schließlich drittens das »Verschwinden-Wollen«70 auf höherer Ebene, das den Willen, für andere nicht sichtbar zu sein in eine Selbstauflösungssphäre transzendiert. Alle Strategien werden getriggert, wenn es den Protagonisten ›zu viel‹ ist: zu viele Menschen, zu viel Nähe, zu viele Emotionen, zu viel Smalltalk. Für die Genazino’schen Eigenbrötler und Einzelgänger ist jedenfalls »das Recht auf Flucht […] ganz und gar unantastbar.«71 Als einer der ›Meta-Gründe‹ ist die Unzufriedenheit mit »dem eingerichteten Leben« zu nennen, die sich als antibürgerlicher Reflex deuten lässt (s. u.), aber auch ganz banal auf das »Ziel« anspielt, »allen möglichen Zusammenstößen aus dem Weg zu gehen, auch wenn ich (wieder) plötzlich fliehen müsste, außer Atem wäre und meine Kleidung an mir herunterhing, als würde ich gerade (wieder) mein Fell wechseln.«72 ›Flucht‹ wird somit zur kalkulierten Vorab-Vermeidung von ›Kampf‹ stilisiert – auch Verstecke(n) und Verborgenheit übernehmen diese Funktion. Die Protagonisten sehen sich dabei vor die Herausforderung gestellt, in der Großstadt73 Verstecke zu finden, was nicht ganz einfach ist: »Natürlich war es meine Aufgabe, Herrn Schimmelpfennig aus dem Weg zu gehen. Dazu bot sich im Augenblick nur eine Fußgängerunterführung an, in die ich abtauchen wollte.«74 Mit der doppelten Wortbedeutung, nach der tatsächlich doppelbödig unter den Asphalt der Großstadt in das temporäre Versteck abgetaucht werden kann, wird eine paradigmatische Liste aufgefächert: Unterführungen, Treppen, Fahrstühle, Ge69 70 71 72 73

Wilhelm Genazino, Bei Regen im Saal: Roman (Anm. 33), S. 147. Anja Hirsch, »Schwebeglück der Literatur«: Der Erzähler Wilhelm Genazino (Anm. 15), S. 97f. Wilhelm Genazino, Leise singende Frauen: Roman, Reinbek: Rowohlt 1992, S. 168. Wilhelm Genazino, Außer uns spricht niemand über uns: Roman (Anm. 29), S. 154f. Meistens fungiert die Stadt als merkwürdigerweise positives und in ihrer undurchschaubaren Art tröstend empfundenes Gebilde im Kontrast zum Land. Vgl. zu einer Verbindung von raumtheoretischen, architektonischen und konsumkritischen Aspekten bei Genazino Heiko Neumann, »›Der letzte Strich des Flaneurs‹: Schwierige Fußgänger in Wilhelm Genazinos Romanen Ein Regenschirm für diesen Tag und Die Liebesblödigkeit«, in: Verstehensanfänge: Das literarische Werk Wilhelm Genazinos (Anm. 23), S. 149–164, hier S. 150ff. 74 Wilhelm Genazino, Die Kassiererinnen: Roman (Anm. 17), S. 48.

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büsche, Theaterfoyers. Es handelt sich um Nicht-Orte, die zwar die gesuchte Einsamkeit bestmöglich in Szene setzen, zugleich aber auch schmerzlich die Nicht-Identität bzw. Beschränkung in der Kommunikationssituation vor Augen führen.75 Raumkonzeptionsanalytisch lässt sich festhalten, dass es sich um durchweg realistische Räume handelt, die in gleichem Maße auch als konkrete zu klassifizieren sind. Auch sympathetische Hintergründe findet man im Text allerorten: Das Blätterzimmer beispielsweise (s. u.), das tief in die Psyche der Figur blicken lässt, wird stets als Locus amoenus gezeichnet; Orte mit Insignien des modernen Lebens – gerade dann, wenn es sich um Konsumgüter oder Technik handelt – und solche mit Menschenmassen erscheinen als Loci terribiles. Manche Orte weisen allerdings diesbezüglich einen ›Vorzug‹ auf: Sie ermöglichen das Verschwinden in der Menge. Bezeichnenderweise sind es Bahnhöfe, die dem Basistypus das ambivalente Gefühl ermöglichen, sich in der Gesamtheit der Anwesenden aufzulösen. Bahnhöfe befreien nicht nur vom Beobachtungszwang, sie sind auch Transit-Orte der ›absoluten Selbstwerdung‹ (durch Unbeobachtbarkeit und Entindividualisierung). Viele Hauptfiguren teilen die Familienähnlichkeit, sich »nach der Totalität eines solchen Verschwindens zu sehnen.«76 Bei konkreten Fluchten, Verborgenheit und Geborgenheit im Versteck und schließlich der eher metaphorischen ›Verschwindsucht‹ handelt es sich stets um Selbstschutz(barrieren). Genazino führt epitextuell dazu aus: Es gibt einen wunderbaren Satz von Beckett: »Die Labsal der Fluchten«. Da steckt eigentlich alles drin, und das meint eben das äußerste einer privaten Utopie, die ich gelten lasse. Eine Befreiung ist nur individuell, punktuell möglich. Meine Texte beschrieben die negativen bis positiven Fluchten.77

Nur der Unbeobachtete, besser noch: Unbeobachtbare ist ›frei‹: frei vom invasiven Blick, frei vom Rechtfertigungsdrang im Zwischenmenschlichen, frei von den ›Zumutungen‹ der Zeitläufte der Welt. Stets geht es Genazinos Figurenbasistypus darum, zusätzliche Barrieren um das eigene Selbst zu errichten, das laut Selbstaussage »halb durchsichtig, im Kern weich, äußerlich nachgiebig und übertrieben anhänglich und außerdem schweigsam«78 ist.

75 Vgl. Marc Augé, Orte und Nicht-Orte: Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt: S. Fischer 1994. 76 Wilhelm Genazino, Die Liebe zur Einfalt: Roman, Reinbek: Rowohlt 1990, S. 86. 77 Anja Hirsch und Wilhelm Genazino, »Interview am 9. Februar 1998«, in: »Schwebeglück der Literatur«: Der Erzähler Wilhelm Genazino (Anm. 15), S. 280f., hier S. 280. 78 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 44.

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Eigentlich wollte er ununterbrochen sagen: Bitte nicht so laut, bitte nicht so schnell, bitte nicht zuviel. Es waren Bitten und Eindämmungen der ganzen Welt, wie sie gewöhnlich von älteren Personen geäußert werden.79

Wilhelm Genazinos Romanfiguren sind in ihrer familienähnlichen Weichzeichnung Neurotiker, die sich durch mangelnde Sozialkompetenzen gehandicapt sehen und vollends überfordert auf hundertfache Art und Weise die Außenwelt anflehen, in Ruhe gelassen zu werden. Das äußert sich etwa in banalsten Alltagsanforderungen: »Wenigstens hat das Telefon aufgehört zu klingeln. Es war mit Sicherheit Habedank. Nur er weiß, daß jedes leere Klingeln mich piesackt.«80 In diesen Momenten wird dem Protagonisten klar, warum ich mich nach einem Blätterzimmer gesehnt habe. Es sollte wenigstens einen Raum geben auf der Welt, in dem ich nicht erschreckt werden kann. Es sollte wenigstens einen Raum geben, in dem mir nichts zu nahe tritt, in dem keine Forderungen an mich erhoben werden können. Wenn ich zwischen den Blättern umhergehe, verläßt mich sogar das Gefühl, daß ich mit etwas abrechnen müßte. Zweifellos ist das Blätterzimmer eine Erfindung meiner vielleicht listigen Seele.81

Es wäre der Gestalt gewordene Locus amoenus. Aus den misslichen Situationen des fragilen Selbst führen für Genazinos Figuren aber auch weitere Techniken hinaus, wie etwa ›Tarnen, Täuschen, Lügen‹.82 So greifen sie, um Selbstschutz(barrieren) aufzubauen, immer wieder zur mehr oder minder kleinen Lüge, u. a., um Selbst- und Idealbild einander anzugleichen: Sie hätte sich nach meinem Leben erkundigt, von dem ich nicht gerne redete. Sie kannte mich aus der Zeit, als ich promovierte, und sie hätte (genau wie ich) nur mit Staunen hingenommen, dass ich jetzt als Barkeeper arbeitete. Manchmal, wenn mir dieses Geständnis zu peinlich war, erfand ich einen Beruf oder eine Stellung, und die Sache war vergessen.83

Auch etwas nicht zu sagen, taucht bei Genazino (als Kommunikationsverweigerung) in vielen Schattierungen auf.84 Eine relevante Kategorie und Besänftigungsstrategie ist das ›Anschweigen‹. Genazinos Romanfiguren trachten dadurch die mangelnde Selbstwirksamkeit zu kompensieren; das ›Anschweigen‹ dient der Bestrafung, da vonseiten der Umwelt zuvor »eine Erwartung, ein Ver79 80 81 82

Wilhelm Genazino, Die Vernichtung der Sorgen: Roman, Reinbek: Rowohlt 1978, S. 351. Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 45. Ebd., S. 148. Vgl. Tarnen, Täuschen, Lügen: Zwischen Lust und Last, hg. von Gunther Klosinski, Tübingen: Attempto 2011. 83 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 19. 84 Zur Kommunikationsverweigerung auch jenseits von Genazinos Werken vgl. im Übrigen Nils Lehnert, »Refus aus Kalkül?! Zu Christian Krachts Fernsehauftritten«, in: Popkultur und Fernsehen: Historische und ästhetische Berührungspunkte, hg. von Stefan Greif, dems. und Anna-Carina Meywirth, Bielefeld: transcript 2015, S. 133–166.

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langen oder Begehren nach Entsprechung mitkommuniziert« wurde und »diese Entsprechung« von Genazinos Protagonisten »verweigert« wird.85 Reika Hane zitiert Judith Butlers The Psychic Life of Power, um das »machtkritische Potential von Momenten des Schweigens in der Antwort« zu eruieren.86 Genazinos Figurenbasistypus versteht sich darauf auf das Eloquenteste. Auf den Gipfel treibt es der Schuhtester, indem er Selbstwirksamkeit, Schweigelust und Strafe verflicht: Neulich hatte ich die Idee, […] einen Schweigestundenplan zu verschicken. Auf diesem Plan steht genau, wann ich reden will und wann nicht. Wer sich nicht an den Schweigestundenplan hält, wird überhaupt nicht mehr mit mir sprechen können. Für Montag und Dienstag ist/wäre DURCHGEHENDES SCHWEIGEN angeordnet. […] Nur freitags und samstags bin ich/wäre ich zu haltlosem Gerede bereit, allerdings erst ab elf Uhr. An Sonntagen besteht TOTALES SCHWEIGEN.87

Ein solchermaßen strategisch eingesetztes »[s]trafendes Schweigen« verortet Aleida Assmann in der martialischen Pädagogik des Zweiten Kaiserreichs bis in die Zeit des NS-Staates hinein […]. Gemeint ist der Entzug von Kommunikation innerhalb der Familien. Dieses Schweigen ging vom Vater aus, der dieses Mittel der Züchtigung nicht selten gegenüber seinen Kindern einsetzte. Was diese Form der Strafe besonders grausam machte, war die Tatsache, dass die davon betroffenen Kinder dieses stark moralisierende Verhalten oft nicht einordnen konnten und von allen Möglichkeiten einer adäquaten Reaktion von vornherein abgeschnitten waren. Stattdessen wurden ihnen tiefe Schuldgefühle anerzogen, die sie oft lebenslang plagten und ihnen den Zugang zu einem positiven Selbstbild versperrten.88

Wiewohl beim Schweigestundenplan eher ins Komische schillernd, finden sich auch andere elementare Grundformen der »Straflust« des Basistypus: Ich habe Lust, Frau Grünewald für ihre Anzüglichkeit zu bestrafen, aber ich weiß nicht wie. Da liefert mir meine Straflust einen passenden Einfall. Ich habe ein seltsames Gefühl, sage ich, als würde mir eine Fliege über das Kopfhaar laufen. Frau Grünewald verstummt sofort. […] Ohne ein weiteres Wort verläßt Frau Grünewald den Fahrstuhl.89

Im Gegensatz zu diesem Beispiel werden machtdemonstrative Worte erzähltechnisch häufiger durch einen Gesprächsbericht realisiert als durch die direkte oder die indirekte Rede. Resümieren lässt sich, dass der Genazino’sche Figu-

85 Reika Hane, Gewalt des Schweigens: Verletzendes Nichtsprechen bei Thomas Bernhard, Ko¯bo¯ ¯ e, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 23f. Abe, Ingeborg Bachmann und Kanzaburo¯ O 86 Ebd., S. 25. 87 Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 44. 88 Aleida Assmann, »Formen des Schweigens«, in: Schweigen, hg. von ders. und Jan Assmann, Paderborn: Fink 2013, S. 51–68, hier S. 60. 89 Wilhelm Genazino, Mittelmäßiges Heimweh: Roman (Anm. 47), S. 164.

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renbasistypus die Entwertung und Herabsetzung anderer Figuren bis zum Äußersten treibt. Auch äußerlich sichtbare Insignien bestimmter Lebensstile werden zum Ausgangspunkt, um ›Dampf abzulassen‹. Die Ressentiments gegen die ›Erlebnisgesellschaft‹ werden im folgenden Beispiel anhand von Golfspielern durchexerziert: Mit Frau Finkbeiner zusammen machte ich mich ein bißchen über die Freizeitmenschen lustig. Ich stieß mich an ihrem Drang, wie sie sich nach dem Vorbild von Großbürgern mit einem Golfschläger in der Hand […] fotografieren ließen. Ich beobachtete ihre falsch gelernte Lässigkeit, mit der sie ihre Billigschuhe auf die Ränder der Golfbahnen stellten. Und ich lachte über das peinliche Getue, mit dem sie dann an der Bar für ein paar Pfennige eine Cola bestellten. Sie fanden es überwältigend, die Imitation von Vorbildern zu sein, die niemals in ihrer Nähe auftauchen würden.90

Im Milieu des (Freizeit-)Sports finden die Figuren immer wieder Nahrung für ihren Spott, aber auch Bildungsferne wird häufiger zum Sakrileg erklärt und mit Verdikten geahndet: »Ich verurteilte im stillen die Leute ringsum, weil sie keine Bücher lasen, sondern nur Illustrierte.«91 Die Dauerberieselung mit Unterhaltungsmassenware bereits junger Menschen ist genauso unerträglich für den Basistypus. Die Figuren schwingen sich nicht nur zu Kunst-, sondern auch zu Freizeitrichtern auf: In ihren Augen ist diese nämlich genau dann vergeudet, wenn sie keine frei machende Zeit ist. Schließlich nimmt die Verweigerung auch die Form des Bartleby’schen »I would prefer not to« an – als Prokrastination: Im Kern bin ich ein Drückeberger, sagte ich; wenn es sein muss, zögere ich drei Stunden lang, um mit einer kleinen Arbeit endlich anzufangen. […] Mein ganzer Individualismus ist nur ein kindisches Versteckspiel […]. Ich zögere sogar das Scheißen hinaus, wenn ich nicht die richtige Klostimmung habe. Und wenn ich nicht telefonieren will, nehme ich den Hörer nicht ab.92

Widerständigkeit und Antibürgerlichkeit respektive Anti-Verwertungsdenken gipfeln für die ›Arbeitsweltintegrationsverweigerer‹ mit dem Hang zu »lustvoller Planlosigkeit im Tagesablauf«93 in der Absage an geregelte Tätigkeiten und in der Verteufelung einer Unterhaltungsindustrie, die die Freizeit zuzumüllen droht.

90 91 92 93

Wilhelm Genazino, Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman (Anm. 37), S. 151. Ebd., S. 86. Wilhelm Genazino, Wenn wir Tiere wären: Roman (Anm. 43), S. 91f. Tilman Spreckelsen, »Manche möchten lieber nicht: Gesellschaftliche Teilhabe und Initiation in den Romanen Wilhelm Genazinos«, in: Wilhelm Genazino (Anm. 53), S. 79–86, hier S. 81.

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IV

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Bitte lieber keine »PARTYMEILE«: Wider Erlebnisdiktat und Konsumterror

Was als Vorbehalte gegen Unterhaltungsindustrie und Konsumterror etwa in Form der Genügsamkeit eine wichtige Charaktereigenschaft der Figuren ausmacht, wird bis hin zur materiellen Askese vorgestellt: Im Supermarkt kaufte ich Zahnpasta, Schnürsenkel, Toilettenpapier, Seife, Shampoo, Rasierklingen, Filterpapier. Als ich in die Wohnung zurückkehrte, rief ich aus: Ich brauche keine Zahnpasta, keine Schnürsenkel, kein Toilettenpapier, keine Seife, kein Shampoo, keine Rasierklingen, kein Filterpapier.94

Genazinos Figuren – ob politische oder unpolitische, kapitalstrukturell95 mehr oder weniger ›bessergestellte‹ – vertreten in der Breite sozialkritische Ansichten hinsichtlich Konsum, Kapitalismus und Bürgerlichkeit: Die Motivik der Konsumkritik ist bei Genazino in praktisch jedem Text zu finden. Sie findet Ausdruck in der Solidarität mit Armen und Ausgestoßenen, in der Verhöhnung des marktwirtschaftlichen Apparates und seiner Teilnehmer und in Form der Außenperspektive, die stets Teil der Ich-Erzählernaturen ist. Sie sind entweder momentweise gar nicht Teilnehmer des Konsums oder aber sie thematisieren ihre Teilnahme am Konsum mit Distanz und Skepsis.96

Dabei verweigern sich die Figuren nicht nur bestimmten Produkten, sondern der Maschinerie des Konsumkapitalismus generell, »die jedes Problem mit einem Neukauf aus der Welt zu schaffen gewohnt ist«, wie es der Protagonist aus Bei Regen im Saal (2014) auf den Punkt bringt.97 Auch die Hauptfigur aus Die Liebesblödigkeit (2005) steht dem Konsum höchst kritisch gegenüber: Ich betrachte im Schaufenster der Badeboutique die goldglänzenden Wasserhähne, die Blumenmuster auf den zierlichen Porzellanbecken, die zitronengelben Naturschwämme und empfinde die Fremdheit zwischen den Dingen und mir. Du wünschst dir nicht genug, du kaufst nicht schnell genug und du wirfst nicht schnell genug weg! Immer wieder brechen lange Konsumstockungen in dein Leben ein und trennen dich vom Denken der Mehrheit!98

94 Wilhelm Genazino, Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze: Roman (Anm. 63), S. 40. 95 Vgl. dazu Marius Harring, Das Potenzial der Freizeit: Soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital im Kontext heterogener Freizeitwelten Jugendlicher, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. 96 Jonas Fansa, Unterwegs im Monolog: Poetologische Konzeptionen in der Prosa Wilhelm Genazinos, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 46. 97 Wilhelm Genazino, Bei Regen im Saal: Roman (Anm. 33), S. 107. 98 Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit: Roman (Anm. 44), S. 152f.

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Zwar ist das »Denken der Mehrheit« eigentlich genauso verhasst, wie es die Gesellschaft insgesamt ist, aber: »Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein.«99 Die Vorhaltungen sind dabei allerdings unverkennbar solche, die der Protagonist sich selbst anstelle ›des Systems‹ zuruft, denn »die Fremdheit zwischen den Dingen und mir« spricht eine ganz andere Sprache. Einen immer wieder angeführten Erklärungsansatz, der hinsichtlich der fast verschwörerisch anmutenden Fremdbestimmung durchaus sogar über Adorno hinausgeht, führt der Protagonist aus Mittelmäßiges Heimweh auf den Lippen: »Unsere Gegenwart ist die Wiederholung der Nachkriegssituation. Jetzt sollen wir nicht merken, daß wir uns durch unsere sinnlosen Konsum-Exzesse ein zweites Mal ruinieren.«100 Nicht nur die »Konsum-Exzesse« werden mit dem Zweiten Weltkrieg enggeführt, auch die als Bedrohung empfundene ›Erlebnisgesellschaft‹ wird mit an eine Machtergreifung erinnernder Rhetorik als Unvermeidbarkeit dargestellt: »Der neue Faschismus kommt in der Maske der permanenten Massenunterhaltung auf uns zu.«101 Genazinos Figuren misstrauen Konsumkultur und Unterhaltungsindustrie gleichermaßen und sehen dabei die Schuld an der kulturellen Dekadenz – wie es Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung ebenfalls getan haben – zunächst als von oben kommend. Mit »sollen«, »Konsum-Exzesse«, »Faschismus« und »Massenunterhaltung« durchschauen die Protagonisten aus den Romanen Mittelmäßiges Heimweh und Die Liebesblödigkeit allerdings den Mechanismus und werden selbst nicht, wie von der Frankfurter Schule befürchtet, für kritisches Denken blind. Die Verzweiflung und der Kulturpessimismus sind ihnen nichtsdestoweniger eingeschrieben: Ein Organisator ergreift ein Mikrophon und nennt das ganze Gelände die PARTYMEILE. […] Es sind vermutlich die Leute, die Frau Balkhausen das Erlebnisproletariat genannt hat. Ich schaue mir die Menschen an und schaue sie nicht an. Ich kenne sie und kenne sie nicht.102

Denn der Glaube der Hedonisten, »an diesem Tag werde sich der Alltag endlich mit jener Lebendigkeit anfühlen, die sie das ganze Jahr über erwarteten«,103 wird im harten Kern der Einstellungen und Ansichten des Basistypus als Irrglaube gescholten. Neben der offenkundigen Absage an turbokapitalistischen Kaufrausch auf der einen und erlebnisgesellschaftliche Glücksverheißungen für die Freizeit auf der anderen Seite richten sich die Hauptfiguren auch hinsichtlich der verderbten

99 100 101 102 103

Wilhelm Genazino, Mittelmäßiges Heimweh: Roman (Anm. 47), S. 7. Ebd., S. 73. Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit: Roman (Anm. 44), S. 47. Wilhelm Genazino, Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman (Anm. 13), S. 169. Wilhelm Genazino, Außer uns spricht niemand über uns: Roman (Anm. 29), S. 8.

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Bürgerlichkeit gegen das System.104 Auf der Basis einer Minimaldefinition des Aussteigertums – »Ablehnung der Gesellschaft, ihrer Anforderungen und Grundanschauungen, speziell bezogen auf Gewinnstreben, Karrieredenken, Leistungsdruck, Konformitätszwang und Menschenfeindlichkeit«105 – sind auch Genazinos Ich-Erzähler als Aussteiger zu verstehen. Als Rettung vor einer »informationsüberfluteten, konsumorientierten und sinnentleerten Umgebung«,106 so Alexander Fischer im Rückgriff auf Sartre, Luhmann und andere, flüchte der Protagonist in Ein Regenschirm für diesen Tag durch Flanerie und Ironie vor den Verhältnissen, um sich schließlich »›alternativ‹« einzurichten: Der Protagonist verweigert sich der allgemeinen sinnentleerten Geschäftigkeit, gibt sich dem von der Gesellschaft geringgeschätztem Müßiggang und der genauen Beobachtung hin und wird so zum gesellschaftlichen Aussteiger […]. Mit einem buchstäblichen Durchschauen der Mechanismen findet er seinen Notausgang, so durchbricht er das System, aber verändert es nicht – es ist im Prinzip gegenteilig, er lebt auch davon.107

Diesbezüglich ist es unvermeidlich, zumindest kurz auf Genazinos Dankesrede anlässlich des Erhalts des Büchner-Preises 2004 einzugehen, wird doch in dieser eine Lanze gebrochen für die Langeweile, die einer künstlichen Ersatzbefriedigung gegenübergestellt wird: Wir Heutigen kennen Langeweile als verscheuchte Langeweile. Unsere Erlebnisplaner haben sie zu unserem Feind erklärt. Als Ersatz bieten sie uns hochdosierte Fremdunterhaltung an: die permanente Fernsehshow, die Massenparty, der Urlaub, die Promiskuität, der Konsum – und so weiter.108

Bis auf die Promiskuität finden sich alle Ingredienzien auch in Genazinos Romanen verteufelt. Bezeichnenderweise sucht Genazino in seiner Rede das Heil in der (Hoch-)Kultur: Leonce und Lena hätten nicht verstanden, warum wir uns für die gute Laune von Thomas Gottschalk immer mehr interessieren als für die eigene Melancholie, obwohl diese mit uns auf dem Sofa sitzt. Sie hätten nicht verstanden, daß man eine afterworkparty aufsucht, wenn einem der Ich-Zerfall zu nahe tritt.109 104 Aber eben fast immer in Form des »stillen Protests«. Vgl. Roman Bucheli, »Partisanen des stillen Protests«, in: Neue Zürcher Zeitung, 29. Juli 2014, https://www.nzz.ch/feuilleton/bue cher/partisanen-des-stillen-protests-1.18352398?reduced=true. 105 Alexander Fischer, Wider das System: Der gesellschaftliche Aussteiger in Genazinos »Ein Regenschirm für diesen Tag« und literarische Verwandte bei Kleist und Kafka, Bamberg: University of Bamberg Press 2012, S. 90. 106 Ebd., S. 93. 107 Ebd., S. 95f. 108 Wilhelm Genazino, »Der Untrost und die Untröstlichkeit der Literatur« [Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2004]: https://www.deutscheakademie. de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/wilhelm-genazino/dankrede. 109 Ebd.

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Damit ist der nur scheinbare Widerspruch bestmöglich beigelegt: Nicht immer ist die Gesellschaft der Feind, sondern die U-Kultur, die Spaß- und ›Erlebnisgesellschaft‹, repräsentiert durch »Chefredakteure, Programmdirektoren, Eventdenker, Kaufhauschefs«, »Planer von Freizeitparks, Loveparades, Expo’s und all dem anderen Nonsens!«110 Daraus gilt es ›auszusteigen‹: »Wir Heutigen gewöhnen uns lieber an die gequälten Gesichter der Massen, die aus der für sie erfundenen Billigkonditionierung nicht mehr herausfinden.«111 Sowohl Genazino als auch das Gros seiner Romanfiguren gehören diesem ›Wir‹ gerade nicht an, sondern opponieren scharf gegen die kulturindustrielle »Billigkonditionierung« und diejenigen Menschen, die daran Gefallen finden können. Genazinos Figuren kennen – unabhängig von ihrem fiktiven Alter – die Produkte und Gepflogenheiten der neuen Generation noch nicht oder nicht mehr: »Es beschlich mich ein seit Kindertagen vertrautes Gefühl: dass ich vielleicht aus der Zeit herausgefallen war.«112 Innerhalb dieser Anachronismen ist der Basistypus zu leben gezwungen. Allerdings sind Wilhelm Genazinos Romanfiguren nicht selten auch ganz einverstanden damit: »Ich fand es (heimlich) schön, hinter meiner Zeit zurückzubleiben (Urlaubsverweigerung).«113 Es ist also nicht zwangsläufig ein Nicht-verstehen-Können, sondern mitunter auch ein Nichtverstehen-Wollen, das die Zeit in zwei Teilstücke schneidet: ›frühere‹ und ›heutige‹ – dazwischen: Verstehensbarrieren. Ich hatte schon längst bemerkt, dass ich selbst alt sein wollte, weil mir die Lust an jeder Art von Arbeit abhanden gekommen war. Ich sehnte mich nach Ruhe und Untätigkeit. Ich musste diese Sehnsüchte verheimlichen, weil sie mir altersmäßig noch lange nicht zustanden. Ein Mann, der nicht Tag für Tag arbeiten will, gilt als unmännlich. Angeblich sollte ich mich jetzt in den besten Mannesjahren befinden.114

Als Absage an den Jugendlichkeitswahn wird der Starrsinn des Alter(n)s nobilitiert: »Denn genaugenommen ist Altern ein Zustand, der zu mir paßt. Altern ist nur ein anderes Wort für Unwilligkeit, und unwillig war ich schon als Kind.«115 Der Opposition gegen Konsum-, Erlebnis- und Warenwelt, die als beständiges Merkmal des Genazino’schen Figurenkosmos festgehalten werden kann, gesellt sich eine im Vehikel der Frühvergreisung reisende, durchaus elitär-konservativ zu nennende Attitüde bei, die sich als ›Aus-der-Zeit-gefallen-Sein‹ und vielleicht auch mit dem ›In-die-(Waren-)Welt-Geworfensein‹ bezeichnen lässt. In der 110 Ebd. 111 Ebd. 112 Wilhelm Genazino, Wenn wir Tiere wären: Roman (Anm. 43), S. 157. Vgl. auch folgende Äußerung: »In der Zeitung stieß ich auf Worte, die mir nicht bekannt (vertraut) waren«. – Ders., Außer uns spricht niemand über uns: Roman (Anm. 29), S. 113. 113 Wilhelm Genazino, Wenn wir Tiere wären: Roman (Anm. 43), S. 42. 114 Ebd., S. 44. 115 Wilhelm Genazino, Die Liebesblödigkeit: Roman (Anm. 44), S. 144.

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Kritik der Verhältnisse allerdings lässt sich ein Aufbegehren feststellen, das es Genazinos Figuren jedenfalls im Falschen116 gefühlt richtiger zu leben erlaubt.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns: Roman. München: Hanser 2016. –: Bei Regen im Saal: Roman. München: Hanser 2014. –: Das Glück in glücksfernen Zeiten: Roman. München: Hanser 2009. –: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek: Rowohlt 1996. –: Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz: Roman. Reinbek: Rowohlt 1989. –. »Der gedehnte Blick«. In: Ders.: Der gedehnte Blick. München: Hanser 2004, S. 39–61. –: »Der Untrost und die Untröstlichkeit der Literatur« [Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2004]: https://www.deutscheakademie.de/de/aus zeichnungen/georg-buechner-preis/wilhelm-genazino/dankrede. –: Die Liebe zur Einfalt: Roman. Reinbek: Rowohlt 1990. –: Die Liebesblödigkeit: Roman. München: Hanser 2005. –: Die Kassiererinnen: Roman. Reinbek: Rowohlt 1998. –: Die Obdachlosigkeit der Fische. Reinbek: Rowohlt 1994. –: Die Vernichtung der Sorgen: Roman. Reinbek: Rowohlt 1978. –: Ein Regenschirm für diesen Tag: Roman. München: Hanser 2001. –: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman. München: Hanser 2003. –: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze: Roman. München: Hanser 2018. –: Leise singende Frauen: Roman. Reinbek: Rowohlt 1992. –: Mittelmäßiges Heimweh: Roman. München: Hanser 2007. –: Wenn wir Tiere wären: Roman. München: Hanser 2011.

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Riham Tahoun

Das Unfreisein des Erinnerns oder Die Macht des Augenblicks in Marlene Streeruwitz’ Morire in levitate

I

Einleitung Ist ein Text immer nur die Zeit, die [sic] es bedarf, ihn herzustellen? Ihn also zu schreiben. Oder zu lesen. Oder kann in einem Text eine besondere Zeit aufbewahrt werden? Eine Zeit, die, einer eigenen Zeitberechnung gehorchend, sich aus der allgemeinen Zeit herauslösend, in der eigenen Zeit eine Rettung findet? Die, Zeit so transzendierend, Zeit erkennbar macht? Und damit ein Entrinnen ermöglicht? Im Erinnern.1

Diese Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Zeit bewegt Streeruwitz in mehreren ihrer poetologischen Essays. Ihrer Ansicht nach kann die Literatur die Zeit beschreiben, der Zeit Grenzen setzen und zur gleichen Zeit die Zeit überwinden. Völlig neu herstellen […]. Und Literatur kann keine Unendlichkeit behaupten. Aber. Das ist das Realistische an der Literatur. Für einen Augenblick eine eigene Zeit außerhalb der Zeit der Welt herzustellen.2

Welche befreiende Kraft birgt das literarische Schaffen? Kann das Erzählen tatsächlich eigene Zeit herstellen und somit einen Ausweg aus der unfreien realen Zeit anbieten? Welche Rolle kommt dem narrativen Erinnern dabei zu? Das ist im Hinblick auf die Tatsache entscheidend, dass das Erinnern für Streeruwitz das Fundament des literarischen Erzählens bildet. Erinnerung ist in der ersten Stufe für jeden und jede eine Wiederteilnahme an der Unmittelbarkeit von Leben in allen sinnlichen Wahrnehmungsformen […]. Die geschilderte Unmittelbarkeit der Erinnerung wird zum Text. Die Grundlage aller Texte ist

1 Marlene Streeruwitz, »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen« [1998], in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, S. 93–228, hier S. 144. 2 Marlene Streeruwitz, »Was Literatur kann« [Rede vom 23. Oktober 2018 im Literaturhaus Wien]: http://www.marlenestreeruwitz.at/werk/was-literatur-kann/.

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die Erinnerung an Unmittelbarkeit, die über die Struktur des Textes selbst erinnerbar wird. Alle Texte sind also Texte der Erinnerung.3

Diese Fragen beschäftigen Streeruwitz mit gleicher Intensität in Morire in levitate (2004). In der Novelle geht es um den Spaziergang der Protagonistin Geraldine Denner in einer endlosen Landschaft am Neusiedlersee. Ihre scheinbare Unbeschwertheit birgt jedoch ein unausweichliches, unfreies Schicksal als Enkelin eines Nazi-Verbrechers. Die Last der verbrecherischen Erbschaft und die Fremdbestimmung durch den Großvater werden als dissonante Erinnerungen an die Vergangenheit in hastiger, spannungsvoller, filmszenischer Technik vorgeführt. Charakteristisch für diese Erinnerungen ist, dass sie sich der Narration verweigern und sich der Chronologie der Ereignisse entziehen. Sie werden nicht in analeptischen Einschüben wiedergegeben, sondern verselbstständigen sich in Form von beweglichen, visuell wahrnehmbaren Gestalten und bekunden ihre dauerhafte Existenz im Leben der Protagonistin. Die eigenen Erinnerungen nie eine Erzählung gewesen. Die eigenen Erinnerungen Fotografien, auf denen die Farben verblassten. Eine Diaschau. Immer Einzelbilder. Und die Bewegungen so ruckartig. Wie auf den ersten Filmen.4

Die Erinnerungen nehmen außer der montageartigen Diaschau weitere Formen an: physische Dokumentationen wie »Ansichtskarten, Röntgenbilder. Diagnosen. Zeugnisse. Laborbefunde. Landkarten. Einladungen. Todesanzeigen. Programmhefte. Fahrkarten. Reiseprospekte«.5 Gefährlicher ist jedoch das unsichtbare Wissen über die verschwiegene Vergangenheit, über das sie verfügt und das für sie eine »trainierte Wirklichkeit« ist.6 Dieses Wissen nimmt einen verbalen Charakter in den Geschichten an, die sie der »gelangweilt[en] Therapeutin«7 erzählen will. Weil sie jedoch wiedergekaute Geschichten sind – »Und bevor ihre Geschichten geschehen waren und erzählt werden konnten, hatte der Großvater seine erzählt gehabt« –, reagiert die Therapeutin eher apathisch auf ihre narrativen Erinnerungen: »In ihrer Abwehr hatte sie ihr ihre Geschichte zurückgegeben«.8

3 Marlene Streeruwitz, »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen«, in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen (Anm. 1), S. 210. 4 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2004, S. 21. 5 Ebd., S. 81. 6 Ebd., S. 18. 7 Ebd., S. 24. 8 Ebd.

Das Unfreisein des Erinnerns oder Die Macht des Augenblicks

II

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»Das atemlose Getriebensein im Gang der Zeit«9

Das Wissen über die Vergangenheit kommt an erster Linie durch die Macht des Augenblicks zum Ausdruck. Unter »Augenblick« versteht man nicht einen flüchtigen Jetztpunkt, den man bestimmen und messen kann. Gegenüber der Erfahrung des pausenlosen Verfließens von Zeiteinheiten […] unterbricht der Augenblick das gleichförmige Tempo. Da er überraschende Erkenntnisse gestattet, stellt er für das Bewußtseinsleben einen vertikalen Einschnitt dar, der die Apperzeption einer bloßen Chronologie von Ereignissen und Kausalbezügen sprengt.10

Seinen Effekt gewinnt der Augenblick durch das unerwartete Auftreten, die »Abgerissenheit des Plötzlichen«,11 die Selbstenthebung aus der gewohnten Zeitordnung und die dadurch hervorgerufenen Reaktionen des Innehaltens, der Einsicht oder des Erschreckens. Der Augenblick in Morire in levitate sorgt zwar für Diskontinuität in der chronologischen Abfolge der erzählten Ereignisse auf der narrativen Ebene, doch weist er selbst eine gewisse Kontinuität auf, die Wahrnehmung, Bewusstwerdung und Reflexion von plötzlich aufscheinenden Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen erlaubt. Im Gegensatz zum neutralen Zeitpunkt ohne Dauer ist der Augenblick, dessen Dauer unbestimmt ist, eine Metapher für Bewusstsein und Wahrnehmung, für Erkenntnis und bewußtes Begreifen. Eben wegen der Wortwahl ist bereits der Augenblick als Blick des erkennenden Auges, das Strukturen des Raumes und der Zeit gleichzeitig »realisiert«, ein perspektivisches Phänomen.12

Ähnlich argumentiert Gawoll, wenn er den Augenblick als »einen schnellen Wahrnehmungsakt« beschreibt, der »die Bedeutsamkeit einer Sache aufschein[en]« oder »bislang Bekanntes in einem neuen, ungewohnten Licht sehen« lässt.13

9 Marlene Streeruwitz, »Über das Leben reden« [Videoessay vom 5. Oktober 2010]: http:// www.marlenestreeruwitz.at/werk/uber-das-leben-reden/, Minute 00:56. 10 Hans-Jürgen Gawoll, »Über den Augenblick: Eine Philosophiegeschichte von Platon bis Heidegger«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994): 152–179, hier S. 152f. 11 Karl Heinz Bohrer, Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 180, hier zitiert nach Christoph Kleinschmidt, »Simultaneität: Zeitkonstruktion als Diskurs und Praxis«, in: Simultaneität: Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten, hg. von Philipp Hubmann und Till Julian Huss, Bielefeld: transcript 2013, S. 133–150, S. 252. 12 Hans Holländer, »Augenblick und Zeitpunkt«, in: Augenblick und Zeitpunkt: Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft, hg. von Christian W. Thomsen und dems., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 7–21, hier S. 19. 13 Hans-Jürgen Gawoll, »Über den Augenblick: Eine Philosophiegeschichte von Platon bis Heidegger«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994) (Anm. 10), S. 153.

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Übertragen auf die Novelle fungiert der Augenblick als Bedeutungsträger für die verschwiegenen individuellen Erinnerungen der Hauptfigur. Die Verknüpfung unterschiedlicher Zeitebenen (Plusquamperfekt, Präteritum und das Zeitadverb »jetzt«) in der folgenden Textstelle weist auf das Fortwirken der traumatisierenden Erinnerungen aus der entfernten Vergangenheit bis in die Gegenwart hin. Die erinnerten Augenblicke werden dadurch zu einem Zeitkontinuum bzw. Zeitzyklus, in dem die Vergangenheit Gegenwart und die Gegenwart Vergangenheit werden. In solchen Augenblicken. Eine Erinnerung. Dass es das Leben gegeben hatte. Eher. Ein Erschrecken, dass es gewesen war. Und was es jetzt war. Oder schon nur die Erinnerung davon gewesen. Was es gewesen und was es jetzt. Und deshalb dieser kurze Ton auf dem O. Nur noch die Erinnerung an die vielen Male, die das Leben gewesen, und auch das Jetzt schon in diese Erinnerung eingeschlossen.14

Der Augenblick wird durch verschiedene Demonstrativpronomina und Adjektive im Text unterschiedlich kontextualisiert und konnotiert: »solche Augenblicke«,15 »jeden Augenblick«,16 »dieser letzte Augenblick«,17 »diesen kurzen Augenblick«,18 »ein winziger Moment«;19 »kitschige Augenblicke«.20 Gemeinsam haben die Beispiele, dass dem Augenblick eine gewisse Signifikanz verliehen wird, als Teil der individuellen bzw. kollektiven Vergangenheit, die Macht über die Gegenwart und Zukunft der Protagonistin ergreift. Vor diesem Hintergrund setzt sich der vorliegende Beitrag zum Ziel, zu untersuchen, in welchem Verhältnis die Augenblicke des Freiseins und des Unfreiseins im Leben der Protagonistin sowie Augenblicke des individuellen und des kollektiven Erinnerns stehen. Ferner will er ermitteln, welche Merkmale die Macht des Augenblicks aufweist und wie sich das traumatische Erinnern der Protagonistin in der narrativen, zeitlichen und räumlichen Gestaltung der Novelle niederschlägt. Kehrt man zur Ausgangsfrage zurück, ob die Narration mithilfe des Erinnerns an die Vergangenheit befreiend sein könnte, dann stellt man fest, dass es hier in der Novelle eher um ein »zwanghaftes Erinnern«21 geht. Die Macht der augenblicklichen Erinnerungen über die Protagonistin zeichnet sich durch ihre Si14 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 28 [Hervorhebung der Verfasserin]. 15 Ebd., S. 54. 16 Ebd., S. 65. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 66. 20 Ebd., S. 70. 21 Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek, Paderborn: Fink 2018, S. 71.

Das Unfreisein des Erinnerns oder Die Macht des Augenblicks

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multanität, Paradoxie und Performativität aus. Mit diesen drei Merkmalen befasst sich der Beitrag im Folgenden.

III

Die Macht des Augenblicks: simultan, paradox und performativ

Es stellt sich zunächst die Frage, was mit »Simultanität« im Zusammenhang mit den unfreien Erinnerungsaugenblicken gemeint ist. Simultanität ist keine Beschreibungs-, sondern eine Wahrnehmungskategorie erzählter Ereignisse und Erinnerungen. Nach Kleinschmidt bedarf Simultanität der Differenz von mindestens zwei Elementen, die durch sie in ein Verhältnis gesetzt werden. Um die Kategorie der Simultaneität präziser zu fassen, soll sie an dieser Stelle von jener der Gleichzeitigkeit unterschieden werden. Letztere beschreibt die quantitative Relation zweier Elemente, tritt also ausschließlich als temporäres Phänomen auf, Simultaneität hingegen meint die qualitative Beziehung mindestens zweier Elemente im Sinne einer Einheit der Differenz.22

In diesem Sinne erlaubt der Augenblick die Verbindung von »Verschiedenem, das als Differentes erkennbar bleibt.«23 In der Novelle geht es daher um »Simultanität« nach obiger Definition: um Simultanität von alten Erinnerungen und gegenwärtigen körperlichen Schmerzen, von Unfreisein und Selbstbefreiung im Tod sowie von subjektivem Empfinden und Natur. Als Zeichen für die Überlagerung von Erinnerungen aus der Vergangenheit und dem gegenwärtigen Leben der Protagonistin gelten die körperlichen Beschwerden, die ihr Leben begleiten und sowohl Ursache als auch Folge ihrer unfreien Erinnerungen sind. Der Schmerz ist das einem Individuum zur Verfügung stehende Medium, durch welches sich ein historisches Unrecht an einer Person darstellen läßt, manchmal in Form der Beschreibung individueller Symptome, manchmal in Form eines dem Körper eingeschriebenen Gedächtnisses.24

Der individuelle Schmerz ist in diesem Sinne ein reflexartiges körperliches Verhalten, das auf die historische kollektive Schuld rekurriert: die »Schrecklichkeiten«, die »Untaten« und die »ewige[n] Erbschaften« des Großvaters,25 die 22 Christoph Kleinschmidt, »Simultaneität: Zeitkonstruktion als Diskurs und Praxis«, in: Simultaneität: Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten (Anm. 11), S. 245. 23 Ebd., S. 253. 24 Veena Das, »Die Anthropologie des Schmerzes«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/5 (1999): 817–832, hier S. 817. 25 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 40.

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die Protagonistin lebenslang mittragen muss. Für Streeruwitz ist das literarische Schreiben ein »In-sich-Hineinblicken«, als »Schnitte in die sichtbare Oberfläche, um tiefere Schichten freizulegen. […] Forschungsreisen ins Verborgene. Verhüllte«.26 Deshalb heißt es gleich zum Auftakt der Novelle: Ihr Herz. Das würde diese dünne Linie entlang. Diese Linie. Links. Links vom Brustbein. Diesen scharfen Schmerz entlang. Innen. Diesen Schmerz entlang. Der aus der Erinnerung aufstieg. Der aus der Erinnerung aufsteigen konnte. Mittlerweile. Dieser messerklingenscharfe Schnitt links in der Brust sich an sich selbst erinnern konnte. […] Der Schmerz ein heller Metallfaden die Brust herauf gespannt. Mit sich trug. Oft. Oft lange. Auf einem Röntgenbild zu sehen sein hätte müssen. Unter dem Rippenansatz gerade herauf. Aber bei Röntgenaufnahmen nie zu spüren gewesen. Gerade nicht zu fühlen. Und dann auch nichts zu sehen gewesen war. Nichts zu sehen sein konnte. Aber da brechen würde. Der Schmerz sich verfestigt hatte. Da. Über die Jahre hatte der Schmerz sich verfestigt und zugespitzt. Dumpfer gewesen. Am Anfang. Früher. Und immer frischer geworden. Im Lauf der Zeit. Keine Narbe. Keine Narbe geworden. Das Gegenteil einer Narbe. Der frische Schnitt.27

Die allgegenwärtige Macht der Erinnerungen aus der Vergangenheit und die Dauerhaftigkeit des gegenwärtigen Schmerzes werden besonders durch die Zeitadverbien zum Ausdruck gebracht, die hier im Text hervorgehoben sind. Die Erinnerungen sind nicht nur Urheber der schmerzhaften körperlichen und psychischen Symptome, sondern sorgen gleichzeitig für ihre ständige Aktualisierung. Die Schmerzen sind so alt wie die erinnerten Augenblicke und verschmelzen mit ihnen zu einer geradlinigen Zeitschiene. Einen Schmerz wahrzunehmen heißt also, sich zugleich vergangener Schmerzen zu erinnern: jede Schmerzwahrnehmung ist auf das Schmerzgedächtnis verwiesen; in jedem neuen Schmerz hallen die alten Schmerzen nach; kein Schmerz ist bloß aktuell; jeder Schmerz spannt eine zeitliche Dimension auf; in jedes schmerzhafte Jetzt ragt eine erinnerte Vergangenheit herein.28

Die Schmerzen sind jedoch nicht nur eine simultane Zwangsfolge des Erinnerns, sondern setzen paradoxerweise das Erinnern für ihre Existenz voraus. Der innere Schmerz, der auf den Röntgenbildern unsichtbar bleibt, kommt erst durch das Erinnern ohne zeitliche Distanz zum Vorschein und geht freiwillig in einem Akt der Sichtbarmachung bzw. der Selbstbefreiung auf.

26 Marlene Streeruwitz, »Sein: Und Schein. Tübinger Poetikvorlesungen« [1997], in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, S. 7–92, hier S. 11. 27 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 5f. [Hervorhebung der Verfasserin]. 28 Roland Borgards, »Schmerz/Erinnerung: Andeutung eines Forschungsfeldes«, in: Schmerz und Erinnerung, hg. von dems. und Günter Oesterle, München: Fink 2005, S. 9–24, hier S. 16.

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Die physischen Schmerzen haben hier ebenfalls, so Dröscher-Teille, eine metaphorisch-psychische Dimension. Ein Beispiel hierfür seien die Schmerzmetaphern des Herzens und der unheilbaren Wunde. Beide entstanden aus den »traumatischen, verdrängten Erfahrungen […], die zudem nicht nur Geraldines eigenes Leben, sondern die historische Vergangenheit einer gesamten Gesellschaft betreffen«.29 Zwischen den Erinnerungen und den Schmerzen besteht ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Das damit verbundene Schuldgefühl für die Verbrechen, die die Protagonistin nicht begangen hat, macht sie unfrei und führt sie zum ewigen Verstummen. Ihr Unfreisein auf kollektiver Ebene schlägt sich in ihrem »Tierchensein«30 auf familiärer Ebene nieder und bekundet sich durch die Bevormundung des Großvaters, den »Opernfanatiker«.31 Aus eigenem Interesse hat er ihren Ausbildungsweg vorbestimmt; sie musste Opernsängerin werden. Ihr Dilemma besteht in der Unvereinbarkeit zwischen dem »Leitmotiv« des Großvaters und ihren selbstgewählten Lebenszielen. Das war ein Leitmotiv gewesen. […] Und bei Leitmotiven. Da war das Persönliche zu verlernen gewesen. Dafür hätte man das Persönliche verlernen müssen. Und das war ja die Erbschaft. Die widerstreitige Erbschaft. Das war ja das, wo sie dazwischen hängen geblieben. Zwischen einem Leben für sich und einem Leben für das Leitmotiv. Wegen des Großvaters.32

Deshalb betrachtet Geraldine die Oper als eine Art »Folter«,33 weil sie einerseits das Geheimnis über ihre familiäre Vergangenheit in der Öffentlichkeit lüften würde, da »sie vielleicht etwas tief Tönendes mit ihrer hohen Stimme singen« müsste.34 Andererseits ist die Oper eine Andeutung des hegemonial-männlichen Gesellschaftssystems und zugleich eine Klage gegen die Männergewalt über Frauen. Das Opernpublikum würde, so die Protagonistin, sich in Männer in Uniformen wie der Großvater verwandeln, die sich in obszöner Weise ihr gequältes Opfer amüsiert anschauen.35 Diese dunkle Vergangenheit raubt ihr den Anspruch auf das »selbstverständliche Schlendern in der Welt. Diese vollkommene Unbehelligtheit«36 und fügt ihr lediglich Schmerzen zu.37

29 Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek (Anm. 21), S. 334. 30 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 68. 31 Ebd., S. 43. 32 Ebd., S. 75. 33 Ebd., S. 13. 34 Ebd., S. 75. 35 Vgl. ebd., S. 13. 36 Ebd., S. 8.

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Nicht nur sie ist fremdbestimmt, sondern auch ihr Ehemann, der sich eine asketische Ehe gefallen ließ, und ihre Eltern, die sich vom entmachteten Großvater weiter bevormunden ließen. Es ging um Stille. Es ging um den Übergang zur Stille. Um den Augenblick zwischen dem Ton und dann nichts mehr. Wenn der Großvater den Vater maßgeregelt hatte. Der Sieg des Großvaters war immer dieser Augenblick gewesen.38

Selbst der Großvater war unfrei, weil er in seiner verbrecherischen Identität gefangen blieb. Der Großvater war kein Mensch gewesen wie die Eltern waren. Der Großvater war immer seine Weltvorstellung gewesen. In jedem Augenblick war er davon bestimmt. Er hatte nicht einmal Spinat essen können, ohne ein Nazi zu sein.39

Die Gesellschaft ist ebenfalls wie vor 40 Jahren nicht frei. Ohnmacht und Medienwahn sind die Hauptmerkmale der Zeit: »Und es ging sie nichts an. Es ging niemanden etwas an. […] Die waren Zuschauer. Sie waren alle höchstens Zuschauer. Und die Bildschirme dafür schon überall.«40 Simultan zum unfreien Leben, »das nicht ihr eigenes war« und sie mit offenen Fragen plagt, ist sie vom ersehnten Augenblick des Todes, vom »eigen[en] Todesengel«41 besessen, der sie befreien würde.42 Nur im ›Sterben in Leichtigkeit‹, wie der Titel der Novelle andeutet, wäre sie Herrin der Lage, und dieser intime Moment wäre ihr persönliches Eigentum. Dieser Augenblick des Sterbens ist ebenso wie der Augenblick der Erinnerung durch Beständigkeit und Kontinuität gekennzeichnet. Sie ging. Dachte nur sie immer daran. Dachte nur sie jeden Augenblick daran. Dachte nur sie die ganze Zeit daran, wie das sein würde. Dieser letzte Augenblick. […] Ganz allein und diesen kurzen Augenblick lang. In diesem Augenblick würde sie das erste Mal nur sie selber sein. In diesem Augenblick nur das Wissen, wie es war und keine Frage. Oder eher die Frage die Antwort. »Ist das jetzt.« Und es würde ihr dann gleichgültig sein. […] Das würde ihr ja niemand nehmen können. Diesen Moment.43

37 Selbst in der Gegenwart ist Geraldine aufgrund ihres gesundheitlichen Verfalls fremdbestimmt: »Wenn sie in ein Spital kam. Sie war sofort unterworfen. Jeder da. Sogar die Putzfrauen. Jeder konnte über sie bestimmen.« (Ebd., S. 50) 38 Ebd., S. 42. 39 Ebd., S. 26. 40 Ebd., S. 12. 41 Ebd., S. 9. 42 Sie stellt sich gerne den Tod vor: »Vorbei. Ein flash. [sic] Diese Linie entlang. Ein Riss. Und aus. Und nur das Gefühl von Ohnmächtigwerden. Dieses Gefühl nicht. Dieses mühselige Ziehen hinter den Augen und der Kehle. Und Ankämpfen dagegen. Schlucken. Würgen.« (Ebd., S. 8) 43 Ebd., S. 65 [Hervorhebung der Verfasserin].

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Es ist der Augenblick der freiwilligen Selbstauslöschung, der aus der Sicht der Protagonistin nur im Blick auf das endlose Wasser zur Geltung kommt.44 Dieser Augenblick wird visuell durch das Blicken und die Natursymbole versinnbildlicht und gibt seine Momenthaftigkeit zugunsten einer unendlichen Zeitlosigkeit auf. Sie ging weiter. Schnell. Sie musste an das Ende dieses Wegs. Sie musste an das Wasser. Sie wollte diesen Blick haben. Es war die einzige Möglichkeit.45 Dazu wäre eine Aussicht gut gewesen. Aus diesem Blick weit ins Land sterben. Aus diesem Blick ins Nichts.46

Als exklusive Kulisse des Erzählens dient die düstere winterliche Landschaft, die die depressive Stimmung der Protagonistin widerspiegelt. Nur in der Natur kann sie ihre soziale Isolation aufbrechen und ihren durchaus chaotischen Erinnerungen freien Lauf lassen. In der Novelle herrscht eine simultane, gegenseitige Machtausübung. Die Kälte wirkt bedrohlich auf sie, deshalb muss sie immer wieder ihren Mantel und ihren Schal zurechtrücken. Nicht selten muss sie ihren Spaziergang unterbrechen. »Sie blieb stehen. Musste stehen bleiben.«47 Im Gegenspiel beherrscht sie den Raum, indem sich ihre Gedanken und Gefühle auf die Landschaft niederschlagen. Deshalb fehlt hier die für die Novelle typische Rahmung. Es gibt keine Rahmenhandlung des Spaziergangs und eine Binnenhandlung der Erinnerungen, sondern sie laufen komplementär zueinander und gehen ineinander über. Als Beispiel für die Subjektivierung des Raumbezugs und die Übereinstimmung zwischen subjektiven Empfindungen und Natur gelten die folgenden, simultan aufscheinenden Wahrnehmungsmomente: Immerhin war dafür noch Zeit. Das war dann immerhin 20 Jahre entfernt. Oder 15. Zumindest 10 Jahre sollte sie noch haben.48 Eine Traube weißer Bälle hing von einer Weide. Weiße Bälle in einem Netz zusammengehalten. Rechts. Die Bälle grauweiß. Mehr als 20 Stück mussten das sein. Sie blieb nicht stehen. Sie hätten stehen bleiben müssen, die Bälle zu zählen.49

44 Dröscher-Teille stellt einen intertextuellen Bezug zwischen dem Vornamen Geraldine und Undine, dem weiblichen Wassergeist, fest. Im Rahmen dieser Interpretation sehnt sich die Protagonistin nach ihrem Element und wendet sich deshalb entschlossen dem See zu. Vgl. Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek (Anm. 21), S. 332f. 45 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 84f. 46 Ebd., S. 90. 47 Ebd., S. 38; vgl. auch S. 6 und S. 19. 48 Ebd., S. 8. 49 Ebd., S. 9.

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Ebenso lässt sich beobachten, dass die Beschreibung der Natur nicht nur affektiv koloriert ist, sondern auch eine gewisse Spannung gemäß der Steigerung des Erinnerungsflusses erlebt. Je näher die Protagonistin an den See kommt, desto wilder werden die Landschaft und das Wetter. »Über dem Kanal. Im Schilf rechts. Ein Brummen. Ein dröhnendes Brummen. Ein Brummen und Rumpeln.«50 Ferner fungiert die Natur – besonders das Wasser und das Himmelblau – als Dingsymbol für den befreienden Tod. Im Sommer der Himmel nie dieses Blau. Nie dieses luftige Blau. So ein dünnes luftiges Blau. So ein aufgelöstes Blau. Ein sich auflösendes Blau. Ein zerfließendes Blau. Ein sanftes Blau.51 Sie ging. Immer unter einem solch frostigen blauen Himmel sein hätte sein wollen. Unter diesem Blau. Dieses Blau. Das machte sie glücklich.52 Der Himmel blasser geworden. Durchscheinend Blau.53

»Wie kann der Sprung aus den fremden Zeiten in eine eigene heute gelingen?«54 Diese Frage plagt Geraldine ebenso wie die Autorin in ihren poetologischen Reflexionen. Zu den Erinnerungen empfindet sie deshalb widersprüchliche Gefühle: Abscheu gegen sie und zugleich einen Drang oder eine Verpflichtung, sie zu erzählen. Durch das Erzählen will sie sich von den schmerzhaften Erinnerungen und der schuldhaften Erbschaft des Großvaters befreien und hat paradoxerweise Angst, diese Erinnerungen durch das Erzählen zu verlieren, weil ihr Lebensinhalt ausschließlich aus diesen unfreien Momenten besteht. »Das war vollkommen klar geworden, dass man sich verlieren konnte. In dieses Erzählen. Und dass man es so verlieren konnte. Das, was man da erzählte.«55 Eine ähnliche Stellung nimmt sie gegenüber den Schmerzen ein. So empfindet sie die Schmerzen als den »frische[n] Schnitt«,56 gibt jedoch an, sie habe durch die Narben über die lange Zeit hinweg Immunität erlangt und sei »[s]chmerzunempfindlich«.57 Ein widerwilliges Verhältnis hat sie v. a. zum Großvater. Sie lebt in einem inneren Konflikt zwischen der großväterlichen Macht und ihren »passiven Fluchtwünschen«.58 Dadurch ist ihre Situation ein »lebenslängliches Taumeln«59

50 51 52 53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 60. Ebd., S. 72. Ebd., S. 82. Ebd., S. 96. Marlene Streeruwitz, »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen«, in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen (Anm. 1), S. 164. Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 54f. Ebd., S. 6. Ebd., S. 88. Vgl. hierzu Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek (Anm. 21), S. 345. Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 55.

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zwischen den Rollen des protestierenden Opfers und des schweigenden Mittäters und zwischen dem Verfangen in der Vergangenheit und der Sehnsucht nach einem Neuanfang. Was wollte sie einen neuen Anfang. Sie hatte doch schon ein Ende. Da war nichts zu machen. Und gegen die Gewalt des Großväterlichen. Gegen das, was die da begonnen. Dagegen half nichts. Konnte nichts helfen.60

Auch zur Musik hat sie ein ambivalentes Verhältnis: Sie betrachtet sie gleichermaßen als Fluch und als Rettung. Ebenso wie die Sprache würde die Musik sie zwingen, sich bloßzustellen und alles zu erzählen. Aber ohne sie hätte sie ihr Leben nicht ausgehalten.61 Die (Opern-)Stimme spielt im Leben der Protagonistin ebenfalls eine gegensätzliche Rolle. Die Stimme ergreift im besseren Wissen um die Vergangenheit die Macht über Geraldine und zwingt sie zum Verstummen: »Ihre Stimme hatte es ja besser gewusst. Ihre Stimme hatte sich entzogen. Ihre Stimme hatte sich ihr und dem allem entzogen.«62 Dafür ist sie aber dankbar. »Dass sie nun stumm geblieben war. Das war ja ihre Rettung gewesen.«63 Obwohl die Stimme sich ihr als Ausdrucksmedium für die Erinnerungen verweigert, bildet sie die einzige Möglichkeit, sich von den Erinnerungsschmerzen zu befreien: »Sie würde immer nur Opernschreie ausstoßen können.«64 Während ihre Stimme »gebrochen«65 ist, bleibt die Stimme des Großvaters zeitlebens fest in Erinnerung und überwältigt die Gegenwart von Geraldine: »Eine Stimme, die man nicht vergessen konnte. Erinnert man sich für sich an solche Dinge. Saß man dann da und erlebte das. Lebte das wieder durch. Mit allen Empfindungen.«66 Das bestätigt die Tatsache, dass sie weder im Verstummen noch im Erinnern autonom handelt.67 Der Übergang vom Reden zum Verstummen hat sich zudem durch die unausweichliche Macht des Augenblicks verfestigt und verewigt:

59 Marlene Streeruwitz, »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen«, in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen (Anm. 1), S. 108. 60 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 53. 61 Vgl. ebd., S. 26. 62 Ebd., S. 42. 63 Ebd., S. 55. 64 Ebd., S. 68. 65 Ebd., S. 40. 66 Ebd., S. 58. Die Stimme ist auch ein Ausdruck der Dichotomie der Geschlechter, die ungleiche Machtverhältnisse aufdecken will: »Es immer solche Duette sein würden. Frauenstimme und Männerstimme gegeneinander. Die Frauenstimme auf der Flucht und die Männerstimme ihr nachstellen.« (Ebd., S. 12f.) 67 Vgl. hierzu Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek (Anm. 21), S. 337f.

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Es war um diesen nicht einmal einen Herzschlag lang dauernden Augenblick gegangen. Diesen Augenblick zwischen Ton und Stille. In dem sie eingefangen war. In den sie eingefangen worden war. Sich einfangen hatte lassen. Müssen. In den hinein sie alle gefangen gewesen. Sie waren alle eingefangen in das Stillwerden.68

Hier erhebt sich das individuelle Schicksal zum kollektiven. Die Schuld der verschwiegenen NS-Vergangenheit gereicht nicht nur ihr, sondern allen Österreichern zur Last. Besonders nach dem Tod der Tätergeneration ist »ihr Unglück immer weniger eine Erzählung und immer mehr eine Kategorie.«69 Der Widerspruch zwischen der Stimme und dem Verstummen zeigt ein tieferes Paradox auf, nämlich das Paradox zwischen dem Wissen um die unverarbeitete kollektive Schuld, die Geraldine durch die Narration loswerden möchte, und dem Wissen als Geheimnis, das sie niemandem verraten will und das mit ihr sterben sollte.70 »Dieser letzte Augenblick. Und würde sie dann daliegen und sich denken, dass es das nun war. Und dass das nur sie wissen würde, wie das war. Dieses Geheimnis nur ihr gehören würde.«71 Das gilt ebenfalls für ihren Heilungswunsch: Obwohl sie eine Therapie besucht, betrachtet sie ihre Geschichte als »vollkommen therapieresistent«.72 Deshalb wendet sie sich auf ihrem Spaziergang dem See zu, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Jedoch erlebt sie einen unvermittelten Wendepunkt, der typisch für die Novelle ist. Sie spürt plötzlich während des Spaziergangs einen gewissen »überlebenswichtig[en]«73 Widerstand, und sie lässt sich ein letztes Mal auf eine Wette ein, dass sie vor einem Fahrzeug auf der anderen Seite des Kanals auf die Brücke gelangt: Ein letzter Versuch, der Macht der Erinnerungen zu entgehen, der erfolglos bleibt. Sie ging. Sie ging schneller. Die Männer rechts. Das Fahrzeug behäbig. Laut. Sie ging sehr schnell. Sie warf sich im Gehen nach vorne. Atmete scharf durch die Nase ein. Die Kalte Luft. Hinten. Über der Nase. Zum Rachen hinunter. Die Kälte scharf. Schneidend. Sie ging noch schneller. Es war auf einmal wichtig. Es war auf einmal das Wichtigste. Sie musste vor den Männern auf dem Fahrzeug an der Brücke sein.74

68 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 44. 69 Ebd., S. 22. 70 Vgl. hierzu Ulrike Vedder, »Erblasten und Totengespräche: Zum Nachleben der Toten in Texten von Marlene Streeruwitz, Arno Geiger und Sibylle Lewitschafroff«, in: Literatur im Krebsgang: Totenbeschwörung und »memoria« in der deutschsprachigen Literatur nach 1989, hg. von Arne De Winde und Anke Gilleir, Amsterdam/New York: Rodopi 2008, S. 227–242, hier S. 230. 71 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 65. 72 Ebd., S. 55. 73 Ebd., S. 63. 74 Ebd., S. 26.

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Hier wirft sich die Frage auf, warum die Erinnerungen erzählt werden müssen. Und warum übernehmen das die Täterkinder, wenn ihre Vorfahren das nicht tun? Nachdem es nun niemanden mehr gab, der ihre Geschichte wissen hätte können. Und sie erzählen. Und sie deshalb ihre Geschichte selbst erzählen musste. Damit beginnen hatte müssen, sich selbst zu erinnern. Weil niemand anderer die Erinnerungen haben konnte. Weil sie sich ihre Geschichte zu erzählen beginnen hatte müssen, damit sie nicht verschwand.75

In der Theorie der Performance werden erst im Akt des Äußerns und des Handelns Bedeutungen konstruiert und Identitäten geschaffen. Die Erinnerungen sind nicht selbstreferenziell, sondern sie werden erst ins Leben gerufen, indem sie erzählt werden. In ihrem ganzen Leben musste Geraldine theatralisch agieren: als Opernsängerin, als Enkelin eines Nazi-Großvaters am Mittagstisch im Elternhaus, als Ehefrau in einer Ehe ohne Sexualität, als Zeitungsvorleserin im Krankenhaus und als Patientin bei der Psychotherapeutin. In diesen Rollen wurde von ihr eine bestimmte Performance erwartet, die sie brav ausführen sollte. Selbst ihr Verstummen ist vorprogrammiert. Diese zwanghafte Performance bringt die »Materialität, Medialität und interaktive Prozeßhaftigkeit kultureller Handlungen« ans Licht.76 Es sind die Medien und die Handlungsfelder des kollektiven Gedächtnisses, die ihr individuelles Erinnern und Handeln mitbestimmen. Streeruwitz’s feminist strategy in Morire can be read as an act of cultural and social memory work that the protagonist, a second-generation perpetrator, offers in order to help future generations understand the creation and intersections of the cultural memory, collective memory, and communicative memory of the Austrian nation.77

Das individuelle Erinnern ist ein Abwehrmechanismus gegen die Auflösung ins kollektive Vergessen, die die Überflüssigkeit des individuellen Gedächtnisses voraussetzt. Für Geraldine ist es ein Kampf um das eigene Erinnern. Das Massengefühl, das Gefühl des Aufgelöst-Seins in einem größeren Ganzen, das die Ordnung des Hirten herstellt. Dieses Massengefühl löscht eigene Erinnerungen aus. Diese Erinnerung wird erspart. Ein Gefühl der Sättigung bleibt. Ein lindwehes Leid eines Zuviel. Aber gemütlich so.78

In der Performance des Erinnerns will die Protagonistin die Tätergeneration, die ihre Kinder und Enkelkinder verraten und ihr Schicksal lebenslang vorbestimmt 75 Ebd., S. 41. 76 Erika Fischer-Lichte, »Für eine Poetik des Performativen«, in: Literaturforschung heute, hg. von Eckart Goebel und Wolfgang Klein, Berlin: Akademie-Verlag 1999, S. 221–228, hier S. 221. 77 Britta Kallin, »Inflicting Wounds and Leaving Scars: Marlene Streeruwitz’s Morire in Levitate«, in: Seminar 48/4 (2012): 473–489, hier S. 474f. 78 Marlene Streeruwitz, »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen«, in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen (Anm. 1), S. 211.

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hat, vor Gericht stellen. »Wie kann vermieden werden, in dem tastenden Suchen aller Sinne nach dem Eigenen der Vernichtung durch das bekannte Fremde zu entgehen?«79 Das ist eine Frage, die sich in der Novelle zu einer allgemeinen Anklage erhebt: Es musste Pflicht sein. Es musste als Pflicht deklariert werden. Die Eltern und die Großeltern. Sie mussten gezwungen werden, alles zu erzählen. Auskunft über sich. Wie konnte es sein, mit diesen Leuten zusammenzuleben. Von ihnen so abhängig. So entsetzlich abhängig zu sein. Und nichts zu wissen. […] Kitschige Augenblicke auf die Selbstschau. Keine Auskunft. Nicht einmal die Geschichte. Die allgemeine Geschichte.80

Um diese performative, bedeutungsstiftende Funktion des Erinnerns zu erfüllen, zeichnet sich das Erzählen im Erinnerungsprozess durch seine Mündlichkeit und Dynamik aus. Das Erzählen ist insofern mündlich, als in der Novelle eine subjektive Redesituation fingiert wird, in der die Erinnerungen und Reflexionen in Form eines chaotischen Brainstormings in erlebter Rede zum Ausdruck kommen. Die Mündlichkeit des Erzählens wird besonders durch die fragmentarische, redundante, sich widersprechende oder sich schrittweise erweiternde Satzstruktur verstärkt. Es entsteht im Erzählen ein Mosaik schnell wechselnder Erinnerungsaugenblicke in Form von Sprachfetzen. Zur sprachlichen Gestaltung ihrer Werke nimmt Streeruwitz Stellung: »[D]er Punkt beendet den Versuch. […] Der Punkt ist im Grunde das Signal all dessen, was nicht gelungen ist.«81 Selbst die Protagonistin ist der Ansicht, dass es keine »Sprache der Unschuld« gibt.82 Das gilt gleichermaßen für die Schriftsprache. So ist das Vorlesen von Zeitungen für Patienten im Krankenhaus »[e]in Vorlesungsgesang. Von abgelaufenen Texten.«83 Durch diese Sprachgestaltung werden die sprachlichen Elemente von der Macht des Subjekts befreit. Die meisten Sätze stehen ohne einen menschlichen Urheber. Dadurch werden die Erinnerungen selbstständig und geben den Eindruck, für sich zu stehen. Im Gegenzug fehlt das Verb, wenn ein Subjekt im Satz steht, als Ausdruck des Mangels an Autonomie. Der vollständige Satz ist eine Lüge. Im Entfremdeten kann nur Zerbrochenes der Versuch eines Ausdrucks sein. Das Ich des Aktivsatzes müsste leerelos über sich ver-

79 Ebd., S. 166. 80 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 70. 81 Willy Riemer und Sigrid Berka, »›Ich schreibe vor allem gegen, nicht für etwas‹: Ein Interview mit Marlene Streeruwitz vom 15. Januar 1997«, in: The German Quarterly 71/1 (1998): 47–60, hier S. 49. 82 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 39. 83 Ebd., S. 52.

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fügen. Das Ich eines Passivsatzes müsste alle Tiefen kennen, in denen es getroffen werden könnte. Die Formel Subjekt/Objekt/Verb ist ein Angriff.84

Es ist ebenso ein dynamisiertes Erzählen, weil die Protagonistin sich an ihr Leben im Gehen erinnert, das sich allmählich beschleunigt.85 Die Naturszenen unterbrechen den entstehenden Erinnerungsfluss nicht, sondern dienen vielmehr als Triebkraft, die die Dynamik und die Lebendigkeit der Erinnerungen aufrechterhält. Durch das mündliche Erzählen im Gehen werden die Erinnerungen einerseits performativ zur Schau gestellt. Andererseits gewinnen sie durch die visuellen und akustischen Dimensionen eine räumliche Präsenz und erheben sich zu einem Schrei aus Stimmen und Bildern, die für den Leser wie in der Oper materiell greifbar werden.

IV

Morire in levitate – Eine Befreiung der Novelle?

Wie wirken die unfreien Erinnerungen im Leben von Geraldine Denner auf die narrative Gestaltung der Novelle? Um diese Frage adäquat zu beantworten, sollte man sie mit Streeruwitz’ Poetik in Verbindung setzen. Streeruwitz strebt mit ihrem literarischen Schreiben konsequent »die Befreiung des Schreibens […,] Befreiung vor allem von einem literarischen Super-Ego […, d]ie Befreiung von den Vätern des literarischen Kanons« an.86 Zwar wird die Novelle von der Forschung meistens als Novelle par excellence betrachtet, die die Formmerkmale der Novelle vollkommen erfüllt. So verkörpert die Nazi-Vergangenheit nach Tholen die unerhörte Begebenheit, um die sich alles im Text dreht.87 Die Protagonistin erlebt zwei Wendepunkte, den ersten in der Vergangenheit durch die asthmatische Erkrankung als Abwehr gegen die Fremdbestimmung des Großvaters und den zweiten in der Gegenwart durch das letzte Ringen um das Leben, wenn sie mit sich selber wettet, vor den Männern auf die Brücke zu gelangen. Die Novelle enthält zudem mehrere Dingsymbole: das Herz(brechen) als Versinnbildlichung der psychischen Schmerzen, die aus den unfreien Erinnerungen resultieren; das Blau des Himmels, über den die Prot84 Marlene Streeruwitz, »Sein: Und Schein. Tübinger Poetikvorlesungen« [1997], in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen (Anm. 26), S. 78f. 85 Vgl. Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 60. Vgl. hierzu auch Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek (Anm. 21), S. 202. 86 Marlene Streeruwitz, »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen«, in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen (Anm. 1), S. 139f. 87 Vgl. hierzu Toni Tholen, »›Unerhörte Begebenheit‹: Zur Transformation eines zentralen Formmerkmals in der Novellistik der Gegenwart«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 58/2 (2008): 207–222, hier S. 217f.

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agonistin Himmelstagebücher führt, und das Wasser als Symbol für die Selbstbefreiung im Tod. Dazu kommt die Farbsymbolik: So stehen die Farben »Blau«, »Rot« und »Grün«88 als Symbole für die erwünschte freie Gegenwart dem »Lachsrosabraunbeige«89 des Lebens im Familienhaus gegenüber. Nicht zuletzt deutet der Kontrast zwischen Wärme und Kälte auf die unüberbrückbare Kluft zwischen dem unfreien Leben und dem befreienden Tod hin.90 Die Novelle hebt sich jedoch durch ihre Eigenform ab. So löst sich die chronologische Narration in dissonante Augenblicke auf, die das Verhältnis von Realem und Fiktivem aufheben. Die Gleichzeit der gelebten Erfahrung wird in nacheinander lesbare Einheiten aufgelöst. Die enthaltene Wirklichkeit der Erzählung von der Realität wird so zerhackt und ins Fiktive zurückgeführt.91

Von den Erinnerungsschmerzen wird abwechselnd in interner und externer Fokalisierung und in gleichgestellten Zeitformen (Präsens, Präteritum/Plusquamperfekt) erzählt. Das erlaubt eine gewisse Nähe zur Protagonistin, die jedoch keine tiefere Schau in ihr Inneres gewährt.92 Die Sprachgestaltung bringt dieses Ringen um das Erzählen der zwanghaften Erinnerungen zum Ausdruck. Der elliptische und abbrechende Satzbau zeichnet nicht nur das innere Erleben (das Brechen der Herzen) nach, sondern evoziert den Eindruck eines ständigen Abbrechens und Neuansetzens, ein Ringen auch um das Sprechen, das starke, konvulsivische Erleben überhaupt zum Ausdruck zu bringen.93

Das findet seine Begründung in Streeruwitz’ poetologischen Überlegungen. Es geht bei ihr immer um Geschichten, die schwer zu erzählen sind, und um eine untaugliche Sprache, die die dahinter befindlichen Schmerzen nicht zu artikulieren vermag.

88 Marlene Streeruwitz, Morire in levitate: Novelle (Anm. 4), S. 80. 89 Ebd., S. 60. 90 Vgl. hierzu Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek (Anm. 21), S. 346. 91 Marlene Streeruwitz, »Das Erzählen vom Ende der Welt«, in: Zur Zeit [Essayband mit Originalbeiträgen von Lukas Bärfuß, Nico Bleutge, Arno Geiger, Wilhelm Genazino, Peter Härtling, Thomas Hettche, Reinhard Jirgl, Steffen Kopetzky, Ursula Krechel, Judith Kuckart, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach, Herta Müller, José F.A. Oliver, Heinrich Steinfest, Ulf Stolterfoht, Marlene Streeruwitz, Antje Rávic Strubel, Jan-Peter Tripp, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu], hg. von Florian Höllerer und Tim Schleider, Göttingen: Wallstein 2010, S. 94–103, hier S. 99. 92 Vgl. hierzu auch Mandy Dröscher-Teille, Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek (Anm. 21), S. 346. 93 Toni Tholen, »›Unerhörte Begebenheit‹: Zur Transformation eines zentralen Formmerkmals in der Novellistik der Gegenwart« (Anm. 87), S. 216.

Das Unfreisein des Erinnerns oder Die Macht des Augenblicks

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Ich suchte eine Möglichkeit, die nicht zu erzählende Geschichte, die Geschichte, die nicht erzählt werden kann, weil ihr keine Sprache zur Verfügung steht, jedenfalls keine verständliche, einzubauen und ihr damit zumindest Raum zu geben. […] Ich denke, dass der Punkt in der zerrissenen Sprache diesen Raum, diese Möglichkeiten schafft.94

V

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Augenblick in Morire in levitate über seine Funktion als Zeitkategorie hinaus ein sinnkonstituierender Akt des Blickens zurück in die Vergangenheit und Bedeutungsträger des zwanghaften Erinnerns an die familiäre Vergangenheit von Geraldine Denner ist. Somit weist er Kontinuität und Zeitlosigkeit auf und gewinnt eine gewisse Macht über sie. Das Ausmaß dieser Macht zeigt sich v. a. in der Simultanität von Gegensätzlichem, in der Paradoxie von Denken und Empfinden und der Performativität des Erinnerns. Die Augenblicke des Unfreiseins und des Freisein-Wollens stehen in enger, wechselseitiger Beziehung zueinander, genau wie das individuelle Erinnern, das in einen größeren, unfreien kollektiven Rahmen eingebettet ist. Da der Protagonistin die Abrechnung mit und die Befreiung von der Vergangenheit unmöglich erscheint, will sie ihrer eigenen Geschichte ein Ende setzen. Welche Augenblicke zum Schluss der Novelle gewinnen, Augenblicke der Erinnerungen oder der Augenblick des Todes, das bleibt offen.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Streeruwitz, Marlene: »Das Erzählen vom Ende der Welt«. In: Zur Zeit. [Essayband mit Originalbeiträgen von Lukas Bärfuß, Nico Bleutge, Arno Geiger, Wilhelm Genazino, Peter Härtling, Thomas Hettche, Reinhard Jirgl, Steffen Kopetzky, Ursula Krechel, Judith Kuckart, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach, Herta Müller, José F.A. Oliver, Heinrich Steinfest, Ulf Stolterfoht, Marlene Streeruwitz, Antje Rávic Strubel, Jan-Peter Tripp, Ilija Trojanow und Feridun Zaimoglu.] Hg. von Florian Höllerer und Tim Schleider. Göttingen: Wallstein 2010, S. 94–103. –: »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen«. In: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, S. 93–228. –: Morire in levitate: Novelle. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2004. –: »Sein: Und Schein. Tübinger Poetikvorlesungen«. In: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, S. 7–92. 94 Marlene Streeruwitz, »Können. Mögen. Dürfen. Sollen. Wollen. Müssen. Lassen«, in: Dies.: Poetik: Tübinger und Frankfurter Vorlesungen (Anm. 1), S. 142.

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Riham Tahoun

–: »Über das Leben reden« [Videoessay vom 5. Oktober 2010]: http://www.marlenestreeru witz.at/werk/uber-das-leben-reden/. –: »Was Literatur kann« [Rede vom 23. Oktober 2018 im Literaturhaus Wien]: http:// www.marlenestreeruwitz.at/werk/was-literatur-kann/.

Sekundärliteratur Borgards, Roland: »Schmerz/Erinnerung: Andeutung eines Forschungsfeldes«. In: Schmerz und Erinnerung. Hg. von dems. und Günter Oesterle. München: Fink 2005, S. 9–24. Das, Veena: »Die Anthropologie des Schmerzes«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/5 (1999): 817–832. Dröscher-Teille, Mandy: Autorinnen der Negativität: Essayistische Poetik der Schmerzen bei Ingeborg Bachmann – Marlene Streeruwitz – Elfriede Jelinek. Paderborn: Fink 2018. Fischer-Lichte, Erika: »Für eine Poetik des Performativen«. In: Literaturforschung heute. Hg von Eckart Goebel und Wolfgang Klein. Berlin: Akademie-Verlag 1999, S. 221–228. Gawoll, Hans-Jürgen: »Über den Augenblick: Eine Philosophiegeschichte von Platon bis Heidegger«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994): 152–179. Holländer, Hans: »Augenblick und Zeitpunkt«. In: Augenblick und Zeitpunkt: Studien zur Zeitstruktur und Zeitmetaphorik in Kunst und Wissenschaft. Hg. von Christian W. Thomsen und dems. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 7–21. Kallin, Britta: »Inflicting Wounds and Leaving Scars: Marlene Streeruwitz’s Morire in Levitate«. In: Seminar 48/4 (2012): 473–489. Kleinschmidt, Christoph: »Simultaneität: Zeitkonstruktion als Diskurs und Praxis«. In: Simultaneität: Modelle der Gleichzeitigkeit in den Wissenschaften und Künsten. Hg. von Philipp Hubmann und Till Julian Huss. Bielefeld: transcript 2013, S. 133–150. Riemer, Willy und Sigrid Berka: »›Ich schreibe vor allem gegen, nicht für etwas‹: Ein Interview mit Marlene Streeruwitz vom 15. Januar 1997«. In: The German Quarterly 71/1 (1998): 47–60. Tholen, Toni: »›Unerhörte Begebenheit‹: Zur Transformation eines zentralen Formmerkmals in der Novellistik der Gegenwart«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 58/2 (2008): 207–222. Vedder, Ulrike: »Erblasten und Totengespräche: Zum Nachleben der Toten in Texten von Marlene Streeruwitz, Arno Geiger und Sibylle Lewitschafroff«. In: Literatur im Krebsgang: Totenbeschwörung und »memoria« in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Hg. von Arne De Winde und Anke Gilleir. Amsterdam/New York: Rodopi 2008, S. 227– 242.

Hans-Joachim Schott

Auf der Suche nach der Walachei: Die Heterotopie als Ort der Krise und der Frei-Zeit in Wolfgang Herrndorfs Tschick

Als Maik Klingenberg nach dem Unfall, der seine mit Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, unternommene Abenteuerfahrt durch die deutsche Provinz beendet, im Krankenhaus liegt, drehen sich seine Gedanken weniger um die disziplinarischen Konsequenzen, die er von seinen Eltern, der Polizei bzw. Gerichten zu erwarten hat, als um die Dienstbekleidung seiner Krankenschwestern, die deren Unterwäsche erkennen lässt. Das sexuelle Motiv bildet für Maik jedoch nur einen Aufhänger, um über ein Grundthema des Romans, nämlich die Fragwürdigkeit und Ambivalenz von Normalität, nachzudenken: »Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch pervers: Ich steh auf normale Unterwäsche.«1 Statt Perversionen mit (sexuell) normabweichenden Phantasmen in Verbindung zu bringen, bezeichnet Maik den Wunsch nach Normalität als Zeichen für eine ›perverse‹ Neigung. Diese ironische Verdrehung des in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts etablierten Konzepts der Perversion als pathologischer Abweichung von psychischer Normalität verweist auf einen weitreichenden Mentalitätswandel, der seit der Postmoderne die kulturellen Selbstverständigungsdiskurse liberal-demokratischer Gesellschaften grundlegend umstrukturiert.2 Die denormalisierende Abweichung von gesellschaftlichen Normvorstellungen gilt – wie im ersten Abschnitt erläutert werden wird – in der Gegenwartskultur als elementare Bedingung für die Entwicklung eines authentischen Lebensentwurfs, der Raum für intensive, einzigartige Erlebnisse und Erfahrungen lässt und diese nicht zugunsten der lustfeindlichen Orientierung am imaginären Maßstab sozialer Durchschnittlichkeit bzw. Normalität unterdrückt. Wie im zweiten Abschnitt vor dem Hintergrund der Normalitätsproblematik deutlich werden wird, vermag Maik bis zu seiner Begegnung mit Tschick den Konflikt zwischen dem Wunsch nach einer sicherheitsstiftenden Normalität und der Lust an der De1 Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman, 11. Aufl., Berlin: Rowohlt 2011, S. 15 [Hervorhebung im Original]. 2 Vgl. zu dieser Aufwertung singulärer, intensiver Erfahrungen in der Postmoderne die grundlegenden Ausführungen von Peter Zima: Theorie des Subjekts: Subjektivität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen: Francke 2000.

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normalisierung nicht aufzulösen. Erst durch die abenteuerliche Reise in die deutsche Provinz, die im dritten Abschnitt analysiert wird, gewinnt Maik die Souveränität, mit dieser Spannung reflektiert und selbstbewusst umzugehen. Die deutsche Provinz repräsentiert im Roman keinen utopischen Sehnsuchtsort, sondern einen heterotopischen Raum der Frei-Zeit, in dem die beiden Protagonisten, unkontrolliert von pädagogischen Institutionen, krisenhafte Erfahrungen der Adoleszenz durchleben und verarbeiten. Wie abschließend erläutert werden wird, löst die Reise mit Tschick bei Maik einen Reflexionsschub aus, der ihn die Fragwürdigkeit und Brüchigkeit gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen und der mit ihnen verbundenen Exklusionsmechanismen erkennen lässt.

I

Normalismus, Frei-Zeit und Heterotopien

Die Arbeits- und Konsumwelten in den hoch entwickelten Volkswirtschaften des kapitalistischen Weltsystems zeichnen sich seit den 1960er Jahren durch die Auflösung klarer Grenzen zwischen beruflichen Kompetenz- und Tätigkeitsbereichen, die Verwischung der Differenz von Arbeits- und Privatleben sowie die starke Ästhetisierung sowohl von Arbeit als auch Konsum aus. Die von den digitalen Kommunikationstechnologien ermöglichte räumliche, zeitliche und inhaltliche Flexibilisierung von Arbeitsprozessen, die globale Durchsetzung der Marktwirtschaft, die Ausbreitung von Gefühlsarbeit sowie das Konsumideal, möglichst intensive und einzigartige Erlebnisse anzusammeln und medial zu repräsentieren, lassen im Postfordismus das noch im Fordismus vorherrschende protestantische Arbeits- und Männlichkeitsethos kollabieren und werten alternative Lebensformen auf, die – wie zum Beispiel die Jugend- und Studentenbewegungen – sich kritisch gegen die Lustfeindlichkeit moderner Arbeitsdisziplin wenden.3 Diese Regulationsweise des Postfordismus strukturiert nicht nur in ökonomischer Hinsicht das kapitalistische Akkumulationsregime grundlegend um, sondern etabliert auch hegemoniale Narrative, die einem neuen Verständnis von gesellschaftlicher ›Normalität‹ zum Durchbruch verhelfen.4 In der ersten 3 Vgl. zum Übergang vom Fordismus zum Postfordismus die grundlegende Studie von Joachim Hirsch und Roland Roth: Das neue Gesicht des Kapitalismus: Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Hamburg: VSA-Verlag 1986. 4 Das Herrschaftswissen dominanter sozialer Gruppen oder Klassen äußert sich, wie sich im Anschluss an Antonio Gramscis Hegemonietheorie festhalten lässt, in der Etablierung von Narrativen, die den gesellschaftlichen Status quo legitimieren. Sozioökonomische Herrschaft löst sich »niemals völlig vom Konsens und der Alltagspraxis der Individuen« (Sabine Fromm, Formierung und Fluktuation: Die Transformation der kapitalistischen Verwertungslogik in Fordismus und Postfordismus, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag 2004, S. 61), da die Aufrechterhaltung hegemonialer Herrschaft durch die unmittelbare Anwendung von Gewalt auf Dauer sowohl in ökonomischer als auch politischer Hinsicht zu kostspielig wäre.

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Hälfte des 20. Jahrhunderts, also während der Hochzeit der Industrieproduktion, legitimiert das fordistische Narrativ mit seinem Idealbild einer sozial befriedeten Gesellschaft, in der es zwar ungleich, aber geordnet zugeht, die Durchsetzung der tayloristischen Arbeitsorganisation.5 Statt die Klassenkonflikte gewaltsam zu unterdrücken, versprechen die Rationalisierung und Verwissenschaftlichung der Industrieproduktion zum einen eine effiziente, sachliche und machtfreie Organisation der Arbeit und zum anderen eine umfassende Steigerung des Wohlstands für alle Gesellschaftsschichten,6 weshalb der »Fordismus die Arbeiterphantasien«7 beherrscht und sich auch in planwirtschaftlichen Wirtschaftssystemen durchsetzt. Die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Narrativs sinkt ab den 1960er Jahren aufgrund der negativen Erfahrungen der Konsumenten mit dem fordistischen Modell eines den monotonen Arbeitsprozess kompensierenden Konsums. Die Masse der standardisierten Produkte erzeugt das Gefühl einer Armut in der Warenfülle, weil ihr Konsum lediglich Entspannungsbedürfnisse befriedigt, aber kaum die aktive Entfaltung individueller Wünsche, Interessen und Fähigkeiten zulässt. So kommt es im Fordismus zu der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beschriebenen Verdopplung des monotonen Arbeitsprozesses in der Freizeit und Konsumsphäre: Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozess ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorganges selbst.8

Im postfordistischen Regulationsmodell verliert dieser kompensatorische Konsum, der der Monotonie der industriellen Arbeitsorganisation verhaftet bleibt, seine gesellschaftliche Akzeptanz. Das neue kulturelle Leitbild stellt der individualistische Modus eines intensiven Lebens dar, das für die verschiedensten postmodernen Protestströmungen wie die Frauenbewegung, die Jugendkultur 5 Klassisch findet sich diese Ideologie in Henry Fords Autobiographie, in der er sein Konzept moderner Arbeitsorganisation mit der angeblichen ›natürlichen Ungleichheit‹ der Menschen begründet: »Die Menschen sind weder geistig noch körperlich gleich veranlagt. Jeder Plan, der von der Voraussetzung ausgeht, daß die Menschen einander gleich sind oder gleich sein sollten, ist unnatürlich und daher auch undurchführbar.« (Henry Ford, Mein Leben und Werk, einzig autorisierte deutsche Ausgabe von Curt und Marguerite Thesing. 23. Aufl., Leipzig: Paul List 1923, S. 215.) 6 Vgl. zu diesem Arbeitsregime und dem mit ihm verbundenen Wohlstandsversprechen Peter Borscheid, »Zeit und Raum: Von der Beschleunigung des Lebens«, in: Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, hg. von Reinhard Spree, München: C. H. Beck 2001, S. 23–49. 7 Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart: Steiner 2000, S. 43. 8 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, 15. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 145.

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oder auch die Umweltbewegung eine zentrale Rolle spielt. Die typisch fordistischen Glücksvorstellungen eines materiellen Wohlstands und kontinuierlichen Wirtschaftswachstums verlieren gegenüber kulturell-immateriellen Glückskonzepten an Bedeutung, die auf einer »Ökonomie der Singularitäten«9 beruhen. Einmalige Erlebnisse, Spaß, Expressivität, Selbstverwirklichung, ganzheitliches Naturerleben – unter dem Begriff der Differenz (diversity) wertet die Postmoderne vielfältige Praktiken und Strategien kultureller Differenzbildung auf. Dabei ermöglicht sie parallel zur Verschiebung des öffentlichen Diskurses »von kollektiv-sozialen zu individuell-konkurrenzorientierten Normen und Werten«10 marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen, ihre spezifischen Lebensweisen zu artikulieren und Diskriminierungen auf der Ebene des Geschlechterverhältnisses, der Ethnie, der Religion oder der Altersgruppe zu kritisieren. Sozialpsychologisch schlägt sich diese Transformation des ökonomischen Regulationsregimes und der sie legitimierenden Narrative in einer grundlegenden Neujustierung der Dispositive und Interdiskurse nieder, aus denen sich das ideologische Gefüge des »Normalismus«11 zusammensetzt. Normalismus ist, wie Jürgen Link überzeugend zeigt, eine historische Kategorie, die sich nicht auf rechtlich-moralische Normativität oder eine biologisch-anthropologische Konstante (Homöostase) reduzieren lässt, sondern sich auf die kollektive Abschätzung bezieht, welche Verhaltens-, Denk- und Empfindungsmuster sich im Rahmen des gesellschaftlich Akzeptierten bewegen (und welche nicht). Dabei operiert der Normalismus auf Basis von »Verdatung und Statistik« mit einer Vorstellung von Durchschnittlichkeit, der eine »konstitutive Flexibilität« eingeschrieben ist,12 da sie nicht der Institutionalisierung eines starren Organisationsprinzips (wie zum Beispiel in der Industrieproduktion), sondern der Selbstregulation und -anpassung der Subjekte an die extrem dynamische Umwelt moderner, offener Gesellschaften dient. Der Normalismus stellt »Dispositive kompensierender Ver-Sicherung (Sicherheit) gegen die Risiken eines hyperdynamischen, symbolisch exponentiellen Wachstums zur Verfügung«.13 Während im Fordismus die konkreten Strategien zur Ausgestaltung der normalisierenden Dispositive und Interdiskurse sich an der Industrienorm orientieren, also auf »die maximale Komprimierung der Normalitäts-Zone« zielen, setzt sich im 9 Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 111. 10 Sabine Fromm, Formierung und Fluktuation: Die Transformation der kapitalistischen Verwertungslogik in Fordismus und Postfordismus (Anm. 4), S. 220. 11 Zum Begriff vgl. die grundlegenden Ausführungen bei Jürgen Link: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird, 5. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, insbesondere S. 17–40. 12 Ebd., S. 37. 13 Ebd., S. 39.

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Postfordismus ein flexibleres Verständnis von Normalität gegen diese »protonormalistische Strategie« durch, deren Lustfeindlichkeit durch die »maximale Expandierung und Dynamisierung der Normalitäts-Zone«,14 d. h. die Steigerung von »Intensität, fun und thrill«15 überwunden werden soll. Dieser mit dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus einhergehende Strategiewechsel auf dem Feld des Normalismus ist untrennbar mit der Restrukturierung des realen, symbolischen und imaginären Aufbaus gesellschaftlicher Räume verbunden. Im fordistischen Regulationsregime sind Räume als »Lagerungsbeziehungen«16 von Menschen, Materialien und Werkzeugen organisiert, die auf klaren Oppositionen (innen vs. außen, real vs. imaginär etc.) beruhen. Je nach Betrachtungsweise erscheint das Raumarrangement der Industrieproduktion mit ihrer tayloristischen Arbeitsorganisation entweder als utopischer Vorgriff auf eine vollständig rationale Gestaltung des sozialen Lebens oder als Bezugspunkt für die dystopische Zerstörung jeglicher Spontaneität, Authentizität und Lebendigkeit.17 Die Flexibilisierung des normalistischen Dispositivs, die den Subjekten erlaubt bzw. sie dazu auffordert, eine große »Schwingungsbreite«18 an diversen Selbst- und Lebensentwürfen zu realisieren, Grenzen auszutesten und zu verschieben, Lust an der Denormalisierung zu empfinden und die »Fassaden-Normalität«19 der fordistischen Epoche zugunsten authentischer Selbstregulation zu überwinden, neutralisiert die Spannung zwischen gesellschaftlichem Sein und utopischen bzw. dystopischen Imaginationen. Der postmoderne Normalismus klammert nicht mehr alle sperrigen Daten und Faktoren aus, die die Konstruktion eines homogenen Kontinuums an normgerechten Verhaltens-, Empfindungs- und Denkmustern stören, sondern operiert mit einem komplexen Grenzwertkalkül, das die kulturell und ökonomisch geforderte Intensivierung individueller Lebensstile gegen die Gefahr eines unkontrollierbaren Durchdrehens absichern soll. Bei der individuellen Bestim14 Ebd., S. 54. 15 Ebd., S. 44. 16 Michel Foucault, »Andere Räume«, in: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hg. von Karlheinz Barck [u. a.], aus dem Französischen von Walter Seitter, Leipzig: Reclam 1992, S. 34–46, hier S. 37. Für Foucault entwickeln sich die abendländischen Raumkonzepte vom mittelalterlichen »Ortungsraum« (ebd., S. 36), der eine starke Hierarchisierung aufweist (himmlische, heilige und irdische Orte), über den offenen und unendlichen Raum der Ausdehnung, den die neuzeitlichen Naturwissenschaften seit Galilei für ihre Forschungen nutzen, zum modernen Raum, der auf die effiziente Lagerung und Platzierung von Menschen, Technik und Informationen zielt. 17 Utopien stehen zum »wirklichen Raum der Gesellschaft« in einem »Verhältnis unmittelbarer oder umgekehrter Analogie«, denn sie imaginieren die »Perfektionierung der Gesellschaft« oder ihre zerstörerische »Kehrseite« (ebd., S. 39). 18 Jürgen Link, Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird (Anm. 11), S. 353. 19 Ebd., S. 55.

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mung dieses Grenzwerts geht es um die Abschätzung einer letzten Intensitätsgröße, jenseits derer eine Dynamik irreversibel eskaliert. Das letzte Glas des Alkoholikers markiert zum Beispiel, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari pointiert festhalten, eine variable und zugleich endgültige Grenze, die er nicht überschreiten darf, wenn er die Rechtfertigungsstrategien für seine Sucht aufrechterhalten will. Jenseits dieser Grenze wartet das ›allerletzte‹ Glas, das den Suchtzyklus aus Alkoholkonsum, Reue, halbherziger Veränderungsbereitschaft, Selbstbeschwichtigung und Rechtfertigung neuerlichen Konsums für den Alkoholiker unerträglich werden lässt.20 Dieses Grenzwertkalkül, das für die Lebens- und Erfahrungswelten des Postfordismus von grundlegender Bedeutung ist, steht in engem Zusammenhang mit dem für die Gegenwart charakteristischen Verschwinden utopischer Räume und der Ausbreitung von »Heterotopien«, also von Räumen, in denen die »wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können«.21 Wie in der folgenden Analyse der anormalen Reise in die Walachei, die im Zentrum von Herrndorfs Roman Tschick steht, deutlich werden wird, erscheinen diese anderen Räume aus Perspektive der hegemonialen Dispositive und Interdiskurse des Normalismus als »Abweichungsheterotopien«,22 die in einem von (sozial)pädagogischen, therapeutischen und polizeilichen Institutionen abgesteckten und gesicherten Rahmen eine gewisse Denormalisierung zulassen, aber nicht das elementare Prinzip des Normalismus, die Orientierung an der regulativen Idee gesellschaftlicher Durchschnittlichkeit, verletzen dürfen. Maik und Tschick entziehen sich jedoch auf ihrem Trip familiären und sozialstaatlichen Kontrollinstanzen und treten in den Raum einer »Krisenheterotopie«23 ein, in dem in doppelter Hinsicht die Grundprinzipien des Normalismus außer Kraft gesetzt scheinen: Die Ziellosigkeit ihrer Fahrt lässt erstens ein ekstatisches Gefühl von freier Zeit entstehen, dem die richtungsgebundene Dynamik des modernen Fortschrittsdenkens abgeht. Damit verliert aber zweitens der Normalismus, dessen gesellschaftliche Hauptfunktion ja in der Abbremsung einer eskalierenden Fortschrittsdynamik besteht, seine handlungsleitende Steuerungsfunktion und erscheint als lebensfremdes Konstrukt,

20 Zu diesem sowohl für die Theorie des Tausches als auch für die Alltagskommunikation grundlegenden Grenzwertkalküls vgl. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie II, hg. von Günther Rösch, aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, 6. Aufl., Berlin: Merve 2005, S. 606ff. 21 Michel Foucault, »Andere Räume« (Anm. 16), S. 39. 22 Ebd., S. 40. 23 Ebd.

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das der authentischen Verarbeitung von elementaren Krisenerfahrungen der Adoleszenz schadet.24

II

Die Angst vor der Normalität

Maik Klingenbergs Versuche, sich in den alterstypischen Lebenswelten (Peer Groups, Familie, Schule) zurechtzufinden, umkreisen das Thema gesellschaftlicher Normalität, das für ihn eine starke Ambivalenz aufweist. Auf der einen Seite zeigt er eine große Sehnsucht nach dem Schutz der Normalität, der insbesondere in seinem zerrütteten Elternhaus erkennbar fehlt. Auf der anderen Seite ist er sich aber bewusst, dass sein angepasstes, risikoscheues Verhalten mit einem Verzicht auf lustvolle, intensive Erfahrungen einhergeht. Die Betrachtung einer Touristengruppe von Rentnern löst in ihm zum Beispiel ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit aus, weil sie ihm vor Augen führt, wie eng der Zusammenhang von Normalität und lebensfeindlichem Lustverzicht ist: Und auch die ganz Normalen hatten Pläne für die Zukunft, und was garantiert nicht in diesen Plänen stand, war, sich in beige Rentner zu verwandeln. Je länger ich über diese Alten nachdachte, die da aus den Bussen rauskamen, desto mehr deprimierte es mich.25

Seine unauffällige Durchschnittlichkeit macht ihn zudem unfreiwillig zu einem sozial isolierten Außenseiter, der von seinen Mitschülern nicht beachtet wird. Dass er »nie einen Spitznamen« hatte, ist für Maik ein Zeichen dafür, dass er »langweilig ist und keine Freunde hat«.26 Wie er präzise registriert, lässt sich die Einbindung in Gleichaltrigengruppen nicht durch besondere Leistungen oder Erfolge herstellen. Als er beim Hochsprung einen einsamen Rekord aufstellt, interessiert sich kein Mädchen seiner Klasse für diese Leistung, während es bei 24 Philipp Ritzen vertritt die These, dass der Beschreibung der anormalen Räume der deutschen Provinz im Roman eine utopische Dimension innewohnt. Da diese Räume sich jedoch durch ihre »nicht völlige Fiktionalität« auszeichnen, betrachtet er sie als »Heterotopien mit utopischen Impulsen« (Philipp Ritzen, »Mit dem Lada ins Nirgendwo – Elemente des Utopischen in Wolfgang Herrndorfs Tschick«, in: Alman Dili ve Edebiyatı Dergisi – Studien zur deutschen Sprache und Literatur 34 (2015): 85–96, hier S. 90). Diese Verknüpfung von Heterotopie und Utopie scheint mir nicht überzeugend. Zwar ist dem Befund nicht zu widersprechen, dass die waghalsige Fahrt der beiden Jugendlichen von glücklichen Umständen begleitet wird und dass Maik einen Lernprozess durchläuft, an dessen Ende er selbstbewusster und reflektierter mit gesellschaftlichen Normvorstellungen umzugehen versteht. Ein positiver, utopischer Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung scheint mir jedoch im Roman nicht nachweisbar zu sein. Daher wird in diesem Beitrag argumentiert, dass Maik auf seiner Fahrt durch die deutsche Provinz eine Krise durchlebt, die ihm die Fragwürdigkeit und Brüchigkeit gesellschaftlicher Normalität bewusst macht, ohne dass die Verarbeitung dieser Krise aber eine utopische Dimension aufweist. 25 Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 118. 26 Ebd., S. 21 [Hervorhebung im Original].

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seinem Mitschüler André, der aufgrund seines attraktiven Aussehens und selbstsicheren Auftretens sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, begeisterten »Mädchenjubel« gibt: »Keins von den Mädchen hatte meinen Sprung gesehen. Es interessierte sie nicht, was die psychotische Schlaftablette sich da zusammensprang.«27 Auf diese fehlende Aufmerksamkeit, die Maik als ungerecht empfindet, reagiert er zunächst mit Resignation, da ihm die Ideen fehlen, wie er sich bei seinen Mitschülerinnen und Mitschülern beliebt bzw. interessant machen könnte: »Aber so war das eben. Das war die Scheißschule, und das war das Scheißmädchenthema, und da gab es keinen Ausweg.«28 Dass er bis zu seiner Begegnung mit Tschick aus dieser frustrierenden Situation keinen Ausweg findet, hat wesentlich mit seiner Unsicherheit zu tun, wie er mit den Widersprüchen und Ambivalenzen umgehen soll, die sein familiäres Umfeld bei der Inszenierung von Normalität an den Tag legt. Maiks Mutter, zu der er im Unterschied zu seinem Vater ein gutes Verhältnis hat, weil sie »sehr witzig sein« kann, was man »ja von den meisten Müttern nicht gerade behaupten« kann,29 pflegt zum Beispiel vordergründig einen sehr offenen und humorvollen Umgang mit ihrem Alkoholismus. Ihre Entzugsklinik nennt sie scherzhaft »Beautyfarm«,30 wobei dieses Codewort nicht dazu dient, vor ihrem sozialen Umfeld eine Fassaden-Normalität aufrechtzuerhalten. Als sie in ihrem Tennisclub das wenig geistreiche Kompliment erhält, dass sie einen Aufenthalt auf einer Beautyfarm überhaupt nicht nötig habe, antwortet sie in aller Direktheit, dass es sich bei der Beautyfarm in Wahrheit um eine Entzugsklinik handele: »War ein Witz, Herr Schuback. Ist ’ne Entzugsklinik.«31 Diese demonstrative Offenheit und Gelassenheit sind, wie Maik sich langsam bewusst wird, jedoch auch Elemente einer Strategie, die der Kaschierung ihrer Sorgen und Ängste vor den sozialen Folgelasten ihrer Sucht dient: »Zweifel sind mir erst später gekommen. Keine Zweifel am Prinzip. Aber Zweifel, ob es meiner Mutter wirklich so scheißegal war.«32 Da er zunächst die Authentizität des scheinbar offenen Umgangs seiner Mutter mit ihrem Alkoholismus nicht bezweifelt, beschreibt er in einem Deutschaufsatz naiv und unbekümmert den konkreten Ablauf der Therapie in der Entzugsklinik. Als er den Aufsatz der Klasse vorträgt, löst er unter seinen Mitschülern Stürme der Begeisterung aus und erhält sogar für kurze Zeit den Spitznamen »Psycho«.33 Erst als ihm sein Lehrer die Unangemessenheit des Aufsatzes, mit dem er seine Mutter als Alkoholikerin vor der Klasse bloßstellt, 27 28 29 30 31 32 33

Ebd., S. 39 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 40. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd., S. 28f. Ebd., S. 21.

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deutlich zu machen versucht, kommen ihm erste Zweifel, ob solche sehr persönlichen Erfahrungen und Krisen im schulischen Kontext offen thematisiert werden sollten. Jedoch ist sein Lehrer nicht in der Lage, einen altersgerechten Dialog mit Maik über kritische Lebenserfahrungen wie Alkohol- oder Drogenabhängigkeit und die Schutzwürdigkeit der Privatsphäre zu führen. Statt Maik bei der Reflexion zu unterstützen, beginnt er ihn zu beschimpfen, indem er den Aufsatz als das »Widerwärtigste und Ekelerregendste und Schamloseste« bezeichnet, »was ihm in fünfzehn Jahren Schuldienst untergekommen sei«.34 Dieses äußerst unprofessionelle pädagogische Handeln, das in den inhaltsleeren Appell mündet, Maik solle über sein Verhalten nachdenken, bewirkt verständlicherweise eine Trotzreaktion, die sich gegen das unangemessene Autoritätsgehabe des Lehrers wendet: »Ich dachte eine Minute nach, und, ehrlich gesagt, ich kapierte es nicht. Ich habe es bis heute nicht kapiert. Ich meine, ich hatte ja nichts erfunden oder so.«35 Dass Maik mit seinem Aufsatz so gnadenlos die Erwartungshaltung seines Lehrers verfehlt, liegt nicht daran, dass er die Aufgabenstellung missversteht, bei der es sich um eine Reizwortgeschichte handelt. Maik verlegt sich nicht wie seine Mitschüler darauf, einfallslos Geschichten über den letzten Urlaub zu erzählen, sondern bringt in der realitätsnahen Geschichte über den Aufenthalt seiner Mutter in der Entzugsklinik gekonnt alle vier geforderten Reizworte (Urlaub, Wasser, Rettung, Gott) unter. Er gibt dabei jedoch in seiner Naivität private Probleme seiner Familie preis, die den Rahmen des sozial Akzeptierten sprengen und die Maik daher nach Ansicht seines Lehrers niemals in der Reizwortgeschichte hätte verarbeiten dürfen.36 Maiks Unsicherheit bezüglich der unausgesprochenen Konventionen, die den Rahmen gesellschaftlicher Normalität abstecken, rührt von der Kommunikationskonfusion her, der ihn seine Eltern aussetzen. Sie unternehmen scheinbar keinerlei Bemühungen, ihrem Kind gegenüber eine bürgerliche Fassade aufrechtzuerhalten. So führt Maiks Vater in aller Offenheit mit seiner 19-jährigen, »extrem gut aussehend[en]« Assistentin Mona eine Affäre, ohne dies vor seiner Frau bzw. seinem Sohn zu verbergen: Okay fand ich immerhin, dass mein Vater gar nicht erst versuchte, irgendein großes Theater abzuziehen. Hatte er eigentlich auch nicht nötig. Zwischen meinen Eltern war

34 Ebd., S. 32. 35 Ebd. 36 Die plastische Schilderung von Maiks Konflikten in der Schule und seiner Familie dürfte ein wichtiger Grund für die Popularität des Jugendromans im Schulunterricht sein. Schon früh nach seiner Veröffentlichung sind verschiedene Lektüre- und Unterrichtshilfen zum Roman erschienen. Vgl. zum Beispiel Alexandra Wölke, Wolfgang Herrndorf: »Tschick«… verstehen, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016 oder Wolfgang Pütz, Wolfgang Herrndorf: »Tschick«, Stuttgart: Klett 2016.

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so weit alles klar. Meine Mutter wusste, was mein Vater machte. Und mein Vater wusste auch, was meine Mutter machte.37

Trotz dieser beiderseitigen Klarheit lassen sich Maiks Eltern aber zu seiner großen Irritation nicht scheiden, sondern werfen sich mit großer Intensität ihr jeweiliges Verhalten vor. Auch ist Maiks Vater nicht bereit, offen mit seinem Sohn über die Affäre mit Mona zu sprechen. Obwohl allen Beteiligten klar ist, dass er mit Mona für zwei Wochen in einen privaten Urlaub fährt, hält er vor seinem Sohn notdürftig den Anschein aufrecht, dass er mit seiner Assistentin eine wichtige Dienstreise unternehme. Dieses kommunikative Doublebind, also das synchrone Aussenden von widersprüchlichen Botschaften,38 löst bei Maik keinen Verdrängungsprozess aus, sondern – um eine Formel der Palo-Alto-Schule zu verwenden – eine Verleugnung der Verleugnung,39 die sich im Unterschied zur neurotischen Verdrängung durch die Inkonsistenz der eingesetzten Abwehrstrategie auszeichnet. Die Rationalisierungs- und Abwehrversuche sind im Fall der Verleugnung der Verleugnung so offenkundig imaginär und widersprüchlich, dass sie kein verborgenes, mühsam zu entschlüsselndes Unbewusstes entstehen lassen, sondern – wie das folgende Beispiel zeigt – den psychischen Konflikt unverstellt hervortreten lassen. Nachdem Mona und sein Vater das Haus verlassen haben, genießt Maik nicht seine freie, von Erwachsenen unkontrollierte Zeit, sondern wirft sich plötzlich weinend auf den Boden und imaginiert sich eine melodramatische Szene, in der er Mona theatralisch gesteht, dass er von der CIA zur Geheimdienstarbeit gezwungen werde und ihre Liebe daher noch einige Jahre warten müsse: »Wir können nur ihr Spiel mitspielen. Das Wichtigste ist, die Fassade aufrechtzuerhalten.«40 Mit dieser aus Versatzstücken klischeehafter Teenie-Filme montierten Phantasie parodiert Maik die halbherzige Geheimniskrämerei seines Vaters, deren Sinn ihm unverständlich bleibt. Im Rückgriff auf eine von Watzlawick inspirierte Küchenpsychologie, die er einer Zeitschrift entnimmt, spekuliert Maik, dass seine Eltern vom Wunsch angetrieben würden, unglücklich zu sein. Jedoch löst auch dieser Erklärungsversuch die 37 Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 70. 38 Zum Begriff des Doublebind bzw. der Doppelbindung vgl. Gregory Bateson, Don D. Jackson, Jay Haley [u. a.], »Auf dem Wege zu einer Schizophrenie-Theorie«, in: dies., Schizophrenie und Familie, aus dem Englischen von Hans-Werner Saß, mit einem Vorwort von Caspar Kulenkampff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 11–43. 39 Die Studien der Palo-Alto-Schule zu den psychischen Auswirkungen von Doppelbindungen beziehen sich ursprünglich auf psychotische Patienten: »Der Schizophrene wird nicht nur leugnen, daß er etwas sagt, sondern das auch noch auf eine Weise tun, daß seine Verleugnung verleugnet wird.« (Jay Haley, »Die Interaktion von Schizophrenen«, in: Gregory Bateson, Don D. Jackson, ders. [u. a.], Schizophrenie und Familie, aus dem Englischen von Hans-Werner Saß, mit einem Vorwort von Caspar Kulenkampff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 81–107, hier S. 96 [Hervorhebung im Original].) 40 Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 72.

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irritierenden Ambivalenzen nicht auf, die seine Eltern in ihrer Kommunikation zeigen: »Aber irgendwann kam ich zu dem Schluss, dass sie sich gern anschrien. Dass sie gerne unglücklich waren. […] Irgendwas daran leuchtete mir sofort ein. Arber irgendwas leuchtete mir auch nicht ein.«41 Während Maik mit Unsicherheit auf die intransparente Konstellation des Doublebind reagiert, verfügt Tschick über ein deutlich größeres Geschick, mit den kommunikativen Unwägbarkeiten zu spielen, die aus den widersprüchlichen Versuchen der Erwachsenen resultieren, eine Fassade von Normalität aufrechtzuerhalten. Er nutzt, wie sich an seiner Interpretation von Brechts Keuner-Geschichte »Das Wiedersehen« zeigt, die unklaren Kommunikationsmuster der Erwachsenen aus, um an der Legende zu stricken, er stamme aus einem kriminellen Umfeld. Statt wie der Rest der Klasse die im Internet ohne großen Aufwand recherchierbare Standardinterpretation der Geschichte zu reproduzieren, erfindet er eine wilde Hintergrundgeschichte, in der Herr K. als Krimineller auftritt. Das Erbleichen von Herrn K. über das Kompliment, er habe sich nicht verändert, deutet Tschick korrekt als Erschrecken über das Scheitern einer Tarnmaßnahme.42 Statt diesen Grundbefund aber literaturhistorisch oder werkgeschichtlich einzuordnen, erweitert Tschick die Keuner-Geschichte zu einer Räuberpistole, in der Herr K. als ein skrupelloser Waffenschieber agiert, der sich sein Gesicht operieren ließ, um sich vor der CIA zu verbergen.43 Dass Tschick das ironische Spiel mit dem alltäglichen Kompliment so eindeutig auflöst und auf einen kriminellen Kontext bezieht (von dem in Brechts Geschichte ja nirgends die Rede ist), erzeugt sowohl bei seinen Mitschülern als auch seinem Lehrer deutliche Irritationen, da sie als Hintergrund für diese Deutung persönliche Erfahrungen Tschicks mit einem kriminellen Milieu vermuten. Tschick versteht es geschickt, mit diesen Vermutungen und Erwartungen seiner Mitschüler bzw. Lehrer zu spielen und sich auf diese Weise – trotz seines Außen41 Ebd., S. 70f. 42 Zur Deutung des Erbleichens als Erschrecken über eine gescheiterte Tarnmaßnahme vgl. aus literaturdidaktischer Sicht Jörg Gräbner, »Phantastische Genauigkeit: Zur literarischen Lesekompetenz von Kindern«, in: Lesezeichen: Mitteilungen des Lesezentrums der Pädagogischen Hochschule 4 (1998): 34–54. 43 Die Keuner-Geschichte »Das Wiedersehen« fungiert in der literaturdidaktischen Forschung seit der grundlegenden Studie von Heinz Hillmann als einschlägiges Beispiel, um die Erfahrungsabhängigkeit der Lese- und Interpretationsstrategien von Schülern zu demonstrieren. Um das Erbleichen zu erklären, führten Schüler, deren Interpretationsverfahren Hillmann in seiner empirischen Studie untersuchte, teilweise abwegige Gründe (fehlgeschlagene Schönheitsoperationen, Schlankheitskuren etc.) an. Vgl. Heinz Hillmann, »Rezeption – empirisch«, in: Ästhetische Erfahrung und literarisches Lernen, hg. von Wilhelm Dehn, Frankfurt a.M.: Fischer 1974, S. 219–237. Es ist meiner Einschätzung nach wahrscheinlich, dass Herrndorf die literaturdidaktische Fachdiskussion um Brechts Keuner-Geschichte kannte und mit Tschicks Interpretation ein parodistisch überspitztes Beispiel für eine abwegige Erklärung des Erbleichens in den Roman einbaute.

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seiterstatus – einen gewissen Respekt zu verschaffen.44 Diese Fähigkeit macht ihn, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird, für Maik interessant, der durch die Freundschaft mit Tschick und die Abenteuerfahrt quer durch die deutsche Provinz sein Image als ängstlicher Langweiler ablegt und die Anerkennung seiner Mitschüler gewinnt.

III

Die Walachei als Krisenheterotopie

In einem der unterhaltsamsten Dialoge des Romans unternimmt Tschick den Versuch, Maik von einer Reise in die Walachei zu überzeugen, wie sie seiner Meinung nach »normale Leute«45 in ihrer Urlaubs- bzw. Freizeit unternehmen.46 Maiks Einwand, dass eine Fahrt zweier Teenager mit einem gestohlenen Lada47 nicht »ganz das« ist, »was normale Leute machen«,48 hält Tschick nicht von weiteren Überredungsbemühungen ab, da er mit seinem Mitschüler, in den er sich verliebt hat, ungestört Zeit verbringen will. Maik bleibt dieser Hintergrund von Tschicks Vorschlag für die gemeinsame Reise verborgen.49 Dies liegt nicht nur an Maiks Unbedarftheit, sondern auch an der irritierenden Kommunikationsstrategie, mit deren Hilfe Tschick herauszufinden versucht, ob Maik homosexuell ist. Er unterstellt ihm zum Beispiel in einem Gespräch, dass er »sexuell desorientiert« sei und dass alle seine Verleugnungsbemühungen leicht zu durchschauen seien: 44 Als Tschick von einer Gruppe älterer Schüler vor dem Schulgebäude wiederholt als »Scheißmongole« (Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman [Anm. 1], S. 49) beschimpft wird, steuert er selbstbewusst auf die Gruppe zu und flüstert dem Wortführer kurz etwas ins Ohr. Da ab diesem Moment keiner der älteren Jugendlichen sich mehr traut, Tschick zu beschimpfen, setzt sich in der Schule das Gerücht durch, »dass Tschicks Familie wirklich die russische Mafia wäre oder so was« (ebd.). Zur Darstellung Tschicks als russlanddeutscher Spätaussiedler vgl. Boris Hoge-Benteler, »Metakonstruktion: Zu Möglichkeiten des Umgangs mit ›problematischen‹ Russlanddarstellungen in der jüngsten deutschen Erzählliteratur am Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick«, in: Kjl&m 2 (2015): 33–42 sowie Robert Hermann, Präsenztheorie: Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf), Baden-Baden: Ergon 2019, S. 375–378. 45 Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 95. 46 Ausführlich zu den Komikverfahren in Herrndorfs Werk vgl. Moritz Mosimann, »›Die Komik ist überhaupt sein wahres Elixier‹: Charakteristik und Funktion literarischer Komik im Gesamtwerk Wolfgang Herrndorfs«, in: »Germanistenscheiß«: Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs, hg. von Matthias Lorenz, Berlin: Frank & Timme 2019, S. 91–130. 47 Die Darstellung des Lada legt Assoziationen zu einem »(Piraten)Schiff« nahe, das »in Freibeutermanier gestohlen werden muss« (Philipp Ritzen, »Mit dem Lada ins Nirgendwo – Elemente des Utopischen in Wolfgang Herrndorfs Tschick« [Anm. 24], S. 89), damit die Reise beginnen kann. 48 Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 96 [Hervorhebung im Original]. 49 Isa hingegen ist sich über Tschicks sexuelle Orientierung sehr schnell klar. Vgl. Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman, Berlin: Rowohlt 2014, S. 121.

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»Ich kann’s beweisen«, sagte ich. »Soll ich’s dir beweisen?« »Mir beweisen, dass du nicht schwul bist? Uh-ah-ah.« Er wedelte mit den Händen unsichtbare Fliegen weg.50

Als Tschick die Zeichnung von Beyoncé begutachtet, die Maik für Tatjana Cosic erstellt hat, wird ihm schnell klar, dass er keine Chancen bei seinem Mitschüler hat. Tschick erkennt mit einer für Maik überraschenden und beeindruckenden Feinfühligkeit, dass er aus Verzweiflung über die ausgebliebene Einladung zu Tatjanas Party beinahe die Zeichnung zerrissen hätte: »Er guckte sich diesen Riss ganz genau an und dann nochmal die Zeichnung, und dann sagte er: ›Du hast ja Gefühle.‹«51 Diese Sensibilität für seine Gefühlslage lässt Maik seine anfängliche Antipathie gegenüber Tschick überdenken und motiviert ihn, der Reise in die Walachei zuzustimmen. Während Tschick, der die sprichwörtliche Bedeutung des Ausdrucks nicht kennt, mit der Walachei die real existierende Region im südlichen Rumänien meint, interpretiert Maik den Begriff im übertragenen Sinn als unwirtliche Landschaft, da er mit der geographischen Ortsbezeichnung nicht vertraut ist: »Nicht irgendwo da draußen, Mann. In der Walachei.« »Das ist doch dasselbe.« »Was ist dasselbe?« »Irgendwo da draußen und Walachei, das ist dasselbe.« »Versteh ich nicht.« »Das ist nur ein Wort, Mann«, sagte ich und trank den Rest von meinem Bier. »Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh.«52

Aufgrund der mangelnden Kenntnis der tatsächlichen Lage der Walachei führt die Reise Tschick und Maik kreuz und quer durch die deutsche Provinz, also an Orte, auf die die sprichwörtliche Bedeutung des Begriffs passt.53 Da sie keine taugliche Straßenkarte zur Verfügung haben und mit dem mitgeführten Kom50 51 52 53

Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 87. Ebd. Ebd., S, 97 [Hervorhebung im Original]. Zur Verarbeitung des literarischen Topos der Walachei im Roman vgl. die ausführliche Darstellung bei Ana-Maria Schlupp: »Von der wilden Walachei: Zu einem literarischen Topos von Wezel bis Herrndorf«, in: Unwirtliche Landschaften: Imaginationen der Ödnis in Literatur und Medien, hg. von Sabine Eickenrodt und Katarina Motyková, Frankfurt a.M. [u. a.]: Peter Lang 2016, S. 117–135. Wie Michaela Holdenried betont, bleibt die Walachei im Roman »Xenotopos« (Michaela Holdenried, »›Praktisch Wüste‹: Exotismus – Anti-Exotismus – Pseudo-Exotismus als narrative Momente im Werk von Wolfgang Herrndorf«, in: »Germanistenscheiß«: Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs, hg. von Matthias Lorenz, Berlin: Frank & Timme 2019, S. 323–339, hier S. 329), da die beiden Jugendlichen sie nicht erreichen, sondern sie nur Antrieb für die Reise ist. Weiterführend zu Imaginationen fremder Räume im Werk Herrndorfs vgl. Caroline Frank, »In Walachei, Weltall und Wüste: Wolfgang Herrndorfs imaginative Geographien«, in: Wolfgang Herrndorf, hg. von Annina Klappert, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaft 2015, S. 165–180.

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pass nicht umgehen können, verlieren sie bereits kurz hinter Berlin die räumliche Orientierung. Auch in zeitlicher Hinsicht nimmt der Organisationsgrad des gewohnten Alltags deutlich ab. Die beiden Jugendlichen erleben freie, ungebundene Zeit, die nicht von den Leistungsanforderungen in der Schule und den sozialen Verpflichtungen in Gleichaltrigengruppen und Familie bestimmt wird. Schließlich ist für ihre Kommunikation während der Reise Technik- und Medienarmut charakteristisch. Maik und Tschick verfügen über keine Smartphones und verlieren sich daher beinahe, als sie zu Beginn ihrer Reise vor einem Polizisten flüchten müssen.54 Sie konsumieren zudem keine alterstypische Musik, da sie keine entsprechenden Medien mit sich führen und sie im Lada lediglich eine Kassette mit Klaviermusik von Richard Clayderman vorfinden.55 Aufgrund dieser Außerkraftsetzung räumlicher, zeitlicher und identitätsbezogener Normalität lässt sich die Walachei als heterotopischer Raum verstehen, der es Tschick und Maik ermöglicht, mit »ihrer herkömmlichen Zeit [zu] brechen«56 und – unkontrolliert von pädagogischen oder therapeutischen Institutionen – freie Zeit zu genießen.57 Dieses Zusammenspiel von Heterotopie und Heterochronie lässt die Normalität des Alltags als Illusion erscheinen.58 Im deutschen Hinterland treffen Tschick und Maik auf »viele Verrückte«,59 womit sie nicht psychisch Erkrankte, sondern sich verschroben bzw. seltsam verhaltende Erwachsene bezeichnen, die gegen die den beiden Jugendlichen aus ihrer Lebenserfahrung in der Großstadt vertrauten Normalitätsstandards verstoßen.60 54 Vgl. die Kapitel 26 und 27 des Romans, in denen Maik und Tschick bei der Flucht vor einem »Dorfsheriff« (Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman [Anm. 1], S. 135) getrennt werden. 55 In Arbeit und Struktur erläutert Herrndorf, dass er mit diesem Einfall das literarische Klischee vermeiden wollte, Jugendliche mithilfe ihrer musikalischen Vorlieben zu charakterisieren: »In der Gegenwartsjugendliteratur ist es zwingend notwendig, die Helden identitätsstiftende Musik hören zu lassen, besonders schlimm natürlich, wenn der Autor selbst schon älteres Semester ist, dann trifft es auch gern mal Jimi Hendrix, der neu entdeckt werden muss, und Songtextzitate gehören sowieso als Motto vor jedes Buch.« (Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur, Berlin: Rowohlt 2013, S. 49.) 56 Michel Foucault, »Andere Räume« (Anm. 16), S. 43. 57 Vgl. als ausführliche Analyse der exotischen Reisemotivik Stefan Hermes, »Die exotische Provinz: Zur Reisemotivik in Wolfgang Herrndorfs Tschick«, in: Reiseliteratur in Moderne und Postmoderne, hg. von Michaela Holdenried, Alexander Honold und dems., Berlin: Erich Schmidt 2017, S. 329–347. 58 Laut Foucault können Heterotopien die Funktion übernehmen, die reale Ordnung gesellschaftlicher Räume als illusorisch erscheinen zu lassen. Die deutsche Provinz fungiert im Roman als ein solcher »Illusionsraum«, der »alle Platzierungen, in die das menschliche Leben gesperrt ist, als noch illusorischer denunziert« (Michel Foucault, »Andere Räume« [Anm. 16], S. 45). 59 Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 143. 60 Das normabweichende Verhalten der Erwachsenen, die ihnen in der deutschen Provinz begegnen, stellen Tschick und Maik nicht in einen politischen Kontext. Politische Problemkonstellationen wie der Rechtsextremismus spielen für die Handlung keine Rolle und werden nur in beiläufigen ironischen Bemerkungen angedeutet: Mit schwarzen Klebestreifen unter

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Sie repräsentieren dabei aber nicht das irrationale Andere gesellschaftlicher Normalität, sondern lassen vielmehr die eindeutige Trennung zwischen Normalität und Anormalität als fragwürdig und unsicher erscheinen. Auf einer ihrer letzten Stationen treffen Tschick und Maik zum Beispiel in einem verlassenen Dorf auf einen alten Mann, der zunächst mit einem Gewehr auf sie schießt. Er scheint jedoch nach Maiks Einschätzung »nicht völlig gestört« zu sein, da er immerhin »wie ein normaler Mensch« redet.61 Diese Fragwürdigkeit und Brüchigkeit gesellschaftlicher Normalität bildet das Zentrum der Krise, die die beiden Jugendlichen auf ihrer Fahrt durchleben. Der heterotopische Raum der Walachei ist ein Ort »ohne geographische Fixierung«, ein »Ort des Nirgendwo«, der den Heranwachsenden vorbehalten ist, die »sich im Verhältnis zur Gesellschaft und inmitten ihrer menschlichen Umwelt in einem Krisenzustand befinden«.62 Das Erleben von Frei-Zeit, die sich der Kontrolle pädagogischer bzw. therapeutischer Institutionen entzieht, dient der Verarbeitung der elementaren Krisenerfahrung, die dem intransparenten und unwägbaren Verhalten der Erwachsenen in Bezug auf die Regulation von gesellschaftlicher Normalität entspringt. Maik verarbeitet diese Krisenerfahrung, indem er zum einen eine authentische Freundschaft mit Tschick aufzubaut und zum anderen seine Scheu und sein fehlendes Selbstvertrauen in einer Mutprobe überwindet. Als Tschick aufgrund seines verletzten Fußes nicht mehr den Lada fahren kann und daher das Ende ihrer Reise droht, gesteht Maik in einem Moment der Aufrichtigkeit seinem Freund, dass er sich für den »größte[n] Feigling unter der Sonne« und den »größte[n] Langweiler« halte.63 Tschick offenbart Maik daraufhin seine Homosexualität. Diese Offenheit und Ehrlichkeit, die Maik in dieser Form nicht von den Erwachsenen erfährt, motiviert ihn, trotz seiner Ängste und Unsicherheiten den Lada auf die Autobahn zu steuern. Die Überwindung seiner Ängste löst in ihm für einen kurzen Moment ein »euphorisches Gefühl, ein Gefühl der Unzerstörbarkeit«64 aus, das bis zu dem glimpflich verlaufenen Unfall mit einem Laster auf der Autobahn anhält.

61 62 63 64

der Nase sah Tschick »aus wie Hitler, aber das wirkte aus einiger Entfernung tatsächlich am besten. Und weil wir eh in Brandenburg waren, konnte das auch keine politischen Konflikte geben.« (Ebd., S. 107.) Ebd., S. 184. Michel Foucault, »Andere Räume« (Anm. 16), S. 40. Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 212. Ebd., S. 215.

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IV

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Die »Freundlichkeit der Welt«

Maiks und Tschicks anormale Fahrt durch den heterotopischen Raum der deutschen Provinz ruft die Institutionen des Rechts- und Sozialstaats auf den Plan, die den Roadtrip als Abweichung von den geltenden Normstandards interpretieren und entsprechende disziplinarische und sozialpädagogische Maßnahmen einleiten. Die auffällige Milde der Strafen, die die beiden Jugendlichen erhalten (Tschick muss im Heim »bleiben, wo er eh schon war«65 und Maik muss 30 Sozialstunden ableisten), zeugt – wie Herrndorf in Arbeit und Struktur notiert – jedoch von der den Roman beherrschenden »Freundlichkeit der Welt«,66 die sich auch in der Hilfs- und Unterstützungsbereitschaft vieler Erwachsener zeigt, die den Weg von Maik und Tschick kreuzen. Als Maik zum Beispiel nach dem ersten Unfall, in dessen Folge sich Tschick am Fuß verletzt und im Krankenhaus behandelt wird, auf Aufforderung einer misstrauischen Krankenschwester seine Eltern bzw. eine Verwandte kontaktieren muss, ruft er mitten in der Nacht eine wildfremde Person an und simuliert mit ihr ein Gespräch mit seiner erfundenen Tante Mona. Zu Maiks Überraschung spielt der Angerufene bereitwillig mit und ermöglicht es ihm so, noch einmal für kurze Zeit die Reise fortzusetzen.67 Auch als ihre wilde Fahrt schließlich endet, interessieren sich die Vertreter des Sozialstaats weniger für das ( juristisch relevante) Fehlverhalten der beiden Jugendlichen als für die Versäumnisse ihrer Aufsichtspersonen bzw. Sorgeberechtigten. Maiks behandelnder Arzt übt harsche Kritik an den Polizeibeamten, die Maik ohne ärztliche Versorgung und Untersuchung auf ihrer Station warten ließen, bis er in Ohnmacht fiel, und verdächtigt sie sogar der körperlichen Misshandlung an dem Jugendlichen.68 Vor Gericht thematisiert die Jugendgerichtshilfe die Vernachlässigung, die Maik in seinem Elternhaus erfährt, und macht seine Eltern nicht zu Unrecht für sein normabweichendes Verhalten verantwortlich. Denn aus Sorge, dass seine ohnehin miserabel laufenden Geschäftstätigkeiten durch Maiks Verurteilung geschädigt werden, drängt sein Vater Maik dazu, die alleinige Verantwortung für die Reise Tschick zuzuschieben. Als Maik sich weigert, schreckt sein Vater nicht vor der Anwendung von Gewalt zurück. Er schlägt und tritt rücksichtslos seinen wehrlosen Sohn. Maiks Vater begeht damit im Unterschied zu seinem Sohn eine erhebliche Straftat (vorsätzliche Körperverletzung in Verbindung mit der Misshandlung eines Schutzbefohlenen), die bei einer An65 Ebd., S. 236. 66 Wolfgang Herrndorf, Arbeit und Struktur (Anm. 55), S. 237. Diese positiv grundierte Atmosphäre von Tschick deutet Herrndorf als Gegenstück zum »völlig aus dem Ruder laufende[n] deprimierende[n] Nihilismus« (ebd.) seines Wüstenromans Sand. 67 Vgl. zu diesem Telefonat Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 206–210. 68 Maik hat alle Mühe, die Polizisten vor den Verdächtigungen des Arztes zu verteidigen. Vgl. ebd., S. 18f.

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zeige zu einer Gefängnisstrafe führen würde. Zudem liegt ein Fall der Kindeswohlgefährdung laut § 8a SGB VIII vor, für die auch Maiks Mutter die Verantwortung trägt, da sie gegen die vorsätzliche Gewaltausübung des Vaters, die in ihrem Beisein stattfindet, nichts unternimmt. Die Kritik der Jugendgerichtshilfe sowie des Richters am unverantwortlichen Verhalten seiner Eltern lassen Maik zum ersten Mal erfahren, dass erwachsene Autoritätspersonen nicht herablassend oder gleichgültig mit seinen Krisenerfahrungen umgehen. Er akzeptiert daher auch die »stundenlange[n] moralische[n] Ermahnungen«, die der Richter zum Abschluss des Prozesses ihm mitgibt: »[I]ch hörte mir das sehr genau an, weil mir schien, dass dieser Richter nicht gerade endbescheuert war. Im Gegenteil. Der schien ziemlich vernünftig.«69 Auch sein Verhältnis zu seinen Mitschülern und Lehrern ändert sich in eine für Maik positive Richtung. Als die haarsträubende Geschichte von seiner wilden Fahrt durchs deutsche Hinterland in seiner Schule bekannt wird, legt er seinen Außenseiterstatus ab und weckt das Interesse seiner Mitschüler und Mitschülerinnen (insbesondere von Tatjana) an seiner Person.70 Dass Maik sogar von Polizeibeamten wegen des Verdachts, er und Tschick hätten ein weiteres Auto gestohlen, aus der Klasse zitiert und kurz verhört wird, bestätigt sein respekteinflößendes Image als cooler Outsider, der sich um die Regeln der Erwachsenen und ihre Normalitätsvorstellungen nicht schert. Dieses neu gewonnene Selbstbewusstsein lässt Maik nicht nur souverän mit der Lust an der Denormalisierung spielen, sondern befähigt ihn auch, zu seinen Überzeugungen und Handlungen zu stehen. Trotz der Drohungen und der körperlichen Gewalt, mit denen sein Vater ihn dazu zu drängen versucht, die Schuld für die Fahrt auf Tschick abzuwälzen, verleugnet er vor Gericht nicht seinen Teil der Verantwortung und fällt auf diese Weise seinem Freund nicht in den Rücken. Das glückliche Ende von Maiks Bildungsgeschichte71 wird schließlich komplettiert durch einen Moment 69 Ebd., S. 236. 70 Die Figur der Tatjana bleibt auffallend blass (vgl. Philipp Ritzen, »Mit dem Lada ins Nirgendwo – Elemente des Utopischen in Wolfgang Herrndorfs Tschick« [Anm. 24], S. 88). Sie fungiert als eine Art McGuffin, der die Romanhandlung anstößt und die Spannung aufrechterhält, darüber hinaus aber keine Konturen gewinnt. 71 Die Forschung hat die Bildungserfahrungen Maiks bereits ausführlich gattungstheoretisch und literaturhistorisch eingeordnet. Vgl. Jennifer Pavlik, »Bildung ohne Geländer: Gattungsund bildungstheoretische Reflexionen in Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick«, in: »Germanistenscheiß«: Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs, hg. von Matthias Lorenz, Berlin: Frank & Timme 2019, S. 259–279; Annika Bartsch, »Zwei ›Taugenichtse‹ im geklauten Lada: Zur produktiven Romantikrezeption bei Wolfgang Herrndorf«, in: Wolfgang Herrndorf lesen: Beiträge zur Didaktik der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, hg. von Jan Standke, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2016, S. 111–129 sowie Ralph Müller, »Adoleszenz ohne Ende: Zur Gestaltung der Coming-of-Age-Novel in Wolfgang Herrndorfs In Plüschgewittern, Tschick und Bilder deiner großen Liebe«, in: »Germanistenscheiß«: Beiträge zur Werkpolitik Wolfgang Herrndorfs, hg. von Matthias Lorenz, Berlin: Frank & Timme 2019, S. 239–257.

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des Verständnisses mit seiner Mutter, die sich das erste Mal überhaupt mit ehrlichem Interesse nach seinen Problemen, Wünschen und Bedürfnissen erkundigt.72 Er ist sich bewusst, dass ihre Sucht regelmäßig zu einem normabweichenden Verhalten führen wird und er dafür von seinen Mitschülern oder Lehrern als »Psycho«73 abgestempelt werden wird. Er betrachtet diese Exklusionsmechanismen jedoch mit einer neu gewonnenen Gelassenheit, da er nach seiner Bildungserfahrung die gesellschaftliche Normalität als brüchig bzw. illusorisch wahrnimmt und sie für ihn kein unhinterfragtes Ideal mehr darstellt: »Ich hatte plötzlich Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass ich dort einmal gelebt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich da zur Schule gegangen war, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich es einmal wieder tun würde.«74 Der Roman mündet somit nicht in eine Rückkehr des Protagonisten aus dem heterotopischen Raum der Frei-Zeit in die bestehende gesellschaftliche Normalität. Stattdessen gelingt Maik ein grundlegender Perspektivenwechsel, der ihn seine fehlende Angepasstheit an die Normstandards seiner Lebenswelten (Peer Groups, Schule, Familie) positiv bewerten lässt. Er leidet nicht mehr unter der Missachtung, mit der ihn seine Mitschüler bis zum Bekanntwerden seiner Abenteuergeschichte straften, sondern schließt mit anormalen Außenseitern wie Tschick und Isa authentische Freundschaften, die ihm wertvoller erscheinen als die an Oberflächlichkeiten orientierten Beziehungsmuster seiner Peer Groups.75 Dem Erleben von freier Zeit kommt, um ein Fazit zu ziehen, im Roman eine grundlegende Bedeutung für die Reflexion der krisenhaften Dimensionen gesellschaftlicher Normalität zu. Die heterochrone Ordnung der Frei-Zeit ist dabei an den ›anderen‹ Ort einer Krisenheterotopie (der ›Walachei‹) gebunden, die die Wirksamkeit der normalistischen Dispositive und Interdiskurse vorübergehend suspendiert und den Jugendlichen auf diese Weise eine extraordinäre Freiheitserfahrung ermöglicht.

72 Sie fragt ihn insbesondere, ob er verliebt sei und ob er glücklich damit sei. Vgl. Wolfgang Herrndorf, Tschick: Roman (Anm. 1), S. 251. 73 Ebd., S. 253. 74 Ebd., S. 181. 75 Trotz seiner Vorbehalte zunächst gegen Tschick und später gegen Isa zeigt Maik im Verlauf des Romans eine Sympathie für die »Verstoßenen und Aussortierten« (Lis Hansen, »Verdammte Dinge – Tabu und Müll in der Literatur«, in: Ästhetik des Tabuisierten in der Literatur- und Kulturgeschichte, hg. von Leonie Süwolto, Paderborn: Universitätsbibliothek Paderborn 2017, S. 33–46, hier S. 39), was sich als ein Zeichen für seine wachsende Kritik an gesellschaftlichen Normalitätsstandards interpretieren lässt.

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Literaturverzeichnis Primärliteratur Ford, Henry: Mein Leben und Werk. Einzig autorisierte deutsche Ausgabe von Curt und Marguerite Thesing. 23. Aufl. Leipzig: Paul List 1923. Herrndorf, Wolfgang: Arbeit und Struktur. Berlin: Rowohlt 2013. –: Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman. Berlin: Rowohlt 2014. –: Tschick: Roman. 11. Aufl., Berlin: Rowohlt 2011.

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Hans-Joachim Schott

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Pierre Mattern

Epiphanien: Zum Aussetzen von Routinezeit in aktueller deutschsprachiger Erzählprosa

Wer in zeitgenössischer Erzählprosa nach literarischen Epiphanien sucht,1 erzielt einen reichen Ertrag. Von den ›üblichen Verdächtigen‹ wie Peter Handke2 oder Wilhelm Genazino einmal abgesehen, können dabei Namen genannt werden wie Undine Gruenter, Wolfgang Herrndorf, Thomas Hettche, Georg Klein, Peter Kurzeck, Lukas Bärfuss, Hartmut Lange, Andreas Maier, Robert Menasse, Klaus Modick, Ralf Rothmann, Robert Seethaler, Ingo Schulze, Arnold Stadler – um nur einige zu nennen.3 Das Phänomen der literarischen Epiphanie in deutschsprachiger Gegenwartsprosa harrt im Übrigen noch seiner Erforschung, seiner ausführlichen Katalogisierung, Typologisierung, Kontextualisierung. Im Folgenden bespreche ich anhand einiger Beispiele drei Muster des epiphanischen Momentes in erzählender Prosa der Gegenwart. Diese drei Muster sind erstens die spontane Emblematisierung eines Weltausschnitts, zweitens das Spiel mit der modernistischen Epiphanie, d. h. mit Elementen, die aus der Epiphanie-Thematik um 1900 bekannt sind, sowie drittens die Quasi-Theophanie, bei der es um das Auftreten einer transzendenten, mythologischen oder privatmythologischen Figur (Gott, Dämon etc.) geht. Die Auswertung der Beispiele legt die Vermutung nahe, dass sich das Epiphanische nicht mehr so sehr – wie noch vor 100 Jahren – vornehmlich auf die Dingwahrnehmung bezieht,4 sondern dass an ihr oder in ihr dem Subjekt As1 Eine erste Fassung habe ich an der FernUniversität Hagen auf Einladung von Prof. Michael Niehaus am 25. Mai 2016 vorgetragen. Zum Folgenden vgl. Pierre Mattern und Alexandra Pontzen, »Epiphanie«, in: Formen der Zeit: Ein Wörterbuch der ästhetischen Eigenzeiten, hg. von Michael Gamper, Helmut Hühn und Steffen Richter, Hannover: Wehrhahn 2020, S. 104– 112. 2 Wolfram Frietsch, Die Symbolik der Epiphanien in Peter Handkes Texten: Strukturmomente eines neuen Zusammenhanges, Sinzheim: Pro Universitate 1995. 3 Zum Überwiegen von männlichen Namen vgl. eine recht aufschlussreiche Bemerkung bei Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 531 (dort Anm. 19). 4 Christoph Asendorf, Batterien der Lebenskraft: Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2002,

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Pierre Mattern

pekte seiner selbst erscheinen: Resonanzen, Weltbezug, Selbstverhältnis, synthetisierende Ich-Funktionen bringen sich auf unterschiedliche Weise ins Spiel. Insofern lässt sich auch – bei allem zuweilen auftretenden mythologischen Personal – die These, es handele sich bei der literarischen Epiphanie um eine Säkularisierung eigentlich religiöser Erlebnismuster, nicht so ohne Weiteres aufrechterhalten. In Literatur schlagen sich nicht einfach Erfahrungen nieder. Literatur wird zwar von Wesen gemacht, die ihre Anwandlungen zuweilen aufschreiben – aber dabei handelt es sich zweifellos auch um lesende und Zeichen abwandelnde Geschöpfe, die Kriterien nicht einfach unterliegen, sondern die sich in ein Verhältnis zu ihnen setzen. Man muss also einerseits vom Thema, andererseits aber auch vom Verfahren der Epiphanie sprechen. Dass Kriterien, die die Forschung immer wieder für Epiphanien ausmacht, selbst dem beschreibbaren literarischen Spiel unterliegen können (durch Ausblendung, Verstärkung, Ironisierung), muss bei der Formulierung eines Begriffs der literarischen Epiphanie mitgedacht werden.5

I

Zum Begriff der Epiphanie

Nach der These Karl Heinz Bohrers verwandelt sich die literarische fremdreferenzielle Epiphanie älteren Datums ab 1900 in eine selbstreferenzielle literarische »Plötzlichkeit«.6 Folgte man Bohrers einsträngiger Argumentation, müsste man einen sehr großen Teil der Epiphanien in zeitgenössischen Erzähltexten als unzeitgemäß aussortieren. Beim Blick auf zeitgenössische Literatur hält seine These nicht stand, sie lässt sich vielmehr in ein Schema einordnen und erscheint dann als eine Möglichkeit unter vielen. Epiphanie lässt sich nämlich nicht einfach als »Referenz«, als Bezugnahme auf irgendwie transzendente Mächte charakterisieren, sondern als Bewältigung von Transzendenz. Dabei soll ›Transzendenz‹ noch ohne religiösen Anstrich als das S. 134–137 und S. 147f.; Ina Ritter, Die Epiphanie des Augenblicks: Wahrnehmung und Projektion bei Rainer Maria Rilke und Jens Peter Jacobsen, New York [u. a.]: Peter Lang 2009; Sabine Schneider, »Klaffende Augen, starre Blicke: Krisen und Epiphanien des Sehens als Medium der Sprachreflexion bei Hofmannsthal und Rilke«, in: Klassische Moderne: Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts, hg. von Mauro Ponzi, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 167–197; Günter Peters, »Epiphanien des Alltäglichen: Methoden literarischer Realisationen bei Joyce, Ponge und Handke«, in: Poetica 30 (1998): 469–496. 5 Zu Misslichkeiten bei der Debatte um Epiphanie-Definitionen vgl. Birgit Neuhold, Measuring the Sadness: Conrad, Joyce, Woolf and European Epiphany, New York [u. a.]: Peter Lang 2009, S. 7–16. 6 Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit: Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981.

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verstanden werden, was es phänomenologisch ist, nämlich die Überschreitung eines sinnlich gegebenen Erfahrungsraumes. Transzendenz – immer Transzendenz von etwas – bezieht sich stets auf etwas und zwar auf das Gegebene, dessen Überschreitung unumgänglich ist, weil Zeit vergeht, es andere Orte gibt (schon unter der Tischplatte kann ein anderer Ort beginnen), weil es andere Personen gibt sowie Erklärungen, die ihrerseits nicht sinnfällig sein können.7 Für gewöhnlich macht die Transzendenz also kein Problem, denn es gibt Routinen in ihrer Bewältigung. Die Zeiten der Routine lassen die Frage nach dem Transzendenten dahingestellt sein. Taucht die Frage nach ihm aber in den verschiedenen möglichen Registern auf – Wer steht vor der Tür? Was meinst du damit? Kann sich Geschichte wiederholen? Etc. –, dann ist ihre Beantwortung zunächst dem Üblichen, der persönlichen Geschicktheit oder auch dem institutionell Gefestigten überlassen. Schwierig wird es nur, wenn beispielsweise diese drei nicht zum selben Ergebnis führen. Dann wird offenkundig, dass die Transzendenz als offene Frage aufgegeben sein kann. Wenn Üblichkeiten, Geschicklichkeiten, Autoritäten (auch wissenschaftliche) miteinander kollidieren, lassen sich – gelinde gesagt – ›philosophische Momente‹ durchleben. Nimmt man die europäische Erzählliteratur ab ca. 1900 ausgehend von ihren ›Höhenkämmen‹ in den Blick (Proust, Joyce, Hofmannsthal, Musil), so ergeben sich im Grunde vier Schwerpunkte bei der Herausbildung von Epiphanien im modernen Sinn. In ihnen wird meist in Form von plötzlichen Aufschlüssen oder besonders eindrücklichen Wahrnehmungen von Weltausschnitten Transzendenz im erläuterten Sinn bewältigt, und zwar indem diesen Weltausschnitten subjektiv-existenzielle Bedeutung zugesprochen wird; indem sie eine noch unbestimmte Bedeutsamkeit erhalten; indem sie im Gegenteil eine von üblichen Bedeutungen abgelöste dinglich-sinnliche Intensität ausstrahlen oder aber das ›Jetzt‹-Erlebnis selber betreffen. All das lässt sich kombinieren und ausgestalten.8 Wir aktualisieren einerseits Erinnerungen, greifen andererseits aus in zukünftige Verhältnisse und finden uns dazwischen ab und zu auch einmal wieder selber da vor, wo wir gerade sind. Vielleicht ist ja Letzteres schon als ›Frei-Zeit‹ in nuce anzusprechen. Der Bereich der Epiphanie umfasst allerdings mehr. In ihr 7 Alfred Schütz und Thomas Luckmann, denen ich hier im Allgemeinen folge, sprechen von »kleinen« (Ort, Zeit betreffende), »mittleren« (sich auf andere Personen beziehende) und »großen« Transzendenzen (Erklärungen, Aitiologien, Mythologien). Alfred Schütz und Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979/1984, hier Bd. 2, S. 139–177. 8 Ich nehme hier ausdrücklich Visionen des Kommenden oder Vergangenen aus sowie etwa auch detektivische Eingebungen, also solche unvollkommenen, »abduktiven« Schlüsse auf Stattgefundenes oder Kommendes, die durch die genialen Detektive des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden; vgl. Thomas A. Sebeok und Jean Umiker-Sebeok, »Du kennst meine Methode«: Charles S. Peirce und Sherlock Holmes, aus dem Amerikanischen von Achim Eschbach, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982.

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werden diese üblichen Zeitschlaufen besonders modifiziert und das Aussetzen, also die Verstärkung des Präsenzerlebens, ist nur eine dieser Modifikationen. Anders gesagt: Die eingespielte Routinezeit kann aussetzen oder sogar regelrecht aufbrechen, indem Erinnerung, Vorwegnahme oder Präsenzerfahrung betont, von den anderen entkoppelt oder aber anders gekoppelt werden. Diese Ent- oder Anderskoppelung wird dann als besondere Zeit erfahren. Doch ist die Epiphanie nicht nur Thema, sondern auch literarisches Verfahren. Die Analyse des Erlebnisses sagt noch nichts über die Strukturen aus, die sich konkret in den Texten auffinden lassen. Man kann vermuten, dass der beliebteste Teil der Literatur heute nach wie vor der realistische Roman ist; und das erste Beispiel soll eine epiphanische Struktur vorstellen, die zu verwenden dem zeitgenössischen realistischen Roman jederzeit möglich sein müsste. Das zweite Beispiel verwendet diese Struktur ebenfalls, greift darüber hinaus jedoch auch auf eines der Schemen zurück, die aus der modernistischen Phase um 1900 bekannt sind. Durch das Zitat geht der epiphanische Charakter keineswegs verloren. Im dritten, besonders aber im vierten Beispiel ist das Muster nicht modernistisch, sondern antik.

II

Thomas Hettche: Spontane Emblematisierung

Zu dem, was es an zeitgenössischen erzählenden Texten Epiphanisches zu entdecken geben mag, lässt sich eine Art Musterfall ausweisen. Er steht für eine mögliche Behandlung des Epiphanischen in realistischer Erzählliteratur überhaupt. In das realistische Erzählkonzept gehört zum Beispiel das Vor-AugenFühren von Entscheidungen: Das Subjekt zieht sich auf sich selbst zurück, aber angesichts welchen Weltausschnittes kann es das so tun, dass eine verlässliche, es selbst bindende Entscheidung dabei herauskommt? Und auch ohne Entscheidung kann in einer solchen Situation sozusagen der verwandte oder übergreifende Themenkomplex der Selbstsituierung (Distanzierung von anderen, Individuation) und des Selbstverständnisses, Selbstbildes angesprochen sein. Als eine Art Musterbeispiel möchte ich eine Stelle aus Thomas Hettches Roman Pfaueninsel aus dem Jahre 2014 anführen. In ihm entspinnt sich die Lebensgeschichte des kleinwüchsigen preußischen Schlossfräuleins Marie Dorothea Strakon von ihren ersten Lebensjahren um 1800 bis zu ihrem Tod im Jahre 1880. In einen Berliner Leihkoch verliebt, unternimmt Marie eine einzige Reise in das sich industrialisierende Berlin der 1850er Jahre. Eine erotische Annäherung zwischen ihr und dem Koch scheitert, und als sie allein im Zimmer ist, macht sich die Außenwelt wieder bemerkbar:

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Sie hatte nicht bemerkt, daß es längst Abend geworden war. Und so überraschte sie der rote Feuerschein, der durchs Fenster hereinfiel und über Wände und Decken des winzigen, karg möblierten Raumes flackerte, aus dessen Ecken das Dunkel kroch, unter dem schmalen Bett und hinter dem Schrank hervor, als ob draußen schon finstere Nacht wäre. Eine Nacht, in der große Feuer brannten, ja die Stadt selbst. Unwiderstehlich angezogen von dem roten Licht, ging sie schluchzend zum Fenster, und da es zu hoch war, als daß sie hätte hinaussehen können, stieg sie auf das Bett, dessen Kopfende unter dem Fensterbrett stand. Der Anblick, der sich ihr da bot, nahm ihr den Atem. Feuerland, dachte sie, das war Feuerland. Und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und mußte weinen wie ein kleines Kind. Es öffnete der Blick sich weit über die Akzisemauer hinweg ins Land. Rechts die Anhöhe des Prenzlauer Berges lag tatsächlich schon im Dunkeln, aber direkt vor sich sah Marie mächtige Ziegelhallen und hohe Schornsteine, dicht hintereinander gestaffelt, und durch all die Fensterfronten und offenen Tore leuchtete es so feuerrot hervor, daß der Rauch, der über allem lag und in den Nachthimmel stieg, davon glühte. Und dieser ganz fremdartige Anblick machte sie unendlich traurig, denn nun erst begriff sie: Die Welt war längst eine andere geworden, längst nicht mehr die ihre, und so gab es für sie auch keinen Weg mehr in ein anderes Leben hinein. Ihres war zu Ende. Sie musste an Christian denken und wie er tot am Boden des Palmenhauses gelegen und wie tot sie selbst sich gefühlt hatte, als man ihr das Kind wegnahm. Da war sie gestorben. So lange es auch noch dauerte.9

Eine Kurzgeschichte könnte damit aufhören, und die Szene ist in der Tat – auch in der melancholischen Grundstimmung – dem sehr nahe, was man in der Theorie der Kurzgeschichten eben den »Epiphaniefokus« nennt.10 Es handelt sich dabei mithin um eine ›Krisen-‹ oder ›Platz-in-der-Welt-Epiphanie‹: An diesem Anblick erscheint dem Subjekt Marie etwas, das so gar nicht erscheinen kann, das sie aber mit einem Mal begreift: nämlich das Fehlen eines, ihres ›Platzes in der Welt‹. Der Anblick der Fabrik kündigt sich durch die zugezogenen Vorhänge an, indem er die Lichtverhältnisse verändert: Feuer scheint den Innenraum zu füllen, aber auch die Stadt draußen – die Elemente sind in Aufruhr, bleiben nicht an ihrem Platz, und vor allem dinglichen Erkennen vermitteln sie bereits Innen und Außen miteinander: ein Element, das uns in einigen der nächsten Beispiele wieder begegnen wird. Diese Änderung der Verhältnisse steigert die Aufmerksamkeit auf den folgenden Anblick. An diesem Anblick wird eine plötzliche Erkenntnis vollzogen. Was dabei passiert, möchte ich probeweise eine spontane Emblematisierung dieses Anblicks nennen. Der Ausschnitt der Welt, der sich bemerkbar macht, ist hier die Fabrik – aber eben nicht bloß die Fabrik, sondern die Fabrik, wie sie in diesem Moment dem Fräulein, in der Verfassung, in der es 9 Thomas Hettche, Pfaueninsel: Roman, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014, S. 301f. 10 Vgl. Hans-Dieter Gelfert, Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte?, Stuttgart: Reclam 1993, S. 50 und S, 139–147 (Beispiele bei Joyce und Mansfield).

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gerade ist, erscheint. Und dieser Ausschnitt bekommt eine Bedeutung zugesprochen, die nicht aus einer Lektüre von mehr oder minder konventionellen Zeichen hervorgeht. Es ist eine Bedeutung für das erkennende Subjekt ganz allein, und es ist eine Deutung seiner selbst. Diese Bedeutung wird gewissermaßen realisiert, d. h. im Text explizit gemacht: »[D]enn nun erst begriff sie: Die Welt war längst eine andere geworden, längst nicht mehr die ihre, und so gab es für sie auch keinen Weg mehr in ein anderes Leben hinein.« Die Fabrik könnte auch etwas ganz anderes bedeuten; aber die Lichtverhältnisse ermöglichen keinerlei ›Lektüre‹ der Anlage, sondern sind ganz auf Überwältigung hin angelegt. Wie bei einem barocken Emblem lässt sich analytisch von der Pictura, der Inscriptio (Motto, Devise) und der den Bedeutungskontext weiter entfaltenden Subscriptio sprechen. Mit der Erläuterung: »nun erst begriff sie« ist der Pictura eine Inscriptio eingelegt. Aber diese verflicht sich nicht allein mit dem Sichtbaren, sondern auch mit dem Text der Vergangenheit: »Sie musste an Christian denken und wie er tot am Boden des Palmenhauses gelegen und wie tot sie selbst sich gefühlt hatte, als man ihr das Kind wegnahm.« Und zudem verbindet sie sich auch mit dem Text der Zukunft, denn nun wird es darauf ankommen, ob Marie Strakon dieser plötzlichen Einsicht ihrer Unzeitgemäßheit, ja ihres Nicht-mehrZugehörigseins zu dieser Welt gerecht wird, ob dieses Bild einen Anspruch formuliert, auf dessen Höhe das Subjekt bleibt. Die Struktur dessen, was sich hier zeigt, lässt sich also zunächst einmal mit der Dreiteilung des Emblems beschreiben. Die Pictura erfüllt zudem die Bedingung eines ›nachdrücklichen Dort-Erscheinens‹, d. h. das Subjekt kann sie nicht einfach auf sich beruhen lassen, es verfügt nicht über sie und entnimmt ihr zudem eine existenzielle Wahrheit über sich selbst. Zwar erscheint sie ›dort‹, d. h. an einem unverfügbaren Ort auf unverfügbare Weise, aber sobald sie das tut, beginnt auch schon ein Spiel der Aneignung, eine gut beschreibbare Vermittlung mit plötzlich aufgerufenen Stichworten11 und Erinnerungen. Dem entspricht das Motiv, das man ›Aufruhr der Elemente‹ nennen könnte, das Eindringen des Feuerscheins ins Innere, schon in der Pictura. Dem Schlossfräulein Marie Strakon erscheint also an der Berliner Fabrik das eigene historische Vergangensein. Während sie auf der Insel, der Pfaueninsel, über eine Welt verfügt, deren historische Wandlungen sie alle mitmacht, erkennt sie an der Fabrik ihr Herausgefallensein aus der Welt, insofern aber auch dieser Anblick Ereignisse ihres Lebens auf der Pfaueninsel aufruft. Die Erkenntnis verwirklicht eine Verdoppelung der Welt: einerseits die Welt als das, was sich ihr in wechselnden Anordnungen von Gegenständen bietet – und andererseits die Welt als Frage nach dem Dabeisein des Subjekts, das der Welt ja nicht unbedingt 11 Die Benennung »Feuerland« ruft zunächst eine Reihe (nicht durchweg unangenehmer) Erinnerungen auf.

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als Gegenstand unter anderen Gegenständen, sondern als agierendes und reagierendes Subjekt angehören will.12 »Feuerland« – ein Name, der bereits dem zerstörten Labor eines Erfinders auf der Pfaueninsel gegeben wurde – würde dann das rätselhafte Wechseln der Gegenstandswelten bezeichnen, das den Einund den Ausschluss von Subjekten selbst zu bestimmen scheint. Innerhalb von Routinezeiten kann dieses »Feuerland« nicht erscheinen. Es bedarf dazu einer Szene, die aus dieser herausgehoben ist, einem besonderen Aufschlussereignis. Bei der spontanen Emblematisierung handelt es sich, wie gesagt, nun um einen zur realistischen Schreibweise recht gut passenden Epiphanie-Typus. Als Vorbild wäre wohl eine Szene aus Middlemarch (1872) von George Eliot anzusprechen, wo die Protagonistin Dorothea beim Ausblick aus dem Fenster anhand der dort sichtbar werdenden menschlichen Gestalten eine Art ›Platz-in-der-WeltEpiphanie‹ hat.13

III

Martin Mosebach: Spiel mit der modernistischen Epiphanie

Man kann seine Epiphanie aber auch verfehlen. Man kann ihr im weiteren Lebensgang nicht gerecht werden, noch dazu, wenn sie eine Doppelbödigkeit aufweist, die sie nicht aus dem ›realen‹ Vorkommen, sondern aus dem literaturtheoretischen Wissensbestand bezieht. Das geschieht dem Erzähler in Martin Mosebachs Roman Das Blutbuchenfest aus demselben Jahr 2014, einem in seinen Dreißigern stehenden stellen-, aber keineswegs beschäftigungslosen Kunsthistoriker. Was ihm gleich im dritten Kapitel des Romans passiert, kann sogar (als einziges Beispiel) ›Nominal-Epiphanie‹ heißen, denn es ist durch die Autorität der Kapitel-Überschrift als solche ausgewiesen.14 Der Erzähler beobachtet darin eine junge Frau, die in einer Frankfurter U-Bahn an ihrem Laptop arbeitet. Das Ganze ließe sich ebenfalls anhand der drei aus der Emblematik bekannten Teile beschreiben. Mosebach hat aber auch die drei Schritte hier eingebaut, die Stephen Daedalus in James Joyces Stephen Hero der Epiphanie zuschreibt: Abschließung, Stimmigkeit, Ausstrahlung.15 Der Erzähler erfasst zunächst, dass die

12 Diese Unterscheidung nach Dieter Henrich, Denken und Selbstsein: Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, S. 69–76. 13 Wim Tigges, »The Significance of Trivial Things: Towards a Typology of Literary Epiphanies«, in: Moments of Moment: Aspects of the Literary Epiphany, hg. von dems., Amsterdam/ Atlanta: Rodopi 1999, S. 11–36, hier S. 18. 14 Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest: Roman, München: Hanser 2014, Kapitel »Epiphanie einer Assistentin«, S. 30–37. 15 James Joyce, Stephen Hero: Part of the First Draft of »A Portrait of the Artist as a Young Man«, ed. with an Introduction by Theodore Spencer, rev. ed. with Additional Material and a Foreword by John J. Slocum and Herbert Cahoon, London: Granada 1977, S. 189f. Vgl. den

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Frau nicht zum Vergnügen, sondern um zu arbeiten ihren Laptop bedient (sie scheint eine Filmsequenz zu bearbeiten), und sie gewinnt dadurch eine (ehedem) ungewöhnliche Form der Abgrenzung von ihrer Umwelt: »Das Mädchen war konzentriert, als sitze sie allein in einem Büro. Um sie herum waren unsichtbare Grenzen gezogen, es war ein Glaskasten, der sie umgab«.16 Ihre betont unweibliche Kleidung (Militärhose, Ledergürtel, Lederstiefel, Unterhemden) hat dabei zunächst etwas Unstimmiges für ihn, das sich aber umdeuten lässt: Denn in dieser Kleidung, die aussah, »als wäre sie in irgendeinem Bett ohne Kleider aufgewacht und hätte sich genommen, was da herumlag«,17 lässt sich »etwas von der Schönheitsfeindlichkeit jener Professionen« sehen, »die hauptamtlich mit der Herstellung modischer Schönheit und Verführungskraft beschäftigt sind« und die daher »ihre Schönheit zu dissimulieren und zu etwas Nebensächlichem, zunächst nicht Wahrnehmbaren […] machen.«18 Damit hat der Erzähler aus der Unstimmigkeit der Kleidung die Stimmigkeit des betrachteten Objekts gemacht (zweiter Schritt), und nun kann er sich schon einmal in die »versteckte[…] Schönheit« und in den »rührende[n] Ernst« der Tätigkeit noch besonders vertiefen. Zur »Epiphanie« kommt es aber erst, als das Mädchen seine Tätigkeit wechselt, E-Mails abruft und – da haben die besonders passenden Lichteffekte durch eine Tunnelfahrt auch schon eingesetzt – von einer davon offenbar in besonderer Weise erschüttert wird: Und nun wurde ich Zeuge eines Vorgangs, den ich bis heute nicht vergessen kann, obwohl sich so viele Bilder dazwischen geschoben haben. Das Mädchen hatte eine neue Nachricht vor sich, einen längeren Text offenbar. Wir fuhren durch einen Tunnel, Licht fiel nur von der Seite ein, das Mädchen sank in den Schatten, aber das Glimmen des Bildschirms erhellte ihr Gesicht; es war geradezu geisterhaft schwebend aus dem Dämmer hervorgehoben. Anteilnahme und Spannung lagen auf ihren Zügen. Der Text ließ sie nicht unbehelligt, obwohl er nicht leicht verständlich schien. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, die glatte Haut versuchte sich in Falten, sehr weichen, wie bei einem jungen Hund. Und nun, im voranrückenden Lesen, nahmen ihre Augen einen ungläubig verwunderten Ausdruck an, sie schüttelte ganz leicht den Kopf, als wollte sie sagen: »Aber so ist es doch gar nicht – so war es doch überhaupt nicht!« Und nun stieg eine Röte in ihr Gesicht, so überdeutlich, wie wenn man in das Blumenwasser einer weißen Nelke rote Tinte gießt und die Farbe sich in den Kapillaren der Blütenblätter verteilt, und dann wurden ihre Augen dunkel, und dann liefen sie über: Tränen traten über die Lider und rannen über die Wangen. Sie wischte sie nachlässig mit dem Handrücken ab, aber sie fuhr fort zu lesen, noch einmal von vorn, und diese Verdüsterung von Kummer war ein Anblick wie ein Naturschauspiel, erklassischen Kommentar bei Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, aus dem Italienischen von Günter Memmert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 313–342. 16 Martin Mosebach, Das Blutbuchenfest: Roman (Anm. 14), S. 31. 17 Ebd., S. 30. 18 Ebd., S. 32f.

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greifender als eine Wolke von Zugvögeln oder ein rauschender Wasserfall, und ich verschlang diesen Anblick und war wie vor den Kopf gestoßen, als bei der nächsten Haltestelle das Mädchen aus seiner schmerzvollen Versunkenheit auffuhr, den Laptop zuklappte und eilig ausstieg.19

Das Mädchen in seiner angeblich so technikaffin gewählten Kleidung bietet denn doch auf einmal ein »Naturschauspiel«. Beherrschung der Technik, eigene Schönheit und affektives Berührtwerden lassen sie zu einer »schnell bewegliche[n] Elfe, eine[m] weiblichen Ariel« werden, also zu jenem hilfreichen Naturgeist, der »durch lautlose Berührung der Tastatur alles Gedachte sofort in Wörter und aus Wörtern in Taten verwandelte«, d. h. der die Abstände, womöglich Abgründe zwischen den Gedanken, dem Sprechen und den Dingen auflöst und damit den Beobachter in eine Stimmung versetzt, die dessen eigenes Projekt endlich wirklicher erscheinen lässt.20 Erst so – mit dem Erkennen einer typischen Nebenfigur, einer ›Helferin‹ – meint der ›Held‹ in die Position des Agierenden eingesetzt zu sein. (Das Projekt wird dann freilich von anderer Seite abgebrochen.) Der Ich-Erzähler nutzt also, wenn auch nicht explizit, das besondere ›anbahnende‹ Moment der Joyce’schen Ding-Epiphanie: Man nähert sich ihr in zwei Schritten, erst der dritte vollendet sie. Die drei Schritte der Joyce’schen DingEpiphanie begleiten einige der Merkmale, die auch die im vorigen Beispiel erläuterte spontane Emblematisierung ankündigen: die Lichteffekte, die Plötzlichkeit (eines Begreifens). Das entscheidende epiphanische Moment bezieht sich nun aber auf die Verletzlichkeit der beobachteten Frau; diese Verletzlichkeit erscheint nachdrücklich ›dort, wo der Beobachter nicht ist‹, etwas an ihr gehört seiner Welt nicht an (was, wie sich vermuten lässt, mit der sofortigen Verknüpfbarkeit mit Worten und Handlungen zu tun hat). Das Epiphanische erklärt sich auch daraus, dass der Kontext dieser aktuellen Verletzung unbekannt ist. Der Erzähler kontextualisiert sie mit der Phantasiegestalt des Naturwesens, das die Abstände Gedanke-Wort-Ding (bzw. Körper bzw. Handlung) überspringt – so wie er ihrer Reaktion auf die E-Mail sofort einen Satz unterstellen kann und wie sie außerdem für ihn unerwartet, ja ihn regelrecht ›vor den Kopf stoßend‹, die Szene abbricht. Was er sieht, ist also eine Art Verknüpfungs- und Skansionsmacht, die unerwartet in Erscheinung tritt. Auch weil es sich um eine (im Roman und in der Handlung) frühe Epiphanie handelt, kontextualisiert er das Ganze nicht mit Erinnerungen – wie Marie Strakon bei Hettche –, sondern mit einer Zukunftsphantasie. Er gewinnt dabei eine ihn anregende Konstellation.21 An19 Ebd., S. 34f. 20 Ebd., S. 37. 21 Auffällig ist die Betonung der »Tiefe« in diesem Kapitel: die »tiefsten Tiefen« des Blicks auf den kleinen Bildschirm (ebd., S. 31); »Tiefen« der Stadt, in der die Person verschwindet (die

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gesichts dieser epiphan erscheinenden Verletzbarkeit weist er sich selber immerhin den Platz eines Chefs zu. Schönheit und Affizierbarkeit verlängern sich in eine Verknüpfungsmacht, die augenscheinlich etwas ist, das der Ich-Erzähler weder an sich noch an ihm unmittelbar zugänglichen Praktiken (etwa an einem Arbeitsplatz) zu gewinnen vermöchte. Spätestens an dieser Stelle könnte man diese Epiphanie also auch, wie schon angedeutet, anhand des Schemas der spontanen Emblematisierung beschreiben;22 nur dass in der Vorbereitung neben den Lichteffekten auch die beiden Joyce’schen Elemente der Absonderung und Stimmigkeit eine Rolle spielen. Es liegt aber doch noch eine Pointe darin, dass es sich um Merkmale der DingEpiphanie handelt. Die Verletzbarkeit, die er an dem Mädchen wahrnimmt und die ihn so sehr anregt, ja geradezu zum Chef promoviert, ist nun gerade nichts, was einem Ding als Wesenseigenschaft zugesprochen werden könnte. Dinge sind womöglich fragil, Verletzbarkeit hat mit der Reaktionsfähigkeit von Subjekten zu tun – und gerade das ist ja für ihn das stimulierende Moment. Die andere Seite der Joyce’schen Epiphanie ist aber gerade das Erscheinen, Erraten eines Begehrens;23 und gerade diese Variante würde ja den weiteren Kontext bieten. Was sich hier bemerkbar macht, ist gerade die Schwäche Winnies (eben dieser Frau) für den Ex-Werbetexter Rotzoff, die – zusammen mit der Herzschwäche, die dem Erzähler später sogar reichlich unepiphanisch durch Narbe und Begegnung im Krankenhaus beglaubigt wird – in gewisser Weise ein Wesensmerkmal bleibt. Die erotische Schwäche für Rotzoff und die physische Schwäche des Herzmuskels – das Herz also in seiner Physis und seiner Metaphorik – sind dann die Ausgangspunkte für den fatalen Ausgang der Geschichte (Winnie stirbt an ihrer Herzschwäche nach einer Szene mit dem Erzähler), nachdem sich der Ich-Erzähler weder auf der Höhe seines Wissens noch auf der – heikleren – Höhe seiner Epiphanie erwiesen hat. Mit dieser Szene zeigt sich also ein Spiel mit dem modernistischen EpiphanieVerständnis, das sich reflektiert findet und noch dazu in sehr zeitgenössischen Verhältnissen situiert: Bereich gesellschaftlicher Inszenierungsmacht (die »Agenturen«, denen die noch namenlose Winnie spontan zugeschrieben wird), Ortlosigkeit der Arbeit, Verwischung der Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten.

freilich wenige Kapitel später als Winnie wieder auftaucht); und gleich darauf: die ›Tiefe‹ des Projekts, in das der Erzähler nun gezogen sein will (S. 37). 22 Neben der Pictura die Inscriptio: »so als wollte sie sagen…« und als Subscriptio: die ElfenPhantasie und was daraus wird. 23 Vgl. Annie Tardits, »Joyce – vom Geständnis zur ›écriture‹ des Vergehens«, in: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hg. von Alois Hahn und Volker Kapp, Frankfurt a.M. 1987, S. 181–192.

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IV

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Robert Seethaler: Quasi-Theophanie

Das folgende Beispiel erscheint dagegen so gar nicht auf dieser Höhe des Zeitgemäßen. Doch wichtig ist, dass der Epiphanie-Begriff ja auch noch auf einen anderen, antiken Traditionsbestand zurückgreift, nämlich auf das Erscheinen der Götter, auf die Theophanie. Bei Robert Seethaler geht es um den Lebenslauf des hinkenden Seilbahnarbeiters und späteren Bergführers Andreas Egger in einem österreichischen Alpental zwischen 1902 und 1977.24 Die Bergwelt nun wird als eine – jedenfalls noch zu Beginn – schweigende Welt eingeführt. Bei der missglückten Rettung (im Februar 1933) eines erfrierenden Ziegenhirten, des sogenannten Hörnerhannes, raunt dieser Egger etwas von einem mythischen Wesen zu, das ebenfalls schweigt. Die alpine Kälte erscheint als Kalte Frau, die sich alles holen kommt, die Körper, die Seelen und den Geist der Menschen und – überhaupt alles. Sie stellt als Figur eine Vermittlung dar zwischen dem Schweigen der Welt und dem Sprechen der Menschen, aber so, dass der Fortbestand menschlichen Lebens dabei keinerlei Rolle spielt. Deren Leben dient – der Variante des Hörnerhannes zufolge – dieser Figuration des Anderen zur Nahrung. »Alles zerfrisst einem die ewige Kälte. So steht es geschrieben, denn so habe ich es gehört.«25 Der Tod gebäre nichts, denn der Tod sei diese Kalte Frau, ohne Gesicht und ohne Stimme, die sich das holt, was sie braucht. Viel später, nach dem Tod seiner schwangeren Ehefrau Marie bei einer schweren Lawine, nach Nazizeit, Krieg und langer Kriegsgefangenschaft, Elektrifizierung des Tales und Erschließung für den Tourismus, erscheint dann die Kalte Frau auch dem Andreas Egger: Es war auch zu dieser Zeit, der Zeit nach der Schneeschmelze, wenn in den frühen Morgenstunden die Erde dampfte und die Tiere aus ihren Löchern und Höhlen krochen, dass Andreas Egger der Kalten Frau begegnete. Er hatte sich stundenlang schlaflos auf der Matratze hin und her gewälzt; später lag er ruhig da, die Arme vor seiner Brust verschränkt, und lauschte den Geräuschen der Nacht. Dem ruhelosen Wind, der um die Hütte strich und mit dumpfen Schlägen gegen das Fenster stieß. Dann war es plötzlich still. Egger zündete eine Kerze an und starrte auf die flackernden Schatten an der Decke. Er macht die Kerze wieder aus. Eine Weile lag er bewegungslos da. Schließlich stand er auf und ging hinaus. Die Welt war versunken in einem undurchdringlichen Nebel. Noch war es Nacht, aber irgendwo hinter dieser weichen Stille graute schon der Morgen und die Luft schimmerte wie Milch in der Dunkelheit. Egger ging ein paar Schritte den Hang hinauf. Er konnte kaum die Umrisse seiner Hand vor Augen sehen, und wenn er sie ausstreckte, sah es aus, als wäre sie in einer tiefen, unergründlichen Wasserfläche untergetaucht. Er ging weiter, vorsichtig, Schritt für Schritt, ein paar hundert Meter den Berg hinauf. Von weit her hörte er einen Ton, wie das langgezogene Pfeifen eines 24 Robert Seethaler, Ein ganzes Leben: Roman, Berlin: Hanser Berlin 2014. 25 Ebd., S. 10.

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Murmeltieres. Er blieb stehen und hob den Blick. In einem Nebelloch stand der Mond, weiß und nackt. Plötzlich spürte er einen Lufthauch im Gesicht. Und im nächsten Augenblick war der Wind wieder da. Er kam in einzelnen Stößen, zerzupfte den Nebel und trieb ihn in Fetzen auseinander. Egger hörte das Heulen des Windes, wenn er um die höher gelegenen Felsen strich, und das Wispern im Gras zu seinen Füßen. Er ging weiter durch die Nebelschlieren, die wie Lebewesen vor ihm auseinanderstoben. Er sah, wie sich der Himmel öffnete. Er sah die flachen Felsen, auf denen Schneereste lagen, als hätte jemand weiße Tischtücher ausgebreitet. Und dann sah er die Kalte Frau, wie sie etwa dreißig Meter über ihm den Hang überquerte. Ihre Gestalt war völlig weiß, so dass er sie im ersten Moment für eine Nebelschwade hielt. Doch gleich darauf erkannte er deutlich ihre bleichen Arme. Das Tuch, das fadenscheinig um ihre Schultern hing. Und ihr Haar, wie ein Schatten über dem Weiß ihres Körpers. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Jetzt auf einmal spürte er die Kälte. Aber es war nicht die Luft, die so kalt war. Die Kälte kam aus seinem Inneren. Sie saß tief in seinem Herzen und war das Entsetzen. Die Gestalt bewegte sich auf eine schmale Felsformation zu, und obwohl sie schnell vorankam, konnte Egger keine Schritte erkennen. Es war, als ob sie durch einen verborgenen Mechanismus von den Felsen angezogen wurde. Er wagte nicht, sich zu rühren. Das Entsetzen saß in seinem Herzen, doch merkwürdigerweise hatte er gleichzeitig Angst, er könnte die Gestalt durch ein Geräusch oder eine unbedachte Bewegung vertreiben. Er sah, wie der Wind sich in ihren Haaren verfing und sie für einen kurzen Augenblick aus ihrem Nacken wehte. Und da wusste er alles. »Dreh dich um«, sagte er. »Bitte dreh dich um und schau mich an!« Aber die Gestalt entfernte sich weiter und Egger sah nur ihren Nacken, auf dem die rötliche Mondsichel ihrer Narbe schimmerte. »Wo warst du denn so lange?«, rief er. »Es gibt doch so viel zu erzählen. Du würdest es nicht glauben, Marie! Dieses ganze, lange Leben!« Sie drehte sich nicht um. Sie antwortete nicht. Nur das Geräusch des Windes war zu hören, das Heulen und Seufzen, wenn er über den Boden strich und den letzten Schnee des Jahres mit sich nahm. Egger stand alleine am Berg. Lange stand er da und rührte sich nicht, während sich um ihn langsam die Schatten der Nacht zurückzogen. Als er sich endlich bewegte, blitzte hinter den weit entfernten Gebirgsketten die Sonne hervor und übergoss die Gipfel mit ihrem Licht, so weich und schön, dass er, wäre er nicht so müde und verwirrt gewesen, hätte lachen können vor reinem Glück.26

Es herrscht, auch hier, ein Aufruhr der Elemente; die Schneeschmelze hat eingesetzt, es ist, als würde das Weiße von Schnee und Eis sich nun in der Luft festsetzen. Das erzeugt eine ungewohnte Opazität (Licht wie Milch) und damit ein neues Raum-Empfinden; die Zeit dehnt sich einerseits, sie wird aber auch skandiert durch Zustandsänderungen, deren Plötzlichkeit jedes Mal vermerkt wird. Die Erwähnung der Kälte in Eggers Innerem kündigt Spiele zwischen Innen und Außen an.

26 Ebd., S. 142–145.

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Die Kalte Frau oder diese Kalte Frau »oder wer auch immer diese Erscheinung gewesen sein möchte«, wie es kurz nach deren Epiphanie heißt,27 trägt das Erkennungszeichen der Marie, nämlich eine charakteristische Narbe im Nacken, und ist deswegen ansprechbar – ja das Unheimliche schlägt sofort in ein Vertrautsein um. Dieses Umschlagen bezeichnet auch den Erkenntnismoment Eggers. (Was er aber »alles« erkennt, wird nicht so deutlich gesagt wie im Falle der Marie Strakon in Hettches Roman.) Diese Erkenntnis verwirklicht sich weniger in einer Aussage als in einem Aussageakt – also wesentlich szenisch. Es geht um die Aufforderung, die Gesichtslosigkeit der Kalten Frau aufzugeben und der Erzählung des Lebens, die er nun beginnen könnte, zu folgen. Impliziert wird dabei, dass das »ganze, lange Leben« erzählbar ist und als Erzählung selber ebenso erstaunlich oder auch wenig glaubhaft ist wie diese Begegnung. Zuvor und danach wird Egger auf die Ganzheit oder Gänze wie auch auf die Erzählbarkeit des Lebens nicht zu sprechen kommen, er erzählt es auch niemandem. Es ist sogar der letztmögliche Zeitpunkt, darauf zu sprechen zu kommen, denn: »Überhaupt wurde Egger vergesslich«, heißt es direkt im nächsten Abschnitt.28 Wie es sich herausstellt, ist dies das letzte Mal, dass er – bei fortschreitendem Gedächtnisverlust – überhaupt von seinem »ganze[n], lange[n] Leben« zu sprechen vermag. Es geht also augenscheinlich darum, ihm nicht die Erzählung, sondern die Rede von seinem ganzen Leben in den Mund zu legen, und zwar gegenüber einer mythischen Figur, die ihrerseits das tödliche Schweigen der Welt bedeuten soll, nun aber als Vertraute, ja Geliebte gekennzeichnet ist und damit gewissermaßen in das von ihr selbst zerstörte Haus hineingeholt wird. »Haus« versteht sich dabei inklusive der von ihr selbst (als Kalte Frau) zerstörten Generationenfolge – denn die Kalte Frau hat Marie und ihr ungeborenes Kind ja als Lawine ›geholt‹. Ihr gegenüber behauptet sich das menschliche Leben in der Figur und der Anrede durch Andreas; nicht als Fortbestand menschlichen Lebens in der Folge der Generationen, sondern vielmehr in der Gestalt eines ›ganzen, eigenen Lebens‹, dessen Ganzheit ebenso unwahrscheinlich ist wie diese mythische Begegnung. Nur an dieser Stelle wird der Titel des Romans aufgenommen; hier steht dieses »Ganze« in spannungsvollem Bezug zu jenem »Alles«, das sich die Kälte, die Kalte Frau, als Beute holen kommt, das also dem Vergessen anheimfällt – wie das zuletzt von Egger aufgerufene »ganze […] Leben« nun auch. Es ist nun offensichtlich, dass der anfängliche Auftritt des Ziegenhirten Hörnerhannes, seine Rede und sein Verschwinden als Repräsentationen einer mythischen Denkform (mit einer Anleihe bei Cassirer29) herhalten müssen. Der 27 Ebd., S. 145. 28 Ebd. 29 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen: Zweiter Teil. Das mythische Denken, Sonderausgabe, 9. Aufl., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994.

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Ausgang aus der mythischen Denkform wird hier aber nicht einfach durch Technifizierung der Alpentäler geschaffen, sondern durch einen zusätzlichen Zug in der ›Dialektik der Bilder‹. Denn so könnte man dieses Hin und Her zwischen Schweigen der Welt, Sprechen der Menschen, schweigenden und ansprechbaren Figuren/Bildern nennen, wobei diese Figuren dem Subjekt zu einer (hier) als Glück erlebten Selbstbehauptung verhelfen. Es ist eine Privat-Mythologie, mit der das menschliche Leben über seine Kontingenz triumphiert, jedenfalls in diesem einzigen Moment, in dem es das Gefühl bezeugt, es könne Erinnerung als Ganzes aktivieren.30

V

Elemente einer Liturgie des epiphanen Dritten

Diese theophane Liturgie folgt keinen modernen, sondern antiken Vorbildern. Bei Apollonios von Rhodos und seinem Epos von der Argonautenfahrt (3. Jh. v. Chr.) kann man sie am besten nachlesen. Der Besatzung des Schiffes Argo, jener Schar griechischer Helden, die sich auf die Fahrt durch das Schwarze Meer begeben haben, um das berühmte Goldene Vlies zu erobern, erscheint einmal der Gott Apoll. Sie sind müde auf einer Insel gelandet, und Apoll wird sichtbar, indem er durch ihr Lager geht, dann aber schon – weitermarschierend – durch die Luft entschwindet. In der Prosa-Übersetzung von Paul Dräger liest sich das so: Und zu der Zeit, wo noch nicht das unsterbliche Licht, aber auch nicht mehr ganz die Finsternis herrscht, sondern ein zarter Glanz über die Nacht hingleitet, den die Erwachenden ›Zwielicht‹ nennen: zu der Zeit liefen sie in den Hafen der öden Thyneïschen Insel ein und gingen in schmerzlicher Ermattung an Land. Und ihnen erschien der Sohn der Leto, während er fern von Lykien zum unendlich großen Volk der oberhalb des Nordwindes lebenden Menschen hinaufstieg. Und goldene, traubenförmige Locken bewegten sich rasch an seinen beiden Wangen, wie er so dahinschritt. Und mit der Linken schwang er seinen silbernen Bogen, und am Rücken hing ausgestreckt von der Schulter herab der Köcher. Und unter seinen Füßen erbebte die ganze Insel, und die Wogen umspülten das Festland. Sie aber ergriff, als sie ihn sahen, ratloses Staunen, und keiner wagte es, dem Gott gerade in die schönen Augen zu sehen. Und sie standen da,

30 Dieser letzte Absatz über die ›Dialektik der Bilder‹ ist angeregt von Pierre Legendre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie: Versuch über den Vater, aus dem Französischen von Clemens Pornschlegel, Wien/Berlin: Turia & Kant 2011, S. 70f.; vgl. dort die Rede von der »Dialektik der Einbindung des Subjekts« sowie der »emblematisch verfahrenden Vermittlung« (médiation emblematisée). Ich habe dies schon in anderem Zusammenhang aufgegriffen: Pierre Mattern, »Kotzebue’s Allgewalt«: Literarische Fehde und politisches Attentat, Würzburg: Königsausen & Neumann 2011, S. 151.

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den Blick nach unten auf den Boden gesenkt. Doch der nun schritt in der Ferne durch die Luft zum Meer hin.31

Die Szene spielt im Zwielicht; Erde und Wasser sind in Aufruhr; die Helden stehen in »ratlose[m] Staunen«, niemand blickt dem Gott »gerade in die schönen Augen«, alle haben sie »den Blick nach unten auf den Boden gesenkt.« Schließlich ergreift Orpheus das Wort und flicht die Erscheinung in einen Gesang von der Kindheit des Apoll ein, weil die Kindheit der Morgendämmerung entspricht, in der sich die Szene abgespielt hat; begründet wird danach eine Kultstätte eben für den ›jugendlichen Apoll‹, wo von nun an dem außerordentlichen Ereignis durch kultische Wiederholungen Rechnung getragen werden soll. Man sieht, dass das, was ich soeben ›Dialektik der Bilder‹ genannt habe, hier die Sache eines Experten ist, des Sängers Orpheus, der mit zur Truppe zählt. Wieder erleben wir Verhältnisse, die die übliche welterschließende Transparenz trüben: Die Welt ist noch nicht vollständig beleuchtet; die Elemente sind in Aufruhr, nicht an ihrem üblichen Platz oder sie zeigen nicht das zum alltäglichen menschlichen Leben erforderliche Verhalten; die Aufmerksamkeit der Anwesenden ist also gespannt. Das Erscheinen der göttlichen Figur, wenn es auch stumm geschieht, ist dann bereits eine Rede; der Gott zeigt Merkmale (hier sind es die Bewaffnung und die Frisur), die die Fremdheit der Erscheinung mit einer Geschichte vermitteln, die man kennt oder als bekannt voraussetzt. Das leistet der Sänger, der Interpret, der dazu noch die Verbindung mit der begonnenen Unternehmung herstellt, sozusagen dem Vektor, auf dem sich die Helden befinden. Er sagt, wie Altar und Opfer nun einzurichten sind und wie die erste Wiederholung des Opfers erfolgen soll, wenn sie nämlich – wie zu hoffen steht, erfolgreich – von der kolchischen Küste auf diese Insel zurückgekehrt sein werden: Das Opfer soll dann um einiges üppiger ausfallen. Aber natürlich erst dann. Eine Leistung aber vollziehen die Heroen bei der Erscheinung des Gottes bereits von selbst. Sie senken schamhaft den Blick, sie vollziehen das, was üblicherweise Aidos genannt wird, eine kultische Schamgeste; sie blicken den Gott nicht an, sie gucken aber auch nicht ganz weg, d. h. sie markieren so das Geschehen als nicht alltäglich, indem sie sich in einen Modus der Befangenheit setzen – ein ihnen zukommendes, körperlich markiertes Nicht-Wissen (oder ein Nicht-recht-hierhin-Gehören), das erst durch die kultischen Anweisungen des Interpreten Orpheus gelöst wird.

31 Apollonios von Rhodos, Die Fahrt der Argonauten. Griechisch/Deutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Paul Dräger, Stuttgart: Reclam 2002, S. 149 (Buch II, vv. 670–684).

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VI

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Thomas Stangl: Theophanische Liturgie ohne Theos

So kommen wir dann, zuletzt, zum Beispiel aus einem Roman von Thomas Stangl. Zur Instabilität der Protagonistin Andrea, die sich gleich zeigen wird, ist zu sagen, dass sie der Handlung nach vor nicht allzu langer Zeit vom Suizid ihrer jüngeren Schwester Mona erfahren hat. Mona war – ihrer Lebenshaltung, nicht ihrem Beruf nach – als »die Tänzerin« eingeführt worden; Andrea wird nun tatsächlich eine werden. Sie wird sowohl (vermutlich, jedenfalls zeitweise) ihren Lebensunterhalt mit dem Tanzen verdienen als auch ihr Leben gegen diesen Tod sichern. Sie kommt hier von einem Besuch bei dem unten genannten »Mann in dem zugemüllten Haus«, eine Art schweigsamer Guru, dem alle Hauptpersonen des Romans begegnen: Dann ist sie draußen und läuft zu Fuß auf den Kieswegen zwischen den Häusern, dann eine Autostraße entlang, auf einem Bürgersteig, auf dem sie als einzige geht, Autos brausen an ihr vorbei, fast alles Lastwagen. Sie stellt sich vor, sie wäre ein Ast, der vom Wind abgeknickt wird, von dem sich die Blätter nach und nach lösen, der von Füßen weitergekickt wird, von Bächen oder Rinnsalen weggeschwemmt. Sie spürt sich als Ast, beinah, spürt die Risse an der Rinde ihrer Haut, ihr holzig weiches fast faulendes Mark, spürt sich nach, wie sie es beinah spürt, richtet ein grelles Scheinwerferlicht auf dieses Gefühl, um es zu fassen; wie jemand, der den Moment festhalten will, in dem er einschläft, diesen Moment des Übergangs. Irgendwann ist sie in einer Gegend mit UBahnstationen, Supermärkten, Zinshäusern und Gemeindebauten. Sie ist nicht allein auf der Straße, sie möchte von keinem gesehen werden. Einmal kommt ihr ein Afrikaner entgegen, sie sieht ihn schon von weitem, und plötzlich weiß sie nicht mehr, wie sie schauen soll, sie bekommt diesen Blick, von dem sie ahnt, dass jeder Afrikaner in diesem Land ihn kennt, diesen entgeisterten Nicht-Blick, dieses gezwungene verschämte Nicht-Anstarren, und sie würde gern ein Taschentuch hervorholen, um sich die Nase zu putzen, oder so tun, als hätte sich eine Kontaktlinse verschoben, hat aber keine Taschentücher dabei und trägt heute Brillen, und es fällt ihr auch nicht ein, sich zu bücken, um sich die Schuhe zuzubinden. Der Afrikaner (oder ist es ein Österreicher mit dunkler Hautfarbe) spuckt auf den Boden, während er an ihr vorbeigeht, und sagt ein scharfes Wort, das sie nicht versteht. Sie dreht sich nicht um, ihr Blick entspannt sich, sie denkt, sie möchte sterben. Ein sichtbares Zeichen ihrer Gesinnung tragen […], selbst das würde ihr nichts nützen, es geht um mehr, um Tieferes. In diesem Moment weiß sie, dass sie sie selbst ist, das Zuviel an Bewusstsein nicht losgeworden ist und nie loswerden wird; Mona hätte ihn einfach angeschaut oder nicht angeschaut, diesen schönen Mann; sie sagt sich vor, dass sie sterben möchte; als könnte es sie beruhigen, sagt sie sich das vor und sagt sich dann das englische Wort self-conscious (ein Wort mit einer richtigen und einer falschen Bedeutung) vor. Du musst deine europäische Fresse auslöschen. Sie stellt sich vor, der Mann in dem zugemüllten Haus am Stadtrand hätte diesen Satz gesagt, sie steht zu Hause am Fenster und spricht den Satz mit seiner Stimme oder mit

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etwas, das sie für seine Stimme hält, laut aus. Solche Sätze müsste ein Lehrer (furchtbar, ein Lehrer) ihr sagen.32

Ich möchte hier lediglich auf einige mir relevant erscheinende Elemente hinweisen. Da gibt es nicht nur eine Reminiszenz an den zweiten Satz der Recherche Prousts, die Selbstbeobachtung beim Einschlafen, sondern es sind auch zahlreiche Elemente der hellenistischen Theophanie versammelt: die Problematisierung des Blicks, die das Blickverbot und die Scham umdreht, die aus den Augenwinkeln wahrgenommene Schönheit, auch ein herbeiphantasierter Interpret (hier der »Lehrer«) gemahnt an das Szenarium des epiphanischen Dritten. Wie Apoll wird der dunkelhäutige Mann, dem sie hier begegnet, durch ein Drittes zwischen Ansehen und Nicht-Ansehen hervorgehoben. Er spricht aber nicht durch die mythischen Zeichen, die er mit sich führt, und doch muss sie sein Verhalten zunächst einmal interpretieren. Mit dem »scharfe[n] Wort« und dem Ausspucken fügt er sich nicht – wie Apoll mit Frisur und Waffen – in die privatmythologische Deutung ein, sondern streicht sich in ihr gleichsam durch. Er ist also dieser Dritte gerade nicht. Insofern handelt es sich um eine theophane Fehlbesetzung; sie aber ändert nichts an der Gültigkeit des Schemas. Es ist die theophane Liturgie, die nun ausgesprochen rettende Züge bekommt. Es beginnt ein Deutungsspiel, das die verschärfte Selbstbeziehung, die den Spaziergang über bereits andauert, weiterführt und auf zu findende Worte bezieht sowie auf Instanzen, die sie aussprechen müssen. Es meldet sich zunächst einmal ein innerer Interpret: self-conscious, so lehren die Englischlehrer, ist ein false friend; es heißt ja nicht »selbstbewusst«, sondern »befangen«. Man kann sich selber mit den Zeichen der richtigen Gesinnung nicht erkennbar machen, die Selbstaffirmation ist von einem gespürten Sich-selbstnicht-so-recht-am-Platze-Wissen niemals so recht zu trennen. Der innere Interpret wird dann nach außen projiziert: So als sei es gewissermaßen liturgisch notwendig, erscheint der Interpret als ein Anderer, als ein Gegenüber, so dass Andrea eine Art Fatum vom Anderen her zugesprochen bekommt. Die Formel von der »europäischen Fresse«, die es »auszulöschen« gilt, das »Töten lebender Bilder« (Legendre33), einer sichtbaren, aber falschen, nicht tragbaren und nicht ertragbaren Version des Sich-selbst-nicht-so-recht-am-Platze-Wissens, übersetzt die suizidale Tendenz in eine zwar nicht kultische, wohl aber kulturelle Praxis: Andrea wird eine Folge von Tanz-Performance-Projekten starten, von denen dann einige in der Romanhandlung begegnen werden. Elemente einer verlorenen Liturgie umgeben das momenthaft aufscheinende Wissen, wer man selbst ist und was sich auf dieser Welt noch tun lässt. Das ›Bild‹ inmitten der Liturgie fällt freilich aus, weil man sich ihm gegenüber falsch verhält; das Bild 32 Thomas Stangl, Regeln des Tanzes: Roman, Graz/Wien: Literaturverlag Droschl 2013, S. 220f. 33 Pierre Legendre, Das Verbrechen des Gefreiten Lortie: Versuch über den Vater (Anm. 30), S. 78.

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aber, das man selber abgibt, ist genau der eine Gegenstand auf der Welt, der die Aktivität des Subjekts künftig in Gang halten wird.

VII

Schluss

Fassen wir die Besonderheiten der jeweiligen Beispiele kurz zusammen: Bei Hettche zeigte sich die Epiphanie im Rahmen eines realistischen Erzählkonzeptes als eine Art spontan erzeugtes Emblem, das eine Pictura, eine Inscriptio und, im weiteren Sinne, auch eine Subscriptio aufweist. An ihm liest das Subjekt ab, wie es um sich selber in der Welt (oder ihr gegenüber) bestellt ist; der beschreibbare Anblick erzeugt eine momentane Gewissheit, die aber nicht anhand konventioneller Zeichen zustande kommt. Es handelt sich also um so etwas wie die spontane Emblematisierung eines Anblicks, der das Selbstverständnis affiziert oder modifiziert, ohne direkt dazu aufzurufen, etwas zu sein oder zu tun. Bei Mosebach ging es darum, dass der Erzähler zwar einen Bildausschnitt ›liest‹, dabei aber in das erkennbare Schema der Joyce’schen Epiphanie gerät und sich in deren mitgelieferter Ambivalenz (Ding-, szenische Epiphanie) verstrickt. Bei Seethaler konnte man ein weiteres Muster ausmachen, die Quasi-Theophanie, eine privat-mythologisch vorgehende ›Dialektik der Bilder‹, die hier den Grund dafür legt, dass eine Figur die (metaphysische) Ganzheit eines Lebens für sich beansprucht. Bei Stangl werden Elemente des theophanen Musters zitiert, anhand derer eine Figur ein zugesprochenes Fatum für sich erzeugt und unterroristisch, produktiv, ›kulturell‹ in den folgenden Lebensjahren interpretiert. Wir haben es also mit drei Mustern zu tun: dem theophanen, liturgienahen Schema; der modernistischen literarischen Epiphanie; der dreiteiligen Emblemstruktur. Keine der Spielarten lässt sich ohne Weiteres auf eine andere reduzieren. Sie können freilich einander durchdringen. Alle können ihr Zitiertwerden andeuten, müssen dies aber nicht; jeder eröffnen sich neben der Andeutung ihres Zitatcharakters noch weitere Spielmöglichkeiten, z. B. durch Abblenden oder Umwerten der Elemente. Alle drei sind zunächst einmal Varianten eines ›nachdrücklichen Dort-Erscheinens‹, das die üblichen Zeitverläufe und vor allem die üblichen Vor- und Rückgriffe der Subjekte, mit denen sie Routinezeit erzeugen, außer Kraft setzt. Im ersten Beispiel ist dieses transzendente ›Dort‹ die Zeit, in der das Subjekt nicht mehr sein wird, die aber durch ein Bild in seine Lebenszeit hineinreicht; im zweiten Beispiel erscheint ›dort‹ die (unterstellte) Fähigkeit, den Abstand zwischen Wort, Ding und Handlung zu überspielen (ein Moment, das in allen Beispielen eine Rolle spielt); im dritten Beispiel geht es um ein ›Dort-Erscheinen‹, das durch die Verleihung vertrauter Züge ›heimgeholt‹ wird, damit das Subjekt

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sich selbst bezeugt; und im vierten Beispiel wird dieses ›Dort‹ dem Erscheinen eines Fremden zugewiesen, und erst im Zusammenbrechen dieser Zuweisung entdeckt das Subjekt ein lebbares Verhältnis zu sich selbst. Dieses Erscheinen verlangt jedoch stets das Aussetzen von Routinezeit, die Verstärkung des Rückgriffs, des Ausgriffs oder des Zurückkommens auf sich selbst. Im ersten Beispiel wird eine suizidale Tendenz verstärkt, im letzten wird sie aufgehoben. Bei Seethaler antwortet das Subjekt mit einer synthetisierenden Leistung, bei Mosebach allerdings bleibt die Funktion fragmentarisch und führt eher das Auftauchen des Musters selber vor. Die literarische Epiphanie eröffnet die Möglichkeit, die Verkennung, das Versagen, aber damit auch die Aufdeckung zeitgenössischer Subjektivität zu erzählen.

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Henrich, Dieter: Denken und Selbstsein: Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt a.M./ Berlin: Suhrkamp 2016. Legendre, Pierre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie: Versuch über den Vater. Aus dem Französischen von Clemens Pornschlegel. Wien/Berlin: Turia & Kant 2011. Mattern, Pierre: »Kotzebue’s Allgewalt«: Literarische Fehde und politisches Attentat. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011. – und Alexandra Pontzen: »Epiphanie«. In: Formen der Zeit: Ein Wörterbuch der ästhetischen Eigenzeiten. Hg. von Michael Gamper, Helmut Hühn und Steffen Richter, Hannover: Wehrhahn 2020, S. 104–112. Neuhold, Birgit: Measuring the Sadness: Conrad, Joyce, Woolf and European Epiphany. New York [u. a.]: Peter Lang 2009. Peters, Günter: »Epiphanien des Alltäglichen: Methoden literarischer Realisationen bei Joyce, Ponge und Handke«. In: Poetica 30 (1998): 469–496. Ritter, Ina: Die Epiphanie des Augenblicks: Wahrnehmung und Projektion bei Rainer Maria Rilke und Jens Peter Jacobsen. New York [u. a.]: Peter Lang 2009. Rosa, Hartmut: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp 2016. Schneider, Sabine: »Klaffende Augen, starre Blicke: Krisen und Epiphanien des Sehens als Medium der Sprachreflexion bei Hofmannsthal und Rilke«. In: Klassische Moderne: Ein Paradigma des 20. Jahrhunderts. Hg. von Mauro Ponzi, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 167–197. Schütz, Alfred und Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. 2 Bde. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979/1984. Sebeok, Thomas A. und Jean Umiker-Sebeok: »Du kennst meine Methode«: Charles S. Peirce und Sherlock Holmes. Aus dem Amerikanischen von Achim Eschbach. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982. Tardits, Annie: »Joyce – vom Geständnis zur ›écriture‹ des Vergehens«. In: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. Hg. von Alois Hahn und Volker Kapp, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 181–192. Tigges, Wim: »The Significance of Trivial Things: Towards a Typology of Literary Epiphanies«. In: Moments of Moment: Aspects of the Literary Epiphany. Hg. von dems. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1999, S. 11–36.

Anita Gröger

Stillstand und Übergang: Augenblickserfahrungen in Botho Strauß’ Die Fabeln von der Begegnung

»Nach fünfzehn Jahren unverbrüchlicher Gemeinsamkeit ein Augenblick, ein Schleierriß: dies ist nicht mein Mann. Der Pfeil vollendeter Befremdung.«1 Als ein ebenso unerwartetes wie unumkehrbares Ereignis zieht sich der hier in Worte gefasste ›befremdende Augenblick‹ leitmotivisch durch Botho Strauß’ Die Fabeln von der Begegnung (2015). Die Sammlung rätselhaft anmutender Prosaminiaturen inszeniert in unzähligen Facetten die momenthafte Erfahrung zwischenmenschlicher Entfremdung, die sowohl einen inneren Stillstand sichtbar zu machen als auch einen Wendepunkt und den Beginn einer (neuen) Entwicklung zu markieren vermag. So erkennt die oben zitierte Ehefrau: »Du warst mir der nächste Mensch. […] Unsere Wanderung war eine andauernde Unterwanderung meiner Person. Und sogar der Gewißheit, die einst von dir Geliebte zu sein.«2 Das abschließende »Nun nicht mehr«3 konstatiert, dass die Entfremdungserfahrung eine neue Wirklichkeit schafft und zugleich zu einem radikalen Neuverstehen des anderen führt. Offen bleibt, ob wir es hier mit einer Begegnung ex negativo zu tun haben oder ob gerade die in der Augenblickserfahrung liegende Erkenntnis die notwendige Bedingung für eine gelingende Begegnung mit dem »andere[n]«4 darstellt. Handelt es sich also um ein Freiwerden vom anderen oder um ein Freiwerden mit dem anderen? Fest steht, dass Botho Strauß’ enigmatische Menschenfabeln die Leserschaft herausfordern, sich aktiv auf die Suche nach den darin verborgenen Bedeutungen zu machen, Sinnzusammenhänge zu entdecken und selbst zu schaffen. Diese erkenntnisorientierte Poetik ist nicht allein für Die Fabeln von der Begegnung charakteristisch, sondern kann als ein spezifisches stilistisches Merkmal von

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Botho Strauß, Die Fabeln von der Begegnung, München: dtv 2015, S. 63. Ebd., S. 63f. Ebd., S. 64. Ebd., S. 63.

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Strauß’ literarischem Schaffen insgesamt gelten.5 Im Zentrum des Beitrags steht die Frage, welcher Erzählstrategien sich der Autor in den Fabeln bedient, um den befremdenden Augenblick im Spannungsfeld von Stillstand und Übergang poetisch zu konturieren und die darin gestalteten Begegnungen für die Leser(innen) erfahrbar zu machen.

I

Methodische Überlegungen

Die Analyse erfolgt aus einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten und narratologisch fundierten Perspektive, die sich auf Paul Ricœurs hermeneutische Denkfigur der »dreifachen Mimesis« stützt: Ihr zufolge vollzieht sich die Wechselwirkung zwischen literarischen Werken und außerliterarischen Kontexten in den Schritten Präfiguration, Konfiguration und Refiguration.6 Um den grundsätzlich problematischen Transfer von empirisch-sozialwissenschaftlichen bzw. philosophischen Begriffen (wie etwa Freiheit, Entfremdung, Erkenntnis und Resonanz7) auf die literarisch-hermeneutische Textanalyse stets präsent zu halten, wird im Folgenden von der »Transposition«8 außer- und innerliterarischer Konzepte und Begriffe in den Erzähltext gesprochen. Dazu gehört beispielsweise auch die in Strauß’ Texten wiederkehrende Verwendung von Begriffen wie »Augenblick«,9 »Verzweiflung«10 und »Sprung«,11 die sich auf 5 Vgl. ergänzend Anita Gröger, »Der inszenierte Augenblick: Botho Strauß’ Schlußchor als Erinnerungsdrama«, in: AugenBlicke: Multiperspektivischer Zugang zum Werk von Botho Strauß, hg. von Diana Florea, Simone Gottschlich, ders. [u. a.], Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 89–123. 6 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, 3 Bde., aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, 2. Aufl., München: Fink 2007, hier Bd. 1. 7 Der Begriff der »Resonanz« bzw. der »Resonanzbeziehungen« wird in diesem Beitrag im literatursoziologischen Sinne nach Hartmut Rosa verwendet und umfasst das Erleben von Resonanzwirkungen (Ergriffenheit) bzw. die Fähigkeit, mit der umgebenden Welt in eine Antwortbeziehung zu treten. Vgl. ausführlich Harmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016, besonders S. 52ff. 8 Diese Verwendung des Transpositionsbegriffs lehnt sich an Julia Kristeva (La révolution du langage poétique, Paris: Éditions du Seuil, 1974) an, die den Terminus im Rahmen der Theorie der Intertextualität etablierte. 9 Ausgehend von Platons Begriff des »Plötzlichen« im Parmenides fasst Kierkegaard den »Augenblick« als einen abstrakten, den Gegensatz von Endlichkeit und Ewigkeit vereinenden Moment auf, der zugleich als Übergang gedacht wird. Vgl. Tanja Dembski, Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, S. 201. 10 In Form einer dialektischen Denkfigur unterscheidet Kierkegaard den »Zweifel« als innere Bewegung des Gedankens von der »Verzweiflung«, die als Wahl die ganze Persönlichkeit erfasse und absolut sei. Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck, 9. Aufl., München: dtv 2007, S. 769f. –

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das existenzphilosophische Denken Kierkegaards zurückführen lassen und später unter anderem bei Camus weiterentwickelt wurden. Auf beide Philosophen wird in einzelnen Miniaturen angespielt,12 doch liegt es nahe, existenzphilosophische Begriffe als Deutungshorizont für das gesamte Werk, auch mit Blick auf die erkenntnisorientierte Poetik der Fabeln, heranzuziehen. Die intertextuelle Perspektive fokussiert dabei die konkreten poetischen Aktualisierungen: Da jede Transposition zu einer Neuartikulation des Thetischen führt, erlaubt sie es methodisch, einen existenzphilosophischen Verstehenszugang aufrechtzuerhalten, ohne die rezeptionsästhetische Perspektive dergestalt zu verengen, dass die charakteristische Vieldeutigkeit der Textpassagen nicht mehr ausreichend erfasst werden kann. Da Texte menschliche Erfahrungen und Erkenntnisprozesse nicht wirklich nachahmen, sondern durch kreative und konstruktive Akte der Poiesis erst erschaffen, bedient sich die Analyse des Begriffs der »narrativen Inszenierung«. Er soll verdeutlichen, dass die Kombination bestimmter Erzählstrategien bei den Rezipient(inn)en eine Mimesis-Illusion, beispielsweise in Form von Geschehensund Erzählillusion, entstehen lässt, die wiederum individuelle Erkenntnisprozesse anzuregen vermag.13 Auf dieser Grundlage werden in diesem Beitrag leserseitige Wirkungspotentiale erschlossen und Hypothesen zu den davon ableitbaren Funktionspotentialen aufgestellt. Der Beitrag legt in einem Close Reading ausgewählter Textbeispiele einen besonderen Fokus auf vier Aspekte, die zugleich als Deutungszugänge zur »Begegnung« aufgefasst werden, d. h. die narrative Gestaltung der interpersonellen, individuellen, der intertextuellen sowie der poetologischen Dimension. Die im Folgenden zitierten Fabeln werden zu ihrer eindeutigen Kennzeichnung nach ihrem Leitmotiv benannt. In Die Krankheit zum Tode (1849) wird diese Denkfigur in einer Verzweiflungsanalyse noch weiter ausgeführt. 11 Kierkegaard verwendet die Begriffe »Sprung« und »Wahl« als Kategorien der Entscheidung bzw. des Übergangs, die von der ästhetischen Existenzmöglichkeit in das Stadium der ethischen Existenz führen. Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder – Oder (Anm. 10), S. 177 sowie ders., Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. von Hermann Diem und Walter Rest, aus dem Dänischen von B. und S. Diderichsen, München: dtv 2005, S. 230. 12 Albert Camus wird dabei namentlich genannt. Vgl. Botho Strauß, Die Fabeln von der Begegnung (Anm. 1), S. 34. 13 Vgl. Michael Basseler und Dorothee Birke, »Mimesis des Erinnerns«, in: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegungen und Anwendungsperspektiven, hg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning, Berlin/New York: De Gruyter 2005, S. 123–147, hier S. 123f, sowie Ansgar Nünning, »Mimesis des Erzählens. Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration«, in: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert: Festschrift für Wilhelm Füger, hg. von Jörg Helbig, Heidelberg: Winter 2001, S. 13–47, hier S. 17ff.

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II

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Variationen des Stillstands

Der befremdende Augenblick als ein zeitenthobenes Verharren im Stillstand wird im Zusammenhang interpersoneller Kommunikationssituationen besonders eindrücklich. In immer neuen Figurenkonstellationen inszenieren die Fabeln diesen Stillstand unter anderem als Verweigerung, als Verzweiflung und als Unverbindlichkeit. Als Beispiel einer Verweigerung soll die Fabel des ›Unfassbaren‹ herangezogen werden. Sie erweist sich als ein narrativer Versuch, sich an die befremdende Augenblickserfahrung in konzentriertester Form sprachlich anzunähern, um sie auf diese Weise erfassbar zu machen: Sie, die nach einem furchtbaren Wort vor ihm zurückweicht, von Angesicht zu Angesicht von diesem Unfaßbaren sich entfernt, als müsse sie von nun an vor Entsetzen bis ans Ende ihrer Tage rückwärts von ihm fortgehen.14

Es geht um »sie«, eine Frau, in der der befremdende Augenblick durch ein »furchtbares Wort« absolut wird und eine Art inneren Stillstand auslöst – ein Verharren im »Entsetzen«. Abstrakt bleiben hier nicht nur Zeit, Ort, Handlung und die Figuren selbst, sondern auch der Auslöser der Augenblickserfahrung. Die Formulierung »nach einem furchtbaren Wort« kann leserseitig in ihrer eigentlichen (»Wort«) oder übertragenen Bedeutung (»Wortwechsel«, »Streit« etc.) interpretiert und mit individuell vorstellbaren Inhalten gefüllt werden. So entsteht die Funktion einer suggestiven ›Leerstelle‹, die ein maximales Deutungsspektrum eröffnet, da auch bei erneutem Lesen eine Vielzahl interpretativer Anschlussmöglichkeit gegeben bleibt. Konkret hingegen wird der Augenblick der Entfremdung insofern, als er sprachlich auf seine eigentliche Bedeutung zurückgeführt wird: In dreifacher Variation wird er als Bewegung des Zurückweichens, als ein Sich-Entfernen »von Angesicht zu Angesicht«, als ein »rückwärts« gerichtetes Fortgehen vom anderen beschrieben. Auch das »Entsetzen« kann auf seine eigentliche Bedeutung als ein ›Aus-setzen‹ in zeitlicher, interpersoneller und intrapersoneller Dimension zurückgeführt werden, um Deutungszugänge zu generieren: Der Augenblick eines zeitlichen Stillstands, der zugleich als momenthaft und ewig (»bis ans Ende ihrer Tage«) erfahren wird, ist auf der narrativen Ebene in Form eines einzigen hypotaktischen, elliptischen Satzgefüges gestaltet. Dessen nur aus einem Personalpronomen (»Sie«) bestehender Hauptsatz stellt schlaglichtartig das Subjekt der Entfremdungserfahrung heraus, während das Nebensatzgefüge aus Relativsätzen mit angeschlossenem Komparativsatz (»als müsse«) die Augenblickserfahrung in der Erzählzeit ausdehnt. Auf der interpersonellen Ebene führt das ›Ent-setzen‹ zu einer absoluten, unum14 Botho Strauß, Die Fabeln von der Begegnung (Anm. 1), S. 50.

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kehrbaren Entfernung vom Gegenüber (»ihm«), wobei das und der Unfassbare eins werden, wie die grammatikalische Mehrdeutigkeit im Text unterstreicht. Das im elliptischen Satzbau abgebildete abrupte Abbrechen der Resonanzbeziehung zu »ihm« wirft »sie« auf sich selbst zurück. Lediglich ihre Reaktion (das Zurückweichen) bzw. ihr Erleben (das Entsetzen) im Augenblick der maximalen Entfremdung erfährt die Leserschaft, und zwar anhand der narrativ gestalteten internen Fokalisierung, die gewissermaßen Außensicht (Erzählerstimme) und Innensicht (Figurenperspektive) zugleich ermöglicht. Auf der intrapersonellen Ebene kann das Zurückweichen psychologisch als eine Schockreaktion, metaphorisch als eine Verweigerung gedeutet werden, wobei »sie« dieser Bewegung zwanghaft (»als müsse sie«) zu folgen scheint. Das Ergriffensein durch die entfremdende Augenblickserfahrung ist absolut und petrifiziert den anderen als Bild, als »Angesicht«. In der Verweigerung ist keine wirkliche Auseinandersetzung denkbar und damit auch kein Übergang zu einer Entwicklung, in der das so fixierte Bild vom anderen zukunftsgerichtet neu entworfen werden könnte. Der vielschichtig inszenierte innere Stillstand der Figur schließt die Möglichkeit eines erneuten Sich-Zuwendens aus. Es liegt daher nahe, hier auf eine Begegnung ex negativo zu schließen. In der Fabel von ›Frau Beyond‹ präsentiert sich der Stillstand als ein Zustand der Verzweiflung. Er folgt auf den befremdenden Augenblick, als die Figur die Zimmertüre ihrer Tochter verschlossen vorfindet. Der Text beginnt mit der Präsentation der Figur, in deren Namen bereits metaphorisch ihre Haltung zur Welt durchscheint: Frau Beyond oder, mit Kosenamen, Beyondie, die weiß, daß hinter allem noch etwas andres steckt. Eins ist, was einer so sagt, ein anderes, was dahintersteckt. Zum Beispiel Liebende benutzen überhaupt nur Paßworte, mit denen sie einander als zugehörig und ungefährlich, mit denen einer als des anderen Eingeweihter sich zu erkennen gibt.15

Die Figur zeichnet sich dadurch aus, dass sie hinter den offensichtlichen Dingen immer noch eine andere Bedeutungsebene sucht. Dass es sich jedoch nicht um eine selbstkritische Haltung des Zweifels, sondern vielmehr um ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Welt handelt, deutet schon zu Beginn die karikierende Verniedlichung ihres Namens in »Beyondie« an. Das Beispiel der Liebenden, die sich über »Paßworte« einander versichern (»zugehörig«, »ungefährlich«) und von ihrer Umgebung abgrenzen (»Eingeweihter«), verweist umgekehrt auf die dem Misstrauen zugrunde liegende Angst der Figur, ausgeschlossen, ›unerkannt‹ und mit sich allein zu bleiben. Während sie im ersten Satz aus einer Nullfokalisierung heraus eingeführt wird, d. h. der Erzähler bereits seine Einschätzung der Figur durchscheinen lässt, findet im zweiten Satz eine 15 Ebd., S. 14f.

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Verschiebung hin zur internen Fokalisierung statt, die gewissermaßen die Figur selbst zu Wort kommen lässt, ihre Gedanken ungefiltert zeigt und dadurch eine leserseitige Erwartungshaltung aufbaut. Intern fokalisiert sind auch die vage, phrasenhafte Formulierung darüber, »was die Wissenschaft so weiß, und was jenseits vom sicheren Wissen sich sonst so rührt«,16 sowie das ins Absurde geführte Beispiel über »verklausulierte Botschaften«17 in Redewendungen. Erzählend entfaltet sich so das Selbst-und Weltverständnis der Figur: Sie findet ihren Zugang zur »verklausulierte[n]« Welt, kann ihr anhand konsolidierter Erklärungs- und Erzählmuster einen Sinn abgewinnen. Auf eben diesen Weltdeutungsmustern gründet auch ihre Selbstsicherheit, die im ›befremdenden Augenblick‹ nun plötzlich und unerwartet suspendiert wird: »Jetzt aber steht sie vor verschlossener Tür!«18 Die in einen Ausruf gefasste entfremdende Augenblickserfahrung markiert eine Verlusterfahrung. Der fassungslosen Mutter ist der Zugang zur Tochter verweigert, die sich mit jenem Augenblick in etwas Unverfügbares verwandelt, da sie sich dem mütterlichen Zugriff wie auch ihrer Deutungshoheit entzieht: Dahinter die törichte Tochter, die sich einschloß, weil sie sich die Mutter vom Leib halten will. Beyondie nun zärtlich, wütend, verzweifelt, schreiend, flüsternd, fordernd, Abbitte leistend, alles verfluchend, tief demütig, ja kriechend auf und ab vor der Tür. Die Tür küssend, die Tür rüttelnd. Sich an sie schmiegend wie an den Körper der Tochter. Die Klinke abreißend und gegen das Türblatt schlagend. Mit Fingerkrallen über den Lack schabend, sanft wie über den Rücken der Tochter, bis sich ihr die Haare wohlig sträuben. Und schreit und heult: Ich versteh kein Deutsch! Ich kann kein Deutsch. Verklausuliert scheint jeder Satz, den sie hört auf deutsch. Verklausuliert wie die Tochter jenseits der Tür.19

Keine der im ersten Teil des Textes angeführten Lösungsstrategien, d. h. der ›Schlüssel‹ zur Liebe, zum Wissen oder zur Sprache, vermag die unmittelbar auf sich selbst zurückgeworfene »Mutter« aus dieser verzweifelten Lage zu erlösen: Obwohl sie alle Facetten der Überredungskunst von »zärtlich« bis »schlagend«, von »verfluchend« bis »kriechend« beherrscht, erweist sich keine davon als ›Passwort‹, um in eine ›Resonanzbeziehung‹ zu der sich verweigernden Tochter zu treten. Diese absolute Distanz, die die verschlossene Türe hier schafft, lässt sich für »Beyondie« weder durch Gesten (»kriechend«, »küssend«, »rüttelnd«, »schlagend«) noch durch Sprache lösen: Die Tochter bleibt ein Rätsel, unverständlich, fremd, schweigend, in sich verkapselt, in jedem Sinn unerreichbar. Diese Verlusterfahrung der Mutter führt zu einem Zustand der Verzweiflung, der 16 17 18 19

Ebd., S. 15. Ebd. Ebd. Ebd.

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in einem doppelten Aufschrei kulminiert: »Ich versteh kein Deutsch! Ich kann kein Deutsch!« Der rhetorische Parallelismus zeigt ihre absolute Isolation, denn das Ich steht prominent am Satzbeginn, es erreicht kein Du, sondern erschöpft sich in der Negation des eigenen Sinnstiftungsvermögens (»versteh«, »kann«) und der kommunikativen Ausdrucksmittel (»Deutsch«). Die gewohnten, oft erprobten und konsolidierten Deutungsmuster bieten dem Ich also keine Möglichkeit, neue Perspektiven, Sinnstiftungsstrategien oder Anknüpfungspunkte zu finden, die aus der »törichte[n] Tochter« ein Du entstehen lassen. Die Türe, auch strukturell in der Mitte des Textes platziert, erweist sich als zentrales Dingsymbol und möglicher Schlüssel zu seinem Verständnis: Erstens markiert sie die Augenblickserfahrung, zweitens charakterisiert sie den Stillstand des in existenzieller Einsamkeit gefangenen Ichs, das verzweifelt nach der verlorenen, d. h. unverfügbar (»verklausuliert«) und sinnlos gewordenen Resonanzbeziehung sucht. Drittens steht die Türe für die Möglichkeit des Übergangs, der dort denkbar wird, wo ein Subjekt den Mut und das Vermögen entwickelt, die eigenen Grenzen zu überschreiten, d. h. neue Verstehensmuster zur Welt- und Selbstdeutung zu entwickeln. In dieser Fabel ist also die Begegnung zwar nicht realisiert, aber doch als Möglichkeit in der Entfremdungserfahrung angelegt. Als ästhetische, da noch alle Möglichkeiten ihrer Verwirklichung in sich tragende Erfahrung wird der Augenblick in der Fabel vom ›Lob des Stillstands‹ beschrieben, deren Figuren einträchtig an der Zufälligkeit und Unverbindlichkeit der gemeinsamen Nähe festhalten: Das menschliche Gedränge… […] Und immer mittendrin die geschiedene Frau mit dem weißblonden struppigen Kurzhaar, die ihren Kopf rückwärtssprechend nur leicht nach rechts wendete, denn knapp hinter ihr, wie immer, stand der ehemalige Lokalreporter mit seiner alten Sporttasche voller Habseligkeiten […]. Still stand er in der Menge und fühlte sich ununterschieden. An ihn richtete sie die Worte: »Wir haben uns immer irgendwo anstellen müssen. Und sind doch in unserer Begegnung nie über das enge Beieinander im Gedränge hinausgekommen.« »Sie haben recht«, antwortete der entlassene Reporter. »Aber ich genieße es. Würde ich Sie einmal willentlich berühren, anstatt an Sie gedrückt zu werden im Haufen, wäre alles entschieden zwischen uns. Die Sache nähme ihren gewöhnlichen Verlauf. Sie würden dann das nächste Mal zu Hause bleiben und ich müßte allein für uns beide anstehen.« Auch wenn sie daran gehindert waren, ihren Weg fortzusetzen, fühlten sie sich nicht bedroht. Niemand rempelte sie an, keiner trat ihnen auf die Füße, die beiden Strömungen der Menge, der Habgierigen und der Bedürftigen, hatten sich ineinandergeschlungen, gestaut, nichts bewegte sich mehr, alle standen fest. Im Stillstand kamen den beiden einige noch unerprobte Gedanken, die alle auf ein Lob des Stillstandes zielten.20

20 Ebd., S. 9f.

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Das Motiv des Stillstands wird gleich zu Textbeginn in seiner konkreten Bedeutung, als ein »Anstehen«, ein Warten im »Gedränge« gestaltet: Zwei einander bekannte Figuren, »die geschiedene Frau« und »der ehemalige Lokalreporter« stehen gemeinsam in einer Warteschlange an. Dass es sich um eine Art Schicksalsgemeinschaft handelt, kommt neben dem wiederholten »[wie] immer« in dem feststellenden Rückblick der Frau zum Ausdruck: »Wir haben uns immer irgendwo anstellen müssen.« Das Pronomen »Wir« und das Modalverb »müssen« umrahmen diese gemeinsamen Erfahrungen syntaktisch. Zugleich liegt im Modalverb auch ein Verweis auf den sozialen Stillstand der beiden Figuren, der auch in den charakterisierenden Perfekt-Passiv-Partizipien (die »geschiedene« Frau, der »entlassene« Reporter) zum Ausdruck kommt. Dennoch fehlt es dieser schicksalhaften Bekanntschaft an Intentionalität (»willentlich«), denn sie gründet auf einer Wiederholung zufällig sich ergebender Nähe-Erfahrungen, die das »enge Beieinander im Gedränge« unvermeidlich schafft. Dieses »Beieinander« stützt sich zwar auf Rituale (»knapp hinter ihr, wie immer«), bleibt aber dennoch eine zufällige Verkettung ästhetischer Augenblicke (»ich genieße es«). Erst durch eine »willentlich[e]« Entscheidung für diese Berührungen – mit Kierkegaard gesprochen eine »ethische Wahl« – würde das »Beieinander« zu einem ›Miteinander‹: Diese Entscheidung für einander implizierte jedoch den Verzicht auf die unendlichen, noch »unerprobte[n]« Möglichkeiten der ästhetischen Begegnung, denn würde man den unumkehrbaren Übergang in die wirkliche Begegnung wagen, »wäre alles entschieden zwischen uns«. Der Reporter spricht aus der Haltung des Don Juan, der paradigmatischen Figur des Verführers bei Kierkegaard, wenn er den intensiven Genuss des Augenblicks höher schätzt als die Gewohnheiten, die sich im Laufe der »ethischen«, verbindlichen Liebe entwickeln: »Die Sache nähme ihren gewöhnlichen Verlauf. Sie würden dann das nächste Mal zu Hause bleiben und ich müßte allein für uns beide anstehen.« Durch ihr Festhalten an der ästhetischen Liebe und mithin dem Zufälligen, dem Unverbindlichen werden die Figuren im übertragenen Sinne »daran gehindert, ihren Weg fortzusetzen«, da sie auf die Entwicklung einer Beziehung, einer gemeinsamen Zukunft verzichten. Diese Art des Sich-Begegnens in ästhetischer Möglichkeit wird von beiden Figuren als ›unbedrohlich‹ empfunden, denn die Unverbindlichkeit schützt sie in diesem Moment sowohl vor der Gefahr einer zu großen, verletzenden Nähe (›anrempeln‹, ›auf die Füße treten‹) als auch vor einer emotionalen oder finanziellen Abhängigkeit (»Bedürftigen«) sowie vor gegenseitigen Besitzansprüchen (»Habgierigen«). Im Stillstand finden die Figuren am Ende zwar momentane Stabilität (»alle standen fest«), aber sie verlieren auch an Bewegungsfreiheit (»nichts bewegte sich mehr«). So wie das einzige »Wir« des Textes sich als vergangenheitsgewandt (»rückwärtssprechend«), statisch und in sich abgeschlossen erweist, weil es die Folge einer Verkettung von Zufälligkeiten, nicht aber einer gemeinsam gelebten Geschichte ist, bleiben auch die Figuren in sich verkapselt (»still«), wahllos (»un-

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unterschieden«) und unpersönlich. Narrativ inszeniert wird die Unschärfe der Figuren durch den Verzicht auf Namen, auf konkrete Zeit- und Ortsangaben, durch eine statische Handlung und einen deskriptiven Stil. Die Figuren unterscheiden sich durch äußerliche bzw. typenhafte Merkmale (»geschiedene Frau mit dem weißblonden struppigen Kurzhaar«, »der ehemalige Lokalreporter mit seiner alten Sporttasche voller Habseligkeiten«) anstatt durch individuelle Eigenschaften, die eine persönliche, innere Entwicklung zeigen könnten. Trotz nullfokalisierter und daher allwissender Erzählperspektive erfährt die Leserschaft kaum etwas über die Gedanken und Gefühle der Personen. Allerdings entsteht durch die dreiteilige Textstruktur der Eindruck einer ›Zoombewegung‹: Beginnend mit einer Erzählerreflexion über »das menschliche Gedränge« nähert sich der narrative Blick den beiden Figuren, die sich dann in direkter Rede über die Art ihrer Begegnung austauschen. Im dritten Teil entfernt sich der Fokus von »den beiden« und verlagert sich wieder auf die sie umschließende »Menge«. Dabei werden die Figurenbezeichnungen durch Personalpronomen ersetzt, wodurch sie auch erzähltechnisch in der »Menge« aufgehen, im »Gedränge« verschwinden. Das zur Reflexion anregende Paradox dieser allegorischen Fabel hat existenzphilosophische Wurzeln und liegt in der notwendigen Dynamik von Stillstand und Entwicklung: Das Verharren der Figuren im ästhetischen Augenblickserleben (»Lob des Stillstands«) bedeutet ein rein quantitatives Ansammeln von Erfahrungen, aber keine qualitative Entwicklung hin zu einer gemeinsamen Geschichte. Umgekehrt entsteht eine Entwicklung von Lebensgeschichte nur durch willentliche Entscheidungen, bei der jeweils eine der denkbaren Möglichkeiten realisiert wird. Das Vermeiden der ›Wahl‹ führt in dieser Fabel zu einer Entpersönlichung der Figuren, die letztlich von der »ineinandergeschlungen[en]« Menge absorbiert werden. Die angeführten, sehr unterschiedlichen Fabelbeispiele lassen zahlreiche Facetten des Stillstandes anschaulich werden, sowohl mit Bezug auf die skizzierten interpersonellen Beziehungen als auch mit Blick auf die intrapersonelle Dimension. Fruchtbarer Ausgangspunkt der Interpretationen sind daher die Figurenkonstellationen. Durch das darin zu Tage tretende Beziehungsgeflecht konturiert sich der Stillstand in den gewählten Miniaturen als Haltung der Verweigerung, der Verzweiflung und der Unverbindlichkeit. Während das erste Beispiel sich ausschließlich auf die erzählerische Darstellung des befremdenden Augenblicks konzentriert, der dabei quasi die Qualität eines Traumas gewinnt, zeichnen sich die beiden anderen Beispiele durch eine dreiteilige Struktur aus: Sie bilden narrativ auch das Vorher und Nachher ab, das die Augenblickserfahrung umschließt. Zu den wiederkehrenden Erzählstrategien, die den Stillstand narrativ darstellen, zählen die elliptische Satzkonstruktion, die Tendenz zur Wiederholung und Reihung bedeutungsähnlicher Formulierungen, die Vermeidung konkreter Zeit- und Ortsangaben sowie der überwiegend beschreibende, wenig dynamische Erzählstil. Der Verzicht auf Eigennamen geht mit einer unpersönlichen, typisierenden Fi-

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gurenzeichnung einher, so dass häufig die hervorstechenden Eigenschaften einer Figur in ihrem ›sprechenden‹ Namen anschaulich werden. Auch die Figurenkonstellationen bleiben statisch, d. h. in ihrer Beschreibung relativ abstrakt, unpersönlich und ohne die Tiefe einer gemeinsamen Geschichte. Die kurzen Prosatexte erhalten dadurch einen ausgeprägten allegorischen Charakter. Dadurch wirken sie oft wie Medaillons, deren Bedeutung in ihrem Inneren eingeschlossen ist und deren Sinn nicht durch ein eindimensionales, rein lineares Lesen erschlossen werden kann. Gemeinsam ist den drei beispielhaften Kurztexten die narrative Inszenierung des Stillstands als einer einseitig rückwärtsgewandten bzw. selbstzentrierten Haltung, die keine neuen Perspektiven generieren und keine Entwicklungsmöglichkeiten realisieren kann. Zur Dynamisierung von Erfahrung hingegen ist der ›Übergang‹ eine notwendige Bedingung.

III

Der Augenblick als Übergang

Der Augenblick wird in den Fabeln nicht nur als ein zeitenthobenes Verharren oder Verweilen gestaltet, sondern auch in seiner gegensätzlichen Funktion als ein Moment des Übergangs gezeigt, der eine Veränderung auslöst und damit Ausgangspunkt einer Entwicklung sein kann. Auch die narrativ inszenierte Dynamisierung lässt sich anhand interpersoneller Wahrnehmungssituationen besonders anschaulich verfolgen. Zwei ausgewählte Fabelbeispiele zeigen, wie Entfremdungserfahrung und Erkenntnisprozess ineinandergreifen. In der bereits eingangs zitierten Fabel der ›vollendeten Befremdung‹ löst eine gewohnte Geste zwischen langjährigen Ehepartern eine blitzartige und schmerzhafte Erkenntnis aus: Nach so vielen Jahren der Gemeinsamkeit trifft ihn aus heiterem Himmel – ein Wangenkuß am Morgen – der Pfeil vollendeter Befremdung: dies ist nicht meine Frau! Er sah, daß die gemeinsame Lebenszeit eine Sache ist, der andere aber eine andere. Über die nichts hinwegtäuscht und die von Dauer, Halt und Bindung ganz unberührt bleibt, ja die am Ende elementarer ist als die Zeit. Nach fünfzehn Jahren unverbrüchlicher Gemeinsamkeit ein Augenblick, ein Schleierriß: dies ist nicht mein Mann. Der Pfeil vollendeter Befremdung. Du warst mir der nächste Mensch, du warst der sprichwörtlich andere. Aber du bist ein Mann. Es gibt genügend Beweise, daß ein Mann über jede Grenze zieht und auch die, der andere zu sein, überschreitet. Unsere lange Wanderung war eine andauernde Unterwanderung meiner Person. Und sogar der Gewißheit, die einst vor dir Geliebte zu sein. Nun nicht mehr.21

21 Ebd., S. 63.

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Diese absolute Entfremdung im Augenblick der Erkenntnis (»Er sah«, »Schleierriß«) wird als eine existenzielle Erfahrung erlebt: Jeder der beiden Figuren erfährt sich »aus heiterem Himmel« als Individuum. Ausgelöst von einem doch eigentlich für vertraute Nähe stehenden Wangenkuss zerstört die Augenblickserfahrung unerwartet, plötzlich, schmerzlich und absolut (»Pfeil vollendeter Befremdung«) die in »fünfzehn Jahren unverbrüchlicher Gemeinsamkeit« entstandene Illusion vom »Wir«. Dahinter werden das Ich und das Du sichtbar, zwei nebeneinander existierende Subjekte, die sich lediglich eine »gemeinsame Lebenszeit« teilen. Der Augenblick macht beide sehend (»Er sah«, »Schleierriß«), so dass sie einander als den jeweils »andere[n]« erkennen. Beide Figuren erleben den Augenblick der alles verändernden Erfahrung individuell (»dies ist nicht meine Frau!«, »dies ist nicht mein Mann.«) und doch gleichzeitig. Narrativ inszeniert wird die Gleichzeitigkeit über die bereits visuell hervortretende dreiteilige Textstruktur: Der erste Abschnitt zeigt die befremdende Augenblickserfahrung aus Sicht des Mannes, der zweite aus Sicht der Frau. Der dritte Abschnitt umfasst nur drei Worte: eine knappe elliptische und polysemische Äußerung, die sowohl beiden Figuren als auch dem Erzähler zugeordnet werden könnte. Gleichzeitiges Erleben suggeriert nicht nur die Tatsache, dass es sich jeweils um denselben Auslöser der Entfremdungserfahrung (»Wangenkuss«) handelt, sondern auch die leicht variierte Wiederholung in der Wortwahl der jeweiligen Anfangspassage der ersten beiden Textabschnitte. Dass es sich um individuelle Erkenntnisvorgänge handelt, wird durch die unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkte deutlich: »Er« sieht in der existenziellen Einsamkeit eine elementare menschliche Grunderfahrung, die auch durch gemeinsam gestaltete »Lebenszeit« nicht suspendiert werden kann, weshalb der »andere« also in jedem Fall und unerreichbar »der andere« bleiben muss. »Sie« hingegen erkennt, dass die eben noch »unverbrüchliche Gemeinsamkeit« sie ihres Andersseins beraubte, da ihr »über jede Grenze« ziehender »Mann« sie in ihrer Persönlichkeit unterwanderte. Sie wird dadurch im Kontinuitätsempfinden mit sich selbst erschüttert und ist sich nicht mehr sicher, »die einst von dir Geliebte zu sein«. Ihre Aussage: »dies ist nicht mein Mann« bedeutet demnach auch umgekehrt, dass der »ihr nächste Mensch« im Laufe ihrer »Wanderung« sich derart verändert hat, dass sie ihn in ihrem gegenwärtigen Gegenüber nicht wiedererkennt. Die performative Schlusswendung zeigt pointiert, dass die Erkenntnis zu einer unumkehrbaren Veränderung der gegenseitigen Wahrnehmung und Beziehung führt: »Nun nicht mehr.« Der befremdende Augenblick erweist sich als Übergang: Er setzt eine neue Wirklichkeit, in der die Eheleute die Sicherheit der eben noch »unverbrüchliche[n] Gemeinsamkeit« verlieren und zugleich das Bewusstsein von der Einsamkeit des existierenden Subjekts erfahren. Der Verlust des illusorischen Wir führt also zu einem wiedergefundenen Ich und Du – und gerade darin könnte die Chance für eine erneute Begegnung, eine

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erneute Entscheidung für den anderen liegen. Das polysemische »Nun nicht mehr« kann in diesem Sinne die Ablehnung des Partners bzw. die Emanzipation von ihm bedeuten oder vermag umgekehrt der erste Impuls zu sein, um eine Entwicklung anzustoßen, die zu einer, um mit Kierkegaard zu sprechen, »wirklichen Lebensgeschichte« führen könnte. In der Fabel von ›les fesses‹ hingegen dient der befremdende Augenblick dazu, durch die Wiederentdeckung der Möglichkeitsdimension neue Perspektiven auf den anderen und auf sich selbst zu entwickeln. Besonders eindrücklich ist hier die komplexe Inszenierung des Blicks als Metapher der Erkenntnis: Ich sah den Mann sie sehen. Seitwärts saß er am Küchentisch, einen Ellbogen aufgestützt, kaum zwei Meter entfernt reckte sich die junge Frau, die für ihn eine liebenswürdige, doch keine geliebte mehr war, zu einem oberen Regalbrett, um eine Dose mit Wechselgeld herunterzuholen. Ich sah ihn sehen les fesses, die unter ihrem Kittel sich hoben – les fesses waren nicht die »Hinterbacken«, die er kannte, oft umfaßt oder liebkost hatte. Die vom Kittel auffällig verhüllten les fesses schienen ihm jetzt wie »fremdes Eigentum«, das nie im Besitz seiner Hände war, und sie versetzten ihn augenblicklich in eine Vergeßlichkeit, aus der wieder ein Ahnen von les fesses hervorging sowie ihre mystische Erneuerung. So entstand aus der Liebenswürdigen wieder eine Geliebte genau an der Stelle, wo ich ihn sie sehen sah.22

Es handelt sich hier um ein mehrschichtiges Sehen und Gesehenwerden: Das erzählende Ich beobachtet einen seitlich »am Küchentisch« sitzenden »Mann«, der wiederum eine ihm den Rücken zukehrende »junge Frau« betrachtet. Mit einem Wechsel von der externen zur internen Fokalisierung verlagert sich nun der perspektivische Blick in die erlebende Figur, den »Mann« hinein. Während sie sich von ihm abwendet, wird auch die zu diesem Zeitpunkt bestehende Figurenkonstellation auf das Wesentliche gebracht: Sie ist für ihn lediglich »eine liebenswürdige, doch keine geliebte [ junge Frau] mehr«. Unklar bleibt, ob es sich um eine ehemalige Geliebte oder eine nicht mehr begehrte Ehefrau bzw. Partnerin handelt. Während er ihre Bewegung verfolgt, fällt sein Blick auf ihre »auffällig« verhüllten »Hinterbacken«, die hier auch erzähltechnisch durch den Wechsel ins Französische (»les fesses«) verhüllt bzw. verfremdet werden. Diese ihm doch vertraute Körperpartie entzieht sich also seinem Blick und lässt gerade dadurch wieder eine »Ahnung«, ein ›Neu-Begreifen-Wollen‹ bei ihrem Betrachter entstehen. In eben diesem Augenblick der Entfremdung, der das allzu Vertraute gleichsam in »fremdes Eigentum« verwandelt, wird die Wirklichkeit wieder zur Möglichkeit: Das mehrfache Insistieren auf »les fesses« legt nahe, dass es sich um eine erotische Phantasie handelt. Die Ergriffenheit im sinnlichen Erleben der Figur und die erotische Anziehungskraft, die dieser Augenblick freisetzt, wird auch durch die ausschweifende, hypotaktische Satzkonstruktion 22 Ebd., S. 25.

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abgebildet, welche die zeitliche Ausdehnung auf der narrativen Ebene spürbar macht. Die Macht der Phantasie versetzt die betrachtende Figur in eine zeit- und selbstvergessene Hingabe (»mystische Erneuerung«) und so in die Lage, die Wirklichkeit der Beziehung »vergessen« bzw. sich neu vorstellen zu können: Die »Liebenswürdige«, also nicht mehr Begehrte, verwandelt sich im befremdenden Augenblick wieder zur »Geliebten«. Allerdings fragt sich hier, für wen. Für den betrachtenden Mann? Oder für den Erzähler? Einen Hinweis darauf gibt das erzählende Ich, denn es steht »genau an der Stelle«, an der der Erkenntnisprozess stattfindet: Es liegt also nahe, dass es sich um eine metaphorische Aufspaltung des Erkennenden in zwei Instanzen handelt, die ein Oszillieren zwischen der Perspektive des erlebenden »Er« und des erzählend-reflektierenden »Ich« zur Folge hat. Folgt man dieser Deutung, lässt sich diese Fabel als eine Begegnung mit sich selbst verstehen, deren erzählendes Subjekt im Wechsel von Erleben und Reflexion zur Erkenntniserfahrung gelangt. Das narrative Chargieren zwischen den Fokalisierungsinstanzen fördert leserseitig das Entstehen sowohl von Erlebnisillusion als auch von Erzählillusion. Dies führt dazu, dass Ungleichzeitiges, also das unmittelbare Wahrnehmen, die erotische Vorstellung und das reflektierende Verstehen, gleichzeitig vorstellbar werden. Auf diese Weise erweitert sich die Konstellation des Blicks potentiell auch auf die außerliterarische Instanz der Leserschaft: Im Text angelegt sind verschiedene leserseitige Anknüpfungsmöglichkeiten, die von der rein voyeuristischen Imagination bis zum Vordringen in die tieferen Dimensionen des Erkenntnisprozesses reichen. An den gewählten Textbeispielen zeigt sich der dynamische Aspekt befremdender Augenblicke, denn sie ermöglichen es, auf Distanz zu sich selbst zu gehen und dabei ganz neue Perspektiven auf sich zu gewinnen. Der Moment der Selbsterkenntnis avanciert wiederum zum Ausgangpunkt für die Selbstwahl, d. h. die freie Entscheidung für eine der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten: Jede getroffene Wahl hat folglich gestaltenden Charakter und prägt die eigene Persönlichkeit insofern, als sie das individuelle Kontinuitätsempfinden beeinflusst. Ohne bewusste Entscheidungen kann daher auch keine persönliche Entwicklung stattfinden. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Wahl des anderen: Eine sich in der Zeit entwickelnde Beziehung entsteht erst durch die immer wieder neu erfolgende freie Entscheidung füreinander. In den Textbeispielen übernimmt die befremdende Augenblickserfahrung eine Scharnierfunktion, indem sie den Übergang konstituiert zwischen der Dimension der Möglichkeit bzw. der Vorstellung und der Wirklichkeit bzw. dem Existieren. In der Fabel der ›vollendeten Befremdung‹ führt der Augenblick der Erkenntnis zu einer bewussten Entscheidung gegen eine Fortsetzung des Bisherigen (»Nun nicht mehr«). Welche Möglichkeiten einer weiteren Entwicklung sich durch diese Entscheidung eröffnen könnten, bleibt jedoch der Vorstellungskraft der Leserschaft überlassen. In der Fabel von ›les fesses‹ hingegen wird mit Bezug auf die Fremdwahrneh-

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mung ein Übergang von der ethischen Dimension (die Liebenswürdige) zur ästhetischen Dimension (die Geliebte) vollzogen: Die vertrauten »Hinterbacken« der Wirklichkeit gewinnen durch ihre Verhüllung die phantasieanregende Fülle all ihrer vergessenen Möglichkeiten (»les fesses«) zurück. Die Selbstvergessenheit (»Vergesslichkeit«) generiert das Begehren, aus dem heraus wieder eine erneute Selbstwahl bzw. eine bewusste – freie und befreiende – Entscheidung für den anderen möglich ist. In seiner dynamisierenden Funktion des Übergangs erweist sich der befremdende Augenblick damit als Voraussetzung und als Antrieb für eine Begegnung.

IV

Spurensuche

Nicht nur die sehr unterschiedliche thematische und formale Gestaltung der Fabeln, die als »kleine isolierte Merkwürdigkeiten«23 scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht sind, sondern auch ihr eigenwilliger, gehobener Stil und das Oszillieren zwischen Erlebnis- und Erzählillusion erweisen sich für die Leserschaft als Herausforderung. Umso hilfreicher sind diejenigen Fabeln, deren poetologischer Gehalt Deutungsangebote bereitstellt, um leserseitige Verstehenszugänge zu den einzelnen Kurztexten sowie zum Gesamtzusammenhang der Fabeln von der Begegnung zu erschließen. Als Textbeispiel mit dichtem poetologischem Gehalt erweist sich die Fabel der ›Fundstücke‹: Ihre Hängetasche gebeult und gebaucht. Dies und das, sie liest es auf vom Boden, steckt’s in die Tasche, Sammlerin, Jean-Pauline … Man hat Fundstücke, die man um und um dreht, ohne sie recht zuordnen zu können; so wie der fränkische Dichter auf seinen Gängen immerzu etwas vom Boden hob, nach Hause mitnahm, aufbewahrte. Irgendwann würde die kleine isolierte Merkwürdigkeit in der funkelnden Kette eines Zusammenhangs verschwinden.24

Dieser Abschnitt entwirft in Anspielung auf den Dichter Jean Paul eine Allegorie des Dichtens als ein Sammeln, ein Auflesen und Aufbewahren verschiedenster »Fundstücke«. Dazu können mehr oder weniger zufällige Beobachtungen oder Erfahrungen, aber auch einzelne Ideen, Motive, Zitate usw. zählen, deren »Merkwürdigkeit« sich dem Dichter einprägt, wenngleich sie zu jenem Zeitpunkt noch nicht als passendes oder fehlendes Element eines umfassenderen Kontextes erkennbar sind. Mit der Einbettung dieser »Fundstücke« in narrative Strukturen vollzieht sich der bedeutungsstrukturierende Akt der Fabelbildung – Ricœur spricht in Zeit und Erzählung von der »Synthesis des Heterogenen«.25 Fabelbil23 Ebd., S. 12. 24 Ebd., S. 12. 25 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung (Anm. 6), Bd. 1, S. 106.

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dung bedeutet neben Kohärenz- und Sinnstiftung auch einen schöpferischen Akt, aus dem die »funkelnde Kette eines Zusammenhangs«, ein Kunstwerk, entstehen kann. Das Dichterische zeigt sich also in der kreativen, bedeutungsgenerierenden Kombination dieser »isolierte[n] Merkwürdigkeiten«, die erst in ihrer Beziehung zu anderen Elementen Sinn freisetzen. Umgekehrt lässt sich die Fabel auch als eine Allegorie der Auslegung dichterischer Texte lesen: Die verschiedenen Bedeutungsdimensionen und -zusammenhänge erschließen sich den Rezipient(inn)en durch ein Sammeln und sukzessives »[Z]uordnen« einzelner Textelemente zu anderen, wodurch diese in hermeneutischen Verstehensprozessen die engeren und weiteren Sinnzusammenhänge eines Werks, sein Bedeutungsgeflecht, entdecken können. Die Verniedlichung der »Sammlerin« in »Jean-Pauline« kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem scheinbar wahllosen, ziellosen ›Auflesen‹ um eine fundamentale Kompetenz handelt: Das prozesshafte, mehrdimensional ausgerichtete hermeneutische Verstehen ist die Voraussetzung dafür, dass sich die im Werk angelegten Wirkungspotentiale leserseitig überhaupt entfalten können. Je weniger die Leser(innen) sich bei der Lektüre auf routiniertes Interpretationsverhalten stützen können, desto stärker werden sie in ihrer Sinnerschließungskompetenz herausgefordert. Botho Strauß’ Die Fabeln von der Begegnung erweist sich, in Kontinuität mit den zuvor publizierten Prosawerken, als ein hochgradig ›autorenbezogener‹26 Text, der einer erkenntnisorientierten Poetik verpflichtet ist: »Suche, was du findest. (Erschließe aus Gefundenem dein Suchen, das dir verborgen blieb.)«27 Diese Aufforderung an die Leserschaft, tiefer in die Texte einzutauchen und sich dabei auch selbstreflexiv mit dem »Suchen«, d. h. mit den eigenen Sinnstiftungsstrategien und gewohnten Verstehensmustern zu befassen, korreliert mit einem dialektischen Erzählmodus, der sowohl das Dargestellte als auch die Art der narrativen Darstellung umfasst und Erkenntnis auslösende Impulse setzt. Ähnlich wie Kierkegaard28 bedient sich auch Strauß häufig der »Form eines 26 Roland Barthes (S/Z: Essai, Paris: Éditions du Seuil 1970) unterscheidet diesbezüglich ›leserbezogene‹ (readerly text) und ›autorenbezogene‹ (writerly text) Texte, wobei letztere sich einem einfachen Verstehenszugang verweigern und so die Aufmerksamkeit vermehrt auf die künstlerische Gestaltung lenken. 27 Botho Strauß, Die Fabeln von der Begegnung (Anm.1), S. 13. 28 Als ›subjektiver Denker‹ bewegt sich Kierkegaard häufig im Grenzbereich zur Dichtung, die er als erkenntnisorientiertes Medium schätzt. Zur indirekten Vermittlung von Verfasser(in) zu Leser(in) bedient er sich, wie in der Unwissenschaftlichen Nachschrift erläutert, einer doppelt reflektierten Form der Mitteilung: Das Ziel dieser doppelten Dialektik des Mitgeteilten wie der Mitteilung ist es, Erkenntnisprozesse auszulösen, statt dozierend Wissen weiterzugeben. Vgl. Sören Kierkegaard, Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift (Anm.11), S. 414, sowie Anita Gröger, Erzählte Zweifel an der Erinnerung: Eine Erzählfigur im deutschsprachigen Roman der Nachkriegszeit (1954–1976), Würzburg: Ergon 2016, S. 65f.

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verwirrenden Gegensatzes«,29 um poetische Inhalte indirekt zu vermitteln. Er konfrontiert seine kritische Leserschaft mit dem Paradoxalen, dem Unerwarteten – beispielweise die im Stillstand sich vollziehende Selbstauflösung des Individuums – und fordert sie heraus, sich mit diesem ›Merkwürdigen‹ zu befassen, es abzuwägen, weiterzudenken und nicht zuletzt die darin liegende gesellschaftskritische Brisanz zu reflektieren. Eine Art intellektueller Stolperstein liegt in der Gegenüberstellung von Gegensätzlichem, ohne dass die dabei entstehenden Mehrdeutigkeiten bzw. Widersprüche letztlich aufgelöst würden oder doch zumindest eine abschließende Stellungnahme moralische Orientierung gäbe. Die Deutungsoffenheit, die durch diese Verrätselung entsteht, wirkt provozierend, denn sie widersetzt sich dem leserseitigen Streben nach Kohärenz und Eindeutigkeit: Ein Ende, das Fragen aufwirft statt Lösungen zu präsentieren, erfordert nicht nur gedankliche Flexibilität und Ambiguitätstoleranz, sondern führt auch vor, wie ›Merkwürdiges‹ überhaupt erst entsteht. Zugleich zeigt die Deutungsoffenheit, dass der Akt des Interpretierens ein subjektiver und prozesshafter Vorgang der Bedeutungskonstruktion ist. Die Kunst der indirekten Vermittlung besteht jedoch nicht nur darin, Stolpersteine zu legen, sondern auch umgekehrt darin, Anknüpfungspunkte für leserseitige Sinnstiftungsprozesse zu schaffen. Zu den narrativen Strategien, die in Die Fabeln von der Begegnung häufig diese Funktion übernehmen, zählt beispielsweise das fabelübergreifende Auslegen assoziativer Netze, anhand derer nicht nur zentrale Motive wie »Augenblick«, »Stillstand«, »Entfremdung« usw. in zahlreichen Bedeutungsfacetten erfassbar und aufeinander beziehbar werden, sondern sich auch der rote Faden zwischen den einzelnen, scheinbar isolierten Prosaminiaturen bei fortschreitender Lektüre weiter verdichtet. Auch im Wiedererkennungseffekt spezifischer narrativer Strategien wie der dreiteiligen Textstruktur oder der syntaktischen Ausdehnung der Erzählzeit liegt Potential zur assoziativen Sinn- und Kohärenzstiftung. Eine weitere Erzählstrategie, die dem leserseitigen Sinnstiftungsprozess entgegenkommt, ist das fabelinterne Oszillieren zwischen eigentlicher und figurativer Wortbedeutung (z. B. stilles Stehen, Stillstehen, existenzieller Stillstand usw.). Durch den stetigen Wechsel nähern sich die Bedeutungsebenen einander wieder an, greifen ineinander, wodurch Gemeinsamkeiten und Differenzen in der Bedeutung bewusster wahrgenommen werden. Darüber hinaus vermag dieses Oszillieren dazu zu führen, dass die primäre leserseitige Erlebnisillusion durch die Entstehung von Erzählillusion phasenweise überlagert wird, was die Aufmerksamkeit von der erzählten Geschichte auf ihren narrativen Konstruktcharakter und ihre spezifische künstlerische Gestaltung hinlenkt. Als erkenntnisorientiertes Deutungsangebot 29 Sören Kierkegaard, Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift (Anm.11), S. 414.

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erweist sich auch die Wahl bestimmter Textmerkmale, wie zum Beispiel diejenige der Traumerzählung. In der Fabel vom ›gläsernen Labyrinth‹ zählen zu diesen Merkmalen u. a. die assoziativen Sprünge sowie die verwendeten Traumsymbole (»Labyrinth«,30 »Leichnam«,31 »Luftkissen«32 usw.) und Metaphern (»rote[r] Faden«33). Sie sind derart ausgeprägt, dass es keines expliziten Hinweises bedarf, um beim Leser eine spezifische Rezeptionserwartung und folglich die Aktualisierung entsprechender Interpretationsmuster hervorzurufen. Auf diese Weise können die darin aufgegriffenen Leitmotive wie »Zufall«, »Stillstand«, »Augenblick«, »Entfremdung« usw. aktualisiert und durch weitere Bedeutungsnuancen ergänzt werden. Besonders ausgeprägt sind in Die Fabeln von der Begegnung die intertextuellen Spuren, insbesondere die Bezugnahmen auf Autoren und Texte der Weltliteratur, für die sich zahlreiche explizite, aber auch implizit aktualisierte Beispiele nennen lassen. Schon in der zweiten Fabel fungieren die biblische Erzählung von Joseph und Potiphars Weib (Gen. 39) sowie ein »derb ausgeschmückte[r]) Ovid-Vers«34 über die Metamorphose der Dryope nacheinander als mahnende Parallelgeschichten, mit denen es der Hauptfigur gelingt, die ihn bedrängende »Frau seines Wohltäters«35 abzuweisen. Das intertextuelle Aktualisieren literarischer Stoffe, das durch lange Passagen in direkter Rede regelrecht ›in Szene‹ gesetzt wird, hat zum einen handlungsrelevante Funktion, wobei die antiken Stoffe mit einem moralisierenden Rahmen versehen werden, wie es für die traditionelle Fabel typisch ist. Zum anderen übt die intertextuelle Aktualisierung eine poetologische Funktion aus: Mit ihr verweist der Autor auf die kulturgeschichtlichen bzw. literarhistorischen Wurzeln seines Erzählens und verortet das eigene Schaffen in einer Tradition, die sich im Laufe einer nahezu unendlichen Reihe an Aktualisierungen vorhergehender Texte entwickelt hat. Das Erzählen ist damit immer eine doppelt ausgerichtete Bewegung in der Zeit, d. h. einerseits eine vergangenheitsorientierte kultur- und literaturgeschichtliche Spurensuche und andererseits ein offenes, zukunftsorientiertes Entwerfen neuer Bedeutungsmöglichkeiten.36 Dabei ist jede intertextuelle Aktualisierung als eine »Transposition«, d. h. eine thetische Neusetzung, zu verstehen: Im Akt des Erinnerns verbindet sich, kognitionspsychologisch gesprochen, das Erinnerte mit

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Botho Strauß, Die Fabeln von der Begegnung (Anm.1), S. 116. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117. Ebd., S. 117. Ebd., S. 9. Ebd., S. 2. Diese doppelte Bewegung in der Zeit erfasste und reflektierte Kierkegaard in der Denkfigur der »Wiederholung«. Vgl. Anita Gröger, Erzählte Zweifel an der Erinnerung (Anm. 28), S. 62ff.

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der Erinnerungssituation zu einer neuen Erinnerung.37 Der ›literarischen Erinnerungsakt‹ modifiziert sowohl die individuelle Vorerfahrung bzw. das Vorwissen über die erinnerten Texte, d. h. deren Stoff, Motive, Figuren, Konstellationen, Aporien, stilistische Besonderheiten usw., als auch den Verstehensprozess der gegenwärtigen Lektüre, in den sich neben neuen Deutungszugängen auch die aus der ›literarischen Begegnung‹ erwachsenden Erkenntniserfahrungen mit einschreiben. Als wiederkehrend evozierter Deutungshorizont für Die Fabeln von der Begegnung kann das existenzphilosophische Werk Kierkegaards gelten, das anhand zahlreicher Motive wie »Augenblick«, »Wahl«, »Stillstand«, »Verzweiflung«, »Angst«, »Wiederholung« usw. sowie über zahlreiche Varianten der Verführer-Figur Don Juan kontinuierlich intertextuell erinnert wird. Die darin angelegten Deutungsmuster bleiben jedoch nicht isoliert oder absolut, sondern werden u. a. durch Verweise auf ihre Rezeptionsgeschichte, wie in der auf Camus’ Sisyphos-Auslegung anspielenden Fabel des ›Spechts‹38 oder durch Erzählerreflexionen, beispielsweise über ›Don Juan und den Humor‹,39 teilweise erschlossen, relativiert, verändert oder sogar mit gegensätzlicher Bedeutung aufgeladen. Ein impliziter Anschluss an Kierkegaard lässt sich, wie bereits ausgeführt, aus der erkenntnisorientierten Poetik des Werks ableiten. Diese trägt der Tatsache Rechnung, dass die intertextuelle Spurensuche ihr Potential jeweils im individuellen, konkreten Akt des Lesens entfaltet: Je mehr literarische »Fundstücke« aufgrund des Vorwissens erkannt und sinnstiftend in die »Kette des Zusammenhangs« eingereiht werden, desto umfassender, ergreifender und ›funkelnder‹ vermag sich den Leser(inne)n die ›Begegnung mit der Literatur‹ zu offenbaren.

V

Die Fabeln von der Begegnung: Funktionshypothesen

Strauß entwirft in seiner Sammlung enigmatischer Prosaminiaturen ein Kaleidoskop (potentiell) gelingender und misslingender Begegnungen, die in enger Beziehung zum Augenblickserleben stehen. Aus den mannigfachen, auch äußerst konträren narrativen Darstellungen des befremdenden Augenblicks wird deutlich, dass er sowohl die Momenthaftigkeit der Veränderung als auch die Unendlichkeit des Absoluten in sich vereint: Ersteres wird in seiner erzählerischen Inszenierung als Übergang greifbar, der in einem freien Willensakts be37 Heutige kognitionspsychologische Modelle gehen davon aus, dass Erinnerungsleistungen sich nicht in der Wiedergabe von Engrammen erschöpfen, sondern als konstruktive und kreative Vergegenwärtigungsvorgänge zu betrachten sind und sich dabei aktueller Deutungsschemata bedienen. Vgl. ebd., S. 42f. 38 Vgl. Botho Strauß, Die Fabeln von der Begegnung (Anm.1), S. 141. 39 Ebd., S. 90f.

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steht, eine neue Wirklichkeit herbeiführt und damit potentiell eine Bewegung in der Zeit, eine Entwicklung anstößt. Letzteres zeigt sich in der narrativen Darstellung als Stillstand, der sich durch Willenlosigkeit auszeichnet, wobei Fremdbestimmung und Zufälligkeit als handlungsbestimmende Faktoren hinzutreten. Sie haben einen zeitenthobenen Zustand der Unfreiheit, des Wartens, des Verharrens oder der Auflösung zur Folge. Der befremdende Augenblick vermag in unterschiedlichen Fabeln daher eine völlig gegensätzliche Funktion zu erfüllen. Dies erscheint weniger paradoxal, wenn man den Augenblick metaphorisch als eine ›verschlossene Pforte‹ denkt, die je nach Aktualisierungskontext entweder als Hindernis oder als Aus- oder Zugang fungieren kann. Grundsätzlich sind aber beide Bedeutungen als Möglichkeit darin angelegt. In jedem Fall ist der befremdende Augenblick als ein Moment der plötzlichen und unwillentlichen Ergriffenheit, der Erschütterung, des Ausgeliefertseins zu verstehen. In Die Fabeln von der Begegnung hat er leitmotivische Funktion, weil er in den Erzählungen als notwendige Voraussetzung für eine Begegnung konzipiert ist: Erst in dieser Ergriffenheit eröffnet sich die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Resonanzbeziehung. Für die Leserschaft erfahrbar wird diese Resonanzerfahrung vor allem über die im Hintergrund wirkenden Erzählstrategien, die zum einen die Augenblickserfahrungen inszenieren und zum anderen darauf zielen, leserseitig Erkenntnisprozesse anzuregen, so dass durch das sukzessive Erschließen von Sinnzusammenhängen eine Art literarischer Resonanzraum entsteht. Dort, wo durch das Eintauchen in die Lektüre, durch Sinnerschließung, ästhetische Erfahrung, Selbsterkenntnis usw. eine solche Resonanz erlebt wird, können sich die im Text angelegten Wirkungspotentiale entfalten. Mit seinem hochgradig ›autorenbezogenen‹ Fabeln macht es Strauß seiner Leserschaft jedoch nicht leicht, denn das Werk irritiert nicht nur durch seine fragmentierte, allegorisch-rätselhafte und stilistisch wie intellektuell anspruchsvolle Textgestaltung, sondern führt die Leser(innen) auch immer wieder an und über die Grenzen ihres gewohnten Rezeptionsverhaltens. Unter Berücksichtigung der erkenntnisorientierten Poetik lassen sich aus den einzelnen Fabeln wie auch aus ihrem Zusammenwirken als Werk u. a. poetologische, epistemologische, gesellschafts- und gattungskritische Funktionshypothesen ableiten. Wie die poetologischen Fabeln und die Analyse der Erzählstrategien zeigen, handelt es sich um eine komplexe, bildungsorientierte Dichtung, deren dialektischer Duktus darauf zielt, leserseitige Erkenntnisprozesse ansichtig zu machen und die Sinnerschließungskompetenz zu fördern. Zu diesem Zweck verstoßen die Fabeln kontinuierlich gegen etablierte Rezeptionsmuster und unterlaufen die gängigen Rezeptionserwartungen, wodurch die Leser(innen) immer wieder an die Grenzen gewohnter Deutungsschemata geführt und dazu anregt werden, neue Verstehensmuster (wie z. B. Ambiguitätstoleranz) zu entwickeln. Zu den

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übergeordneten poetologischen Funktionen kann daher die Förderung eines aktiven, mündigen, (selbst)bewussten, (selbst)kritischen und ›freien‹ Leseverhaltens zählen. Die poetologischen Funktionen stehen in engem Zusammenhang mit den epistemologischen: Das stetige Unterlaufen von Rezeptionserwartungen führt dazu, dass die narrative Konstruktivität des Erzähltextes hervortritt und damit auch die Sinnstiftungsvorgänge und -techniken des Erzählens an sich anschaulich werden. Das Erzählen erhält dabei neben seiner ästhetischen auch eine kognitiv-anthropologische und soziale Dimension: Der Akt der Fabelbildung wird gewissermaßen als menschliche Urerfahrung fassbar. Zu den epistemologischen Funktionen gehört auch, die Wechselwirkung von Literatur und Lebenswelt ansichtig zu machen, denn die kulturell verfügbaren bzw. etablierten Narrative, die als literarische Stoffe, Motive, Gattungsschemata usw. rezipiert werden, prägen unseren Modus der Welt- und Selbstdeutung und werden umgekehrt auch wieder in Form von Interpretationsschemata zur Deutung literarischer Werke herangezogen. Von gesellschaftskritischer Relevanz sind die Fabeln dort, wo sie auf erkenntnisorientierte Weise menschliches Verhalten – in individueller wie kollektiver Dimension – vorführen und die Lesenden zur eigenen, kritischen Urteilsfindung und Selbstreflexion anregen. Das gattungskritische Potential des Werkes ist über die Nennung der Gattungsbezeichnung schon im Titel angelegt: Die Fabeln von der Begegnung. Dabei werden leserseitig gattungsspezifische Erwartungshaltungen geweckt, ausgerichtet am traditionellen Verständnis von Fabeln als sprachlich einfachen, kürzeren Erzählungen mit belehrender Absicht, die menschliche Eigenschaften typisiert darstellen. Diese gattungsspezifischen Rezeptionserwartungen werden in Strauß’ Fabeln kontinuierlich unterlaufen, wobei nicht nur das offene Fabelverständnis des Textes konturiert wird – es schließt auch die Bildung von Narrativen bzw. den Erzählakt an sich mit ein –, sondern die Rezipient(inn)en auch auf ihre engen, ›erstarrten‹ Denk- und Deutungsmuster gestoßen werden. Eine weitere gattungskritische Funktion liegt darin, auf die Geschichtlichkeit und Entwicklungsfähigkeit von Gattungen aufmerksam zu machen, kurz: sie als offene, ›freie‹ Systeme darzustellen. Der Augenblick der Erkenntnis ist, so könnte man resümieren, in Strauß’ Fabelsammlung paradoxerweise zugleich als ein Freiwerden von und als ein Freiwerden mit angelegt. Durch die komplexe Verzahnung von Geschichts- und Darstellungsebene und das leserseitige Oszillieren zwischen Erzähl- und Geschehensillusion wird er in seinen unzähligen Facetten beleuchtet und vermag sich dort als erkenntnisorientierte, befreiende Erfahrung zu manifestieren, wo die angelegten Funktionspotentiale bei den Leser(innen) ihre Wirkung zu entfalten beginnen. Befreiend kann die Lektüreerfahrung dort wirken, wo sie die

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Erschließung neuer Deutungsstrategien und -muster fördert und somit Sinnstiftung ermöglicht und wo sie ein ›mündiges‹, d. h. (selbst)reflexives und (selbst)kritisches Leseverhalten begünstigt, das wiederum effektiv auf Selbstund Weltdeutungsmuster ausstrahlt. Und nicht zuletzt ist der Akt des Lesens selbst als eine der Zeit enthebende Resonanzerfahrung erlebbar.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Strauß, Botho: Die Fabeln von der Begegnung. München: dtv 2015. Kierkegaard, Sören: Entweder – Oder. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. von Hermann Diem und Walter Rest. Aus dem Dänischen von Heinrich Fauteck. 9. Aufl. München: dtv 2007. –: Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. von Hermann Diem und Walter Rest. Aus dem Dänischen von B. und S. Diderichsen. München: dtv 2005.

Sekundärliteratur Barthes, Roland: S/Z: Essai. Paris: Éditions du Seuil 1970. Basseler, Michael und Dorothee Birke: »Mimesis des Erinnerns«. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegungen und Anwendungsperspektiven. Hg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning: Berlin/New York: De Gruyter 2005, S. 123–147. Dembski, Tanja: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000. Gröger, Anita: »Der inszenierte Augenblick: Botho Strauß’ Schlußchor als Erinnerungsdrama«. In: AugenBlicke: Multiperspektivischer Zugang zum Werk von Botho Strauß. Hg. von Diana Florea, Simone Gottschlich, ders. [u. a.]. Würzburg: Königshausen & Neumann 2013, S. 89–123. –: Erzählte Zweifel an der Erinnerung: Eine Erzählfigur im deutschsprachigen Roman der Nachkriegszeit (1954–1976). Würzburg: Ergon 2016. Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique. Paris: Éditions du Seuil 1974. Nünning, Ansgar: »Mimesis des Erzählens: Prolegomena zu einer Wirkungsästhetik, Typologie und Funktionsgeschichte des Akts des Erzählens und der Metanarration«. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert: Festschrift für Wilhelm Füger. Hg. von Jörg Helbig. Heidelberg: Winter 2001, S. 13–47. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. 3 Bde. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. 2. Aufl. München: Fink 2007. Rosa, Hartmut: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp 2016.

Ursula Klingenböck

»[Z]eitvergessen«: Figurationen von Frei-Zeit in Axel Ruoffs Apatit

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Zeit und Frei-Zeit

»[N]ur für einen kurzen Augenblick habe sie zeitvergessen auf dem Rasen gelegen«. Mit diesen Worten beschreibt »S«, die Protagonistin in Axel Ruoffs Apatit (2015), eine lange zurückliegende Erfahrung und einen der wenigen glückhaften Momente ihres Lebens.1 Das »[G]efallen«-Sein aus einer als oppressiv erlebten Zeit versetzt sie nicht in eine andere, ihr angemessene Zeit, sondern ins Leere – in ein (befristetes) Frei-Sein von jeglicher Zeit. Die Passage aus dem Kapitel »Zeitdruck« erweist sich nicht nur als Schlüsselstelle des Romans, sondern macht auch ein strukturelles Moment von ›FreiZeit‹ explizit. Indem Frei-Zeit als Gegenentwurf zu denken ist, muss die Aufmerksamkeit zunächst der Zeit gelten, die dieser – gleichsam als Prämisse – zugrunde liegt. Dabei ist es notwendig, auch den Raum in den Blick zu nehmen: aus konzeptionellen Gründen, weil Zeit ohne Raum nicht (mehr) entworfen werden kann, aber auch indiziert durch den Text, für den der Raum – neben bzw. zusammen mit der Zeit – zentrale Bedeutung erhält. Dem Konsens der aktuellen Forschung folgend, wird Zeit nicht mehr als statische ›Container‹-Zeit verstanden, sondern als etwas, das sich über Relationen und Zugehörigkeiten ständig neu konstituiert.2 Zeit wird also nicht nur analog zum Raum modelliert, sondern Zeit und Raum werden als wesentliche Kategorien des Erzählens auch in ein Verhältnis zueinander gesetzt3 und füreinander funktionalisiert; nicht zuletzt 1 Axel Ruoff, Apatit: Roman, Weitra: Bibliothek der Provinz 2015, S. 242. Nachfolgend werden die Seitenzahlen durch Klammern im Fließtext nachgewiesen. 2 Stephan Günzel, »Zeit und sowie im Raum«, in: Zeit in den Wissenschaften, hg. von Wolfgang Kautek, Reinhard Neck und Heinrich Schmidinger, Wien: Böhlau 2016, S. 201–235. 3 Claudia Öhlschläger und Lucia Perrone Capano, »Einleitung«, in: Figurationen des Temporalen: Poetische, philosophische und mediale Reflexionen über Zeit, hg. von dens., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 7–12. Konsequent findet sich diese Korrelation etwa bei Michail M. Bachtin: Chronotopos [Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik], mit einem Nachwort hg. von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, aus dem Russischen von Michael Dewey, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.

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sind Figurationen von Zeit räumlich.4 Der Themenstellung des Bandes entsprechend, fokussieren die Überlegungen zur Raum-Zeit in Axel Ruoffs Apatit auf die Komponente ›Zeit‹ in ihrer spezifischen Form als ›Frei-Zeit‹. Als aktiv gewonnene oder zugefallene Absenz von etwas erhält sie ihre spezifische Qualität und Valenz über das jeweilige ›Objekt‹, von dem sie frei ist, und über die Temporalität, die diesem eignet bzw. zugeschrieben wird. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die These, dass unterschiedliche Figurationen von Frei-Zeit als konstitutiv für eine erst zu bestimmende ästhetische Eigenzeit5 des Romans gelten können. Die Modellierung von Frei-Zeit in Apatit erfolgt zunächst über die traditionellen Topoi des Reisens und des Erinnerns bzw. Vergessens sowie deren Modifikation. Beschrieben und reflektiert wird Frei-Zeit zum einen nach ihren Dimensionen, Parametern und Ordnungen sowie nach ihren Strukturen und Wahrnehmungen, zum anderen über ihre grammatikalischen und narrativen Konstituenten wie Modus, Zeitfolge und ›Tempus‹. Besonderes Augenmerk wird der metaphorischen und metamorphen Qualität von (Frei-)Zeit zukommen.6 Indem Zeit und mit ihr Frei-Zeit in ihren kulturellen, sozialen und politischen Codierungen gelesen wird, ist die Arbeit kulturwissenschaftlich perspektiviert. Textanalytisch stellt sie sich in die Tradition narratologischer Mehr-EbenenModelle, wie sie u. a. von Gérard Genette und Paul Ricœur entwickelt wurden. Wiewohl sie in ihrer theoretischen Grundlegung differieren – Figures7 haben strukturalistische Referenzen, die drei Bände von Temps et récit8 phänomenologisch-heuristische – und die Narration unterschiedlich modellieren, fokussieren sie beide auf die Zeit. Von den Phänomenen der Zeit interessieren v. a. die Zeit, die erzählt wird (in den Terminologien von Genette bzw. Ricœur: »Ge4 Stephan Günzel, »Zeit: Philosophisches Scheinproblem und räumliche Figuration«, in: Figurationen des Temporalen: Poetische, philosophische und mediale Reflexionen über Zeit (Anm. 3), S. 65–76. 5 Vgl. zuletzt Ästhetische Eigenzeiten: Bilanz der ersten Projektphase, hg. von Michael Bies und Michael Gamper, Hannover: Wehrhahn 2019, Michael Gamper und Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten?, Hannover: Wehrhahn 2014 sowie die Homepage des DFG-Schwerpunktprogramms »Ästhetische Eigenzeiten: Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne«: https://www.aesthetische-eigenzeiten.de. 6 Die prinzipielle »Unerforschlichkeit der Zeit«, wie sie bereits Ricœur festgestellt hat (vgl. auch die Darstellung bei Inga Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur, Heidelberg: Springer 2010, S. 447f.), und die terminologische Unsicherheit unterschiedlicher Disziplinen und theoretischer Zugänge musste hier pragmatisch gelöst werden. 7 Abgedruckt in: Gérard Genette, Die Erzählung, aus dem Französischen von Andreas Knop, München: Fink 1998. 8 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, 3 Bde., aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München: Fink 1988–1991. Für eine schematisch-vergleichende Darstellung von Genettes und Ricœurs Erzähl-Modell vgl. Thomas Herold, Zeit erzählen: Zeitroman und Zeit im deutschen Roman des 20. Jahrhunderts, Freiburg i.B.: Rombach 2016, S. 76.

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schichte« bzw. »[Zeit]Welt des Textes«), und die Praktik des Erzählens von ihr (»Erzählung« bzw. »Aussage«), wie sie am (hier: literarischen) Text sichtbar wird. Ein situativ wie performativ bestimmtes erzählerisches Tun (»Narration« bzw. »Aussageakt«) in seinem Vollzug wie auch in seinen (extratextuellen) Wirkungen bleibt dagegen aus methodischen Gründen weitgehend ausgespart; über beides kann unverbindlich nachgedacht werden. Für die Verschränkung der zur Sprache gebrachten Zeit mit den Verfahrensweisen ihres Zur-Sprache-Bringens bietet sich – ergänzend und z. T. quer zu den bereits genannten Ebenen der Zeit – Ricœurs Theorem von der »dreifachen Mimesis« an.9 Die folgende Analyse von Apatit fokussiert auf die im narrativen Text (re)präsentierte Zeit (in der Begrifflichkeit Ricoeurs als »Konfiguration« oder »Mimesis II« bezeichnet) sowie auf deren extratextuellen Bezugspunkt, auf den sie im Sinne einer normgebenden Vergleichsgröße (hier: einer »objektiven Zeit«10) referiert und zu dem sie sich auf die eine oder andere Art verhält (als »Präfiguration« oder »Mimesis I«). Der deutsche Filmemacher und Autor Axel Ruoff ist im gegenwärtigen Literaturbetrieb mit Online-Essays und -Erzählungen, v. a. aber mit zwei Buchpublikationen vertreten: dem hier interessierenden Roman Apatit und Schlangen schauen: Anthologie der Arabesken (2016)11 – einer Collage, in der die Sequenz von insgesamt 420 Texten bzw. Textstücken (ähnlich hypertextuellen Formaten) durch thematische Isotopieebenen unterlaufen und über Verweissysteme für verschiedene Lektürepfade erschlossen wird. Beide sind im österreichischen Verlag »Bibliothek der Provinz« erschienen. Apatit wurde 2016 für den Rauriser Literaturpreis, der die beste deutschsprachige Prosa-Erstveröffentlichung des vorangegangenen Jahres auszeichnet, nominiert; 2018 erhielt der Roman den (Literatur-)Preis der »A und A Kulturstiftung«. Die Literaturkritik hat Apatit, wie im Übrigen auch Schlangen schauen, durchweg positiv rezipiert.12 Ihre Beiträge 9 Präfiguration, Konfiguration, Refiguration; vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung (Anm. 8), Bd. 1 (Zeit und historische Erzählung). 10 Inga Römer, Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur (Anm. 6), S. 254–275. 11 Axel Ruoff, Schlangen schauen: Anthologie der Arabesken, Weitra: Bibliothek der Provinz 2016. Die Figuren der Schlangenlinie und der Arabeske sind auch wesentliche Gestaltungsmomente in Apatit; vgl. die Kapitel »Arabeske (1)« und insbesondere »Arabeske (2)«. Die Arabeske erscheint im Roman als die Verlaufsform von Flucht und Kampf, als Kontur von ziviler und militärischer Verbauung sowie als Laufrichtung von Verkehrs- und Grenzlinien (Apatit, S. 153 und S. 322f.). Als »über- und ineinandergezeichnete Linien geschichtlicher Bewegungen« (ebd., S. 324) ist sie für R nicht lesbar: »[D]ie wirren Linien kreisten durcheinander, kreuzten sich, liefen ineinander, verliefen sich, fransten aus, verzweigten sich in Sackgassen, liefen in Schlangenlinien gegen unüberschreitbare Geraden an […], kreisten um Punkte […], oszillierten in tödlicher Unruhe« (ebd., S. 324). 12 Vgl. z. B. Anke Bennholdt-Thomsen, »Dieser Roman ist ein sprachliches Ereignis«, in: Park: Zeitschrift für Neue Literatur 68 (2015), S. 107f.; Uwe Schütte, »Feinstaub: Axel Ruoffs fesselnder Roman Apatit«, in: Wiener Zeitung, Wochenendbeilage »extra«, 2./3. Jänner 2016, S. 42; v. a. aber ders., »Versteinerungen: Axel Ruoffs mineralogischer Roman Apatit«, in:

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fokussieren auf die Sprache in ihrer ästhetischen Qualität, auf die oppositionelle Grundkonstellation der erzählten Welt sowie auf die Konstitution von Raum und Zeit und deren atmosphärische Qualität. Obwohl sie ganz unterschiedlich beschrieben wird – als sich auflösende Koordinate des erzählten Geschehens oder als Größe, die sich komprimiert und infolgedessen arretiert –, wird der Kategorie der Zeit übereinstimmend Gewicht für den Roman attestiert. Im Interesse literaturwissenschaftlicher Forschung hat Apatit bislang noch nicht gestanden.

II

(Zeit-)Reisen und Vergessen

Die Erzählung beginnt mit einer Ankunft an einem namentlich nicht genannten Ort, der durch die Topologie der wenigen und bis auf das Hotel mit gubernativer (Präfektur), judikativer (Justizpalast) und exekutiver (Polizeipalast, Gefängnis) Macht ausgestatteten Gebäude kartiert wird. Sie endet mit einer Ausfahrt alles dessen, was S13 vor ihrer Metamorphose zum Gesteinsbrocken erlebt hat, aus ihrem ›Körper‹: auf (s)eine physikalische Größe reduziert, affiziert er die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise. Was dazwischen (im Sinn von ›Handlung‹ in einem engeren Sinn) geschieht, ist nicht so einfach zu beantworten – eher schon, was dazwischen liegt:14 Wahrnehmungen, Suchbewegungen, Erkundungen eines Staates, der Merkmale unterschiedlicher diktatorischer Regierungsformen (König, Militär) trägt, einer Gesellschaft, die aus wenigen profilierten und/oder handelnden Figuren und latent wirksamen, diffusen Kollektiven besteht, einer steinwüstenähnlichen Landschaft, die Spuren von menschlicher Gestaltung trägt, und schlussendlich einer ›Natur‹, die dem allen gegenzuarbeiten scheint: Staub, Wind, Trockenheit und die hohe Temperatur gehen »eine bösartige Allianz gegen alles Menschliche« (S. 273) ein und drohen es zum Verschwinden zu bringen. Ruoff operiert mit dem Topos des Reisens, modifiziert die Reiseerzählung aber in wesentlichen Momenten: Die Erzählung folgt nicht dem Schema von Aufbruch und Wiederkehr, Ereignisse und Erlebnisse treten zugunsten von Beobachtungen und Erfahrungen, der Bericht um der Beschreibung willen zurück. Die eigentliche Reisebewegung und -route wird im Rückblick erzählt. Begonnen VOLLTEXT 3 (2018), S. 32–35. Die bislang ausführlichste Auseinandersetzung mit Ruoffs Roman ist die Laudatio von dems.: »Das Schweigen der Naturgeschichte: Axel Ruoffs mineralogischer Roman Apatit«: http://www.a-und-a-kulturstiftung.de/personen_projekte/lite raturpreis-2018-der-a-und-a-kulturstiftung.html (dort S. 1–16). 13 Die Protagonisten werden nicht mit ihrem Namen, sondern nur über ihre geschlechterindizierten Rollen festgelegt: Die Initialen »S« und »R« stehen für »Sie« und »Er«. 14 Vgl. Paul Ricœur, Zeit und Erzählung (Anm. 8), Bd. 2 (Zeit und literarische Erzählung), hier S. 19.

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in einem Herbst am Ende des Jahrtausends, hat sie R und S über eine unbestimmte Dauer von Norden nach Süden, von Europa nach Afrika geführt. Mit dem räumlichen inszeniert die Reiseerzählung auch einen zeitlichen Distanzgewinn: Zum einen treten die Protagonisten aus der gewohnten und (be)herrschenden,15 ›europäisch‹ codierten Zeit, ihrem schnellen Tempo, ihrer fest gefügten, einer chronologischen Sukzessivitätslogik folgenden Ordnung und ihrer regelmäßigen Taktung heraus. Zum anderen ›nehmen‹ sie sich mit der Reise, die für S in eine nicht näher bestimmte Freiheit führen soll,16 Zeit »für sich selbst« (S. 244), auch wenn sie keine Muße finden. Die Fahrt, die mit der Aktionsrichtung früherer Kolonialmächte und gegen die aktuellen Migrations- und Fluchtrouten verläuft,17 bleibt ohne Wiederkunft – zumindest wird eine solche in der Erzählung nicht vollzogen. Insofern, als sie aus der (einen) Zeit in eine andere führt und eine Rückkehr nicht möglich ist, kann die Reise der Protagonisten als (wenn auch nicht den physikalischen Ursachen und Gesetzen von Gravität und Bewegung folgende) Zeit-Reise gelesen werden. Indem das Konzept der Reise für die Erlangung von Frei-Zeit (Frei-Zeit durch) funktionalisiert wird, ist notwendig die Frage nach ihrem Gegenstand (Frei-Zeit von) zu stellen. Für die Protagonisten des Romans sind es mehr (S) oder weniger (R) konkretisierte, traumatisierende Erlebnisse: Erfahrungen von familiärer Enge und sexuellem Missbrauch, von juristischer Willkür und sozialer Stigmatisierung (S) bzw. nicht näher benannte, aber eine Narbe zurücklassende Ereignisse (R). Dem ›Fernen Osten‹ (S) bzw. dem ›Westen‹ (R) zugeordnet, bleibt ihre geografische Verortung vage, ihre kulturelle Codierung schematisch. Als Vor-Geschichte der aktuellen (Reise-)Geschichte und (mindestens implizit, d. h. durch die Tatsache Ihres Erzählt-Werdens) für diese funktionalisiert, werden sie in die Analepse verlegt, ein chronologisches lineares Erzählen wird damit durchbrochen. Für die Protagonisten sollen sie über die Gedächtnisleistung des Vergessens aus der Erinnerung und, indem diese einen geordneten Ablauf der Dinge voraussetzt, auch aus der Zeit genommen werden.18 Eine endgültige Lö15 »[G]anz in ihrer Zeit verhaftet, hatten [sie] kaum Aussicht, ihr zu entgehen oder sie zu erhellen« (Apatit, S. 116). Zum »Zeitdruck« vgl. auch das gleichnamige Kapitel (ebd., S. 238– 244). 16 Diese steht in seltsamem Widerspruch zu Geschichte und Gegenwart des militärisch (Kriege, wechselnde Besatzungsmächte und innerstaatliche Auseinandersetzungen) wie ökonomisch (Abbau von Bodenschätzen und Besiedelung) ausgebeuteten und zerstörten Landes. 17 Uwe Schütte, »Das Schweigen der Naturgeschichte: Axel Ruoffs mineralogischer Roman Apatit« (Anm. 12), S. 7. 18 Z. B. über das »erinnernde Vergessen«, bei dem das Erinnern zur Voraussetzung eines Vergessens wird, das »von Vergangenheiten befreien [soll], die das Leben verhunzt hätten oder verhunzen hätten können« (Apatit, S. 277), und das damit erst zur Zukunft befähigt. Zum Theorem vom ›erinnernden Vergessen‹ vgl. Johannes Rohbeck, Zukunft der Geschichte: Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik, Berlin: Akademie-Verlag 2013, S. 179.

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schung der Inhalte kann nicht gelingen, das Vergessen bleibt unvollständig und reversibel: Durch äußere Impulse wie den Anblick körperlicher Narben (S. 95 und S. 105) oder das Angeschaut-Werden durch die Augen des Portiers, die – »misstrauisch, bespitzelnd, ja auf Rache aus« (S. 36) – jenen des gewalttätigen Verlobten ähneln, werden Inhalte immer wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart, aus der (einen) in eine andere Zeit, aus der Latenz ins Bewusstsein gebracht.

III

Zeitparameter und -ordnungen

Die Radikalität der Alteritätserfahrung resultiert wesentlich aus der Konzeption der diegetischen Raum-Zeit: Schau-Platz und Schau-Zeit sind weder in ihren Koordinaten eindeutig festgelegt, noch erweisen sie sich für die Protagonisten als kohärent und konstant. Die Unbestimmtheit des Raumes, der aufgrund seiner landschaftlichen Merkmale als Trockenwüste (als solche ist er zugleich zu erkundende Terra incognita und Locus horribilis) charakterisiert und aufgrund der Reiseroute irgendwo im nördlichen Afrika lokalisiert ist, wird nicht in erster Linie über das Vorhandene, sondern über das Fehlende konstituiert. Für den Raum, der sich als Indiskretes, Beengendes und Bedrohliches um alles legt, »als wollte er es anfassen, abtasten und absuchen, es aus göttlicher Willkür, Bosheit und parasitärer Lust zerdrücken« (S. 143), sind es Bedeutung stiftende Zeichen und Orientierung gebende Markierungen: Die Gleichförmigkeit führt zu einer dumpfen Verschwommenheit, die Augen können »keine Perspektive in die Landschaft schlagen« (S. 25), den Raum nicht fokussieren und ihn weder in seiner Tiefe noch seinen Entfernungen erfassen. In ihrer Entstehung und in ihrem Bestand verunmöglicht werden Kontur und Form durch eine radikale Partikularisierung der Materie. »Alles, was sich dem menschlichen Auge als fest und dauerhaft darstellte«, waren »Schwärme von winzigen Staubpartikeln«, welche die »Materie dar[stellten], indem sie Formationen bildeten und flirrend immer die gleichen Bewegungen und Linie« flogen (S. 45). Erde, Sand, Staub und deren wechselnde, durch »Wind und Gegenlicht […] hervor[ge]ger[u]fen[e]« und »beiseite gewischt[e]« (S. 18) Konfigurationen machen die Grenzen der Materie fluide, nivellieren ihre Gegensätze und unterwerfen die Landschaft einem ständigen, tatsächlichen oder vorgetäuschten Prozess von Formierung und Re-Formierung: »Wenn das menschliche Auge einen Gegenstand als fest gefügt wahrn[immt], [ist] die Form eigentlich schon wieder am Schwinden, lös[t] sich auf oder geh[t] in eine andere Form über« (S. 45).19 19 Zur Programmatik der Täuschung vgl. auch den Titel des Romans: Apatit von griechisch: απατείν (= »täuschen«), Mineral in vielfältigen Form- und Farbvariationen. Apatit-Erz ist

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Die räumliche Unbestimmtheit des Schau-Platzes fungiert in Apatit als Projektionsfläche der Schau-Zeit bzw. nimmt sie diese in der Erzählchronologie über ein präfiguratives Moment vorweg: Ebenso, wie Räumlichkeit nur »vor[ge]gaukelt[]« (S. 18) wird, erweist sich Zeit – als Rahmen konventioneller Ordnungsund Sinnsetzungen – als Illusion. Das erzählte Geschehen wird nicht in die universale bzw. abstrakte Zeit eingeschrieben:20 Zeitindizes fehlen ebenso wie Kalender, Uhr und Spiegel als Instrumente der Wahrnehmung und/oder Messung einer Zeit, die sich »im Vorher und Nachher, im Vielleicht-Noch oder Fast-Nicht-Mehr« (S. 29) und damit über die Operation des Vergleichs konstituiert. Dennoch wird das Dargestellte über einen externen Zeitrahmen kontextualisiert, der von unterschiedlichen Parametern, Relationen und Ordnungen sowie deren multiplen Verschränkungen bestimmt wird. Apatit operiert mit einer nicht periodisierten Natur- (insbesondere Erdgeschichte) und Menschheitsgeschichte, die einer kulturellen (Besiedlung), politischen (Regierungsformen und staatliche Konfigurationen) sowie einer ökonomischen und ökologischen (montanistische Nutzung, Krieg und seine Folgen) Dramaturgie des Wechsels unterliegt. Die diegetische Gegenwart erscheint als eine raumzeitliche Figuration in einem Kontinuum, das über unterschiedliche Parameter und Ordnungsmuster beschrieben wird. Zyklische und lineare Zeitentwürfe werden in ein hyperonymisches Verhältnis gesetzt: In die wiederkehrende Geschichte der Natur (z. B. die Abfolge von Tagen, die – da keine Sonne auf- oder untergeht – lediglich als Effekt deutlich wird) bzw. der Menschheit (der Gattung Homo) gliedern sich (geochronologische) Zeitabschnitte und (menschliche) Lebensspannen ein, die auf ein definiertes Ende zulaufen. Veranschaulicht werden die Dimensionen der Zeit anhand gradualistischer Vorstellungen: als monotone und kontinuierliche Abfolge von unzähligen, je nach Zeitvorstellung an einer Kreislinie (an einem Zeitkreis) oder an einer gerichteten Geraden (an einem Zeitstrahl) angeordneten Mikro-Ereignissen / Zeitpunkten.

IV

Zeitstrukturen und -wahrnehmung

Die (Zer)Gliederung der diegetischen Raum-Zeit in kleine und kleinste Teilchen (»Elementarteilchen« der Materie und der Zeit, S. 17) bewirkt eine Fokussierung auf das Detail, die sich in umfangreichen deskriptiven und reflektierenden Passagen zeigt. Als Verdichtung von (Zeit-)Räumen und -Abfolgen erzeugt sie zudem Träger von Phosphor (dem wichtigsten Bodenschatz des Reiselandes) und wird auch ursächlich mit der Verwandlung von S in Verbindung gebracht (Apotheker). 20 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung (Anm. 8), Bd. 3 (Die erzählte Zeit), hier S. 296.

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ein Erzähltempo der Langsamkeit.21 Nur selten wird der gleichförmige Verlauf der Zeit unterbrochen und asynchron: Dies etwa, wenn Menschen über Nacht altern (S. 43) und damit kurzfristig einer nicht näher begründeten, aber als ortsspezifisch beschriebenen, beschleunigten ›anderen‹ Zeit unterstellt werden. Die Makroebene des gut 340-seitigen Romans zeigt eine starke Strukturierung in sechs, wesentlich gleich gewichtete und ihrerseits stark untergliederte (15 bis 21 Teil-)Abschnitte, deren Kürze und rascher Wechsel in einem Spannungsverhältnis zur Trägheit des Erzählten steht. Auf der Mikroebene arbeitet Ruoff mit kurzen, meist nebengeordneten und asyndetisch zu umfangreichen Perioden zusammengestellten Sätzen. Enumerative und listenartige Verfahren erzeugen eine Eindringlichkeit, wie sie dem rituellen Sprechen eignet. Besondere Bedeutung erhält die Dialektik von (struktureller) Wiederholung und (semantischer) Variation nicht, wie erwartbar, für das, was noch nicht stattgefunden hat und daher auch nicht gewusst werden kann: die Zukunft. Diese steht als imaginierte Rückkehr in die ursprüngliche Lebens- und Beziehungswelt von S und R, durch die auch die Frei-Zeit der Reise von vornherein als episodisch definiert wird, fest. Stattdessen wird die Vergangenheit nicht in erster Linie als das, was bereits geschehen ist, sondern als Anzahl von Möglichkeiten beschrieben, die geschehen hätten können.22 Anders gesagt: Kontingenz kennzeichnet in Ruoffs Apatit nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit. Dass der Roman dennoch kein ›einfaches‹, gerichtetes und deterministisches Geschichtsbild entwirft, liegt darin begründet, dass er die Entscheidung über den Realisierungsstatus an- und probeweise auserzählter, wieder- und widererzählter Optionen schuldig bleibt. Deutlich wird dies am Beispiel des Hotels, das weder gängigen Bau- oder Stilepochen zuzuordnen ist noch lokale oder traditionelle Gestaltungselemente aufweist, die als Einschreibungen in die Zeit gelesen werden könnten. Als architektonischer und funktionaler Synkretismus unterschiedlicher Einrichtungen – Krankenhaus, Justizgebäude oder Verwaltungsbau, Lagerhaus oder Werkstätte, Provinzpostamt oder Wohnheim, Theatersaal oder Kirche – bleiben Art und Geschichte (»in der einen oder anderen Reihenfolge«, S. 7) seiner Nutzung unbestimmt. Das Vergehen von Zeit wird an einer unspezifischen Desolatheit sichtbar (S. 22). Ihre temporale Konfiguration ist an den Wänden ablesbar, deren Lack, teilweise in mehreren Lagen, mit Tapeten und Kacheln überklebt ist (vgl. S. 10). Eine Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit bzw., vom Ontologischen ins Zeitliche gewendet, von Früherem und Späterem, wie sie hier eingeführt wird, weist auf zwei Denkfiguren, mithilfe derer in aktuellen (u. a. post21 Anke Bennholdt-Thomsen (»Dieser Roman ist ein sprachliches Ereignis« [Anm. 12]) spricht von »[L]angatmig[keit]« (S. 107). 22 Alexander Demandt verwendet in diesem Zusammenhang den Ausdruck »ungeschehene Geschichte«: Ungeschehene Geschichte: Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn…, 2. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986.

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kolonialen) Theorien u. a. die Bereiche von ›Kultur‹ und ›Gedächtnis‹ erschlossen werden sollen: das »Palimpsest« und die »Spur«.23 Als Repräsentanzen und Vermittler von Vergangenem erhalten Ein- bzw. Überschreibungen und Abdrücke in Ruoffs Apatit heuristische Funktion. In Bewegungen des Entdeckens und Aufspürens, in Operationen des experimentellen Verknüpfens und neuen Sortierens erkunden R und S das weitläufige und unübersichtliche Gebäude in seinen räumlichen und zeitlichen Dimensionen. Ihre nur heimlich durchführbare Suche gilt nicht nur dem Wissensobjekt (dem Hotel und seiner Geschichte), sondern auch der Notwendigkeit, »etwas Fremdes und Abwesendes unter Kontrolle zu bringen«.24 Notwendig wird dies durch eine kafkaeske Konzeption der Raum-Zeit und der Figuren: Das Hotel wirkt durch das Fehlen von Ausblicken und -gängen – die Fenster sind mit Läden verdunkelt, Hintertüren oder Fluchtwege gibt es nicht – hermetisch. Eine Abreise bzw. »Entlassung« (S. 15) ist nicht an jedem Tag möglich, die Gründe dafür bleiben ebenso unklar wie unhinterfragt. Die Gäste, »vielleicht Ingenieure, Landvermesser oder Wissenschaftler« (die Allusion an Kafkas Romane25 ist nicht zu übersehen), schlurfen müde die Gänge entlang und hoffen, den Ort bald verlassen zu können. Das Gebäude unterliegt der Kontrolle durch eine weder in ihrem Telos noch in ihren Strategien erkennbare, gerüchtehalber »eine[r] größere[n] Organisation« (S. 38) unterstellten Macht, als deren Handlanger die beiden Portiere erscheinen. In seiner Materialität ist es nicht nur »Resultat und Ausdruck von Temporalität«,26 sondern wirkt auch auf das In-der-Zeit-Sein der Protagonisten ein. Ihr Aufenthalt im Hotel versetzt R und S in eine andere RaumZeit: Wenn sie vor die Tür treten, kommen sie – jedes Mal überrascht – »wieder in der Gegenwart und vor Ort« (S. 12) an. Indem er die in der ›richtigen‹ Lesart und damit die in den Rezipierenden angelegte Unsicherheit konzeptuell auch in der Spur selbst verortet und damit potenziert, geht Axel Ruoffs Apatit über die in der Denkfigur angelegte Ambivalenz von Zeigen und Verbergen mehrfach hinaus. Ist einerseits die Festlegung 23 Julian Osthues, Literatur als Palimpsest: Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2017; Sybille Krämer: »Was also ist eine Spur?«, in: Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hg. von ders., Werner Kogge und Gernot Grube, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 11–33; Andreas Buller, Theorie und Geschichte des Spurbegriffs: Entschlüsselung eines rätselhaften Phänomens, Marburg: Tectum 2016. 24 Cornelius Holtdorf, »Vom Kern der Dinge keine Spur: Spurenlesen aus archäologischer Sicht«, in: Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst (Anm. 23), S. 333– 352, hier S. 346. 25 Insbesondere an die Romane Amerika / Der Heizer (1911–1914) und Das Schloss (1922) sowie an In der Strafkolonie (1914). Die Erzählung der Metamorphose in Ruoffs Apatit lässt – trotz evidenter Unterschiede – an Kafkas Verwandlung (1912) denken. 26 Michael Gamper und Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten? (Anm. 5), S. 13.

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auf ein konkretes Abwesendes nicht möglich und die Spur damit lediglich in ihrer Formlosigkeit, mithin als (abstraktes) Strukturmuster einer über die Zeit modellierten Verweishaftigkeit (eines Späteren auf ein Früheres) wirksam, so wird sie andererseits gerade in ihrer Temporalität in Frage gestellt: Das Hotel verfügt über keinen Anhaltspunkt in der Zeit, scheint in einer totalen, aus der Summe aller (vergangenen) Möglichkeiten resultierenden Neutralität aufzugehen, mithin nicht zu existieren (vgl. S. 22). Indem Spuren, die das Vergehen von Zeit anzeigen (sollen), als Täuschung entlarvt werden, ist das Hotel aus einer kausalchronologischen Logik und damit aus der Zeit herausgenommen. Über Vergleiche wie »als ob hier nie Zeit vergangen wäre, weil sie nicht einmal begonnen hätte« (S. 22), die in ihrer Aussagesicherheit durch den Konjunktiv zusätzlich relativiert sind, wird es nicht nur abseits, sondern auch vor der (vom Menschen modellierten und ihm verfügbaren) Zeit positioniert. Aus der Außer- und Vorzeitlichkeit des Hotels resultiert auch die unheimliche Bedrohung, die von ihm ausgeht: »Für keine Zeit vorgesehen, war alles in diesem erschreckenden Gebäude möglich, diesen Räumen war ein jedes Geschehen, zuerst das schrecklichste zuzutrauen« (S. 22). Die ›Wahrnehmung‹27 von Zeit erfolgt in Apatit über materiale Konkretisierungen,28 ihr ›Vergehen‹ wird als kontinuierliche und gerichtete Bewegung gefasst und im Bild des ständig rieselnden, knirschenden, schmirgelnden Sandes veranschaulicht: Er dringt in die Kellerräume ein, unterminiert die Fundamente und lässt das Hotel nach den Vorgaben einer am Menschen vorbeilaufenden, naturgeschichtlichen Zeit (vgl. S. 22) langsam versinken. Über ihre visuellen, taktilen und v. a. auditiven Manifestationen fungiert Zeit nicht nur als ›Reiz‹, sondern modelliert auch die Rezeption und mit ihr das narrative Konzept von Temporalität. Indem es wahrnimmt, was an einem Ort einmal vernehmbar gewesen ist (vgl. S. 30), versucht das Gehör von S und R nicht nur gegenwärtiges, sondern (und damit im eigentlichen Sinn über die Zeit hinweg) auch vergangenes (mögliches) Geschehen zu erschließen. Unterschiedliche Tonschichten werden übereinandergelegt und zu einem einzigen, als »[k]akophon[]« (S. 30) beschriebenen Klangeindruck verdichtet, der die Wahrnehmung »aller [Hervorhebung der Verfasserin] vergangenen Töne« (S. 30) eines Ortes möglich macht oder, aus Sicht der Protagonisten, erzwingt. Die Töne – und mit ihnen die zeitlich unterschiedlich situierten Dinge und Geschehnisse, die sie repräsentieren – werden nicht als (geordnet oder ungeordnet) aufeinanderfolgend, sondern als

27 Eigentlich handelt es sich um kognitive Verarbeitungsprozesse. 28 Vgl. Michael Gamper und Helmut Hühn: Was sind Ästhetische Eigenzeiten? (Anm. 5), S. 12. Von besonderer Bedeutung ist Gestein in seinen unterschiedlichen Körnungen (s. u.).

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koexistent erzählt. Apatit erinnert damit an Deleuzes Philosophie der Zeit und ihre Funktionalisierung für die Poetik des modernen Films.29 Die »virtuelle«, d. h. die vergangene Zeit des Romans wird in simultanen, lineare und chronologische Zeitordnungen auflösenden »akustischen Situationen« festgestellt,30 in denen die »Essenz«31 der Geschichte deutlich und Erkenntnis möglich gemacht werden soll. Auch wenn es nicht in erster Linie um eine Erklärung der Gegenwart, sondern um ein »Durchstreifen der Vergangenheit«32 gehen mag, die in unterschiedlichen, hinsichtlich ihrer Realisierung gleichwertigen und durchaus widersprüchlichen Versionen zur Erscheinung gebracht wird,33 ist mit der Frage nach der ›Historie‹ des Hotels auch jene nach der Gegenwart gestellt (vgl. S. 39). Die aus der Unmöglichkeit einer Identifikation der ›Dinge‹ und ihrer Einordnung in stabile raumzeitliche Bezüge resultierende Ungewissheit über die Vergangenheit macht auch die Verortung der Protagonisten im Jetzt schwierig bzw. unmöglich. Ihr Dasein ist von einer diffusen Furcht, von Hilflosigkeit, Unruhe und Orientierungslosigkeit beherrscht.

V

Zeitmodus, -folge und ›Tempus‹

Die Durchdringung von Späterem durch Früheres (vgl. S. 164), wie sie in der Geschichte des Hotels deutlich wird, lenkt die Aufmerksamkeit auf die gebräuchlichste Modellierung der Zeit durch die Modi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.34 In Apatit erscheint das Schema des zeitlichen Dreischritts gestört durch eine Zukunft, die ihre ›Zukünftigkeit‹ verloren hat. Ein jede Kontingenz ausschließendes, antizipatorisches Wissen von einer einzigen, konkreten und bereits ›existenten‹ Zukunft – sie ist weder für R und S noch für S und ihren Verlobten eine gemeinsame – wendet die Zukunft von einem zu Erwartenden in ein (gegenwärtig) bereits Vollzogenes und damit letztendlich in ein 29 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, aus dem Französischen von Klaus Englert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 30 In Anlehnung an »optische Situationen« nach Gilles Deleuze: »Über ›Das Zeit-Bild‹«, in: Ders., Unterhandlungen 1972–1990, aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 86–91, hier S. 89. Vgl. auch Friederike Römhild, »Lange Augenblicke: Zyklische Zeitmodellierungen bei Cesare Pavesi, Luchino Visconti und Hans Erich Nossack«, in: Figurationen des Temporalen: Poetische, philosophische und mediale Reflexionen über Zeit (Anm. 3), S. 123–136, hier S. 124. 31 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2 (Anm. 29), S. 96. 32 Oliver Fahle, »Zeitspaltungen: Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze«, in: montage/ av 11/1 (2002): 97–112, S. 104. 33 Vergleichbar mit dem »Kristall« von Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild: Kino 2 (Anm. 29), S. 95– 131. Vgl. auch Oliver Fahle, »Zeitspaltungen: Gedächtnis und Erinnerung bei Gilles Deleuze« (Anm. 32), S. 97–112, S. 102–106. 34 Michael Gamper und Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten? (Anm. 5), S. 9.

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Vergangenes, bevor sie (realiter) passieren kann. Möglich wird das durch ein Konzept von Zeit, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als durchlässig versteht und füreinander wirksam werden lässt, wie es auch der Ausdifferenzierung komplexer Zeitrelationen bei Koselleck zugrunde liegt. Während die »Semantik geschichtlicher Zeiten« primär die Perspektivierung einer Zeit durch eine andere beschreibt, wie sie über die Positionierung der Betrachtenden hervorgebracht wird,35 stellt Ruoff im Paradoxon einer Zukunft, »die vor ihrer Zeit schon Vergangenheit« ist (S. 114), die Zeitreihe um und bricht mit der Vorstellung von Zeit / ihres Erlebens als gerichtete (Ab-)Folge: Ihre Zeit war immer schon Vergangenheit, weil ihre Zukunft beschlossene Sache war, Zeit, die ihnen gemeinsam bevorstand, war von vornherein begrenzt, immer schon abgelaufen, also vergangen, denn sie lebten auf die Trennung zu, die zukünftig und doch Vergangenheit war, sie blickten immer von der bevorstehenden, unausweichlichen Trennung auf das zurück, was passierte, als ob sie rückwärts lebten und sich bereits an das erinnerten, was sie bis zum Ende ihrer gemeinsamen Zeit erlebt haben würden […]. Die Gegenwart als Vergangenheit zu leben und die Zukunft als Vergangenheit der Vergangenheit vorherzusehen war quälend [.] (S. 114f.)

Die Prolepse, die ein Späteres vorab erzählt und in ein Früheres implementiert, indem sie es im ›Archiv‹ der Vergangenheit ablegt, ist in Apatit nicht bloß narrative Fingerübung, sondern verweist auf eine ›tatsächliche‹ Anachronie der diegetischen Zeit. Der Roman bezeichnet sie als »Futur III« und lanciert damit Vorstellungen von Zeit als einer grammatikalischen Kategorie. Allerdings führt er damit weder eine ›neue‹ noch eine ›alte‹ Zeitform wieder ein: »Futur III« steht hier nicht für das gleichnamige, mit Hilfe von Hauptverb plus Hilfsverb plus Partizip des Hilfsverbs »superkomponierte«36 Tempus des Vor-Futur;37 auch die hier relevante Passage in »Bruch [2]« wird im Basistempus des Präteritum erzählt. Was mit dem »Futur III« aufgerufen wird, ist die Qualität von (analog zu Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt vielleicht auch intensivierter) Vor-

35 »Vergangene Zukunft« bezeichnet hier die Zukunft vom Standpunkt der Vergangenheit her betrachtet. Vgl. Reinhart Koselleck, »›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien«, in: Ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 10. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017, S. 349–375, hier S. 359. 36 Simone Heinold, »Wiederentdeckte Tempora: ›Doppelperfekt‹ und ›Doppelplusquamperfekt‹«, in: Dies., Tempus, Modus und Aspekt im Deutschen: Ein Studienbuch, Tübingen: Narr 2015, S. 99–102, hier S. 99. 37 Während das Futur III in älteren Grammatiken noch verzeichnet wird (vgl. z. B. Heinrich Bauer, Vollständige Grammatik der neuhochdeutschen Sprache, Bd. 3, Berlin: Reimer 1830, insbesondere S. 246 und S. 248), gilt es in Grammatiken des 20. Jahrhunderts nicht mehr als ›korrekte‹ Zeitform; für das analog gebildete Doppelperfekt und Doppelplusquamperfekt wird die Zugehörigkeit zum Tempussystem des Deutschen unterschiedlich beurteilt. Vgl. z. B. Simone Heinold, »Wiederentdeckte Tempora: ›Doppelperfekt‹ und ›Doppelplusquamperfekt‹« (Anm. 36), S. 100f.

»[Z]eitvergessen«: Figurationen von Frei-Zeit in Axel Ruoffs Apatit

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zeitigkeit, die als Manifestation von Dislokation und Diffusion vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Zeit (hier in der Wahrnehmung durch R) gedeutet werden kann.

VI

Zeitmetaphorik und -metamorphose

Das traumatische Erlebnis sexueller Gewalt teilt die Geschichte von S in ein subjektives Vorher und Nachher, das nicht mit der Unterscheidung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kongruiert, sondern ein zeitlich nicht geordnetes Früheres in ein dichotomisches Ordnungsgefüge bringt. Der vergangene ›Jetzt-‹ und Wendepunkt expandiert in die Zeit: Nicht nur das Ereignis der Vergewaltigung, sondern auch seine Folgen werden als Zäsur in der Zeit- und Handlungsstruktur des Erzählten wirksam. Mit der Metapher des Bruchs (für S vgl. S. 86ff., S. 104ff. und 159ff.)38 wählt der Roman einen Terminus, der (wie auch der Riss) in der Geologie den Verlust von Kohäsion und Kontinuität bezeichnet. In Apatit wird er als irreversibel und unüberwindbar gedacht.39 Der Bruch der Vergangenheit wird auch für die Zukunft wirksam, durch die er »immer schon« (S. 104) geht und die er festlegt – insofern dem Bruch in der Beziehung von S und R vergleichbar, wobei jener aus einem zugestoßenen realen Erlebnis, dieser aus einem willentlichen Beschluss resultiert. Als »glutroter Riss« (S. 105) in der Erdrinde verunmöglicht er S den Zutritt zur Zukunft; stattdessen wird sie, das Bild der Geologie beibehaltend, zwischen den beiden Bruchflächen »zerrieben« und »blank geschliffen«, bis ihr Wesen schließlich »unmenschlich« wird und »versteinert« (S. 108). Gestein in seinen unterschiedlichen Texturen (Staub, Sand, Gesteinsbrocken) ist in Apatit für die Konstitution von Raum und Zeit bzw. deren Wahrnehmung relevant. Als Objekte der Untersuchung und des Sammelns, als Instrumente sowohl von Verletzung und Tötung40 als auch von Erkenntnis (S. 224) sind Steine wiederkehrende Elemente der Handlung. Darüber hinaus erhält das Gestein Bedeutung für physische und emotionale Verwandlungsprozesse der Protagonisten und insbesondere von S. Sowohl die buchstäbliche als auch die metaphorische Kalzination erfolgt langsam, kontinuierlich und diskret. S verliert an 38 Als »Brüche der Zeit« (Apatit, S. 181) werden auch die Zäsuren in der Lebensgeschichte des Maisdiebs bezeichnet. Durch die Option, in der (Lebens-)Zeit nach vorne und zurück zu schauen, verschaffen sie Überblick. 39 Anders als R’s Schnitt, der durch Vernarbung wieder durchlässig in beide Richtungen der Zeit wird (S. 105). 40 In einer (namenlosen) Kleinstadt in der Südprovinz werden R und S aus unerfindlichen Gründen von Kindern mit Steinen beworfen und verletzt, bis ihnen schließlich Erwachsene zur Flucht verhelfen (vgl. S. 235–238).

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Antriebskraft, verweigert sich menschlichen Kontakten (S. 327), sowohl ihre willkürlichen (Motorik) als auch ihre unwillkürlichen (Organe) Bewegungen (vgl. S. 275f.) verlangsamen. In einem als naturiert beschriebenen Vorgang dringt Sand durch die Haut in den Körper ein (vgl. S. 18), saugt Körperflüssigkeit aus, lagert sich an und bildet kristalline Strukturen in den Körperfalten (vgl. S. 35). Die Verwandlung wird mit dem unmittelbaren Einwirken der Landschaft motiviert und – wie in obigem Beispiel, das R die Verwandlung in einen »sandigen Mineralklotz« (S. 35) befürchten lässt – zumeist als passives Erleiden, seltener als aktives Tun – etwa als kalkulierter Rückzug vor den »anhaltenden Zumutungen der Materie« (S. 46) – beschrieben. Ein solches kennzeichnet auch die durch das Trauma der Vergewaltigung ausgelöste Steinwerdung von S: Eine zunächst in die Nacht / den Traum ausgelagerte Versteinerung des Herzens,41 die auch eine Versteinerung des Körpers nach sich zieht (vgl. S. 103), erfolgt willentlich und zielgerichtet, um sich der (erneuten) und wiederum sexuell konnotierten, physischen wie psychischen Inbesitznahme durch den Vergewaltiger – »der ihr die Seele aus dem Leib hämmern und ihr die seine in den Leib stoßen« würde, »um sich wieder in ihr einzunisten« (S. 102) – zu entziehen. Da die Verwandlung nicht konsequent / bis zum Ende hin erfolgt, S also »nicht Stein genug« (S. 102) ist, wird ein schmerzhafter Wiederherstellungsautomatismus des Organischen / Menschlichen ausgelöst: S fühlt »jeden Meißelschlag, der dem Stein ihre menschlichen Züge zurückg[i]b[t]« (S. 102f.). Ist die Versteinerung zunächst partiell und reversibel (vgl. S. 108), wird sie am Ende zur definitiven Existenzform für S. Als Symptom einer Krankheit des Körpers und des Geistes, die nur als Projektionen des einen auf das andere existieren und sich gegenseitig stillstellen, mithin aus der Zeit nehmen, trägt das Erstarren zu Stein auch pathologische Züge und wird als »lebensgefährlicher, todesnaher Zustand« (S. 303f.) beschrieben. Von der »atmosphärisch« (S. 303) begründeten versteinernden Wirkung der Landschaft, die entweder zum Tod oder, wie bei S, zur »Heilung« (S. 146 und S. 304) führt, werden ausschließlich ›schwache‹ Menschen affiziert. Mit der Steinwerdung, die sie Ruhe finden und die Zeitlosigkeit ertragen lässt (vgl. S. 244), speist sich S in eine Seinswelt ein, die – obwohl nicht organisch – einem zyklisch organisierten Prozess von Werden und Vergehen unterstellt ist. Illustriert wird dieser durch den Gesteinskreislauf: Gesteine verwittern und erodieren, lagern sich als Sedimente ab, bilden durch Verdichtung Sedimentgesteine, sinken ins Erdinnere, wo sie unter hohem Druck zu (metamorphem) Gestein

41 »S verließ nachts das Menschliche, damit nichts Menschliches, kein Gefühl, kein Geschmack, kein Bedürfnis mehr an ihr klebte« (S. 104).

»[Z]eitvergessen«: Figurationen von Frei-Zeit in Axel Ruoffs Apatit

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umgewandelt und als solches wieder an die Oberfläche gebracht werden.42 Die Metamorphose der Landschaft – »Berge können Steine und Steine können Berge werden« (S. 228) – und des Menschen, namentlich von S, werden strukturell gleichgeführt, die Dimensionierung der Zeit ist aber eine andere: Während die Zeiträume der Natur aufgrund ihrer langen Dauer nicht überblickt, morphologische Veränderungen des Gesteins aufgrund ihrer Langsamkeit nicht registriert werden können, durchläuft S diesen Prozess, dessen physische und psychische Anzeichen für R erst aus der Retrospektive interpretierbar werden, gerafft und in wenigen Wochen. Die Versteinerung erscheint in Apatit als (einzige) Möglichkeit, dem äußeren und inneren Druck, den die anthropogen konfigurierte Zeit erzeugt – sei es aufgrund ihrer Quantität (ihrer geringen Bemessenheit und Verfügbarkeit), sei es aufgrund ihrer Qualität (einerseits ihrer Geprägtheit durch kulturelle und soziale Hegemonien, andererseits ihrer Belastetheit durch konkrete negative Erfahrungen) –, zu entgehen und in einen Zustand glücklicher »[Z]eitvergessen[heit]« (S. 242), wie er bislang lediglich singulär und für den Augenblick zu gewinnen war, einzugehen. Durch ein ›erlösendes‹ Moment der Metamorphose bekommt Apatit auch eine quasireligiöse Qualität.43 Über die Zeit modelliert, figuriert dieses Moment als ›Ewigkeit‹, die im Roman weniger durch eine »ins Unendliche weitergedachte[] Zeit«44 und damit einen Überschuss von Zeit gekennzeichnet ist als durch deren befreiendes Fehlen: Als »Bewohnerin« der »Ewigkeit« (S. 330) ›führt‹ S ein Dasein in ultimativer Frei-Zeit.

VII

Schluss: Eigenzeit(en)

Axel Ruoffs Roman generiert – in Engführung mit dem Raum – ein spezifisches Konzept von Zeit: eine ästhetische Eigenzeit, in der temporale Phänomene neu konfiguriert und reflektiert werden. Konstitutiv für das polychrone45 Erzählen 42 Zum ›Wachstum‹ von Gestein, das sich in einer Langsamkeit vollzieht, in der jedes (menschliche) Zeitgefühl aufhört, vgl. Apatit, S. 226ff. Mit der Frage nach der anorganischen oder der organischen Beschaffenheit von Stein / Stein als Lebensform werden auch ökologische Fragen des ›Lebens‹ gestellt und zugunsten der Steine beantwortet. 43 Menschen knien vor ihr, beten vor ihr und schmücken sie. Viele stellen sich an, um die »Steinfrau« zu sehen, das Hotelzimmer wird zum Tempel, die Dauer verleihende Kalzination zum Wunder, die Verwandelte zur Heiligen (vgl. Apatit, S. 330). 44 Harald Burger, Zeit und Ewigkeit: Studien zum Wortschatz der geistlichen Texte des Alt- und Frühmittelhochdeutschen, Berlin: De Gruyter 1972, S. 313. 45 Zum Terminus des »Polychronen« vgl. https://www.aesthetische-eigenzeiten.de (Anm. 5). In ähnlicher Bedeutung werden die Begriffe »multitemporal« sowie »pluritemporal« verwendet. Vgl. hierzu z. B. Ansgar Nünning, »Zeit in der Erzählkunst«, in: Zeit in den Wissenschaften, hg. von Wolfgang Kautek, Reinhard Neck und Heinrich Schmidinger, Wien: Böhlau 2016, S. 145–

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werden unterschiedliche, z. T. auch widersprüchliche Figurationen von Frei-Zeit (mithin Frei-Zeiten),46 die der Text in komplexe Relationen zueinander stellt. Auf der Ebene der »Erzählung« bzw. »Aussage« manifestiert sich das polychrone Erzählen in Durchbrechungen eines linearen Erzählens durch Pro- und Analepsen, v. a. aber in einer Fragmentierung der Zeit, die Abläufe verlangsamt, Bewegung ›einfriert‹ und Geschehnisse damit außerhalb der Zeit positioniert. Auf der Ebene der »Geschichte« bzw. »Welt des Textes« wird Frei-Zeit über das Fehlen von Zeitindizes erzeugt und über den Topos der Reise, deren Distanz gewinnende Bewegung im Raum auch zur Bewegung in der und durch die Zeit(en) wird, inszeniert. Die Schau-Zeit ist weder eindeutig festgelegt noch erweist sie sich als kohärent und konstant, eine Einschreibung in die abstrakte Zeit erfolgt nicht. Dennoch wird die Eigenzeit des Romans durch extratextuelle Referenzrahmen – natur- und menschheitsgeschichtliche Parameter, lineare und zyklische Modelle von Zeit sowie deren ›unordentliche‹ Verschränkungen – grundiert, zu denen sie sich auch verhält. Im Bereich der Modi zeigen sich Diffusionen und Dislokationen: Einer als kontingent beschriebenen und für die Gegenwart wirksamen Vergangenheit steht eine ergebnissichere und bereits vor ihrem Eintreten vergangene Zukunft gegenüber, wie sie im experimentellen ›Tempus‹ des »Futur III« modelliert wird. Versuche, frühere Geschehnisse über die Denkfiguren der Spur und des Palimpsests zu erschließen, bleiben ohne Erfolg: Die Materialisierungen der Zeit, denen selbst Täuschungsmacht zugeschrieben wird, können von den Protagonisten nicht ›gelesen‹, diskontinuierliche Zeithorizonte und paradoxe Zeitgefüge, wie sie u. a. die Metapher des Bruches herausstellt, nicht mit Sinn versehen werden. Kurz: Das Fehlen von Zeit macht ein Erschließen von Welt unmöglich.47 Dennoch ist Frei-Zeit in Apatit positiv besetzt, indem sie wesentlich über das Frei-Sein von sozial und kulturell codierten hegemonialen Größen, zu denen auch die Zeit selbst zählt, definiert wird. Der Weg in eine solchermaßen bestimmte Frei-Zeit führt über die körperliche Metamorphose: Mit der zunächst teilweisen und umkehrbaren, am Ende aber totalen und irreversiblen Steinwerdung speist S sich ein in ein ultimatives Zeit-freies ›Sein‹, das als ›Ewigkeit‹ figuriert.

178, S. 158f.; Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart: Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2014, S. 38. 46 Vgl. u. a. Antonius Weixler und Lukas Werner, »Zeit und Erzählen – eine Skizze«, in: Zeiten erzählen: Ansätze – Aspekte – Analysen, hg. von dens., Berlin: De Gruyter 2016, S. 1–26, hier S. 21f. 47 Michael Gamper und Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten? (Anm. 5), S. 9.

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Florian Gassner

Frei-Zeit am Abgrund: Herkunft von Sasˇa Stanisˇic´

I

Einleitung

In Herkunft (2019) erkundet ein Hamburger Schriftsteller namens Sasˇa Stanisˇic´ seine Familiengeschichte vom frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei bedient sich der Text unterschiedlicher Erzählverfahren, die eine Dreiteilung des Werks nahelegen. Ausgangspunkt der Erzählung ist der gesundheitliche Niedergang der dementen Großmutter väterlicherseits, Kristina Stanisˇic´. Ihre letzten Lebensmonate dokumentiert Sasˇa weitgehend in chronologischer Form, zum Ende hin beinahe im Tagebuchstil. Hieraus entwickelt er, zweitens, ein Panorama seiner jugoslawischen Vorfahren und Verwandtschaft, beginnend mit den Urgroßeltern auf beiden Seiten der Familie. Diesen Teil von Herkunft kennzeichnet ein rasanter Wechsel der Zeitebenen, Figuren und Schauplätze. Die dritte Wandlung vollzieht der Text zum Ende hin, als sich die Erzählung in ein Choose Your Own Adventure im Stil von Die Insel der tausend Gefahren (1976) verwandelt, mit dem Titel »Der Drachenhort«. Hier werden die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit durchlässig, Tote werden lebendig und mythische Gestalten begegnen Figuren aus der Lebenswelt. Diese Vermeidung einer linearen Erzählstruktur reflektiert Herkunft selbstironisch im Kapitel »Die Sonnenseite schmeckt süß, die der Sonne abgewandte bitter«.1 Zu Beginn dieses Abschnitts weilen der Erzähler und seine Eltern noch einmal bei der Großmutter im bosnischen Visˇegrad. Die drei beschließen, einen Tagesausflug zum Geburtsort des Großvaters, Oskorusˇa, zu unternehmen und begegnen dort einem entfernten Verwandten namens Sretoje, der weder zuvor noch danach in der Geschichte eine Rolle spielt. Auch statistisch fällt diese Episode aus dem Rahmen. In einem Buch, dessen Kapitel durchschnittlich vier bis fünf Seiten umfassen, ist es mit 13 Seiten das zweitlängste. Jedoch leistet es kaum etwas für die Familiengeschichte, an der Sasˇa arbeitet. Stattdessen drängt 1 Sasˇa Stanisˇic´, Herkunft, München: Luchterhand 2019, S. 264. Nachfolgend werden die Seitenzahlen durch Klammern im Fließtext nachgewiesen.

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Florian Gassner

Sretoje den Besuchern unzusammenhängende Anekdoten aus seinem Leben auf, angereichert mit unausgereifter Symbolik. »Merkwürdiger Typ« (S. 276), kommentiert Sasˇa und entdeckt erst später die Parallelen zu den Erinnerungen der Großmutter, die er mit seinem Band dokumentiert (S. 286). Bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch in Oskorusˇa, knapp zehn Jahre davor, hatte er noch angenommen, Kristina habe ihm diesen Ort zeigen wollen, »um mich für dessen Geschichten zu begeistern, für meine Vorfahren, für meine Herkunft« (S. 286). Er hatte sich jedoch getäuscht. »Nichts war von mir erwartet worden« (S. 286), stellt er rückblickend fest, er »war bloß zufälliger Zeuge« einer »Inventur« gewesen (S. 286). Damit ist auch sein eigenes Scheitern vorgezeichnet: Herkunft lässt sich für Außenstehende nicht in leicht nachvollziehbare Kausalketten übersetzen. Der Auftritt von Sretoje vergegenwärtigt diesen schwer überbrückbaren Abgrund, der sich u. U. auch zwischen Herkunft und dem Lesepublikum eröffnen wird. In der Konsequenz verabschiedet sich der Erzähler von seinem Bedürfnis nach einer in sich geschlossenen Handlung. Auch wenn sie unvollständig bleiben, »die Inventuren müssen irgendwann mal aufhören« (S. 332), heißt es in »Der Drachenhort«, kurz vor dem letzten Auftritt der Großmutter. »Wir hatten unsere Zeit«, mahnt die bereits verstorbene Kristina ihren Enkel und bietet ein letztes Gespräch an, »lass uns noch ein wenig erzählen.« Doch kein Gespräch kommt zustande. »Ach weißt du, vielleicht schweigen wir einfach. Und dann geh ich« (S. 322). Plakativ gibt die Geschichte zu verstehen: Es ist ein Text ohne Schlusswort. Herkunft steht erzähltheoretisch zu einem großen Teil in der romantischen Tradition. In dem Versuch, den Tod der Großmutter mit verschachtelten Erzählungen aufzuschieben, finden sich u. a. Anklänge an Tausendundeine Nacht, einem Paradigma für romantische Erzählkunst. Dabei ist sich Sasˇa durchaus der Vergeblichkeit seines Unterfangens bewusst. »Es gibt keine Gegenerzählung zu ihrem Kinn auf der Brust« (S. 278), gesteht er sich den unaufhaltbaren körperlichen und geistigen Verfall der Großmutter ein. Dennoch verliert er sich über weite Strecken in diesem Spiel. Zugleich zieht der Text gegen tradierte Modelle der Erinnerungsliteratur ins Feld, mit der Absicht, lineare Muster und Kausalketten abzuwerfen. »Ich wäre am liebsten in zwei Zeiten zugleich« (S. 275), sinniert der Erzähler in Anspielung auf Kristinas gestörtes Zeitempfinden. Ziel dieser Auseinandersetzung mit der Tradition ist eine offene, neutrale und ideologiefreie Form der Erinnerungsliteratur – die Eröffnung narrativer Freiräume und Frei-Zeiten, um darin politisch unbelastete Identitäten zu formulieren.

Frei-Zeit am Abgrund: Herkunft von Sasˇa Stanisˇic´

II

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Herkunft

Herkunft besteht aus 64 kurzen Kapiteln, wobei die ersten 23 Abschnitte die Familiengeschichte in Bosnien behandeln, von der Zeit zwischen den Weltkriegen bis zur Flucht aus Jugoslawien im August 1992. Herzstück dieses Teils ist das fünfte und zugleich das längste Kapitel des Bandes, »Oskorusˇa, 2009« (S. 18), in dem das Heimatdorf und der Stammbaum des lange verstorbenen Großvaters väterlicherseits eingeführt werden. Es folgen 25 Abschnitte, in denen sich der Erzähler seinem Leben nach der Ankunft in Heidelberg widmet. Das zentrale Kapitel blickt hier nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft, und es trägt einen entsprechenden Titel: »Was hast du später vor?« (S. 155) Darin vorgestellt werden Sasˇas Schulfreunde, fast alle mit Wurzeln außerhalb der BRD und damit beschäftigt, Deutschland zu einer neuen Heimat zu machen. In den letzten sieben Kapiteln des Haupttextes wendet sich der Erzähler dem Bosnien der Gegenwart zu. Die Abschweifungen in die Vergangenheit haben ein Ende und im Zentrum steht nur mehr der körperliche und geistige Verfall der Großmutter. Doch bevor diese sich dem Unvermeidlichen stellen muss, zieht Sasˇa die erzählerische Reißleine und führt die Leser und Leserinnen ohne Überleitung in den »Drachenhort«. Die Wendung zum Choose Your Own Adventure wird eingangs vorbereitet und indirekt begründet. Sasˇa berichtet davon, wie er Rollenspielbücher als Heranwachsender entdeckt hat und zitiert dabei – in einem metaleptischen Bruch – genretypische Formulierungen, die in »Der Drachenhort« wörtlich wiederkehren (S. 12 und S. 318). Verbindungen zwischen dem narrativen Verfahren des Choose Your Own Adventure und seinen eigenen Erzählstrategien entwickelt er unmittelbar im Anschluss an »Oskorusˇa, 2009«. Es ist das einzige Kapitel mit einer englischsprachigen Überschrift (das Rollenspielbuch entstammt dem englischsprachigen Raum), und die Überschrift bedient klar die literarische Tradition: »Lost in the strange, dimly lit cave of time« (S. 35). Als ›spärlich beleuchtete Höhle der Zeit‹ konzipiert der Erzähler seine Familiengeschichte, für die er einige Anfänge sucht, bis folgende Formel die Lösung bringt: »Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten« (S. 36). Herkunft als Ganzes gewinnt dadurch den Anstrich eines Choose Your Own Adventure, wie Sasˇa sofort einräumt. Ich werde einige Male ansetzen und einige Enden finden, ich kenne mich doch. Ohne Abschweifung wären meine Geschichten überhaupt nicht meine. Die Abschweifung ist der Modus meines Schreibens. My own adventure. (S. 36)

Damit wird der unorthodoxe Abschluss der Familiengeschichte, die an sich nur einen Zielpunkt kennen sollte, nämlich die Gegenwart, bereits eingangs vorweggenommen.

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Die Gestaltung der Zeit ist ähnlich eigentümlich. Unstrukturiert und in hoher Frequenz oszilliert Herkunft zwischen einer Rahmenerzählung, die mit der Niederschrift des Textes zusammenfällt, und einer Binnenerzählung, die vom frühen 20. bis ins frühe 21. Jahrhundert reicht. In einem einzigen, fünfseitigen Kapitel springt der Text sogar zwei Male zwischen unterschiedlichen Zeitpunkten in der Gegenwart (dem 29. August und dem 21. September 2018) und den letzten Jahren des Jugoslawischen Staates (S. 95–99). Seinen eigenen historischen Standort fixiert der Erzähler mit tagebuchartigen Datumsangaben, die jedoch nicht in chronologischer Folge auftauchen: »Heute ist der 25. September 2017« (S. 29), »Heute ist der 24. August 2018« (S. 79), »Heute ist der 7. Februar 2018« (S. 81), usw. Die Binnenerzählung würde das Material für einen Generationenroman in der Tradition des frühen 20. Jahrhunderts liefern: Brautwerbung und Heirat der Groß- und Urgroßeltern, ihre Erfahrungen im Weltkrieg, die nächste Generation im Sozialismus, Flucht aus Jugoslawien und Ankunft in der deutschen Gesellschaft. Sasˇa inszeniert sich jedoch als Erzähler, der an der Herausforderung eines solchen Familienepos scheitert. Konfrontiert mit dem Kontrast zwischen seiner Erfolgsgeschichte in Deutschland und dem tragischen Zerbrechen seiner Familie, resümiert er lakonisch: »Literatur ist ein schwacher Kitt. Das merke ich auch bei diesem Text. Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte« (S. 212). Selbstironisch kommentiert er auch die Suche nach einer integrativen Schlusspointe für die disparaten Schicksale. Nachdem er das Fazit seiner Heidelberger Jahre gezogen hat – »Ich war für das Dazugehören« –, tut sich gleich der nächste Abgrund auf: »Das ist ein Fazit, in dem ich irgendwie die Kurve wieder nach Oskorusˇa kriegen muss« (S. 216). Schließlich wird auch die Erzählung als Ganzes Gegenstand ironischer Reflexionen: »Was ist das für ein Buch? Wer erzählt? […] Es schreibt ein Vierzigjähriger auf einem Balkon in Hamburg. Es ist Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Heute ist der.« (S. 223) Der letzte Satz bleibt Ellipse, als hinterfrage er den Versuch, den eigenen historischen Standort mit tagebuchartigen Zeitangaben zu fixieren. Dieses Spiel mit der Zeit ist Teil des Spiels mit der literarischen Tradition insgesamt. Als Herkunft den Deutschen Buchpreis für das Jahr 2019 gewinnt, lobt die Kommission insbesondere die formale Offenheit des Werks. »Der Autor«, heißt es in der Begründung der Jury, »adelt die Leser mit seiner großen Phantasie und entlässt sie aus den Konventionen der Chronologie, des Realismus und der formalen Eindeutigkeit.«2 Auch die Kritik würdigt die offene Form. Herkunft, so eine Rezensentin, sei »kein Roman, keine linear erzählte Autobiografie und kein politischer Essay, aber das Buch hat von allen drei Formen etwas. Nicht zu 2 Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, »Sasˇa Stanisˇic´ erhält den Deutschen Buchpreis 2019 für ›Herkunft‹«, https://www.deutscher-buch preis.de/news/eintrag/sasa-stanisic-erhaelt-den-deutschen-buchpreis-2019-fuer-herkunft/.

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vergessen ein paar Spritzer Fantastik.«3 Auch der Stil, so eine andere Stimme, ließe sich nicht eindeutig beschreiben, er sei »mal anekdotisch, mal nachdenklich, dann wieder phantastisch [sic]«.4 In einem sind sich die Kritiker und Kritikerinnen jedoch einig: Keiner möchte sich auf den Begriff der Autobiografie festlegen. Es ist ein »autobiografisches Buch«,5 ein »Herkunftsbuch«,6 »eine Autobiografie und doch keine.«7 Der Erzähler selbst kokettiert mit seinem Pendeln zwischen Fakten und Fiktionen. Zu den Erinnerungen der dementen Großmutter heißt es einmal: »Fiktionen sind hineingewoben. Mit denen kann ich etwas anfangen« (S. 46). Schlitzohrig kommentiert er die Verlusterfahrungen der Mutter: »Das, was ihr fehlt, ergänzt sie heute nicht mit Erfindungen, wie ich« (S. 117). Schließlich erklärt er geradeheraus in einer volksliedhaften Sentenz: »Ich richte mich in der Vergangenheit ein, nicht einmal Tatsache muss sie sein« (S. 273). Gewitzt manipuliert er auch die Sprache, beispielsweise in einer Beschreibung der Flucht aus Jugoslawien: Als ein Polizist seiner Mutter »nahelegte, aus Visˇegrad zu verschwinden, weil es den Muslimen bald an den Kragen ginge, lautete ihre Antwort in einem Leben, das ich für sie geschrieben hätte: ›Wer hat entschieden, dass ich eine Muslima bin?‹« (S. 118) Die ungewöhnliche, ironische Verbindung von Präteritum (»lautete«) und Konjunktiv (»geschrieben hätte«) streicht heraus, wie sehr die Geschichte doch unter der Kontrolle des angeblich überforderten Erzählers steht. Eine Rezensentin erkennt in dieser Verknüpfung »verschiedener Idiome, Erzähltechniken und Wahrnehmungsweisen« sogar Verbindungen zum Werk von James Joyce.8 Noch bedeutender sind jedoch die Bezüge zur Literatur der Romantik.

III

Romantik

Nicht von ungefähr entwickelt der Erzähler im Lauf der Geschichte eine besondere Affinität zum Dichter Joseph von Eichendorff. Die strukturellen Besonderheiten von Herkunft lassen sich oftmals auf die Romantik zurückführen. Die Entwicklung aufwendiger Rahmenerzählungen gehört bei Autoren wie Eichendorff, Hoffmann und Tieck zum innovativen Formeninventar. Friedrich Schlegel, 3 Elke Biesel, »Eine grüne Schlange im Baum«, in: Kölnische Rundschau, 5. April 2019, S. 7. 4 Sandra Kegel, »Heimat ist, wo die Drachen sprechen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. März 2019, Literaturbeilage, S. L6. 5 Richard Kämmerlings, »Wo auf jedem Grab dein Name steht«, in: Die Welt, 16. März 2019, S. 27. 6 Tobias Rüther, »Solange du schreibst, darfst du bleiben«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17. März 2019, S. 35. 7 Cornelia Geißler, »Das Abenteuer-Buch«, in: Frankfurter Rundschau, 2. April 2019, S. 30. 8 Marie Schmidt, »Woher, wohin«, in: Süddeutsche Zeitung, 19. März 2019, Literaturbeilage, S. V2.

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seinerseits, formulierte die Prinzipien der romantischen Ironie. Diese wurde »als ein infinites Widerspiel entgegengesetzter Momente konzipiert, dessen Zweideutigkeit sich nicht mehr in Eindeutigkeit überführen und auflösen lassen soll«.9 In dieser Tradition bewegt sich der Erzähler von Herkunft mit seiner Idee einer offenen Erinnerungsliteratur. Dabei heißt »›Idee‹ im Sinne des ironischen Idealismus […] nicht eine begrifflich vermittelte Identität, sondern die permanente Vergegenwärtigung einer unaufhebbaren Differenz.«10 Besonders eindrücklich formuliert Sasˇa eine derartige unaufhebbare Differenz, eine unauflösbare Zweideutigkeit, im letzten Kapitel des Haupttextes, das den Titel »Epilog« trägt (S. 285). Es geht um den Widerspruch zwischen Identität und Erinnerung: »Die Sprache«, so der Erzähler, »wird weiterfließen, Einer überleben, um zu erzählen. Um zu sagen: Mein Leben ist unbegreiflich« (S. 286). Das Unbegreifliche der Identität mit Worten fassbar zu machen – in dieser Aporie spiegelt sich idealtypisch die Tradition der romantischen Ironie wider. Gleichzeitig ist es eine programmatische Aussage über das unvermeidliche Scheitern konventioneller Erzählformen (worauf konsequent der Wechsel zum Choose Your Own Adventure folgt). Der Name Eichendorff taucht zuerst in einer verbalen Auseinandersetzung auf einem Grillplatz bei Heidelberg auf. Von einem alkoholisierten Junggesellenabschied klingt es zur multikulturellen Gruppe des Erzählers herüber: »Das ist deutscher Wald, ihr Pisser«, was dieser im Rückblick »als Versuch werte[t], Eichendorff in die Gegenwart zu holen« (S. 203). Wirklich eingeführt wird der Dichter auf umständliche Weise. Im großen Auftaktkapitel von Herkunft, »Oskorusˇa, 2009«, beschreibt der Erzähler eine offensichtlich symbolträchtige Szene: Bei einer Brotzeit auf den Gräbern des Familienfriedhofs tritt Sasˇa beinahe auf eine giftige Schlange, eine Hornotter, die sich daraufhin in den Zweigen eines Obstbaums niederlässt. Die mythisch anmutende Episode mit Anspielungen auf den Beginn der biblischen Genealogie wird für den Erzähler zu einer Art Urszene. Er habe sich »nach dem Besuch des Friedhofs tatsächlich Gedanken gemacht, irrsinnig und irrelevant, dass ich der letzte Stanisˇic´ sei. […] Ich begann mich mit meiner Herkunft zu beschäftigen, gab es aber lange nicht zu« (S. 62). So sei Heimat zu seinem Thema geworden, zusätzlich angetrieben vom Verfall der Großmutter: »Heimat, sage ich, ist das, worüber ich gerade schreibe. Großmütter. Als meine Großmutter Kristina Erinnerungen zu verlieren begann, begann ich, Erinnerungen zu sammeln« (S. 63). Mit dem Fortgang der Geschichte muss der Erzähler seine Erinnerungen jedoch zunehmend hinterfragen, so auch die erzähltechnisch vielversprechende Geschichte mit der Schlange im Baum. Denn 9 Peter L. Oesterreich, »Ironie«, in: Romantik-Handbuch, hg. von Helmut Schanze, Stuttgart: Kröner 2003, S. 352–366, hier S. 357. 10 Ebd.

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»das Naturhistorische Museum in Wien sagt, Hornottern seien immens schlechte Kletterer« (S. 223). Die Schlange als Motiv ist daher nicht mehr tragbar. »Sie muss sich also wandeln. Sich häuten, als zöge sie eine Maske ab. […] Dafür bräuchte sie einen Namen: Josip Karlo Benedikt von Ajhendorf. Nicht zu verwechseln mit dem romantischen Dichter« (S. 223). Ein erzählerischer Kurzschluss ersetzt also das biblische Bild mit einer Brücke zur Romantik. Der Vorsatz, den Dichter nicht mit seinem serbokroatischen Doppelgänger zu verwechseln, hat nicht lange Bestand. Der Erzähler ruft sich noch zu: »Sich die Schlange nicht als Dichter vorstellen: Herrenrock. Stehkragen, breites Revers, Schnurrbart. Da ist er schon. Ruht, seufzend und verschroben, in der Krone, sich selbst Versuchung« (S. 224). Die poetische Versuchung des Schlangenmotivs ist verdrängt, und stattdessen gibt der Dichter einige seiner berühmtesten Verse zum Besten. Sasˇa ist schnell versöhnt: »Der Lyriker im Baum gefällt mir besser als das Reptil im Baum« (S. 224). Für die plötzliche Begeisterung für Eichendorff identifiziert er einen banalen Grund: »Ich nenne das Projekt RIESENABLENKUNGSMANÖVER, BEVOR GROSSMUTTER VERSCHWINDET« (S. 227). Tatsächlich verrät der Text aber eine tief empfundene Wahlverwandtschaft mit dem romantischen Dichter. Für Ijoma Mangold eröffnet sie den Zugang zur neuen Heimat: Stanisˇic´ [entdeckt] die deutsche Romantik und überholt die Deutschen gewissermaßen, indem er das Heidelberger Schloss, Hölderlin und Eichendorff umarmt und besser zum Singen bringt als jede Kartoffel [sic].11

Dabei ist es jedoch bezeichnend, dass den Erzähler nicht etwa ein Protagonist der Heidelberger Romantik begeistert, sondern »ein ernst dreinblickender Oberschlesier mittleren Alters« (S. 224). Eichendorff ist zwar Koryphäe jener Epoche, die den Heimat- und Nationengedanken massenwirksam werden ließ; er selbst verarbeitete in seiner Lyrik jedoch vielmehr diejenigen Themen, die auch in Herkunft im Mittelpunkt stehen, Heimweh und Heimatverlust. Auch der Erzähler besinnt sich letzten Endes auf die naheliegenden Parallelen zwischen seinen Verlustgefühlen und der für Eichendorffs Lyrik charakteristischen Sehnsucht:12 »Seine Biografie rührt mich. Es rührt mich, dass er Beamter war, in Amtsstuben Insekten jagte, die über seinen Tisch krabbelten, aber dieses Fernweh in sich trug« (S. 228; Hervorhebung des Verfassers). Insgesamt sieben Eichendorff-Gedichte zitiert Herkunft im unmittelbaren Anschluss an die Verwandlung der Schlange in den Dichter, in einem Kapitel, das zudem als Titel ein Eichendorff-Zitat trägt: »Es ist, als hörtest du über dir einen

11 Ijoma Mangold, »Die Deutschen überholen«, in: Die Zeit, 14, März 2019, S. 10. 12 Katja Löhr, Sehnsucht als poetologisches Prinzip bei Joseph von Eichendorff, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 11.

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frischen Flügelschlag« (S. 223). In fast allen diesen Gedichten, die der Text nur ausschnittweise wiedergibt, »oszilliert die Sehnsucht«, wie für Eichendorff typisch, »zwischen dem ersehnten Zustand und der je und je entgegenstrebenden Realität.«13 Paradigmatisch dafür ist das erste Gedicht, »Der Unverbesserliche«, in dem sich ein reifer Mann nach den Naturerlebnissen der Jugendzeit sehnt: »Die lustigen Kameraden, / Lerchen, Quellen und Wald, / Sie rauschen schon wieder und laden: / Geselle, kommst du nicht bald?« (S. 224) Von verlorener Liebe und gegenwärtiger Todessehnsucht erzählt das Volkslied gewordene »Zerbrochene Ringlein«: »In einem kühlen Grunde / Da geht ein Mühlenrad, / Mein’ Liebste ist verschwunden, / Die dort gewohnet hat« (S. 225). In »Erinnerung« spürt das lyrische Ich in der Natur seiner Einsamkeit nach: »Lindes Rauschen in den Wipfeln, / Vöglein, die ihr fernab fliegt, / Bronnen von den stillen Gipfeln, / Sagt, wo meine Heimat liegt?« (S. 226) Ein ähnliches Bild evoziert »Heimweh« (S. 228), wobei Herkunft die einschlägigen Verse ausspart: »Was wisset Ihr, dunkele Wipfeln, / Von der alten schönen Zeit? / Ach, die Heimath hinter den Gipfeln, / Wie liegt sie von hier so weit.«14 Selbst im eigentlich humoristischen »Mandelkerngedicht« (S. 228) wird die Sehnsucht zum Thema: »Als an Lenz und Morgenröte / Noch das Herz sich erlabete, / O du stilles, heitres Glück! / Wie ich nun auch heiß mich sehne, / Ach, aus dieser Sandebene / Führt kein Weg dahin zurück«.15 Diese Spannung zwischen Präsens und Präteritum, zwischen der prosaischen Gegenwart der Sandebene und der poetischen Morgenröte des Frühlings, bestimmt weitgehend auch die Struktur von Herkunft. Die Assoziation mit Eichendorffs Sehnsuchts-Poetik wird auch zum Ende des Bandes, in »Der Drachenhort«, noch einmal nachdrücklich hergestellt, und zwar durch ein besonders einschlägiges Gedicht. Es ist das durch die MendelssohnVertonung weltberühmt gewordene »Abschied«, in dem das lyrische Ich im Zwiegespräch mit dem Wald u. a. erklärt: »Bald werd ich dich verlassen, / Fremd in der Fremde gehn«.16 Für den Erzähler von Herkunft folgt auf das Gedicht ein doppelter Verlust. Ein letztes Mal versetzt er sich in eine Vergangenheit, in seine Kindheit, in der die Großeltern noch leben. »Ich öffne die Augen. Großmutter und Großvater sitzen da und sehen einander an« (S. 349). Er muss sich nun nicht nur von diesen beiden verabschieden, sondern auch von ihrer Welt, die mit der Erzählung endet. »Jetzt weiß ich nicht, wie es weitergeht«, muss sich Sasˇa eingestehen, woraufhin auch das Kind leichtfüßig in die Vergangenheit entschwindet. »Ich sage: ›Bis später.‹ Und laufe raus, spielen« (S. 349). Unter diesem poetischen Bild steht ein »ENDE«; handelt man jedoch den Anordnungen des 13 Ebd. 14 Joseph von Eichendorff, Werke in sechs Bänden, Bd. 1 (Gedichte. Versepen), hg. von Hartwig Schultz, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, S. 253. 15 Ebd., S. 236. 16 Ebd., S. 346.

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Erzählers zuwider und blättert wie ein traditioneller Leser auf die nächste Seite, so findet man sich nicht nur auf der tatsächlich letzten Seite des Buches wieder, sondern auch zurück in der prosaischen Lebenswelt. »Oder möchtest du ein Ende, wie es wirklich war?« (S. 350), leitet der Erzähler diesen Abschnitt ein, bevor er über die Umstände von Kristinas Beerdigung berichtet. Wie in den Eichendorff-Gedichten bestimmt bis zuletzt die Spannung zwischen poetischer Vergangenheit und prosaischer Gegenwart die Dynamik des Werkes.

IV

Frei-Zeit

Der Erzähler ist wie Eichendorffs lyrisches Ich auf der Suche nach Orten und nach Zeiten. »Wann ist hier«, so Tobias Rüther, »das ist die Frage der Herkunft, die Sasˇa Stanisˇic´ stellt.«17 Dabei stehen zwei Einstellungen zur Zeit in Konkurrenz zueinander, ein nostalgisches und ein elegisches Zeitempfinden. Sasˇa zählt sich zunächst zur ersten Gruppe; im zentralen Kapitel der Heidelberger Jahre – »Was hast du später vor?« – beschreibt er sich selbst sogar als »kitschiger Nostalgiker mit Heimweh« (S. 160). »Meine Erinnerungen sind Variablen der Sehnsucht«, erklärt er kurz davor, und seine spätere Einlassung zur Literatur als Kitt – »Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte« – mag man sogar als poetische Definition von Nostalgie gelten lassen. Herkunft hält den nostalgischen Ton jedoch nicht bis zum Ende durch. Der Umschwung erfolgt bezeichnenderweise kurz nachdem sich die Geschichte von Heidelberg ab- und erneut Bosnien und der sterbenden Großmutter zugewandt hat, in eben jenem Kapitel, in dem sich die Schlange Ajhendorf in den romantischen Dichter verwandelt. »Ich habe das Betrügerische der Erinnerung satt«, heißt es nun, »und das Betrügerische der Fiktion allmählich auch« (S. 224). Das Heile lässt sich nicht mehr beschwören, das Kaputte nicht mehr überbrücken. Damit bliebe nur mehr der Blick des elegischen Dichters, der die verloren gewusste Zeit aus der historischen Distanz beklagt. Der Konflikt zwischen Nostalgie und Elegie kommt auch im Choose Your Own Adventure zur Sprache, bei dem Versuch also, mit »Der Drachenhort« den Erzähltod der Großmutter hinauszuzögern. Die Anleitung im Nebentext macht zum Ende eines Erzählstrangs hin zwei Angebote, wobei das erste mit seiner Datumsangabe auf die Realität der Lebenswelt verweist: »Heute ist der 31. Oktober 2018. Für mich ist es Zeit, die Fiktion zu verlassen. Meine Großmutter lebt nicht mehr.« (S. 331) Die andere Option: »Niemals aufhören, Geschichten zu erzählen. Ihr steigt tiefer in den Berg auf Seite 338« (S. 331). Die zweite Variante sperrt sich gegen den Fortgang der Zeit; es ist eine Einladung, in der Vergan17 Tobias Rüther, »Solange du schreibst, darfst du bleiben« (Anm. 6), S. 35.

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genheit zu schwelgen. Die erste Variante gibt die Vergangenheit verloren, und hier kommt ausgerechnet vonseiten der Großmutter Unterstützung. Die jüngst Verstorbene ist mit dem Erzähler spätnachts nach Oskorusˇa gefahren, um im von Drachen bewohnten Hausberg nach dem schon lang verstorbenen Großvater zu suchen. Die Helden des fantastischen Abenteuers kommen nicht ans Ziel, doch als ein Rückzug ins Spiel gebracht wird, erklärt die Großmutter resolut: »Zurück ist unmöglich. […] Eine gute Geschichte«, sagt sie, »ist wie früher unsere Drina war: nie stilles Rinnsal, sondern ungestüm und breit. Zuflüsse reichern sie an, sie brodelt und braust, tritt über die Ufer. Eines können weder die Drina noch die Geschichten: Für beide gibt es kein Zurück.« Großmutter sieht dich an. »Ich wünsche mir, dass wir endlich ankommen […].« (S. 330)

Der allegorische Vergleich leistet hier zweierlei. Einerseits steht er ein für eine elegische Lesart der Erinnerungen: Der Lebensfluss lässt sich nicht umkehren, nicht einmal in der Fiktion. Andererseits ruft das Bild der Visˇegrader Drina, die ebenso unablässig dahinfließt wie die Zeit, den literarischen Koloss ins Bewusstsein, der beständig im Hintergrund der Erzählung lauert, der jedoch nie voll in Erscheinung treten darf. Implizit ist Ivo Andric´ mit seinem Roman Die Brücke über die Drina (1945) jedoch das paradigmatische Vorbild, gegen das sich Herkunft abgrenzt. Obgleich Visˇegrad ein wiederkehrendes Thema ist, finden sich nur spärliche Hinweise auf Andric´ und die durch seinen Roman weltberühmt gewordene Mehmed-Pasˇa-Sokolovic´-Brücke. Diese Hinweise werden zudem meistens von Außenstehenden in die Geschichte hineingetragen. Erste Quelle ist Sasˇas ehemaliger Geschichtslehrer, der ihm Fotos zeigt, die sein Vater während des Zweiten Weltkriegs in Visˇegrad aufgenommen hat. »Die Drina« ist auf den Bildern »immer da, unerschüttert selbstverständlich. Ein provisorischer Holzsteg verbindet die weißen Bögen der teils zerstörten alten Brücke« (S. 167). Erst viel später kommt der Erzähler bei einem nächtlichen Spaziergang durch Visˇegrad selbst »bei der alten Brücke« vorbei (S. 254) und stößt dort auf afghanische Flüchtlinge. Diese Begegnung löst eine Rückblende aus, bei der sich der Erzähler an die eigene Flucht mit der Mutter aus Bosnien im Jahr 1992 erinnert. Hier kommt es zur einzigen Erwähnung des jugoslawischen Nobelpreisträgers, als sich ein Busfahrer nach der Herkunft seiner Passagiere erkundigt. »›Woher kommt ihr?‹ ›Aus Visˇegrad.‹ ›Ivo Andric´?‹ ›Ivo Andric´.‹« (S. 261) Für den Busfahrer steht der Name metonymisch ein für die Identität der Flüchtenden oder aber derer, vor denen Mutter und Sohn fliehen. Nur einmal äußert sich der Erzähler von sich aus zum Phänomen ›Ivo Andric´‹, und dabei wird klar, dass seine Zurückhaltung wohl nicht in einer Abneigung gegen den Autor, sondern gegen dessen zeitgenössische Rezeption begründet liegt. Bei einem gedanklichen Streifzug durch Visˇegrad kommt Sasˇa auf den

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»Filmemacher Emir Kusturica« zu sprechen, der »auf der Landzunge zwischen den Flüssen […] die fantasielose Kitschfantasie eines Kunststädtchens mit Namen Andric´grad errichten [ließ]« (S. 247). Das vernichtende Oxymoron »fantasielose Kitschfantasie« lädt ein zur Assoziation mit der ironischen Selbstbeschreibung des Autors als »kitschiger Nostalgiker« – ein Zustand, den es im Lauf der Handlung zu überwinden gilt. Kitsch ist die große Versuchung in Herkunft, auch zu Beginn schon, als dem Erzähler unter dem symbolträchtigen Schlangenbaum in Oskorusˇa Lobgesänge auf die Heimat aufgedrängt werden. »Zugehörigkeitskitsch« (S. 33), meint er dazu, und er fragt sich, wozu diese »Bilder vom todgeweihten Leben auf dem Land« dienen sollen – »Mehr Herkunftskitsch, den ich reproduzieren könnte?« (S. 48) Diese Komposita lassen sich ohne Weiteres auf Andric´grad übertragen. Hier wurde ein komplexes literarisches Erbe, das vielseitige Erzählwerk eines Nobelpreisträgers, nach dem Zerfall Jugoslawiens auf Zugehörigkeits- und Herkunftskitsch reduziert. Die Stadt dient heute der romantischen Glorifizierung serbischer Künstler, Wissenschaftler und Politiker, mit dem Schriftsteller und Staatsmann Andric´ an der Spitze. »[This] places Andric´grad firmly in the sphere of mythistorical time, where one can also easily draw an uninterrupted line between the various martyrs for the Serbian cause«.18 Andric´ selbst wurde im späten 20. Jahrhundert zu einer nationalen Leitfigur verklärt. »In the times since the Bosnian war of the 1990s, Andric´ has been elevated to a national hero (or a villain, as the case may be) of epic proportions on more than one occasion.«19 Dabei bemühen sich nicht nur serbisch-nationale Kreise, sondern auch Bosnier und Kroaten um eine Vereinnahmung des Autors (daher erscheint er manchmal auch als »villain«, als Bösewicht). »Each ethnic group either embraced him as a symbol of their claims to national superiority (›our‹ Nobel prize winner) or rejected him as a quasi-Yugoslav proponent of their enemy’s (Serbian, Croatian, or Muslim) agenda.«20 In der bis heute umstrittenen postjugoslawischen Landschaft, in deren Zentrum man Visˇegrad mit dem Vorort Andric´grad verorten mag, ist Andric´’ Vermächtnis inzwischen Teil des ethnischen Konflikts. Die Auswüchse postjugoslawischer Nationalismen sind in Herkunft durchweg präsent, so auch im großen Expositionskapitel »Oskorusˇa, 2009«, als der Erzähler, Produkt einer bosnisch-serbischen Ehe, seine väterlichen Verwandten in der Republika Srpska besucht. Dieses bis heute umstrittene Territorium war zentraler Schauplatz des Bosnienkriegs, und hier wurden auch besonders viele 18 Natasˇa Kovacˇevic´, »Failures of Community: Andric´ in Andric´grad«, in: Claiming the Dispossession: The Politics of Hi/storytelling in Post-Imperial Europe, hg. von Vladimir Biti, Leiden/Boston: Brill 2017, S. 177–193, hier S. 188. 19 Marina Antic´, »Ivo Andric´: Against National Mythopoesis«, in: Slavic Review 77/3 (2018): 704–725, hier S. 705. 20 Natasˇa Kovacˇevic´, »Failures of Community: Andric´ in Andric´grad« (Anm. 18), S. 186.

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bosnische Muslime zu Opfern von Völkermord und ethnischen Säuberungen (der Verwaltungsbezirk Visˇegrad grenzt im Norden an den Bezirk Srebrenica). Im Haus seiner Verwandten entdeckt der Erzähler Spuren des Konflikts, insbesondere »zwei gerahmte Fotos von den Kriegsverbrechern Radovan Karadzˇic´ und, in Uniform, Ratko Mladic´« (S. 48), beides zentrale Entscheidungsträger im Völkermord an den bosnischen Muslimen. Auch in Visˇegrad finden sich überall unsichtbare Narben des Krieges. Bei der Erinnerung an eine Familienfeier aus dem Jahr 1990 beispielsweise, unweit des städtischen Kurbads, ergänzt der Erzähler unvermittelt: »Im Visˇegrader Kurbad werden zwei Jahre später dutzende muslimischen Frauen verschleppt, vergewaltigt, getötet« (S. 193). Der letzte Familienausflug nach Oskorusˇa schließlich ist durchsetzt mit nationalchauvinistischen Symbolen. Der bosnischen Mutter droht das »kyrillische [serbische] Graffiti« am Straßenrand: »Für König und Vaterland. / Das Heilige gebt nicht den Hunden. / Unser Blut, unser Land« (S. 262); und bei einem Händler am Straßenrand entdeckt der Erzähler ein »Tattoo am linken Unterarm, Schwert und Schild« (S. 263), u. U. ein Hinweis auf die Beteiligung am Krieg, der seine Familie zur Flucht zwang. Auch im Werk von Ivo Andric´ lassen sich z. T. nationalchauvinistische Tendenzen nachvollziehen, die in der Tradition der serbischen Nationalliteratur stehen. The nexus between Serb national epics and the construction of Bosnian Muslims as an insipid and alien presence in the region is a tradition that continued unbroken during the Tito era in the works of the most prominent Yugoslav homme de lettres, Ivo Andric´.21

Bis heute bleibt jedoch umstritten, ob dies auch auf Die Brücke über die Drina zutrifft. Für manche liest sich der Roman als Geschichte einer nationalen Erweckung, als Befreiung von fünf Jahrhunderten osmanisch-muslimischen Einflusses auf dem Balkan.22 Gegen die Vorstellung einer derartigen »national mythopoesis«23 hat zuletzt Marina Antic´ argumentiert, und zwar – bemerkenswerterweise – mit Bezug auf den Debutroman von Sasˇa Stanisˇic´, Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006). Stanisˇic´ spiele in seinem Text nicht nur mit der Andric´-Rezeption; es gehe ihm vielmehr darum, den nationalchauvinistischen Missbrauch des Autors anzuprangern. »[It is] a deeply sardonic comment on the national(ist) use and misuses of Andric´’s literature in former Yugoslavia.«24 21 Mujeeb R. Khan, »The Islamic and Western Worlds: ›End of History‹ or the ›Clash of Civilizations‹«, in: The New Crusades: Constructing the Muslim Enemy, hg. von Emran Qureshi und Michael Sells, New York: Columbia University Press 2003, S. 170–202, hier S. 185. 22 Mustafa Bal, »Romantic Piers on the Bridge on the Drina«, in: Serbian Studies: Journal of the North American Society for Serbian Studies 21/1 (2007): 87–98, hier S. 87. 23 Marina Antic´, »Ivo Andric´: Against National Mythopoesis« (Anm. 19), S. 705. 24 Ebd.

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Damit räumt Antic´ jedoch auch ein, dass sich Die Brücke über die Drina offenbar sehr leicht gegen den Strich lesen und für nationalistische Lesarten in Anspruch nehmen lässt. Dieses Potenzial zum ideologischen Missbrauch begründet sich nicht zuletzt in der Struktur des Romans, v. a. in seiner Zeitstruktur. Mustafa Bal hat unlängst herausgearbeitet, dass romantische Erinnerungsformen den Text organisieren. »The Romantic concept of memory«, so Bal, »acts as a bridge connecting the past and the present.«25 Eine solche nahtlose Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart bildet das Fundament des romantischen Nationalismus. Aus den ununterbrochenen Verbindungslinien, die vom Mittelalter bis in die Jetztzeit führen, lassen sich schließlich für die Zeitgenossen nationale Handlungsgebote entwickeln. Der serbische Mythos von der Schlacht auf dem Amselfeld (1389) und seine Auswirkung auf den Bosnien- und Kosovo-Krieg ist ein naheliegendes Beispiel.26 Für den Erzähler von Herkunft eröffnet die vom romantischen Nationalismus abgeleitete Erzähltradition, die mit ungebrochenen Kausalketten gegenwärtige Besitzansprüche legitimiert, einen tiefen Abgrund. Die Handlung von Herkunft ist letzten Endes motiviert von der Frage, ob es dem Erzähler gelingen kann, von diesem Abgrund zurückzutreten und standfest zu behaupten: »Herkunft ist Zufall« (S. 178). Erneut ist es das bedeutungsschwangere Kapitel »Oskorusˇa, 2019«, in dem Sasˇa diesen Konflikt formuliert. Die erste Hälfte des Zitats ist bekannt: Ich habe mir nach dem Besuch des Friedhofs tatsächlich Gedanken gemacht, irrsinnig und irrelevant, dass ich der letzte männliche Stanisˇic´ sei. Dass ich die Sackgasse sein könnte, sollte ich kinderlos bleiben. Ich begann mich mit meiner Herkunft zu beschäftigen, gab es aber lange nicht zu. Es erschien mir rückständig, geradezu destruktiv, über meine oder unsere Herkunft zu sprechen in einer Zeit, in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienten, Grenzen neu befestigt wurden und sogenannte nationale Interessen auftauchten aus dem trockengelegten Sumpf der Kleinstaaterei. In einer Zeit, als Ausgrenzung programmatisch und wieder wählbar wurde. (S. 62)

Für den Erzähler gilt es, sich gegen solche Ausgrenzungstendenzen in der Herkunftsliteratur zu stellen, ein Buch zu verfassen, »das gegen die Wut geschrieben ist und gegen nationalistisch bewaffnete Kleingärtner.«27 Und doch scheint er innerhalb seiner Familie als Schriftsteller dazu berufen, fast schon dazu genötigt, eine Familienchronik oder gar einen Familienmythos zu verfassen, eine Ursprungserzählung der Stanisˇic´. Einen solchen Mythos kann ihm ein Verwandter 25 Mustafa Bal, »Romantic Piers on the Bridge on the Drina« (Anm. 22), S. 94. 26 Branimir Anzulovic, Heavenly Serbia: From Myth to Genocide, New York: New York University Press 1999. 27 Paul Jandl, »In der blau leuchtenden Republik Aral finden alle ein Zuhause«, in: Neue Zürcher Zeitung, 23. März 2019, S. 41.

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aus Oskorusˇa auch gleich anbieten. Er erzählt die Geschichte eines Vorfahren aus osmanischer Zeit, der sich auf der Flucht vor der Obrigkeit in einen Drachen verwandelte und sich mit seinen zwei Brüdern auf einem Berg niederließ. »Der Ort ist hier!«, verkündet schließlich der begeisterte Verwandte, »Oskorusˇa! Hier schlugen sie ihre Wurzeln! Stanisˇic´, Stanisˇic´, Stanisˇic´. Und jetzt – jetzt kommst du!« (S. 51) »Um darüber zu schreiben?«, fragt sich der Erzähler daraufhin, »über Vorfahren und Nachkommen. Gräber und Tischdecken und Wiedergänger. Überlebende. Und jetzt ja wohl auch über Drachen« (S. 51). Sowohl von der Verwandtschaft als auch von der Familiengeschichte selbst geht ein Druck aus, ein identitätsstiftendes Epos in der Tradition des romantischen Nationalismus28 zu verfassen. Herkunft umgeht diesen Abgrund, vermeidet den Herkunftskitsch, indem es die Zeitstruktur der Gattung sprengt. Dadurch schafft der Text Freiräume und Frei-Zeiten, um Identitäten zu formulieren, die weder geographische Ansprüche noch historische Verpflichtungen in sich aufnehmen, diese auch gar nicht erst zulassen. Das Abwerfen einer linearen Zeitstruktur ist dabei der erste und der wichtigste Schritt, da Chronologien das Fundament für mythologische Kausalketten legen. Zur so frei gewordenen Zeit muss sich aber auch ein freier Raum hinzugesellen, unbelastet von der symbolischen Geografie, die ihm von Menschenhand eingeschrieben wurde. Unter diesen Bedingungen ist es dem Erzähler schließlich möglich, seiner zutiefst ironischen Suche nach Herkunft nachzugehen. Den Ansatz dazu entwickelt der Text über die Figur der dementen Großmutter, deren Erinnerungsvermögen seine Chronologie eingebüßt hat. Kristina lebt, wie es der Erzähler andernorts für sich selbst wünscht, oftmals in zwei Zeiten zugleich. Für sie ist es im selben Moment »der 17. April 2018« und »ein Frühlingstag in Oskorusˇa, circa 1960«. Sie hat einen Schirm dabei, der Himmel ist klar, und es regnet gleich (S. 110). In diese Welt, in der ein klarer Himmel Regen produziert, klinkt sich Sasˇa ein auf seiner Flucht vor tradierten Zeit- und Erzählmustern. Die Demenzkrankheit der Großmutter dient dem Erzähler als Legitimation für Fiktion und Fabulieren, die Zeiten und Geschichten gehen […] so durcheinander wie im Kopf der resoluten Greisin, wenn sich Schlangen in Drachen und Großväter in Drachentöter verwandeln.29

Auf diese Weise gelingt es im Lauf der Handlung, mit Tradition überladene Erzählstränge aufzutrennen und zu entmythologisieren. 28 Thomas Nipperdey, »Auf der Suche nach der Identität: Romantischer Nationalismus«, in: Ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München: Beck 1986, S. 110–125, hier S. 111f. 29 Richard Kämmerlings, »Wo auf jedem Grab dein Name steht« (Anm. 5), S. 27.

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Paradigmatisches Beispiel hierfür ist das Schlangenmotiv, das sich leitmotivisch durch die gesamte Geschichte zieht und letztendlich unter dem Gewicht seines Symbolgehalts zusammenbricht. An die Assoziation mit dem Garten Eden schließt sich das Bild des Vaters an, der wie ein zweiter Adam das Kriechtier zerquetscht. Den Großvater bringt die Erzählung in Verbindung mit dem heiligen Georg, woraus sich ein wiederum biblisch abgesicherter Bezug zwischen Schlange und Drache ergibt. Auf diese Weise dreht der Erzähler die Motivkette immer weiter, bis sie ein absurdes Maß erreicht hat und im Eichendorff-Kapitel – mit dem Wechsel von nostalgischer zu elegischer Zeitbetrachtung – wie eine alte Schlangenhaut einfach abgeworfen wird. Ich stehe unter dem Baum der Erkenntnis, und der Baum wurzelt im Grab meiner Urgroßeltern, und im Geäst zischen keine Schlange und kein Symbol mehr. Er trägt einfach nur Blüten [.] (S. 275f.)

Die natürliche Welt begegnet nicht mehr als Zeichen, das vom Individuum ausgelegt werden muss, sondern als Differenz, die Verlust und unerfüllbare Sehnsucht evoziert. Ebenso bewahrt »Der Drachenhort« die Geschichte vor einem symbolträchtigen Schlussmoment, einer Verklärung der Großmutter zur Patriarchin im biblischen Sinne beispielsweise oder einer Weitergabe der metaphorischen Fackel an die nächste Generation. Den Erzähler habe hier »offensichtlich sein Formgenie gerettet«, meint Marie Schmidt: »Es muss auf die Art keinen Abschied geben von der Großmutter, oder eigentlich gibt es mehrere, parallel ablaufende. Das ist eine umwerfende Form für eine Elegie.«30 Bis zum letzten Moment bleibt der Erzähler dem Spiel mit der Erzählstruktur verpflichtet, denn selbst im Choose Your Own Adventure bricht der Text ständig mit den Konventionen. Zwei Mal gibt es Erzählstränge, die mehr als ein Ende anbieten (S. 340 und S. 344), und auch die wichtigste Vorgabe – »Lies das folgende nicht der Reihe nach!« (S. 291) – stellt sich als irreführend heraus. Würden die Leser und Leserinnen im »Drachenhort« niemals konventionell umblättern, kämen sie nie auf die Seite 344, auf der sich die Geschichte selbst augenzwinkernd unterbricht, und auch nicht auf die wirklich letzte Seite des Bandes, die das »Ende, wie es wirklich war«, bereithält. So bleibt bis zuletzt offen, mit welcher Lesestrategie man dem Willen des Erzählers tatsächlich folgt, und damit auch, welche Interpretation die Erinnerungen nahelegen. Somit endet der Text wiederum mit einer ironischen Note, und zwar ganz im Sinn der romantischen Ironie. Herkunft verläuft sich im »infiniten Widerspiel entgegengesetzter Momente, dessen Zweideutigkeit sich nicht mehr in Eindeu-

30 Marie Schmidt, »Woher, wohin« (Anm. 8), S. V2/3.

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tigkeit überführen und auflösen lassen«.31 Dies ist notwendig, um das Projekt einer offenen, neutralen und ideologiefreien Form der Erinnerungsliteratur umzusetzen. Schließlich kann ein solches Projekt sein Ziel nie erreichen, muss immer Projekt bleiben. Anders ist es nicht möglich, davon zu erzählen, dass das eigene Leben unbegreiflich ist (S. 286). Auf diese Aporie arbeitet der Erzähler den größten Teil seines Lebens hin, denn als Kriegsflüchtling ist er mit einer für sein Umfeld eindeutigen Biografie vorbelastet, die er z. T. auch internalisiert hatte. Mit Erleichterung reagiert er auf die verständige Anteilnahme der Eltern eines Schulfreundes, die auf die Entdeckung seiner bosnischen Familiengeschichte ausnahmsweise nicht mit peinlichen Allgemeinplätzen antworten, und die es ihm zur Wahl stellen, über die vom Krieg zerstörte Heimat zu sprechen. »Ich mochte lieber nicht« (S. 183). Ärgerlich ist ihm seine Unfähigkeit, bei seinem ersten Rendezvous selbst über den Erwartungshorizont seines deutschen Umfelds hinauszukommen. »Ich wollte etwas über mich erzählen, doch mir fiel wieder nur der bescheuerte Krieg ein. Das wollte ich nicht« (S. 145). Erst später im Leben findet er zu einer Sprache, die das Mehrdeutige seiner Existenz auszuhalten vermag. »Heidelberg«, sinniert er über seine zweite Heimat, »ist ein Junge aus Bosnien, der sich in den Weinbergen am Emmertsgrund von einem Mädchen Deutsch beibringen lässt« (S. 127). In dieser scheinbar schlichten Metapher spiegelt sich die Komplexität, die Herkunft seinem Thema einräumt.

Literaturverzeichnis Primärliteratur Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Bd. 1 (Gedichte. Versepen). Hg. von Hartwig Schultz. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987. Stanisˇic´, Sasˇa: Herkunft. München: Luchterhand 2019.

Sekundärliteratur Antic´, Marina: »Ivo Andric´: Against National Mythopoesis«. In: Slavic Review 77/3 (2018): 704–725. Anzulovic, Branimir: Heavenly Serbia: From Myth to Genocide. New York: New York University Press 1999. Bal, Mustafa: »Romantic Piers on the Bridge on the Drina«. In: Serbian Studies: Journal of the North American Society for Serbian Studies 21/1 (2007): 87–98. Biesel, Elke: »Eine grüne Schlange im Baum«. In: Kölnische Rundschau, 5. April 2019, S. 7. 31 Peter L. Oesterreich, »Ironie« (Anm. 9), S. 357.

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Geißler, Cornelia: »Das Abenteuer-Buch«. In: Frankfurter Rundschau, 2. April 2019, S. 30. Jandl, Paul: »In der blau leuchtenden Republik Aral finden alle ein Zuhause«. In: Neue Zürcher Zeitung, 23. März 2019, S. 41. Kämmerlings, Richard: »Wo auf jedem Grab dein Name steht«. In: Die Welt, 16. März 2019, S. 27. Kegel, Sandra: »Heimat ist, wo die Drachen sprechen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. März 2019, Literaturbeilage, S. L6. Khan, Mujeeb R. »The Islamic and Western Worlds: ›End of History‹ or the ›Clash of Civilizations‹«. In: The New Crusades: Constructing the Muslim Enemy. Hg. von Emran Qureshi und Michael Sells. New York: Columbia University Press 2003, S. 170–202. Kovacˇevic´, Natasˇa: »Failures of Community: Andric´ in Andric´grad«. In: Claiming the Dispossession: The Politics of Hi/storytelling in Post-Imperial Europe. Hg. von Vladimir Biti. Leiden/Boston: Brill 2017, S. 177–193. Löhr, Katja: Sehnsucht als poetologisches Prinzip bei Joseph von Eichendorff. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. Mangold, Ijoma: »Die Deutschen überholen«. Die Zeit, 14. März 2019, S. 10. Nipperdey, Thomas: »Auf der Suche nach der Identität: Romantischer Nationalismus«. In: Ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte. München: Beck 1986, S. 110–125. Oesterreich, Peter L.: »Ironie«. In: Romantik-Handbuch. Hg. von Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 2003, S. 352–366. Rüther, Tobias: »Solange du schreibst, darfst du bleiben: Sasˇa Stanisˇic´ und sein wundersames Buch ›Herkunft‹«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17. März 2019, S. 35. Schmidt, Marie: »Woher, wohin«. In: Süddeutsche Zeitung, 19. März 2019, Literaturbeilage, S. V2. Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels: »Sasˇa Stanisˇic´ erhält den Deutschen Buchpreis 2019 für ›Herkunft‹«. https://www.deut scher-buchpreis.de/news/eintrag/sasa-stanisic-erhaelt-den-deutschen-buchpreis-2019 -fuer-herkunft/.

Die Autorinnen und Autoren der Beiträge

Dr. Florian Gassner studierte an der Universität München und an der University of British Columbia (Kanada), wo er 2012 promoviert wurde. Er lehrt ebd. am Department of Central, Eastern and Northern European Studies. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die deutschsprachige Literatur aus dem heutigen Ost- und Südosteuropa, die Verbindung von Musik und Literatur und die Geschichte der Zensur. Monographien: Nikolaus Lenau (2012); Zensur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert: Begriffe, Diskurse, Praktiken (mit Nikola Roßbach; 2020). Dr. habil. Peggy Gehrmann (geb. Fiebich) studierte nach einer Lehramtsausbildung an der Universität Jena und war im Anschluss daran ebd. sowie an den Universitäten Hannover, Köln und Duisburg-Essen tätig. Promotion 2006; Habilitation 2014. Aktuell ist Peggy Gehrmann als Lerntherapeutin in Braunschweig tätig. Forschungsgebiete: Neuere deutsche Literatur (18. Jahrhundert bis zur Gegenwart); Didaktik der deutschen Literatur. Monographien: »Gefährten im Unglück«: Die Protagonisten narrativer Texte von E.T.A. Hoffmann sowie von Novalis, Goethe und Kleist (2007); Querdenken: Literarische Bildung und Transversale Vernunft (2016). Dr. Francesca Goll studierte an der University of Oxford, an der Sorbonne (Paris IV), an der London School of Economics und an der University of Nottingham, wo sie 2015 promoviert wurde. Sie ist Übersetzerin von Mascha Kaléko ins Italienische. Aktuell ist Francesca Goll Forschungsstipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung an der Universität München. Forschungsschwerpunkte: Raumtheorie; Literatur der DDR. Monographie: Mapping Spaces: Reimagining East German Society in 1960s Fiction (2019).

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Die Autorinnen und Autoren der Beiträge

Dr. Anita Gröger studierte an der Universität Freiburg i. Br. und an der Dalhousie University in Halifax (Kanada). Promotion 2015. Von 2012 bis 2017 war sie als DAAD-Lektorin an der Università di Genova tätig und arbeitet aktuell als DaF-Dozentin an der Università della Valle d’Aosta sowie als freie Wissenschaftlerin, u. a. für den Schulbuch-Verlag »La Scuola« und das Goethe-Institut Italien. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt liegt neben der Narratologie auf literatur- und sprachdidaktischen Themen. Monographie: Erzählte Zweifel an der Erinnerung: Eine Erzählfigur im deutschsprachigen Roman der Nachkriegszeit (1954–1976) (2016). Ass.-Prof. Dr. Ursula Klingenböck studierte an der Universität Wien und wurde ebd. promoviert. Sie wirkt als stellvertretende Vorständin des Instituts für Germanistik ebd. Forschungsgebiete: Neuere deutschsprachige Literatur (19. bis 21. Jahrhundert); Literaturvermittlung. Zahlreiche einschlägige Publikationen. Dr. Nils Lehnert studierte an der Universität Kassel, wo er 2018 promoviert wurde. Derzeit forscht und lehrt er als Postdoc ebd. zu literatur-, kultur- und medienwissenschaftlichen Fragestellungen vom 18. bis 21. Jahrhundert. Forschungsgebiete: Literatur und Psychologie; Literaturtheorie; Inter-/Transmedialität und Multimodalität; Popkultur; Kinder- und Jugendliteratur; Postdramatik; medienübergreifende Ästhetik des Idyllischen. Monographien: Oberfläche – Hallraum – Referenzhölle: Postdramatische Diskurse um Text, Theater und zeitgenössische Ästhetik am Beispiel von Rainald Goetz’ »Jeff Koons« (2012); Wilhelm Genazinos Romanfiguren: Erzähltheoretische und (literatur-)psychologische Zugriffe auf Handlungsmotivation und Eindruckssteuerung (2018). Dr. Pierre Mattern studierte in Essen und wurde an der Universität Bochum promoviert. Er war als Lehrbeauftragter ebd. und an der Université du Luxemburg tätig und ist einer der Übersetzer des Werks von Pierre Legendre. Aktuell wirkt Pierre Mattern als Übersetzer und Literaturwissenschaftler in Offenburg. Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts; Führerfiguren und Führungsprojekte 1900–1938; literarische Epiphanien nach 1990. Monographie: »Kotzebue’s Allgewalt«: Literarische Fehde und politisches Attentat (2011). PD Dr. Yvonne Nilges studierte an der Universität Heidelberg und an der Harvard University. Promotion 2006; Habilitation 2010. Von 2006 bis 2007 Visiting Fellow an der Harvard University; von 2007 bis 2010 Powys Roberts Fellow an der University of Oxford. 2009 Gastprofessorin an der University of Canterbury, Christchurch (Neuseeland). Privatdozentin an der Universität Heidelberg;

Die Autorinnen und Autoren der Beiträge

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Akademische Oberrätin a.Z. an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Forschungsgebiete: Neuere deutschsprachige Literatur im internationalen Kontext (17. bis 21. Jahrhundert); Literatur und Wissen; Literatur und Medienkultur; Literatur und Raum. Monographien: Richard Wagners Shakespeare (2007); Schiller und das Recht (2012); Thomas Mann in München: Religion und Narration (abgeschlossen; in Druckvorbereitung). Dr. David Österle studierte an der Universität Wien und wurde ebd. promoviert. Von 2011 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter, zuletzt stellvertretender Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie. Aktuell ist David Österle Assistent an der Universität Wien. Forschungsgebiete: Literatur und Kultur der Wiener Moderne; deutschsprachige Gegenwartsliteratur; kulturwissenschaftliche Raumtheorie; Repräsentationen von Arbeit und Beruf in Literatur und Kultur; Geschichte und Theorie der Biographie. Monographie: »Freunde sind wir ja eigentlich nicht«: Hofmannsthal, Schnitzler und das Junge Wien (2019). Prof. Dr. Hans-Joachim Schott studierte an der Universität Bamberg, wo er 2012 promoviert wurde. Habilitation 2019 ebd. Seit 2020 Professor für Soziale Arbeit an der IUBH Internationale Hochschule. Forschungsgebiete: Literaturund Kulturtheorie; literarische Strömungen der Moderne und Postmoderne; Geschichte und Theorie der Tragödie; Literatur und Philosophie. Monographien: »Unterm Kleid seid ihr nämlich alle nackt…«: Kynismus, Ideologiekritik und Interpretationismus beim jungen Brecht (1913–1931) (2012); Der unteilbare Andere: Studien zur literarischen Reflexion psychotischer Grenzerfahrungen (2020). Ass.-Prof. Dr. Riham Tahoun studierte an den Universitäten Kairo und Göttingen. Promotion 2007. Derzeit ist sie als Assistenzprofessorin an der Germanistischen Abteilung der Universität Helwan tätig. Zudem ist sie anerkannte Übersetzerin der Deutschen Botschaft in Kairo sowie Dolmetscherin und Trainerin an der DAAD Kairoer Akademie. Forschungsgebiete: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten; Literatur und Emotionen; Komparatistik; Literaturdidaktik. Monographie: Dramatisches Rollenspiel und Identitätsproblematik in ausgewählten deutschsprachigen Theaterstücken der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts (Diss. masch. Kairo 2007).