Der Gang aufs Land: Eine Poetologie des Wissens über rurale Räume in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 9783839465684

Seit mehreren Jahren erzählt eine Vielzahl von Büchern von Umzügen in ländliche Gebiete und von der Entdeckung eines neu

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Der Gang aufs Land: Eine Poetologie des Wissens über rurale Räume in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
 9783839465684

Table of contents :
Editorial
Inhalt
I Gang aufs Land
1. Vorbemerkungen
2. Theorie und Methode
3. Geschichte(n) literarischer Ländlichkeit
II Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe
Vorbemerkungen
1. Dieter Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
2. Hilal Sezgins Landleben. Von einer, die raus zog
3. Irmgard Hochreithers Schöner Mist. Mein Leben als Landei
4. Martin Reicherts Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz
5. Axel Brüggemanns Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz
6. Brigitte Jansons Winterapfelgarten
7. Rückblick II: Ein Narrativ entsteht
III Vom Scheitern – Analyse der zweiten Untersuchungsgruppe
Vorbemerkungen
1. Juli Zehs Unterleuten
2. Dörte Hansens Altes Land
3. Daniel Mezgers Land spielen
4. Enno Stahls Spätkirmes
5. Jan Böttchers Das Kaff
6. Rückblick IV: An Wissen scheitern
IV Rück- und Ausblick
1. Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten – ein Fazit
Anhang
Literatur
Dank

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Henri J. Seel Der Gang aufs Land

Rurale Topografien Band 19

Editorial Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt. Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können. Auch in ihren literarischen Verdichtungsformen und historischen Entwicklungslinien können sie als narrative und diskursive Reaktions-, Gestaltungs- und Experimentierfelder verstanden werden, die auf zentrale zeitgenössische Transformationsprozesse der Koordinaten Raum, Zeit, Mensch, Natur und Technik antworten. Damit wird auch die Frage berührt, wie eine Gesellschaft ist, war, sein kann und (nicht) sein soll. Die Reihe Rurale Topografien fragt aus verschiedenen disziplinären Perspektiven nach dem Ineinandergreifen von künstlerischer Imagination bzw. Sinnorientierung und konkreter regionaler und überregionaler Raumordnung und -planung, aber auch nach Möglichkeiten der Erfahrung und Gestaltung. Indem sie die Verflechtungen kultureller Imaginations- und Sozialräume fokussiert, leistet sie einen Beitrag zur Analyse der lebensweltlichen Funktionen literarisch-künstlerischer Gestaltungsformen. Ziel der Reihe ist die interdisziplinäre und global-vergleichende Bestandsaufnahme, Ausdifferenzierung und Analyse zeitgenössischer und historischer Raumbilder, Denkformen und Lebenspraktiken, die mit den verschiedenen symbolischen Repräsentationsformen imaginärer und auch erfahrener Ländlichkeit verbunden sind. Die Reihe wird herausgegeben von Werner Nell und Marc Weiland. Wissenschaftlicher Beirat: Kerstin Gothe (Karlsruhe), Ulf Hahne (Kassel), Dietlind Hüchtker (Wien), Sigrun Langner (Weimar), Ernst Langthaler (Linz), Magdalena Marszalek (Potsdam), Claudia Neu (Göttingen), Barbara Piatti (Basel), Marc Redepenning (Bamberg) und Marcus Twellmann (Konstanz)

Henri J. Seel (Dr. phil.), geb. 1988, lebt in Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind literarische Inszenierungspraktiken sowie Poetologien des Wissens.

Henri J. Seel

Der Gang aufs Land Eine Poetologie des Wissens über rurale Räume in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Zugleich Dissertation der Universität Rostock, Philosophische Fakultät, 2021.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Markus Rossnagel, Hohen Viecheln Lektorat & Korrektorat: Antje Pautzke, Rostock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465684 Print-ISBN 978-3-8376-6568-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6568-4 Buchreihen-ISSN: 2703-1454 Buchreihen-eISSN: 2703-1462 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

I Gang aufs Land 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Vorbemerkungen .................................................................... 11 Der Gang in die Gegenwart ............................................................ 14 Gegenstandsbestimmung I: Schreiben über Land ......................................18 Gegenstandsbestimmung II: ›Das Land‹ entdecken ................................... 22 Zum Vorgehen ....................................................................... 25 Überblick............................................................................ 29

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Theorie und Methode ................................................................ 31 Poetologien des Wissens............................................................. 32 Schreiben über Land................................................................. 42 Roman? Sachbuch? Trivialliteratur? Kitsch? Besonderheiten des Materials ............ 50 Schreiben in alten Erzählungen ...................................................... 54 Von der Theorie zur Methode ......................................................... 58

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Geschichte(n) literarischer Ländlichkeit ............................................ 61 Ein lieblicher Ort..................................................................... 63 Horror und Krise ..................................................................... 69 Dorf gegen Stadt ..................................................................... 71 Aufbruch ins Unbekannte ............................................................ 78 Mensch und Natur ................................................................... 83 Gegenwart: Lust auf Land ............................................................ 86 Rückblick I: Ländliche Räume als Wissensobjekte ..................................... 94

II Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe Vorbemerkungen........................................................................ 99 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Dieter Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht.............................. 101 Von außen nach innen ...............................................................102 Inhalt und Struktur ................................................................. 105 Tradition und Diskurs ............................................................... 112 Wissen und Wissensordnungen....................................................... 117 Sequenzierung ......................................................................125 Entstehung und Gestaltung des ländlichen Raums als Wissensobjekt ..................127 (Re-)Figuration des Ländlichen ...................................................... 132

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Hilal Sezgins Landleben. Von einer, die raus zog................................... 135 Inhalt und Struktur ................................................................. 138 Raumkonfigurationen ............................................................... 139 In die Natur ........................................................................ 143 Landwissen, Regelwissen und Authentizität...........................................147 Eine ›grüne‹ Erzählung? ............................................................. 161

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Irmgard Hochreithers Schöner Mist. Mein Leben als Landei ....................... 165 Inhalt und Struktur ................................................................. 168 Raum, Umzug und Entwicklung....................................................... 171 Räume als innere Forschungsreisen ..................................................176 Traditionen und Diskurse ............................................................179 Das Wissen der Idylle ............................................................... 185

4. Martin Reicherts Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz ...........................................................187 4.1 Ordnungen von Raum und Wissen ................................................... 189 4.2 Teile und herrsche ...................................................................192 4.3 Inhalt und Form .....................................................................195 4.4 Zwischen ›Landlust‹ und ›Provinz‹ .................................................. 198 4.5 Wissen und Ästhetik ............................................................... 200 4.6 Autorität und Aufklärung............................................................ 202 5. 5.1 5.2 5.3

Axel Brüggemanns Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz ................... 205 Schreibformen des Ländlichen ...................................................... 208 Inhalt und Form ..................................................................... 211 Normalität und Fremdheit........................................................... 222

6. 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Brigitte Jansons Winterapfelgarten ............................................... 225 Inhalt und Form .................................................................... 226 Figuren............................................................................. 227 Raumkonfiguration ................................................................. 229 Der Umzug ..........................................................................231 Reale Räume des Wissens........................................................... 233 Schöne Räume der Dauer ........................................................... 236

7.

Rückblick II: Ein Narrativ entsteht .................................................241

III Vom Scheitern – Analyse der zweiten Untersuchungsgruppe Vorbemerkungen....................................................................... 253 1. 1.1 1.2 1.3

Juli Zehs Unterleuten .............................................................. 257 Inhalt und Form .................................................................... 259 Ländlichkeit als Ergebnis von Perspektiven.......................................... 262 Unterleuten als Ort von Wahrheit, Fiktion und Wissen ................................ 278

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Dörte Hansens Altes Land ..........................................................281 Handlung, oder: Raumkonfiguration Heimat.......................................... 283 Heimat und Ankommen erzählen .................................................... 287 Die ›Lust auf Land‹ wird Figur ...................................................... 290 Der ländliche Raum als Ort von Heimat und Authentizität ............................ 295 Rückblick III: Ein Narrativ in Bewegung .............................................. 297

3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Daniel Mezgers Land spielen....................................................... 299 Kollektive und Grenzen erzählen .................................................... 300 Imaginationen über Land ........................................................... 301 Landleben als Spiel ................................................................. 304 Spiel, Wahrheit und Gemeinschaft ................................................... 305

4. 4.1 4.2 4.3

Enno Stahls Spätkirmes ........................................................... 307 Inhalt und Form .................................................................... 308 Der Gang aufs Land ..................................................................312 Normalität, Ausnahmezustand und Wissen............................................314

5. Jan Böttchers Das Kaff .............................................................317 5.1 Raumkonfiguration ................................................................. 318 5.2 Bleiben oder Gehen ................................................................. 322

6. Rückblick IV: An Wissen scheitern ................................................ 323

IV Rück- und Ausblick 1. 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten – ein Fazit ....................... 331 Erkenntnis erzählen ................................................................ 333 Ein Umzugsnarrativ ................................................................. 336 Wissen und Deuten ................................................................. 340 Produzierte Räume ................................................................. 344 Singuläre Orte ...................................................................... 349

Anhang Literatur ............................................................................... 353 Dank ................................................................................... 375

I Gang aufs Land

1. Vorbemerkungen

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein. Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft. Trüb ists heut, es schlummern die Gäng’ und Gassen und fast will Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit. Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.1 Friedrich Hölderlins Gang aufs Land. An Landauer 2 ist auf den ersten Blick eine an den Tuchhändler, Förderer und Vermieter Christian Landauer gerichtete Einladung für den gemeinsamen Weg aus der Enge der Stadt zum Richtfest eines Wirtshauses, zugleich aus der Enge des ausbleibenden künstlerischen wie wirtschaftlichen Erfolgs (»es schlummern die Gäng’ und Gassen und fast will/Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit«). Gerade der emphatische erste Vers »Komm! ins Offene, Freund!« hat der Fragment gebliebenen Elegie zu einigem Ruhm verholfen und so wird dieser bis heute gern als Titel über Reflexionen über Landleben und Freiheitsversprechen gestellt.3 Der anhaltende Ruhm von Hölderlins Vers liegt aber darin begründet, dass mit diesem Gang aufs Land noch etwas anderes erzählt wird. Bevor

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Hölderlin, Friedrich: Der Gang aufs Land, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge (Bremer Ausgabe), Bd. 9: 1800-1802, hg. von Dietrich E. Sattler, Hamburg: Luchterhand 2004, S. 143f, hier: S. 143. Zwar wird das Elegien-Fragment in einigen Ausgaben auch mit Das Gasthaus betitelt, ich folge hier aber der deutlich verbreiteteren Betitelung. Vgl. Hieber, Jochen: Komm! ins Offene, Freund! Was aufhört, was anfängt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2014, S. 11; Das zu tun liegt sogar so nahe, dass Werner Nell und Marc Weiland gleiches in ihrem sehr weitsichtigen Vorwort zu dem in dieser Reihe erschienenen Sammelband Gutes Leben auf dem Land getan haben, vgl. Nell, Werner/Weiland, Marc: Der Topos vom guten Leben auf dem Land. Geschichte und Gegenwart, in: dies. (Hg.): Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld: transcript 2021, S. 9-73, hier: S. 9f.

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Gang aufs Land

dieses Andere genauer untersucht wird, ist aber festzuhalten: Der Gang aufs Land ist zumeist mehr Chiffre denn einfacher Raumübertritt. Zunächst ist auffällig, dass von der Stadt, die da verlassen werden soll, erst mal wenig die Rede ist, der urbane Raum entsteht vielmehr antithetisch aus den Glücksversprechen des Zielortes (»Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes/ Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft«). Die ›Enge‹ der Stadt beim Aufbrechen und das Glücksversprechen des ruralen ›Offenen‹ sind nicht ohne einander möglich und ohne diese enge Verbindung beider Räume wäre der Gang aufs Land selbst relativ uninteressant.4 Neben dieser Besonderheit der erzählten Räume ist auch die Schilderung des Gangs aufs Land als soziale Praxis auffällig: Schon durch den Titel An Landauer wird das Gedicht eindeutig als Widmungsgedicht markiert, womit eine Beziehung bzw. Gemeinschaft etabliert wird, für deren Konstitution der Gang aufs Land zentral bleibt. Gerade durch das unbestimmt bleibende Objekt wird deutlich, dass Sprecher und Adressat das »Offene« wie auch den Weg dorthin bereits kennen, der Gang aufs Land ist für beide nicht neu, vielmehr ein Ritual. So kann auch die zum Zeitpunkt des Sprechens noch wenig perfekte Situation (»zwar glänzt ein Weniges heute/Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein«) nicht vom Gang aufs Land abhalten, denn man weiß, wie schön es dort werden kann (»Dennoch gelinget der Wunsch, Rechtglaubige zweifeln an Einer/Stunde nicht und der Lust bleibe geweihet der Tag.«). Es gehört zur Besonderheit der Widmungsgedichte, dass diese Ansprache nicht nur zwischen Sprecher und Adressat, sondern potenziell auch für die Lesenden funktioniert, bei denen dann ebenfalls ein Wissen um die Qualität des Offenen vorausgesetzt werden muss.5 Schon an dieser Feststellung ist zu erkennen, dass das ans ländliche ›Offene‹ geheftete Glücksversprechen und das Wissen um eine spezifisch rurale Qualität um 1800 bereits kulturelles Repertoire war. Für diese Lesart vom Gang aufs Land als soziales Ritual spricht eine Lektüre der zweiten Strophe, in der es dann darum geht, dass in diesem Offenen ein Haus errichtet wird, welches als entlastender Ort gegen die Anforderungen und Enttäuschungen der Stadt gestellt wird, »[d]aß sie kosten und schaun das Schönste, die Fülle des Landes/Daß, wie das Herz es wünscht, offen, dem Geiste gemäß/Mahl und Tanz und Gesang und Stutgards Freude gekrönt sei,/ Deßhalb wollen wir heut wünschend den Hügel hinauf.«6 Miteinander und Natur4

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Zu dieser Lektüre vgl. Rühling, Christine: Spekulation als Poesie. Ästhetische Reflexion und literarische Darstellung bei Schiller und Hölderlin, Berlin/München/Boston: de Gruyter 2015, S. 213-215. Zu dieser Lektüre vgl. auch Braungart, Wolfgang: »Komm! ins Offene, Freund!« Zum Verhältnis von Ritual und Literatur, lebensweltlicher Verbindlichkeit und textueller Offenheit. Am Beispiel von Hölderlins Elegie ›Der Gang aufs Land. An Landauer‹, in: Denneler, Iris (Hg.): Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1999 (Sonderdruck), S. 96-114, hier: S. 96-98. Hölderlin 2004, S. 144.

Vorbemerkungen

sehnsucht sind im Offenen eng miteinander verbunden und als wichtige soziale Erfahrungen hervorgehoben: »Mög’ ein Besseres noch das menschenfreundliche Mailicht/Drüber sprechen, von selbst bildsamen Gästen erklärt,/Oder, wie sonst, wenns andern gefällt, denn alt ist die Sitte,/Und es schauen so oft lächelnd die Götter auf uns.«7 In dieser Schilderung und gerade dem »alt ist die Sitte« steckt die kulturelle Bedeutung dieses Gangs aufs Land, die selbst dem lyrischen Ich schwer zu erklären ist (»von selbst bildsamen Gästen erklärt,/Oder, wie sonst, wenns andern gefällt«). Das Gedicht endet dann mit einer Versicherung, dass das ans Offene geheftete idyllische Versprechen eingelöst werden kann: Aber schön ist der Ort, wenn in Feiertagen des Frühlings/Aufgegangen das Tal, wenn mit dem Neckar herab/Weiden grünend und Wald und all die grünenden Bäume/Zahllos, blühend weiß, wallen in wiegender Luft,/Aber mit Wölkchen bedeckt an Bergen herunter der Weinstock/Dämmert und wächst und erwarmt unter dem sonnigen Duft.8 Hölderlins Gang aufs Land schwankt also zwischen Idylle und bürgerlicher Praxis, zwischen imaginierten und realen Räumen. An diesem komplexen Bedeutungsspektrum ist zu erkennen dass der in dieser Elegie geschilderte Gang aufs Land ein nicht nur räumlicher, sondern primär symbolischer Prozess ist, der deshalb auch als Diskussion um Geschichtsphilosophie und Versprechen einer neuen Zeit und der Wiederkehr der Götter gelesen wurde.9 Für die vorliegende Untersuchung ist genau diese Feststellung, dass ein solches komplexes Gefüge als Gang aufs Land erzählt wird, entscheidend. Denn genau daran ist zu erkennen, dass dem Weg zwischen den gegensätzlichen ruralen und urbanen Räumen immer wieder semantische, narrative und auch epistemische Potenziale zu- und eingeschrieben wurden. Mit Blick auf die erstaunliche Menge von Erzählungen über den Gang aufs Land, die in den letzten Jahren in die Buchhandlungen geschwemmt wurden, muss also gefragt werden: Was wird nun also heute mit dem Umzug in ländliche Räume erzählt? Und was ist daran noch erzählenswert, sprich: neu? Denn gerade in dem Auftauchen ländlicher Räume in Sach- und Unterhaltungsliteratur ist die Behauptung möglicher Entdeckungen

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Ebd. Ebd. Vgl. Rühling 2015, S. 216f; Mieth, Günter: Friedrich Hölderlin. Dichter der bürgerlich-demokratischen Revolution, 2 Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 115.

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Gang aufs Land

1.1 Der Gang in die Gegenwart Wie bereits angedeutet, wird das Elegienfragment gern als Chiffre für ein Phänomen verwendet, das als ›Landlust‹ oder ›Lust auf Land‹ bezeichnet wird und seinen medialen Niederschlag schon länger in Publikationen wie der Zeitschrift Landlust findet. Von dieser wurden in den letzten Jahren regelmäßig zwischen 750.000 und 850.000 Exemplare verkauft, 2017 wurde sie laut Verlagsangaben von 4,8 Millionen Personen rezipiert.10 Und Landlust ist längst kein Einzelfall: Im Schatten dieses Erfolges erschienen ähnliche Magazine wie LandIdee, Liebes Land. Die beste Art zu leben, Mein schönes Land, Mein schönes Landhaus, Landluft oder Landliebe – man könnte meinen, jeder bundesdeutsche Haushalt besäße zumindest eine dieser Publikationen. Der Trend setzt sich in anderen Medien fort: Der NDR produzierte zeitweise die Formate Landlust TV und Mein schönes Land TV und der RBB schickte den Schauspieler Fabian Hinrichs in derber Weste und Leinenhemd auf den Spuren von Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg auf Die Entdeckung der Heimat. Zudem sind in einer ganzen Reihe von Kriminalromanen unterschiedliche Regionen Deutschlands zu entdecken, die sämtlich durch unwahrscheinlich hohe Mordraten ausgezeichnet sind.11 In dieser hier nur angedeuteten Reihe von Medien und Literaturen ›über Land‹ fällt besonders eine hohe Anzahl von Büchern über Umzüge von der Stadt aufs Land, also einen ›Gang aufs Land‹, auf – darunter eine auffällig hohe Anzahl von Sach-, Ratgeber- und Unterhaltungsliteratur. Schon durch das Auftauchen ländlicher Räume in den beiden erstgenannten Genres werden rurale Räume zu Objekten, über die es etwas zu lernen gibt. Diese Medien müssen daher als Kulminationspunkt des Aufklärungs- und Erzählinteresses gelten, welches den gegenwärtigen Umgang mit ländlichen Regionen kennzeichnet. Besagtes Interesse ist auch am Auftauchen ländlicher Räume in Wissenschaft und Publizistik abzulesen, zu nennen sind hier u.a. Gerhard Henkels Das Dorf: Landleben in Deutschland – gestern und heute (2011), das analytischere Kompendium Dorf: Ein interdisziplinäres Handbuch (2019), die vorliegende Reihe oder der mit 28 Seiten voller Fragen endende Ausstellungskatalog zu Rem Koolhaas’ Countryside (2020). Wie in dieser Reihe schon eindrucksvoll vorgeführt wurde, gelangt der lang als peripher verhandelte ländliche Raum also wieder zu (medialer) Aufmerksamkeit. 10

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Online verfügbar auf der Seite der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V., https://www.ivw.de, zitiert nach: Baumann, Christoph: Idyllische Ländlichkeit. Eine Kulturgeographie der Landlust, Bielefeld: transcript 2018 (Rurale Topografien 6), S. 10. Dabei sind besonders die seit 1989 erscheinenden Eifel-Krimis von Jacques Berndorf zu nennen, aber auch die im Taunus angesiedelten Bücher von Nele Neuhaus und die erfolgreichen Bretagne-Krimis von Jörg Bong, welche unter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec erschienen sind. Aber auch in der Serie Mord mit Aussicht kamen in drei Staffeln so viele Figuren um, dass sie in einigen Landstrichen als Gesamtbevölkerung eines Dorfes gereicht hätten.

Vorbemerkungen

Die Vermutung liegt nahe, dass dieses ›Land‹ u.a. Lösungsangebote für Herausforderungen der Gegenwart zu versprechen scheint: Platznot in Städten, überteuerte Mieten, Überforderungen des urbanen (auch: neoliberalen) Lebens und auch die Umweltkrise haben die Selbstverständlichkeit der Urbanität als Lebensform fragwürdig gemacht. Wie bei Hölderlin scheint zu gelten: Wenn ›die Stadt‹ ihr Versprechen von Erfolg und individueller Freiheit nicht einlöst, geht es zurück ins Offene, auf ›das Land‹, welches als zuverlässiger Ort von Glück und Heil wahrgenommen wird.12 In dieser Hochphase der Urbanisierung erschien nun also eine Reihe von autobiographisch geprägten Büchern, in denen die Autor*innen ihren Ausweg aus der urbanen Überforderung und unterschiedliche Glücksversprechen in ruralen Regionen beschreiben. Diese Texte erscheinen zunächst als Ausdruck eines Widerspruchs, denn der neuen ›Lust auf Land‹ stand lange die Demographie entgegen: Die Abwanderungszahlen der meisten, insbesondere ostdeutschen, Gemeinden ließen von einer neuen Landliebe wenig erkennen, und der Berliner Kurier titelte, die Deutungsmacht qua geographischer Nähe innehabend: »Brandenburg verwaist, Berlin wächst – Stadt. Land. Flucht!«13 In dieser Beobachtung steckt die Vermutung, dass erst durch diese gesellschaftliche Vorstellung des leeren ländlichen Raums der Umzug hierhin zum erzählwürdigen Ereignis wird. In den Jahren 2010 bis 2014 ist an Brandenburg beispielhaft ein Umschwung erkennbar, hier kehrte sich der lange negative Trend der Binnenwanderungen um – in den Jahren seit 2015 ist Brandenburg das Bundesland mit dem höchsten Binnenwanderungssaldo.14 Und auch unabhängig vom Beispiel hat sich die Nettobinnenwanderungsrate der städtischen und länd-

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Die Anführungszeichen zeigen schon an, dass dabei die perfekten Zustände Stadt und Land immer schon mehr kulturelle Konstruktionen als reale Raumstrukturen waren und auch heute als solche gelesen werden müssen. Berliner Kurier: Brandenburg verwaist, Berlin wächst. Stadt. Land. Flucht, 13.7.2015, URL: h ttps://www.berliner-kurier.de/berlin/brandenburg/brandenburg-verwaist--berlin-waechs t-stadt--land--flucht--226705765 [Zugriff am 25.6.2016]. An dem Beispiel ist gut zu sehen, dass für Fragen nach Stadt und Land, in Medien und Studien gleichermaßen, Berlin und Brandenburg immer wieder als beispielhaftes und erklärendes Paar herangezogen wurden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Berlin ist ein beliebter Wohnort von Medienschaffenden und zugleich seit den frühen 2000er Jahren ein Symbol für Mietsteigerungen und neue Urbanisierungsschübe, Brandenburg stand hingegen lange für Leerzug und Verfallen ruraler Gebiete. Gerade in der deutschen Literaturtradition ist Brandenburg immer wieder Wohnort und Topos für Literaten geworden, nur ausschnitthaft könnten Heinrich von Kleist, Achim und Bettina von Arnim, Gerhard Hauptmann, Erwin und Eva Strittmatter, Theodor Fontane oder Sarah Kirsch genannt werden. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: Binnenwanderungssalden nach Bundesländern* (1991-2018), URL: https://www.bib.bund.de/Permalink.html?id=10286982 [Zugriff am 5.8.2019].

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Gang aufs Land

lichen Räume in den Jahren seit 2014 umgekehrt.15 Dieses Nacheinander von medialer und demographischer Umzugsbewegung lässt die Erzählungen vom Gang aufs Land als symbolische Erkundungen eines fremdgewordenen Raums erscheinen, die zunächst stellvertretend vollzogen werden. Dass diese Vorstellungen vom fremden, leeren Land unabhängig von ›realer‹, also historischer, kultureller oder demographischer Leere oder Fremdheit existieren, macht die kulturelle Konstruktion ländlicher Räume als unbekannte Objekte aber nicht unwahr, sondern für die Analyse interessanter. Bei einem Blick in die Geschichte literarischer Ländlichkeit wird erkennbar, dass die nun untersuchte Entdeckungsliteratur über Land nicht spezifisch neu ist, sondern nach mehreren hundert Jahren Tradition idyllischer Bildwelten Natur und ›das Land‹ heute eben wieder als unbestimmte Orte erzählt werden.16 Dass die dabei entstehenden imaginären (ländlichen) Räume immer auch durch Wissensbehauptungen und sogar Ratschläge geprägt waren, wird ersichtlich, wenn bspw. Theodor Fontane im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg Rat gibt für diejenigen, die sich auf das Abenteuer einer Wanderung in die Mark einlassen wollen: Ob du reisen sollst, so fragst du, reisen in der Mark? Die Antwort auf diese Frage ist nicht eben leicht. Und doch würde es gerade mir nicht anstehn, sie zu umgehen oder wohl gar ein ›nein‹ zu sagen. So denn also ›ja‹. Aber ›ja‹ unter Vorbedingungen. Laß mich Punkt für Punkt aufzählen, was ich für unerläßlich halte. Wer in der Mark reisen will, der muß zunächst Liebe zu ›Land und Leuten‹ mitbringen, mindestens keine Voreingenommenheit. Er muß den guten Willen haben, das Gute gut zu finden, anstatt es durch krittliche Vergleiche tot zu machen. Der Reisende in der Mark muß sich ferner mit einer feineren Art von Natur- und Landschaftssinn ausgerüstet fühlen. […] Drittens. Wenn du reisen willst, mußt du die Geschichte dieses Landes kennen und lieben. […] 15

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Vgl. Stawarz, Nico/Rosenbaum-Geldbrügge, Matthias: Binnenwanderung in Deutschland seit 1991, in: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (Hg.): Bevölkerungsforschung aktuell 2, 2020, S. 3-7, hier: S. 5. Die Geschichte literarischer Ländlichkeit kann hier nur angedeutet werden, beginnt aber bereits in der Antike mit dem (städtischen) Lob ländlichen Lebens der Bukolik. Fortgesetzt wird sie in der Schäferdichtung in Renaissance und Barock des 17. Jahrhunderts, in welcher die Reflexion des fiktiven Charakters solchen Schreibens einsetzt. Dieser Abgleich von Wahrheit und Erfindung mündet im 18. Jahrhundert in die Idyllik als Gattung und im 19. Jahrhundert in die Verwandlung der Idylle in ein Motiv, Merkmal oder eine ›Empfindungsweise‹. Im Anschluss daran entwickeln sich die realistische Dorfgeschichte und Heimatliteraturen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, bevor in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Dorf wieder zum Labor alternativer Gesellschaftsordnungen wird. Eine genauere Aufschlüsselung dieser Literaturgeschichte und der mitlaufenden Bedeutung von Wissen über Land wird im dritten Kapitel eingehender betrachtet, dieser kurze Abriss dient hier einer Einordnung.

Vorbemerkungen

Viertens. Du mußt nicht allzusehr durch den Komfort der ›großen Touren‹ verwöhnt und verweichlicht sein. […] Fünftens und letztens. Wenn du das Wagstück wagen willst – ›füll deinen Beutel mit Geld‹. Reisen in der Mark ist alles andre eher als billig.17 Hier wird deutlich, dass Entdecken und Ratgeben immer zentrale Muster der narrativen Ausgestaltung des Gangs aufs Land darstellten. Dass diese Geschichte sich nun mit dem Umzug von der Stadt aufs Land gerade und wiederholt in Sachliteraturen beinahe verfestigt, macht eine eingehendere Analyse notwendig. In der vorliegenden Studie wird also untersucht, wie in den aktuellen Erzählungen vom ›Gang aufs Land‹ rurale Räume in einem Kontinuum zwischen Tradition, Wissen und Wunsch (ent)stehen und welche literarischen wie räumlichen Effekte damit einhergehen. In dieser Rede vom Entstehen ländlicher Räume ist bereits ein theoretischer Kernpunkt dieser Arbeit angelegt: ›Das Land‹ wurde traditionell als unbekannter Ort, als Projektionsraum oder vergangener Ort gedeutet – egal welche dieser Dimensionierungen aber zutrifft, immer ging es um Verhandlungen des ländlichen Raums als etwas. Damit sind ländliche Räume zunächst und überhaupt kulturell konstruierte Objekte. Daher werden sie, und darin steckt ein zweiter Kernpunkt dieser Untersuchung, als Wissensobjekte und damit als Manifestationen einer (dominant urbanen) Wissensordnung analysiert. Der von Joseph Vogl begründeten Poetologie des Wissens folgend, die »als eine Lehre von der Verfertigung der Wissensformen zu verstehen [ist], als Lehre von ihren Genres und Darstellungsmitteln«,18 werden diese Wissensobjekte anhand einer Reihe von Umzugserzählungen untersucht, die insbesondere als Sach-, Unterhaltungs- und Ratgeberliteratur verfasst sind. In Poetologien des Wissens geht es darum, zu untersuchen, mit welchen Mitteln ein Wissensobjekt narrativ konstruiert wird und inwiefern diese Narrationen als Effekt einer spezifischen Wissensordnung zu verstehen sind. Dafür sind die narrativen Mittel der Herstellung dieses Objekts herauszuarbeiten, die nicht sofort augenfällig sind, weil sie als Fakten auftreten. So wird also die Frage in den Blick genommen, inwiefern diese Erzählungen zugleich Ausdruck und Bedingung des hier angedeuteten Klärungsbedarfs über das Wissensobjekt ländlicher Raum sind. Zunächst ist jedoch eine präzisere Einordnung der untersuchten Bücher notwendig.

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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Vorwort zur zweiten Auflage, in: ders.: Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin, hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Berlin: Aufbau Verlag 1997, S. 5-7. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, 4 Zürich: diaphanes 2011, S. 13.

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1.2 Gegenstandsbestimmung I: Schreiben über Land Die Umzugserzählungen sind lediglich ein Teil der oben erwähnten Vielzahl von Medien über rurale Räume. Für eine genauere Einordnung in dieses Spektrum ist es grob nach Inhalt und Form zu klassifizieren: Zunächst gibt es Romane, die allgemein von oder in ländlichen Räumen erzählen. Beispielhaft sind zu nennen: Andreas Maiers Buchreihe Ortsumgehung (seit 2010), Valerie Fritschs Roman über den Sehnsuchtsort Winters Garten (2015), Saša Stanišićs Vor dem Fest (2014), Juli Zehs Unterleuten (2016) und Über Menschen (2021), Daniel Mezgers Land spielen (2012), Enno Stahls Spätkirmes (2017), Dörte Hansens Altes Land (2015) und Mittagsstunde (2018), Mariana Lekys Was man von hier aus sehen kann (2017). Die Reihe ließe sich fortführen oder aber erweitern durch jene Romane, deren Plot durch das Motiv der ›Heimkehr‹ ins Ländliche motiviert ist: Die Erzähler sind auf dem Land geboren, der Enge entflohen und kehren mit Beginn der Handlung wieder zurück – dazu gehören Judith Zanders Dinge die wir heute sagten (2010), Jan Böttchers Das Kaff (2018), Thomas Klupps Paradiso (2009), Patrick Findeis’ Kein schöner Land (2009) oder Donata Riggs mit Weiße Sonntage (2010). Und Moritz von Uslars Deutschboden (2010) und Nochmal Deutschboden (2020) wiederum stehen für eine Reihe von Büchern, deren Erkundungen über Land am ehesten an Feuilleton-Artikel erinnern. Diese Übersicht kann nur Auswahl bleiben, verdeutlicht aber, nachdem in fiktionalen Texten lange Städte dominierten, die Wiederkehr des Ländlichen in die Literatur. Dabei handelt es sich längst um kein rein deutschsprachiges Phänomen, wie Das Jahresbankett der Totengräber (2021) des Franzosen Mathias Enard verdeutlicht. Neben diesen potenziell kanonbildenden Romanen existiert eine Reihe von Büchern, die, da es sich eher um Sach- oder Unterhaltungsliteratur handelt, zumeist nicht als kanontauglich angesehen und entsprechend auch seltener wissenschaftlich untersucht werden. Auffällig ist jedoch, dass in diesen der immer gleiche Plot relativ ausführlich geschildert wird: Die Protagonisten ziehen von der Stadt auf das Land und machen dort Erfahrungen, die ihnen (und dem zumeist städtischen Publikum) gänzlich neu sind. Im Vergleich zu den erstgenannten Texten ist der Grad an literarischer Durchformung zumeist vergleichsweise gering, der Rückbezug auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs der ›Lust auf Land‹ aber umso offensichtlicher. Nimmt man zunächst nur die Erzählung des Umzugs in einen ländlichen Raum als Kriterium für den Eingang in diese Kategorie, reicht das Spektrum dieser populären Bücher von Dieter, (heute Max) Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht (2009), Brigitte Jansons Winterapfelgarten (2014) und Irmgard Hochreithers Schöner Mist. Mein Leben als Landei (2011) über Martin Reichert Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz (2011), Hilal Sezgins Landleben. Von einer, die raus zog (2011), Susanne Veits Alles Mist? Eine Familie zieht aufs Land (2020) und Andreas Heckenbergs Schnucken gucken (2015) zu Andre Meiers und Anja Baums Hollerbusch statt Hindukusch. Neues von der Aussteigerfront (2011). Neben diesen eher autobiographisch ange-

Vorbemerkungen

legten Erzählungen gibt es eine Reihe von Ratgebern über Umzüge aufs Land, bspw. beschreibt Niklas Kämpergard in Raus aufs Land: 100 Schritte zu einem naturverbundenen Leben (2017), Mathias Rompe versammelt in Unser Projekt Bauernhof (2017), wie es im Untertitel heißt, 100 Anleitungen, Rezepte und Ideen für DIY und Selbstversorgung, Susanne Veit beschreibt in Alles Mist (2020) den Umzug einer Familie aufs Land und ein weiteres Buch enthält 111 Gründe, aufs Land zu ziehen: Eine Liebeserklärung an das gute Leben (2015). In der Reihe ökologisch engagierter Texte zur Aufklärung über Landleben ist beispielhaft Ernst Paul Dörflers Aufs Land: Wege aus Klimakrise, Monokultur und Konsumzwang (2021) zu nennen. Eine Besonderheit innerhalb der Umzugsgeschichten stellen Texte wie Axel Brüggemanns Landfrust (2011) dar, weil in diesen zwar ebenfalls von Umzügen erzählt und dabei Wahrheit behauptet wird, aber entgegen dem medialen Trend zur Idylle ländliche Räume als Orte des Niedergangs oder Verfalls beschrieben werden. Aus einem Teil dieser Bücher ist die erste Untersuchungsgruppe und damit der hauptsächliche Gegenstand der vorliegenden Studie gebildet. Dabei ist die Auswahl weniger an Gattungen oder Genres orientiert, denn vielmehr daran, ob der Umzug aufs Land als Erfolgsgeschichte erzählt wird. Die Texte sind eher handlungsarm, in einem dreiphasigen Erzählmodell lässt sich ein einigermaßen konstantes Muster identifizieren: (1) Zunächst wird das empfundene Leiden an der Stadt geschildert, hieraus folgen der Entschluss zum Umzug sowie der Umzug selbst. (2) Im Zielort angekommen folgt ein Realitätsschock, das Land ist doch nicht so wie vorgestellt. (3) Letztlich werden die Herausforderungen gemeistert, befreit von den kulturellen Erwartungen wird das ›wahre‹ Landleben erkannt, zu dessen Teil der Erzähler oder mitunter auch der Autor selbst geworden ist. In dieser Gruppe werden die Umzüge in ländliche Räume also (wieder) als Entdeckungsgeschichten geschrieben. Zumeist sind diese Umzugserzählungen in einer Mischform aus autobiographischem Sachbuch und Unterhaltungsliteratur verfasst. Die Eignung der so versammelten Texte für eine Annäherung an das Wissensobjekt ›ländlicher Raum‹ ist offensichtlich, da in diesen Umzugsgeschichten mehr als in allen anderen Literaturen ›über Land‹ die Unterschiede von Stadt und Land erzählt werden, die den zentralen Erkenntnismoment ermöglichen, wobei ländliche Räume als Wissensobjekte entstehen – das Versprechen eines erfolgreichen Umzugs ist letztlich ein Versprechen von Erfahrung und Wissen für die daheimgebliebene Leserschaft. Schon an der Häufung von Ratgeber- und Sachliteratur in dieser Gruppe ist eine Besonderheit des Wissensobjekts und des anhängigen Klärungsbedürfnisses abzulesen: Ratgeber- und Sachliteratur sind nach Timo Heimerdinger ›gelebte Konjunktive‹ und damit ein besonderer Gradmesser kultureller Veränderungen, da sie sich nicht (nur) für die Lebenswirklichkeit der Lesenden interessiert, sondern für die »Wünsche, Träume und Sehnsüchte der Leserinnen […], wohin jene ›blicken‹, wenn

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sie ihre eigene Identität bzw. Zukunft im Sinn haben.«19 Da das Genre »vielleicht mehr als andere den Gesetzen einer Aufmerksamkeitsökonomie gehorcht, erweist es sich als hervorragender Resonanzkörper kultureller Schwingungen, auf die es mit formaler und marktwirtschaftlicher Flexibilität reagieren kann.«20 Gerade wegen dieses Potentials ist die untersuchte Literatur zwar kein Garant für Wahrheit über Land, durch sie werden jedoch Einblicke in gesellschaftliche Raumbilder und Wissensformationen ermöglicht, auf einer ersten Ebene schon durch die Behauptung eines Klärungsbedürfnisses. So gibt das in diesen Büchern vermittelte Wissen – gerade durch deren Anlage als populäre Sachbücher – Einblick in die dominanten kulturell umlaufenden Bilder des Ländlichen.21 Dieses Wissen kann dann nicht nur an dem Wissensinhalt, sondern auch an seinem Auftauchen, seiner Auswahl und Darstellung untersucht werden. Die Relevanz der untersuchten Literatur für die Produktion ländlicher Räume erschließt sich auch durch die Verkaufszahlen, so wurden bspw. von Moors Buch über 400.000 Exemplare verkauft,22 von Altes Land über 1.000.000, gleiches gilt für Unterleuten.23 Damit handelt es sich bei diesen Büchern um kulturelle Schlüsseltexte des Phänomens ›Lust auf Land‹, die maßgeblich an der Herausbildung gesellschaftlicher Bedeutungszuschreibungen und Selbstverständigung beteiligt sind.24 Die Umzugserzählungen der Sach- und Unterhaltungsliteratur sind also ein elementarer Teil des eingangs umrissenen Prozesses der kulturellen Neuverhandlung von Ländlichkeit und der Konstituierung ruraler Räume als Wissensobjekt(e). 19

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Heimerdinger, Timo: Der gelebte Konjunktiv. Zur Pragmatik von Ratgeberliteratur in alltagskultureller Perspektive, In: Hahnemann, Andy/Oels, David (Hg.): Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert. Frankfurt u.a.: Peter Lang 2008, S. 97-108, hier S. 104. Das stellt Timo Heimerdinger jedenfalls über die GU-Ratgeber fest und identifiziert eine breit differenzierte bürgerliche Mitte als deren Zielpublikum; vgl. ebd., S. 103-105. Hahnemann, Andy: »Aus der Ordnung der Fakten«. Zur historischen Gattungspoetik des Sachbuchs, in: Arne Höcker/Jeannie Moser/Philippe Weber (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld: transcript 2006, S. 139-150, hier: S. 145. Diese Feststellung folgt der Annahme, dass unterschiedliche Gattungen stets eigene Wissensbestände bevorzugt und auch ausgeschlossen haben; vgl. Bies, Michael/Gamper, Michael/Kleeberg, Ingrid (Hg.): Einleitung, in: dies. (Hg.): Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen 2013, 7-18. Vgl. Wölke, Angelika: Dieter Moor – der moderierende Bio-Bauer, in: Der Westen, 6.11.2012, URL: https://www.derwesten.de/panorama/dieter-moor-der-moderierende-bio-bauer-id72 66006.html [Zugriff am 3.8.2018]. Vgl. buchmarkt.de: – Eine Million verkaufte Exemplare des Romans »Altes Land« von Dörte Hansen, in: buchmarkt.de, 18.12.2019, URL: https://buchmarkt.de/meldungen/eine-millionverkaufte-exemplare-des-romans-altes-land-von-doerte-hansen/ [Zugriff am 15.7.2022]. Zu der Bedeutung solcher Schlüsseltexte für das Entstehen kultureller Deutungen und kulturellen Wissens vgl. Porombka, Stephan: Sachbücher und Sachtexte, in: Anz, Thomas (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Band 1: Gegenstände und Grundbegriffe, Sonderausgabe, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013, S. 155-159, hier: S. 159.

Vorbemerkungen

Schon in diesem kurzen Überblick wird nachvollziehbar, dass mit den individuellen Erkenntnis- oder Aufklärungsgeschichten dem überwiegend städtischen Publikum dieser Texte vorgeführt wird, wie ›das Land‹ ›wirklich‹ sei, für das sie sich in Magazinen wie Landlust und bei Fahrten auf den nahegelegenen Biohof interessieren.25 Im Fokus der folgenden Untersuchung steht, wie die ruralen Räume durch Wissensbehauptungen als fremd erzählt und durch das jeweilige Wissen produziert werden. An diese Überlegungen anknüpfend wird anhand der zweiten Untersuchungsgruppe herausgearbeitet, wie die Erzähler und Autoren der ersten Untersuchungsgruppe in den Romanen nun selbst zu Figuren werden. Im Gegensatz zu den Texten der ersten Untersuchungsgruppe werden Umzüge und Landleben hier jedoch durch polyphones Erzählen oder aber häufig wechselnde Fokalisierung vielfältig beleuchtet. Zur Abgrenzung ist noch wichtiger, dass diese Umzüge scheitern. Die Figuren werden zumeist relativ eindeutig als Vertreter des Diskurses um die ›Lust auf Land‹ gekennzeichnet, denn es sind häufig Medienschaffende, Publizisten oder Akademiker – zumindest immer urban und gebildet –, die nach einem Scheitern in der Stadt aufs Land ziehen, um dort Erfüllung zu suchen. Solche Konstruktionen sind in Juli Zehs Unterleuten (2016), Dörte Hansens Altes Land (2015), Daniel Mezgers Land spielen (2012), Jan Böttchers Das Kaff (2018) oder Enno Stahls Spätkirmes (2017) zu finden, diese Texte bilden die zweite Untersuchungsgruppe. Wird anhand der ersten Untersuchungsgruppe untersucht, wie Wissensordnungen etabliert werden, so wird im Anschluss daran untersucht, wie diese in den Texten der zweiten Gruppe umerzählt, überprüft und infrage gestellt werden. Damit wird der Gang aufs Land zum narrativen Kampfplatz eines Deutungsgefüges in Bewegung. Durch die Anlage als Geschichten von Erkenntnis, Gewinn oder Scheitern tragen die Texte beider Untersuchungsgruppen auf unterschiedliche Weise zu einer Ordnung des Wissens über Land bei – detaillierten Aufschluss darüber geben die Einzelanalysen. Zugleich wird gezeigt, wie das erzählte Wissen durch eine Wissensordnung bestimmt ist, die zum einen durch die dominant urbane Gegenwartskultur, zum anderen durch eine lange Tradition des Schreibens über Land geprägt ist. Um die Bedeutung dieser Erzählungen vom Auszug aus der Stadt und der

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Um das zu erläutern, werden zwei Beispiele vorweggenommen: Erstens wird in den Texten wiederholt direkt auf den Diskurs der ›Lust auf Land‹ Bezug genommen, sodass die inhärente Wahrheitsbehauptung über die der Landlust-Medien hinausgehend inszeniert wird. Zweitens ist eins der auffälligsten Merkmale der Erzählungen, dass sie autobiographische Erfolgsgeschichten sind, wodurch das Wissen über die betretenen Räume ›authentisch‹ und wahr wird. Da es sich um Sach- bzw. Unterhaltungsliteratur handelt, wird der ländliche Raum nicht rein literaturimmanent und symbolisch verhandelt, sondern als realer Raum. Auch das zeigt, wie eng Wunsch und Wissen in der Konstitution ländlicher Räume als Wissensobjekt verbunden sind.

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Entdeckung ländlicher Räume einordnen zu können, wird im folgenden Unterkapitel der Stadt-Land-Gegensatz als kulturelle Konstruktion untersucht. Dabei geht es auch darum, die literarische Konstruktion ländlicher Räume in ein Spektrum von Tradition oder Innovation einordnen zu können. Zudem wird eine Bestimmung der traditionellen Erzählungen über Land angedeutet, die im dritten Kapitel ausführlicher geleistet wird. Sowohl in dieser Hinführung als auch dem Kapitel zur literarisch-kulturellen Tradition geht es um die Frage, wie das Stadt-Land-Verhältnis beschaffen war und ist, damit ›das Land‹ zu dem Wissensobjekt werden konnte, als welches es uns heute im Gang aufs Land der Gegenwartliteratur entgegentritt.

1.3 Gegenstandsbestimmung II: ›Das Land‹ entdecken Angesichts der Traditionslage liegt die Frage nahe, ob die in den untersuchten Texten behauptete Entdeckung des ländlichen Raums also überhaupt eine Berechtigung hat? Selbst die Beschreibung des Verschwindens der Unterschiede hat Tradition: In Meyers Konversations-Lexikon von 1886 heißt es unter dem Lemma Dorf : »Jene Unterschiede nämlich, welche früher zwischen Stadt und D. insofern bestanden, […] sind mit der Emanzipation des Bauernstandes und mit der Gewerbefreiheit hinweggefallen«.26 Vielmehr seien »[d]ie Verschiedenheiten in der Beschäftigung der Dorf- und Stadtbewohner, wo sie überhaupt noch vorhanden, […] thatsächlicher, nicht rechtlicher Natur.«27 Wo hier die »thatsächliche«, also kulturell-soziale, Dimension noch als beinahe marginaler Unterschied erscheint, wird sie 30 Jahre später von Oswald Spengler in Der Untergang des Abendlandes als relevant bemessen, wenn dieser feststellt, dass »[d]er Landmensch und der Stadtmensch […] verschiedene Wesen [sind]. Zuerst fühlen sie den Unterschied, dann werden sie von ihm beherrscht; zuletzt verstehen sie sich nicht mehr.«28 Mit der dann fortschreitenden Urbanisierung wurde Urbanität zu einer Lebensform, welche über die räumlichen Grenzen der Stadt hinauswächst und Ländlichkeit, nicht als räumliche aber als soziale Kategorie, zur Nische werden lässt.29 Und im Jahr 2006 erkennt Klaus Ten-

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[Art.] Dorf, in: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, Bd. 5, vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage, Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts 1886, S. 76f, hier: S. 76. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Hieber 2014, S. 11. Ebd. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Mit einem Nachw. von Detlef Felken, München: Beck 1998 (Beck’s historische Bibliothek), II, 2, S. 662. Spengler schreibt dazu: »Wir müssen genau nachfühlen, was es heißt, wenn aus einem urägyptischen, urchinesischen oder germanischen Dorf […] eine Stadt wird, die sich äußerlich vielleicht durch nichts unterscheidet, die aber seelisch der Ort ist, von dem aus der Mensch das Land jetzt als ›Umgebung‹ erlebt, als etwas anderes und Untergeordnetes. Von nun an gibt

Vorbemerkungen

felde die Stadt-Land-Dichotomie als primär wissenschaftliches Konstrukt, wenn er feststellt, »in Deutschland ist vom Stadt-Land-Unterschied wohl noch in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, nicht hingegen in den veröffentlichten Meinungen die Rede.«30 Diese Traditionslinien laufen in ihrer zugespitzten Form, so Marc Redepenning, »letztlich auf eine irreduzible Unbestimmtheit oder Kontingenz des Ländlichen im Besonderen und der gesellschaftlichen Raumverhältnisse im Allgemeinen hinaus«.31 Die untersuchten Entdeckungsgeschichten erscheinen also zu einem Zeitpunkt, an dem sowohl traditionelle Formen von Ländlichkeit als auch die Stadt-Land-Differenz verschwinden. Trotzdem wird gerade in den Texten der ersten Untersuchungsgruppe durch die Verwendung von Helden- und Abenteuer-Narrativen behauptet, mit den jeweiligen ländlichen Räumen etwas Neues zu entdecken – es wird zu zeigen sein, dass dies häufig im Sinne des Wiederentdeckens eines vergangenen Zustands oder im Beweis der Authentizität von schon längst bekannten Bildern oder Erzählungen über Land zu verstehen ist. Dafür wird keine autonome fiktive Welt mehr geschaffen, sondern es werden Erfahrungen der Autoren, gegenwärtige und historische Raum(vor)bilder und literarische (Raum-)Fiktionen frei vermischt. Historisch ist das kein Sonderfall, denn für den kulturellen Umgang mit ländlichen Räumen war zu keiner Zeit das reale Leben auf dem Land das entscheidende Maß, sondern vielmehr seine Funktion als Gegensatz. Norbert Mecklenburg hat in seiner Studie zur literarischen Provinz festgestellt, dass [d]ie unverhältnismäßige und darum erklärungsbedürftige Häufigkeit von Provinzsujets in der Gegenwartsliteratur […] darauf [beruht], daß solche Sujets einer verbreiteten ›Verwertungsästhetik‹ entgegenkommen, die eine moderne Abart jener Richtung idealistischer Ästhetik darstellt, welche die Beziehung zwischen Material und Formung nur als Herrschaftsverhältnis zu denken vermochte.32

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es zwei Leben, das drinnen und das draußen«; ebd.; Die Formulierung von der »Urbanität als Lebensform« geht zumeist auf den Titel von Lous Wirths Aufsatz Urbanität als Lebensform (1938, deutsch 1974) zurück. Tenfelde, Klaus: Die Welt als Stadt? Zur Entwicklung des Stadt-Land-Gegensatzes im 20. Jahrhundert, in: Lenger, Friedrich/Tenfelde, Klaus (Hg.): Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln: Böhlau 2006, S. 233-264 (Industrielle Welt 67), hier: S. 262. Redepenning, Marc: Figuren des Ländlichen. Ein Beitrag zu einer Sozialgeographie der Grenzziehungen und Unterscheidungen. Habilitationsschrift. Jena: Friedrich-Schiller-Universität 2010, S. 14. Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München: Iudicum 1986, S. 9.

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Ländlichkeit als gesellschaftlich produzierte Bedeutung nimmt auch heute »in der Beschreibung […] eine ordnende und abgrenzende Funktion ein«.33 Deutet man aber mediale Ländlichkeiten nur als Residualprodukt oder als Funktion von Urbanität, wäre das in der untersuchten Sach- und Unterhaltungsliteratur zum Ausdruck kommende Klärungsbedürfnis nicht vollständig zu erklären. Wenn man die Texte ernst nimmt, so handelt es sich um Neu- oder Wiederentdeckungen eines Raums, die durch individuelles Erleben von den dominanten urbanen Deutungen und Erzählungen unterschieden sind – hierdurch werden Geschichten wie Raum gleichermaßen als singulär ausgezeichnet.34 In der Neuheitsbehauptung liegt auch der narrative Kern dieses Phänomens, da nach Albrecht Koschorke gerade »[d]as Unerwartete, nicht das Erwartbare […] die Lust des Erzählens auf sich«35 zieht. Versteht man zudem Erzählen als »Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation«,36 die zur Ordnung einer ungeordneten Welt dient, dann kann man genau anhand der in Literatur haltbar gewordenen Erzählungen die »Transformationsregeln« ermitteln, »die diesen Prozess steuern«.37 So sind gerade die hier untersuchten Erzählungen diejenigen kulturellen Erzeugnisse, an denen die oben skizzierten kulturellen Widersprüche, Entwicklungen und Deutungen (über ländliche Räume) beobachtet werden können. Am Ende dieses Unterkapitels ist also festzustellen, dass das Entdecken ländlicher Räume in einem komplexen Gefüge aus literarischer Tradition sowie demographischen und sozialen Bedingungen entsteht. Dass das gegenwärtige Erzählen vom Umzug aufs Land gesondert betrachtet wird, liegt an der absoluten Trennung beider Zustände, die erst qua Wissen überhaupt übersteigbar wird. Das schließt an Jurij Lotmans Kultursemiotik an, wonach der Gang aufs Land überhaupt erst durch ein dominant urbanes Verständnis von Gesellschaft und Raum zum Ereignis wird, denn »[d]as Sujet hängt […] organisch zusammen mit dem Weltbild, das den Maßstab dafür liefert, was ein Ereignis ist und was nur eine Variante, die uns nichts Neues bringt.«38 Mit der Veränderung dieses Weltbilds verändern sich also auch die Erzählungen, dabei folgt Lotman einem Modell von Zentrum und Peripherie, ihm ist »der Sieg eines bestimmten semiotischen Systems gleichbedeutend mit 33 34 35 36 37 38

Rössel, Julia: Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktion durch Zugezogene in der Uckermark, Bielefeld: transcript 2014, S. 159. Die Bedeutung solcher Räume als Singularitäten wird im letzten Unterkapitel dieser Arbeit im Anschluss an Andreas Reckwitz’ Die Gesellschaft der Singularitäten ausgeführt. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012, S. 50. Ebd., S. 25. Ebd. Lotman, Juri: Die Struktur literarischer Texte, München: W. Fink 1972, S. 333. Der Raum wirkt als Vermittler zwischen beiden, als Relationssystem bzw. grundlegende Struktur; insgesamt mündet das in einer Semantisierung des Raumes.

Vorbemerkungen

dessen Verschiebung ins Zentrum und seinem unausweichlichen ›Verblassen‹«.39 Die Entwicklung literarischer Raumbilder ist demnach immer in Korrelation mit der Entwicklung der Selbstverständigung einer Gesellschaft zu verstehen. So muss ein Kernpunkt dieser Untersuchung die Frage sein, in welchen Texten der Übergang ins Ländliche wirklich Ereignis ist bzw. in welchen wirklich ein kategorialer semantischer Unterschied zwischen beiden Räumen behauptet wird. Um das einschätzen zu können, erfolgt in dieser Arbeit die Vermessung der Räume der Literatur anhand des sie auf- und umspannenden Wissens.

1.4 Zum Vorgehen Die archäologischen Gebiete können ebenso durch ›literarische‹ oder ›philosophische‹ Texte gehen wie durch wissenschaftliche Texte. Das Wissen ist nicht nur in Demonstrationen eingehüllt, es kann auch in Fiktionen, in Überlegungen, in Berichten […] liegen.40 Gerade die im Sachbuch manifestierte Neuheitsbehauptung und die Verschränkung von Fakt und Fiktion begründen also die Wahl der theoretischen Zugangsweise dieser Studie: die Poetologie des Wissens, der zufolge »das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche mit den Formen ihrer Darstellung«41 korrelieren. Dem entspricht die Frage, welche spezifische Bedeutung das Auftauchen in Sach- und Unterhaltungsliteratur sowie das Erzählen dieses Umzugs als Entdeckungsgeschichte für das Entstehen imaginärer Ländlichkeiten hat. In dem Erzählen über Wissensobjekte verdichten sich dann nicht nur Informationen über den Gegenstand, sondern auch Wertungen und Horizonte der das Wissensobjekt hervorbringenden Ordnungen.42 Das Entstehen eines Wissensobjekts ist letztlich immer Ausdruck eines kulturellen Ordnungsbedürfnisses, des Empfindens einer Nicht-Ordnung, und es resultiert (häufig) in der Re-Strukturierung einer Wissensordnung. So kommt beispielsweise in der Darstellung von Dorf oder Land als Wissensobjekt eine spezifische urbane Wissensordnung zum Ausdruck, welche dann nicht nur die inhaltliche, sondern auch die formale Ausgestaltung des Erzählens hierüber beeinflusst. Die Untersuchung des in den Texten enthaltenen Wissens und seiner Darstellungsformen zielt darauf ab, das Entstehen von ›Land/Ländlichkeit‹ als Wissensob39 40 41 42

Lotman, Juri: Die Innenwelt des Denkens. Eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 189. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 5 Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 (stw. 356), S. 261. Vogl 2011, S. 13. Vgl. Brunner, Claudia: Wissensobjekt Selbstmordattentat. Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 32-34.

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jekt als Effekt einer solchen Wissensordnung herauszustellen. Auf diese Weise wird die narrative Form auch der Sach- und Unterhaltungsliteratur nicht als kultur- und zeitspezifische Erzählweise herausgearbeitet. Um die Verfestigung solcher kulturellen Deutungen über den Einzeltext hinaus herauszuarbeiten, wird die erzähltheoretische Untersuchung um den Begriff des Narrativs erweitert, da diese mit Albrecht Koschorke als Ausdruck der »narrativen Wissensordnungen«43 ihrer Zeit verstanden werden können, was sie für die Untersuchungen kultureller Ordnungen und ihres Wissens prädestiniert. Narrative entstehen zumeist an den Randbereichen von Diskursen und sind daher besonders geeignet, die Bereiche des Wissens zu bestimmen, die abseits des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses existieren. Gerade in diesen Randbereichen werden das implizite Meinen, Fühlen und Wollen ebenso (mit-)geprägt wie die Einstellung zu einer Region. Narrative können daher als Faktoren für die Entstehung imaginärer Räume verstanden werden.44 Dem Erzählen kommt gerade in diesen Randbereichen eine weltordnende Funktion zu, die zu einem »Wettkampf von Erzählungen«45 führt. Damit liegt der Studie ein Verständnis von Erzählen zugrunde, das im Anschluss an Mieke Bal Erzählen ebenso als literarisches Phänomen wie als »a tool of manipulation as well as knowledge production and establishing contact«,46 also als Phänomen kultureller Selbstverständigung versteht. Gerade solch ein Begriff von Erzählen eignet sich für die Untersuchung von Poetologien des Wissens, denn diese geben »jene Formen sprachlich-

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Koschorke 2012, S. 258. Diese Überlegungen schließen an die These an, dass der »Aufbau kollektiver Befindlichkeiten […] an sprachlich-modale sowie an massenmediale Diskurse insgesamt gebunden« ist; Metten, Thomas: Zur Analyse von Atmosphären in Diskursen. Eine diskurslinguistische Untersuchung kollektiver Befindlichkeiten am Beispiel des Vulkanausbruchs in Island, in: Zeitschrift für Angewandte Linguistik. Band 56, Heft 1, 2012, S. 33-65, hier: S. 41. Siehe auch Großheim, Michael/Kluck, Steffen/Nörenberg, Henning: Kollektive Lebensgefühle. Zur Phänomenologie von Gemeinschaften, Rostock: Universität Rostock, Institut für Philosophie 2014 (Rostocker Phänomenologische Manuskripte 20), S. 20. Zudem schließen sie an ein Verständnis von Literatur an, in dem diese »über die besondere Fähigkeit verfügt, die Bestände des kulturellen Gedächtnisses und damit auch die Prozesse der Identitätsbildung in ihrer oftmals ambivalenten und vielschichtigen Komplexität darzustellen und zu verhandeln«; Schmidt, Matthias u.a.: Einleitung, in: dies. (Hg.): Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa, Tübingen: Narr 2015, S. 7-10, hier: S. 8. Gadinger, Frank/Jarzebski, Sebastian/Yildiz, Taylan: Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie, in: dies. (Hg.): Politische Narrative. Konzepte – Analysen – Forschungspraxis, Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 3-38, hier: S. 9. Bal, Mieke: Intercultural Story-Telling, in: Strohmaier, Alexander (Hg.): Kultur – Wissen – Narration: Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Kultur- und Medientheorie, Bielefeld: 2013, S. 289-305, hier: S. 289.

Vorbemerkungen

symbolischer Repräsentation und jene Verfahren narrativer Gestaltung zu erkennen, die natürlichen, künstlichen, sozialen wie politischen Phänomenen Stabilität verleihen.«47 Daran anknüpfend wird dieser Arbeit ein Verständnis von Narrativen als kulturell verfestigter »Erzählmuster«48 zugrunde gelegt, denen ein erkenntnisstiftendes und -ordnendes Potenzial innewohnt. Dafür wird zunächst untersucht, welche traditionellen und gegenwärtigen Erzählungen für die Konstituierung des ländlichen Raums als Wissensobjekt im beginnenden 21. Jahrhundert und damit für eine Poetologie des Wissens über Land bestimmend sind. Zudem wird herausgearbeitet, wie die untersuchten Erzählungen vom Umzug selbst ein neues Narrativ über Land konstituieren und welche Strukturierung von Wissen damit einhergeht. Diese enge Verbindung von Erzählen und Wissen im Diskurs um die ›Lust auf Land‹ soll hier an drei Beispielen angedeutet werden: Erstens hat Mareike Egnolff in ihrer Dissertation über Landlust als Lifestyle schon für die stärker auf ästhetische Durchformung setzenden Magazine wie Landlust herausgearbeitet, dass »[d]ie Darstellung der Vorstellung der kultivierten Natur in Form des Gartens in den Landzeitschriften […] einher[geht] mit der Vermittlung von Wissen.«49 Dass diese Darstellungen von Wissen über Landleben ästhetisch durchformt sind, ist dann nicht nur Effekt des Mediums Hochglanzmagazin, sondern auch Effekt einer Erzähltradition, in der idyllische Schönheit des Raumes aals unhintergehbares Moment von Ländlichkeit erscheint, sodass auch ästhetische Qualitäten eines Raumes zu entdecken sind. Ein weiteres Anzeichen für das (Wieder)Auftauchen des Wissensobjekts ›ländlicher Raum‹ ist die zunehmende Forschung über Land, wie bspw. in dem interdisziplinären Experimentierfeld Dorf der Universität Halle.50 Hinzu kommt eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen, welche an den unterschiedlichsten Phänomenen 47

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Moser, Jeannie: Poetologien/Rhetoriken des Wissens, in: Höcker, Arne/Moser, Jeannie/ Weber, Philippe (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften, Bielefeld: transcript 2006, S. 11-16, hier: S. 11. Müller-Funk, Wolfgang: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, 2 Wien/New York: Springer VS 2008, S. 15. Egnolff, Mareike: Die Sehnsucht nach dem Ideal. Landlust und Urban Gardening in Deutschland. Diss., Universität Saarbrücken 2015, S. 214. Eine ausführlichere Darlegung des Forschungsstands erfolgt im Kapitel zur Tradition der ›Lust auf Land‹, sowie an den Stellen der Untersuchung, an denen Überschneidungen festgestellt wurden. Aus der Reihe der hieraus hervorgegangen Tagungen und Sammelbänden sei insbesondere der diese Reihe eröffnende Band Imaginäre Dörfer (2014) hervorgehoben. Hierin wird beispielhaft gezeigt, welches gesellschaftsanalytische Potential Literaturen des Ruralen innewohnt, denn imaginäre Dörfer bilden »ein Feld, auf dem sich Lebenserfahrungen formulieren und gestalten lassen, Wünsche, Belastungen und Ängste zum Vorschein gebracht werden und nicht zuletzt auch die uralte Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines ›guten Lebens‹ angesprochen und so zum Thema gesellschaftlicher Kommunikation und Aushandlung werden kann.« Nell, Werner/Weiland, Marc: Imaginationsraum Dorf, in:

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gezeigt haben, wie flexibel imaginäre Ländlichkeiten in Reaktion auf Wünsche, Herausforderungen und Anforderungen der Gegenwart entstehen.51 Und in Büchern wie Werner Bätzings Das Landleben: Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform (2020) oder denen des ›Dorfpapstes‹ Gerhard Henkel (Das Dorf: Landleben in Deutschland – gestern und heute (2011) sowie Der Ländliche Raum (2004)) wird eine Geschichte der ländlichen Räume geschrieben, die über Darstellung von Siedlungsund Flurformen hinausgeht und das Land als auch soziokulturelle Folge der Dynamisierungsbedingungen von Industrialisierung und Urbanisierung erzählt. Gerade an den letztgenannten Untersuchungen kann die Nähe literarischer und wissenschaftlicher Erzählungen verdeutlicht werden, da auch in ihnen ländliche Räume als ›gefährdete Lebensform‹ und ungleichzeitige Orte erzählt werden. Hingegen wird in dem von Werner Nell und Mark Weiland herausgegebenen Kompendium Dorf: Ein interdisziplinäres Handbuch (2019) ein analytischerer Ansatz verfolgt. Und Rem Koohlhaas’ Ausstellung Countryside im New Yorker Guggenheim-Museum war als Mischform aus Analyse und Intervention zu verstehen. An diesem letzten Beispiel ist besonders gut zu erkennen, dass der ländliche Raum als Wissensobjekt zu verstehen ist, da die letzten 28 Seiten des Begleitkatalogs nicht mit einer Zusammenfassung, sondern mit Fragen gefüllt sind.52 Fragen wie »Where did the cows go? And when did they leave? Could we no longer tolerate the smell?«53 sind solche nach Zustand und Veränderung ländlicher Räume angesichts einer urbanisierten Welt. Die Feststellung, dass auch in diesem Katalog das Interesse am Land als Verlustgeschichte erzählt wird, ist ein Beispiel für mögliche Ergebnisse der Erforschung einer Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert. Ein vorerst letztes Beispiel für die Entstehung ländlicher Räume als Wissensobjekte sind Feuilleton-Artikel, in denen die Vorstellungen von Landleben aus Landlust und den hier untersuchten Büchern kritisiert werden. Darin wird immer wieder hervorgehoben, dass die Räume der Texte von Biedermeierlichkeit, Natursehnsucht oder Bilder heiler Welten geprägt sind, welche letztlich der Wahrheit über Land entgegenstehen und damit zur Gefahr für reale ländliche Räume werden würden.54 Auch diese implizite Forderung nach Wahrhaftigkeit des Erzählten ist Teil ei-

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dies. (Hg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt, Bielefeld: transcript 2014 (Rurale Topografien 1), S. 13-50, hier: S. 13. Seien dies sozialgeographische Studien wie Marc Redepennings Figuren des Ländlichen. Ein Beitrag zu einer Sozialgeographie der Grenzziehungen und Unterscheidungen oder kulturwissenschaftliche wie Julia Rössels Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktionen durch Zugezogene in der Uckermark, Christoph Baumanns Idyllische Ländlichkeit oder Mareike Egnolffs Die Sehnsucht nach dem Ideal: Landlust und Urban Gardening in Deutschland. Koohlhaas, Rem: Countryside. A Report. Köln: Taschen 2020, 324-352. Ebd., S. 324. Vgl. Stock, Ulrich: Landlust, Landfrust, in: Die Zeit vom 1. Juni 2011, URL: https://www.zeit.d e/2011/23/Landlust-Landfrust [Zugriff am 3.8.2016].

Vorbemerkungen

ner Poetologie des Wissens über Land. Allen diesen Verhandlungen über Land ist gemein, dass sie nach einer Wahrheit über Ländlichkeit suchen, dabei mehr noch nach den Gelingensbedingungen guten Lebens auf dem Land in einer urbanisierten und digitalisierten Gesellschaft fragen und dafür eine Bestandsaufnahme für notwendig erachten. Damit sind sie bei allen Unterschieden gleichermaßen Ausdruck eines umlaufenden Klärungsbedürfnisses, was das eigentlich sei, dieses ›Land‹ und ob da wirklich ›gutes Leben‹ zu erwarten ist. Nun handelt es sich bei den untersuchten Texten nicht um Wissenschaften, aber doch durch den immer wieder formulierten Anspruch einer Aufklärung über ländliche Räume um »Wahrheitsproduktionen«55 , die letztlich zu einer Art ›Wissenschaft vom guten Leben‹ ausgebaut werden.

1.5 Überblick Nach diesem ersten Überblick über Thema, Gegenstand und Zugangsweise dieser Studie ist festzustellen, dass es also im derzeitigen Schreiben über ländliche Räume eine auffällige Häufung von Umzugserzählungen gibt: Sach- und Unterhaltungsliteratur, in welcher der Umzug in den ländlichen Raum als Abenteuer- und Erkenntnis-geschichte verfasst ist. In dieser Studie wird herausgearbeitet, welche narrativen und semantischen Neuerungen mit der darin enthaltenen Neuheitsbehauptung einhergehen und welchen Einfluss ihr Entstehen in einer dominant urbanen Wissensordnung auf das Schreiben über diese Fremde hat. Dafür werden die untersuchten Texte als Ausschnitte einer Wissensordnung verstanden, als Teil einer ›Wissenschaft vom guten Leben‹, von der vorausgesetzt wird, dass sie »die Gegenstände, auf die sie zugreift, selbst erst konstituiert.«56 Es geht in dieser Studie also darum, die narrativen Mittel der Herstellung des dafür notwendigen Wissens herauszuarbeiten, die nicht sofort augenfällig sind, weil sie als Fakten auftreten. Beispielsweise wird zwar bei Dieter Moor ausführlich von der Schönheit ländlicher Räume erzählt, als letztlicher Fluchtpunkt des Buches erscheinen aber diejenigen Sätze, in denen mit Sach- und Erfahrungswissen bewiesen wird, dass der Autor zum ›echten Landbewohner‹ geworden ist und deswegen über Land sprechen kann. Erst durch diese Autorisierungen wird dann auch die Rede vom idyllischen Leben auf dem Land notwendig wahr, was Auswirkungen auf den erzählten Raum hat. Indem die narrative Struktur der Texte sowie ihre Verwandtschaft mit erzählerischen und kulturellen Traditionen untersucht werden, leistet diese Studie ei-

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Barbieri, Alessandro/Vogl, Joseph: Historische Epistemologie und Medienwissenschaft. Ein Gespräch mit Joseph Vogl, in: televisionen. historiografien des fernsehens. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14, 2001, S. 115-128, hier S. 121. Vogl 2011, S. 13.

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Gang aufs Land

nen Beitrag zur Untersuchung einer Poetologie des Wissens über ländliche Räume im beginnenden 21. Jahrhundert. Gerade anhand der Romane der zweiten Untersuchungsgruppe kann verdeutlicht werden, wie unterschiedlich das in Umzugserzählungen enthaltene Wissen schon durch das Erzählen als Erfolg oder Scheitern strukturiert wird und wie eng diese Feststellung mit der Konstruktion (imaginärer) ländlicher Räume verbunden ist. Um diesen unterschiedlichen Aspekten in den Analysen gerecht werden zu können, werden in dieser Arbeit zunächst Theorie und Methodik einer Poetologie des Wissens über Land eingehender vorgestellt. Ziel ist es dabei, literarische Wissensproduktion sowie kulturelle und narrative Tradition zusammenzudenken. Daran schließt in Kapitel drei eine Betrachtung der Tradition des Erzählens über Land an, die als eine Geschichte von Deutungen verstanden wird, in welcher die ländlichen Räume nie nur Räume der Wünsche, sondern auch Wissensobjekte waren. Nach dieser Vorbereitung erfolgt in den Kapitel vier und fünf eine zweigeteilte Analyse der beiden oben vorgestellten Untersuchungsgruppen. Abschließend wird in Kapitel sechs ein Fazit gezogen, um einen narrativen Kern der divergierenden Erzählungen vom Umzug in den ländlichen Raum zu bestimmen und dann dessen Bedeutung für eine Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert herauszustellen.

2. Theorie und Methode

Die Sach- und Unterhaltungsliteratur der ersten Untersuchungsgruppe fällt nur selten in den Gegenstandbereich literaturwissenschaftlicher Betrachtungen, da sie sich zum einen den klassischen Werkzeugen der Literaturwissenschaft entziehen und ihnen zum anderen nur geringes Erkenntnispotential zugesprochen wird. Dass ihre Untersuchung dennoch nötig und wichtig ist, liegt daran, dass die Texte gesellschaftliche Bilder von Ländlichkeit(en) entscheidend mitgestalten und prägen. Das ist zunächst an ihren hohen Auflagezahlen, ihrer Nähe zum kulturell bedeutsamen Landlust-Diskurs und ihrer Fokussierung auf Wissen über Räume erkennbar. Mehr noch wird es aber daran erkennbar, dass die Sach- und Unterhaltungsliteratur entscheidend dafür ist, wie über Land erzählt wird. In dieser Aussage steckt die Vermutung, dass das in dieser ersten Untersuchungsgruppe etablierte Umzugsnarrativ in der zweiten Untersuchungsgruppe Literatur wird. Da beide Gruppen Zugangsmöglichkeiten zum ländlichen Raum wie Wissen über ihn verhandeln, wirken sie letztlich als gleichberechtigte Medien einer Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert, es sind also inhaltliche wie formale Konvergenzen zu erwarten. Das ist auch ohne eine ausführliche Analyse daran festzustellen, dass der Raumübertritt immer wieder als Erfahrungs- und Lernmoment erzählt wird und die autobiographische Anlage den Autor bzw. Erzähler mit Erfahrung ausstattet. Durch diese Erzählverfahren wird der ländliche Raum als unbekanntes Gegenüber formiert und so zum Wissensobjekt gemacht. Indem dann Wahrheit über dieses Wissensobjekt behauptet wird, sind die Bücher an dem Prozess gesellschaftlicher Raumkonfiguration beteiligt. Durch die Nähe zur Ratgeberliteratur werden die Bücher selbst zum Medium des durch Autor bzw. Erzähler erworbenen Wissens und für gesellschaftliche Raumbilder entscheidend. Daran, dass die Texte häufig an Entdeckungs-, Abenteuer-, Idylle- oder Krisen-Narrative anknüpfen, ist zu erkennen, wie Auswahl und Formation des Wissens über Land durch seine narrative Verfasstheit mitbestimmt wird. Um diesem Phänomen der Entstehung eines imaginären Raumes als Wissensobjekt und dessen Bedingtheit durch narrative Traditionen wissenschaftlich fundiert nachgehen zu können, wird in diesem Kapitel zunächst der theoretische An-

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Gang aufs Land

satz der Poetologie des Wissens ausformuliert sowie dessen Analyse in den Texten methodisch vorbereitet. Im Anschluss daran wird auf die Besonderheiten eingegangen, die aus dem Schreiben über Raum folgen, also auf die Produktion imaginärer Räume durch Literatur sowie das epistemische Potenzial dieser Raumkonstruktionen. Die Frage, welche Merkmale sich aus der Untersuchung von gerade Sach- und Unterhaltungsliteratur für die Produktion von Wissen und Raum ergeben können, bildet den Abschluss dieses Kapitels. Dieses Kapitel kulminiert in dem Vorschlag, mit einem weiten Begriff von Erzählen und Narrativen und einem Verständnis ruraler Räume als Wissensobjekte ein Fundament für die Untersuchung einer Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert zu legen.

2.1 Poetologien des Wissens Wissenschaft und Poesie sind gleichermaßen Wissen.1 Die Untersuchung von Poetologien2 des Wissens fußt auf einem Verständnis von Wissen, das letztlich auf Michel Foucaults Diskurstheorie basiert und wonach »eine literarische Fiktion, eine wissenschaftliche Proposition, ein alltäglicher Satz, ein schizophrener Unsinn usw. gleichermaßen Aussagen sind, wenngleich ohne gemeinsames Maß, ohne jede Reduktion oder diskursive Äquivalenz.«3 Fakt und Fiktion, Literatur und Wissenschaft sind kategorial gleichgestellt, weil sie 1

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Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 34. Siehe auch Vogl, Joseph: Einleitung, in: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München: Wilhelm Fink 1999, S. 7-16, hier: S. 14. Ich verwende hier den Begriff der Poetologie anstatt ›Poetik‹ aus zwei Gründen: 1. Um die Assoziation von ›Poetik‹ mit Regelpoetiken zu vermeiden, da die Untersuchungsgegenstände keinem normierenden System entspringen. 2. Sind seit Jacques Rancière Poetiken des Wissens der Analyse der Verfahren vorbehalten, »durch die eine Rede sich der Literatur entzieht«, also der Untersuchung wissenschaftlicher oder historiographischer Texte; Rancière, Jacques: Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1994, S. 17. Hingegen wird mit Poetologien des Wissens im Sinne Joseph Vogls in Erweiterung dieses Verfahrens die Verkettung von Literatur und Wissen in zwei Richtungen untersucht: wie Literatur durch Wissen diskursiv präfiguriert ist und wie Wissen durch Literatur geprägt wird; vgl. Vogl 1999, S. 13. Sie ist also eine »als eine Lehre von der Verfertigung der Wissensformen« zu verstehen; Vogl, Joseph: Poetologie des Wissens, in: Simon, Ralf (Hg.): Poetik und Poetizität. Berlin/Boston: de Gruyter 2018 (Grundthemen der Literaturwissenschaft IX), S. 460-474, hier: S. 463. Ebd. Damit greift Deleuze auf den wissenssoziologischen Aspekt im Werk Foucaults zurück, in dem Letzterer nach den Entstehungsbedingungen von Wissen fragt und diese in enge Verwandtschaft mit dem Begriff der Macht stellt. Zu dieser Verknüpfung von Wissen und Macht in Foucaults unterschiedlichen Werkphasen vgl. Kajetzke, Laura: Wissen im Diskurs. Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault, Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 34-46.

Theorie und Methode

aus den gleichen Diskursen und Dispositiven entstehen und diese dann weiter mitbestimmen, sei es in Inhalt oder Form.4 Gerade in der Untersuchung von Sachliteratur liegt dabei ein großes Potenzial, denn in dieser wird wiederholt versucht, den Zusammenhang zwischen Darstellung und Inhalt zu verschleiern, das Sachbuch »will […] seine Leser glauben machen, dass seine Existenz und Eigenart ganz und gar am Dasein einer Sache hängen und nicht auf literarische oder mediale Entwicklungen verweisen.«5 Es ist also herauszuarbeiten, an welchen Stellen das in den Sachbüchern erzählte Wissen und die erzählten Räume in Inhalt und Form über den tatsächlichen Erfahrungsbericht hinausgehen und zu welchen literarischen wie kulturellen Traditionen und Entwicklungen hierbei Konvergenzen festzustellen sind. Also ist zu fragen, welche Erfahrung warum und wie als neu bzw. als Wissen gekennzeichnet wird. Dabei wird zu untersuchen sein, inwiefern die Umzugserzählung selbst als ein Verfahren zu deuten ist, was den Unterschied von Fakt und Fiktion brüchig macht, denn auch das Erzählen der Sachliteratur ist letztlich kein mimetisches, sondern ein poietisches Verfahren.6 Beispielsweise wird in den Sachbüchern der ersten Untersuchungsgruppe der ländlicher Raum zunächst positiv als Ort guten Lebens oder negativ als verfallender Ort beschrieben, um ihn dann durch die im Umzug erlangten Erfahrungen in einen Lebensraum zu transformieren. Die Umzugserzählung ist die narrative Entsprechung dieses Erkenntnisprozesses. Es gilt dann, danach zu schauen, inwiefern die Wahl der Form

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Damit ist nicht die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wissenschaft als zwei Schreibformen eines Gegenstands oder zwei getrennter Systeme gemeint. Diese Frage führt auf eine weite Definition von kulturellem Wissen, die explizit auf alles zielt, was »für wahr [ge]halten« wird: »›Kulturelles Wissen‹ […] soll die Gesamtmenge der Aussagen/Propositionen heißen, die die Mitglieder eines räumlich und zeitlich begrenzten soziokulturellen Systems (›Epoche‹, ›Kultur‹) für wahr halten – unabhängig davon, ob eine solche Proposition im Rahmen unseres Wissens als wahr gilt oder nicht, und unabhängig davon, ob im System der Proposition der epistemische Modus des Wissens […] oder des Glaubens zugeschrieben wird«; Richter, Karl/Schönert, Jörg/Titzmann, Michael: Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation, in: dies (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaft 1770-1930. Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1997, S. 9-36, hier: S. 11. Hahnemann 2006, S. 144. Jede Kommunikation über (wissenschaftliche) Entdeckung folgt einer Erzählung, die sich zumeist in einer dreigliedrigen Struktur analysieren lässt: der Beschreibung eines Ausgangszustands vor der eigenen Forschung, eines Endzustands aus den eigenen Entdeckung, sowie der Schilderung des dazwischenliegenden Vorgehens. Letzteres markiert sowohl temporale wie inhaltliche Differenzen als Regelbruch oder Revolution. Die Ausgestaltung dieses Dreischritts folgt Erzählmustern, welche durch ihre kulturelle Prägung die einfachen Übergänge zwischen den Zuständen mit Bedeutung versehen; vgl. Schreiber, Dominik: Narrative der Globalisierung: Gerechtigkeit und Konkurrenz in faktualen und fiktionalen Erzählungen, Wiesbaden: Springer VS 2015 (Theorie und Praxis der Diskursforschung), S. 26.

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nicht nur die Überzeugungskraft des Textes bestimmt, sondern auch seine (Wissens-)Inhalte. Aus diesen Beobachtungen ergibt sich die Wahl der Poetologie des Wissens als theoretische Grundlage für das methodische Vorgehen in dieser Untersuchung, da sie »die Herkunft von Wissensobjekten und Aussagen unmittelbar mit der Frage nach deren Inszenierung und Darstellbarkeit verknüpft«.7 Die Poetologie des Wissens fußt letztlich auf einer älteren Idee der Kulturpoetik, der Untersuchung der »Topik und Rhetorik von Texten in ihrer Kultur«,8 und lässt dementsprechend Feststellungen zu, wie jene, dass in einer dominant urbanen oder ruralen Raumordnung jeweils andere Formationen von Wissen über Land und Ländlichkeit entstehen.9 Wissensobjekt kann der ländliche Raum nur werden, wenn er Fremde ist, und diese Fremde wird als kulturell konstruiert verstanden. Joseph Vogl beschreibt damit einen Ansatz, der »das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift«.10 Es geht im Aufdecken von Poetologien des Wissens erstens um den Zweifel daran, dass Geschichte zeitlose Gegenstände hätte, die durch ihre Wissenschaftlichkeit garantiert werden könnten, denn diese Gegenstände werden ihrerseits von der Geschichte hervorgebracht und verweisen diese selbst wiederum auf ihre eigene Genealogie. Und zweitens gibt es keinen Gegenstand des historischen Wissens, der nicht selbst in seinen begrenzten zeitlichen Darstellungsbedingungen beschrieben werden könnte.11

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Vogl 1999, S. 7. Basler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen: Narr Francke Atempo 2005, S. 235. Sie entsteht also in Folge des New historicism und damit einer Analyse der Texte im Kontext einer als textuell verstandenen Kultur. Die Poetik des Wissens hingegen war noch stärker an der Frage interessiert, wie in der Geschichtsschreibung Wissen erzeugt und ›bewiesen‹ wird. Bei Rancière heißt es entsprechend: »Die Poetik des Wissens interessiert sich für die Regeln, nach denen ein Wissen geschrieben und gelesen wird, sich als eine spezifische Rede konstituiert. Sie versucht, den Wahrheitsmodus zu definieren, dem sie sich verschreibt, nicht jedoch, ihm Normen zu setzen, seinen wissenschaftlichen Anspruch für gültig oder ungültig zu erklären.« Rancière 1994, S. 17. Joseph Vogl versteht unter ›Poetologien des Wissens‹ Forschungen, die einige hergebrachte Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft verneinen und annehmen, dass »jede Wissensordnung bestimmte Darstellungsoptionen ausbildet, […] die über die Möglichkeit, über die Sichtbarkeit, über die Konsistenz und die Korrelation ihrer Gegenstände«, also letztlich über das Auftauchen von Wissensobjekten entscheiden; Vogl 2011, S. 13. Vgl. dazu auch Krause, Marcus/Pethes, Nicolas: Zwischen Erfahrung und Möglichkeit: Literarische Experimentalkulturen im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Literarische Experimentalkulturen: Poetologien des Experiments im 19. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, S. 7-18, hier S. 11f. Vogl 1999, S. 13. Barbieri/Vogl 2001, S. 120f.

Theorie und Methode

Damit wird nach den »Bedingungen […], unter denen solche Objektverhältnisse überhaupt erst zustande kommen«,12 gefragt, also unter welchen diskursiven Bedingungen ländliche Räume zu Gegenständen von Sachliteratur werden konnten bzw. als Wissensobjekte erzeugt werden und welche Historizität dabei zu Tage tritt. Die so untersuchten Texte gehen nicht nur aus der Diskursgeschichte des Gegenstands hervor, sondern auch wieder in sie ein, beeinflussen also seine weitere Deutung gleichermaßen.13 Dass in einem solchen diskursorientierten Verständnis von Literatur und Wissen die Art oder ›Qualität‹ der untersuchten Texte keine Rolle spielt, ist an einem einfachen Beispiel ersichtlich: Auch wenn das von Werner Nell und Marc Weiland herausgegebene Kompendium Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch (2019) sicher ein umfassenderes und realitätsnäheres Bild von Ländlichkeit zeichnet, ist Dieter Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht ebenso ein Dokument, das Wissen über Dorf und Ländlichkeit transportiert und formiert – sogar mit größerer gesellschaftlicher Breitenwirkung. Beide entstehen aus einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur heraus, einer bestimmten narrativen und semantischen Vorbestimmung des Gegenstands sowie einer umlaufenden Interessenlage: Was ist das eigentlich, ›das Land‹? Sie folgen dabei Darstellungsformen, -techniken und -konventionen, welche das in ihnen dargestellte Wissen beeinflussen. Dieses Verhältnis von Form, kultureller Interessenlage und Inhalt, und wie sich die Faktoren gegenseitig bedingen, ist Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung und ausschlaggebend für die Analyse einer Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert. Da es sich bei der Poetologie des Wissens eher um eine Frage- bzw. Zugangsweise handelt, ist sie »keiner Methode, keiner bestimmten Praxis der Analyse verpflichtet«.14 In dieser Untersuchung werden nun erzählanalytische Verfahren als eine Methode zum Herausarbeiten wiederkehrender narrativer Strukturen und damit einer einer Poetologie des Wissens genutzt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass das Entstehen von Erzählungen sowie das Verfestigen dieser in Narrativen nicht nur formale, sondern auch semantisch und epistemisch relevante Vorgänge sind. Albrecht Koschorke hat mit einem kulturanalytischen Verständnis von Erzählen gezeigt, dass

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Gess, Nicola/Janßen, Sandra: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Wissensordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur, Berlin/Boston: de Gruyter 2014 (Spectrum Literaturwissenschaft 42), S. 1-15, hier: S. 1. Vogl geht von einem solchen Zusammenhang von Literatur, Wissen und Diskurs aus, ihm sind literarische Texte »Speicher der Gegenwart«, ihr Wissen ist »vielleicht vorbegrifflich, aber nicht vordiskursiv«; Vogl 2002, 14f.; vgl. auch Graduiertenkolleg Literarische Form: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Formen des Wissens. Epistemische Funktionen literarischer Verfahren, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017 (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 360), S. 9-28, hier: S. 19. Vogl 1999, S. 16.

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»kulturprägende Narrative als Institutionen im Reich der Semantik«15 zu verstehen sind, da sie Dispositive sind, die eine »Stabilisierungsleistung im Modus unvollständigen Wissens erbringen«.16 Dabei bilden Narrative nicht nur Wissen ab, sondern organisieren und produzieren es. Das Entstehen von Narrativen und Erzählungen ist in diesem Sinn »ein kulturelles Verfahren der Summierung, Verallgemeinerung, Abbreviatur, der suggestiven Motivierung und Erzeugung von tentativer Kausalität unter Bedingungen unvollständigen Wissens«.17 Nach Koschorke gilt zudem, [j]e mehr soziale Energie ein Narrativ in sich aufnimmt und bindet, desto unabhängiger macht es sich im Regelfall von dem Kriterium überprüfbarer Referentialität. Es modelliert also das Wissen und das Nichtwissen einer Gesellschaft in gleicher Weise.18 Erzählungen und Narrative sind also an der Ordnung von Wissen beteiligt, die Analyse ihrer narrativen Form kann den epistemischen Gehalt von Texten zum Vorschein bringen. Und in den präferierten Erzählformen eines Diskurses stecken auch Erkenntnisinteresse und Wissen über seinen Gegenstand. Die Untersuchung von Erzählungen und Narrativen kann demnach als Methode der Poetologie des Wissens über Land verwendet werden. In Folge dessen wird in der Analyse danach gefragt, wie der ländliche Raum zum Wissensobjekt, zum fremden Gegenüber, wurde und wie er als solches in Inhalt und Form narrativ strukturiert wurde und wird. Konkret auf die Texte bezogen, realisiert sich das in Fragen dieser Art: Zwischen welchen epistemischen und räumlichen Zuständen vermittelt der Text? Wie wird der Übergang zwischen diesen Zuständen erzählt? Wird der Übergang als Novum oder als Tradition erzählt? Wie wird Erkenntnis erzählt? Wie offenbaren sich Raum- und Figurengeschichten dem Erzähler? Wie wird Zuverlässigkeit des Wissens behauptet? Ist der erzählte Raum bekannt oder fremd? Wann wird das Land als reale, wann als unmögliche oder gar magische Welt erzählt? Wird der Raum eher als loses Kuriositätenkabinett erzählt oder werden die Geschehnisse und ihre Erläuterungen narrativ verbunden?19 Aus welchen narrativen Traditionen und Diskursen entstehen Erzählen und Wissen und welche davon werden offengelegt? Wird die Auswahl des Erzählten und damit die

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Koschorke 2012, S. 293. Ebd., S. 300. Ebd. Ebd., S. 351. Zur Bedeutung der erzählerischen Verknüpfung als Form der narrativen Aneignung des Fremdem vgl. Röcke, Werner: Die narrative Aneignung des Fremden. Zur Literarisierung exotischer Welten im Roman des späten Mittelalters, in: Münkler, Herfried/Ladwig, Bernd (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 347-378, hier: S. 361f.

Theorie und Methode

konstruktive Bedeutung des Erzählens reflektiert? Werden die Erkenntnisse als ausgewählt oder natürliche Folge des Umzugs erzählt? Wie wird der ländliche Raum erkannt, durch Fühlen, Sinnlichkeit, Information, eigene Entdeckung oder geführte Zugänge? Wird eine Wechselwirkung zwischen Erzähler und Ort behauptet? Für wen wird das Wissen zugänglich gemacht? Und abschließend ist zu fragen: Was ›weiß‹ nun also die Sach- und Unterhaltungsliteratur, was ›wissen‹ Romane vom ländlichen Raum und wie wird dieses Wissen erzählt? In den nun folgenden Ausführungen zu Theorie und Methode wird zunächst der zugrunde gelegte Wissensbegriff expliziert und dann ein erzählanalytisches Modell vorgeschlagen, das auf der kulturanalytischen Theorie des Narrativen von Albrecht Koschorke sowie einem konstruktivistischen Verständnis literarischer Räume beruht. Damit werden dann in den Kapiteln zu Tradition und Analyse Erzählungen und Narrative untersucht, die als Entstehungs- und Formbedingungen des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert gedeutet werden.

2.1.1 Das Wissen der Literatur Wissen ›an sich‹ können wir weder anfassen noch isoliert studieren. Beschreiben und erklären können wir die Formate in denen es fixiert und tradiert, bzw. die Praktiken, mit denen es erzeugt und weitergegeben wird.20 Auf den vorherigen Seiten wurde bereits angedeutet, dass der Poetologie des Wissens ein Begriff von Wissen zugrunde liegt, wonach Wissen als Ergebnis sozialer und medialer Praktiken verstanden wird. Nach Foucault gilt, man könne alle »von einer diskursiven Praxis regelmäßig gebildeten und für die Konstitution einer Wissenschaft unerläßlichen Elemente […]Wissen nennen.«21 Das geht über den seit Platon verbreiteten Wissensbegriff hinaus, nach dem Wissen als wahre, gerechtfertigte Überzeugung verstanden wird.22 Mit Foucaults Wissensbegriff können auch unreflektierte Meinungen, Überzeugungen, Routinen, Wünsche, sprich in einer Kultur vorhandene Annahmen und Praktiken, als Wissen verstanden werden.23 Wissen ist 20 21 22

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Klausnitzer, Ralf: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin/New York: de Gruyter 2008, S. 26. Foucault 1992, S. 259. Diese Definition geht auf Platons Menon (97a-98b) zurück. Insbesondere die Betonung auf die Begründung der Überzeugung findet sich im Verweis auf den Logos im Theaitetos (201c9-d1). Diese Zusammenstellung verdanke ich Kutschera, Franz von: Der Wissensbegriff bei Platon und heute, in: Rapp, Christoph/Wagner, Tim (Hg.): Wissen und Bildung in der antiken Philosophie. Stuttgart: J. B. Metzler 2006, S. 87-102, hier S. 88-90. Vgl. Fulda, Daniel: »Sçavoir l’histoire; c’est connoitre les hommes«. Figurenwissen und Historiographie vom späten 17. Jahrhundert bis Schiller, in: Jappe, Lilith/Krämer, Olaf/Lampart, Fabian (Hg.): Figurenwissen. Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung, Berlin: de Gruyter 2012, S. 75-113, hier: S. 77. Seit Gilbert Ryle werden gemeinhin propositio-

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dann gerichtet »nach den sozialen oder diskursiven Zusammenhängen, die es hervorbringen«.24 Es ist zudem als eine »elementare Ressource zur Reproduktion von Kulturen und Gesellschaften zu begreifen«.25 Wissen ›hat‹ man dann nicht im alltagssprachlichen Sinne, es ist etwas, »was in unserer Kultur, in Organisationen, ja in uns steckt und gleichsam verkörperlicht wird«.26 So wird nicht mehr nur explizites Faktenwissen, sondern auch implizites Wissen zum Kernpunkt neuerer Wissenssoziologie, wonach Wissen etwas ist, »das ganz wesentlich menschliches Handeln leitet.«27 Diese Untersuchung basiert also auf einem kulturwissenschaftlich orientierten Verständnis von Literatur als Medium, welches aus verschiedenen Diskursen und Wissensbereichen hervorgeht und diese wiederum beeinflusst. Literatur kann wegen ihres produktiven Charakters und ihrer Unabhängigkeit von Wahrheitsfragen eigene Wissensordnungen und somit eigene Wissensobjekte konstituieren.28 Die genuine Funktion von Literatur im Zusammenhang mit Wissen ist dabei aber nicht die Bereitstellung von propositionalem Wissen, sondern vielmehr dient sie dazu, »uns mit bestimmten Erfahrungen bekannt zu machen und uns die Welt aus einer bestimmten Perspektive zu präsentieren.«29 In dieser Tradition gilt Literatur seit dem 18. Jahrhundert als Mittel der Erkenntnis, das anders als Einzelwissenschaften in der Lage ist, ein Subjekt ganzheitlich zu erfassen.30

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nales Wissen (Wissen, dass) und praktisches (Wissen, wie) unterschieden und gelegentlich um phänomenales Wissen (wie es ist, etwas wahrzunehmen, zu fühlen oder zu erleben) erweitert; vgl. dazu Jung, Eva-Maria: Gewusst wie? Eine Analyse praktischen Wissens, Berlin/ Boston: de Gruyter 2012, S. 10; Klausnitzer 2008, 27, 30-32, 44f; einige dieser Überlegungen verdanke ich auch Türke, Nadja: Ökologisch-nachhaltiges Leben im Selbstversuch, in: Zemanek, Evi (Hg.): Ökologische Genres: Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018 (Umwelt und Gesellschaft 16), S. 379-390, hier: S. 384f. Gess/Janßen 2014, S. 5. Deren Unterscheidung schließt letztlich auch an Ludwik Flecks Untersuchung Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv (1935) an. Wolf, Burkhardt: Räume des Wissens, in: Dünne, Jörg/Mahler, Andreas (Hg.): Handbuch Literatur und Raum, Berlin/Boston: de Gruyter 2019, S. 115-125, hier: S. 116. Knoblauch, Hubert: Sinnformen, Wissenstypen und Kommunikation, in: Willems, Herbert (Hg.): Lehr(er)buch Soziologie: Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. Band 1, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 131-146, hier: S. 134. Ebd. Vgl. zu diesem Wissensbegriff auch Becker, Sabina/Krause, Robert: »Tatsachenphantasie!«. Alfred Döblins Poetik des Wissens im Kontext der Moderne, in: dies. (Hg.): Alfred-Döblin-Kolloquium Emmendingen 2007, Bern u.a.: Peter Lang 2008 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte), S. 9-23, hier: S. 10. Vendrell-Ferran, Íngrid: Das Wissen der Literatur und die epistemische Kraft der Imagination, in: Demmerling, Christoph/Dies. (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge, Berlin: Akademie Verlag 2014. S. 119-140, hier S. 127. Vgl. ebd.

Theorie und Methode

Mit einem ähnlichen Fokus hat Albrecht Koschorke in seiner Erzähltheorie Wahrheit und Erfindung gezeigt, dass in Narrativen das mäandernde Wissen von den Rändern des Diskurses, das für die Wissenschaften unzugängliche oder belanglose, das Ausgeschlossene, Nicht-Gewusste gesammelt wird. Da Literatur über das Faktische hinausgehen kann, ist sie bevorzugtes Medium dieser Narrative, sie kann philosophisches, hypothetisches oder auch irreales Wissen beinhalten, ein »›Wissen, wie es wäre‹, in einer bestimmten Situation zu sein.«31 In diesem Verständnis dient Literatur als Experiment, denn [l]iterarische Texte imaginieren Handlungen in fiktionalen Räumen und also gleichsam auf Probe; sie spielen kontrafaktische Annahmen durch und entwickeln Szenarien, in denen differenzierte Planungen angestellt, Vermutungen getestet und Erfahrungen formuliert werden können.32 Erzählungen vom Umzug in den ländlichen Raum handeln letztlich von Experimenten zur Beantwortung der Frage, ob der ländliche Raum auch heute noch das lange mit ihm verbundene Versprechen einlösen kann, Ort guten Lebens zu sein. Anders als im Falle der überwiegend auf ästhetische Durchformung setzenden Magazine wie Landlust, setzt die Gestaltung der Sach- und Unterhaltungsliteratur als Experiment ein unwissendes Publikum und dessen Validierung der Ergebnisse voraus, da die moderne wissenschaftliche Methodik des Experiments nicht zuletzt auf die literarisch produzierte Präsenz eines spezifischen Publikums angewiesen ist. Die zentrale wissenschaftliche Kategorie der Erfahrungstatsache […] ist nämlich an ihre Validierung […] durch ein Publikum gebunden.33 Bezogen auf die populären Sachbücher gilt dieser Validierungszwang zunächst der Annahme, dass es auf dem Land überhaupt etwas Fremdes zu entdecken gibt. Denn sie entstehen in einer Zeit, in der die nahe Familiengeschichte vieler Leser noch auf dem Land stattgefunden hat und in der Bilder vom Land als ästhetisierte Idyllen flächendeckend verfügbar sind. Also muss für diese Behauptung von Fremdheit ruraler Räume eine Erzählung gefunden werden: Die Umzugsgeschichte. Diesen erzählten Umzugsexperimenten liegt dabei ein altes Narrativ zugrunde: das von der Entfremdung vom ländlichen Raum oder von der Natur, aus der

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Ebd., S. 135 Klausnitzer 2008, S. VII. Gipper, Andreas: Wunderbare Wissenschaft. Literarische Strategien naturwissenschaftlicher Vulgarisierung in Frankreich, München: Wilhelm Fink Verlag 2002, S. 18. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Oels, David: Wissen und Unterhaltung im Sachbuch oder: Warum es keine germanistische Sachbuchforschung gibt und wie eine solche aussehen könnte, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge, 15 (1), 2005, S. 8-27, hier: S. 24.

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seine oder ihre Wiederentdeckung notwendig wird – die Entstehung und Besonderheiten dieses Narrativs werden im später folgenden Traditionskapitel herausgearbeitet. Dann geht es in dieser Untersuchung darum, die Entfremdungs-, Aneignungs- und Überzeugungsvorgänge und ihre literarischen Formen zu identifizieren und auf Konvergenzen bzw. Divergenzen untereinander sowie zu ihrer Tradition zu überprüfen.34 Gerade dieses Wiedererzählen von Entfremdung, Aneignung und Überzeugung wird als Ausdruck eines nach wie vor ungeklärten Verhältnisses zwischen Stadt und Land verstanden, wobei gerade dadurch Narrative ihre kulturbestimmende Funktion erfüllen, nämlich als »Stabilisierungsleistungen im Modus unvollständigen Wissens«35 zu funktionieren. Die hier untersuchten Bücher der ersten Untersuchungsgruppe stellen insofern einen Sonderfall dar, als für Ratgeberliteratur subjekt- und kontextgebundenes Wissen konstitutiv ist, das zumeist in einer Figur gesammelt wird und auf Imitation durch die Lesenden zielt. Dieser Wissensbegriff umfasst »[n]eben deklarativen, propositionalen Formen […] auch nicht-propositionale Wissensformen, d.h. Unterscheidungswissen […], Erfahrungswissen […], praktisches Gebrauchswissen […] und praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten«.36 Wie Literatur und Kulturgeschichte das Wissen über ein Objekt bestimmen können, ist beispielhaft daran zu zeigen, wie das ›Modell Romantik‹37 zur anhaltend dominanten Beschreibungs- und Deutungskonvention von Natur geworden ist. Die in der Romantik definierten Möglichkeiten des Schreibens über Natur sind exemplarisch bei Novalis formuliert: »Man kann nicht sagen, dass es eine Natur gebe, ohne etwas überschwängliches zu sagen, und alles Bestreben nach Wahrheit in den Reden und Gesprächen von der Natur entfernt nur immer mehr von der Natürlichkeit.«38

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Vgl. hierzu Oels 2005, S. 21-23; vgl. auch den Sammelband Kretschmann, Carsten (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel, Berlin: Akademie Verlag 2003. Koschorke 2012, S. 300. Albrecht, Andrea: Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon, in: Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin: de Gruyter 2011 (linguae & litterae 4), S. 140-163, hier: S. 142. Diese Deutung des ›Modells Romantik‹ wird derzeit an der Universität Jena in einem DFGProjekt untersucht; vgl. hierzu die Internetseiten des Projekts, URL: http://modellromantik .uni-jena.de/forschungsprofil/ [Zugriff am 20.1.2020]. Zur spezifischen romantischen Wissenspoetik vgl. Brandstetter, Gabriele/Neumann, Gerhard (Hg.): Romantische Wissenspoetik: die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 (Stiftung für Romantikforschung 14). Novalis: Die Lehrlinge zu Saïs. 2. Die Natur, in: ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1.: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hg. von Richard Samuel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 205-234, hier: S. 207. Damit darf aber nicht darüber hinweggegangen werden, dass insbesondere den romantischen Dichtern darum zu tun war, Wissenschaft und Kunst nicht als agonale Gegensätze, sondern zusammen zu denken; vgl. Engel, Manfred: Naturphilosophisches Wissen und romantische

Theorie und Methode

Ab diesem Zeitpunkt scheint klar zu sein, dass Wissen über Natur in einem engen Wissensbegriff nicht möglich ist, zugleich sind aber die Chancen eines weiten Wissensbegriffs im Schreiben über Natur angelegt, was sich in den letzten Jahren nicht nur in einer Verbreitung von nature writing, sondern auch in einer steigenden Zahl von Sachbüchern zum Ausdruck kommt, die über den rein darstellenden Modus hinausgehen, populär zu nennen wäre Peter Wohllebens Das geheime Leben der Bäume (2015). Der so entstehende Raum der Natur ist maßgeblich durch das über ihn vermittelte Wissen geprägt, wobei eben auch durch Kultur- und Geistesgeschichte definiert wird, was als Wissen gilt und in welchen Formen es auftaucht. Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, hängt die Entstehung imaginierter Räume also maßgeblich mit der Darstellung des ›in ihnen‹ erzählten Wissens zusammen. Diese im knowledge turn der Raumwissenschaften angelegte Verbindung von Wissen und Raum wird im folgenden Kapitel weiter ausgeführt.39

2.1.2 Epistemische Raumvermessungen Das Charakterbild einer wilden, oder einer kultivierten Natur ersteht durch die Darstellung sowohl der Hindernisse, die sich dem Reisenden entgegenstellen, als auch seiner eigenen Empfindungen.40 Mit diesem Satz hat Alexander von Humboldt die enge Verknüpfung von Raumbildern und den sie bedingenden Vorurteilen, Gefühlen und Erlebnissen beispielhaft auf den Punkt gebracht. Das Charakterbild ›wilde Natur‹ wird im Reisebericht erst im Zusammenspiel der topologischen Eigenschaften des Raumes und der subjektiven Empfindungen des Autors gebildet, es ist dadurch keine natürliche, sondern eine kulturelle Einheit. Erst aus diesem Zusammenspiel entsteht die Besonderheit des Reiseberichts, reale Räume fiktiv zu erschaffen. Denn Reiseberichte werden am Ende der Reisen verfasst, wenn man schon alles über den Zielort weiß. Dann aber

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Literatur – am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik, in: Danneberg, Lutz/Vollhardt, Friedrich: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 65-91, hier: S. 65. Denn seit dem knowledge turn »wird Wissen in seinen verschiedenen Repräsentations- und Institutionalisierungsformen […] als strukturierende Kraft des Raumes begriffen.« Koch, Gertraud: Raum als Wissenskategorie – Raumkonzepte und -praktiken in Prozessen der Wissenserzeugung, in: Ibert, Oliver/Kujath, Hans-Joachim (Hg.): Räume der Wissensarbeit. Zur Funktion von Nähe und Distanz in der Wissensökonomie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 269-285, hier: S. 269. Humboldt, Alexander von: Reise in die Quinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents, hg. von Ottmar Ette, 2 Bde. (1. Bd.), Frankfurt a.M./Leipzig: Insel 1991, S. 34. Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Krüger, Tobias: Meerfahrten: Poetik und Ethik eines Narrativs zwischen Wissenskultur und Weltverhalten, Paderborn: Wilhelm Fink 2018 (Ethik – Text – Kultur 14), S. 11.

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in zeitlicher wie epistemischer Chronologie zu erzählen und die eigene Wissensund Vorurteilsstruktur auszublenden, ist für den Erfolg der Erzählung relevant. Für Humboldt erwächst aus der Feststellung eine besondere Aufgabe für die Autoren: den eigenen Wissensvorsprung am Anfang seiner Erzählung auszublenden, um sich auf eine Stufe mit seiner angenommenen Leserschaft zu begeben.41 Trotz aller potenziellen subjektiven Färbungen macht der Autor mit seinem stellvertretenden Vollzug für die Daheimgebliebenen eine Erweiterung des Wissens vom heimischen Sofa aus möglich. Die so erreichte Verschränkung von Erfahrung, Erkenntnis und Erzählen ermöglicht den symbolischen Nachvollzug der Reise qua Lektüre.42 Das hier immer wieder angeklungene Verhältnis von Literatur und Raum wird im Folgenden weiter ausgeführt, dabei werden insbesondere die Konstruktion von Räumen durch Literatur ebenso wie die Bedeutung von Raumübertritten in Literatur erläutert.

2.2 Schreiben über Land Man müßte eine ganze Geschichte der Räume schreiben – die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre […]. Es überrascht, wenn man sieht, welch lange Zeit das Problem der Räume gebraucht hat, um als historisch-politisches Problem aufzutauchen.43 Foucault macht in seinen Ausführungen in Das Auge der Macht deutlich, dass die Beschreibung von Räumen nicht nur auf eine topologische Dimension begrenzt werden darf, sondern auch politische, moralische und kulturelle Dimensionen zu beachten sind. Darin steckt auch die hier zugrundeliegende Annahme, dass die Bilder von Räumen entscheidend für den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen sind. Wenn Brandenburgs ländliche Regionen bei Dieter Moor oder Irmgard Hochreither als Orte der Erholung und Natürlichkeit beschrieben werden, dann sind damit Räume in der Tradition von Idylle und Helmut Kohls ›blühenden Landschaften‹ gemeint. Demgegenüber stehen Feuilletonartikel und Bücher, die Brandenburg und andere ostdeutsche Dörfer und Kleinstädte als Orte von Abwanderung und Verfall erzählen. Beide Bilder existieren völlig unbeschadet nebeneinander, sie betonen unterschied-

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Vgl. Krüger 2018, S. 11f. Vgl. zu diesem wechselseitigen Prozess, insbesondere zu den Erwägungen hinsichtlich der Umzugserzählung als praktisches Verfahren auch Krüger 2018, S. 13f. Foucault, Michel: Das Auge der Macht, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 3: 1976-1979, hg. von Daniel Defert/François Ewald/Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 250-271, hier: S. 253.

Theorie und Methode

liche Lebenswirklichkeiten und Eigenschaften des Raumes.44 ›Der ländliche Raum‹ ist auch ein anderer, wenn Judith Zander (Dinge, die wir heute sagten) oder Jan Böttcher (Das Kaff ) ihre Figuren in die Orte ihrer Kindheit zurückkehren lassen, wenn Alina Herbing ihre Figur in die Stadt fliehen lässt (Niemand ist bei den Kälbern) oder wenn Dieter Moor sich selbst in den (halb-)fiktiven brandenburgischen Ort Amerika umziehen lässt. Alle diese Erzählungen haben durch die Gestaltung von Wissen und Raum Auswirkungen auf die mediale und kulturelle Wahrnehmung des Ortes. Ländlichkeit ist nicht als reine Raumkategorie, sondern als soziokulturelle Produktion und als Relationsbegriff zu verstehen, der sich stetig verändert und verändert werden kann.45 Dieser Untersuchung liegt daher ein konstruktivistisches Raumverständnis zugrunde, was im folgenden Abschnitt nochmal erläutert wird.46

2.2.1 Räume schreiben Durch die eben umrissene Erkenntnis des spatial turns müssen Räume eben nicht mehr als unveränderbare Behälter, sondern als fluide Gebilde gedacht werden, die in wechselseitiger Einflussnahme sowohl zu ihren Inhalten als auch zu den sie umgebenden Nachbarräumen stehen.47 Damit tritt »eine Beschreibung räumlicher Verhältnisse hinsichtlich kultureller und medialer Aspekte«48 vor rein physikalische Verstehensweisen und Räume müssen als durch gesellschaftliche Sinnbildungs-

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Jede Geschichte eines Raumes produziert bestimmte symbolische Formate und Kommunikationen über den Raum, diese sind somit Teil ihrer Raumgeschichte; vgl. Schmidt u.a. 2015, S. 9. Das schließt an die Frage an, wie der »Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Raum durch Einführung der Semantik des Ländlichen bestimmt gemacht wird.« Redepenning 2010, S. 97. Nach Marc Redepenning ist »Ruralität also als eine gesellschaftlich vermittelte Idee oder Vorstellung vom Ländlichen zu behandeln, die in unterschiedlichen Formaten ihre spezifische Darstellung erfährt.« Ebd., S. 99. Ruralität ist so »ein Effekt bestimmter sozialer, kultureller und ökonomischer Bedingungen in einem Raum und damit offen für Veränderungen und regionalpolitische Maßnahmen«; ebd., S. 101. Solche Fragen gewinnen spätestens mit dem spatial turn oder topographical turn der Kulturund Sozialwissenschaften in den 1980er Jahren Bedeutung. Sigrid Weigel hat später den topographical turn ausgerufen. Dieser leiste eine Stärkung der »Untersuchung der Bedeutung topographischer und kartographischer Kulturtechniken für die Konstitution von Kulturen«; Weigel, Sigrid: Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte, in: KulturPoetik 2, 2002, S. 151-165, hier: S. 159. Bourdieu 2017, S. 17. Günzel, Stephan: Einleitung. Raum – Topographie – Topologie, in: ders. (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007 (Reihe Kultur- und Medientheorie), S. 13-30, hier: 13.

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prozesse veränderbar verstanden werden.49 Insbesondere an ›prekären‹ Orten wie verlassenen Gegenden Mecklenburgs oder auch den Pariser Banlieues ist zu sehen, dass die Bilder von Räumen maßgeblich für den Umgang einer Gesellschaft mit diesen Räumen verantwortlich sind. Schon die Vorstellung der Orte als problematisch verhindert wirtschaftliche Ansiedlungen und Tourismus.50 Ein anderes Beispiel für die Konstruktion von Raum ist die Raumvorstellung der Industrialisierung. Diese ist durch eine Revolution des Transportwesens und daher eine enorme Verringerung der Wegzeiten geprägt gewesen, sodass Vorstellungen von Nähe und Distanz neu gedacht wurden: Städte kamen hinzu und rückten durch die kurzen Wege scheinbar zusammen und plötzlich war auch die Stadt auf dem Land nicht mehr unüberwindbar fern. Seitdem ist die Stadt nicht mehr insulares Gebilde in einem Ozean aus Land, sondern der Staat erscheint als Konglomerat von Städten und Ballungsräumen, zwischen denen Land existiert.51 Ein Werkzeug, um dieser Vielgestaltigkeit und Produziertheit der Räume gerecht zu werden, hat Henri Lefebvre in marxistischer Tradition u.a. in Recht auf Stadt entwickelt, welches Werner Nell und Marc Weiland im ersten Band dieser Reihe bereits hervorragend für die Landforschung anschlussfähig gemacht haben. Die Produktion des Raumes geschehe u.a. durch Bebauung, geographische Vermessung oder eben symbolische Verhandlungsweisen. Infolge dessen wird er als »ein im umfassenden Sinne ›poietisches‹ Medium, zugleich aber als Produkt oder Korrelat von Wahrnehmung, Vorstellung und materieller Praxis«52 verstanden. Jeder soziale Raum besteht nach Lefebvre aus drei Elementen:

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Seit Newton wird der Raum nicht mehr, in aristotelischer Tradition, als feste dreidimensionale Entität verstanden, sondern »anhand von Elementen beschrieben, die relational zueinander bestimmt sind«; ebd., S. 17. Natürlich soll hier der rurale Raum nicht mit sogenannten ›sozialen Brennpunkten‹ gleichgesetzt werden, jedoch sind die Verhandlungsweisen marginalisierter Orte in Politik und Medien teilweise ähnlich. Pierre Bourdieu hat in seinem Forschungsprogramm Das Elend der Welt (1993) gezeigt, welche Bedeutung die Imaginationen von Räumen auf die sozialen Realitäten haben. Er geht zunächst auf die Probleme ein, ›schwierige‹ Orte zu beschreiben: Es ginge darum, »sichtbar zu machen, daß die sogenannten ›schwierigen‹ Orte (wie gegenwärtig die ›Stadt‹ oder die Schule) zunächst einmal schwierig zu beschreiben und zu verstehen sind«; Bourdieu, Pierre: Position und Perspektive, in: ders.u.a. (Hg.): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Köln: Herbert von Halem 2017, S. 17-20, hier: S. 17. Er begründet diese Feststellung dann u.a. mit der Existenz von »vereinfachten, eindimensionalen (zumal von der Presse vermittelten) Bilder[n]«, die durch »komplexe, mehrdimensionale Vorstellung[en]« unvereinbarer Diskurse ersetzt werden sollten; ebd. Zu diesem schon im 16. bzw. 17. Jahrhundert beginnenden ›rural-urbanen Sündenfall‹ (Lefebvre) siehe den Beginn von Kapitel 3. Wolf 2019, S. 115.

Theorie und Methode a) der Räumlichen Praxis (wahrgenommene soziale Praxis, die auf den Raum bezogen ist, Erfahrungen), b) der Repräsentationen des Raumes (abstrakte Vorstellungen, z.B. Karten) und c) Räumen der Repräsentation (Vorstellungen, z.B. Literatur, Karikaturen).53

Die medialen Konstruktionen des Raumes sind als elementarer Teil des dreigliedrigen Raumes zu denken. Sie sind als gleichberechtigte Elemente zu räumlichen Praktiken wie Ackerbau und geographischen Vermessungen zu verstehen.54 Zugleich steckt darin die Erkenntnis der Gemachtheit von Räumen, denn bspw. das Verständnis von Land als Idylle ist nicht a priori gegeben, es ist in erster Linie durch Erzählungen bestimmt, in denen die Überforderung, Beschleunigung oder Individualisierung des Städtischen als Vergleichsmoment dient.55 Darin steckt wiederum eine Deutung ländlicher Räume als Entlastungsraum. Raumbeschreibungen sind also keine reinen Inhalte, sie sind Formmerkmale: Der Raum der Literatur kann als narratives, ästhetisches oder symbolisches Strukturmoment wirken.56 Im Anschluss an diese Dreiteilung wurden zuletzt im Projekt ›Imaginäre Dörfer‹ von Werner Nell und Marc Weiland drei Arten der diskursiven Herstellung von Dorfbildern identifiziert:57 Werden ländliche Räume als ›Orte des Realen‹ dargestellt, werden primär soziale Probleme der abgebildeten Region betont, stehen sie in der 53

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Vgl. Lefebvre, Henri: Die Produktion des Raums (1974), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 330-342, hier: S. 333-336. Dies wurde in der Forschung bereits mehrfach am Entstehen des Stadt/Land-Gegensatzes mit Blick auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen gezeigt. Stefan Rehm versteht beispielhaft die heute noch dominierende Raumkonfigurationen des Stadt/Land-Gegensatzes als eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen Zustände der Modernisierung in der Zeit der Weimarer Republik und ihrer grundsätzlich von Ambivalenzen geprägten Semiotik; vgl. Rehm, Stefan: Stadt/Land. Eine Raumkonfiguration in Literatur und Film der Weimarer Republik, Würzburg: Ergon 2015, S. 40-42. Vgl. Redepenning 2010, S. 101. Zu dieser Einteilung vgl. Wild, Bettina: Topologie des ländlichen Raums. Berthold Auerbachs ›Schwarzwälder Dorfgeschichten‹ und ihre Bedeutung für die Literatur des Realismus. Mit Exkursen zur englischen Literatur, Würzburg: Königshausen und Neumann 2011, S. 20; Nell/ Weiland 2014, S. 36. Als narratives Strukturmoment beeinflusst die Raumgestaltung die erzählten Figuren, Objekte, Geschehensverläufe. Als ästhetisches Strukturmoment lenken literarische Räume die Rezeption durch Überhöhung, Deixis, Verzerrungen. Das ist dann ein »gestimmter Raum, der auf den expressiven Charakter seiner Inhalte und deren Beziehung zum erlebenden Subjekt abzielt«; Nell/Weiland 2014, S. 36. Als symbolisches Strukturmoment erfassen literarische Räume soziale, kulturelle, historische und individuelle Zustände sowie Bedingungen der Entstehung und Ausgestaltung der literarischen Produktion. Hierzu und zur nachfolgenden Darstellung vgl. ebd., S. 37f. Nell und Weiland orientieren sich dabei an Andreas Mahlers Analyse von Stadt-Bildern; vgl. Mahler, Andreas: Stadttexte – Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution, in: ders. (Hg.): Stadt-Bilder. Al-

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Tradition der Dorfgeschichte. Nimmt man das untersuchte Material als Sachbücher ernst, müsste die Darstellung in dieser Gruppe aufgehen. Doch schon die stark verfremdeten, ästhetisierten Umschlagsgestaltungen – Gummistiefel und Tiere dominieren diese Bildwelt – lassen vermuten, dass die imaginären Dörfer eher Ort des Allegorischen oder Fiktiven sind. ›Orte des Allegorischen‹ verweisen auf etwas außerhalb ihrer selbst, nämlich auf die gesamte Welt, unterschiedliche Gemeinschaften, Empfindungen oder als ›topographischer Wissensspeicher‹ auf kollektive oder individuelle Erinnerungen. Damit dienen sie der Aushandlung der Frage, was imaginäre Dörfer gegenüber anderen literarischen und außerliterarischen Räumen ausmacht. Als ›Orte des Fiktiven‹ stellen imaginäre Dörfer ihren Konstruktcharakter und ihre Zeichenhaftigkeit aus. Neben diesen Überlegungen zur Analyse literarischer Räume sind für eine Analyse von Umzugserzählungen auch die Besonderheiten des Erzählens über Raumübertritte zu berücksichtigen, was im folgenden Unterkapitel näher ausgeführt wird.

2.2.2 Raumgrenzen als Ereignis Juri Lotmans semiotisches Raumverständnis eignet sich besonders als Analyseinstrument von in literarischen Raumkonstruktionen manifestierten gesellschaftlichen Deutungen.58 Nach Lotman steht [a]m Beginn jeder Kultur […] die Einteilung der Welt in einen inneren (›eigenen‹) und einen äußeren Raum (den der ›anderen‹). Wie diese binäre Einteilung interpretiert wird, hängt vom jeweiligen Typus von Kultur ab, die Einteilung an sich aber ist universal.59 Demnach wird im künstlerischen Text »die Welt […] eingeteilt sein in Reiche und Arme, Eigene und Fremde, Rechtgläubige und Ketzer, Gebildete und Ungebildete,

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legorie – Mimesis – Imaginationen, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 1999 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 170), S. 11-36, besonders 25-35. Lotman versteht Literatur als auf die kulturellen Annahmen über Welt bezogen und daher als sekundäres modellbildendes System. Dabei geht er von der Feststellung aus, dass der Mensch, seiner prinzipiell »visuellen Wahrnehmung der Welt« geschuldet, zu einer räumlichen Relationierung seiner Erkenntnisse neigt. Demnach werden auch nicht-räumliche, abstrakte Gegebenheiten in Diachronien von oben/unten (z.B. gesellschaftliche Klassen), links/rechts (z.B. politische Systeme) oder innen/außen unterschieden. Auf Basis dieses Raumverständnisses stellt Lotman eine besondere Bedeutung des Raumes in der Literatur fest, wenn er schreibt, dass »der Ort der Handlung(en) mehr ist als eine Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds. Das ganze räumliche Kontinuum des Textes, in dem die Welt des Objekts abgebildet ist, fügt sich zu einem gewissen Gesamt-Topos zusammen.« Lotman 1972, S. 328. Lotman 2010, S. 174.

Theorie und Methode

Menschen der Natur und Menschen der Gesellschaft«.60 Repräsentiert werden diese Werte durch eine binäre Opposition zweier Räume, die unterschiedlich kodiert und durch eine Grenze geteilt sind.61 Gerade der im Landlust-Diskurs angelegte Blick auf einen fremden ländlichen Raum impliziert eine klare Ordnung von urbanem Innenraum und ruralen Außenraum. Es liegt also nahe zu untersuchen, welcher ›Typus von Kultur‹ in dieser Raumordnung zum Ausdruck kommt. Nach Lotman hängt das zentrale Ereignis eines Textes »organisch zusammen mit dem Weltbild, das den Maßstab dafür liefert, was ein Ereignis ist und was nur eine Variante, die uns nichts Neues bringt«.62 Ihm ist »[e]in Ereignis im Text […] die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.«63 Diese Grenzüberschreitung repräsentiert die Verletzung einer kulturellen Ordnung, sie ist »immer die Verletzung irgendeines Verbotes, ein Faktum, das stattgefunden hat, obwohl es nicht hätte stattfinden sollen«.64 Dabei handelt es sich um das zentrale Ereignis des Textes, bei Lotman auch ›Sujet‹ genannt. Gerade dieses zentrale Ereignis eröffnet den Blick auf die dem Text zugrunde liegende kulturelle Ordnung. Lotman bestimmt sujethaltige Texte als diejenigen, in denen die Überschreitung einer unüberschreitbaren Grenze vollzogen wird: Der sujethaltige Text wird auf der Basis des sujetlosen errichtet als dessen Negation. Die Welt ist in Lebende und Tote eingeteilt und eine unüberschreitbare Linie trennt die beiden Teile. Der sujethaltige Text behält dieses Verbot für alle Figuren bei, führt aber eine Figur (oder eine Gruppe) ein, die ihm nicht unterliegt.65 Der sujethaltige Text kann dann nach der Grenzüberschreitung in zwei Richtungen entwickelt werden: zu unterscheiden sind restitutive (der Held kehrt zurück in den Ausgangsraum) und revolutionäre Texte (der Grenzübertritt wird nicht rückgängig

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Lotman 1972, S. 337. Der Grenzbegriff ist hier weitgehend metaphorisch zu verstehen, in diesem Sinne definiert Lotman ihn auch sehr breit: »Es ist unwesentlich, ob das nun die ›Widersacher‹ des Zaubermärchens sind oder die dem Odysseus feindlichen Wellen, Winde und Meeresströmungen oder die falschen Fährten und Indizien im Krimi: strukturell haben sie alle die gleiche Funktion – sie machen den Übergang von einem semantischen Feld in das andere äußerst mühsam.« Ebd., S. 342. Ebd., S. 333. Ebd., S. 332. Ebd., S. 336. Ebd., S. 338. Nur Texte mit ungebrochener Ordnung sind demnach sujetlos, sie »haben einen deutlich klassifikatorischen Charakter; sie bestätigen eine bestimmte Welt und deren Organisation«; ebd., S. 336. Primär nennt Lotman mythologische Texte, Telefonbücher und alphabetische Ordnungen, denn nur darin ist eine »Verschiebung der Namen unter Verletzung der gewählten Ordnung […] nicht zulässig.« Ebd., S. 337.

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gemacht).66 Der revolutionäre Charakter eines Textes impliziert dann entweder eine Veränderung der Figur, sodass sie den Regeln des Zielraumes gehorcht oder eine Umdeutung der Räume, sodass der Zielraum den Helden widerspruchsfrei aufnehmen kann. In dieser methodischen Feststellung liegt die kulturanalytische Relevanz der Einteilung der hier untersuchten Literatur in Erzählungen über Erfolg und Scheitern. An die hier vorgestellte Raumsemantik schließt daher die Annahme, dass der Umzug aufs Land überhaupt erst durch ein dominant urbanes Weltbild zum Ereignis wird, da erst in diesem der rurale Raum als kategorial unterschiedlich und außenliegend verstanden wird. Die dahinterstehende Vermutung ist, dass mit der Durchsetzung von Urbanität als Lebensform und dem Verschwinden der Grenzen zwischen Stadt und Land die kulturelle Repräsentation dieser Grenzen wichtiger und komplexer wird. Lotman sieht in solchen Veränderungen von Raumbildern den Ausdruck eines andauernden Aushandlungsprozesses zwischen divergierenden Deutungen, ihm zufolge »ist der Sieg eines bestimmten semiotischen Systems gleichbedeutend mit dessen Verschiebung ins Zentrum und seinem unausweichlichen Verblassen«.67 Die in der Wissensproduktion angelegte Fremdheitsbehauptung wird als Effekt und Bedingung einer solchen Grenzverschiebung gelesen. Bei einem ersten Blick auf die untersuchten Texte wird die Relevanz dieser Theorie ersichtlich: Erscheint die dualistische Raumordnung bei Moor, Sezgin, Hochreither etc. noch ungebrochen, so wird in der zweiten Untersuchungsgruppe Fragilität der kulturell angenommenen Ordnung behauptet. In Zehs Unterleuten ist auch der ländliche Raum Ort von urban konnotierten Strukturen wie Gewalt und Markt, bei Brüggemann hat die Lebensform Urbanität den ländlichen Raum seiner Ländlichkeit beraubt. In Daniel Mezgers Land spielen ist nicht der ländliche Raum fremd, die Zugezogenen sind und bleiben es durch ihre importierten Vorstellungen von Idylle und Gemeinschaft, da wird Fremdheit zur Fehleinschätzung. Schon diese kurze Übersicht zeigt die enge Verbindung von Erkenntnis des Ortes, Raumbild, kultureller Ordnung, Grenze und Ereignis. Lotmans Begriff von Raum, Grenze und Ereignis hat also mehrere Vorteile für diese Untersuchung: Erstens sind damit die zentralen Ereignisse auch scheinbar handlungsarmer Texte zu definieren, zweitens ermöglicht er es, die dem Text und seiner räumlichen Konzeption zugrunde liegenden kulturellen Vorstellungen zu analysieren, und drittens können anhand der unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen der literarischen Räume Rückschlüsse auf Verschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen Deutung von Raum gezogen wer-

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Vgl. hierzu die Erweiterung von Lotmans Theorie in Martínez, Matthias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck 2005, S. 142. Lotman 2010, S. 189.

Theorie und Methode

den. Mit der Raumsemantik kann ein Einblick in das kulturanalytische Potenzial der Umzugserzählungen gewonnen werden. Das aus Lotmans Kulturanalyse und Raumsemantik abgeleitete methodische Repertoire ist insbesondere dafür geeignet, den Zusammenhang der Entstehung von Räumen und Raumgrenzen zu untersuchen, kann aber auch eng mit dem Erwerb von Wissen zusammengedacht werden, da gerade die darin enthaltene Behauptung der Entdeckung von Räumen zum eigentlichen Ereignis der meisten Bücher wird. Dafür ist der Blick in die Fremde beispielhaft zu sehen, denn »[d]ie einen suchen das Fremde in der Ferne, die anderen in der Heimat. Die einen begegnen ihrer eigenen Kultur in der Wildheit des Wilden, die anderen erleben sich als zivilisatorische Fremde in den selbstverständlichen Gewissheiten ihres Alltags.«68 Das Wahrheitssystem von Raumgeschichten besteht eben genau in der Darstellung der Räume, seiner Bewohner und des Wissens über beide.69 Als narrative Strategien, mit denen Raum, Wissen und ihre jeweilige Aneignung erzählt werden, können die Etablierung einzelner Figuren als Wissensspeicher, die Erzählung von Raumdurchmessungen, die Etablierung von Nähe-/Distanzverhältnissen oder Verweise auf Intertexte über den zu vermessenden Raum wie Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg genannt werden. Neben diesen Strategien ist die Sach- und Unterhaltungsliteratur noch durch Besonderheiten der Genres ausgezeichnet, welche es in der Untersuchung zu berücksichtigen gilt. Diese werden im folgenden Exkurs näher erläutert.

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Kauppert, Michael: Erfahrung und Erzählung. Zur Topologie des Wissens, 2 Wiesbaden: Springer 2010, S. 12. In diesen unterschiedlichen Bestimmungen der Fremde kommt die oben herausgearbeitete Verbindung von kulturellen und räumlichen Vorstellungen zum Ausdruck. Das Zitat verdeutlicht zugleich die Effekte des Blicks: Schauen die Erzähler beim Blick aufs Land in die Ferne oder in die Nähe? Sehen sie Exotisches oder Normalität? Daran schließen weitere Fragen an: Wer spricht über den ländlichen Raum? Wer spricht für den ländlichen Raum? Was weiß man über die Fremde? Homi K. Bhabha stellte über die Herausforderung der Untersuchung kolonialer Konstellationen fest: »Um die Produktivität der kolonialen Macht zu verstehen, ist es entscheidend, ihr Wahrheitssystem zu rekonstruieren, nicht, dessen Repräsentation einer normalisierenden Beurteilung zu unterziehen.« Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 98. Damit wird keine Gleichstellung dieser Literatur mit Kolonialgeschichte intendiert, es wird lediglich die Methodik zur Untersuchung von Fremdheitskonstruktionen entliehen.

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2.3 Roman? Sachbuch? Trivialliteratur? Kitsch? Besonderheiten des Materials Besonders die Bücher der ersten Untersuchungsgruppe widersetzen sich einer klaren Einordnung in eine der genannten Gruppen, es handelt sich um hybride Genres zwischen Sachliteratur, Roman, Autobiographie und engagierter Literatur. Bisher wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass sowohl Untersuchungen von Poetologien des Wissens als auch von literarischen Räumen ein Einbeziehen von Sach- oder Unterhaltungsliteratur rechtfertigen, denn »[a]uch und gerade sogenannte ›Trivialbzw. Populärliteratur‹ prägt gesellschaftliche Sinnstiftungsprozesse.«70 Am Beispiel des Sachbuchs lässt sich die integrative Leistung solcher hybrider Genres besonders gut darstellen: Angesiedelt zwischen Unterhaltung, Wissenschaft und Literatur integriert es mehrere Wissens- und Formbestände nach einer vom Autor wahrgenommenen gesellschaftlichen Notwendigkeit und stellt so »ein Wissen bereit, das nicht nur den Anspruch auf Faktizität, wissenschaftliche Geltung und Wahrheit erhebt, sondern darüber hinaus Narrative existentieller und kollektiver Selbstvergewisserung gestaltet.«71 Durch ihre massenhafte Verbreitung tragen solche populären Literaturen zur Definition oder Verfestigung der Imaginationen ihres Gegenstands bei. Dabei führen sie in der Regel nicht zu einer innovativen Neubewertung des Gegenstands, sondern zu einem imitativen ›more of the same‹.72 Es geht dabei zumeist um »eine[] aktive[] Mediatisierung von Wissen für diverse Bedürfnislagen einer kulturellen Öffentlichkeit im Spannungsfeld von Buchmarkt und Wissenschaft«.73 Gerade durch die Frageweise der Poetologie des Wissens ist zu berücksichtigen, »in welchen Zusammenhängen und mit welchen Zielsetzungen begründete Erkenntnisse aufgerufen und inszeniert, demonstriert und diskutiert und so auf bestimmte Weise erst produziert werden.«74 Das Wissen der Sachbücher sagt demnach viel über die gesellschaftlichen Bilder des jeweiligen Gegenstands, denn 70 71 72

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Erll, Astrid/Roggendorf, Simone: Kulturgeschichtliche Narratologie, in: Nünning 2002, S. 73-113, hier S. 103. Hahnemann 2006, S. 142. Vgl. Westerbarkey, Joachim: Unterhaltungsliteratur. Das Triviale als hegemonialer Diskurs, in: Communications 19, 1994, S. 23-31, hier: S. 23. In Rückgriff auf Annahmen der Kritischen Theorie arbeitet Westerbarkey dabei einen medientheoretischen Reflex heraus, wenn er feststellt, dass »[p]rimär kommerzielle Interessen […] professionellen Publizisten dabei nahe [legen, H.S.], sich inhaltlich und sprachlich am ›Normalwissen‹ zu orientieren, am interaktiv vertretbaren ›common sense‹«; ebd., S. 24. Neben dem Verhältnis von Markt und Literatur wird die Rede von einem ›more of the same‹ um eine bewusstseinstheoretische These erweitert: »Die hohe Konsonanz medialer Konstrukte, die aus kongruenten Themenangeboten, Schemata und Wertmustern resultiert, begünstigt eine starke Konvergenz individueller Realitätsentwürfe.« Ebd., S. 28. Klausnitzer 2008, S. 303. Ebd.

Theorie und Methode

[a]ls Buchform, die vielleicht mehr als andere den Gesetzen einer Aufmerksamkeitsökonomie gehorcht, erweist es sich als hervorragender Resonanzkörper kultureller Schwingungen, auf die es mit formaler und marktwirtschaftlicher Flexibilität reagieren kann.75 Hierfür kommen spezifische Inszenierungs- und Überzeugungspraktiken zum Einsatz, beispielsweise werden in wissenschaftlichen Sachbüchern die zugkräftigsten Meta-Narrative genauso wie persönliche Eigenschaften von Forschern in Szene gesetzt, um jene Authentizität herzustellen bzw. zu suggerieren, die als Komplement und Pendant des Wahrheitsanspruchs lebensweltlicher Erfahrung und universitär akkreditierter Wissensproduktion auftritt.76 Gerade die literarische Produktion von Authentizität des erzählten Wissens steht auch im Mittelpunkt der Analysen zur ersten Untersuchungsgruppe. Neben diesem Authentizitätsversprechen ist eine weitere Besonderheit des Genres relevant: Die häufige Überzeichnung von Schönheit und Empfindung des Landlebens, welche in der Rezeption häufig als Hang zum Kitsch beschrieben wurde.77 Eine zeitlos gültige Definition des Begriffs ›Kitsch‹ erscheint unmöglich, vielmehr muss er als relativer Begriff zu Kunst verstanden werden. Die fließenden Übergänge zwischen Kitsch und Kunst beobachtete schon Theodor Adorno, der es auf die simple Formel brachte: »Was Kunst war, kann Kitsch werden.«78 Darin identifizierte er ein produktives Kippmoment: »Vielleicht ist diese Verfallsgeschichte, eine der Berichtigung von Kunst, ihr wahrer Fortschritt.«79 Dieser Grundsatz zieht jedoch auch ein stetiges Neudefinieren der fragilen Grenze nach sich, denn »Kitsch ist nicht, wie der Bildungsglaube es möchte, bloßes Abfallsprodukt [sic!] der Kunst,

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Hahnemann 2006, S. 145. Klausnitzer 2008, S. 309. In einer Rezension der Süddeutschen Zeitung zu verschiedenen hier untersuchten Büchern hieß es im Jahr 2011 über Hilal Sezgins Landleben: »Dass es nicht kitschig wird, liegt daran, dass Sezgin ihre kulturell geprägten Erwartungen an die Natur reflektiert.« Dabei wird Kitsch zum einen als dem Schreiben über Land inhärente Gefahr klassifiziert, zum anderen als unreflektiertes Schreiben in kulturellen Bildern definiert und drittens wird Kitsch sogar zum Vorwurf, Sezgin aber zugleich freigesprochen. Mayer, Verena: Wir ziehn auf’s Land, Liebe. Neue Bücher: Städter auf dem Land, Süddeutsche Zeitung vom 13.4.2011, URL: https://ww w.sueddeutsche.de/kultur/neue-buecher-leben-auf-dem-land-wir-ziehn-auf-s-land-liebe-1 .1084326-0 [Zugriff am 2.3.2020]. Vgl. auch Hartmann, Kathrin: Cocooning im Misthaufen, in: Frankfurter Rundschau, 1.5.2011, URL: https://www.fr.de/kultur/literatur/cocooning-mist haufen-11420152.html [Zugriff am 4.8.2020]. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 467. Ebd.

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entstanden durch treulose Akkommodation, sondern lauert in ihr auf die stets wiederkehrenden Gelegenheiten, aus der Kunst hervorzuspringen.«80 Wegen dieses Kippmoments ist Kitsch auch ein Motor der Kunst. Hauptsächlich aber ist Kitsch heute in allen Verwendungen ein diskriminierender Begriff.81 Betrachtet man die Bücher von Hochreither, Sezgin oder Moor, dann fällt es insbesondere anhand des überschaubaren Figuren- und Motivrepertoires, der gefühlsbetonten Sprache und der traditionell-idyllischen Bildwelten schwer, eine klare Abgrenzung vom Kitsch vorzunehmen.82 Immer wieder wird affektbeladene Sprache verwendet, die Bilder sind Klischee, satt an Sehnsucht nach scheinbar vergangener Schönheit. Das Schreiben im Grenzbereich zum ›Trivialen‹ ist eng mit der Tradition des Schreibens über Natur und Land verbunden: In den frühen ›kitschigen‹ Werken

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Ebd., S. 355. Mit Umberto Eco gesprochen, wohnt der bürgerlichen Zuschreibung ›Kitsch!‹ immer auch ein mindestens kulturkritisches, eher apokalyptisches Moment inne, denn Kitsch wird als »Zeichen eines unwiderruflichen Zerfalls gelesen, angesichts dessen der ›Kulturmensch‹ (der letzte Überlebende der zum Untergang bestimmten Vorgeschichte) ein letztes Zeugnis im Sinne der Apokalypse zu geben habe.«; Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 16. Das liegt auch daran, dass Kitsch in seiner Bestimmung ein Zweifelsfall ist. In einem Kernbereich handelt es sich um »versöhnliche, naive, Widersprüche übertünchende[r] und unmotiviert harmonisierende[r] Darstellungen aller Art, die jedoch versuchen, vom kulturellen Prestige der Objekte zu zehren, denen sie ihre Ausdrucksmittel entlehnt haben«; Illing, Frank: Kitsch, Kommerz und Kult. Soziologie des schlechten Geschmacks, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2006, S. 221f. Walther Killy sieht in seinem Versuch mit Beispielen über den Kitsch »die Unterordnung der Gegenstände unter den Reizeffekt« als wichtigstes Merkmal; Killy, Walther: Deutscher Kitsch. Ein Versuch mit Beispielen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 14. Für Claudia Putz wiederum ist Kitsch Imitat: Er greife auf ein Repertoire zu, ohne es zu erweitern, ahme nach und hat dabei keine eigene Wahrheit; vgl. Putz, Claudia: Kitsch. Phänomenologie eines dynamischen Kulturprinzips, Bochum: Brockmeyer 1994, S. 31. In der Form wird dies ermöglicht »durch die Aufputzung der vertrauten Erscheinung zur unvertraut auffallenden, reizvoll-pretiösen«, durch Betonung und Wiederholung; Killy 1961, S. 14. Das Figurenrepertoire beinhaltet dann insbesondere »Figuren des Kontrasts, der Steigerung oder Wiederholung.« Ueding, Gerd: Aufklärung über Rhetorik. Versuche über Beredsamkeit, ihre Theorie und praktische Bewährung, Tübingen: de Gruyter 1992 (Rhetorik-Forschungen 4), S. 91. Kitsch sei im Gegensatz zu Kunst nicht in der Lage, »die Wirkungen des Augenblicks den Bedingungen des größeren Ganzen unterzuordnen«; ebd. Ueding schlägt vor, Kitsch aus rhetorischer Sicht zu betrachten und sieht die Wiederholung als dessen wichtigstes Werkzeug, denn gerade für die persuasive Funktion ist die rhetorische Ausgestaltung relevant, das meint: »[d]auernde Variation bereits erprobter wirkungsvoller Motive und Handlungskonstellationen oder deren Wiederholung bis in die sprachliche Formulierung hinein; Verwendung feststehender Bilder und Vergleiche, rhythmischer Konstruktionen und lautmalender Wörter oder Wortverbindungen zum Zwecke emotionaler Beeinflussung; klare, übersichtliche Charakterdarstellung; fein kalkulierte Spannungsbögen; Darstellung eines Haupthelden und dessen dauernde Reproduktion, sofern er beim Publikum Erfolg hat«; ebd., S. 90.

Theorie und Methode

wird Familie als Rückzugsort geschildert, dabei erfolgt in unsicheren Zeiten »die Schilderung der res humanae als familiärer Gemeinsamkeit.«83 In der Schrebergartenbewegung wird die Familie als Medium bürgerlicher Selbstverständigung dann von der Natur beerbt, zum eigentlich Menschlichen wird »das in die Natur verlegte Haus, die Natur als Heim mit ihrem scheinbar Unabhängigkeit und Freiheit garantierenden Nutzungsraum.«84 Galt Kitsch in Zeiten der Industrialisierung und bis in die Arbeitswelten der 1970er Jahre hinein als mediales Gegengewicht zur körperlichen Arbeit, kann er heute auch außerhalb von Medien als das ganze Leben betreffende ästhetische »Ausgestaltung, um nicht zu sagen […] Dekoration eines immer größer werdenden von der Arbeit entlasteten Lebensraumes«85 verstanden werden. Damit steht nicht nur die untersuchte Literatur, sondern das gesamte Phänomen der ›Lust auf Land‹ mit der Behauptung von unbedingtem Glück in Natur unter Kitsch-Verdacht: Handelt es sich um eine rein ästhetische Beantwortung der metaphysischen Frage nach der res humanae? An den bisherigen Ausführungen zu Kitsch und trivialer Literatur ist auch zu erkennen, dass man über beide einen Zugang zu den Objekten und vor allem ihren Wertungen findet: Ihrem »kulturellen Prestige«86 , was das kulturanalytische Potenzial der Texte begründet. So hat Kitsch ein besonderes Verhältnis zur Normalität, da kitschige Beschreibungen als rhetorische Strategie der Normalisierung verstanden werden können.87 Denn mit kitschigen Beschreibungen wird primär Besonderheit der schon normalisierten Bildwelten behauptet. So wird in der Hervorhebung auch ein Normalzustand identifiziert oder produziert. Daher finden sich in den Ausdrucksmitteln also auch Informationen über die Wertungen des Gegenstands: Kitsch steht immer zwischen dem Vorspielen von Wert (Orientierung am oben/vorne) und dem Einhalten der Form bzw. Tradition (Orientierung nach unten/hinten). In dem daraus entstehenden mittleren Feld besteht semantisches Potenzial für die Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Semantiken, kulturellem Markt und kultureller Tradition. Wenn also in der vorliegenden Untersuchung

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Ebd., S. 95. Ebd. Ebd., S. 90. Illing 2006, S. 221f. Auch Jürgen Link stellt in seinen Normalismus-Studien fest, dass die »Normalität ›romantischer Liebe‹« hergestellt wird durch »›Herunterstimmung‹ ›ins Triviale‹ […], also ganz offensichtlich durch Transformation in Kitsch«; Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 179. Wie der Witz, der den Versuch der »Normalisierung des Außergewöhnlichen« unternimmt und damit als Mittel der Zugänglichkeit zur vereinfachten Darstellung neigt, vereinfacht auch Kitsch aus Gründen der Abschwächung und der Zugänglichkeit; Genz, Julia: Diskurse der Wertung: Banalität, Trivialität und Kitsch, München: Fink 2011, S. 201.

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explizit oder implizit von Kitsch gesprochen wird, dann ist damit keine ästhetische Wertung angesprochen, sondern genau dieses Phänomen: ein Aufdecken des kulturell Überbetonten. Als letzter Schritt der bisher umrissenen Verquickung von Wissen, Raum und Erzählen wird herausgearbeitet, was hier mit Erzählen, Erzählung und Narrativ gemeint ist.

2.4 Schreiben in alten Erzählungen Gerade der Begriff des Narrativs hat in den letzten Jahren und insbesondere im englischsprachigen Raum eine enorme Verbreitung gefunden. Als Michael Moore nach der Wahl Donald Trumps zum U.S.-Präsidenten forderte: »Feuert die Demoskopen, Experten und Vorhersager und alle anderen Medienleute, die nicht von ihrem Narrativ abweichen wollten«88 , war damit ein Verständnis von Narrativ im Sinne eines Interpretationsmusters gemeint, das mit einer weltordnenden Kraft einhergeht. Und auch für diese Untersuchung ist ein Begriff von Erzählung und Narrativ nötig, mit dem die narrative Produktion von sowohl Raum als auch Wissen abgebildet sowie der Zusammenhang von erzählter und sozialer Welt erklärt werden kann. Hierfür wird zunächst ein Begriff von Erzählen umrissen, der eine solche Vermittlung zwischen Literatur, Wissen und Kultur ermöglicht.

2.4.1 Erzählen Unter den verschiedenen Versuchen, einen Begriff von Erzählen zu finden, der für Literatur- und Kulturwissenschaft anschlussfähig ist, erscheint besonders Albrecht Koschorkes in Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie formulierter Vorschlag für diese Studie zielführend. Darin wird Erzählen nicht nur als Eigenheit der Literatur, sondern als grundlegender Modus menschlicher Weltaneignung bestimmt. Koschorke geht davon aus, dass »das Erzählen nicht nur eine Sonderwelt neben der wirklichen Welt hervorbringt, sondern in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkt und selbst ein bestimmendes Element dieser Praxis ist«.89 Erzählungen seien in der Lage, Erfahrung und Weltwahrnehmung derart zu strukturieren, dass ein neuer Zusammenhang entsteht. Damit haben Erzählungen eine identitäts- und kulturstiftende Kraft, da sich durch sie »Individuen und Kollektive über sich selbst verständigen und sich in einem vergegenwärtigten Zeitzusam-

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Clemm, Bernhard: Gefühl der Präzision. Falsche Wahlprognosen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.11.2016, URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/w ahlprognosen-standen-gegen-donald-trump-wo-lag-der-fehler-14521910.html [Zugriff am 25.6.2017]. Koschorke 2012, S. 25.

Theorie und Methode

menhang situieren.«90 Das schließt an ältere kulturanalytische Ansätze an, bspw. versetzt nach Mieke Bal Erzählen den Menschen in die Lage, »aus einer chaotischen Welt und den in ihr stattfindenden unverständlichen Ereignissen Sinn herauszuholen«.91 In beiden Ansätzen wird die Erzählung zur Praxis erhoben und die Grenze zwischen narrativer und sozialer Welt minimiert.92 Koschorke geht davon aus, dass Erzählungen sich gerade dort bilden, wo Deutungen noch in Bewegung sind: Erzählungen sind, »ob auf die Zukunft bezogen oder retrospektiv, sprachliche Artikulationen von Veränderlichkeit.«93 Demnach entstehen Narrative an den Rändern von Diskursen, wo die Genauigkeit von Wissenschaft und Politik nicht greift, sondern Deutungen mäandern. An dieser Stelle wird das Potenzial dieses Erzählbegriffs für eine Poetologie des Wissens erkennbar, denn er schließt an einen Wissensbegriff an, der auf einem Modell von Zentrum und Peripherie beruht.94 Erzählungen sind in der Ordnung des dort vorfindlichen Wissens wirksam, sind Ausdruck von »narrativen Wissensordnungen«95 und werden daher hier als methodisches Repertoire zur Untersuchung von Poetologien des Wissens genutzt. Da durch kulturell tradierte Meta-Erzählungen oder Narrative einzelne Erzählungen semantisch aufgeladen werden, lassen sich an diesem Verhältnis sowohl Vorgänge der Sinnstiftung wie auch Inklusions- und Exklusionsbewegungen ablesen. Wie oben bereits ausgeführt wurde, ist gerade die Peripherie der Wissens90 91

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Straub, Jürgen: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 128. Bal, Mieke: Wandernde Begriffe, sich kreuzende Theorien. Von den cultural studies zur Kulturanalyse, in: Fechner-Smarsly, Thomas/Neef, Sonja (Hg.): Mieke Bal. Kulturanalyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 7-27, hier: S. 9. Bal untersucht in einer kulturanalytischen Perspektive das Narrative als einen »Modus«, eine »kulturelle Kraft« und nutzt damit einen ähnlichen Begriff von Erzählung wie Koschorke; ebd. In anderer Richtung wurde mit dem New Historicism versucht, jegliche Kulturen selbst als Textstrukturen zu verstehen und damit die Lücke zwischen Text und Welt zu schließen. Der New Historicism in der Tradition von Stephen Greenblatt versucht, die Literatur im weitesten Sinne als unhintergehbaren Zugang zum historischen Prozess zu verstehen. Problematisch ist dabei, dass der Textbegriff in diesem sehr weiten Verständnis unpräzise wird; vgl. Baßler, Moritz: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Stuttgart/Weimar 2008, S. 132-154. Daher halte ich den Ansatz Koschorkes hier für gewinnbringender. Koschorke 2012, S. 22; vgl. auch Koschorke, Albrecht: Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung, Stuttgart u.a.: Metzler 2004, S. 9. Und auch Birk/Neumann stellen fest, dass Erzählungen als »zentrales strukturierendes Schema allererst einen kontinuitäts- und kohärenzstiftenden Zusammenhang generieren.« Birk, Hanne/ Neumann, Birgit: Go-between: Postkoloniale Erzähltheorie, In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002 (WVT-Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium 4), S. 115-152, hier: S. 122. Zur Verortung des Wissens der Sachbücher in ebendiesem Bereich vgl. Hahnemann 2006. Koschorke 2012, S. 258.

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Gang aufs Land

diskurse auch der Ort populärer Sachbücher. Das Erzählen an diesen Rändern der Wissenssysteme geht etwaigen Strukturverfestigungen, also der Wissensproduktion, voraus und bestimmt die gesellschaftliche Semiosis maßgeblich mit.96 Dies geschieht durch Strukturverfestigungen.

2.4.2 Narrative Solche Strukturverfestigungen sind notwendig, weil innerhalb einer Gesellschaft immer eine große Zahl widerstreitender oder konvergierender Erzählungen existiert, die ohne feste Ordnung auftauchen. Diese Offenheit des Erzählens bestimmt die Pluralität gesellschaftlicher Sinnstiftungen – auch über Land. Doch [d]ieser informellen und in gewisser Weise einladenden Offenheit steht die Gravitationskraft bestimmter kulturprägender Narrative entgegen. […] Die Buntheit der Erzähloberfläche wird durch Reduktion auf wiederkehrende Grundmuster gleichsam ausgefiltert – ein Prozess der Akkommodation, der das Neue, das jeden Augenblick aufglüht und vergeht, in die langsamere, gleichförmige Arbeit der kulturellen Semiosis überführt.97 Im Gegensatz zu den von Lyotard identifizierten Meistererzählungen98 werden Narrative gegenwärtig überall gefunden und als »kollektive gesellschaftliche Erzählung«99 verstanden. Wie Erzählungen können auch Narrative in ihrem Erfolg nicht an der Dichotomie ›Wahrheit oder Erfindung‹ gemessen werden, sondern ihre Relevanz hängt von ihrer Zustimmungsfähigkeit ab. Und diese Zustimmungsfähigkeit von Erzählungen ist maßgeblich von ihrer Bedingtheit oder Interpretierbarkeit durch ein bestimmtes Narrativ abhängig. Das Narrativ wiederum erhält seine Tragfähigkeit durch eine fortwährende Aktualisierung mittels der Erzählungen, denn »[j]e mehr soziale Energie ein Narrativ in sich aufnimmt und bindet, desto

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Vgl. ebd. Ebd., S. 38. Der Begriff der Meistererzählungen entstammt Lyotards La condition postmoderne (1979) und meint epochemachende Erzählungen wie die seit Immanuel Kant etablierte von der fortschreitenden Aufklärung oder die geschichtsphilosophischen Erzählungen in der Tradition von Friedrich Hegel. Mit Lyotards Buch schien ausgemacht, dass die Zeit der grande recits, der Meistererzählungen, vorbei ist. Heute hat sich der sozial- wie literaturwissenschaftliche Begriff des Narrativs von dem Begriff Lyotards entkoppelt, denn der Begriff Narrativ ist einer Folge von Übersetzungen zu verdanken. Das heute gebräuchliche ›Narrativ‹ wird zumeist auf die von Lyotard benannten ›méta recits‹ zurückgeführt, englisch dann: ›meta-narrative‹. Wobei dieses Wort vermutlich als Anglizismus seinen Weg in die deutsche Sprache gefunden hat; vgl. Schreiber 2015, S. 14. Ebd.

Theorie und Methode

unabhängiger macht es sich im Regelfall von dem Kriterium überprüfbarer Referentialität.«100 Narrative sind daher Ergebnis gesellschaftlicher Deutungen und bestimmen zugleich die Verbreitung und Verhandelbarkeit einzelner Erzählungen. Das Narrativ muss von einer größeren sozialen Gruppe getragen werden, bedarf aber keiner aktuellen schriftlichen Realisationsform.101 Infolge dessen können sie als »privilegiertes Medium der kollektiven Gedächtnisbildung«102 verstanden werden. Narrative haben also eine erzählerische Grundstruktur, sprich eine raumzeitliche Logik, erkennbare Wahrnehmungs- bzw. Erzählperspektiven oder spezifische Analogiebildungen. Narrative knüpfen an die Form der Erzählung an, indem sie ebenfalls »eine lineare Ordnung des Zeitlichen etablieren«103 , sodass dem Narrativ neben der epistemischen eine soziale Funktion zuzuschreiben ist, da es in seiner grundsätzlich linearen Form »dem Erdenbürger eine einigermaßen stabile Identität beschert«.104 Die integrative und stabilisierende Funktion der Narrative besteht also darin, »kontingent erscheinenden Phänomenen oder Sachverhalten eine intelligible narrative Gestalt zu geben«.105 Dabei darf die Machtperspektive nicht ignoriert werden, denn wer erzählt und Narrative formt, bestimmt letztlich auch, »welche Geschehnisse überhaupt in die gesellschaftliche Semiosis Eingang finden und tatsächlich Konsequenzen nach sich ziehen«.106 Ein solcher weiter Begriff von Erzählung und Narrativ ermöglicht es also, das in dieser Studie zur Debatte stehende Schreiben über Land als narrative Reaktion auf ein gesellschaftliches Erklärungsbedürfnis zu fassen und einen Widerstreit unterschiedlicher literarischer oder gesellschaftlicher Erzählungen über Land zu identifizieren. Dieses Erzählen befriedigt dabei ein epistemisches Bedürfnis: Erfahrung oder Erkenntnis des unbekannten Raums. Aus den erzählerischen Formationen über eine Gegend können kulturelle Vorstellungen

100 Koschorke 2012, S. 351. 101 Koschorke stellt in diesem Zusammenhang fest, »dass das Narrativ ein zu größerer Komplexität fähiges und damit ein Organisationsverfahren höherer Ordnung ist – zumal es sogar Verhältnisse einzubeziehen vermag, die sich gegen einfaches Erzähltwerden sträuben«; ebd., S. 68f. 102 Ebd., S. 219. 103 Müller-Funk 2008, S. 29. 104 Ebd.; Schreiber weist aber zurecht darauf hin, dass die Narrative in der Darstellung MüllerFunks zu sehr auf ihre formalen Bedingungen beschränkt werden, wobei die Inhaltselemente insbesondere zur Wahrung von Kontingenz entscheidend sind; vgl. Schreiber 2015, S. 15. 105 Ächtler, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945-1960, Göttingen: Wallstein 2013, S. 78. Ächtler hat in dieser Studie Opfernarrative in der deutschen Literatur zwischen 1945 und 1960 untersucht und dabei besonders die integrative und stabilisierende Funktion der Narrative hervorgehoben. 106 Koschorke 2012, S. 62.

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Gang aufs Land

und Wissen über eine Region und damit eine ›imaginäre Geographie‹ entstehen.107 Mit dem hier vorgelegten Verständnis von Narrativen kann nachgewiesen werden, aus welchen kulturellen Erzählungen sich die Umzugserzählungen speisen und ob schon in dem Set der ausgewählten Texte die Entstehung eines eigenen Narrativs vom Umzug aufs Land nachzuweisen ist.

2.5 Von der Theorie zur Methode Trotz aller Wiederentdeckungen von Narrativ, Raum und Wissen ist die Narratologie in diesen Bereichen einheitliche Analysekategorien schuldig geblieben. Diese Leerstelle schlägt sich auch in diesem Kapitel zur Methodendiskussion nieder. Die Untersuchung der literarischen Räume und der mit ihnen verbundenen Wissensbestände erfolgt zunächst durch narratologische Analyseverfahren, neben Lotmans Ansatz zur Untersuchung von Grenze und Ereignis wird auf das von Genette entwickelte Instrumentarium zurückgegriffen. Da die Konstitution von Erzählungen und Narrativen als Prozesse der Schemabildung verstanden werden, ergibt sich ein mehrstufiges Vorgehen der Untersuchung, das insbesondere an Koschorkes Grundoperationen des Erzählens orientiert ist. Als elementare Operationen des Erzählens und der Narrativbildung identifiziert er folgende: Reduktion, Schemabildung, Redundanz und Variation, Diversifikation, Sequenzbildung/Rahmung, Motivation, Erzählinstanz, Erregung und Bindung von Affekten sowie Mehrdeutigkeiten.108 Diese wirken in einem andauernden Wechselspiel von »Offenheit« des Erzählens und »Gravitationskraft bestimmter kulturprägender Narrative«109 , sodass

107 Die Entstehung kultureller Narrative aus Schlüsseltexten hat Anna Babka in einer exemplarischen Analyse von Karl Mays Schriften herausgearbeitet und nachgewiesen, wie die enthaltenen Schilderungen der ›Schluchten des Balkan‹ in folkloristische Narrative mündeten, die weitreichend wirkmächtig wurden und heute immer noch nicht nur die mediale Wahrnehmung des Balkans, sondern auch den gesamten Umgang mit der Region beeinflussen. Für die Etablierung des Narrativs war nicht die Wahrheit der Schilderungen entscheidend, sondern ihr kulturelles Potenzial, sie haben wegen ihrer Schlichtheit und Bekanntheit in ein weitreichendes Set von Kulturprodukten Eingang gefunden. Da dafür die Übereinstimmung mit den geographischen und kulturellen Tatsachen nicht entscheidend war, sind sie als exotistisches Bild und dem anhängigen Versprechen von Fremde und Wildheit wirksam und durchaus problematisch; vgl. Babka, Anna: Den Balkan konstruieren. Postkolonialität lesen. Ein Versuch mit Karl Mays Kara Ben Nemsi Effendi aus In den Schluchten des Balkan, in: Schmidt, Matthias u.a. (Hg.): Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa, Tübingen: Narr 2015, S. 103-116, hier: S. 103-105. 108 Vgl. Koschorke 2012, S. 27-120. 109 Ebd., S. 38.

Theorie und Methode

Erzählen als Prozess abwechselnder Öffnung und Schließung innerhalb eines kulturellen (Sinn-)Kontinuums verstanden werden kann. Aus dem oben dargelegten konstruktivistischen Verständnis von Raum ergibt sich, dass Darstellung und Beschreibung von Räumen nicht nur Textschmuck sind, sondern als Funktionen und Semantisierungen im Text wirken und als solche analysiert werden müssen. Ich orientiere mich in ihrer Analyse neben Lotmans Raumsemantik an dem von Paul Ricœur entwickelten und von Werner Nell und Marc Weiland bereits fruchtbar gemachten analytischen Dreischritt und verstehe die Entstehung literarischer und kultureller Räume als Effekt von Präfiguration, Konfiguration und Refiguration.110 Dieses Theorie- und Methodenrepertoire wird in mehreren Kategorien und Stufen eingesetzt: Das meint zunächst die Erzählanalyse unter Berücksichtigung von Konvergenzen und Divergenzen zwischen den Texten und ihren literarischen wie kulturellen Prätexten, darauf aufbauend dann die Analyse von Wissen in seiner Auswahl und Darstellung und schließlich die Betrachtung der imaginären Räume. Im Einzelnen umfasst das die Analyse von Erzählstruktur, Figuren, Zeit, Raum & Ereignis. Diese werden abschließend auf Schemabildungen, also die Nutzung und Entstehung von Erzählmustern untersucht. Hier gilt die Vermutung, dass durch unterschiedliche kulturelle Erzählmuster unterschiedliche Imaginationen desselben Raums entstehen und dass durch diese gesellschaftlichen Raumbilder wieder je unterschiedliche Erzählmuster für den jeweiligen Raum bevorzugt werden. Wird der Umzug beispielsweise durch Abenteuer-Narrative strukturiert, ist eine Stilisierung des ländlichen Raums als unbekanntes und bedrohliches Gegenüber wahrscheinlich. Infolge dessen werden Erzähler bzw. Figuren zu Helden, die durch individuelle

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Vgl. zu dieser Einteilung Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. II: Zeit und literarische Erzählung, München: Wilhelm Fink 2007, S. 56ff.; Der vorliterarische Diskurs ist bei Ricœur als Präfiguration (Mimesis I) oder Vorgestaltung der Erzählung definiert. Die literarische Erzählung ist dann deren Verfestigung, oder die Konfiguration (Mimesis II). Dabei ist zunächst nicht die formale Ausgestaltung der Erzählung, sondern der ihr zugrundeliegenden ›Fabel‹ gemeint. Diese ist bei Ricœur als »semantische Innovation« der Erzählung, als »Synthesis des Heterogenen« zu verstehen; ebd., S. 7. Ricœurs Modell der dreistufigen Mimesis aus Zeit und Erzählung wird in der Untersuchung bis auf einige Ausnahmen auf ein zweistufiges Modell verkürzt und ähnelt daher Ansgar Nünnings Modell zur Analyse literarischer Räume; vgl. Nünning, Ansgar: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung, in: Hallet, Wolfgang/ Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 33-52, hier S. 45f. Die Refiguration (Mimesis III) wird aufgrund ihrer rezeptionsästhetischen Implikationen bis auf wenige Ausnahmen ausgespart, auch wenn nach Ricœur der Prozess des Erzählens erst in der Aneignung durch den Leser seine Auflösung findet. Zugleich muss aber mitgedacht werden, dass die vorliegenden Werke gerade durch ihre Verbreitung einen großen Anteil an der Entstehung gesellschaftlicher Bilder des Ländlichen haben. Beispielhafte Anmerkungen zur Refiguration ländlicher Räume finden sich in der Analyse zu Dieter Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht und im Fazit dieser Arbeit.

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Gang aufs Land

Leistung aus der gesellschaftlichen Mitte hervortreten. Wird der Umzug hingegen in einem kulturkritischen oder ökologischen Narrativ verfasst, wird der ländliche Raum als Ort des guten Lebens beschrieben, welcher die Erfüllung der natürlichen Anlagen des Menschen und die (verlorene) Einheit mit der Natur wieder ermöglicht. Um die Entstehung eines neuen Narrativs zu verfolgen, werden insbesondere Konvergenzen der Erzählungen in den herausgearbeiteten narrativen Eigenschaften, in Sequenzbildung und Rahmung (Untersuchung der semantischen Zustände von Anfang und Ende sowie der Frage, wie die Transgression zwischen beiden Zuständen geschieht), relevante Motive und Motivationen sowie der Umgang mit Tradition und Diskurs (Wiederholung und Variation) untersucht. Dabei ist insbesondere der Umgang mit Widersprüchen oder Mehrdeutigkeiten innerhalb und außerhalb der Erzählung, das von Koschorke identifizierte Öffnen und Schließen der Erzählungen relevant. Wie bereits ausgeführt, erfolgt die Untersuchung des in den untersuchten Umzugsgeschichten eng verflochtenen Zusammenhangs von Raum und Ereignis durch das Instrumentarium Lotmans, es werden also die Raumordnungen des Anfangszustands herausgearbeitet, dann wird die Ereignishaftigkeit des Erzählten untersucht und schließlich wird gefragt, ob und wie sich die Raumordnung hierdurch verändert hat. Darauf folgen die Fragen danach, wie die erzählerische Konfiguration des Raumes durch die kulturelle Präfiguration bestimmt ist. Damit stehen subjektive Raumerfahrungen und (scheinbar) objektive Vermessungen gegenüber, die mit den Fragen verbunden werden, welche Dynamisierungen und Wertungen mit der Erzählposition einher gehen. Am Ende dieses Prozesses bleibt die Frage zu beantworten: Welche Wertungen oder Objektivitätsansprüche gehen mit den Darstellungen von Raum einher? Dieses methodische Repertoire wird nicht in jeder Einzeltextanalyse systematisch abgearbeitet, vielmehr sind diese an den inhaltlichen und formalen Besonderheiten des jeweiligen Werks orientiert. Denn es bedarf für die Analyse eines Romans wie Winterapfelgarten anderer Schwerpunkte als für Sezgins autobiographischen Erfahrungsbericht Landleben. Zwar erzählen beide von der Wiederentdeckung des ländlichen Raums in Form einer Umzugsgeschichte, aber mal geht es explizit um Wissen über den Raum und mal ist das Schreiben über Wissen in eine Liebesund Entwicklungsgeschichte eingebunden. Bei aller formalen Verschiedenheit werden in beiden Werken durch Wissen unterschiedliche erzählte Räume ausgestaltet, wodurch ihnen eine Funktion eingeschrieben wird, bspw. als Orte der Heilung, des guten Lebens und der Tierliebe. Die Analyseschwerpunkte folgen also maßgeblich dem jeweiligen Material, können aber sämtlich als Elemente einer Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert analysiert werden.

3. Geschichte(n) literarischer Ländlichkeit

Ein Blick auf die Geschichte des Schreibens ›über Land‹ ist wesentlich für die Beantwortung der Frage, wie ländliche Räume zu einem fremden Objekt geworden sind, über das es etwas zu wissen gibt. Zugleich ist dieser Blick entscheidend, um zu bestimmen, inwiefern die literarische Tradition mit dafür verantwortlich ist, was überhaupt als Wissen gelten kann bzw. in welchen Formen es in Literatur auftaucht. Dafür wird herausgearbeitet, dass die Geschichte des Schreibens ›über Land‹ gleichzeitig als eine Geschichte von literarischer Deutungsmacht wie der Entstehung von Wissen über Raum geschrieben werden kann, denn »[d]ie Dichtung ergreift den Raum, indem sie ihn in Sprache übersetzt«.1 Von diesem Punkt aus gedacht, ist die hier folgende Betrachtung nicht auf Vollständigkeit angelegt – sie soll eher als systematische Annäherung dazu dienen, Entfremdung und Aneignung als traditionelle Strukturmomente des Schreibens ›über Land‹ und als wichtigste Elemente einer Poetologie des Wissen über Land herauszustellen.2 Gerade wegen der Betonung der Entfremdungsgeschichte beginnt diese Übersicht zur Literaturgeschichte also auch nicht am Anfang, sondern an einem Kipp-

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Vgl. Koschorke, Albrecht: Geschichte des Horizonts, Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 119. Norbert Mecklenburg beispielsweise hat in seiner grundlegenden Studie zur literarischen Provinz gezeigt, dass Literatur über ländliche Räume immer einem gesellschaftlichen Umgang mit diesen Räumen folgt, so »tut die Verwertungsästhetik der Provinz noch einmal an, was ihr in Geschichte und Gesellschaft widerfahren ist: Man benutzt von ihr, was ästhetischen Mehrwert abwirft und läßt den Rest liegen.« Mecklenburg 1986, S. 9. Dabei deutet Mecklenburg Schreiben eben also eine Form der Verwertungsästhetik, für die gilt, dass »[d]ie für die literarische Darstellung ausgewählte Wirklichkeit […] ihre vorästhetische Bedeutungen abzulegen [hat], damit sie sich, zu purem Material degradiert, desto leichter ästhetische Bedeutungen aufprägen lassen kann.« Ebd. Diese Besonderheit des Schreibens über Land ist natürlich auch in der Gattungsgeschichte des Romans begründet, in der stets »ein fingiertes Anderes in Anspruch genommen wird, um das Eigene zu bestimmen«; Pabst, Stephan: Fremde Wirklichkeit, Vertraute Fiktion. Die Gattungstradition der Idylle als Ressource des Eigenen im 18. Jahrhundert, in: Böhm, Alexandra/Sproll, Monika: Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 141-156, hier: S. 141.

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punkt: Den Zeitpunkt, an dem ländliche Räume endgültig zu anderen, unbekannten oder leeren Orten werden, hat Henri Lefebvre im 16./17. Jahrhundert identifiziert, da zu dieser Zeit die hergebrachte Ordnung zwischen den Orten beginnt, aus den Fugen zu geraten. Am Punkt dieses ›rural-urbanen Sündenfalls‹ ist nicht mehr ›das Land‹ als Mittelpunkt von Arbeit, Leben und Lebensmittelproduktion maßgeblich für die Bestimmung der sozialen Ordnung, sondern die Stadt, ab hier sieht [d]er denkende Mensch […] sich nicht mehr als Teil der Natur, einer düsteren Welt, geheimnisvollen Kräften ausgeliefert. Zwischen ihm und der Natur, zwischen seinem Zentrum und Mittelpunkt (dem des Denkens, des Seins) und der Welt steht nun ein wichtiger Vermittler: die Wirklichkeit der Stadt. Von diesem Augenblick an sind Gesellschaft und Land nicht mehr eins.3 Von da an erscheint die Stadt »nicht mehr als etwas Paradoxes, als Ungeheuer, Himmel oder Hölle. […] Das Land? Es ist nun nichts […] als die ›Umgebung‹ der Stadt, ihr Horizont, ihre Grenze.«4 Die Stadt übertrifft ab diesem Punkt das Land kulturell und politisch derart an Bedeutung, dass die wirtschaftliche, topographische und auch demographische Dominanz des ländlichen Raums hinfällig wird. Die heute geläufige volkskundliche Beobachtung, dass »[d]ie Zurichtung des Landes […] ein Ergebnis des städtischen Blicks«5 ist, ist spätestens von diesem Punkt aus zu verstehen. Bereits an der Gattungsgeschichte der Idylle ist aber zu erkennen, dass die Geschichte des Schreibens ›über Land‹ schon vor diesem ›Sündenfall‹ eine von Deutungen und Funktionalisierungen ist. Die folgende Darstellung dieser Geschichte soll dazu dienen, die ästhetischen wie epistemischen Bedingungen darzustellen, unter denen heutiges Schreiben über ländliche Räume entsteht. Die einzelnen Kulminationspunkte dieser Tradition werden dabei nicht als abgeschlossene Elemente betrachtet, weil sie in wechselseitigen Bedingungs- und Austauschbewegungen entstanden sind, weshalb im Folgenden immer wieder auch Überschneidungen der einzelnen Unterkapitel auftreten.

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Lefebvre, Henri: Die Revolution der Städte, Hamburg: CEP Europäische Verlagsanstalt 2014, S. 18. Ebd., S. 18. Köstlin, Konrad: Volkskunde und Geländewagen: Landrituale in der Stadt. Harmonie als Thema der Bilder, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LII/101, 1998, S. 303-327, hier: S. 311.

Geschichte(n) literarischer Ländlichkeit

3.1 Ein lieblicher Ort Liest man mehrere Geschichten der literarischen und kulturellen Darstellungen geographischer Räume und ihrer Funktionalisierungen, so begegnet einem wiederkehrend Goethes Ausspruch »Auch ich in Arcadien!«,6 den er den frühen Ausgaben seiner Italienischen Reise (1813/17) voranstellte. Indem er in Italien einen Glücksort findet, machte Goethe das damals schon Tradition gewordenen ›Et in Arcadia ego‹, das ein wichtiges memento mori-Motiv war, zu einem weiterreichenden Rückgriff. Das geographische Arkadien ist eine Landschaft im griechischen Hochland, seit der Antike und den Schriften Vergils (70-19 v. Chr.) haben Dichter und Künstler aus dem griechischen Hochland einen Ort naturverbundenen, glücklichen Lebens gemacht. Autorinnen und Autoren nutzten ihn, »um ihr künstlerisches, ihr soziales, ja nicht selten ihr politisches Selbstverständnis vorzutragen« und einen »sozialen Kontrastraum«7 zu entwickeln. Dadurch wurde der geographische auch ein poetischer bis politischer Ort. Fast allen Beschreibungen Arkadiens ist eine gewisse Unkenntnis des realen Ortes an der Peleponnes gemein: Die ›Vorlage‹ ist letztlich nicht wichtig. Wichtig ist aber, dass der Ort als Ort guten Lebens erzählt bzw. sein Verlust als solcher beklagt werden kann. Dafür wurde dieses topographisch-semantische Gebilde dorthin verpflanzt, wo es der jeweiligen Beschreibung am meisten diente. Schon zu Zeiten Goethes ist Arkadien längst kein bloßer Ort mehr, sondern vielmehr ein Zustand: das Goldene Zeitalter, das auch nicht ein Zeitalter ist wie andere, sondern der Zustand außer der Zeit. Arkadien ist […] der mythologische Ort einer schlichten wunschlosen Seeligkeit, zu der ihre Vollkommenheit ebenso gehört, als daß sie verloren ist.8 Verfolgt man diese Traditionslinie geographisch, so fällt auf, dass Goethe Arkadien um ca. 1000 km Luftlinie nach Nordwesten verlagert, von der griechischen Peleponnes in das mittlere Italien. Dass diese Verlagerung ohne merkliche semantische Verluste möglich war, zeigt, dass es sich dabei längst nicht mehr um ein geographisches, sondern kulturelles Ereignis handelte. An dieser Feststellung ist die enge Verbindung der ästhetischen, epistemischen und produktiven Dimension des Schreibens über Räume abzulesen. Später wird Goethes italienische Reise bspw. kulturgeschichtlich und touristisch relevant, wenn durch sie die deutsche Italiensehnsucht massiv befeuert wird. Schon dieser kleine Ausschnitt der Literaturgeschichte steht

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Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche (Frankfurter Ausgabe), Bd. 15.1 Italienische Reise. Teil 1, Hg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 9. Ebd., S. 53f. Garber, Klaus: Arkadien: ein Wunschbild der europäischen Literatur, München/Paderborn: Fink Verlag 2009, S. 12.

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beispielhaft dafür, wie durch literarische Verfügungsgewalt über Raum immer wieder imaginäre Orte entstehen, welche das weitere Schreiben über ihre Vorbilder prägen.

3.1.1 Idylle – Von Arkadien nach Überall Das Schreiben vom schönen ländlichen Ort beginnt ungefähr mit Vergils Sammlung von Hirtengedichten, den Eklogen (Bucolica bzw. Eclogae (35 v. Chr.)). In dieser Sammlung kommen statt der zeittypischen adligen Figuren Hirten zu Wort, mit der unüblichen Besetzung durch niedere Stände werden einfaches Leben und einfache Menschen zum Thema erhoben – ein Konventionsbruch der ›hohen‹ Literatur. Dieser ist aber nicht konsequent umgesetzt, in der poetischen Nachahmung des Wechselgesangs realer sizilianischer Hirten kommen letztlich doch ›städtische‹ Stimmen zu Wort.9 Darin, dass der ›niedrige‹ Inhalt also in ›hoher‹ Form erzählt wird, steckt ein frühes poetologisches Moment des Schreibens über Land: die Frage nach Möglichkeiten, einen als gut empfundenen ›natürlichen‹ Zustand abzubilden.10 Ein weiteres Dokument der frühesten ›Lust auf Land‹ liefert Vergil in Georgica (37 bis 29 v. Chr.), seinem Lehrbuch über Landleben. Von diesen Werken ausgehend wird das Land zum schönen Ort und es entsteht mit der Idylle ein bis heute erfolgreiches narratives Schema.11 Vergil selbst griff für seine Darstellung der Hirten auf die noch älteren Idyllen (Eidyllia, 3. Jahrhundert v. Chr.) Theokrits zurück, bereits in diesen 32 Gedichten wurde der ländliche Raum als ungebrochene Idealvorstellung harmonischen Lebens eingerichtet. Obwohl eher Vergil für die Entstehung der Gattung entscheidend wird, ist der Kern der frühen ruralen Dichtung bei Theokrit festgeschrieben: Daphnis wird als Sohn des Hermes und einer Nymphe ausgesetzt, dann als Waisenjunge von Hirten aufgenommen und von Nymphen erzogen, Pan unterweist ihn in der Kunst des Gesangs und des Flötenspiels. Nachdem er einer Nymphe seine Liebe und vor allem Treue geschworen hat, führt sein Weg ihn eines Tages an den Hof, hier wird er von der adligen Tochter verführt. Sein Unglück und Ende sind unausweichlich, variieren aber je nach literarischer Tradition. Schon hier geht es um die Übertritte und Differenzen zwischen Stadt und Land: Daphnis betritt das 9 10 11

Vgl. Stanzel, Karl-Heinz: Liebende Hirten. Theokrits Bukolik und die alexandrinische Poesie, Stuttgart/Leipzig: Teubner 1995, S. 1f. Schon Theokrit nutzt als Form den künstlichen Hexameter, wendet sich jedoch mit Personal und Inhalt den scheinbar kleinen Themen wie alltäglicher Liebe zu; vgl. ebd., S. 2. Der Erfolg der historischen Idyllen ist an Literaturen und Medien zu erkennen, mittels derer das idyllische Schreiben bis in die Gegenwart aktualisiert wird. Diese Persistenz von Gattung und Merkmal wurde in mehreren Untersuchungen nachgewiesen. Hier ist insbesondere der von Christian Riedel und Jan Gerstner herausgegebene Sammelband Idyllen in Literatur und Medien der Gegenwart (2018) zu nennen.

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Idyll unschuldig als Findelkind, mit seinem Verlassen folgt die Verführung und damit notwendig das Ende des goldenen Zeitalters.12 Von diesem Punkt an ist die daran anschließende Gattungstradition bis zur Idylle eine Erinnerung an das Paradies im Grünen. Die Bedeutung des Grünen wächst dabei stetig, in der weiteren Entwicklung wird die »bukolische Kulisse mehr als nur heitere schöne ergötzliche Landschaft, nämlich Chiffre sinnvoller, Mensch und Natur im Gesang verbindender Existenz.«13 Das Paradiesische des Urzustandes im Land der Nymphen wird besonders deutlich, wenn die ganze Natur und die Tiere nach Daphnis’ Tod um diesen weinen – die Natur ist nicht unbeteiligt, sondern tritt in ein aktives Verhältnis, so ist Hirtendichtung immer vom »Ringen mit einer leidenschaftlichen Natur«14 geprägt. Bei Theokrit wird die Natur so detailliert und reichhaltig geschildert, dass sie selbst Handlungsträger wird und als Vergleichs- wie Erklärungsmoment der menschlichen Natur zu deuten ist.15 Gerade um als ein solcher Kontrastraum auch eine epistemische und politische Dimension entfalten zu können, musste Arkadien immer zwischen realem Ort und Chiffre changieren.16 Vergil ist derjenige, der mit seinen Eklogen den »Zusammenhang zwischen der poetischen und der politischen Welt stiftet, […] und Arkadien mit dem geschichtlichen Raum«17 verbindet. Denn während die Handlung in Theokrits Erzählung noch im relativ unbestimmten Nahbereich angesiedelt ist, verlegt der Römer Vergil sie in die Ferne Griechenlands, nach Arkadien.18 Damit wurde ein Abstand zur Erfahrungswelt der Leser geschaffen und ein Raum gefunden, der für Deutungen offen ist. In Arkadien kann das ›goldene Zeitalter‹ realisiert werden, in

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Die Gattungsgeschichte der Pastorale und der Arkadien-Utopie ist also nicht nur als Geschichte des Werts von Natur, sondern auch als Geschichte tragischer Liebe, als Deutung der Stadt als »Organon der […] Macht des Eros« und damit Variante des biblischen Sündenfalls zu verstehen; ebd., S. 26. Schon Stanzel hebt in der Deutung der Hirtendichtung allgemein und Theokrits im Besonderen darauf ab, diese als Erotik- und Liebeserzählung zu deuten. Dabei sei sowohl allgemein als auch gerade für Theokrit die Spannung zwischen realistischer Darstellung und artifizieller Überhöhung konstitutiv; vgl. Stanzel 1995, S. 146. Garber 2009, S. 28. Ebd., S. 26. Zemanek, Evi: Bukolik, Idylle und Utopie aus Sicht des Ecocriticism, in: Dürbeck, Gabriele/ Stobbe, Urte (Hg.): Ecocriticism. Eine Einführung, Köln u.a.: Böhlau 2015, S. 187-204, hier: S. 188. Vgl. Garber 2009, S. 53. Zemanek, Evi: Ökologische Genres und Schreibmodi. Naturästhetische, umweltethische und wissenspoetische Muster, in: dies. (Hg.): Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, S. 9-56, hier: S. 31. Heute wird angenommen, dass die Schilderungen des Historikers Polybios aus Arkadien über die singenden Hirten seiner Heimat Vergil dazu veranlassten, diesen Ort zu wählen; vgl. Snell, Bruno: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, 9 Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 257.

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welchem Mensch, Natur und Götter eine Einheit bilden.19 Die Geschichte der Idylle ist in dieser Hinsicht auch Geschichte des Eskapismus. Der spätantike Dichter Longos verlegt die Geschichte erneut, diesmal in den Nahbereich nach Lesbos – das erlaubt es ihm, von Liebe außerhalb ständischer Zwänge zu erzählen und zugleich die Stadt zum Ort solcher Regularien zu machen. Er greift ca. 200 Jahre nach Vergil die Erzählung vom Hirten wieder auf und wandelt sie auch formal in Prosa. Seine Dichtung Daphnis und Chloe (2./3.Jahrhundert) über die Liebe zweier Findelkinder, die bei Schäfern aufgewachsen sind, gilt dann lange als Paradigma der Stadtflucht- und Pastoralerzählung. Mit Petrarcas neulateinischen Hirtengedichten im 14. Jahrhundert erfährt die Bukolik eine erneute Konjunktur. Über Frankreich und England findet die Schäferdichtung ihren Weg nach Deutschland, hier reüssiert sie in Renaissance und Barock mal als Versdichtung, häufiger als Prosa.20 Bei Salomon Geßner beispielsweise wird unter Bezugnahme auf die Hirtendichtung geschildert, wie Adlige sich als Schäfer verkleiden und so das einfache Leben der ›niederen‹ Stände spielend nachvollziehen.21 An dieser Landlebendichtung ist zu erkennen, wie die Fremde des Raums traditionell zur Lokalisierung und Definition des gesellschaftlich Ausgeschlossenen gebraucht wird. Andreas Gryphius widmet diesem frühen Typus der ›Lust auf Land‹ seine Kritik Der Schwermende Schäffer (1663), um »die geistige, sittliche und vor allem sprachlich-stilistische Haltung dieser poetischen Schäferwelt als geradezu häretische zu entlarven und zu diskreditieren«.22 An dem Beispiel ist zu sehen,

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Da Vergil das Material der Erzählung um die Römischen Bürgerkriege (133-30 v. Chr.) erweitert, braucht er ein Land, das politische Erzählung zulässt, ohne mit den Interessen und Mächten seiner Zeit und Region in Konflikt zu geraten. Er fand »ein Land für Hirten, die Corydon und Alexis, Meliboeus und Tityrus hießen, ein Land, das in sich alles aufnehmen konnte, was anklang bei solchen poetischen Namen«; ebd., S. 258. Die historische Grundlage ist die Vertreibung von Bewohnern und Hirten einzelner Gebiete, um den Kriegshelden der Schlacht von Philippi (42-41 v. Chr.) Ländereien zuzusprechen. Vergil führt zwei Varianten dieser Vertreibungen vor: Tityrus, der sich freikaufen konnte und ein idyllisches Leben führt, sowie Moliboeus, der aus seiner Heimat vertrieben wird und sogar das Singen aufgibt. Eine Rückkehr ist für ihn nicht möglich; vgl. ebd. Meister, Klaus: Der Hellenismus. Kultur- und Geistesgeschichte, Stuttgart: Metzler 2016, S. 119. Diese Rollendichtung geht später in die Bildwelten der adligen Selbstdarstellung ein. Das antike griechische Hochland wird zu einem Ort, der eine eigene Entwicklung unabhängig von der umgebenden sozialen wie politischen Situation vollzieht. Damit wird der spezifische ländliche Ort nicht zur poetischen Funktion an sich, sondern gerät in ein poetisch-politisches Funktionsgefüge. Metzger, Erika/Metzger, Michael: Die Heilung des Schwermenden Schäfers durch das Wunderbare, in: Feger, Hans (Hg.): Studien zur Literatur des 17. Jahrhunderts. Gedenkschrift für Hans Spellberg, Amsterdam 1997 (Chloe 27), S. 159-178, hier: S. 160f.

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wie früh bereits Aufklärung über Land zu einem elementaren Teil der literarischen Tradition wurde und wie diese Aufklärung auf literarische Verklärungen folgt. In der Renaissance wird Arkadien zu einem vergangenen Ort, indem die unschuldige Zeit der Menschheit mit dem Zeitalter Theokrits, Vergils und Longos’ identifiziert wurde. Von hier an setzt dann eine weitere Reflexion über den fiktiven Charakter der Idyllen ein, die u.a. bei Friedrich Schiller, Salomon Geßner oder Karl Philipp Moritz zu finden ist – nun werden die Figuren nicht mehr nur idealisiert, sondern immer wieder auch ironisiert. Für die Tradition der literarischen Deutung von Land hat das eine relevante Folge: Der gattungsreflexive Blick zurück wird der Idylle eingeschrieben, sodass immer auch die poetologische Frage nach der Möglichkeit idyllischer Dichtung mitgeführt wird.23 Doch trotz aller Reflexion und Parodie bleibt die Darstellung dem »korrektiven Ideal einer unentfremdeten humanen Existenz«24 verpflichtet. Dabei geht es nicht mehr um einen spezifischen Ort, der schöne Ort überhaupt (locus amoenus) wird zum wichtigsten Topos idyllischen Schreibens. Spätestens ab diesem Zeitpunkt tritt das historisch-geographische hinter ein symbolisches Arkadien zurück. Der Begriff ›Idylle‹ wird weitestgehend von seiner Verwendung als Gattung oder Genre gelöst und erweitert: Gemeint ist jetzt nicht mehr nur das Schreiben über Natur, sondern auch ein Schreiben über die Möglichkeiten des Schreibens über Natur.

3.1.2 Von der Gattung zum Merkmal Vom frühen 18. Jahrhundert an wird ›idyllisch‹ also auch zum Schildern einer Situation, eines Ortes oder eines Gefühls gebraucht. Dieser Zeitraum markiert den Übergang der »Dichtungsart« zur »Empfindungsweise«.25 ›Idyllisch‹ ist seither als 23

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Am wirkmächtigsten hat Friedrich Schiller die Möglichkeiten idyllischen Schreibens in seiner geschichtsphilosophischen Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung problematisiert. Er entwickelt darin eine Typologie antiker (naiver) und moderner (sentimentalischer) Dichtung. Die moderne sentimentalische Dichtung sei insbesondere durch die Erfahrung der Entfremdung von Natur und Kultur charakterisiert, die naive Dichtung entstehe aus der Einheit beider, lediglich der naive Dichter könne daher ein wahres und freies Genie sein. Versucht die Idyllik sich also an einer Wiederherstellung des Ideals im goldenen Zeitalter, so ist das sentimentalische Dichtung; vgl. Pabst 2008, S. 141-156, hier: S. 149; Hofmann, Michael: Schiller. Epoche, Werk, Wirkung, München: Beck 2003, S. 112; Hinderer, Walter: Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 99. Birkner, Nina/Mix, York-Gothart: Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Einleitung, in: dies. (Hg.): Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: de Gruyter 2015, S. 1-15, hier: S. 2. Humboldt, Wilhelm von: Über Göthes Hermann und Dorothea, in: ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Neuausgabe, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 125-356, hier: S. 279.

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wenig eindeutiges semantisches Gebilde zu verstehen, das nicht fixiert ist, »aber permanent als vermeintlich natürliches Gegenbild und Korrektiv der Zivilisation imaginiert«26 wurde bzw. wird. Gerade wegen dieser Überschneidung von relativer Unbestimmtheit und semantischer Überforderung ist ›idyllisch‹ zu einer beliebten Beschreibungskategorie geworden.27 Will man nun ein idyllisches Inventar erfassen, sind beispielsweise Elemente wie stille Orte, rauschende Bäche, ein Übermaß an Natur, vollkommene Figuren in einer überschaubaren, aber egalitären Gruppe und schließlich ein Übermaß an Gefühl sowie der Ausschluss von Leid zu nennen.28 Michail Bachtin hat mit dem idyllischen Chronotopos zudem ein spezifisches raumzeitliches Modell der Idylle erarbeitet. Demnach ist idyllisches Schreiben durch ein Übermaß an Raum und eine Unterbestimmtheit der Zeit definiert, weil letztere im idyllischen Raum keine Rolle spielt, das trägt »wesentlich zur Entstehung des für die Idylle charakteristischen zyklischen Zeitrhythmus bei.«29 Im Rückblick auf die hier angerissene Literaturgeschichte fällt auf, dass zwar kein klares idyllisches Narrativ zu identifizieren ist, dafür aber ein gewisses Set von Erzählbesonderheiten: Idyllische oder idyllisierende Erzählungen sind zeitlich häufig zyklisch organisiert, greifen auf Variationen kulturell etablierter Narrative wie der biblischen Paradies-Erzählung zu und bedienen sich an einem weiten Inventar von Natur-, Glücks- und Liebes-Motiven. Sie etablieren imaginäre Räume, in denen Menschen eine verloren geglaubte Einheit mit der Natur empfinden, diese Räume sind klar von den realen Räumen abgegrenzt und mit ihrem Entstehen schon mit Scheitern konfrontiert. So sind diese ›Verräumlichungen‹ des Glücks immer auch als Fiktion gekennzeichnet. Insofern sind idyllische Räume also offensichtlich keine Abbildungen realer Räume, sondern produktive Inszenierungen und Vereinfachungen.30 In der Ausgestaltung als Kon26

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Birkner/Mix 2015, S. 2. In der Betrachtung der Konjunkturen von Idyllen fällt auf, dass, wenn »der für die Idylle konstitutive, geschützte und harmonische Binnenraum zunehmend als bedroht und brüchig dargestellt wird, […] das idyllische Gegenbild an soziokultureller Eigendynamik und Bestimmungsmacht« gewinnt; ebd. S. 5. Die Breite möglicher Verwendungen ist schon an Titeln wie Johann Gottfried Herders NegerIdyllen (1797), Eduard Mörikes Idylle vom Bodensee (1846) oder Thomas Manns Herr und Hund. Ein Idyll (1919) abzulesen; vgl. ebd., S. 3. Vgl. ebd., S. 4. Bachtin, Michail: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 161. Daher werden insbesondere natürliche Erzählmodelle wie der Jahreszeiten-Zyklus, aber auch über viele Generationen wiederkehrende Lebensverläufe als Ordnungsschema bevorzugt. Diese repetitive Darstellung in solchen idyllischen Sujets führt zum Stillstand des Zeitflusses. Der idyllische Chronotopos selbst ist unterteilt in drei »reine Typen: die Liebesidylle […], die Idylle der ländlichen und die der handwerklichen Arbeit sowie die Familienidylle.«; ebd., S. 160. Vgl. Jablonski, Nils: Idylle. Eine medienästhetische Untersuchung des materialen Topos in Literatur, Film und Fernsehen, Stuttgart: Metzler 2019, S. 212-219. Schneider, Florian: Im Brenn-

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trastraum einer Gesellschaft kommen die Kultur- und Adressatenorientierung idyllischen Schreibens zum Ausdruck. Gerade durch die beiden letztgenannten Punkte ist es immer auch als Schreiben über Grenzen der sie hervorbringenden (städtischen) Kultur zu verstehen. So kann die Idylle auch als Teil einer sich neu entwickelnden (urbanen) Wissensordnung verstanden werden, auf dem Land werden dabei Wissen über die eigene Geschichte und über gutes Leben verortet. Gerade durch den poetologischen Charakter handelt es sich sogar um eine Wissensordnung, die nicht nur ihr Ergebnis, also eine geordnete Welt, sondern auch deren Bedingungen thematisiert.31 Gerade an diesem letzten Punkt ist zu sehen, dass schon am Beginn des Schreibens über Land durch extensiven Gebrauch der Ordnungsschemata Innen/Außen, Stadt/Land oder Adel/Schäfer narrative und epistemische Ordnungen zusammenfallen. So konnte an der Idylle und den ihr verwandten Formen beispielhaft herausgearbeitet werden, wie Raumbilder als narrative, ästhetische und symbolische Strukturmomente des Erzählens wirken. Daher wird die Darstellung der nachfolgenden Traditionsstränge zugunsten ihrer ästhetischen, epistemischen oder raumproduzierenden Besonderheiten abgekürzt.

3.2 Horror und Krise Als impliziter Gegenentwurf zu den locus amoenus-Räumen der Idylle gelten üblicherweise locus horribilis und locus terribilis, die schrecklichen Orte. Beide treten in der Literatur des 17. Jahrhunderts erstmalig auf, dabei ist der locus terribilis die diesseitige Entsprechung des ursprünglichen, theologisch aufgeladenen locus horribilis. In der Tradition der Schäfer- und Landlebendichtung werden ländliche Räume hier entweder zum Ort der melancholischen Flucht vor der Gesellschaft, einer Prüfung oder der Bewährung der getrennten Liebenden.32 Hier ist der rurale Raum kein Ort des Glücks, sondern ein beängstigender, gefährlicher oder sogar widerlicher Ort der

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punkt der Schrift: die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen und Neumann 2004 (Epistemata; Würzburger wissenschaftliche Schriften 496), S. 129. Vgl. Adler, Hans: Gattungswissen. Die Idylle als Gnoseotop, in: Berg, Gunhild (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2014 (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte 17), S. 23-42, bes. S. 23. Siehe auch den Band Bies, Michael/Gamper, Michael/Kleeberg, Ingrid (Hg.): GattungsWissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen: Wallstein 2013. Vgl. Garber, Klaus: Der locus amoenus und der locus terribilis: Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- u. Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, Köln/Wien: Böhlau 1974 (Literatur und Leben 16), S. 230ff., 268.

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Herausforderung. Es handelt sich zumeist um eine Wildnis außerhalb gesellschaftlicher Räume.33 Mehr als andere literarische Räume soll der locus horribilis auch eine affektive Reaktion der Leser wie Angst, Schauer oder Freude, nicht vor Ort zu sein, hervorrufen. Als Ort der Reifung und Entwicklung im Angesicht der gesellschaftlichen Herausforderung ist er nicht Kontrast der Gesellschaft, sondern ihr Spiegel – eine Übersteigerung des empfundenen Leids an der Gesellschaft.34 Als solche Schreckensräume stehen rurale Räume letztlich für schönen Schauer und Erhabenheit der Natur, die den Menschen durch ihre Herausforderungen auf sich selbst zurückwerfen. Zugleich handelt es sich um Gegenbilder zu den Räumen der Idylle, da hier die Deutung als problemfreier Ort umgekehrt wird. Insofern ist der locus terribilis bzw. horribilis ein Strukturelement, dessen Ausgestaltung je nach Bedarf erfolgt. Das macht diese literarischen Räume zu Deutungen, deren Erzählweisen im engen Wechselverhältnis mit den Raumbildern ihrer Zeit stehen.35 Heute scheinen die gesellschaftlichen Bilder ländlicher Räume zwischen Lust- und Schreckenssemantiken gleichverteilt zu sein. In der Aktualisierung dieser Schreckenssemantiken werden ländliche Räume häufig als Orte einer gesamtgesellschaftlichen politischen Krise gedeutet, sogar als ihr Subjekt, wenn sie bspw. als ausschlaggebend für konservative und rechte Wahlerfolge in den USA, Frankreich, (Ost-)Deutschland oder Großbritannien benannt werden.36 Erzählungen von Krise und Schrecken eines Ortes sind also sowohl narrative wie epistemische Umschlagplätze, da ein Krisennarrativ immer auch epistemische Distanznahme zur Folge haben kann, »indem es eine Welt erschafft, ihr eine bestimmte Form gibt und den Sprecher samt seiner Zuhörerschaft in ein bestimmtes Verhältnis zu dieser Welt setzt.«37 Krisennarrative handeln vom Scheitern hergebrachter Ordnungen, Erkenntnissysteme und Erzählungen, damit schaffen sie 33 34 35

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Vgl. ebd. S. 230, 240‒242, 257f. Vgl. Cordie, Ansgar: Raum und Zeit des Vaganten: Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts, Berlin/New York: de Gruyter 2001, S. 285f. Wolfgang Hackl hat bspw. gezeigt, dass die gesellschaftliche Umdeutung der Alpen vom bedrohlichen Ort zum Tourismus-Hotspot in enger Verbindung zur Literatur seit dem 18. Jahrhundert zu deuten ist; vgl. Hackl, Wolfgang: Eingeborene im Paradies. Die literarische Wahrnehmung des alpinen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert, Meinert 2004 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 100). Dieses Narrativ von der Krise des Ländlichen Raumes reicht weit zurück, wird wissenschaftlich aber erst seit den 1980er Jahren beschrieben; vgl. Schmals, Klaus/Voigt, Rüdiger (Hg.): Krise ländlicher Lebenswelten. Analysen, Erklärungsansätze und Lösungsperspektiven, Frankfurt/New York: Campus 1986. Das zeigt, wie Wissenschaft immer auch an gesellschaftlichen Raumproduktionen beteiligt ist. Schlögl, Rudolf: ›Krise‹ als historische Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung. Eine Einleitung. in: ders./Hoffmann-Rehnitz, Philip/Wiebel, Eva (Hg.): Die Krise in der Frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 (Historische Semantik 26), S. 9-32, hier: S. 17.

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Einheit, Übersicht und Struktur.38 Dabei ist ebenso wie im Falle des locus amoenus klar, dass es sich auch beim locus horribilis und terribilis um Verzerrungen handelt. Sie sind zumeist Produkt einer städtischen Minderheit und verhandeln eher symbolische Räume, als dass sie etwas über reale ländliche Räume mitteilen. Wie verändert sich das, wenn ›das Land‹ mit dem ›rural-urbanem Sündenfall‹ im 17. Jahrhundert nicht mehr nur für eine kleine urbane Gruppe, sondern für den Großteil einer Gesellschaft zum Außenraum wird?

3.3 Dorf gegen Stadt Ab ca. 1830 lösen Gattungen wie Bauernroman, Heimatroman und Dorfgeschichte die Bukolik als dominante Erzählung über Landleben ab. Bedingt durch Industrialisierung und Urbanisierung sind diese Literaturen die ersten, in denen Stadt und Land gleichermaßen als mögliche Lebensräume zur Verfügung stehen. Es sind nicht mehr nur symbolische, sondern reale Räume, die nun verhandelt werden: Den lesenden Stadtbewohnern erscheint ›das Land‹ als vergangene Zeit und vergangener Raum der eigenen Familien- oder Menschheitsgeschichte. Von diesem Zeitpunkt an

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Letztlich beschreiben Krisen das Nicht-Funktionieren einer Erzählung, basieren also auf gesellschaftlichen Annahmen über narrative Normalzustände und -verläufe. Demnach sind Krisen als Beobachtungen zweiter Ordnung zu verstehen. Von einer Krise wird üblicherweise gesprochen, wenn die erwartete Transgression der Zustände Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft gebrochen wird. Eine Krise festzustellen, impliziert einen Wertekonsens über Zustände und formuliert zugleich den Anspruch, dass aus der Identifikation der Krisenhaftigkeit des Zustands seine Veränderung erfolgt; vgl. Hofmann-Rehnitz, Philip: Zur Unwahrscheinlichkeit der Krise in der Frühen Neuzeit. Niedergang, Krise und gesellschaftliche Selbstbeschreibung in innerstädtischen Auseinandersetzungen nach dem Dreißigjährigen Krieg am Beispiel Lübecks, in: Schlögl, Rudolf/ders./Wiebel, Eva (Hg.): Die Krise in der Frühen Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 (Historische Semantik 26), S. 169‒208, hier: S. 184f. Mit dem Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert verändert sich das Bild der Krise, es erfolgt eine »langsame, weil offenkundig nicht einfache Umgestaltung der Semantik von Komplexitätsreduktion auf Komplexitätsmanagement«; ebd. In diesem Verständnis gibt es kein Ende der Krise, sodass sie zur ständigen Begleitung der Komplexität wird – sie ist dann nicht mehr Ausnahme-, sondern Normalzustand und als solcher notwendig für die dauernde Dynamisierung der Moderne; vgl. Schlögl 2016, S. 19. Spätestens mit der Finanzkrise des Jahres 2008 ist die Krise als anhaltender Zustand in viele populäre Deutungen und Diagnosen eingegangen und dabei zu einem »nicht zu eliminierenden Element der globalen, massenmedialen Öffentlichkeiten geworden«; ebd. S. 9. Das zeigt, wie die Krisenerzählung, wie jede Erzählung, dazu dient, Zustände in einen kontingenten Zusammenhang zu setzen; Fenske, Uta/ Hülk, Walburga/Schuhen, Gregor: Vorwort, in: dies. (Hg.): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld: transcript 2014, S. 7f.

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impliziert die Thematisierung dieser dörflichen Welt auch regelmäßig eine latente oder offene Parteinahme gegen die als Urbanisierung, Industrialisierung, Kapitalisierung oder Proletarisierung erlebten Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft. […] Die Autoren freilich und das Publikum, dessen Kauf- und Lesegewohnheiten den Erfolg der Heimatliteratur erst ermöglichen, bleiben mehrheitlich bürgerlich-städtisch.39 In dieser Kommunikationssituation liegt der Beginn einer nur symbolisch vollzogenen Landsehnsucht, die keiner realen Einlösung mehr bedarf. Das traditionelle idyllische Schreiben wird um Milieuschilderungen und realistische Darstellungsformen ergänzt, fußt aber formal und inhaltlich weiter in vereinfachten Idealisierungen.40 Durch die Betonung von Wahrheit und Detail wird die Grenze zwischen imaginären und realen Räumen vermeintlich aufgelöst, es handelt sich aber dennoch weiterhin um ein poietisches und kein mimetisches Verhältnis.41 In der so erneuerten Gegenüberstellung von Stadt und Land entstehen mit Provinz und Heimat unterschiedliche symbolische Räume, die den Stadt-Land-Unterschied letztlich verfestigen. So hat Norbert Mecklenburg die Provinz als Form von »ideologischen Schutzund Ersatzbildungen«42 definiert und auch Heimat wird häufig als eigenständiger Wert gegenüber der kulturellen (städtischen) ›Fremde‹ etabliert.43 Mit dieser Neukonfiguration von Stadt und Land ändert sich auch das Erzählen über Land – das Figurenrepertoire, die Konfiguration der Räume, die Bedeutung von Wissen etc. In diesem Unterkapitel werden sowohl diese Entwicklung als auch ihre Auswirkungen auf Erzählen und Raumproduktion in den Fokus genommen. 39 40

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Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900-1918, München: Beck 2004, S. 164. Bettina Wild identifiziert für die Dorfgeschichte vier dominante Themenkomplexe, die dann maßgeblich zur Semantisierung des Ländlichen beitragen. Neben dem Gegensatz »Stadt–Land« sind das die »fortschreitende Modernisierung«, »Politik«, sowie »Kindheit und Jugend auf dem Dorf«; Wild 2011, S. 73. Diese vereinfachenden Idealisierungen werden nötig, um literarische Modelle zu bilden, die dann der »Erklärung des Makrokosmos bürgerliche Gesellschaft« dienen; ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 17; Nell/Weiland 2014, S. 36. Durch solche Wandlungen der Tradition wird die Beschreibung eines Ortes zunehmend von der jeweiligen Beschreibungsposition abhängig. So können außerliterarische Wahrheiten über Land ausgeblendet, geschaffen, als unabänderlich dargestellt oder abgelehnt werden. Wahrheit über Land erfüllt dabei einen sozialen bis politischen Zweck; vgl. Birkner/Mix 2015, S. 5-9. Norbert Mecklenburg hat dieses Spannungsverhältnis als das wichtigste ästhetische Verfahren des Schreibens über Provinz herausgearbeitet, demnach gewinnt das »Erzählen von Provinz […] in dem Maße an literarischem Wert, wie es die Spannung von Mimesis und Poesis (sic!) im Werk austrägt«; Mecklenburg 1986, S. 10. Ebd., S. 60. Provinz wäre demnach zu thematisierenden als Suche nach einem »Identitätsraum, in welchem die eigenen Interessen mit denen der andern versöhnt wären«; ebd. Vgl. ebd.

Geschichte(n) literarischer Ländlichkeit

3.3.1 Dorfgeschichte Der Terminus Dorfgeschichte bezeichnet zunächst eine »[e]pische Prosagattung mittlerer Länge […], deren erzählter Raum eine (reale) überschaubare, abgegrenzte Einheit in der Provinz (im Gegensatz zur Stadt)«44 ist. Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten gaben der Gattung neben dem Namen auch die Form und insbesondere die Absicht, denn für Auerbach »dienen die Dorfgeschichte und damit der ländliche Raum als poetisches und gewissermaßen auch als gesellschaftsphilosophisches Labor. Der Mikrokosmos Dorf dient der Erklärung des Makrokosmos bürgerliche Gesellschaft.«45 Es handelt sich um eine Form, »in der sich Transformationserfahrungen artikulieren«46 , die während der anhaltenden Urbanisierungsprozesse gemacht werden – das Dorf wird also gewissermaßen zum wissenschaftlichen Modell. Eine Folge dieses Ansatzes ist Auerbachs auf Vollständigkeit setzende Poetik: Er verfasste 27 Geschichten über einzelne Figuren und Begebenheiten seines Heimatortes Nordstetten. Er habe es versucht, ein ganzes Dorf gewissermaßen vom ersten bis zum letzten Hause zu schildern; die vorkommenden Sitten und Gebräuche sind dem wirklichen Leben entnommen, so wie auch die Lieder aus keiner gedruckten Sammlung, sondern, so viel mir bekannt, bisher noch ungedruckt sind.47 Schon von Auerbach selbst werden Vollständigkeit, regionale Spezifika, Sittenhaftigkeit und Authentizität als wichtigste Elemente der Dorfgeschichte hervorgehoben, was sowohl als Aufklärung über Land, Darstellung bürgerlicher Utopie, aber auch als eine Absage an Idyllisierungen des Landlebens gedeutet werden kann.48 Gerade die Verlusterfahrung des vergangenen Heimatraums rückt das Dorf, seine 44

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Baur, Uwe: Dorfgeschichte, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, hg. von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller, 3., neubearb. Aufl., Berlin/ New York: de Gruyter 1997, S. 390-392, hier: S. 390. Wild 2011, S. 69. Michael Neumann und Marcus Twellmann haben am Beispiel der Dorfgeschichte gezeigt, dass, »[k]orreliert man die Geschichte der Gattung mit der Verlaufsgeschichte der Globalisierung, […] das Erzählen vom dörflichen Schwellenraum als eine literarische Form erkennbar [wird], in der sich Transformationserfahrungen artikulieren. Und zwar nicht nur in der Weise, dass es sich um Reaktionsmuster handelt. Vielmehr zielen sie auf tiefer liegende anthropologische Fragestellungen, deren Relevanz stets erst im Horizont von Veränderungen sichtbar wird.« Neumann, Michael/Twellmann, Marcus: Dorfgeschichten. Anthropologie und Weltliteratur, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88, 2014, S. 22-45, hier: S. 45. Auerbach, Berthold: An J. E. Braun vom Verfasser der Schwarzwälder Dorfgeschichten, zit.n. Wild 2011, S. 57. Vgl. Wild 2011, S. 57f.

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Individuen und sein Sozialleben derart in die Ferne, dass es zur wiederentdeckbaren Fremde wird, über die nicht mehr nur schöne oder schaurige Fiktion, sondern Wahrheit vermittelt werden muss. Neben aller mimetischen Qualität ist die Dorfgeschichte also ein poetischer Gradmesser gesellschaftlicher Transformation, den Dörfern und ihren Einwohnern kommt »eine mehr kulturelle als eine individuelle Qualität zu.«49 Dieser Effekt ist auch im Schreiben über Heimat zu beobachten, was sich parallel zur Dorfgeschichte etabliert und im Folgenden in den Blick genommen wird.

3.3.2 Heimatliteratur Im Jahr 1822 beschreibt Karl Immermann in Das Papierfenster des Eremiten einen Gasthof und stellt fest, es brauche »Nichts von Amerika! Überall ist Boden und Heimat«.50 Die Schilderung dieses Gasthofs und seiner Einrichtung geht mit der klaren Wertung einher, da sei die Welt noch in Ordnung: »Der Duft der frisch gescheuerten Stube, weißer Sand, noch knitternd unter den Füßen, die Geschirre symmetrisch auf Tür- und Fensterbrett geordnet, hinter dem Spiegel grüne Birkenzweige, um den Wald recht bei der Hand zu haben.«51 Solche Schilderungen von ›erzähltem Empfinden‹ führten u.a. dazu, dass die Heimatliteratur zu einem der ersten massenliterarischen Produkte wurde, die überwiegend von einem liberalen Bürgertum gelesen wurden.52 Dieses Bürgertum war gerade erst in den Städten entstanden – die Erinnerungen an die Herkunft der eigenen Familie auf dem Land prädestinierte ländliche Räume als Orte des Erzählens über Heimat. Versucht man, einen narrativen Kern von Heimaterzählungen zu identifizieren, dann steht an ihrem Anfang häufig ein Subjekt, das kann ein Individuum oder eine Gruppe sein, das nach (s)einem Platz in der Welt sucht, ausgelöst durch die Empfindung eines Entwurzelt-Seins oder eines Unbehagens über das eigene Leben. Darauf folgt eine Suche, die dann als ein Weg zurück oder ein Aufbruch in unbekannte Territorien gestaltet sein kann. Heimatgeschichten sind zumeist geprägt durch positive Narrative wie die der Selbstfindung oder der Auseinandersetzung von Individuum und Gemeinschaft.53 Mehr noch als die bisher untersuchten Erzählungen über Land bietet (insbesondere die konservative) Heimat einen produktiven Erzählansatz 49 50

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Ebd., S. 127. Immermann, Karl: Das Papierfenster eines Eremiten, 1822, zit.n. Ehlert, Klaus: Realismus und Gründerzeit, in: Beutin, Wolfgang u.a. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. 8 Stuttgart: Metzler 2019, S. 295-343, hier: S. 310. Ebd. Diese »Tendenzdichtung« ist dabei verbunden »mit dem Anspruch, historisch-empirische Wirklichkeit zu erzählen, das zeitgenössische gewöhnliche Leben der gesellschaftlichen Unterschichten«; Wild 2011, S. 23f. Vgl. Parr, Rolf: Die Fremde als Heimat. Konstanz: University Press 2014, S. 10.

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in dem Sinne, dass hier Gemeinschaften geschaffen oder (natürliche) Verbindungen zwischen Subjekt und Raum behauptet werden.54 Dieser Ansatz hat in unterschiedlichen Konstruktionen Konjunktur: In Pauline de Boks Blankow oder Das Verlangen nach Heimat ist die Suche nach einer Heimat ein zugleich historischer wie realer und hoch individueller Prozess, in dem es um Einsamkeit, Ortsbindung und Identitätssuche geht. Ganz anders ist Heimat in Tim Mälzers Kochbuch Heimat bestimmt, für welches das Konzept als Versprechen von Urtümlichkeit ein symbolischer ›Aufhänger‹ ist, und in den regelmäßig wiederkehrenden Heimatfilmen ist Heimat zumeist ein rückwärtsgewandter Mythos. Gerade in dieser Unterbestimmtheit des Konzepts liegt ein Grund für seinen Erfolg und seine ständige erzählerische Wiederaufnahme.55 Mit dem Konzept ›Heimat‹ wollen seine Verwender, so eine übliche Deutung, zumeist »Antworten auf Modernisierungsprozesse, Erfahrungen der Dezentrierung und unsichere Identitäten«56 bereitstellen. So wird Heimat lange als rückwärtsgewandt verstanden, »als Kompensationsversuch für das Leiden an den Problemen der Gegenwart, mit der eine gefährliche, weil politisch reaktionäre Identifikation mit dem Geburtsort einherging.«57 Darauf basiert die übliche Deutung, dass gerade

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Natalia Donig und Sarah Scholl-Schneider haben über die Häufung des Begriffs in den Titeln der Populär- und Unterhaltungsliteratur festgestellt, Heimat fungiere »oft als Aufhänger einer anderen, größeren Geschichte, wobei offensichtlich angenommen wird, dass sie im Bewusstsein der Menschen eine stabile Assoziationskette aus Raum, Zeit und Identität, Natur, Emotion und Erinnerung auszulösen vermag, die ihren selbstverständlichen Gebrauch rechtfertigt. Die Konstruktionsleistung von der ›Heimat‹ zur erzählten Geschichte muss der Leser wohl selbst bringen«; Donig, Natalia/Scholl-Schneider, Sarah: Einleitung. In: Donig, Natalia/Flegel, Silke/Scholl-Schneider, Sarah (Hg.): Heimat als Erfahrung und Entwurf, Berlin/ Münster: Lit Verlag 2009, S. 13-31, hier: S. 14f. Theodor W. Adorno hat auf einen Widerspruch hingewiesen, der in dieser andauernden medialen Befeuerung des Heimatbegriffs steckt, demnach überlebt »[k]eine Heimat […] ihre Aufbereitung in den Filmen, die sie feiern, und alles Unverwechselbare, wovon sie zehren, zum Verwechseln gleichmachen«; Adorno, Theodor W.: Résumé über Kulturindustrie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1 Kulturkritik und Gesellschaft I, hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 337-345, hier: S. 342. Oesterhelt, Anja: Topographien des Imaginären. Thesen zum Konzept der ›Heimat‹ in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts, in: Costadura, Edoardo/Ries, Klaus (Hg.): Heimat gestern und heute. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript 2016, S. 201-211, hier: S. 202. Paulsen, Adam/Sandberg, Anna: Natur und Moderne um 1900. Kontexte, Begriffe und Anschlüsse, in: dies. (Hg.): Natur und Moderne um 1900: Räume – Repräsentationen – Medien, Bielefeld: transcript 2013 (Edition Kulturwissenschaft 23), S. 9-30, hier: S. 26. Die Mythisierung und die Idealisierung des Heimatromans führten dazu, dass er für eine Ideologisierung geöffnet wurde; mit Heimat wird auch ›das Land‹ zum konservativen Ort. Diese Entwicklung manifestierte sich zunächst in der Heimatkunstbewegung, konkret in Vereinen und Zeitschriften wie Kunstwart (1887), Heimat (1900). Hier war Heimat u.a. Ort von »Authenti-

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ländliche Räume als Heimatorte Konjunktur haben, was selbst wiederum eine konservative Semantisierung ländlicher Räume zur Folge hat.58 Als Gegenbewegung zu dieser konservativen Deutung entsteht nach dem Zweiten Weltkrieg zum einen die Anti-Heimatliteratur59 und findet zum anderen eine Umdeutung von Heimat statt, die seither auch vorwärtsgewandte Utopie sein kann.60 Diese Entwicklung wird in neueren Verhandlungen über Heimat fortgesetzt bspw. in Saša Stanišićs Herkunft, dem ist »jede Heimat […] eine zufällige – dort wirst du halt geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Nieren an die Wissenschaft.«61 . Dieses neuere Schreiben über Heimat basiert auf der Erfahrung, dass kontingente Heimaterzählungen zwangsläufig Fiktionen sein müssen, weil sie schlicht auf Zufällen beruhen. Doch diese Deutungsansätze sind vorwiegend Randerscheinungen, auch heute werden ländliche Räume und Heimatbilder häufig in eins gesetzt, prominent im hier untersuchten Diskurs der ›Lust auf Land‹, der maßgeblich durch die hier dargestellten Ordnungsschemata von Natur und Kultur, Heimat und Fremde oder Moderne und Provinz geprägt ist.

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zität, Persönlichkeit, Volkstum und zyklisch-nachhaltigen agrarischen Lebensformen«; Parr 2014, S. 7. Mit Beginn des 20. Jahrhundert wurde der Heimatroman zum völkischen Roman und beschrieb eher einen Weg ›zurück‹, denn ›ins Freie‹; vgl. Sprengel 2004, S. 143. Als Variation dieser konservativen Geschichte trat der Bauernroman als konservativer Krisenroman hinzu, der selten von Literaten, eher von Pastoren und Lehrern verfasst wurde. Mit dem Ende der Kolonialzeit um 1918 wird die Heimat wieder verstärkt in den Nahbereich verlegt, war sie vorher doch häufig als Zeichen der Inanspruchnahme in den Kolonien verortet worden. Die bis dahin entwickelte territoriale und völkische Ideologisierung des Heimatbegriffs wird im Nationalsozialismus fortgesetzt und pervertiert, sodass der nächste maßgebliche Einschnitt des Heimatdiskurses am Ende des Zweiten Weltkriegs zu identifizieren ist. Vgl. Goodbody, Axel: Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor. Zu Ansätzen in Romanen um 1900 von Bruno Wille, Hermann Hesse und Josef Ponten, in: Paulsen/Sandberg 2013, 183-202; Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M.: Campus 2005, S. 15. Der Anti-Heimatroman reicht bis in die Gegenwart, populäre Beispiele sind Rocko Schamonis Dorfpunks oder Alina Herbigs Niemand ist bei den Kälbern. Hier wird der Begriff erneut umdefiniert und von seiner zuletzt erfahrenen Konkretion gelöst. Neben der oft zitierten Bestimmung der Heimat durch Adorno und Horkheimer beschreibt Bernhard Schlink Heimat als Utopie: »So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburtsund Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat – letztlich hat sie weder einen Ort noch ist sie einer. Heimat ist Nichtort. Heimat ist Utopie.« Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie, Frankfurt a.M.: edition suhrkamp 2000. S. 32. Saša Stanišić: Herkunft, München: Luchterhand Literaturverlag 2019, S. 123; siehe auch ders.: Die Schöne mit dem schlanken Hals, in: Ammer, Christian/Lindemann, Andreas (Hg.): Kultur und Identität. Konstruktionen der Identität im europäischen Kontext, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016, S. 63-69, hier: S. 63.

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3.3.3 Stadt – Land als Ordnungsschema der Moderne Parallel zu der hier geschilderten Entwicklung des Schreibens über Dorf und Heimat vergrößerte sich die raumzeitliche Entfernung zwischen Stadt und Land stetig und mündete letztlich in den Topos der Gegensätzlichkeit von Moderne und Provinz, was dann als Unterscheidung selbst zu einem maßgeblichen ästhetischen wie epistemischen Ordnungsschema der Moderne wird.62 In der dominierenden Raumkonfiguration dieser Zeit werden ländliche Räume als Schutzräume oder als zu verteidigende Orte der Natürlichkeit stilisiert und gegen die urbane Moderne gehalten.63 Das äußert sich überwiegend in zwei gegensätzlichen Narrativen, die an dieser Stelle bereits bekannt erscheinen: ein modernekritisches, idyllisches sowie eins vom Niedergang ländlicher Räume. Diese widersprüchliche Dopplung resultiert aus der zeitbedingten Unbestimmtheit von ›Provinz‹ und Stadt – grob gesagt weiß man vom Land nicht mehr und von der Stadt noch nicht.64 Die damit einhergehende Positionierung der Dörfer und ländlichen Räume am epistemischen Rand von Gesellschaft verschärft sich in der fortschreitenden Literaturgeschichte dann zunehmend. Das Ordnungsschema von Innen und Außen, Eigen und Fremd wird gerade in der Zeit der deutsch-deutschen Teilung erneut wichtig: Es kann nicht nur als Entsprechung der Teilung gelesen werden, sondern gerade in der DDR war das Landleben auch ein Leben außerhalb der politischen Ordnung und ein Ort nach dem Ende der politischen Utopie. Als Zeugnisse davon sind Texte wie Christa Wolfs Sommerstück (1989) zu lesen, in welchem von der brüchigen Idylle eines Sommers im Kreis von Familie und Freunden erzählt wird, was insbesondere an den wiederkehrenden Reflexionen auf Tradition und Versprechen der Idylle abzulesen ist: Da wird zum einen erzählt, wie »Legenden«65 über die Tätigkeiten auf dem Land gebildet werden, zum anderen wird »Landleben als Modeerscheinung«66 reflektiert und es werden die Erinnerungen an den vergangenen ersten Sommer auf dem Land verschämt als 62

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Spätestens mit Wilhelm Heinrich Riehls Volkskunde wird im 19. Jahrhundert der ArkadienTopos vom unberührten Land durch ein stärker dualistisches Nebeneinander von Großstadtkritik und Dorfidyllik abgelöst. Dies bestimmt dann nachhaltig Gesellschaftstheorien u.a. Ferdinand Tönnies‹ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft oder Georg Simmels Parallelisierung von Stadt und Land sowie Finanzwirtschaft und Gemütsbeziehungen. Der Einfluss gesellschaftlicher Entwicklung wird deutlich, wenn mit der rasanten Urbanisierung der Schwellenzeit um 1900 das Oppositionspaar Stadt/Land zur zentralen Raumkonfiguration der Modernisierung wird. Diese Konfiguration findet ihren Ausdruck in wechselseitiger dichotomischer Profilierung, insbesondere in den Gegensätzen Krankheit/Gesundheit, Masse/Individuum, Metropole/Provinz; vgl. Rehm 2015, S. 11-20. Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München: Beck 2004, S. 55. Vgl. Tenfelde 2006, S. 246. Wolf, Christa: Sommerstück. Was bleibt, 2 Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch 2012, S. 47. Ebd., S. 46.

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»diese bukolischen Szenen«67 abgetan. Noch weniger verfremdet Sarah Kirsch die eigenen Erfahrungen in der ländlichen Provinz in Allerlei-Rauh (1988). Andere Ansätze sind bei Autoren wie Günter de Bruyn zu beobachten, der in Märkische Forschungen (1978) die Konfiguration ländlicher Räume als Orte der Freiheit reflektiert hat und auch später in Der neunzigste Geburtstag (2018) prüft, inwiefern Ein ländliches Idyll, so der Untertitel, angesichts der ins Land kommenden Geflüchteten noch haltbar ist. Und Volker Braun begleitet in Bodenloser Satz (1990) rückblickend den Niedergang ländlicher Regionen durch die DDR-Industrie.68 In der hier umrissenen Deutung von Stadt/Land als Ordnungsschema sind Dorfgeschichte und Heimatroman für ein städtisches Publikum Teil einer Suche nach Identität am anderen Ort – gerade dieses heimatexotistische Moment macht die Gattungen für populäre Medien des 20. Jahrhunderts wie Heimatfilme und Groschenromane anschlussfähig, die also als Reproduktionen eines kulturell etablierten Ordnungsschemas erscheinen, welches auch durch Literatur geprägt wurde.69 Das exotistische Moment des Schreibens über Land wird im folgenden Abschnitt expliziert und kann als Kulminationspunkt einer 2000 Jahre dauernden literaturhistorischen Entwicklung verstanden werden: Nachdem in Bukolik und Idylle ›das Land‹ ein abgeschlossener Ort außerhalb von Zeit und Geschichte war, in der Dorfgeschichte zu Modell und Experimentierfeld wurde und in den Erzählungen um die Jahrhundertwende die Gegensätzlichkeit von Stadt und Land sowie die Rettung verlorengeglaubter kultureller Zustände beschworen wurde, vollzieht sich im späten 19. und 20. Jahrhundert mit den eskapistischen bzw. exotistischen Erzählungen (anscheinend) die endgültige Scheidung beider Räume.

3.4 Aufbruch ins Unbekannte Man benennt also niemals: man ordnet den anderen ein, wenn der Name, den man ihm gibt, eine Funktion der Eigenschaften ist, die er hat, oder man ordnet sich selbst ein, wenn man, in dem Glauben, keiner Regel folgen zu müssen, den anderen ›frei‹ benennt, d.h. in Funktion der Eigenschaften, die man selbst hat. Und meistens tut man beides zugleich.70

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Ebd., S. 57. Einige Anregungen zu diesem Abschnitt verdanke ich Emmerich, Wolfgang: Kleine LiteraturGeschichte der DDR. Berlin: Aufbau Verlag 2007. S. 312-317. Erst mit dieser Fremdheitsbehauptung werden scheinbar basale Vermessungen der nahen Umgebung zum Ereignis. Mit der zunehmenden kulturellen wie literarischen Verfestigung entfällt fortan das politisch-konstitutive Moment der Gattung, die Aspekte Unterhaltung und Exotismus gewinnen an Bedeutung; vgl. Neumann/Twellmann, S. 21f. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 211f.

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Was Claude Lévi-Strauss hier über die Bestimmung des Fremden bemerkt, muss genauso für jede Benennung und Beschreibung eines Ortes gelten. Es handelt sich um eine wichtige Gemeinsamkeit sämtlicher eskapistischer, exotistischer und auch kolonialer Werke, denn sie gehören zu einem Diskurs, »für den das ›Exotisch-Fremde‹ als Projektionsfläche eigener Vorstellungen, Wünsche und Phantasien fungiert«.71 Das Exotische wird dabei zumeist als leer oder eigentlich vergangen/überholt definiert, wodurch der eigene Beschreibungszeitpunkt eben als zukünftig oder zumindest gegenwärtig markiert wird.72 Neben dieser Ungleichzeitigkeitsbehauptung wird die Differenz von eigen/fremd je nach Gebrauch »paradigmatisch schnell um solche Binarismen wie ›wild/zivilisiert‹, ›gut/schlecht‹, und ›weiblich/männlich‹ erweitert.«73 Die unter ›Exotismus‹ versammelten Erzählungen beschreiben also gewissermaßen eine (imaginäre oder reale) Kontakt-Bewegung aus dem selbstdefinierten Innen- in einen vergangenen, wilden oder unbekannten Außenraum, dem eine möglichst große Differenz zur eigenen Erfahrung eingeschrieben wird. Obwohl der Außenraum in geographischen wie demographischen Zahlen dem eigenen Innenraum überlegen sein kann, werden die terra incognita und ihre Grenzen semantisch so weit reduziert, dass sie zur Verhandlungs- und Gestaltungsmasse, also zur terra nullius, werden.74 Auch die Auswahl des Fremden changiert je nach Ziel der Darstellung. Mit dem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnenden zweiten Entdeckungszeitalter ging es nicht mehr in erster Linie um Landgewinn, sondern um die Vermehrung des an-thropologischen, geographischen und naturwissenschaftlich-botanischen

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Parr, Rolf: Exotik, Kultur, Struktur. Tangenten dreier Perspektiven bei Claude Lévi-Strauss, in: Badenberg, Nana u.a. (Hg.): Tropische Tropen – Exotismus. Sonderheft der Zeitschrift Kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 32/33 (1995), S. 22-28, hier: S. 22; vgl. auch Osthues, Julian: Literatur als Palimpsest. Postkoloniale Ästhetik im deutschsprachigen Roman der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2017, S. 131. Michael Frank beschreibt es als evolutionistisches Narrativ, welches u.a. auf Rousseaus Beobachtungen zum Naturzustand (für alle gleich) und der narrativen Grundform des Märchens basiert; vgl. Frank, Michael: Andere Völker, andere Zeiten. Das evolutionistische Narrativ in den Humanwissenschaften 1750-1930, in: Höcker, Arne/Moser, Jeannie/Weber, Philippe (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld: transcript 2006, 127-138, hier: S. 131. Ebd. Für den Eskapismus beispielsweise ist der Binarismus ›Überforderung/Ruhe‹ relevant; vgl. Osthues 2017, S. 132. Damit erfüllen die Texte gleichermaßen die von Lotman definierten Bedingungen sujethaltiger Texte: Mit dem Übertreten räumlicher Grenzen werden auch normative verletzt, also die bestehenden Ordnungen auf ihre Berechtigung hin befragt. Für eine ausführlichere Beschreibung siehe Kap. 0.

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Wissens, das für die Definition einer europäischen Identität und Ursprungsgeschichte nutzbar gemacht wurde.75 Nachdem die Erde dann im 19. Jahrhundert umfassend kartographiert war, wurde das Unbekannte im geographischen Sinn hinfällig und von dort verlagert: von technikbegeisterten Autoren wie Jules Vernes ins Erdinnere, in die Zukunft oder in die Psychologie.76 So stellte Robert Musil im frühen 20. Jahrhundert fest: »Psychologie ist heute das, was in der Zeit Marco Polos die Geographie war, mehr nicht«.77 Seit dem Beginn dieser Entwicklung sind Erkundungen geographischer Orte immer auch Erkundungen des menschlichen Innenlebens. Mit der zunehmenden Technikerfahrung und -überlastung des 20. Jahrhundert erfolgt wieder die Verlagerung in den Nahbereich: das Dorf und den ländlichen Raum. In dieser Entwicklung kommt es auch zur Moralisierung der Fremde, die zum Ort der Prüfung und Bewährung der Helden wird, die »erst in der Fremde das Ziel ihrer Bestimmung finden«.78 Dabei tritt die semantische Bewertung des Ortes hinter die Fremdheitsbehauptung zurück, [d]enn die Befremdlichkeit der Fremde, die wir bislang ausschließlich als Negation der vertrauten Vorstellungsmuster, und d.h. als ›malum‹ kennengelernt haben, geht mit der Metamorphose des Ortes der Angst in einen Ort des Heils nicht verloren, […] ›wunderbar‹ sind die bedrohliche und die paradiesische Fremde gleichermaßen.79 Relevant ist aber, dass solche Figuren des Fremden »[m]it den ihnen eigenen Inklusions- und Exklusionsbewegungen […] das Reglement der Ordnungen von Identität und Kultur«80 lesbar machen. Die Teilnehmer der so etablierten Diskurse suchen 75

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Böhm, Alexandra/Sproll, Monika: Einleitung, in: dies. (Hg.): Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 7-26, hier: S. 11. Vgl. Zenk, Volker: Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Oldenburg: Igel Verlag 2003, S. 12. Dann wird »Innere Alterität […] als binnenkulturelle Variante des nahen Anderen« verstanden; Böhm/Sproll 2008, S. 13. Musil, Robert: Der Schwärmerskandal (1929), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. II: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, hg. von Adolf Frisé, Reinbek: Rowohlt 1978, S. 1189-1193, hier: S. 1192. Röcke 1997, S. 352. Ebd., S. 354. Birk/Neumann 2002, S. 16. Dass die Ausgestaltung literarischer Welten nicht immer ihren außertextuellen (realen) Vorbildern entsprechen muss, sondern sie vielmehr gezielt produzierte Welten sind, deren Ausgestaltung Wertungen transportiert, ist beispielhaft mit dem Werkzeug postkolonialer Kultur- und Erzähltheorien herauszuarbeiten. Edward Said hat bspw. in seiner Untersuchung Orientalism (1978) herausgestellt, dass das im Westen verbreitete Bild des Orients als kulturelles Konstrukt zu verstehen ist, an dem auch die Wissenschaften teilhaben. In solchen postkolonialen Studien wird ein Verständnis der Aufklärung

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in fremden Regionen nach genau den Orten, die sie aus Wissenschaft, Medien und Literatur kennen, sie suchen nach dem orientalischen, ›edlen Wilden‹, der als fiktives Kulturprodukt des Okzidents zwar äußerlich dem Orient zuzuordnen, seinem Verhalten nach aber westlich ist.81 In der Forschungsliteratur dominierte lange die Vorstellung, exotistische Werke wie Reiseberichte seien als eigentliches Erkenntnisobjekt anzusehen, d.h. die Reiseberichte nicht als Quellen zu den beschriebenen Ländern oder der literarischen Phantasie ihrer Autoren, sondern ganz einfach als Zeugnisse für die spezifische Denkungsart des Verfassers und indirekt für die Mentalität seines Heimatlandes anzusehen.82 Solche Deutungsansätze laufen aber selbst Gefahr, Teil des exotistischen Diskurses zu werden, da sie letztlich die fremden Räume auch als nicht entscheidend für die Entstehung der Texte und letztlich selbst als semantisch leer verstehen. In den folgenden Absätzen wird anhand zweier Textsorten beispielhaft auf Besonderheiten solcher exotistischen Narrationen eingegangen. Als ein Sonderfall exotistischen Schreibens wird häufig die Robinsonade genannt. In Tradition von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) wird vom Schiffbruch eines Helden, seinem Leben auf einer unbewohnten Insel und schließlich der Rettung erzählt. Stärker als die bisher angeführten Traditionen charakterisieren Robinsonaden den Protagonisten, da in ihnen von der Entwicklung des Protagonisten an der Einsamkeit und einer ihm fremden sozialen wie ökologischen Umgebung erzählt wird.83 Daher steht die Robinsonade zwischen Experiment und

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kritisiert, wonach die nationale wie subjektive Identität als gesicherte, monadische Einheit zu verstehen ist; Räume und Identität werden dann als Ergebnis unterschiedlicher gesellschaftlicher und kultureller Einflüsse gedeutet. Postkoloniale Erzähltheorien müssen daher eine Beschreibung derjenigen Erzählstrategien liefern, mit denen die erzählte Fremdheit erst erzeugt wird, um das koloniale Moment der einzelnen Texte zu dekonstruieren. In dieser Tradition werden auch traditionelle exotistische und Abenteuerromane einer Neubewertung unterzogen, so werden u.a. das Verhältnis von Herr und Knecht in Defoes Robinson Crusoe, die Konstruktionen des Orients in Karl Mays Abenteuerromanen oder die Konstruktion des Wilden in Rudyard Kiplings Das Dschungelbuch untersucht. Vgl. ebd., S. 120−124; Babka 2015, S. 103-116. Gerade diese narrative Konstruktion des Fremden wird für die vorliegende Studie zentral. Vgl. Osthues 2017, 135. Harbsmeier, Michael: Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Maczak, Antoni/Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1982 (Wolfenbütteler Forschungen 21), S. 1-31, hier: S. 1. Vgl. Fohrmann, Jürgen: Robinsonade, in: Killy, Walter (Hg.): Literaturlexikon. Begriffe, Realien, Methoden, Bd. 14, Gütersloh/München: Lexikon Verlag GmbH 1993, S. 299-300, hier: S. 299. Darin heißt es: »Die Personen der R.n erscheinen entweder durch ihre Affekte zu

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Sittengemälde. Die unfreiwillige Isolation kann im Laufe der Erzählung umgekehrt werden, indem der Protagonist die Fremde als besseren Ort erkennt.84 In solchen Geschichten über Figuren, »die erst in der Fremde das Ziel ihrer Bestimmung finden«,85 ist beispielhaft die wiederkehrende Moralisierung der Fremde zu erkennen, die zum Ort der Prüfung und Bewährung der Romanhelden, zur »pädagogischdidaktischen Provinz«86 wird. Eine weitere Besonderheit ist der Reisebericht. Andy Hahnemann hat dessen Beispiel mehrere Besonderheiten des Schreibens über Raum und Bewegung herausgearbeitet, dazu zählt zunächst das »Authentizitätsversprechen der unmittelbaren Wahrnehmung und persönlichen Erfahrung«.87 Hinzu kommt die Feststellung, dass »[d]ie Reise […] als hermeneutische Bewegung« funktioniert, die, ihrem Gegenstand angepasst, schon strukturell zu einem bestimmten Verstehensprozess anregt. Drittens ist in Zeiten, in denen das Reisen, auch die Weltreise, zwar theoretisch möglich, aber praktisch schwierig war, der Reisebericht als Kompensation zu verstehen.88 Schon durch die hier sehr grob umrissene Besonderheit der Reiseberichte ist der Zusammenhang von Reisen und Wissen in der Literatur ersichtlich, er erfährt spätestens seit dem knowledge turn der Raum- und Geisteswissenschaften Aufmerksamkeit und wurde bspw. von Hubert Fichte in Mein Freund Herodot schon früh in Literatur überführt, wenn es da heißt: »Nicht: Wissen ist Macht! – sondern: Reisen ist Wissen.«89 Einige Besonderheiten dieses Zusammenhangs von Reisen und Wissen in Literatur kommen erst in der Form zum Ausdruck: Reiseerzählungen sprechen neben fremden Orten, Dingen, Kulturen und Figuren über Grund, Weisen und Ziel des Weges, sie werten, indem sie von Scheitern oder Erfolg berichten.90 Sie sind also

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beständiger Unruhe verleitet (Anarchie) oder aber durch Vernunft zu innerer Naturbeherrschung genötigt (Ritualisierung des Tagesablaufs, implizite Überwachung usw.). Den Leidenschaften werden dann der Zufall oder die laun. Glücksgöttin (Fortuna-Tradition), der Vernunft die göttl. Vorsehung zugeordnet. Am Ende nahezu aller R.n (bis in die 60 Jahre des 18. Jh.) kommt es zum Sieg über die Affekte, die Geltung der providentia dei wird offenbar.« Ebd. Vgl. Zemanek 2018, S. 37. Röcke 1997, S. 352. Ebd., S. 358. Hahnemann 2006, S. 146f. Ebd. Fichte, Hubert: Mein Freund Herodot. New York, November 1980, in: ders.: Die schwarze Stadt. Glossen, hg. v. Wolfgang von Wangenheim, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991, S. 327-367, hier: S. 329. Vgl. Bies, Michael/Košenina, Alexander: Reisen und Wissen. Einleitung, in: Zeitschrift für Germanistik XXIV, 2014, S. 7-9.

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nicht nur Speicher von Weltwissen, sondern auch von Träumen und Wünschen. Gerade als ›wahre‹ Erzählung hat der Reisebericht die Möglichkeit, Unwahres als wahr zu erzählen, er hat häufig sogar eine »Affinität zur Lüge«.91 Bei allen naheliegenden Gemeinsamkeiten wird zu prüfen sein, ob die Umzugserzählung als direkte Nachfolge des Reiseberichts zu deuten ist oder nicht. Der bisher identifizierte lange narrative Rahmen einer Entfremdungsbewegung von Natur, Umwelt und ländlichen Räumen über ihre Wiederentdeckung, lässt dann die im 20. Jahrhundert auftretenden Erzählungen von der Wiedereinbindung des Menschen in einen verlorengeglaubten Zusammenhang als letzte historische Station dieser Geschichte erscheinen.

3.5 Mensch und Natur Betraf die Kritik in der Idylle des 18. Jahrhunderts die soziopolitischen und ökonomischen Verhältnisse, war sie Medium eines zu sich kommenden Bürgertums, so wird sie aus der zeitgenössischen Perspektive des Ecocriticism zur Kritik der Mensch-NaturVerhältnisse.92 Als einer der Gründungstexte solcher Mensch/Umwelt-Narrative muss Ludwig Klages Rede Mensch und Erde gelten, die er auf dem Freideutschen Jugendtag 1913 gehalten hat. Für Klages hat [d]ie Mehrzahl der Zeitgenossen, in Großstädten zusammengesperrt und von Jugend auf gewöhnt an rauchende Schlote, Getöse des Straßenlärms und taghelle Nächte, […] keinen Maßstab mehr für die Schönheit der Landschaft, glaubt schon Natur zu sehen beim Anblick eines Kartoffelfeldes und findet auch höhere Ansprüche befriedigt, wenn in den mageren Chausseebäumen einige Stare und Spatzen zwitschern.93 Das erscheint zunächst als Aufguss der Stadt/Land-Dichotomie, die Klages aber als Verlusterfahrung formuliert und dann eine konservative Umdeutung in eine Niedergangserzählung vornimmt, durch Fortschritt und Kultur sei

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Brenner, Peter: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts, in: ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 14-49, hier: S. 14. Heller, Jakob Christoph: »Die stillen Schatten fruchtbarer Bäume«. Die Idylle als ökologisches Genre?, in: Zemanek 2018, S. 73-89, hier: S. 75. Klages, Ludwig: Mensch und Erde, in: ders.: Sämtliche Werke, Hg. von Emst Frauchinger et al., Bd. 3, Bonn: Bouvier 1974, S. 614-636, hier: S. 616.

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die heimliche Herzenswärme der Menschheit […] aufgetrunken, verschüttet der innere Born, der Liederblüten und heilige Feste nährte, und es blieb ein mürrischkalter Arbeitstag, mit dem falschen Flitter, lärmender ›Vergnügungen‹ angetan. Kein Zweifel, wir stehen im Zeitalter des Unterganges der Seele.94 Klages sieht dann in lebensphilosophischer Perspektive eine natürliche Einheit von Mensch und Natur oder Raum als Ausweg aus dem so entstehenden Missverhältnis, denn soviel steht fest, daß Gelände, Wolkenspiel, Gewässer, Pflanzenhülle und Geschäftigkeit der Tiere aus jeder Landschaft ein tieferregendes Ganze wirken, welches das Einzellebendige wie in einer Arche umfängt, es einverwebend dem großen Geschehen des Alls.95 Dieses Motiv von der Einheit von Mensch und Erde oder Mensch und Raum ist als konservative Variation der idyllischen Einheit mit der Natur zu verstehen. Die Lebensreformbewegung ähnelte, als konservative Spielart der Jugendbewegung, in ihrer zentralen Fragestellung letztlich schon einigen späteren Varianten der ökologischen Bewegung: »Wie kann der Einzelne den Herausforderungen der Moderne trotzen?«96 Die formulierten Antworten erscheinen zumeist als »Kombination aus Progression (ändere dein Leben, gestalte deine Zukunft) und Reaktion (Zurück zur Natur, zurück zum Ursprung)«.97 Dabei rückte der menschliche Körper immer mehr in den Fokus, da er aus den Anforderungen der Moderne befreit werden sollte, da sie als großer Irrtum und Entfremdung erschienen.98 Die Medienlandschaft der Lebensreformbewegung war dominiert durch populärwissenschaftliche Ratgeber, Kochbücher und Handbücher – auch darin ist eine Parallele zur Gegenwart zu sehen. Und mit den zeitnah entstehenden Landkommunen erwuchs eine Vorform der heutigen idyllischen Ländlichkeit.99 Auf dieser Entwicklung fußen ökologische oder grüne Erzählungen, in diesen werden gleichermaßen Utopie- oder Verlustszenarien entworfen. Alle Varianten sind letztlich Krisenerzählungen, da sie von einer Störung in einem natürlichen, abgeschlossenen System erzählen. Diese Möglichkeit, eine Störung zu erzählen, basiert letztlich auf der Zunahme von Wissen im Bereich der Ökologie und der 94 95 96 97 98

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Ebd., S. 623. Ebd., S. 619. Carstensen, Thorsten/Schmid, Carsten: Einleitung, in: dies. (Hg.): Die Literatur der Lebensreform: Kulturkritik und Aufbruchsstimmung um 1900, Bielefeld: transcript 2016, S. 14. Ebd., S. 13. Ebd., S. 9f. Eindeutig zuzuordnende literarische Produktionen können nur schwerlich genannt werden, vielmehr ist ein breites Feld von Themen und Motiven zu identifizieren, welches von der Lebensreformbewegung in verschiedene Literaturen übergegangen ist: Zu nennen sind Sexualität, Freie Ehe, Gesundheit, Lebensphilosophie, Religiöse Erfahrungen und Erlösungsphantasien; vgl. ebd., S. 14-16. Vgl. Baumann 2018, S. 209f.

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Entdeckung der vom Menschen gemachten ökologischen Transformationen.100 Zumeist wird in solchen ›grünen‹ Erzählungen wie bei Klages eine Neupositionierung des Menschen in einem ›gestörten‹ System verhandelt. Das hierbei erzählte Wissen zielt dabei nicht nur auf ein Aufspannen oder Vermessen des Raumes, sondern auch auf eine Änderung des menschlichen Verhaltens. In dieser Konstellation sind zwei narrative Ausformungen grüner Erzählungen wiederkehrend: die utopische, die Landschaft als veränderbaren Zustand verstehende und die dystopische, welche Veränderungen ins Positive als unmöglich beschreiben. Die Orientierung an einer (scheinbar) unüberwindbaren Aufgabe und die darauf aufbauende Entwicklungsgeschichte setzen das entstehende Narrativ auch in die Tradition heilsgeschichtlicher Erzählungen und des Bildungsromans. Daher werden auch in solchen ›grünen‹ Erzählungen häufig Charakter und Vervollkommnung eines Individuums in den Vordergrund gestellt, dem Erzählschema von Reise, Prüfung und Ziel folgend.101 Der literarische Konnex von Umweltethik und Naturästhetik wird in den letzten Jahren zudem vermehrt unter dem Schlagwort Ecocriticism untersucht, die daraus hervorgehenden, ökokritischen Lesarten konfrontieren Literaturen mit der »Frage, wie ein konventionelles Narrativ eines menschlichen Subjekts mit konventioneller Sprache und einer zwangsläufig anthropozentrischen Perspektive überhaupt ein ökozentrisches Weltbild vermitteln kann«.102 Dabei können neben offensichtlichen Gegenständen wie dem nature writing (Thoreaus Walden), der Naturlyrik, dem Reisebericht auch Bildungsromane (Adalbert Stifters Nachsommer), Science Fiction-Literatur/Ökothriller (Frank Schätzung Der Schwarm) oder Energiewende-Erzählungen in den Blick genommen werden.103 Gerade Werke wie das hier untersuchte Landle-

100 Vgl. Zemanek 2018, 10f. 101 Vgl. ebd., S. 23. Die Möglichkeit, dass das Ziel verfehlt wird, wird im nachfolgenden Desillusionsroman eingeführt. 102 Ebd., S. 22. 103 Ebd., S. 21. Insbesondere das letztgenannte Genre hat sich angesichts der Auseinandersetzungen um die Energiewende in Deutschland als produktiv erwiesen. Die Reihe geht zumindest bis Peter Härtlings Das Windrad (1983) zurück und reicht bis Nico Ljubics Ein Mensch brennt (2017), worin ein Rückblick auf die Jahre der frühen grünen Protestbewegung erzählt wird. Ingo Uhlig, dessen Vorträgen ich einige Hinweise dieser Anmerkung verdanke, hat untersucht, wie seit den 2010er Jahren in Literaturen alternative Narrative zu den Energiewende-Erzählungen der Politik entstehen. Er stellt dabei Dezentralität als wichtigstes inhaltliches wie narratives Merkmal dieses Erzählens fest, was sich u.a. in der Verortung in Provinzen ausdrückt. Zugleich zeige sich in Romanen wie Zehs Unterleuten oder Herbigs Niemand ist bei den Kälbern, dass die Gestaltung der Energiewende in ländlicher Wahrnehmung eher an neoliberale Landnahme denn ernsthafte Strukturentwicklung abgehängter Räume erinnert; vgl. Uhlig, Ingo: Raum und Figur in der aktuellen Energieliteratur, in: Frölich-Kulik, Maria/ Langner, Sigrun (Hg.): Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt, Bielefeld: transcript 2018 (Rurale Topographien), S. 275-285; Uhlig, Ingo: Energien erzählen. Zum Aufeinandertreffen von Kunst, Literatur und Energiewende, in: Marszalek,

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ben von Hilal Sezgin müssen auch unter Berücksichtigung der Frage gelesen werden, wie ein ökozentrisches Weltbild aus anthropozentrischer Perspektive vermittelt wird – bei Sezgin scheint die Antwort in Aufklärung über Natur zu liegen. Neben diesen aktuellen literarischen Realisationsformen grüner Narrative wird im Folgenden der parallel dazu laufende Diskurs um die ›Lust auf Land‹ als zweite wichtige Verhandlungsweise ländlicher Räume der Gegenwart und als letztes Element dieser literatur- und kulturhistorischen Betrachtung vorgestellt. Gerade in der Verhandlung von Gesundheit, Bewegung und der Wiederherstellung einer Einheit von Mensch und Natur/Raum ist der Konnex zur Lebensreformbewegung naheliegend.

3.6 Gegenwart: Lust auf Land Christoph Baumann hat in dieser Reihe mit seiner Untersuchung Idyllische Ländlichkeit (2018) bereits eine Kulturgeographie der Landlust und damit eine kultur- und sozialwissenschaftliche Einordnung des Phänomens bereitgestellt. Baumann zeigt, wie angesichts fortschreitender Urbanisierung die idyllische Ländlichkeit als mediale Raumordnung eine Leerstelle füllt, welche neben der politischen und landwirtschaftlichen Ordnung sowie »jenseits der siedlungsstrukturellen Grenzen von Stadt und Land«104 existiert. Idyllische Ländlichkeiten wird dabei als diskursiv produziert herausgestellt, als eine Distinktionspraxis des Bürgertums, die seit dem Beginn der Moderne Tradition hat.105 Angesichts von über vier Millionen Rezipienten der Landlust und mehreren Millionen Lesern der hier untersuchten Unterhaltungsliteratur, erscheint eine monokausale Deutung als bürgerliches Distinktionsmerkmal aber fraglich, weshalb in dieser Studie weitere Deutungen vorgeschlagen werden.

Magdalena/Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld: transcript 2018, S. 141-157. 104 Baumann 2018, S. 235; Ausprägungen idyllischer Ländlichkeit identifiziert Baumann in Architektur (urban villages, Outlet-Center oder Freizeitparks werden als Dörfer gestaltet), Mode, Einrichtung (Landhausstil und shabby chic) und eben Medien (Landlust, Romane, Bauer sucht Frau, Regionalkrimis in Buch und Film, Computerspiele wie Landwirtschafts-Simulator). Baumann bestimmt ländliche Räume letztlich als Heterotopie oder ›Anderes‹ der Gesellschaft; vgl. Baumann 2018, S. 22, 235. 105 Ebd., S. 233f. Demzufolge sind Ausprägungen idyllischer Ländlichkeit »diskursive Formationen, die vor allem auf Modi der Lebensführung ausgerichtet und somit stark praxisbezogen sind«; ebd., S. 20f. Zum Verständnis als Selbstdefinition urbaner bürgerlicher Gruppen als Form soziokultureller Differenzierung vgl. auch Kostalova, Dagmar: Stadtflucht oder Landlust. Kulturtheoretische Aspekte eines modernen Regionalismus, in: Greule, Albrecht/ Rössler, Paul (Hg.): Sprachbrücken. Aktuelle Forschungen zur deutschen Sprache und Literatur in der Slowakei, Berlin: Weidler 2015 (Studien zur deutsch-slowakischen Kulturgeschichte 5), S. 49-58, hier: S. 51−53.

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In der Forschung zum Thema ist auffällig, dass die kulturkritischen Tendenzen und Raumkonfigurationen der untersuchten Literatur fortgeschrieben werden. So sieht Dagmar Kostalova die große Relevanz von Stadtflucht und Landlust in »der immer fragwürdigeren zivilisatorischen Fortentwicklung bzw. der immer offensichtlicheren Kulturdeformation«.106 Daraus folgt die Annahme, dass diese medialen Ländlichkeiten Ausdruck eines kulturellen Bedürfnisses oder einer kulturellen Selbstverständigung von Gesellschaft sind, ›das Land‹ erscheint zumeist als »Projektionsfläche des vermeintlich Echten und Ursprünglichen«.107 Auch Angela Ohlsen sieht Stadtflucht und Landlust in einer Kontinuität von Reaktionen auf Umbruchzeiten, denn »auch die bürgerlichen Eliten gegen Ende des 19. Jahrhunderts sahen in der ländlichen Volkskultur die vermeintlich heile Welt im Gegensatz zur industriellen Moderne mit ihren Verstädterungsprozessen«.108 Doch gerade die heutige Ausgestaltung des Phänomens sei maßgeblich ästhetischer Natur, demnach würden Stimmungen, Atmosphäre oder antimaterialistische Ideen von Tradition und vergangenen Werten gegenwärtig in einer Form von einfachem Lifestyle-Format konsumiert, das seinen Ausdruck unter anderem in einer Art von neuromantischem Landhausstil findet.109 Jede Forschung zum Thema muss sich fragen lassen, ob ihre Deutungen nicht auch ihrerseits longue durée-Konstruktionen sind, Fortschreibungen der Diagnosen bürgerlicher Landlust und Sommerfrische-Bewegungen des 19. Jahrhunderts.110 Auf diese Feststellung wird in dieser Arbeit reagiert, indem eine Deutung ruraler Räume als nicht nur symbolische Spiegel urbaner Überforderung sondern als Wissensobjekte vorgeschlagen wird.

3.6.1 Magazine Namensgeber und bekanntestes Zeugnis des Diskurses sind Zeitschriften wie die schon mehrfach genannte Landlust. Bereits 2005 im Verlag von Publikationen wie top agrar – Das Magazin für moderne Landwirtschaft gegründet, um sinkende Absatzzahlen der Agrarmagazine zu kompensieren, zielte das Magazin zunächst auf die

106 Kostalova 2015, S. 58. 107 Ohlsen, Claudia: Von Landlust, Landliebe und sonntäglichen Landpartien. Landleben als Lifestyle-Phänomen der Gegenwart, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 119, 2016, S. 41-54, hier: S. 42. 108 Ohlsen 2016, S. 47. 109 Ebd., S. 43. 110 Langthaler, Ernst: Sozial- und kulturwissenschaftliche Konstruktionen des Dörflichen, in: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Dorf. Stuttgart: J.B. Metzler 2019, S. 296-303, hier: S. 296.

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Landfrauenverbände als potenzielles Publikum.111 Seit 2008 entstanden rund um die daraus entstehende Erfolgsgeschichte weitere ähnliche Magazine. Iris Radisch hat in einem der ersten Feuilleton-Artikel über das Magazin die Besonderheiten dieses Schreibens insbesondere auf sprachlicher Ebene identifiziert: Die aus der Lebenswelt der Autorinnen stammenden Inhalte klängen »sehr unprätentiös und ausgeruht, in den Ohren des Naturentwöhnten auch poetisch durch den sprachlichen Reichtum des biologisch Konkreten.«112 Das sei bspw. in der Reportage über einen friesischen »Gehölzspezialisten« und seine Beschreibungen der Stechpalme zu erkennen. Radisch macht eine spezifische Poetik aus, in der dem Natürlichen eine eigenständige Kraft eingeschrieben sei, welche die Darstellung diktiere.113 Blättert man elf Jahre später durch die März/April 2020-Ausgabe der Landlust, so gibt schon das Inhaltsverzeichnis einen Einblick in Inhalt und Anlage des Magazins: Da überwiegen zunächst Tipps zur Freizeitgestaltung wie Gartenpflege (»Gartenstart: Aussaat im Gemüsebeet«, »Neueinsteiger im Gemüsebeet?«), Kochrezepte (»Rhabarber mal süß, mal würzig«), Bastelanleitungen (»Federleichter Osterschmuck«) und Kulturtipps (»Weltkulturerbe: Rundgang in Regensburg«). Hinzu kommen Vorschläge und Fotostrecken zu Einrichtung (»Kissen im Farbwechsel«) und Handarbeit (»Kinderpullover und Luftige Schals«) sowie Reportagen zum Landleben (Besuch in der Fliesenmanufaktur, Informationen zum ›Plüschigen Gartenhuhn‹). Die zugehörigen Bilder sind von kräftigen Farben und viel Schärfentiefe geprägt, beides erscheint als Imitat des von Radisch identifizierten »Reichtum[s] des biologisch Konkreten«. Wie im Inhaltsverzeichnis zu sehen, wird der ländliche Raum häufig als Ort der Arbeit beschrieben, jedoch existieren keine Widerstände oder Abgründe. Mareike Egnolff hat herausgearbeitet, dass unter Landleben insbesondere »der Rückzug ins Private, ins Brauchtum, die Tradition, die ländliche Natur und das Gärtnern gefasst« wird, wobei die Konstruktion »auf einer Idealisierung und auf Nostalgie beruht«.114 Es gehe in den Magazinen weniger um Abbildung einer Realität denn um Individualisierung und die Suche nach gutem Leben.115 Für das Gesamtphänomen der ›Lust auf Land‹ als Lifestyle sei dabei entscheidend, dass ein tatsächlicher (temporärer) Umzug der Stadtbewohner in ländliche Umgebungen nahe ihres Wohnortes geplant oder bereits vollzogen ist. Ein weiteres Rezeptionsinteresse sei in dem Willen zur ästhetischen Gestaltung des individuellen Nahraums zu sehen.116 Hier wird der Ratgebercharakter der Pu111

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Radisch, Iris: Wie wasche ich mein Schaf? Zu Besuch in Münster bei »Landlust«, dem erfolgreichsten deutschen Lifestylemagazin, in: Die Zeit 07/2009, URL: https://www.zeit.de/2009/ 07/WOS-Landlust [Zugriff am 14.2.2020]. Ebd. Vgl. ebd. Egnolff 2015, S. 215f. Ebd. Ebd., S. 209.

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blikationen entscheidend: Landleben sei möglich und zudem schön. Doch letztlich scheine in den Zeitschriften »weniger das praktisch anwendbare Wissen im Vordergrund zu stehen als vielmehr […] kommerzielle[] Interessen«.117 Besonders auffällig ist, dass die Konstruktion idealer Ländlichkeit auch durch Auslassungen bestimmt ist: Themen wie Abwanderung, Monokulturen, Bedrohung landwirtschaftlicher Betriebe durch zu niedrige Milch- und Fleischpreise bleiben unerwähnt. Und auch das passt zu Radischs Feststellung, dass nicht mehr nur der Landfrauenbund die Magazine liest: »Die Landlust-Leser sind laut Media-Analyse anspruchsvoll, sie lesen ZEIT oder Spiegel, sie sind gut situierte ›Trendsetter‹, ›naturverbunden‹ und ›weltoffen‹.«118 Aus einer Media-Analyse aus 2014 geht hervor, dass der Leserkreis vorwiegend aus Frauen besteht, die zu großen Teilen aus Städten kommen, deren Bevölkerung häufig unter 20.000 Einwohner liegt. Jedoch wurde schon zu diesem Zeitpunkt eine Ausbreitung des Phänomens auf andere soziokulturelle Gruppen beobachtet – eine bis heute anhaltende Entwicklung.119 Die Bedeutung der ›Lust auf Land‹ als Lifestyle-Phänomen wird auch beim Blick in den Landlust-Shop ersichtlich: Hier gibt es neben alten Ausgaben der Zeitschrift auch Kochbücher, Anleitungen zum Holzwerken und Handarbeiten, Kalender und Das große Landlust-Vorlesebuch (2017), welches mit Geschichten von Michel aus Lönneberga, Pu dem Bären, dem Sams und Pippi Langstrumpf Auszüge aus dem Kinder- und Jugendliteraturkanon versammelt und dadurch mehr an der Gattung ›Vorlesebuch‹ als am Landlust-Diskurs orientiert scheint. Dieses Vorlesebuch erfüllt dabei eine spezifische Funktion im Hinblick auf Traditionsfragen: Es verweist in die Kindheit der lesenden Eltern und damit in eine idyllische Raumzeit. Ähnlich funktionieren auch die im folgenden Unterkapitel vorgestellten Anthologien, diese verweisen nicht in die individuelle Kindheit, sondern in die ›Kindheit‹ des deutschen Bürgertums und stellen Bezüge zu einem vergangenen gesellschaftlichen Zustand her. An ihnen kann beispielhaft veranschaulicht werden, wie die literarische Tradition des Schreibens über Land zur Konstruktion ländlicher Idyllen genutzt wird.

3.6.2 Anthologien Diese Anthologien erscheinen unter Titeln wie Blütenherz & Zaubergarten: Der Schriftsteller im Garten seiner Träume (2013), Pure Landlust: Literarische Träumereien vom Leben in der Natur (2015), Der Traum vom Leben auf dem Land (2016) und Landluft (2013). Das in den Titeln angelegte Versprechen idyllischer Raumbilder wird in der Umschlaggestaltung fortgesetzt, sodass die darin versammelten Texte unabhängig von ihrem ei-

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Kostalova 2015, S. 54. Radisch 2009. Vgl. Brämer, Rainer: Was es mit Landlust auf sich hat. Ein Biedermeier-Magazin als Shootingstar, in: natursoziologie.de 3, 2014, S. 1-7, hier S. 3.

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gentlichen Inhalt und Entstehungszusammenhang schon vor dem Beginn der Lektüre in dieses Schema eingeordnet und entsprechend funktionalisiert werden. Wegen solcher Funktionalisierungen stehen Anthologien schnell unter dem Verdacht der Trivialisierung ihrer Gegenstände, da diese bedarfsgerecht ausgewählt und zugeschnitten werden.120 Gerade in diesem ›bedarfsgerecht‹ liegt nun das Untersuchungsinteresse der anschließenden, vorgelagerten Analyse von zwei Anthologien. Die folgende Untersuchung ist daher weniger an der spezifischen Textauswahl oder den vorgenommenen Kürzungen denn an Tendenzen der Zusammenstellung ausgerichtet.

3.6.2.1 Der Traum vom Leben auf dem Land Die Anthologie Der Traum vom Leben auf dem Land begegnet dem Leser als handliches Buch mit einer Abbildung von Max Liebermanns Die Blumenterrasse nach Südwesten/Wannseegarten auf einem festen, leicht glänzenden Umschlag. Dieses Landleben ist schon auf den ersten Blick schön. Im Verlagstext ist die intendierte Rezeptionssituation angedeutet: ein Buch für den realen oder vorgestellten Urlaub auf dem Land, denn »[a]uch Dichter fahren in den Urlaub« und die versammelten Texte »zeugen von den Vorzügen des Landlebens und dem Reiz einer Auszeit vom Alltag.« Anstelle eines Vorworts wird Alfred Lichtensteins Gedicht Sommerfrische vorangestellt, das den Wunsch thematisiert, die Idylle der Sommerfrische zu beenden (»Friedliche Welt, du große Mausefalle,/Entkäm ich endlich dir … O hätt ich Flügel«121 ). Bei Lichtenstein wird die Schönheit eines Tages in der Sommerfrische als Last und zugleich als Grund für kulturellen Niedergang beschrieben, was letztlich den Wunsch nach ihrem Ende hervorruft: »Wär doch ein Sturm … der müßt den schönen blauen/ewigen Himmel tausendfach zerfetzen.« (9) Die durch den Umschlag geweckte Erwartung reiner Idyllen wird hier gebrochen, was als Komplexitätsbehauptung und Versprechen dafür zu deuten ist, dass in der folgenden Zusammenstellung ländliche Räume zwischen Schönheit und Herausforderung aufgespannt werden. In den ausgewählten Texten sind, dieser vermittelten Erwartungshaltung folgend, unterschiedliche Landbilder enthalten. Kurt Tucholsky schildert bspw. in seiner ironischen Anleitung Die Kunst, falsch zu reisen den Weg in den Familienurlaub als Stress, unterläuft damit romantische Reise-Bilder, um am Ende den Text neu zu beginnen und wirklich Rat zu geben: »Entspanne Dich. Laß das Steuer los. Trudele 120 Vgl. Häntzschel, Günter: Anthologie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, hg. von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller, 3., neubearb. Aufl., Berlin/New York: de Gruyter 1997, S. 98-100. 121 Lichtenstein, Alfred: Sommerfrische, in: Neundorfer, German (Hg.): Der Traum vom Leben auf dem Land, Fischer: Frankfurt a.M. 2016 (Fischer TaschenBibliothek), S. 9. Seitenzahlen der Zitate aus diesem Buch werden wie in den nachfolgenden Analysen auch in diesem Kapitel direkt im Fließtext angegeben.

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durch die Welt. Sie ist so schön: gib dich ihr hin, und sie wird sich dir geben.« (18) Hier erfolgt die Belehrung aus einem doppelten Bruch mit der Erwartung: Reisen wird zunächst durch die erschreckende Schilderung vom Ballast der Idylle befreit, um letztlich mit aus dieser Erkenntnis gewonnener neuer Leichtigkeit wieder zur schönen Erfahrung zu werden. Auch Julius Stettenheim gebraucht in seinem Text Der Moderne Knigge das Mittel der Ironie: »Findet man, daß die Wirtsleute grob sind, so sei man selbst höflich, damit sich die eigene Bildung hier um so schärfer von dem dunklen Hintergrund abhebe. In anderer Weise ist kein Nutzen aus der Grobheit der Wirtsleute zu ziehen.« (25) Das ist Aufklärung über die Distinktionspraxen bürgerlicher Reisekultur, welche Stadt und Land zur Aufrechterhaltung des Selbstverständnisses trennt. Damit wird letztlich auf die gesamte Tradition der Land- und Reiseliteratur rekurriert, in der häufig erst ein Unterschied zwischen Landbewohnern und reisenden Städtern produziert wird. Eine ähnliche Bewegung vollzieht Lew Tolstoi, bei dem es über die Figur Sergei Iwanowitsch aus Anna Karenina heißt: Gerade wie er das Landleben liebte und pries im Gegensatz zu einem Leben, das er nicht liebte, genau ebenso liebte er auch das Landvolk im Gegensatze zu einer Menschenklasse, die er nicht liebte, und ebenso sah er das Landvolk als etwas der Menschheit im allgemeinen Gegenüberstehendes an. (80) An diesen Beispielen ist zu erkennen, wie Schreiben über Land immer schon zwischen Darstellung des ländlichen Raums, Anthropologie, Gesellschaftsbild und poetologischen Beobachtungen changiert. In Thomas Manns Gespräche in Pfeiffering wird die traditionelle Bestimmung des Künstlers als urbanes Wesen reflektiert, weil die Wesensart der Künstler eher den Bauern entspräche (vgl. 73f.). Und auch Karl Philipp Moritz wird das Land in Von der poetischen Kraft des Landes zum Ort der Poesie (vgl. 85f.). In der Zusammenstellung erscheint der rurale Raum letztlich als guter Ort für Literatur. Peter Altenberg entwirft ihn als magischen Ort, denn die Sommerfrische sei immer schon Ort und Zeit exzeptioneller Ereignisse, von denen man nicht unverändert zurückkehren kann: »Wehe denen, die ganz unverändert bleiben. Irgend etwas stockt in ihnen, das die guten Kräfte der Natur selbst nicht besiegen können.« (301) Auf dem Land geschehe etwas Unsagbares, das letztlich nur in Literatur zu finden sei: Manches ist geschehen in den Sommertagen, in den Sommernächten, was man von den süßen Antlitzen nicht ablesen kann. Von merkwürdigen exzeptionellen Erlebnissen, von paradiesischen fernen Orten kehren die Menschen zurück in die Pflicht des Lebens, in die alte unbequeme Ordnung, über alles Erlebte geheimnisvoll schweigend. Nur Dichter und Künstler sind indiskret. Sie erheben alles in eine höhere Rangordnung, in allgemein Wertvolles, indem sie Leid und Freud verkünden! (302)

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Die ländlichen Räume der Anthologie sind allesamt gegenüber städtischen Räumen abgeschlossen. Der Versuch, den im ländlichen Raum gewonnen Erfahrungsschatz in Erzählungen für die städtische Gesellschaft zu transformieren, scheint immer zu scheitern: entweder an mitgebrachten Bildern, an nicht ausdrückbaren Empfindungen oder an dem im Zitat formulierten Versuch, das Erlebte »in eine höhere Rangordnung« zu erheben. Das also, was in Literatur über Land behauptet wird, sei nicht immer wahr im Sinne einer Abbildung, könne aber ein für ländliche Räume spezifisch Gefühl vermitteln. Eigentlich aber ist diese Erfahrung von jedem selbst zu machen, weil sie viel zu reich ist für eine nachträgliche Vermittlung, so zumindest wird es von Textsammlungen dieser Art behauptet. Auffällig ist, dass durch diese Anthologie nicht nur idyllische Landbilder reproduziert werden, sondern auch Texte integriert sind, welche die traditionellen epistemischen und poetologischen Momente im Schreiben über Land betonen. Erst dieser Zusammenstellung von idyllischer Erwartung, realistischer Brechung und Anleitung wird die Potenz beigemessen, eine literarische ›Indiskretion‹ zu leisten und einen echten Blick auf den eigentlich verschlossenen ruralen Raum zu ermöglichen. Die Anthologie geht damit in der Selbstbehauptung über die rein idyllisierenden Darstellungen der Landlust-Magazine hinaus, indem sie das darin enthaltene Raumbild idyllischer Ländlichkeit um Wissen über historische Ländlichkeit und über literarische Verhandlungen von Ländlichkeit erweitert.

3.6.2.2 Landluft. Geschichten vom besseren Leben Die Anthologie Landluft. Geschichten vom besseren Leben folgt einem ähnlichen Ansatz. Bis auf ein Inhaltsverzeichnis und einen kurzen Verlagstext auf der Rückseite wird gänzlich auf eine Einordnung der gesammelten Texte verzichtet. Die Auswahl reicht von Theodor Storm, Emile Zola, Theodor Fontane, Lew Tolstoi, Ludwig Tieck, Guy de Maupassant, Rainer Maria Rilke über Wulf Kirsten, Ernst Strittmatter, Johannes Bobrowski bis Hanns-Josef Ortheil. Durch die Ausweitung der Textauswahl auf Bobrowski und Kirsten wird das Panorama gegenüber der vorher betrachteten Anthologie deutlich erweitert. Steckt im Fehlen von Herausgebervorwort oder -nachwort noch eine gewisse Behauptung über die Natürlichkeit der Zusammenstellung, ist das konstruierende Moment der Anthologie in der Buchgestaltung nicht mehr zu übersehen: Der Hardcover-Einband ist mit einem Blumenaquarell von PierreJoseph Redouté illustriert, weitere Aquarelle finden sich vor jedem einzelnen Text. Auch die Seitenzahlen sind in kleine Pflanzenzeichnungen eingebettet. Ganz unabhängig vom Inhalt der einzelnen Texte scheint es auch in dieser Anthologie nicht um eine Wiedergabe der Tradition des Schreibens über Land zu gehen, die Gestaltung verspricht vielmehr einen Weg in die – idyllische – Natur. Expliziert wird das im Verlagstext auf dem hinteren Buchdeckel:

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Leiden wir nicht oft unter der Stadt, auch wenn wir die vielen Bequemlichkeiten und Möglichkeiten dort lieben? Wünschen wir uns dann nicht hinaus in die Natur? […] Viele große Schriftsteller aus alter und neuer Zeit teilen unsere Sehnsucht nach der Einfachheit und Ruhe außerhalb der Städte[.] Um dann noch expliziter zu versprechen, das Buch beinhalte »[w]underbare Geschichten über die Freuden des Landlebens, die auch auf uns warten. Und sei es nur am Wochenende oder im Urlaub.« Auch hier wird also die angenommene Rezeptionssituation verdeutlicht, was zugleich die Auswahl der Texte rechtfertigt: Es geht um Zerstreuung durch literarische Bilder vom guten Leben auf dem Land. Damit wird eine Engführung der literarischen Tradition auf idyllisches Schreiben begründet und mit der konkreten Einladung verbunden, den Weg in die Natur nachzuvollziehen. Den Texten und ihrer Zusammenstellung wird eine persuasive Funktion beigemessen. Wie in Der Traum vom Leben auf dem Land wird der Literatur eine besondere Ausdrucksfähigkeit über die ästhetischen und emotionalen Besonderheiten des Lebens auf dem Land zugeschrieben. Die Engführung kommt insbesondere in der Auswahl der Genre zum Ausdruck: Kindheitsgeschichten (Storm), Liebesgeschichten (Zola), longue durée-Erzählungen (Welk) oder Geschichten von ›authentischen‹ oder magischen Figuren (Auerbach, Maupassant). In der Auswahl dominieren Texte, in denen der Ort durch Darstellung von Wissen fassbar wird. Ehm Welk schreibt in Mein Land über »Heimatgeschichte, Naturheilkunde und Zeitbetrachtung, die keine Universität ersetzen kann, denn alles, was im Leben des Landes geschah oder geschehen war, wurde hier vom Standpunkte des armen redlichen Mannes gesehen«.122 Ähnlich bei Iwan Turgenjew, der in Aufzeichnungen eines Jägers deren Geheimwissen beschreibt: »Wer außer dem Jäger hat erfahren, was für eine Freude es ist, im Morgenrot durch die Büsche zu streifen?« (21) Der Fremde hingegen sei gar nicht in der Lage, die Besonderheiten ländlicher Räume zu erfassen, denn er »mochte den Übergang kaum wahrnehmen« (172). In Fontanes Kienbaum dient die Erkundung von Geographie und Geschichte des Ortes dazu, den »Zauber eines ›Dorfes in der Heide‹« (31) zu entschlüsseln und dem Leser zu erklären (vgl. 29-36). Auch in dieser Auswahl sind ländliche Räume geschlossene, denen eine Lebensart zu eigen ist und in denen ein spezifisches Wissen zu entdecken ist, deren Besonderheiten zugleich Auszeichnung ist wie ihre Kenntnis zur Zugangsberechtigung wird. Die Anthologie selbst wird gewissermaßen zum Schlüssel.

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Welk, Ehm: Mein Land, in: Juhnke, Marlies/Drews, Gabriele (Hg.): Landluft. Geschichten vom guten Leben auf dem Land, Leipzig: Aufbau Verlag 2013, S. 168. Seitenzahlen der Zitate aus diesem Buch werden wie in den nachfolgenden Analysen auch in diesem Kapitel direkt im Fließtext angegeben.

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Gang aufs Land

3.7 Rückblick I: Ländliche Räume als Wissensobjekte Dorfgeschichte und Dorfgedächtnis […] repräsentieren nicht den ›objektiven‹ und ›subjektiven‹ Teil eines epistemologischen Gegensatzpaares, sondern zwei Spielarten der Fabrikation historischen Wissens […]. In beiden Feldern fabrizieren herrschende Diskurse und diese in Erzählungen übersetzende Akteure im Zuge des doing memory hybride Wissensformen, die ›objektive‹ und ›subjektive‹ Momente verschmelzen. Kurz, um das Dorf zu finden, muss man es erfinden.123 In diesem Versuch einer Geschichte über die Bedeutung von Macht und Wissen im Schreiben über Land wurden die literarischen Texte traditionsgemäß als »Ausdruck einer Verfügungsgewalt«124 herausgestellt, die neben Bildern von Ländlichkeit immer auch den sie produzierenden Blick beinhalten. Dabei wurde die Bedeutung der erzählten Erfahrungs- und Erkenntnismoment besonders in den Blick genommen. Dabei wurde deutlich, wie die Geschichte des Schreibens über Land als Entfremdungsgeschichte geschrieben werden kann, in der die literarischen Ländlichkeiten durch eine stetig variierende Interesselage bedingt sind. In diesem Verständnis ist Literatur in mehrfacher Hinsicht wichtig für die Bestimmung des ländlichen Raums: Sie wird 1. zu einem Element der Definition des Ländlichen, 2. zu einer Konservierungsform gesellschaftlicher Raumbilder und 3. zu einem Spiegel, da in Abgrenzung zu den Bildern des Ländlichen auch Stadtbilder gezeichnet werden. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Verbindung solcher Pole und Grenzen traditionell in Entdeckungsnarrativen erzählt wurden, in denen unterhaltende und epistemische Dimensionen zusammenfallen. Aus dieser Verhältnisbestimmung geht hervor, dass Erzählen über Land häufig in Erzählungen über Raumgrenzen mündet, in denen ländliche Räume in einem Feld zwischen locus amoenus und locus horribilis, vergangenem und utopischem Ort oder Selbst- und Fremdbeschreibung aufgespannt werden. Gerade durch diese Polstruktur müssen die Figuren im Ländlichen bzw. ihr Verhalten Differenzkriterien erfüllen, um eben als ländlich gekennzeichnet zu werden – das kann bspw. durch die Einnahme ›typisch ländlicher‹ Positionen wie der des Schäfers in der Bukolik, des ›Dorftrottels‹ in der Dorfgeschichte oder des allen ländlichen Herausforderungen trotzenden Helden in Variationen der Robinsonade geschehen. In diesen Positionierungen kommen unterschiedliche Verhältnisse zu ländlichen Räumen zum Ausdruck, die sich jedoch in der Behauptung von Fremdheit oder Neuheit gleichen. Daher kann eine

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Langthaler, Ernst: Das Dorf (er-)finden. Wissensfabrikation zwischen Geschichte und Gedächtnis, in: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.), Imaginäre Dörfer, Bielefeld: transcript 2014, S. 53-80, hier S. 73. 124 Köstlin 1998, S. 303f; Ohlsen 2016, S. 42.

Geschichte(n) literarischer Ländlichkeit

Geschichte des Schreibens über Land als Geschichte nicht nur ästhetischer, sondern auch epistemischer und kultureller Ordnungen gelesen werden. Zugleich fällt die zeit- und sozialgeschichtliche Bedingtheit der unterschiedlichen Texte auf, beispielhaft wurde das daran gezeigt, dass erst das Leiden an der Stadt die Bukolik von der früheren Landlebendichtung abgehoben und ihr zu Dauer verholfen hat. Erst im Wechselspiel mit solchen diskursiven und narrativen Vorbedingungen konnte der rurale Raum zugleich zu einem Wunsch- und Wissensobjekt werden, für dessen Entstehen ein Erzählen über Grenzen notwendig wurde. Damit ist die Ausgangssituation umrissen, in welcher die nun untersuchten Texte entstehen. Die in den folgenden Analysen untersuchten Umzugserzählungen erscheinen vor diesem Hintergrund als logischer Kulminationspunkt der hier skizzierten, literarischen Entwicklung und der gegenwärtigen sozialen und demographischen Situation. Dem umrissenen Verständnis von Literatur über Land als Ausdruck einer (urbanen) Wissensordnung folgend, wird in den folgenden Analysen nun eine Deutung entwickelt, die darüber hinausgeht, den ländlichen Raum nur als Spiegel der Stadt und das Ländliche nur noch als symbolisches Residualprodukt zu fokussieren. In den folgenden Analysekapiteln wird im Detail untersucht, wie der Gang aufs Land bisher in Umzugsgeschichten der Gegenwartsliteratur erzählt wurde. Dabei wird gezeigt, wie ›der ländliche Raum‹ in den einzelnen Texten zu einem je unterschiedlich semantisierten Ort wird und dass gerade durch Wissensproduktionen zugängliche oder widerständige Räume entstehen.

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II Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

Vorbemerkungen

Wie bereits am Beginn der Untersuchung angezeigt wurde, sind in der ersten Untersuchungsgruppe insbesondere Texte der Sach- und Unterhaltungsliteratur versammelt, in denen einzelne Autoren von ihren Erfahrungen mit Umzug und Landleben berichten. Das diese Texte verbindende Element ist, dass der Umzug in allen als Erfolg erzählt und von einem Versprechen der Entdeckung ›wahrer‹ Ländlichkeit begleitet wird, sodass sie trotz aller Unterschiede in der Erzählstruktur und Raumkonfiguration hier zusammengestellt werden. Erst in der zweiten Untersuchungsgruppe werden diese Versprechen von Erfolg und Wahrheit als fragwürdig apostrophiert, wenn die Umziehenden aus den Texten der ersten Gruppe zu stereotypen Figuren werden und am Gang aufs Land scheitern. Wie zu zeigen sein wird, stehen gerade die Texte dieser nun folgenden ersten Gruppe dem Diskurs der ›Lust auf Land‹ häufig sehr nahe, was immer wieder zu Überzeichnung und übermäßiger Ästhetisierung der Räume führt. Im folgenden ersten Kernstück dieser Untersuchung sind also Analysen zu Dieter Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht, Hilal Sezgins Landleben. Von einer, die raus zog, Irmgard Hochreithers Schöner Mist. Mein Leben als Landei, Martin Reicherts Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz und Axel Brüggemanns Landfrust versammelt. Diese Auswahl autobiographischer Erfahrungsberichte wird durch die exemplarische Analyse von Brigitte Jansons Roman Winterapfelgarten erweitert, welcher den Büchern in Verlauf und Motiven ähnelt.

1. Dieter Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Dieter Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht aus dem Jahr 2009 ist als genrebildender Anfang zu verstehen. Moor beschreibt darin, wie er 2003 mit seiner Ehefrau aus der Schweiz in das brandenburgische Hirschfelde (Werneuchen) gezogen ist. Über einen erzählten Zeitraum von ca. zwei Jahren hinweg wird Moors Umziehen und Ankommen in dem Dorf bzw. der Dorfgemeinschaft episodenhaft geschildert. Die Form changiert zwischen Autobiographie, Sachbuch und Roman, im Verlagsprogramm wird das Buch geführt unter den Kategorien Belletristik, Regionalroman, Erzählungen und Humor, in der Spiegel-Bestsellerliste lief es in unter der Kategorie Sachbuch und belegte dort über mehrere Wochen den ersten Platz.1 Die Auswirkungen dieser Mittellage auf die entstehenden literarischen Räume und das vermittelte Wissen sind einer der Kernpunkte der vorliegenden Arbeit und der folgenden Analyse, sie resultiert bspw. in der Transformation Hirschfeldes in das fiktive Dorf Amerika. Schon durch diese Benennung wird der Umzug nach Brandenburg mit einer Expedition ins Ungewisse gleichgesetzt, Moor ist Kolumbus und die Brandenburger sind amerikanische Ureinwohner, ein ›wildes‹ Volk. Brandenburg wird zur neuen Welt, das hierüber vermittelte Wissen ist in einem Abenteuer erworben und damit besonders wahr, weil einzigartig. Schon daran ist beispielhaft zu erkennen, wie der Umzug in Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht selten einfach als Umzug erzählt wird. In der folgenden Analyse werden nun unterschiedliche Strukturmerkmale dieses Erzählens sowie Inhalts- und Wissenselemente analysiert.

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Vgl. Verlagsseite zu Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht, URL: https://www.rowohlt.de/tasc henbuch/dieter-moor-was-wir-nicht-haben-brauchen-sie-nicht.html [Zugriff am 5.3.2017].

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

1.1 Von außen nach innen Schon vor dem eigentlichen Aufschlagen des Buches wird Moors Umzug durch Paratexte wie Untertitel, Umschlagsgestaltung und Verlagstext als Erfolgs- und Abenteuergeschichte markiert.2 Der Untertitel verspricht Geschichten aus der arschlochfreien Zone und so wird von vornherein der Eindruck erweckt, dass da jemand aus der ›edlen Fremde‹ berichtet. Das Umschlagsbild ist von aus Wolken hervorbrechenden Sonnenstrahlen hinterlegt, im Vordergrund ein Foto von Moor, ein Lamm auf den Armen haltend und in die Ferne hinter den Photographen blickend. Die Umzugswird zur Heilsgeschichte und steht, gewollt oder ungewollt, in der Tradition der Schäferdichtung. Im auf der Rückseite des Einbands abgedruckten Verlagstext wird der Umzug als Novum in einer urbanen Gesellschaft herausgestellt, denn »Freunde und Bekannte sind fassungslos, als Dieter Moor und seine Frau Sonja eröffnen, […] nach Brandenburg zu ziehen.« Die räumliche Fremde ist gleichzeitig auch eine soziale, der Weg dorthin eine Heldengeschichte, da er durch »allerlei ungeahnte Herausforderungen, komische Missgeschicke und skurrile Situationen« erschwert wird. So wird schon vor Beginn des Lesens der Bericht zur Abenteuergeschichte und sichergestellt, dass der Umzug, im Sinne Lotmans, ein Ereignis ist: Das Überschreiten einer unüberschreitbaren, weil kulturell verfestigten Grenze. Der Erfolg dieser Unternehmung wird im vorderen Klappentext versichert, in dem Moors Wirken als Demeter-Bauer in Brandenburg vorgestellt wird. Diese Texte stehen beispielhaft für Paratexte von Sachbüchern, in welchen in der Regel »implizit und explizit die Glaubwürdigkeit von Autor und Text behauptet«3 wird. Die paratextuell etablierten Entdeckungs-, Helden- und Heilsgeschichten finden im Haupttext ihre Entsprechung als wiederkehrende Erzählung vom Aufeinandertreffen von ›falschen‹ Erwartungen an das Landleben und ländlicher Realität. Das steckt auch in der Stilisierung des Buches als »Liebeserklärung an eine verkannte Region«, wie es im Verlagstext heißt. Die Konfiguration als »verkannte« Region beinhaltet nicht nur die Notwendigkeit von Aufklärung über die Region, sondern auch über die Fehler der urbanen Raumbilder und Wissensordnungen. Durch diese Konstruktion fallen von Beginn an räumliche, soziale und epistemische Grenzen und damit auch narratives und epistemisches Programm des Textes zusammen. Das ist auch daran zu erkennen, dass die im Umzug angelegte Grenzüberschreitung als Abbau von Erwartungen über den ländlichen Raum erzählt wird – möglich gemacht durch echte Erfahrung aus erster Hand. Dieser im Klappentext angelegte und

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Als Paratexte eines Textes werden nach Gérard Genette Bündel aus »verbale[n] oder nichtverbale[n] Produktionen wie einem Autorennamen, einem Titel einem Vorwort und Illustrationen verstanden«; Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M./New York: Campus 1989, S. 9. Porombka 2013, S. 156.

Moor – Was wir nicht haben

im Basistext ständig wiederholte Abgleich gesellschaftlicher Raumbilder und individueller Erfahrung macht die elementare Autorisierungsstrategie dieses Erzählens aus. In dieser Autorisierung verbirgt sich zudem die erste von mehreren Regeln des Umzugs in den ländlichen Raum/aufs Land: Die Behauptung, dass ein erfolgreicher Umzug nur durch wahre Kenntnis des Zielorts möglich ist, wahr wird sie durch subjektive Anschauung, denn gesellschaftlich ist dieser Raum »verkannt«. Raum, Bewegung und Wissen sind schon vor Aufschlagen des Buches untrennbar miteinander verbunden und diese Verbindung wird mit Beginn des Textes fortgesetzt. Das Vorwort wurde 2009, also sechs Jahre nach dem eigentlichen Umzug, verfasst. Hier verspricht Moor mit der Autorität des nun erfahrenen Landbewohners, davon zu erzählen, »wie es ist, […] in den Weiten Brandenburgs anzukommen, sie zu erspüren und Wurzeln zu schlagen.«4 Diese besondere Betonung, dass der Umzug schon lange Zeit abgeschlossen sei, erhebt ihn zum Experten, der das Ereignis nicht nur räumlich (»in den Weiten Brandenburgs anzukommen«), sondern auch emotional (»sie zu erspüren und Wurzeln zu schlagen«) ganzheitlich erfassen kann. Diese Betonung von Gefühl und Naturmetaphorik reiht den Text bereits vorab in die Tradition idyllischer und romantischer Naturbilder. Als Ausgangspunkt und NegativBild dient Moor dafür – anders als die üblicherweise gegenpol-bildende Großstadt – die als beengt empfundene Schweiz, was im weiteren Verlauf der Erzählung als wiederkehrende Basisopposition Enge (Schweiz) versus Weite (Brandenburg) verstetigt wird. Die so in den Paratexten etablierte Behauptung von Fremdheit, Abenteuer und Erfolg führt zur Schärfung des »Grenzbewusstseins« indem eine »Übergangszone«5 zwischen dem Innen und Außen des Textes gebildet wird. In dieser Übergangszone fallen Auszug und Ankommen, Stadt und Land zeitlich und epistemisch in eins. Die Erzählposition des Vorworts wird mit Textbeginn zugunsten einer Position ohne ländliche Meriten aufgegeben: Der Erzähler ist auf die Zeit vor dem Umzug zurückgeworfen, von nun an ist er dem Leser in Erfahrung und Position gleichgestellt. So wird eine inszenierte Unwissenheit geschaffen, die der Leserschaft simultanes Miterleben und -lernen gestattet, zugleich den Erzähl- und Spannungsbogen aufbaut, dabei den paratextuell etablierten Wissensvorsprung aber nie ganz aufgibt. Diese narrative Situation passt in das für Ratgeber übliche Erzählmuster eines ›Selbstversuchs‹, es »simuliert eine Unmittelbarkeit und Authentizität, die die Glaubwürdigkeit verstärken soll«.6 Der narrative Rahmen präsentiert Wissen auf eine scheinbar nachvollziehbare, unmittelbare und authentische Weise, »[d]er per se

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Moor, Dieter: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht, 16 Reinbek: Rowohlt 2011, S. 6. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle WB im Fließtext nachgewiesen. Wirth, Uwe: Paratext und Text als Übergangszone, in: Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 167−177, hier: S. 167. Türke 2018, S. 387.

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normative Gestus eines Ratgebers wird allerdings lediglich verdeckt.«7 Die im Paratext vorgegebene und nun mitlaufende Legitimation (erfolgreiches Angekommensein) begleitet den Leseprozess von Beginn an und schafft diesen verdeckten normativen Gestus für alle folgenden Entscheidungen, Raumbilder und alles erzählte Wissen. Das so konstruierte narrative Muster vom Selbstversuch gleicht dem einer ›best practice‹-Übung bzw. eines Erfolgsrezepts. Zugleich ist damit der Verlauf der Handlung teleologisch vorbestimmt: am Ende steht der erfolgreiche Abschluss des Umzugs. Die inszenierte Unwissenheit des Anfangs bleibt bis zum Schluss maßgeblich für den Handlungs- und Entwicklungsverlauf, denn erst dadurch wird der Prozess des Wissenserwerbs zum zentralen Element und narrative Strategie. Das Autoritätsargument der Sach- und Ratgeberliteratur wird um die andauernde Selbstinszenierung der Erzähler als scheiternde und lernende Figuren erweitert.8 Moor nutzt diese Vorgehensweise wiederholt u.a. wenn er die Grenze zwischen beiden Erzählzeitpunkten verschwimmen lässt: Natürlich kann ich in diesem Zeit-Raum-Kontinuum, im Sommer vor sechs Jahren, in meinem Jeep, diesem winzigen weißen Pünktchen auf der Landkarte nicht ahnen, wie unglaublich reich uns Amerika mit Erlebnissen beschenken würde. […] Nein, all das ahne ich jetzt noch nicht, eingepfercht, allein in meinem mobilen Blech, das mich in die verkehrte Richtung bewegt. Zurück ins Alte statt vorwärts ins Neue. (WB, 97f) Die hier präsentierten Paratexte erfüllen prototypisch ihre von Genette identifizierte Funktion, den Text zu einer Einheit zu machen und zugleich ein »Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes«9 zu sein. Die bessere Rezeption meint in diesem Fall, dass schon bei Beginn des Textes für Autor bzw. Erzähler eine bestimmte Position etabliert ist, die ihn als erfahrenen Träger von Wissen über Land legitimiert. Im folgenden Blick auf Inhalt und Struktur des Textes ist die Bedeutung dieser paratextuell etablierten Erzählsituation mitzudenken.

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Ebd. Zur Bedeutung des Autoritätsarguments in der Ratgeberliteratur vgl. u.a. die Ausführungen von Klein/Martínez zur Bedeutung von Kompetenz/Bildung und Lebenserfahrung für das Autoritätsargument bei Knigge: Klein, Christian/Martínez, Matías: Herausforderungen meistern, Krisen überwinden. Über Ratgeberliteratur aus narratologischer Sicht, in: Non Fiktion 1, 2012, S. 57-69, hier: S. 60f. Genette 1989, S. 10.

Moor – Was wir nicht haben

1.2 Inhalt und Struktur Innerhalb der erläuterten Rahmung wird in der eigentlichen Diegese das Ankommen im Präsens erzählt. Diese Erzählung beginnt ungefähr 2003, als Moor selbst ins brandenburgische Hirschfelde (Werneuchen) am nordöstlichen Stadtrand von Berlin gezogen ist. Wie am Ende des vorhergehenden Abschnittes herausgearbeitet wurde, wird die im Vorwort etablierte Rahmenerzählung in unregelmäßigen Abständen für kommentierende Einschübe genutzt. Das ermöglicht nicht nur ein Erzählen von zwei Zeitpunkten aus, sondern gestattet auch eine Verbindung von dichter Beschreibung mit distanzierter Reflexion des Umzugsgeschehens. Die häufigen Vorausverweise sind Erfahrungen, die dem aus 2003 berichtenden Protagonisten noch bevorstehen, der im Vorwort etablierte Moor 2009 aber bereits erworben hat. Die Grenze zwischen beiden Erzählern und Zeiten wird durch Kommentare oder Wertungen wiederholt durchlässig gemacht, sodass die Rahmenerzählung des Vorworts in die Diegese hineinreicht: Der Erzähler der Diegese verweist auf einen in der Zukunft (der Metadiegese) liegenden Zeitpunkt, von welchem aus ein Rückblick auf das aktuelle Geschehen erfolgt. Ein Beispiel dafür ist die folgende Textstelle: »Wenn Sonja mir jetzt prophezeite, dass ich eines Tages selber über die Dorfstraße wanken würde, […] ich würde sie für verrückt halten …« (WB, 43). Das stellt zunächst den Erfolg der Unternehmung aus, zugleich wird damit die Gestaltung des Umzugsgeschehens als Transformationserzählung hervorgehoben: Zwar weiß der metadiegetische Erzähler Dieter Moor schon von Beginn an, dass sein Ankommen eine Erfolgsgeschichte sein wird, der gleichnamige Protagonist und Erzähler der Diegese darf das aber im Sinne der Transformationserzählung des Erlebnisberichts noch nicht wissen.10 Diese Transformation betrifft zum einen die Umdeutung des ländlichen Raumes, zum anderen die Entwicklung des Erzählers. In dieser Deutung handelt es sich um eine Geschichte davon, wie der Autor durch den Umzug und die Besonderheiten des Raumes der wurde, der er im Vorwort bereits ist. Durch diese Dopplung von Zeit und Stimme wird mit der für autobiographische Texte typischen Identität von Autor, Protagonist und Erzähler gespielt.11 Dieses Spiel gleicht der vom Reisbericht geerbten »Affinität zur Lüge«12 , die durch einen ironischen Kommentar am Beginn markiert wird (»Ähnlichkeiten zwischen mir und dem Erzähler in diesem Buch sind beabsichtigt.« (WB, 7)), sodass von Beginn an ein Spiel von Wahrheit und Erfindung etabliert ist. Gerade das Authentizitätsversprechen der Sachliteratur macht die Funktion der Erzählung möglich, die Lesen-

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Zu dieser Besonderheit des Erlebnisberichts vgl. Kauppert 2010, S. 116. Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung, München: Fink 2010, S. 264. Brenner, Peter.: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform, in: ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 14−49, hier: S. 14.

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den zum vermeintlich unmittelbaren Nachvollzug einzuladen, und so wird bereits im Vorwort durch direkte Leseransprache eine für das Sachbuch typische Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser vorbereitet (»Falls Sie, liebe Lesenden« (WB, 5)). Auffällig ist, dass die homo- und autodiegetische Erzählposition zwar für die von Genette gestellte Frage Wer spricht? durchgehalten wird, in der Kategorie Wer sieht? das Wissen des Erzählers der Diegese durch die Kommentare und Einschübe des Erzählers der Rahmenerzählung jedoch teilweise über das mögliche Wissen hinausgeht. Die Fokalisierung weicht von der internen ab, um das Programm eines umfassenden Bildes vom Ankommen im Ländlichen und von der ihm eigenen Wahrheit aufrecht zu erhalten. Neben dieser Ordnung des Erzählten durch Zeit und Erzähler sind weitere Strukturmerkmale des Erzählens für die Produktion von Wissen und Raum entscheidend. Der 299-seitige Text ist in 45 Kapitel eingeteilt, welche je eine Episode der Umzugserzählung, eine Geschichte über das Dorf oder Beobachtungen zu einer Eigenheit des Landlebens beinhalten. Die Kapitelüberschriften geben einen Überblick über den jeweils im Kapitel zu erwartenden Inhalt, seien dies Phasen des Umzugs (»Gelandet« (WB, 108)), Motive (»Gartenzauber« (WB, 128), »Freie Aussicht« (WB, 140)) oder einzelne Wissensobjekte (»Federvieh« (WB, 89)). Andere Überschriften kündigen die im jeweiligen Kapitel vorgestellten Figuren an (»Bauer Müsebeck« (WB, 55), »Teddy« (WB, 162), »Schwester Alma« (WB, 181)). Diese Form folgt einem enzyklopädischen Prinzip und lässt durch die große Zahl der Kapitel und ihre breit gefächerten Inhalte den Eindruck kompletter Bestimmtheit des Wissensobjekts ländlicher Raum entstehen. Entgegen der alphabetischen Ordnung einer Enzyklopädie folgt die Darstellung der Chronologie des Umzugsgeschehens. Durch dieses Verlaufsmodell wird Kohärenz zwischen den sonst willkürlich erscheinenden Inhalten hergestellt, die so als notwendige Episoden in die Umzugserzählung eingebunden werden können. Der Eindruck wird durch weitere Überschriften verstärkt, die eine Verlaufsgeschichte des Umzugs erzählen, von »Blindkauf« (WB, 10) über »Land in Sicht« (WB, 82) hin zu »Gelandet« (WB, 108) und »Landeroberung« (WB, 232). So werden auch die Episoden »Gartenzauber« (WB, 128), »Freie Aussicht« (WB, 140) und »Federvieh« (WB, 89) als gleichberechtigte Elemente des Verlaufs eingereiht. Daran ist die integrative Kraft der untersuchten Umzugserzählungen beispielhaft zu erkennen. Auf diese Weise entsteht eine erzählerische Komposition, welche die prototypische Verlaufsgeschichte eines Umzugs aufs Land mit einem Panoptikum und enzyklopädischem Anspruch über Landleben verbindet. Schon durch diese Struktur wird das Ankommen im ländlichen Raum mit Wissen gleichgesetzt, der Erkenntnisprozess und der räumliche Umzug werden in ihrer Bedeutung nebeneinandergestellt. Diese scheinbare Dopplung der Erzählung macht ihre eingehendere Untersuchung notwendig. Die in Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht zentrale Umzugsgeschichte folgt zwei Handlungsschemata. Zunächst dem Handlungsschema der Komödie, das ein

Moor – Was wir nicht haben

vorübergehendes Scheitern der Figuren an der Gesellschaft vorsieht, worauf eine Versöhnung mit der Gesellschaft folgt, aus der beide, Individuum wie Gesellschaft, verbessert hervorgehen.13 Dieses Handlungsschema ist an der wiederholt erzählten Überwindung von Problemen und der Erzählung von Moors Veränderung bzw. Weiterentwicklung zu erkennen. Diese Momente sind für die Handlungsstruktur der Erzählung maßgeblich, da diese Transformationserzählung über Moor und dessen Deutungen des Ländlichen zwar Gefahren und Scheitern integrieren kann, diese aber für den Fortlauf der Handlung nie gefährlich werden. Zudem bestehen auffällige Ähnlichkeiten zum Erzählschema der Heldenfahrt aufweist: Auch die Heldenreise entspricht letztlich dem Prinzip einer Transformationserzählung, da sie vom Auszug ins Unbekannte, von Gefahren und von der Entwicklung durch das Überwinden jener Gefahren erzählt.14 Oder wie Campbell es ausdrückt: Man verlässt die Welt, in der man ist, und geht in eine Tiefe oder in eine Ferne oder eine Höhe hinauf. Dann gelangt man zu dem, was einem in der Welt, die man zuvor bewohnte, bewusstseinsmäßig fehlte. Dann kommt das Problem, entweder daran festzuhalten und die Welt von sich abfallen zu lassen oder mit diesem Preis zurückzukehren und zu versuchen, ihn sich zu bewahren, während man wieder in die Welt der Gesellschaft hineingeht.15

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Die Einteilung der Handlungsschemata folgt Hayden Whites Untersuchung zur Geschichtsschreibung, in der nach White nicht nur die Wahrheit der einzelnen Fakten Sinn erzeugt, sondern ihre Zusammenstellung und Formgebung maßgeblich für die Sinnproduktion ist. Aus der Literatur übernimmt White die Einteilung in Komödie, Romanze, Satire und Tragödie, die er als quasi archetypische Erzählstrukturen versteht, welche die Elemente der Erzählung verknüpfen und durch ihre kulturelle Bekanntheit Sinnstiftung leisten. Denn als kulturell tradierte Schemata symbolisieren Romanze und Komödie Veränderung und Fortschritt, die Tragödie und Satire hingegen Dauer und Stabilität; vgl. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M.: Fischer 2008. S. 21-23. Joseph Campbell hat hierfür ein geläufiges Modell entwickelt und 17 Phasen der Heldengeschichte identifiziert, die in einem übergeordneten, dreistufigen Schema organisiert sind. Diese 17 Phasen entwickelt Campbell im Anschluss an Carl Gustav Jungs Mythenverständnis u.a. in Der Heros in tausend Gestalten (1999) und Die Kraft der Mythen (1994). Obwohl Campbell primär in psychologischen Untersuchungen rezipiert wird, ist der Bezug auf seine Untersuchungen in dieser literaturwissenschaftlichen Arbeit durchaus sinnvoll. Das ist zum einen durch die bereits dargestellte Bedeutung der Entwicklungsgeschichte zu erklären, zum anderen aufgrund der uneindeutigen Situierung des Textes zwischen Autobiographie, Unterhaltungs- und Sachliteratur. Campbell, Joseph: Die Kraft der Mythen, Düsseldorf: Patmos 2007, S. 154.

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Ähnlich wie die hieraus resultierenden einzelnen Phasen der Heldenreise lässt sich auch der Handlungsverlauf von Moors Erzählung in einem Stufenmodell darstellen:16 Das Buch beginnt mit der Fahrt in ein neues Leben »und geht in eine Tiefe oder in eine Ferne oder eine Höhe hinauf«. Schon auf der Fahrt ins Ungewisse beginnen die Prüfungen: Moor erkennt das als idyllisch erhoffte Land als bedrohliche Fremde und terra incognita, was sich in Bebilderungen des Ortes mit Schlaglöchern, gesperrten Straßen, trostlosen Bildern von DDR-Gebäuden manifestiert und auch bei Moor gesellschaftliche Stereotype über Brandenburg abruft (»Höchste Arbeitslosigkeit Deutschlands. Dumpfe Ossis. Alkoholiker und Neonazis. Die gesunde Bevölkerung flieht. Zurück bleiben die Loser, die Alten, die Gescheiterten, die Kaputten. Das vergessene Land.« (WB, 10)). Nach der Fahrt kommt es zur ersten Landnahme und Enttäuschung: Der Hof ist anders als erwartet, Moor zunächst überfordert, entwickelt dann aber Überwindungswillen (»Wir werden es schaffen, verdammt nochmal, wir werden in und mit diesem außerplanetarischen Ort leben, werden ihn lieben, weil er uns formen, verändern wird, so wie wir diesen Hof formen und verändern werden.« (WB, 32)). Durch dieses Ende der Täuschung kommt es zur Erkenntnis: Das reale Dorf ist keine mediale Idylle und kein Schlafdorf, sondern ein belebter Ort mit eigenen Herausforderungen, dieses Leben fordert Toleranz und Offenheit (vgl. WB, 45). Hier beginnt die Neustrukturierung der Bilder vom Landleben, sodass der ländliche Raum zum Ort von »Gespür für Maß und Unmäßigkeit« (WB, 39) wird. Die Vormieter dienen als schlechtes Vorbild, da sie die vorgefundene Fremde stetig reproduzieren (»Die kapseln sich ja völlig ein, diese Ossis. Nee, wissen Sie, wir haben die Schnauze voll von diesem Kaff.« (WB, 48)). Es folgen Arbeit am Hof und erste Begegnungen mit ›Einheimischen‹, womit die Landnahme weiter fortgeführt wird. Die Geschichte von Bauer Müsebeck (vgl. WB, 59-71) und Probleme bei der geplanten Landwirtschaft (vgl. WB, 71) führen zur weiteren Erkenntnis des ›wahren‹ Charakters des ländlichen Raums, der nun zum widerständigen Ort wird. Durch diese Erkenntnis und seinen Überwindungswillen wird Moor zum erfahrenen Helden (»Na, ist ja nicht das erste Mal, dass wir enttäuscht werden. Und im Rückblick hat es doch immer auch was gebracht.« (WB, 78)). Ab hier ist die Rückkehr ausgeschlossen und es kommt zur endgültigen Initiation. Durch einen Spaziergang wird die Schönheit von Dorf und Landschaft erfahren (Kapitel 10), die dann allen Schrecken aufwiegt und damit zu dem wird, was dem Helden bei Campbell das war, »was einem in der Welt, die man zuvor bewohnte,

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Dieser Vergleich wird lediglich in dieser ersten Analyse einmal beispielhaft so ausführlich gemacht, um die strukturellen Ähnlichkeiten der Umzugserzählung zu tradierten Erzählmustern nachzuweisen. Nachdem dieser Zusammenhang einmal dargestellt wurde, erscheinen mir daher so ausführliche Darstellungen als nicht notwendig.

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bewusstseinsmäßig fehlte.« Ab hier verändert sich der Zugang: Moor handelt nun proaktiv, anstatt auf die Herausforderungen und Enttäuschungen der Umwelt zu reagieren. Daran ändert auch die zweite Fahrt ins neue Leben nichts. Moor holt die letzten Sachen vom alten Hof und reflektiert dabei die neugewonnene brandenburgische Freiheit gegenüber der konservativen Schweizer Idylle. Gerade durch die stetige Betonung des idyllischen Lebens im Kontrastraum Schweiz wird das Erzählen über Brandenburg aus der Tradition idyllischer Landbilder enthoben und ›wahrer‹ gemacht. Bei dieser zweiten Fahrt ins neue Leben werden dann auch die Schilderungen der ersten wiederholt, klingen nun aber optimistischer. Das ist der Beginn des oben von Campbell zitierten zentralen Prozesses: »Dann kommt das Problem, entweder daran festzuhalten und die Welt von sich abfallen zu lassen oder mit diesem Preis zurückzukehren und zu versuchen, ihn sich zu bewahren, während man wieder in die Welt der Gesellschaft hineingeht.« Hierauf folgen räumliche und soziale Initiationen durch den Besuch des Dorfladens (vgl. WB, 116-127) und Erweiterung des Wissenstandes, nachdem Müsebeck und Schwester Alma die Geschichte des Dorfes erzählen. Moor fällt einen Baum und macht dadurch das Gelände urbar (vgl. WB, 141), das Ankommen wird durch den Nachbarn Teddy bestätigt und den Erwerb eines Traktors besiegelt (vgl. Kap. 21 und 22). Die erfolgreiche Ankunft ist auch daran abzulesen, dass ländliche Arbeit nun keine Last mehr ist, sondern zu einem verbindenden Element mit der Gemeinschaft wird (»es war paradiesisch. Jeder erzählte von seinen Heu-Heldentaten, es wurde viel gelacht, und für diesen einen Abend waren all diese völlig verschiedenen Menschen aus verschiedenen Ländern […] eine eingeschworene Gemeinschaft.« (WB, 181)). Von nun an sind die Rückschläge nicht mehr bedrohlich: Das Land wird durch Mangel an Bio-Lebensmitteln (vgl. WB, 147) und überregionalen Zeitungen (vgl. WB, 153f.) zwar als unkultivierter Ort geschildert, gleichzeitig aber auch ein Plan zur Überwindung dieser Probleme entworfen (vgl. WB, 160f.). Auch der Besuch medienschaffender Freunde führt nicht zur Rückkehr oder Erhöhung des alten Lebens, sondern vielmehr tragen die Schilderungen des Nachbarn Teddy zur Erhöhung der neuen Welt als echtes Leben gegenüber den Scheinproblemen der Städter bei (vgl. Kap. 25). Diese Schilderungen dienen letztlich der Verfestigung des Angekommenseins. Hierauf folgt die zweite Phase der Initiation durch Wissen über Dorfgeschichte: Der ländliche Raum hat selbst eine Geschichte, wodurch ihm ein Wert zukommt, und zugleich wird auch Moors individuelle Geschichte in jene des Raumes integriert, wenn der Ort als traditioneller Ort des Zuzugs beschrieben wird (vgl. WB, 192f., 221f., Kap. 28, 29). Kapitel 31 beweist dann schon durch seinen Titel die endgültige »Landeroberung«. Beim Text beschließenden Feuerwehrfest wird Moor dann endgültig als Teil der Gemeinschaft akzeptiert (Kap. 35, 38) und hat zudem Teil an den Ausgrenzungen gegenüber Fremden (Kap. 36: »Der Eingemauerte«, Kap. 37 »Glatzenalarm«). In Campbells Schema entscheidet sich Moor also, »daran

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festzuhalten und die Welt von sich abfallen zu lassen«. Damit entfällt im traditionellen Schema die Überzeugung der Daheimgebliebenen, weil Moor am Ende in die ländliche Ordnung eingeht. Letztlich muss aber Moors Buch selbst als Akt der Rückkehr und Überzeugung gedeutet werden. Hierdurch wird die Frage noch entscheidender, was denn das ›erzählte Elixier‹ ist, welches Wissen also über ländliche Räume erzählt wird, um die Daheimgebliebenen zu überzeugen. Um das zu beantworten, wird auf einige inhaltliche Aspekte des Buches genauer eingegangen, wobei insbesondere der zentrale epistemische Abgleich von Erwartung und Realität an einigen Beispielen herausgearbeitet wird. Schon in der ersten Episode, der Ankunft auf dem Hof, wird den importierten idyllischen Vorstellungen des Erzählers eine Absage erteilt. Das beginnt mit der Schilderung des Hofes, den Moor vor dem Kauf nie gesehen hat und nur durch die Beschreibung seiner Frau kannte. Bei der Ankunft auf dem Gelände entspricht das Haus nicht seiner Vorstellung, sind die Vorbesitzer noch nicht ausgezogen, erschwert ein Gewitter den Einzug der Tiere in die Stallungen und verhindert ein Dorffest am Ende des ersten Tages auf dem Hof die Nachtruhe. Diesen ›widerstreitenden Kräften‹ begegnen Moor und seine Frau mit Überwindungswillen, der mittels ausführlicher Schilderung von Lernerfolgen in den Kapiteln »Erkenntnis« (WB, 37) und »Freuden der Nacht« (WB, 41) betont wird. So beginnt das Ankommen nach der Fahrt ins Ungewisse mit dem Versprechen, dass die kulturell vermittelten Täuschungen enden, anstatt fortgeschrieben zu werden. Die Erkenntnis, dass der erhoffte locus amoenus ein locus terribilis/horribilis ist, führt bei den Protagonisten zur Krise und damit zur Neuordnung. Die hier etablierte und im Laufe der Erzählung immer wiederkehrende Abfolge von Spannung und Erlösung strukturiert zum einen den Fortlauf der Erzählung, zum anderen erfolgt die regelmäßige Bewertung des Umzugs als Herausforderung und die Markierung des Erzählers als Helden. Der Gestaltung als Komödie wird dadurch augenfällig, dass die Probleme beim Ankommen nicht existentiell bedrohlich erscheinen, sodass sie als Widersprüche gegen die eigene geistige Enge und nicht gegen feste Normen erzählt werden (»Ich bin gerade dabei, meine erste Lektion in brandenburgischer Toleranz zu lernen.« (WB, 45)). Die Erkenntnis der Wahrheit über den Raum ermöglicht und bedingt die Entwicklung des Protagonisten. Damit wird die Umzugserzählung schon früh von einer rein räumlichen zu einer vorwiegend kognitiven Entwicklung verlagert – ähnlich wie im Bildungsroman wird die Veränderung des idealistischen Protagonisten geschildert, »die sich im Umgang mit den Gegebenheiten einer als Korrektiv verstandenen Realität vollzieht«.17 An der Darstellung dieser Entwicklung sowie den bereits erwähnten Vorausverweisen (Versicherung einer Erfolgsgeschichte) lässt sich erkennen, dass der Hand17

Wanning, Berbeli: Der ökologische Bildungsroman. Renaissance einer Gattung?, in: Zemanek 2018, S. 195-210, hier: S. 196.

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lungsverlauf nicht auf Spannung, sondern auf Erkenntnis- und Erlösungseffekte hin angelegt ist. Moor beschreibt wiederholt seine aus dem urbanen Diskurs über Brandenburg und Landleben erwachsenen negativen oder positiven Erwartungen (locus amoenus/horribilis/terribilis), geht darauf ein, wie die eigenen Erfahrungen diesen medialen Bildern widersprechen, und erläutert, wie durch die Überwindung dieser Täuschungen das Ankommen in Amerika erst möglich wird. Als Täuschungen werden die tradierten gesellschaftlichen Vorstellungen vom Land angeführt, die durch individuelle Abenteuer und Erfahrung überwunden werden. Beispielhaft zeigt sich das in Äußerungen wie dieser: »Na, ist ja nicht das erste Mal, dass wir enttäuscht werden. Und im Rückblick hat es doch immer auch was gebracht.« (WB, 78) Aus der dann auch gleich ein Lehrsatz abgeleitet wird: »Und wer keiner Täuschung mehr aufsitzt, gewinnt klare Sicht auf die Dinge.« (WB, 78) Durch den Abgleich werden die Vorstellungen transformiert, von den anfänglichen noch kulturell geprägten Stereotypen hin zu einem Bild vom Land als ›normalem‹ Lebensraum, der von tradierten Übertreibungen befreit ist. Aus dieser wiederkehrenden Abfolge kann ein narratives Verlaufsmodell von Erwartung (Diskurs-Bilder, bspw. Idylle) – Prüfung (Scheitern der Erwartung) – Überwindung – Erlösung (Erkenntnis) als die maßgebliche narrative wie epistemische Struktur des Textes abgeleitet werden. Ein zentrales Merkmal der so erzählten Geschichte ist ihre Teleologie – nicht nur durch das paratextuell etablierte Erzählen vom Ende her, sondern auch, da immer wieder betont wird, dass jede getroffene Entscheidung notwendig aus der am Raum gemachten Erfahrung folgt. Hierdurch werden alle Schritte als auf dem Weg zum erfolgreichen Landleben und Erkenntnis ländlicher Normalität18 notwendig und zugleich natürlich markiert, die Erzählung wird zur best practice-Übung. Für eine Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert folgen aus den bisherigen Beobachtungen bereits zwei Dinge: Zunächst liegt dem Text ein Raumverständnis zugrunde, in welchem kulturell tradierte Raumbilder als Erkenntnis- und Zugangshemmnis zum ›realen‹ Raum gedeutet werden. Die Überwindung der Hemmnisse wird zur eigentlichen Arbeit des Umzugs. Damit ist der Umzug als nicht nur narratives, sondern auch epistemisches Modell zu deuten, geht es doch um Erkenntnis des ›eigentlichen‹, ›normalen‹ Landlebens. Dies wird durch die Verwendung von Helden- und Abenteuer-Narrativen erreicht, welche durch den Rückgriff auf das Erzählschema der Komödie und die Verwendung niedrigschwelliger Hemmnisse in eine Alltagserzählung integriert werden. Der Zielpunkt ist wahreres Wissen über den als fremd entdeckten ruralen Raum. Wie bisher ausgeführt wurde, funktioniert die Erkenntnisgeschichte maßgeblich in Abgrenzung zu bestehenden Erzählungen und Bildern über ländliche Räume, sodass im folgenden Unterkapitel explizite und implizite Bezugnahmen auf literarische 18

Die Bedeutung der Normalität als Inszenierungsstrategie wird im Folgenden noch weiter in den Fokus genommen.

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oder gesellschaftliche Traditionen des Deutens von Land in den Blick genommen werden.

1.3 Tradition und Diskurs In diesem Unterkapitel stehen also zwei wichtige Strategien im Umgang mit der Tradition im Mittelpunkt: Zum einen werden Moors eigene Erfahrungen in einen historischen wie gegenwärtigen Zusammenhang gestellt, der dann zum anderen überstiegen wird. Schon in Überschriften werden terra incognita- oder LandnahmeNarrative aktiviert, sodass der Bericht bereits eingangs inhaltlich aufgeladen wird. Besonders »Land in Sicht« (WB, 82), »Gelandet« (WB, 108) und »Landeroberung« (WB, 232) erinnern an Kolonial-, Helden- und Abenteuer-Erzählungen. Moors Umzug wird dadurch in die entsprechenden narrativen Traditionen eingeschrieben, was schon durch den Umzug nach ›Amerika‹ vorbereitet wurde. Hier geht es um die Entdeckung ›neuer Welten‹, durch die Metaphorik des Gestrandetseins wird zusätzlich noch auf die Tradition der Robinsonaden rekurriert. Gerade weil solche Narrative von der Entdeckung und Urbarmachung unbewohnter Gebiete handeln, werden nicht nur Deutungsmuster über Moor als Entdecker abgerufen, sondern auch Konfigurationen des Zielraums als leer. Diese Raumkonfiguration findet ihre Aktualisierung in einer Beschreibung von Brandenburg als Ort von Freiheit, Individualität und Weite. Durch den Rückgriff auf solche kulturell etablierten Narrative wird das Land zum unbekannten oder gefährlichen Ort, die Bewohner zu Ureinwohnern ohne Kultur und der Zugezogene zum Bewahrer der Kultur in wilder Umgebung.19 An koloniale Narrative erinnert auch die Schilderung des Dorfladens (Konsums), wenn dieser als ein aus der Zeit gefallener Ort beschrieben wird. Deutlich wird das anhand einer Beschreibung, die zwischen ironischer Naturalisierung des Marktes und mythischer Schilderung changiert: Man taucht ein. In eine andere Welt, in ein Universum, das sich über Jahrzehnte aus der Ursuppe von Angebot und Nachfrage herauskristallisiert hat. Und es gibt eine nach ihrem eigenen Ratschluss alles bestimmende Göttin in diesem Universum: Frau Widdel. Doch das ahne ich an meinem allerersten Montagmorgen in Amerika natürlich noch nicht … (WB, 115) Auf diese Weise wird dem ländlichen Raum eine eigene Zeitlichkeit außerhalb der städtischen Zeit eingeschrieben, also eine Ungleichzeitigkeit gegenüber der städ-

19

Die Figuration als unkultivierter Ort ist beispielsweise an dem geschilderten Leiden an fehlenden Bio-Lebensmitteln (vgl. WB, 147) und überregionalen Zeitungen (vgl. WB, 153f.) abzulesen, wobei schon kurz nach der Schilderung der Probleme ein Plan zu ihrer Überwindung entworfen wird (vgl. WB, 160f.).

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tischen Entwicklung behauptet. Hier wird etwas entdeckt, das innerhalb der ›normalen‹ Zeitrechnung der Stadt nicht mehr zu finden ist, es ist ein Gegenstand soziologischen Interesses. Betont wird das durch das eigene »Universum« und die der Evolutionsgeschichte entliehene »Ursuppe«. Durch die Vermengung von kolonialen und evolutionären Narrativen mit der Naturalisierung von »Angebot und Nachfrage« wird ein Gegensatz produziert, der zum einen als Ironie zu deuten ist, zum anderen ein Bild von einem hochkomplexen unerforschten Ort mit eigenen Regeln entstehen lässt. Das Bild wird dann um mythologische Narrative erweitert (»eine nach ihrem eigenen Ratschluss alles bestimmende Göttin«). Dieses zitierende Fortschreiben bestehender Narrative ist einerseits als Spiel zu verstehen und lädt andererseits den Bericht semantisch auf. Eine ähnliche Funktion erfüllen auch Naturschilderungen und Idylle-Motive, die, wie bereits angedeutet wurde, besonders häufig in Überschriften gebraucht werden und die Lektüre des jeweiligen Kapitels steuern. Durch idyllische (»Kirschblütenträume« (WB, 156), »Freie Aussicht« (WB, 140)), naturmystische (»Gartenzauber« (WB, 128)) und auch religiöse Topoi (»Himmel auf Erden« (WB, 244)) werden Bilder aufgerufen, die den ländlichen Raum als idyllischen Ort des Heils konzipieren. Hinzu kommen Kapitel, deren Titel Begrifflichkeiten der Sozialphilosophie aufgreifen (»Opfer und Täter« (WB, 77), »Prinzip Hoffnung« (WB, 151), »Brauchen und Haben« (WB, 186)), wobei diese nicht direkt auf Werke oder Konzepte verweisen, sondern vielmehr eine unbestimmt bleibende thematische Öffnung der Erzählung initiieren. Das ist beispielhaft an dem Kapitel »Prinzip Hoffnung« (WB, 151) zu erkennen: Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung (1954-1959) wird dabei zwar nicht direkt als Intertext adressiert, das Konzept wird vielmehr als ein alltagssprachliches Motiv für utopische Vorstellungen insgesamt verwendet, da im Kapitel keine direkten Bezugnahmen auf die Theorie enthalten sind. Ähnlich funktioniert der in der Grammatik von »Brauchen und Haben« angedeutete Rekurs auf Titel wie Erich Fromms Haben oder Sein (1976), nach welchem das Sein als bessere Existenzweise an die Stelle des in kapitalistischen Gesellschaftsformen dominierenden Habens gestellt werden soll. »Brauchen und Haben« löst das Sein nun durch das scheinbar ›natürlichere‹ Brauchen ab. Solche indirekten Verweise auf wichtige Texte der bundesdeutschen Ideengeschichte dienen eher der Annäherung an einen bildungsbürgerlichen bzw. feuilletonistischen Konsens der potentiell bildungsbürgerlich geprägten Leserschaft, denn der eigentlichen intertextuellen Verknüpfung. Sie rufen bestimmte Wissensinhalte auf und tragen so nicht nur zur Leserbindung, sondern auch zur semantischen Füllung des Textes bei. Zudem werden wiederholt Intertexte genutzt, um auf gesellschaftliche oder literarische Diskurse zu verweisen, die im weitesten Sinne Landleben tangieren. Beispielsweise wird das in Shakespeares Romeo und Julia enthaltene ornithologische Wissen über Singrhythmen von Nachtigall und Lerche herangezogen: »Es ist die Nachtigall, Geliebte, nein, es ist die Lerche, nein, es ist der Fußballclub.« (WB, 43)

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Indem die beiden symbolgewordenen Singvögel mit dem grölenden Fußballclub gleichgesetzt werden, entsteht primär ein komischer Effekt, zugleich wird aber der tradierte Blick der Literatur auf Natur im Angesicht der realen Herausforderungen von Dorf- und Landleben als nicht zeitgemäß dargestellt. Die gegenwärtigen Sozialformen des Landlebens machten demnach eine Neubestimmung der Vorstellungen von Landleben notwendig. Eine weitere und für das Funktionieren des Textes noch wichtigere Abgrenzung ist die in Richtung des Diskurses der ›Lust auf Land‹. Diese wird insbesondere genutzt, um ›echte‹ von medialer Ländlichkeit zu unterscheiden und damit den Status des vorliegenden Erfahrungsberichts zu erhöhen. Moor reflektiert, wie Landlustige und Ferienhausbesitzer das ›echte‹ Landleben gefährden, da die Nutzung als Ferien- und Wochenendhäuser zur Bildung von »Schlafdörfer[n]« (WB, 111) führten, »erobert von smarten Anwälten, hippen Graphikern und politisch korrekten Medienleuten« (WB, 111), welche »die Bauernhöfe zu ›Schöner Wohnen‹-Schaufenstern verarchitektet« (WB, 111) hätten. Durch ihre Inszenierung und Ästhetisierung vergangener Dörflichkeit schadeten sie dem Landleben, denn in ihnen würden nur mediale Vorstellungen von Landleben konserviert: »Das Alte darf wohldosiert und gezähmt weiterleben: In den ehemaligen alten Bauerngärten glitzern Weihnachtskugeln.« (WB, 111) Die Kursivierung verdeutlicht die Ironie und stellt die Glorifizierung und Ästhetisierung des Alten als Ende der Dörflichkeit heraus, postuliert damit aber zugleich, dass es eine Essenz des Dörflichen oder Ländlichen durchaus gibt. Dabei geht das Land als Ort der Freiheit verloren, um die Häuser entstehen »Parkplätze drum herum«, diese sind »nummeriert und fix vermietet. Wehe, wenn da ein anderer …!« (WB, 112). In dieser Art des Landlebens findet man nur »Erbauung. Statt zufriedene Entspannung.« (WB, 113) Die Schilderung mündet in der Feststellung: »Amerika ist KEIN Schlafdorf!« (WB, 114) So wird der eigene Umzug von derlei Ausprägungen idyllischer Ländlichkeit abgegrenzt, Amerika ist ›echtes Land‹. Daran sind erneut der enthaltene Wahrheitsbegriff und die Vorstellungen von Raum abzulesen: Es gibt ein ›richtiges‹ Dasein ländlicher Räume, genau wie es ein richtiges Dasein in ihnen gibt, dazu gehört echte, verantwortliche Teilhabe an der Dorfgemeinschaft. An solchen Stellen wird eine Metaperspektive auf Landleben eingenommen: Inhalt und Form erinnern an eine Diskussion über die Strukturprobleme ländlicher Räume, ausgebaut dadurch, dass im nachfolgenden Teil der Dorfkonsum, Überalterung und das damit einhergehende Ende ländlicher Infrastruktur beschrieben werden: »Blöd ist nur, ich will’s mal so sagen, dass diese Klientel ein natürliches Ablaufdatum hat. Sie schmilzt schneller dahin als Schweizer Gletscher.« (WB, 149) Anders als der rein ästhetische Integrationsmodus der Landlust-Magazine kann Moors auf Wahrheit und Unterhaltung zielender Integrationsmodus auch Probleme darstellen. Wie an dem Beispiel gezeigt wurde, muss er das sogar, um sich von ästhetisierenden Aneignungsformen wie denen der Schweizerischen Schlafdorf-Idyllen ab-

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zugrenzen, denen das eigene Schreiben in einer Vielzahl der Motive und Beschreibungen verwandt erscheint. Diese Kritik an medialer und idyllischer Überformung von Landleben wird aber aufgegeben, wenn auch Moor ihre Motive nutzt, wenn er beispielsweise von seiner Planung für ein »Werbespot-Frühstück in idyllischem Grün« mit »freiem Blick über das knospende Land« (WB, 153) berichtet. Das ist zwar schon durch den Wechsel des Stils (»knospende Land«) als Ironie und als Rekurs auf die mediale Inszenierung solcher Bilder gekennzeichnet, aber trotz aller Distanznahme zum Diskurs der ›Lust auf Land‹ ist auch hier die von Mareike Egnolff als typisch herausgestellte »Sehnsucht nach dem Ideal«20 zu beobachten. Gleiches gilt für die Beschreibung eines Gartens, welcher der Figur Schwester Alma gehört: Die Hofstelle beherbergt einen Garten wie aus dem Bilderbuch. Gemüsebeete, Blumen, dazwischen einige Flecken Rasen, eine Holzbank, Flieder […]. Umfriedet ist das kleine Paradies mit einem einfachen, dunkelgrau gestrichenen Eisenzaun, wie man ihn von alten Schwarzweißfotografien aus der Provinz kennt. (WB, 129f.) Der Abgleich mit historischen medialen Ländlichkeiten (»Schwarzweißfotografien aus der Provinz«) ist an dieser Stelle als Beweis für die Authentizität der geschilderten Szene zu lesen, die damit von der gespielten Authentizität des Landlust-Diskurses abgegrenzt wird. Dies vergangene ist ›echte‹ Ländlichkeit. Indem Schwester Alma so als longue durée-Figur präsentiert wird, wird die Gestaltung ihres Gartens als historisch gewachsen beschrieben, ist also natürlich und übersteigt damit die produzierten Schlafdorf-Idyllen in Wert und Wahrheit. Auffällig ist dabei, dass die Schilderung des Gartens als »Paradies« sowie der Vergleich mit dem »Bilderbuch« und »alten Schwarzweißfotografien aus der Provinz« den Beschreibungskategorien der medialen Ländlichkeit des Landlust-Diskurses gleicht, in der ländliche Räume als andere Räume beschrieben werden. In Moors Schilderung scheint der Unterschied aber in der Behauptung von Natürlichkeit und Authentizität zu liegen. Solche Abgrenzbewegungen gegenüber dem Landlust-Diskurs werden mehrfach vollzogen. So entwickeln Moor und seine Frau Phantasien über Möglichkeiten des Geldverdienens im ländlichen Raum, die Vorstellungen reichen bis »hin zur Idee, […] Wochenendseminare für die Berliner Esoterik-Freaks anzubieten: ›Gras wachsen hören‹ oder ›Entdecke deine Käferseele‹, ›Lernen von den Wiesenameisen‹ und so weiter. Wir amüsieren uns königlich.« (WB, 221) Durch solche Abwertungen des Landlust-Diskurses wird das eigene Ankommen wiederholt gestützt, insbesondere gegen Ende des Buches werden die Diskursbezüge häufiger und offensiver eingesetzt. Denn an dieser Stelle ist schon eine eigene Wahrheit über Landleben 20

Diese hat Mareike Egnolff in ihrer gleichnamigen Dissertationsschrift als zentrale Motivation der Landlust-Magazine und des dazugehörigen Lebensstils herausgearbeitet, siehe dazu Kapitel 1.4 zur Zugangsweise.

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gefunden, die von den falschen Wahrheiten der umlaufenden Diskurse abgegrenzt werden kann. Am auffälligsten ist das, wenn Moor nach der ersten Bodenpflege und dem Beginn der ›Urbarmachung‹ des eigenen Bodens kurz in Landromantik verfällt und feststellt: »Schon wieder Hollywood, weg damit. Weitereggen!« (WB, 233) Idyllische Ländlichkeiten werden durch die Klassifizierung als »Hollywood« als kultureller Ballast gekennzeichnet und durch praktische Tätigkeit überstiegen. Dieser Abgleich von den Lesern bekannten Traditionen und Diskurs-Bildern mit den Erfahrungen des Erzählers ist ein wichtiges Gestaltungselement des Textes. Dadurch wird den Lesern ermöglicht, ihre eigenen bzw. kulturellen Erwartungen über Land ins Verhältnis zu setzen, und anschließend durch gegenläufige Erfahrungselemente zu negieren. Das stützt zum einen die Nähe zum Narrativ der Heldenfahrt, denn die Zielgruppe der städtischen Leser, der Daheimgebliebenen, wird überzeugt. Zum anderen steckt darin eine Aussage über das Erkenntnispotential des Textes: Es wird abgesichert, dass der epistemische Ausgangszustand von Erzähler und Leser gleich sind, und, dass die Diskursbilder durch Erfahrung korrigiert werden und von Tradition und Diskurs keine wirkliche Wahrheit über Land mehr zu erwarten ist. Der Erzähler weiß also gleichzeitig genauso viel wie und deutlich mehr als die Leser – in dieser bereits aus der Analyse zur Narration getroffenen Feststellung steckt aber auch ein Hinweis auf das Forschungsparadigma des Textes, wie also zwischen Nichtwissen und Wissen vermittelt werden soll. Beispielsweise werden im ersten Kapitel insbesondere negative gesellschaftliche Vorurteile über Brandenburg aufgegriffen, es handele sich um einen Ort, vor dem mich jeder vernünftige Mensch gewarnt hat: Höchste Arbeitslosigkeit Deutschlands. Dumpfe Ossis. Alkoholiker und Neonazis. Die gesunde Bevölkerung flieht. Zurück bleiben die Loser, die Alten, die Gescheiterten, die Kaputten. Das vergessene Land. (WB, 10) Die gesellschaftliche Niedergangserzählung über Brandenburg definiert den epistemischen sowie narrativen Ausgangszustand, auf den Moor mit Abenteuerlust und eigener Offenheit reagiert. So schreibt er über die Gründe für das Fahren auf Landstraße statt Autobahn, er wolle »die Landschaft […] nicht mehr einfach vorüberziehen lassen wie ein Ostblock-Tourist. Ich will sie en detail erleben, langsamer.« (WB, 8) Das ist nicht nur Versprechen realer Erfahrung, sondern so wird auch ›Forschungsparadigma‹ etabliert, was zur Einordnung als Sachbuch passt. Die nahe Beobachtung wird gegen gesellschaftliche Vorurteile gestellt, sodass der Abgleich unterschiedlicher Raumbilder zugleich zur methodologischen Diskussion der Frage wird, wie Wissen über Land erworben werden kann. Die Antwort ist zunächst eindeutig: allein durch Erfahrung. Zugleich wird diese Erfahrung spezifiziert, nämlich von touristischen wie städtischen Wahrnehmungsweisen abgegrenzt. Liest man den Text weiter, wird aber eine Einschränkung gemacht: Der eingeschlagene Weg endet für Moor in einer Sackgasse, der Weg ins neue Haus

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verlängert sich um Stunden, die Suche nach individuell erfahrbarer Landschaft scheitert. Moor ist hier noch ganz im schweizerischen Ordnungssinn gefangen: »So hat das zu sein! Wo ist der Sinn eines Weges, der, bevor er in einen anderen Weg einmündet, einfach aufhört, ein Weg zu sein – mitten im Wald?« (WB, 24). So wird die Sackgasse zur ersten Prüfung und Lektion in brandenburgischer Gelassenheit. Die Auflösung dieser Prüfungssituation, das Ergeben ins eigene (ländliche) Schicksal durch das Umfahren der Sackgasse, ermöglicht dann erst die Landnahme: »Wir brechen aus einem dunkeln Waldstück hervor, durchziehen eine schnurgerade Allee, rechts und links offenes, freies Feld, dann rollen wir majestätisch am Ortseinfahrtsschild ›Amerika‹ vorbei.« (WB, 25) Die Helden- und Eroberungserzählung wird durch die Schilderung des Einfahrens als »majestätisch« zugleich betont und ironisch gebrochen, der Umgang mit diesen Traditionen ist ganz nach Vorgabe der Unterhaltungsliteratur Zitat bzw. Spiel. Trotz dieser Brechung steckt aber gerade in der Heldenerzählung die beschriebene Einschränkung, denn jeder kann diesen Gang aufs Land nicht einschlagen – das ist was für Abenteurer oder Helden. Und diese Helden sind gerade durch Wissen ausgezeichnet, dessen Bedeutung für die Erzählung im folgenden Unterkapitel genauer herausgearbeitet wird.

1.4 Wissen und Wissensordnungen Für die Untersuchung einer Poetologie des Wissens sind also verschiedene Inhalte und narrative Strategien entscheidend, bspw. das im vorherigen Unterkapitel analysierte Spiel mit Erwartungen. In dieser Analyse wurden bereits zwei elementare Strategien dieser Verhältnisbestimmung herausgestellt: zum einen der spielerische Umgang mit Traditionen, zum anderen die Behauptung, dass die Tradition überwunden werden kann, um so wahres Wissen zu erlangen und zu vermitteln. Dafür ist wiederum eine Vorstellung von Räumen notwendig, wonach ländliche Räume immer in einem komplexen, aber relativ unbestimmten Kontinuum gesellschaftlicher Deutungen bestehen, die in ein Verhältnis zu setzen sind. Dabei gibt es wahre und unwahre Raumbilder. Schon durch die Strukturierung der Erzählung als Umzugserzählung sowie den Rückgriff auf Abenteuer- und Entdeckungsnarrative wird der ländliche Raum zu einem Erfahrungsraum, der lediglich durch ein Subjekt vermessen und nicht durch gesellschaftliche Meinungen erfasst werden kann, der aber in diesem Spannungsfeld besteht.21 Die persönlichen wie gesellschaftlichen Vorannahmen über den Raum sind in dieser spezifischen Ausformung zu überwinden-

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Zum Begriff des Erfahrungsraums vgl. Kauppert 2010, S. 189-210. Kauppert versteht unter Erfahrungsräumen eine Möglichkeit, zwischen objektivistischen Lebenswelttheorien und ihrer spezifischen Geschichtlichkeit zu vermitteln. Der Begriff setzt also die spezifische Wahrnehmung eines empirischen Subjekts als beste Zugangsweise zu Räumen voraus.

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de Erkenntnishemmnisse. Moor erfüllt im Laufe seiner Erzählung all diese Bedingungen und hat dann durch räumliche Nähe Zugang zu Wissen und Wahrheit über Land. Diese Vorstellung von einer individuell zu entdeckenden Wahrheit über ländliche Räume, welche hinter kulturellen Konstruktionen zu entdecken ist, enthält einen zentralen Punkt: Die Annahme der prinzipiellen kulturellen Konstruiertheit von Raumbildern, welche aber mit einer essenzialistischen Vorstellung von Räumen vereinbar ist. In diesem Unterkapitel wird diese Vorstellung von Wissen über Räume weiter geprüft, insbesondere anhand der Auswahl und Ausgestaltung des erzählten Wissens. Für das Überwinden der Täuschung und die Erkenntnis ›wahrer‹ Ländlichkeit kommt neben der subjektiven Erfahrung insbesondere den alt eingesessenen Landbewohner eine besondere Stellung in der Handlung zu, sie werden als Wissensspeicher funktionalisiert. An diesen Figuren kann die enge Verbindung der Inhalte und Darstellungsformen von Wissen am besten nachgewiesen werden, weshalb die Analyse im folgenden Textabschnitt hierauf bezogen wird. Die Figuren haben neben der Vermittlungs- vor allem eine Indizierungsfunktion, ihr eigentliches Handeln tritt hinter die Charakterisierung des Raumes zurück. Jede Lebensgeschichte steht für eine bestimmte Eigenschaft des ländlichen Raumes: Der Nachbar Teddy ist ein Bild für Eigenständigkeit und Arbeit, Schwester Alma für emanzipatorisches Handeln und Bauer Müsebeck für Wissen über Landwirtschaft. Sie werden als ländliche ›Typen‹ eingeführt, die in jedem brandenburgischen Dorf vorkommen könnten, weshalb sie zur Charakterisierung des Raums beitragen – eine Darstellungsweise, die seit der Dorfgeschichte Tradition hat. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass das Handeln der einzelnen Figuren, abgesehen von der Wissensvermittlung zu Land- und Dorfleben, keinen weiteren Einfluss auf die Handlung hat. Diese Funktion lässt sich am offensichtlichsten daran erkennen, dass die Kapitel wiederkehrend nach den Geschichten der Figuren eingeteilt sind, daran also, dass je eine Eigenschaft des Raumes mit je einer Figurengeschichte gleichgesetzt und als abgeschlossene narrative Einheit behandelt wird. Die Figuren lassen sich jedoch nicht vollständig auf diese Funktionen beschränken, durch sie wird der ländliche Raum unabhängig vom Erzähler lebendig.22 Darin steckt eine wichtige Abgrenzung zum reinen Sachbuch. Denn letztlich wird auf diese Weise das Dorf selbst ›zum Sprechen‹ gebracht und das in den Lebensgeschichten enthaltene Wissen als entscheidende Dimension des belebten ländlichen Raumes hervorgehoben. Die Bedeutung der Dorfbewohner, insbesondere die Bedeutung ihres Wissens, wird bei Moor wiederholt regelhaft hervorgehoben, so bspw. in einer

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Roland Barthes hat die dritte Person sogar als konstitutives Element des Romans identifiziert, ihm ist, »[d]as ›Er‹ […] eine typische Konvention des Romans. […] [O]hne dritte Person gibt es keine Möglichkeit, zum Roman zu gelangen, […]. Im ›Er‹ manifestiert sich formal der Mythos.« Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 43.

Moor – Was wir nicht haben

Feststellung übers Ankommen: »Für unsere allmählich fortschreitende Verwurzelung in amerikanischem Boden sollte nach der ersten Heuernte ein Mann entscheidende Bedeutung erlangen, der heute, da ich von ihm erzähle, zu einem Freund geworden ist: Krüpki.« (WB, 209) Indem solche Deutungen bereits vor der eigentlichen Erzählung des jeweiligen Kapitels gegeben werden, wird der teleologische Charakter des Buches verfestigt, alle Binnenerzählungen und Details sind auf die Sicherung der Umzugserzählung als Erfolgsgeschichte ausgerichtet. Zu diesem Eindruck trägt die im Fortlauf der Erzählung steigende Zahl von ›Dorfgeschichten‹ bei, die vom Überwinden von Herausforderungen im ländlichen Raum handeln, seien es Probleme der Selbstständigkeit in der Landwirtschaft oder Strukturprobleme durch die deutsch-deutsche Teilung. Aber auch die DDR-Geschichte des Dorfes wird als Geschichte einzelner widerständiger Figuren erzählt bspw. im Kapitel »Hansens Rache« (WB, 135), in welchem geschildert wird, wie ein Bauer in der DDR enteignet wurde und seit der Wiedervereinigung trotz hohen Alters den zurückgewonnenen Hof führt. Solchen Heldenfiguren wird ein Wert für das gesamte Dorf beigemessen, »›[d]enn eigentlich hat mein Hans ihnen doch Mut gemacht. Hat ihnen gezeigt, welche Kraft da drin steckt, im Sich-nicht-unterkriegen-Lassen.‹« (WB, 138) Im Kapitel »Waltraut« (WB, 194) wird die Lebensgeschichte der Konsum-Besitzerin Waltraut Widdel erzählt, aus einer wohlhabenden Pferdezüchter-Familie stammend, durfte sie in der DDR auch wegen des Widerstands ihres Vaters weder Pferdewirtin, noch Veterinärin, noch Reiterin werden. In dieser Erzählung ist das ländliche Brandenburg ein Ort von starken Figuren, die Widerstand geleistet haben und trotz des Scheiterns in der Lage sind, ein ›gutes Leben‹ zu führen. Diese Beschreibungen beginnen zumeist in direkter Rede, um dann mittels indirekter Rede durch Moor zusammengefasst zu werden. So werden die Berichte der Dorfbewohner bis auf einzelne Dialog-Passagen letztlich durch den Erzähler wiedergegeben – diese Feststellung erinnert an die seit Gayatri Spivaks gleichnamigem Aufsatz zentrale Frage postkolonialer Studien, ob die Subalternen sprechen können.23 Die Passagen direkter Rede dienen dann weniger der Informationsvermittlung, sondern der Charakterisierung der Figuren, so wird Krüpki nicht nur durch die Figurenbeschreibung, sondern auch durch seine Lehrsätze in brandenburgischem Dialekt charakterisiert: »›Erst meene Gäule, dann meene Gäule und dann lange nüscht und denn das restliche Kroppzeug‹« (WB, 210). Damit wird er zur betont authentischen Figur und als Träger ländlichen Regelwissens eingesetzt, nochmal belegt dadurch, dass er als potenzieller Autor von Was der alte Stallmeister noch wusste vorgestellt wird (vgl. WB, 210). Eine weitere Reflexion solcher Quellen und Intertexte findet nicht statt und so genügt bereits der sprechende Titel, um einen Eindruck davon zu geben, wofür das entsprechende Buch steht – in diesem 23

Die vielzitierte Frage geht zurück auf Spivaks Aufsatz Can the Subaltern Speak? (1988).

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Fall traditionelles (»der alte«) Expertenwissen (»Stallmeister noch wusste«).24 Dass das Wissen des Sachbuchs aber einer Figur zugeschrieben wird, macht diese zum Experten und definiert zugleich eine Regel über ›Landwissen‹: Wer Erfahrung hat, braucht keine Ratgeber mehr. Der mit dem Zitat von Krüpki bereits angedeutete Zusammenhang von Tradition und Sprache wird bspw. anhand der Figur Teddy weiter verdichtet zu einem Zusammenhang von Sprache und Charakter. Teddy ist ein Mann von Prinzipien. Eines dieser Prinzipien lautet: Wer Charakter haben tut, der redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Und daran hält sich Teddy eisern. Spricht, wie von Muttern gelernt. Brandenburgisch […] Alte Sprache, die Teddy noch lebt. (WB, 165) Diese als ›authentisch‹ präsentierte Figur wird auch für das Lernen von Sprachgeschichte und damit wiederum von Tradition genutzt: »Steine heißen tatsächlich ursprünglich Klamotten.« Und »Hier in Amerika jedoch ist eine Forke, wie sich herausstellte, eine Gabel. Wie ja übrigens auch drüben in England. ›Fork‹.« (WB, 166) Dadurch wird der Einblick in die Tradition des Raumes zugleich als Blick auf deutsche Sprach- und Kulturgeschichte stilisiert. Dieser ländliche Raum ist ein Ort der Bewahrung von Tradition, was letztlich zu seiner Umwertung führt: Vom rückständigen Ort zum Ort einer im Laufe der Urbanisierung vergessenen, aber im ländlichen Raum noch inkorporierten Wahrheit über Mensch und Kultur. Darin ist ein wichtiges Motiv angedeutet: die Wiederentdeckung eines vergangenen, gesunden Kulturzustands im ländlichen Raum, damit auch die Einheit von Mensch und Raum. Indem nun im Buch die Geschichten der Dorfbewohner erzählt werden, wird solches für Außenstehende eigentlich nicht zugängliche Traditionswissen den Lesern doch zugänglich, das ist die Vermittlungsfunktion dieses Erzählens. Neben diesem Traditionswissen wird Praxiswissen vermittelt, wenn bspw. die Vorstellung von Krüpkis Arbeitsweise in eine Anleitung für richtige Landarbeit übergeht. Hier wird die Anlage als Ratgeberliteratur expliziter, die Ansprache richtet sich direkt an die Lesenden: Wenn Sie jemals vorhaben sollten, ein Loch zu graben, machen Sie’s nach der Teddy-Methode. Sie werden feststellen, dass Sie mit dieser Langsamkeit ungefähr dreimal schneller fertig sind als die Vergleichsperson im Nachbargarten. Und dass diese außerdem, wenn sie dann endlich fertig geworden ist, viel fertiger ist als Sie. (WB, 172) Diese Schilderung von Gartenarbeit erinnert an Naturdokumentationen, in denen der Kommentator die Beobachtungen der kollektiv angesprochenen Zuschauer 24

So wird auch nicht erwähnt, dass es sich dabei um einen verbreiteten Ratgeber für Pferdehalter und -züchter von Christiane Gohl (Pseudonym der Schriftstellerin Sarah Clark) handelt.

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lenkt. Moor nutzt diese Referenz und schafft eine scheinbare Unmittelbarkeit zwischen Erzähler, Geschehen und Lesenden: »Schauen wir Teddy doch mal zu, wie er jede Bewegung sehr bedächtig, überlegt und fast in Zeitlupe ausführt.« (WB, 171) Mit dieser Schilderung werden der ländliche Raum, seine Bewohner und ländliche Praktiken endgültig zu Wissensobjekten. Hier lernt man durch von Experten angeleitete Beobachtung etwas über den fremden Gegenstand, der aber für eine ganze Population, eine Kultur oder einen Raum stehen kann – unabhängig davon, ob es sich um das Gnu in der Savanne, den Doktorfisch im Great-Barrier-Riff oder den ein Loch buddelnden Bauern in Brandenburg handelt. Das so vermittelte Wissen geht immer mit einer Wertung als zugleich verloren wie natürlich einher – und es ist immer durch Moor vermittelt. So werden auch Verhalten und Aussehen von Bauer Müsebeck zunächst durch Beschreibungen Moors vermittelt, bis er dann selbst zu Wort kommt (vgl. WB, 58-64), seine Erzählung wird aber wiederholt durch gedankliche Kommentare Moors durchbrochen: »Mein Respekt vor diesem Mann steigt schlagartig, […]. Das sollte mal einer von diesen arroganten Ossi-Spöttern nachmachen!« (WB, 61) An dem Beispiel ist die Funktion dieses vermittelnden Erzählens zu erkennen: Mit diesem Kommentar wird Müsebecks Lebensgeschichte zur best practice-Übung im ostdeutschen Umgang mit der deutsch-deutschen Geschichte gemacht. Wieder wird das Dorf zum Ort des Widerstands, insbesondere in der DDR (»Waren ja viele da, die, ebenso wie sie, sozusagen hierher zwangsrekrutiert worden waren, weil sie den Bonzen ein Dorn im Auge gewesen waren.« (WB, 60)) und in der Folge auch zum Kulminationspunkt der Probleme bei der Neuorientierung im kapitalistischen System in den 1990er Jahren. Müsebecks Lebensgeschichte wird nach dem Narrativ vom self-made man erzählt, eine Geschichte von der individuellen Überwindung von Hindernissen und vom Gewinnen. Die Anwendung auf eine ostdeutsche Figur ist ein Abgleich mit möglicherweise gesellschaftlich verankerten defizit-orientierten Narrativen über Ostdeutschland: Erzählungen vom leeren Raum mit passiven Bürgern.25 Die individuelle Fallgeschichte wird zum Korrektiv der urbanen und westdeutschen Narrative über Ostdeutschland. Diese Passage steht exemplarisch für die im Text angelegte Neustrukturierung von Wissensordnungen durch die Formen des Erzählens. Während also Müsebeck die bäuerliche sowie gesellschaftsgeschichtliche Dimension repräsentiert, Krüpki und Teddy Bauernweisheiten und das dörfliche

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Zu diesen Nachwende-Narrativen über Ostdeutschland vgl. Ahbe, Thomas: Die Ost-Diskurse als Strukturen der Nobilitierung und Marginalisierung von Wissen. Eine Diskursanalyse zur Konstruktion der Ostdeutschen in den westdeutschen Medien-Diskursen 1989/90 und 1995, in: ders./Gries, Rainer/Schmale, Wolfgang (Hg.): Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig: Universitätsverlag 2009, S. 59-112, hier: S. 59-61; Rippl, Susanne u.a.: Ostdeutsche Identität. Zwischen medialen Narrativen und eigenem Erleben, in: Deutschland Archiv, 16.5.2018, URL: https://www.bpb.de/269349 [Zugriff am 8.4.2020].

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›Anpacken‹, wird Schwester Alma als Chronistin des Dorfes, später als unerschrockene Figur wider dörfliche Normierung (vgl. Kapitel 17, 18, 28) eingeführt.26 Schwester Alma ist eine ältere Bewohnerin des Dorfes, ehemals Krankenschwester und Hebamme. Durch sie wird »die zweite Lektion in Sachen brandenburgische Direktheit« (WB, 133) vermittelt, wenn sie Moor und seine Frau direkt nach ihren Plänen für den erworbenen Hof befragt. Die Reflexion über die Herkunft ihres Namens von der Antiken Fruchtbarkeitsgöttin Alma Mater zeigt erneut den Symbolcharakter der Figuren: Als Hebamme steht sie für Fruchtbarkeit, das Versprechen von Weisheit löst sie durch ihre Positionierung als Dorfchronistin ein (vgl. WB, 132). Sie weiß um die Geschichte des Dorfes ebenso wie um die von Moors Haus, woraus für Moor ein Auftrag entsteht: Dann machen Sie mal hin, meinen Segen dazu haben Sie! Sie müssen wissen, Ihr Hof war früher einer der reichsten im Ort, nach der Landwirtschaft vom Schloss natürlich. […] Nu sind se alle weg. Wurden alle von der LPG aufgesaugt, und dann ging die ja nach der Wende selber pleite. (WB, 133) Solche Passagen erinnern an die Segnung und Sendung des Narrativs der Heldenreise, ganz ähnlich wird das bspw. in einer Ansprache Krüpkis an Moor und seine Frau wiederholt: Ihr habt gezeigt, dass ihr es könnt, verdammt nochmal. Dass ihr das gar nicht so schlecht macht, wie man das von so zwee Rotzpiepen wie euch erwarten würde. […] Ihr müsst endlich die Finger aus dem Arsch kriegen und mehr Viehzeug anschaffen. Und was braucht man dazu, Frau Neunmalklug? Land braucht man dazu! (WB, 217) In der Folge bietet Krüpki Moor dann Land zum Kauf an, die Wirtschaft kann entwickelt werden. Ähnlich wie in diesen Beispielen werden die einzelnen Schritte des Umzugs wiederholt durch ländliche Stimmen autorisiert und durch deren Regelwissen als notwendige Schritte des Ankommens auf dem Land gekennzeichnet. Der Umzug ist dann nicht mehr Folge individueller Entscheidungen, sondern Ergebnis ländlicher Verlaufsmodelle und entsprechend naturalisiert. Der so beschriebene Wissenserwerb wird letztlich als Fortschrittsgeschichte erzählt, welche erst durch den Kontakt mit den ›Einheimischen‹ ermöglicht und durch jene dann auch als Er-

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Das entspricht der Personalstruktur des Dorfromans, in welchem Dorflehrer, Dorfdepp, Pfarrer etc. dargestellt wurden, verbunden mit der Behauptung, dass durch die Darstellung der wichtigsten Bedeutungsträger ein Gesamtbild des Ortes entsteht. Insofern beerbt Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht auch diese Tradition, die Figuren sind nicht nur Wissensträger, sondern zugleich zentrales Element des Landlebens. Auch hier fallen Behauptungen über Verteilung und Erwerb von Wissen mit der narrativen Gestaltung zusammen.

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folgsgeschichte markiert wird. Indem die Bedeutung der individuellen Entscheidungen des Erzählers reduziert wird, wird die Wahrhaftigkeit des Erzählten betont. Eine weitere Besonderheit dieser Figurendarstellung ist, dass das rein erfahrungsbasierte Erzählmodell der Umzugsgeschichte erweitert wird, wenn in solchen Beschreibungen der Erzählton ins mythen- bzw. märchenhafte wechselt. Schwester Almas Nonkonformismus in Verhalten und Erscheinung, aber auch ihr unbedingter Einsatz als Hebamme, machen aus ihr beim Durchqueren des Dorfes im Morgengrauen »eine wahrhaftige Erscheinung, so lautlos vorbeihuschend.« (WB, 206) Indem die Figur mythisiert wird, wird der ländliche Raum zu einem Ort, der nicht in Rationalität aufzulösen und zu erkunden ist. So wird sie den Dorfbewohnern zur Sagengestalt, eine Frau mit kreuz und quer vom Kopf abstehendem flammend rotem Haar, bekleidet nur mit einem weißen Morgenmantel, barfuß und im Laufschritt die Pfuhle umrundend, ein schwarzes Lederköfferchen in der einen Hand, mit der anderen den Morgenmantel vor der Brust zusammenraffend. (WB, 206) Moor fährt fort: »Aber sie lagen noch in ihren Betten, die Amerikaner, und mussten sich mit jenen Traumbildern begnügen, die ihnen ihr Schlaf vorgaukelte.« (WB, 206) Durch die Analogie zum Traum wird durch diese Figur die dörfliche Realität transzendiert, daran ist zu erkennen, dass der rurale Raum per se ein Ort solchen Übersteigens der Grenzen von Realität ist. Das steigert die Komplexität des ländlichen Raums ins Magische und so wird mit dieser Binnengeschichte eine über die Grenzen des Wahrnehmbaren hinausgehende Wahrheit des ruralen Raums vermittelt. Was der Autor dieses Erfahrungsberichts gesehen und gehört hat, geht über die Möglichkeiten enzyklopädischer Raumdarstellungen hinaus. Es handelt sich um spezifisch literarisches Wissen, das die Darstellungsmöglichkeiten des Sachbuchs übersteigt, indem der Erzählton an die archetypischen Erzählstrukturen von Märchen und Sage anknüpft. Der rurale Raum wird zum Ort mit eigener Realität und erbt vom Märchen die Einteilung der Welt in einfache strukturelle Oppositionen, seien dies Innen/Außen, gut/böse oder eben Stadt/Land. Sowohl der Märchenton als auch der oben herausgearbeitete der Naturdokumentation verweisen auf Formen der Aneignung von Realität und Raum, stehen dabei aber an entgegengesetzten Polen der Realitätsbehauptung über ihren jeweiligen Gegenstand. Indem im Text auf beide Traditionen verwiesen wird, wird die in Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht vorgenommene Weltaneignung zwischen Realität und Fiktion positioniert. Darin steckt letztlich die Behauptung eines erweiterten Blicks auf Land, der über die Erzähltradition hinauszugehen vermag.27 Mehr noch aber erscheinen diese zitathaften Rekurse als Unterhaltungseffekte. Durch das Anknüpfen an kulturell vorhandene Er27

Zur Besonderheit von Architextualität vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 12, 18.

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zählmuster wird nicht nur das kulturelle Wissen über diese Gattungen aufgerufen, es entsteht eine Vielstimmigkeit des Schreibens über Land, die zum einen unterhält und zum anderen implizit darstellt, wie vielfältig eine Beschreibung von Landleben sein muss, um diesem gerecht zu werden. Die Binnenerzählungen über Figuren und Besonderheiten des Landlebens enden wiederholt mit Moors Betonung, wieviel Respekt er gegenüber Leben und Leistung der Dorfbewohner gewonnen hat, was die Erzählungen zum Teil einer Erkenntnisgeschichte machen. Zugleich wird daran die Transformation für die Lesenden sichtbar, denn so wird deutlich, dass dies im Landbild des Beginns (ergo: der Gesellschaft bzw. des Diskurses) nicht vorhanden war. In diesem Unterkapitel wurde herausgearbeitet, das die Binnenerzählungen über Figuren- und Dorfgeschichte so gestaltet sind, dass sie Wissen über den Ort und seine Bewohner vermitteln. Die dadurch gewonnene narrative und inhaltliche Komplexität ermöglicht erst eine adäquate Schilderung von Landleben und den Beweis echter Teilhabe an einer besonderen Dorfgemeinschaft. Die Binnenerzählungen charakterisieren den ländlichen Raum als komplex, weil er sich nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich und emotional erstreckt und genau so vermessen werden muss. Diese Komplexitätsbehauptung dient sowohl der Definition des Landlebens als auch der von Wissen über Land. Darin steckt eine Aussage über die Bedeutung von Wissen: Individuell erfahrene Geschichte ist bzw. Geschichten sind ein für Außenstehende unzugänglicher Teil des Landlebens, für dessen Verständnis aber essentiell. Das vorliegende Buch wird zum Schlüssel zu diesem Raum. In Moors Text fallen also Wissen über und Zugang zum Raum in eins. Dass der Erzähler in der Lage ist, die Stimmen zu koordinieren, unterstreicht seine Zugehörigkeit sowie Verfügungsgewalt. Zudem werden durch die enge Verbindung von Figuren- und Raumgeschichte erstere zum essentiellen Element ruralen Raums, dieser selbst wird durch die Erzählungen erst zum Sprechen gebracht, hat also eine eigene Geschichte und Wahrheit zu erzählen. Das sich aus Einzelschicksalen zusammensetzende Dorf wird auf diese Weise als vielstimmige Einheit vorgestellt und der Weg in die Dorfgemeinschaft durch Kenntnis ermöglicht, welche dank der Begegnungen des Erzählers überliefert ist. Die Kohärenzbildung zwischen den einzelnen Geschichten der Dorfbewohner bzw. den Erlebnissen des Erzählers erfolgt auf dreifache Weise: durch die übergeordnete Umzugserzählung, die Vorstellung von Dorf und Dorfgemeinschaft als Einheit sowie durch das Wissen über Dorf und Dorfgemeinschaft als unhintergehbares Element des Landlebens. Die Ordnung innerhalb dieses Erfahrungsprozesses wird durch mehrere Sequenzschemata geleistet, die Koschorke als wichtige Funktionen der Narrativbildung identifiziert hat. Was im Einzelnen darunter zu verstehen ist, wird im nachstehenden Abschnitt ausführlich dargestellt.

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1.5 Sequenzierung Durch den episodenhaften Aufbau ist die Umzugserzählung eingebettet in ein ständiges Spiel von Wiederholung und Variation und wird zu einem zyklischen Prozess. Die einzelnen Episoden sind letztlich wiederkehrende Erzählungen davon, wie Moor ankommt, was er lernt und woran er lernt. Das erscheint zirkulär, birgt aber implizit die Behauptung, dass in jeder Episode etwas Neues gelernt wird und erst im Gesamtzusammenhang dieser Erzählungen eine vollständige und wahre Erkenntnis über den ländlichen Raum erlangt sowie dann ein Abschluss des Umzugs erreicht werden kann. Die bei Moor daraus entstehende zyklische Struktur bildet mittels der Variationen den stufenweisen Eintritt in den Raum ab.28 Die einzelnen Geschichten gehen durch den Erwerb von Kenntnis im fortschreitenden Umzugsschema auf, das nicht nur räumlich, sondern auch epistemisch realisiert ist: Die in diesem Schema vereinten Handlungsphasen von Aufbruch, Umzug und Ankommen werden in Nicht-Wissen, Erkenntnis und Wissen übersetzt. Diese zugleich räumliche wie epistemische Struktur ist durch das Zusammenspiel von finiten epistemischen Zuständen, abgeschlossenen Räumen und die teleologische Ordnung der Erfolgsgeschichte von vornherein angelegt. Eine weitere Sequenzierung des Umzugs erfolgt durch das allmähliche Verschwinden des »kleine[n] Schweizer[s]« (WB, 30), das Figur gewordene schweizerische Ordnungs-Gewissen, das Moor seinem Erzähler beistellt. Dieser symbolisiert besonders zu Beginn innere Integrationshemmnisse. Der ›kleine Schweizer‹ wird als innere Widerspruchsinstanz mitgeführt, welche die Entwicklung des Erzählers nicht mitmacht und so die Überzeugungen des epistemischen Anfangszustandes im Erzählverlauf stetig wiederholt. Es handelt sich um eine Kontrastfigur, die zur regelmäßigen Betonung des Entwicklungsverlaufs und der Authentizität des Lernens eingeführt wird. Das Fortschreiten der Entwicklung wird dabei insbesondere durch die abnehmende Frequenz der Einwürfe des ›kleinen Schweizers‹ und Moors wachsender Emanzipation von ihm sichtbar. So heißt es am Anfang noch: »Es ist ein Wettlauf um Territorium: Jedes Millhoff-Ding, dessen wir habhaft werden, ist ein Ding weniger, das wieder in unser – und der kleine Schweizer in mir betont es noch einmal: in UNSER – Haus getragen wird.« (WB, 30) Gegen Ende der Erzählung sind die Einwürfe zwar noch im Text zu finden, werden aber nicht mehr als

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Das Spiel von Wiederholung und Variation ist daher als wichtige poetische Eigenheit des Textes zu bewerten, was auch Lotman als Element literarischer Texte abgeleitet hat: »Die Wiederholung gleichartiger Teile legt die Struktur frei. Wiederholungen aller Art bilden also ein Sinngewebe von großer Komplexität«; Lotman 1972, S. 196. Diese Überlegungen zur Bedeutung der Wiederholung verdanke ich: Flecken-Büttner, Susanne: Wiederholung und Variation als Poetisches Prinzip. Exemplarität, Identität und Exzeptionalität in Gottfrieds ›Tristan‹, Berlin/New York: de Gruyter 2011. S. 15-17.

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Distanznahme zugelassen: »›Du, der hat einfach gleich ›du‹ gesagt, du. Ist dir das aufgefallen?‹, fragte der kleine Schweizer. Nö, war mir nicht aufgefallen.« (WB, 214) Indem die Ausgangssituation stetig in Erinnerung und zunehmend abgelehnt wird, werden den Lesenden die Differenz zum erreichten Zustand und die Entwicklung zum Einheimischen stetig erneut vor Augen geführt. So ist Ankommen auf dem Land durch den Abbau städtischer bzw. hier schweizerischer Vor-Urteile bestimmt. Durch das Verstummen des ›kleinen Schweizers‹ rücken auch der anfänglich betonte Ordnungssinn und Individualismus in den Hintergrund – so wird die räumliche, epistemische und soziale Umzugsgeschichte um eine psychologische Dimension erweitert: Die innere Reifung oder Transformation des Helden ist sowohl ein Effekt des Umzugs als auch ein Beweis des erfolgreichen Ankommens. So wird das für Umzüge notwendige Wissen um Emotionen erweitert. Das dritte und letzte Sequenzschema wird über Naturzeitläufe realisiert, welche die Erzählung auf der Makroebene definieren: Die zweijährige Ankommensgeschichte wird maßgeblich durch die Darstellung der garten- und landwirtschaftlichen Herausforderungen der Jahreszeiten strukturiert, wodurch auch die Form der Erzählung selbst naturalisiert wird. Das ist beispielhaft daran zu erkennen, dass nach der ausführlichen Schilderung des sommerlichen Landlebens der erste dort verbrachte Winter so knapp wie möglich erzählt wird: »Also: Wir hatten unseren ersten Winter in Amerika gut überstanden« (WB, 151). Direkt danach setzt die Schilderung des Frühlings ein. Damit wird das Versprechen einer geschlossenen Darstellung nur oberflächlich aufgegeben, denn diese Leerstelle im Erzählen folgt letztlich aus einer Raumordnung, in welcher der ländliche Raum als idyllischer Ort und als Ort von Lerneffekten erzählt wird. Das folgt zwei Eigenschaften des Raums: Im Winter gibt es auf dem Land wenig ›ländliche‹, sprich: agrarische, Tätigkeiten zu lernen. Zudem folgt Moor, indem der Winter somit selbst zur ästhetischen Leerstelle des Textes wird, den traditionellen Narrativen vom Land als Ort des guten Lebens, in welche Herausforderungen oder Unannehmlichkeiten nicht integrierbar sind. An solchen Leerstellen ist zu erkennen, dass die Behauptung von Natürlichkeit der Erzählung nicht aufgeht. Indem aber eine wahre Geschichte von Landleben erzählt und der Winter als herausfordernder Teil aus dem Landleben ausgeschlossen wird, wird letztlich die idyllische Raumordnung naturalisiert. Trotz der Behauptung von Wissen und Wahrheit werden traditionelle Ein- und Ausschlussverfahren idyllischen Erzählens beibehalten, das Versprechen authentischen Wissens bleibt jedoch. Mit diesem Überblick über die Ordnung der Erzählung wurde das enge Zusammenspiel räumlicher, narrativer und epistemischer Ordnung in der Produktion von ländlichem Raum vorgeführt. Zumindest das letzte Beispiel verdeutlicht aber auch die Bedeutung von traditionellen Narrativen für das Entstehen dieser Ordnungen. Die Bedeutung dieses Schreibens in Tradition soll nun weiter untersucht werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Auswahl, Ordnung und Legitimation der

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erzählten Welt bzw. des erzählten Wissens gelegt wird. In Erweiterung des vorderen Kapitels zu Tradition und Diskurs geht es hier primär um die Frage, wie Natur und ländlicher Raum als Wissensobjekte geschrieben werden.

1.6 Entstehung und Gestaltung des ländlichen Raums als Wissensobjekt Wie also bisher herausgearbeitet wurde, sind die in Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht enthaltenen Bilder vom ländlichen Raum zum einen durch die Rückbindung an die narrativen Traditionen von Dorfgeschichte, Heldengeschichte und Idylle geprägt, zum anderen durch die Verbindung zum gegenwärtigen Diskurs der ›Lust auf Land‹. Zudem wurde verdeutlich, dass trotz dieser vielfältigen Bindung des Textes an Traditionen und Diskurse die Neuheit des erzählten Wissens und des erzählten Raumes ein zentrales Element dieser Erzählung ist. Um die Bedeutung dieser Feststellung genauer herauszuarbeiten, werden nun die hierfür verwendeten Strategien untersucht. Bereits am Anfang dieser Untersuchung wurden einige Implikationen der Umbenennung des realen Werneuchens in das fiktive Amerika genannt, die im Zusammenhang der Produktion von Fremdheit und Wissen jedoch weiter ausgeführt werden müssen: Der Geschichte wird die bekannte Struktur von Kolumbus’ Entdeckung Amerikas eingeschrieben, Brandenburg wird zur ›neuen Welt‹, Moor zum Entdecker, die Bewohner zu ›Ureinwohnern‹. Durch die so schon von Anfang an aufgerufenen Abenteuer- und Heldennarrative ist es von Beginn an möglich, von Fremdheit und Entdeckung zu erzählen, wie bspw. in dieser Bestimmung der Fremde: »[U]nd jetzt macht die Fremde eben das, was sie machen muss: fremd sein! Na und? Dann werden wir uns das Fremde eben zu eigen machen. Zu unserem Ureigenen.« (WB, 32) Der Erzähler wird hier zur aktiven Figur, die den Raum nach eigenen Vorstellungen gestalten möchte. In solchen Passagen wird die narrative Produktion des Wissensobjektes ländlicher Raum direkt verbalisiert: Erst durch die Entdeckung der Fremde wird seine Aneignung möglich. Die so etablierten terra incognita-Narrative werden im weiteren Verlaufe der Erzählung ausgebaut und mit idyllischen Motiven versetzt: ›Ist das nicht wie im Märchen? […]‹ Wir klatschen uns ab und fühlen uns wie die Eroberer einer Galaxie. Als wir auf das freie Feld treten, wähnen wir uns im Paradies: unberührtes Land, so weit das Auge recht. Kniehoch das Wildgras, verstreut darauf uralte knorrige Lärchen. […] Die Weite der offenen Szenerie hat etwas Majestätisches. Etwas Reiches, Sattes und unendlich Friedliches. (WB, 86) Durch das Irreale des Märchens und das Unerreichbare der fremden Galaxie wird die Landnahme zur Übertreibung und so werden die wiederkehrenden Abenteuer-

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und Landnahmenarrative zumindest zeitweise ironisiert. Noch deutlicher wird das am Ende des Textes bei der Bearbeitung des eigenen Ackers: »Eigentlich war ich ein Held, ein Pionier, der unerschrocken sein Territorium erobert, todesmutig bereit, sein Leben zu geben für eine bessere Zukunft dieses Stückchens Erde!« (WB, 233) Das bedeutet aber kein Ende dieser Erzähltradition, eher wird damit ein reflexives Verhältnis zur weitererzählten Geschichte behauptet. In dieser ironischen Wendung steckt eine Erkenntnis des Erwartbaren im Unerwarteten, das ist schon im ersten der analysierten Texte eine relevante Variation der erzählerischen Tradition. Trotz solcher Variationen ist der ländliche Raum letztlich traditionsgemäß: zunächst ein passiver, gleichzeitig aber auch widerspenstiger Ort der Fremde, welcher erst durch Erleben und Erobern angeeignet werden muss. In diese Aufzählung gehört auch, dass der ländliche Raum zum Ort der longue durée wird: Zwar war er bereits besiedelt, jedoch von einer untergegangenen Kultur (DDR), deren Verfall ihm nicht schaden konnte: Mitten in dieser Weite aus unberührter, wild lebendiger Natur dieses gigantische, betonplattengekachelte Band. Die weißen, unterbrochenen Streifen der Mittellinie wie ein sinnentleertes Morse-Gedicht sich in der Ferne verlierend. Statuen gleich, Frau und Mann […], stehen wir aufgereiht am Ende oder Anfang dieses ausrangierten Symbols des Kalten Krieges. […] Wie viel Aufwand, wie viel Geld […] wurde hier investiert! Für das Ende der Welt. Für das Nichts. (WB, 87) Gerade dadurch, dass das begutachtete Land widerständig ist, wird die erfolgreiche Landnahme des Erzählers noch einmal gesondert hervorgehoben. Implizit wird durch diese Gegenüberstellung eine Regel über Landnahmen formuliert, dass sie nämlich den vorgefundenen Raum nicht übermannen darf, sondern nach seinen Regeln formulieren muss. Diese Erkenntnis erwächst aus der am Beispiel des DDRFlughafens dargestellten Vergänglichkeit kultureller Monumente und von Humankultur insgesamt, wodurch die Natur zum einzig möglichen Akteur von longue durée-Erzählungen wird: »›Wir ruinieren zwar unseren Lebensraum, wenn wir so weitermachen, dann haben wir’s eben vergeigt. Aber die Natur, die gibt es auch nach uns noch, die braucht keine Menschheit.‹« (WB, 87) Der Flugplatz wird dabei symbolisch umgewertet, er ist nicht mehr Symbol für Aufbruch, Bewegung und Landnahme, sondern für das Vergehen menschlicher Kultur und Naturzerstörung. So ist dieser ländliche Raum schließlich ein Ort außerhalb menschlicher, kultureller und politischer Ordnungen. Das über ihn gefundene Wissen ist damit auch ein Wissen, welches ein Übersteigen dieser Ordnungen ermöglicht. Die hier geschilderten narrativen Produktionen von Raum und Erkenntnis zielen auf die Neuordnung der Bilder von Landleben und Ländlichkeit, hier als Ort von Dauer, Natur und Widerständigkeit, »der unbesiegbaren Macht beharrlichen Lebens« (WB, 87). Da dieser zentrale Erkenntnismoment in einen Spaziergang durch den neuen Heimatort eingebettet wird, fallen räumliche und epistemische Aneig-

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nung des Raumes in eins: Das Spazieren selbst als eine Form der Landnahme ist zentrales Erkenntnisverfahren. Betrachtet man die traditionelle Bedeutung des Spaziergangs in der Literatur, steckt darin eine weitere Dimension, denn der Spaziergang wird häufig symbolisiert als »ein Weg, auf den sich der ›Bürger‹ begibt, um sich in den ›Menschen‹ zu verwandeln. […] Er führt aus der Gesellschaft in die Natur, und zwar als Akt moralischer Konsolidierung oder Reinigung«.29 Mit Reinigung ist vor allem jene von den bürgerlichen (städtischen) Konventionen gemeint. Diese Funktion erfüllt der Spaziergang auch im untersuchten Text, wenn Moor im Laufe des Spaziergangs die Natur als Landschaft und Weite und damit vom städtischen Blick befreit wahrnimmt. Die in der Flugplatz-Episode zum Ausdruck kommende Entdeckung der Natur und die kulturkritische Perspektive auf das Mensch-Natur-Verhältnis werden weiter ausgebaut, für Moor ist »[d]er Mensch […] ein unverbesserlich ignorantes Tier. Er redet sich erfolgreich ein, dass die Mitwesen dieser Erde es eh genau so wollen, wie es ihm, dem Menschen, am bequemsten ist.« (WB, 91) Kurz darauf erschrickt Moor, weil zwei Laufenten vom Fuchs geholt wurden. Der Schrecken wird durch Wissen um Zusammenhänge der Natur abgefedert, bspw. haben Enten »eingebaute Kompasse, ein Bio-GPS!« (WB, 94) und das Jagdverhalten von Füchsen wird daran anschließend auf einer halben Seite erläutert. Diese Erzählung dient letztlich dazu, das stufenweise erfolgende Eintreten des Erzählers in Naturkreisläufe zu belegen. Und so endet das Kapitel schon beinahe folgerichtig mit einer Reihe von Erkenntnissen über Natur, die durch ihre Einbettung in die Umzugserzählung auch zu Regeln für Umzüge und Landleben erhoben werden: »Ich lerne:/Erstens, der Deal mit dieser Natur heißt: Du kriegst, aber du musst auch geben./Zweitens, vergiss alle Regeln, die da gegolten haben, wo du herkommst. […]/Drittens, fehlende Sorgfalt und Umsicht rächen sich sofort.« (WB, 95) An dieser Stelle ist also das Bild von einer den Menschen überdauernden Natur etabliert, sodass ein Umgang mit diesem Raum eingeübt werden kann. Zunächst wird die Notwendigkeit einer ihm entsprechenden ökologischen Landwirtschaft gefolgert. Dabei knüpft Moor an grüne Narrative an, die eine Orientierung für Leben und Handeln mit den Bedingungen des jeweiligen Raumes bzw. eine »Ökonomie der Instandsetzung«30 in Verbindung setzen. Das Leben im Ländlichen wird als Arbeit vorgestellt, die den Vorgaben des Raumes und den natürlichen Anlagen des Menschen entspricht. Die dafür beschriebenen Ereignisse sind Erfahrungen, die eigentlich Teilhabe erfordern:

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Wölfel, Kurt: Zwei Studien über Jean Paul. II. Kosmopolitische Einsamkeit. Über den Spaziergang als poetische Handlung, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 15, 1980, S. 28−54, hier: S. 29. Backhouse, Maria: Green Grabbing, in: Brunner, Jan u.a. (Hg.): Wörterbuch Land- und Ressourcenkonflikte. Bielefeld: transcript 2019, S. 122-126, hier: S. 122.

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Wer nie bei einer Heuernte dabei gewesen ist, wer nie diese große körperliche Anstrengung in der Sommerhitze durchlitten hat, […] der kann nicht nachvollziehen, wie groß der Jubel ist, wenn das letzte Bund eingefahren wurde und in der nächsten Minute die ersten fetten Regentropfen vom schwarzen Himmel knallen, wie riesig der Stolz jedes Einzelnen auf die eigene vollbrachte Leistung ist. (WB, 180) Dass Moor dennoch versucht, die Erfahrung abzubilden, scheint diesen Text auszuzeichnen. Daran, dass die Regentropfen hier »knallen«, die Sommerhitze »durchlitten« wird und der Stolz »riesig« ist, wird erkennbar, wie die sehr gefühls- und wahrnehmungsbetonte Sprache des Textes genau das leisten soll: ein Nachfühlen des nicht Nachvollziehbaren durch den Erfahrungsbericht. Auch wer noch nie Heu geerntet hat, erhält hier eine Vorstellung davon, welche Effekte es auf einen Menschen ausüben kann. Dabei kann es dann aber nicht mehr um Neuheit des Erzählten gehen, sondern um Authentizität, denn die so dargestellte Einheit von Mensch und Raum sowie die Behauptung des Glücks durch ›natürliche‹ Arbeit sind, wie schon im Traditionskapitel angedeutet wurde, erwartbar: Sie knüpfen nicht nur an Lebensreformbewegung und grüne Narrative an, sondern auch an idyllische und romantische Naturvorstellungen. Auf die so gewonnene Einheit mit dem ländlichen Raum folgt dann zunehmend auch die soziale Einheit, Amerika wird – ganz in der Tradition der von Tönnies vorgenommenen Teilung von städtischer Gesellschaft und ländlicher Gemeinschaft – zu einem Ort von Gemeinschaft. Was da entdeckt werden muss, ist die Wahrheit und Authentizität der traditionellen Versprechen ruraler Räume. Der Beweis ländlicher Gemeinschaft wird zum Zielpunkt der Erzählung, da er durch Erfahrung geprüft werden musste. Danach jedoch kann im Gespräch mit den Dorfbewohnern festgestellt werden: ›Amerika ist viel besser, als ich es mir in meinem Kopf hätte ausmalen können. Ihr seid nicht nur hilfsbereit, ihr helft tatsächlich, wenn Hilfe nottut. Ihr respektiert einander so sehr, dass ihr euch auch vor einem klaren Wort nicht fürchtet. Ihr haltet zusammen. […]‹ (WB, 281) Diese Definition, die klar von den zuvor eher annähernden Beschreibungen abgegrenzt werden kann, wird erst durch den über fast 300 Seiten beschriebenen Erkenntnisprozess möglich. Daran anschließend ist am Ende des Textes auch das Miteinander selbstverständlich geworden: »Wir gingen einfach voneinander weg. Und nahmen das Zusammensein mit uns mit.« (WB, 298) Hier ist das Gemeinschaftsgefühl als Eigenschaft des ländlichen Raums bereits im Individuum inkorporiert, das ist der letzte Beweis des Angekommenseins. Auf diesen letzten Seiten werden nochmal die wichtigsten Besonderheiten des entdeckten Raums zusammengefasst, wenn Moor am Ende die Qualitäten des Landlebens beschreibt:

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Es ist das Ganze. Das Hiersitzen, mit diesen Amerikanern. Die Selbstverständlichkeit dieses Abends. Das Dazugehören. Das Nichts-darstellen-Müssen, keinen Erwartungen entsprechen müssen, einfach nur da sein dürfen. Einatmen, ausatmen, der Rest ergibt sich. Wunderbar. Neu. (WB, 290) Obwohl hier durch »Selbstverständlichkeit« und »Dazugehören« endgültig Normalität des Landlebens behauptet wird, wird die Passage mit »Neu.« Abgeschlossen. Die Normalität im ländlichen Dasein offenbart sich also nicht einfach, sondern muss entdeckt werden und ist daher für Zuziehende als Erkenntnis neu. Diese Erkenntnisgeschichte funktioniert letztlich erst durch das Oppositionspaar Enge versus Freiheit, welches durch die anfängliche Erzählung von Moors Leben in der Schweiz (WB, 56−58) und die Geschichten der Dorfbewohner in der DDR (WB, 60) begründet wurde. Spätestens mit der letztgenannten Stelle ist das Landleben also Normalität geworden. Diese ist auch dadurch gekennzeichnet, dass nun mediale Bilder von Ländlichkeit ausgeschlossen sind, was bereits im oberen Kapitel zu Tradition & Diskurs anhand der Selbstkontrolle Moors gezeigt wurde, wenn es heißt: »Schon wieder Hollywood, weg damit. Weitereggen!« (WB, 233). Hollywood würde nicht über Normalität erzählen, die hier vollzogene Arbeit jedoch ist für Landleben normal, fast nicht erzählenswert. Dass sie hier doch erzählt wird, hebt letztlich auch die eigene Erzählung von traditionellen Erzählungen über Land ab. Hier taugen Helden- oder Abenteuergeschichten nicht mehr zur Darstellung, da sie als ›nicht-normale Fahrten‹ über Abweichung von gesellschaftlichen (narrativen) Normen erzählen, was eine Wertung aus städtischer Perspektive ist. Von hier an wird Normalität nicht mehr an urbanen Maßstäben gemessen, sondern ist auch ein Zustand im ländlichen Raum. Das Leben in ländlicher Normalität wird auf diese Weise zum narrativen, epistemischen und argumentativen Zielpunkt des Textes. Die narrative Darstellung läuft auf einen Zustand der Gewissheit über Land zu, der mit dem Angekommensein im normalen ländlichen Raum und der Befreiung vom symbolischen Ballast realisiert wird. Das wiederum grenzt die Erzählung von medialen Idyllen ab und erweitert sie um eine Behauptung von Authentizität, also eine gesteigerte »Gewissheit«31 des Wissens. Die Auswirkungen solcher ›realen medialen Idyllen‹ auf reale ländliche Räume werden im folgenden Unterkapitel beispielhaft untersucht, in welchem es um die Veränderungen von Moors Heimatort seit seiner Umbenennung in Amerika geht.

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Klausnitzer 2008, S. 26f.

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1.7 (Re-)Figuration des Ländlichen Moors Amerika ist mit dem im brandenburgischen Niederbarnim gelegenen Hirschfelde weitgehend identisch: Auch hier befindet sich in der Nähe des Ortes ein Flugplatz, von dem jährlich ca. 1000 Ultraleichtflugzeuge starten, Moor wohnt dort, aber im realen Dorf Hirschfelde steht in der Mitte des Dorfes keine Pferdestatue wie in Moors Amerika, sondern die einer Hirschkuh.32 In den Jahren 2006/7 haben Moor und seine Frau im Ort den Verein Modelldorf Hirschfelde gegründet, mit dem Sonja Moor einen Demeter-Bauernhof betreibt – dieser Plan wird schon im Buch erwähnt und die Umsetzung dann in der Fortsetzung Lieber einmal mehr als mehrmals weniger (2012) sowie dem Kinderbuch Flo und der Schnüffel-Büffel (2017) erzählt. So ist Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht als erstes Dokument und elementarer Teil der Gründung dieses Modelldorfs zu verstehen. In Reaktion auf die Gründung des Vereins und die damit einhergehenden Veränderungen haben Dorfbewohner das Bürgerforum Hirschfelde gegründet, das sich gegen die als störend empfundene Mediatisierung und Vermarktung des Ortes durch Dieter Moor richtet.33 Die Wirksamkeit der medialen Konfiguration ländlicher Räume fand ihren Ausdruck beispielsweise in ca. 8000 Besuchern bei einem Dorffest, die maßgeblich von Moors literarischen Landbildern angezogen wurden. Die Idylle der im Dorf lebenden Bewohner war damit gefährdet, das von Moor beschriebene dörfliche Gemeinschaftsgefühl zerrüttet. In der Rezeption des Romans kommt es zum dritten Schritt narrativer Sinnstiftung, den Ricœur als mimesis III oder Refiguration bezeichnet hat, demnach kommt [e]rst in der Lektüre […] die Dynamik der Konfiguration an ihr Ziel. Und erst jenseits der Lektüre, in der tatsächlichen Handlung, die bei den überkommenen Werken in die Lehre gegangen ist, verwandelt sich die Konfiguration des Textes in Refiguration.34 In diesem Verständnis hat Moors literarische Konfiguration eine hier sichtbar gewordene Wirkung entfaltet: ein gesteigertes Interesse am Leben auf dem Land und damit einhergehende Umdeutungen. Diese Entwicklung passt nicht mit dem Raumbild einiger Dorfbewohner zusammen und so entsteht ein Nebeneinander heterogener Raumbilder, das in dieser Untersuchung stellvertretend für mögliche 32

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Vgl. Wikipedia: Wikipedia, die freie Enzyklopädie, 2019, URL: https://de.wikipedia.org/w/ index.php?title=Wikipedia&oldid=190628689.https://de.wikipedia.org/wiki/Hirschfelde_ (Werneuchen) [Zugriff am 4.3.2017]. Vgl. Prengel, Heiko: Biobauer sucht Freunde, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 22.9.2012, URL: https://www.pnn.de/brandenburg/moor-und-die-nachbarn-biobauer-sucht-freunde/ 21791678.html [Zugriff am 4.3.2017]. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. III: Die erzählte Zeit, München: Wilhelm Fink Verlag 1991, S. 255.

Moor – Was wir nicht haben

Effekte der Umzugserzählungen steht. Dieser Prozess ist in dem nachfolgend untersuchten Buch von Hilal Sezgin weniger offensichtlich zu erkennen, aber schon in der herauszuarbeitenden Differenz der Raumbilder dieser ersten beiden Erzählungen wird gut nachvollziehbar, welche unterschiedlichen Formen medialer Ländlichkeit in der Unterhaltungsliteratur entstehen können und welche unterschiedlichen Wissensinhalte und -darstellungsformen dafür genutzt werden.

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2. Hilal Sezgins Landleben. Von einer, die raus zog

Hilal Sezgin beschreibt in Landleben. Von einer, die raus zog ihren Umzug von Frankfurt a.M. in »ein typisch norddeutsches Haus aus rotem Backstein, am Rande eines 500-Seelen-Dorfs in der Lüneburger Heide«.1 Auch hierbei handelt es sich um eine autobiographische Erzählung. Sezgin ist 2007, also vier Jahre vor Erscheinen des Buches, nach Barnstedt in der Lüneburger Heide gezogen, wo sie einen Gnadenhof für Tiere begründete. Dort lebt sie als freischaffende Publizistin, Journalistin und Schriftstellerin, zuvor hat sie bei der Frankfurter Rundschau und der Zeit gearbeitet. Die Autorin hat nach Landleben weitere Bücher geschrieben, in denen sie wiederholt auf ihre eigenen Erfahrungen des Landlebens verweist, zu nennen sind Artgerecht ist nur die Freiheit. Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (2014) und Hilal Sezgins Tierleben. Von Schweinen und anderen Zeitgenossen (2014). Diese Bücher ähneln letztlich Landleben insofern, dass hier Sach- und Handlungswissen vermittelt wird, bspw. berichtet Sezgin in den 53 Episoden von Hilal Sezgins Tierleben von Erfahrungen mit (eigenen und auch fremden) Tieren, das so vermittelte Wissen soll zu Respekt vor dem Tierreich anregen. Wie die meisten ihrer Texte ist also auch Landleben zu environmental writing2 oder ökologisch engagierter Literatur zu zählen und steht damit in der Nähe von Texten engagierter Autoren wie Karen Duve oder Jonathan Safran Foer. Landleben repräsentiert in dieser Untersuchungsgruppe also eine Reihe von Büchern, in denen ländliche Räume Orte von verantwortungsbewussten und grünen Lebensweisen sind, und in denen häufig eine ökologische Utopie formuliert

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Sezgin, Hilal: Landleben. Von einer, die raus zog, Köln: DuMont 2011, S. 9. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle LV im Fließtext nachgewiesen. Vgl. zu den Merkmalen des nature writing oder environmental writing: Starre, Alexander: Always already green. Zur Entwicklung und den literaturtheoretischen Prämissen des amerikanischen Ecocriticism, in: Ermisch, Maren/Kruse, Ulrike/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen, Göttingen: Universitätsverlag 2010, S. 13-34, hier: S. 23. Der environmental text betont die Abhängigkeit der Menschheitsgeschichte von der Umweltgeschichte und hält das menschliche Interesse für das nicht einzig legitime. In ihm sei eine ethische Orientierung des Textes erkennbar, prononciert als menschliche Verantwortung für die Umwelt. Umwelt wird als eigenständiger Prozess verstanden, nicht als Konstante oder konstruierte Gegebenheit.

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

wird, wie bspw. in Hier und Jetzt: Mein Bild von einer besseren Zukunft (2020) des Musikers Peter Maffay, der unter diesem Titel einen Bericht über den eigenen Biohof und Möglichkeiten guten Lebens auf dem Land veröffentlicht hat.3 Mehr noch steht Landleben aber für eine Reihe von Büchern über ›Aussteiger‹ auf der Suche nach einem Gegenmittel gegen die Entfremdung der Spätmoderne, so wie es bspw. auch in Jan Grossarths Vom Aussteigen und Ankommen. Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen (2011) oder in den Ratgebern Die Selbstversorgerfamilie. Unser Hof in Schweden – Rezepte für ein einfaches Leben (2020) und 100 % Selbstversorgung!? Unser Weg in die Unabhängigkeit (2017) von Julian und Nadine Haertl thematisiert wird. In ähnlicher Form wie diese zwischen engagierter und Ratgeberliteratur changierenden Texte beschreibt Sezgin, noch mehr als Moor, ihren Umzug als Transformationserzählung. Dafür schildert sie ausführlich, wie sich die Erfahrung natürlichen Lebens und die daraus folgenden Erkenntnisse auf ihr individuelles Leben und Moralempfinden auswirken. Insofern wird die Transformation erst durch eine Erkenntnisgeschichte möglich, markiert wird das, indem schon in der Einleitung beschrieben wird, dass es im Buch um eine Umdeutung des ländlichen Raums vom Ort der Entbehrung der Vorzüge urbaner Lebensweise zum Ort des Gewinns geht (vgl. LV, 11). Dieses Programm wird direkt im Anschluss durch zwei Versprechen über das dafür vermittelte Wissen gestützt: Die Autorin erzählt zum einen bei Städtern verlorengegangenes Wissen (»Ich möchte davon erzählen, […] wie man Schafe schert und Lämmer mit der Flasche aufzieht« (LV, 11)), das gleichzeitig auch authentisches ist (»hinzugedichtet habe ich nichts« (LV, 11)). Die Transformationsgeschichte folgt einer erst im und durch den ländlichen Raum ermöglichten Erkenntnis. In der folgenden Analyse wird daher herausgearbeitet, welche Bedeutung dieser Erkenntnisund Transformationsgeschichte für die in Landleben produzierte imaginäre Ländlichkeit zukommt. In den beiden folgenden Absätzen geht es aber zunächst darum, zu zeigen, wie der auf dem Land vollzogene Erkenntnisprozess das Umzugsgeschehen in Landleben an Bedeutung übersteigt. Ähnlich wie bei Moor wird diese Erkenntnis- und Transformationsgeschichte schon durch die Paratexte des Buches als Erfolgsgeschichte deklariert, indem die Sprecherposition bereits über den Titel und die Gestaltung des Buchumschlags als ›erfolgreich angekommen‹ markiert wird. Schon durch den im Präteritum formulierten Untertitel »Von einer, die raus zog« wird die Abgeschlossenheit der Hand-

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Maffays Stiftung betreibt den Hof hauptsächlich als Ort für traumatisierte Kinder. Der Verlagstext zum Buch beschreibt den Biohof insbesondere als Ort des Ausgleichs zu Umweltzerstörung und neoliberaler Wettbewerbslogik: »Immer mehr Menschen klagen über soziale Kälte, Stress am Arbeitsplatz und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Peter Maffay hat einen Ort geschaffen, der frei ist von Hektik und Leistungsdruck: seinen Biohof Dietlhofen.« Maffay, Peter: Hier und Jetzt: Mein Bild von einer besseren Zukunft. Mit Gaby Allendorf, Köln: Bastei Lübbe 2020.

Sezgin – Landleben

lung betont. Die Wortwahl »raus« folgt einer urbanen Konzeption des Stadt-LandVerhältnisses, welche Land als Außen definiert und so das Zielpublikum in der Stadt verortet. Der Umschlag ist mit dem Foto einer grünen Wiese gestaltet, darauf zwei Beine in Gummistiefeln neben vier Beinen eines Schafes – hier ist bereits eine Einheit der Autorin mit der Natur hergestellt.4 Auch die Bildsprache ähnelt also Moors Bild vom guten Hirten, wobei die Überzeichnung im Falle Moors einen ironischeren Eindruck vermittelt. Und auch der Umschlagstext versichert, dass hier von einer ›echten Landbewohnerin‹ zu lesen ist, demnach lebt Sezgin »als freie Publizistin in der Lüneburger Heide. Dort genießt sie die täglichen Freuden und Anstrengungen des Landlebens.« Auch Sezgin entlastet also ihre Erzählung schon vorab von allen Zweifeln über den Erfolg der Unternehmung und erzählt das Umzugsgeschehen, beginnend mit der ersten Seite des Buches, aus der wissenden Position der Angekommenen. Die so vor Textbeginn etablierte Geschichte vom erfolgreichen Umzug verleiht dem Text eine teleologische Motivation, welche die erfolgreiche Erkenntnisgeschichte trägt. Insofern ist auch dieser Umzug eher als Verlaufsschema des Erkenntnisprozesses relevant. Die Erkenntnis der Möglichkeiten guten Lebens auf dem Land übersteigt das Verlaufsmodell ›Umzug‹ dabei schnell an kohäsiver Kraft, sodass der Umzug als eher psychologisches denn topologisches Ereignis erzählt wird, als »Metamorphose von der Stadtpflanze zum Landei« (LV, 12). Dass die auf dem Land gewonnenen Erkenntnisse für diese Transformation notwendig sind, ist immer wieder an im Rückblick formuliertem Regelwissen abzulesen, bspw.: »Alles Erträumte ist anders, und meist schöner und glatter als die Realität. Etwas in die Realität umzusetzen heißt auch das Traumbild verlieren.« (LV, 12) So wird auch hier das schon in der Analyse von Moor herausgearbeitete Schema vom ›Ende der Täuschung‹ etabliert, das insbesondere für Erkenntnis- und Abenteuergeschichte prägend ist, aber auch in Ratgeberliteratur eine besondere Rolle spielt. In diesen Vorbemerkungen wurde bisher die Vermutung herausgearbeitet, dass es auch in Landleben letztlich nicht um einen Umzug geht, sondern um Wahrheit über Land und eine an dieser Wahrheit entlang erzählte Erkenntnis über Menschen und Umwelt. Wie diese Wahrheit aber erzählt wird und wie die Erkenntnisgeschichte den ländlichen Raum letztlich strukturiert, wird in der nun folgenden Analyse untersucht.

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Das Umschlagbild ist ein Stock-Foto aus dem Bildarchiv von Getty Images, Quelle auch für die Gummistiefel auf Alina Herbings Niemand ist bei den Kälbern (URL: https://www.gettyim ages.de/detail/134474130 [Zugriff am 9.7.2020]). Die Bilder müssen also nicht authentisch sein, aber Motive verwenden, die Authentizität versprechen.

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

2.1 Inhalt und Struktur Die paratextuell etablierte Erfolgsgeschichte wird in Vor- und Nachwort fortgeschrieben, wobei deren Benennung als »Statt eines Vorworts« (LV, 9) bzw. »Statt eines Schlusses« (LV, 263) die Zuordnung explizit unterläuft, formal und inhaltlich die Konventionen jedoch erfüllt. Dieses Ausweichmanöver ist also letztlich ein Formspiel, welches die Aufmerksamkeit für die Texte erhöht.5 Das Vorwort gibt einen Rückblick auf die Zeit des Entschlusses für den Umzug, ebenso wie einen programmatischen Vorausblick auf den zu erwartenden Inhalt und eine Einschätzung aus der Position der Angekommenen: »Inzwischen lebe ich seit vier Jahren hier, lange genug, um sagen zu können: Ich habe hier viel Schönes erlebt, und einiges Schwere auch – hier bin ich zu Hause. In diesem Buch möchte ich zurückblicken« (LV, 11). So werden Anfangs- und Endzustand als die finiten Zustände vorgestellt, zwischen denen die Erzählung vermittelt, und der Beweis für den Erfolg des Umzugs verfestigt. Das Nachwort erzählt den Umzug insbesondere als Entwicklungsgeschichte, wenn Sezgin feststellt, dass sie »in vielen […] Hinsichten […] erst durch den Umzug aufs Land gewachsen« (LV, 264) ist. Vor- wie Nachwort erfüllen damit die von Genette als prototypisch bestimmte Funktion, »eine gute Lektüre des Textes zu gewährleisten«,6 also eine Lektüre im Sinne der Autorin. Das Ende der Täuschungen und die Erkenntnis der echt-ländlichen Realität werden dann auf 268 Seiten in 15 Kapiteln erzählt, in denen Ankommen und Landleben episodenhaft geschildert werden. Die Überschriften der Kapitel geben zunächst keinen Hinweis auf den Verlauf des Umzugs, sondern fassen den Inhalt der Kapitel in Kurzformeln zusammen, welche eher eine Unterhaltungs- als eine Orientierungsfunktion erfüllen, bspw. »Gummistiefel-Alarm« (LV, 50), »Ode an die Brennnessel« (LV, 115), »Das Reh, das die Abendnachrichten liebt« (LV, 146) oder »Diese Welt gehört den Gänsen« (LV, 167). Der Unterschied zu Moor ist auffällig, da bei Letzterem die Erzählung mehr den organisatorischen Schritten des Umzugs bzw. Ankommens auf dem Dorf folgt, wohingegen hier Wissen über Natur und (gutes) Leben auf dem Land im Mittelpunkt steht, die Erzählung also mehr durch ein ökologisches Entwicklungsnarrativ strukturiert ist. Der Umzug wird als andauernder Erkenntnisprozess erzählt, der aus einzelnen Erlebnissen, Beobachtungen und Erkenntnissen 5

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Vgl. Genette 1989, S. 222. Dabei handelt es sich letztlich um eine spielerische Absage an die Tradition, hier insbesondere des Sachbuchs, in der häufig allographe Texte von Autoritäten des Faches beigegeben werden. Genette versteht in seiner Untersuchung zu Paratexten das Vorwort aber einfach als »alle Arten von auktorialen oder allographen Texten (seien sie einleitend oder ausleitend), die aus einem Diskurs bestehen, der anlässlich des nachgestellten oder vorangestellten Textes produziert wurde«; ebd., S. 157. Zur Bedeutung des Vorworts in Sachbüchern vgl. auch das Kapitel Gérard Genettes Funktionstypologie des Vorworts in: Schreiber 2015, S. 48−52. Ebd., S. 191.

Sezgin – Landleben

zusammengesetzt ist, was beispielhaft an einem Vergleich städtischer und ländlicher Bedeutung von Heu zu sehen ist: In Frankfurt hatte ich ein Schaumbad mit Heuduft gehabt, aber nie darüber nachgedacht, wie Heu wirklich riecht. Erst jetzt verstand ich, dass frisches Heu einen zarten blumigen Duft hat. Und wenn man Schafe hat, vierzig potentiell hungrige Schafe, freut einen der Duft des Heus im eigenen Stall wie der von aufgebrühtem Kaffee oder frisch gebackenem Brot. (LV, 116) In diesen Schilderungen werden die früheren städtischen Lebensweisen als Vergleichswert herangezogen, wodurch eine Entwicklung zwischen zwei epistemischen Zuständen erzählt wird. An dem Beispiel ist ebenso erkennbar, wie eng die Schilderung von Erfahrungen mit der von Empfindungen und Gefühlen kombiniert wird, um einen Eindruck von Landleben zu produzieren. Anhand dieser ersten Beobachtungen fällt bereits auf, dass es um eine Geschichte von der Wandlung der Autorin geht, hervorgerufen durch den Umzug von der Stadt aufs Land, im Text sind das zwei finite Zustände und Raumkonfigurationen, die durch einen Lernprozess verbunden werden. Vor der Analyse dieser Erkenntnisgeschichte werden nun die dadurch verbundenen Räume analysiert.

2.2 Raumkonfigurationen Mehr noch als in Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht wird durch den regelmäßigen Rekurs auf städtisches Leben ein Negativbild der Stadt gezeichnet, welches das Leben im ländlichen Raum mitdefiniert. Das geschieht beispielsweise, wenn Sezgin schreibt, sie habe [i]n der Stadt […] darunter gelitten, nicht in die Natur zu können, nicht mit den Händen zu arbeiten, keine Tiere um mich zu sehen. Seitdem ich all das hatte, fühlte ich mich wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser. Hätte man es mir wieder weggenommen, hätte mir etwas Lebenswichtiges gefehlt. (LV, 64) Durch das Motiv des Leidens an der Stadt wird eine kulturkritische Erzählung etabliert und direkt im Anschluss wird die heilsmäßige Dimension des Landlebens betont.7 Der rurale Raum wird erst im Kontrast zum Ort mit lebensveränderndem Potenzial und zugleich wird eine naturgemäße Einheit von Mensch und Raum impliziert: Erst der zum Individuum passende Raum erlaubt es, eine ihm entsprechende Lebensführung zu erreichen. Aus diesem Leiden an der Stadt folgt der Umzug dann 7

Das Leiden an der Stadt hat Andreas Freisfeld in seiner Studie Das Leiden an der Stadt: Spuren der Verstädterung in deutschen Romanen des 20. Jahrhunderts (1982) als wichtigen Topos der Literatur des 20. Jahrhundert herausgearbeitet.

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

notwendig. Die Ablehnung urbanen Lebens wird im weiteren Handlungsverlauf situativ semantisiert, wobei Sezgin die Stadt schon im Vorwort als Ort andauernder Verfügbarkeit benennt. In diesem Zusammenhang stellt sie z.B. über den städtischen Freundeskreis fest, alle fühlten sich »von potentiellen Terminänderungen persönlicher oder beruflicher Art […] bedroht« (LV, 10), und identifiziert den Raum so mit ›Fehlen von Geselligkeit‹, ›Fehlen von Verbindlichkeit‹ und ›ständiger Überreiztheit‹. Im Verlauf der Erzählung wird die Stadt dann noch zum Ort von Passivität, denn Sezgin war »[b]is vor zwei Jahren […] der Couch potato par excellence gewesen« (LV, 66). Um die darin enthaltene Ablehnung zu ermöglichen, wird die Stadt am Beginn der Erzählung noch zum gesellschaftlichen Normalzustand erklärt, von dem eine Abweichung vollzogen wird. Das wird explizit gemacht, wenn Sezgin ihrer Umzugsgeschichte eine Art konsum- und kulturkritisches Forschungsprogramm einschreibt, denn sie »möchte fragen, wie ein Leben ohne allgegenwärtige Plakatwände, ohne samstägliches Shopping, ohne Verabredungen bei Starbucks aussieht – und wie weit es überhaupt möglich ist, aus der Konsummaschinerie auszusteigen.« (LV, 23) Stadt und Konsum werden gleichgesetzt, das wird an späterer Stelle verstärkt, wenn die Anonymität und die ständige Verfügbarkeit von Konsummitteln als Charakteristika für das von Passivität geprägte Stadtleben herangezogen werden (vgl. LV, 69). Diese Konzeption von Stadt dient als Ausgangspunkt des Umzugs, da durch sie die Notwendigkeit einer anderen Lebensweise bewiesen wird. Und die enge Verbindung von Stadt und Konsum macht die Umzugserzählung zur ökologischen Aussteiger-Erzählung. Das ist auch daran zu erkennen, dass der Konsum von Fleisch und Nahrungsmitteln aus industrieller Massentierhaltung immer wieder als städtische Lebensweise konnotiert werden, um dann mit Möglichkeiten artgerechter Tierhaltung auf dem Land kontrastiert werden zu können (vgl. LV, 234-239). Schon durch diese angedeuteten Gegensätze wird die Grenze zwischen Stadt und Land verfestigt und damit die Leistung vergrößert, die Sezgin beim Überschreiten dieser Grenze erbringen muss. Die darin enthaltene Figuration des ländlichen Raums als zu erobernder Ort wird im Laufe der Erzählung fortgeschrieben, was u.a. durch Anthropomorphisierungen geschieht, für Sezgin wirkte »[e]s […] beinahe, als rebelliere das Haus gegen seine neue Bewohnerin.« (LV, 68) Noch etwas früher liefert Sezgin eine ausführliche Definition von Landleben, in welcher dieses bestimmt ist als ein unmittelbares Ausgesetztsein: dem Wind, dem Wetter und den Jahreszeiten; der Kampf mit sperrigem Material, das Ringen mit wild lebenden Tierarten, die Haus und Garten (zurück-)erobern wollen; die Nähe und teilweise stupende Fülle von Nahrungsmitteln, die Möglichkeit von Ernte und Sammeln, die einen dankbaren Städter wie mich immer wieder fasziniert und überrascht. (LV, 44f.)

Sezgin – Landleben

Trotz (oder aufgrund, die Herausforderungen haben Kehrseiten) aller Widerstände ist der ländliche Raum aber auch hier schon idyllisch, denn er ist bestimmt durch einen »Mangel an Menschen und eine Fülle an Tieren und Grün« (LV, 44.). Die Konfiguration eines widerspenstigen idyllischen Raums ist eine maßgebliche Bedingung der dann etablierten Helden- und Entwicklungsgeschichten. Mit dem Kampf und dem Ringen wird der notwendige Überwindungswille betont – für diesen Gang aufs Land braucht es nicht nur theoretisches Wissen, sondern auch einen bestimmten Charakter, Kompetenzen und praktisches Wissen.8 Unter Berücksichtigung der zuvor etablierten Figuration urbaner Normalität wird die Umzugserzählung also vielmehr zu einer Erzählung über das Verlassen einer Normalität und die Etablierung einer neuen. Das wird insbesondere dadurch geleistet, dass die Autorin Landleben als die natürlichere, dem Menschen entsprechende Lebensform einführt, was bspw. durch die Kontrastierung städtischer Geselligkeit gegen »die größere Aufmerksamkeit und den individuellen Entfaltungsraum auf dem Land« (LV, 267f.) zum Ausdruck kommt. Als Beleg dieser Natürlichkeit von Landleben wird auch eine spezifisch rurale ›Raumzeit‹ diagnostiziert, wenn Sezgin feststellt, »die Zeit vergeht eben anders auf dem Land; der Tagesverlauf zeigt sich an der Sonne, am Erwachen und Fressen der Tiere, an ihren Ruhepausen und ihrem abendlichen Kommen und Gehen.« (LV, 82) Das erinnert an die Naturzeitläufe idyllischen Schreibens. Doch auch dieser Ausschlag ins Idyllische wird am Kapitelende abgefedert: »ich schummele natürlich: Schließlich verbringe ich den halben Tag vorm Computerbildschirm, der mir unten rechts die Zeit anzeigt.« (LV, 82) Indem sie die eigene idyllische Darstellung mit einem realistischen Eingeständnis konterkariert, wird die Darstellung des schönen Landlebens aber nicht abgeschwächt, sondern gewinnt an Authentizität. Das ist die entscheidende Strategie zur Etablierung einer neuen ländlichen Normalität. Die zentrale erzählenswerte Eigenschaft ländlicher Räume ist dann die Potenz, eine im urbanen Leben verlorengeglaubte, natürliche menschliche Lebensform wiederentdecken zu können. Das wird insbesondere dann ersichtlich, wenn Sezgin diese Entwicklung nicht nur an sich, sondern auch an anderen Figuren beschreibt, bspw. ihrer Hamburger Freundin Bettina […], die hier draußen auf dem Land ganz neue Seiten von sich zeigte. Bisher kannte ich sie als jemanden, der stets einen guten Weißwein und eine Palette köstlicher Vorspeisen zur Hand sowie für jede Party das per8

Die Unterscheidung theoretischen und praktischen Wissens folgt Tillmann Köppes Definition: »Analog zu theoretischem Wissen, das eine Antwort auf die Frage ›Was ist der Fall?‹ darstellt, antworten wir mit dem Erwerb praktischen Wissens auf die Frage ›Was soll ich tun?‹ oder, in ihrer grundsätzlichen Form, auf die Frage ›Wie soll ich leben?‹« Köppe, Tilmann: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke, Paderborn: Mentis 2008 (explicatio), S. 157.

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fekte Outfit hat. Doch in ebendieser Bettina schlummert auch ein echter Landmensch, ich würde fast sagen: ein Hütehund. (LV, 171) Und auch Sezgin selbst stellt beim Kümmern um Schafe fest, sie habe »das Gefühl, noch nie vollständiger, noch nie mehr der Mensch gewesen zu sein, der ich sein sollte.« (LV, 90) Auf diese Weise erfolgt eine stetige Neudefinition von Normalität, die mit der Erkenntnis einhergeht, dass nur der ländliche Raum zu den Anlagen und Eigenheiten des Menschen passt und dementsprechend anthropologischer Normalzustand sein sollte. In dieser Darstellung »berühren« ländliche Lebensweisen »etwas, […] das eben auch Teil des menschlichen Wesens ist; dessen Entfaltung den meisten von uns wohltut, vermutlich sogar unersetzlich ist.« (LV, 268) Hier sind Erzählstruktur, Raum- und Menschenbild so miteinander verknüpft, dass die urbane Kultur mit einer Entfremdung einhergeht, gegen die die individuelle Erfahrung im Naturraum gehalten werden muss. Der Gang aufs Land wird so zu einer Art Wiederentdeckung des Menschen. Durch diese Kontrastierung und Abgrenzung städtischer und ländlicher Räume wird der Umzug als ein Bruch im Leben figuriert, als eine Neuordnung von Werten und die damit verbundene Möglichkeit, das eigene Leben zu ändern bzw. zur eigenen Bestimmung zu gelangen. Der ländliche Raum wird zum bestimmenden Element dieser Erfahrung, der Umzug zum Auslöser und Erkenntnisweg der ethischen und ästhetischen Neudefinition. Darin steckt ein Verständnis von Räumen, in welchem die spezifischen Bedingungen eines Ortes in der Lage sind, auf das menschliche Subjekt zu wirken. Diese Merkmale der Raumkonfiguration sind ebenso wie die Umzugserzählung die Kernpunkte der in Landleben enthaltenen Erkenntniserzählung: Wissen meint hier die auf dem Land erworbenen Praktiken, die zurück zu einer Einheit von Mensch und Natur führen. Durch die enge Verbindung von Wissen über Land und Wissen über Menschen wird ersichtlich, dass diese Spezialform des Schreibens über Land mehr auf praktisches denn theoretisches Wissen zielt, also die Beantwortung der Frage, wie gutes Leben möglich ist, über die Beantwortung der Frage gestellt wird, was denn ›das Land‹ eigentlich sei. In Landleben sind beide Fragen jedoch nicht unabhängig voneinander zu beantworten, was dieses Buch in den Kontext der »ethopoetischen Literatur« setzt, also derjenigen Literatur, »die verhaltensformende Intentionen und Wirkungen hat.«9 Durch die Semantisierung ländlicher Räume als Orte (moralisch) guten Lebens und im Zusammenspiel mit Sezgins weiteren Büchern ist dieser Text nicht nur ökologisch konzipierter, sondern auch engagierter Literatur zuzurech-

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Helmstetter, Rudolf: Die Tunlichkeits-Form. Zur Grammatik, Rhetorik und Pragmatik von Ratgeberbüchern, in: Niehaus, Michael/Peeters, Wim (Hg.): Rat geben. Zur Theorie und Analyse des Beratungshandelns, Bielefeld: transcript 2014, S. 107-132, hier: S. 111.

Sezgin – Landleben

nen.10 Um die Auswirkungen einer solchen Poetik zu verstehen, wird nachstehend gefragt, was konkret mit dem guten Leben auf dem Land gemeint und welches Wissen hierfür notwendig ist.

2.3 In die Natur Das ›gute Leben‹ wird im Laufe der Erzählung als Miteinander mit Tieren, Umgang mit Natur sowie Reduzierung der eigenen umweltzerstörenden Verhaltensweisen definiert. Die Notwendigkeit solcher Lebensweisen wird von der Protagonistin erst während des praktischen Vollzugs echten Landlebens erkannt, worin der oben angesprochene Experiment-Charakter der Umzugserzählung zum Ausdruck kommt. Die so gewonnene Erkenntnis ist ein Entdecken bzw. Wiederentdecken der Natur als ökologisches System mit einem den menschlichen Bedürfnissen gleichberechtigten Wert. Ähnlich wie bei Moor wird diese zentrale Erkenntnis des Textes durch eigene Erlebnisse sowie durch Anleitung der Dorfgemeinschaft erworben. Letztere wird auch hier lediglich ausschnitthaft durch einzelne Nachbarn, den Tierarzt sowie einige randständig erwähnte Dorfbewohner repräsentiert. Als relevante Wissensspeicher und Erfahrungsträger kommen Tiere und Natur hinzu. Beispielsweise erzählt Sezgin in dem Kapitel »Diese Welt gehört den Gänsen« (LV, 167) davon, wie schwierig es ist, abzuwägen, welches kranke Tier aufgenommen und behandelt werden soll. Das Kapitel beginnt direkt mit einer moralischen Reflexion: Auch für mich selbst stellte sich immer wieder die Frage, was es eigentlich heißt, meine Tiere ›gut‹ zu behandeln: Wie gut sollte das eigentlich sein? Der dreimalige Besuch des Habichts hatte mir gezeigt, dass es aufwendig werden würde, den Hühnern Freiheit zu schenken und Sicherheit. (LV, 167) Indem die moralische Frage an individuelle Erfahrungsmomente geknüpft wird, wird der erfahrungsbasierte Erkenntnisbegriff der Erzählung offenbart. Im Laufe des Kapitels wird das eigene Verhalten mal durch Tierärzte bestätigt (vgl. LV, 169), von Freundinnen aus der Stadt unterstützt (vgl. LV, 170-173) oder durch die Erfahrung der Nachbarn gelenkt: Ihr Vater erinnerte mich allerdings daran, dass das auf Dauer vielleicht eine Strapaze für Esmi war. ›Du hast mehr für dieses Tier getan, als jeder andere getan hätte‹, sagte er wörtlich, ich habe die Sätze bis heute im Ohr. ›Aber man muss auch wissen, wann man es nur noch für sich tut und das Tier damit quält. Zehn Tage, länger solltest du es nicht probieren. (LV, 181f.)

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Zur Differenzierung von ökologisch konzipierter und ökologisch engagierter Literatur vgl. Zemanek 2018, S. 10.

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Zwar gibt es im Verlauf und den Mitteln der Erkenntnis Ähnlichkeiten zu Moors Erzählung, der in Landleben entdeckte Raum ist aber nicht mehr primär Raum von Individualität und Gemeinschaft ist, sondern der Einheit von Mensch und Natur sowie moralischer Erkenntnis. Damit steht dieser Gang aufs Land in der narrativen Tradition des nature, rural oder enrivonmental writings.11 Insofern überrascht es auch nicht, dass im Text mehrfach auf Henry David Thoreaus Walden verwiesen wird, bspw. durch ein dem Text vorangestelltes Zitat: Wir müssen von Zeit zu Zeit in Sümpfen waten/[…] Wir streben ernsthaft/danach, all diese Dinge zu erforschen und kennen-/zulernen, und verlangen doch gleichzeitig, dass/alles geheimnisvoll und erforschlich bleibe […]/Niemals können wir genug Natur bekommen. (LV, 5) Die Bedeutung dieses wiederholten Bezugs auf Walden erschließt sich erst nach einer etwas ausführlicheren Lektüre des Intertextes. Walden ist Thoreaus Bericht über den Versuch, abseits der Zivilisation zu leben. Und wenn Sezgin schreibt, sie »möchte […] davon erzählen, […] wie es ist, allein im letzten Haus am Waldrand zu leben« (LV, 11), dann ist die Parallele zu Thoreaus Leben am einsamen Walden Pond unübersehbar. Der vielzitierte Bericht ist einer der ersten Texte, in denen die Pastorale in Hinsicht auf eine ökologische Fragestellung ausgeweitet wird, da Thoreau die Auswirkungen der beginnenden Industrialisierung auf Natur und Landleben reflektiert und das Ziel formuliert, »ein Wort für die Natur zu sprechen«.12 Wie deutlich später auch Sezgin es in oben genanntem Zitat machen wird, schreibt schon Thoreau der Natur eine den Menschen motivierende und antreibende Wirkung zu: Das Leben in unserem Dorf würde erlahmen, wären nicht ringsum die unerforschten Wälder und Moore. Wir brauchen die Wildnis als Stärkungsmittel, müssen manchmal durch ein Ried stapfen […]. Wir sind bestrebt, alles zu erforschen; gleichzeitig aber ist es uns ein Bedürfnis, dass alles geheimnisvoll und unerforschlich sei […]. Natur können wir nie genug haben. […] Es ist uns ein Bedürfnis, mit anzusehen, wie unsere eigenen Grenzen überschritten werden, wie Leben sich ungehindert entfaltet, wo kein Mensch je hinkommt.13

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Eine Tradition, die um das »Aufspüren der vielfältigen Korrespondenzbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt, geistiger und materieller Welt« bemüht ist; Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans, Tübingen: Niemeyer 2002 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 63), S. 16. Der Begriff des rural writing findet sich bereits in dem 1994 erschienenen Band Writing the Rural: Five Cultural Geographies. Vgl. ebd., S. 177. Thoreau, Henry David: Walden oder Vom Leben im Wald, überarbeitete Neuausgabe, München: Manesse 2020, S. 512f.

Sezgin – Landleben

Wie bei Sezgin wird die Natur zum Wissensobjekt, das gerade durch seine Fülle ein immer unerforschter Wunsch- und Zielpunkt bleibt. Mit dieser Sichtweise auf Natur und ländlichen Raum wurden Thoreaus Walden, in dem das Leben in einer einfachen Holzhütte beschrieben wird, zum Prätext aller Aussteiger-Erzählungen bis in die Gegenwart.14 Eine weitere Ähnlichkeit ist in dem Aussparen der Entstehensbedingungen der jeweiligen Texte zu sehen: Bei der Lektüre von Sezgins Landleben fällt auf, dass die finanziellen Bedingungen eines solchen Umzugs und das Geldverdienen nur randständig erzählt werden, und auch Thoreau hat die ökonomischen Bedingungen seines Aussteigens – wie die finanzielle Unterstützung durch seinen Freund und Förderer Ralph Waldo Emerson – nur sehr randständig formuliert.15 Durch die Verwendung von Walden als Prätext stellt Sezgin ihren Text also in die kulturgeschichtliche Tradition von Aussteigererzählungen, kultureller Ökologie und nature writing. Ihren Umzug begründet die Autorin dann von Beginn an auch ganz im Sinne dieser Ausrichtung: »Ich wollte raus aus der Stadt, ich sehnte mich nach Platz und Weite, hatte einen regelrechten Durst auf Grün.« (LV, 13) Wenn Sezgin also ›das Land‹ als Ort der Selbstverwirklichung, der Einheit mit der Natur und des ökologischen Miteinanders jenseits des Konsums bestimmt, schließt das an Thoreau an, der etwas allgemeiner feststellt: Selbst in diesem verhältnismäßig freien Land sind die meisten Menschen aus bloßer Unwissenheit und Verblendung so von künstlichen Sorgen und von überflüssiger Schwerarbeit beansprucht, dass sie nicht dazu kommen, die feineren Früchte vom Baum des Lebens zu pflücken. […] Wie kann er wachsen, indem er sich seiner Unwissenheit entsinnt, wenn er dauernd seine Kenntnisse anwenden muss?16 Im Vergleich zu Thoreau distanziert Sezgin sich von transzendentalen Positionen und beschränkt sich auf die Beschreibung der praktischen Alltagsgestaltung auf dem Land. Beispielsweise verspricht sie im Vorwort, darüber zu schreiben, »wie es ist, ein Landhaus voller Gäste und Gummistiefel zu haben, wie Hühner auf Biohöfen leben, wie man Schafe schert und Lämmer mit der Flasche aufzieht.« (LV, 11) Wie bereits oben gezeigt wurde, führt jedoch genau dieser Vollzug ruraler Praktiken dann zur (transzendentalen) Erkenntnis des eigentlich Menschlichen im ländlichen Raum. Anders als bei Thoreau ist hier aber nicht mehr nur Natur die 14

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Zu den gegenwärtigen Parallelen zur Industrialisierung und Globalisierung sowie der daraus folgenden Aktualität von Thoreaus Walden vgl. Thomas, Craig: Sustainability and the American Naturalist Tradition. Revisiting Henry David Thoreau, Aldo Leopold, Rachel Carson, and Edward O. Wilson, Bielefeld: transcript 2018, S. 52f. Vgl. Kelleter, Frank: Ecology/Economy. Henry David Thoreau geht spazieren, in: Ermisch, Maren/Kruse, Ulrich/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen, Göttingen: Universitätsverlag 2010, S. 177-192, hier: S. 189-191. Thoreau 2020, S. 10f. Wie oben bereits zitiert, möchte Sezgin wissen, »wie weit es überhaupt möglich ist, aus der Konsummaschinerie auszusteigen.« (LV, 11)

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Unbekannte, sondern das Leben in ländlichen Räumen insgesamt, das schließt die Dörfer, aus denen Thoreau noch auszog, mit ein. Bei aller Ähnlichkeit der Texte hat sich zumindest die Raumkonfiguration geändert: War bei Thoreau Natur noch der natürliche und zu entdeckende Außenraum der Dörfer, erfüllt diese Funktion für Sezgin der nicht-großstädtische Raum. Der wiederkehrende Rekurs auf Walden dient also nicht nur der Anbindung an kulturell etablierte Erzähltraditionen, sondern auch als Vorbild für Erzählung und Raumkonfiguration. Zudem wird von Thoreau eine Aussage über das epistemische Potenzial von Landleben übernommen: Den fremden ländlichen Raum zu erkennen, beinhaltet immer auch ein Potenzial für die Frage nach dem guten Leben. Da aber nicht jeder das dafür notwendige Experiment, den Gang aufs Land, durchführen kann, berichtet Sezgin beispielhaft von ihren Erfahrungen, um so den ihr ermöglichten Erkenntnisprozess mit anderen zu teilen. Diese Deutung des Schreibens über Naturerkenntnis als ›Service am Leser‹ ist auch bei Thoreau angelegt, der die Notwendigkeit, Walden zu verfassen, an das Interesse seiner Mitmenschen knüpft: Ich würde den Leser nicht mit meinen Angelegenheiten behelligen, hätte man mir nicht so eingehende Fragen zu meiner Lebensweise gestellt, Fragen, die manchen vielleicht ungehörig, mir in Anbetracht der Umstände aber durchaus natürlich zur Sache gehörig vorkommen.17 Der Raum diktiert also die Inhalte des Buches selbst. Sezgin schreibt also, ihrem vorangestellten Motto aus Walden folgend, den Umzug als Weg in die Natur, als ökokritische Aussteiger-Erzählung, als individuelle Entwicklungsgeschichte und als Erfahrungsbericht. Doch die narrative Gestaltung folgt einem allgemeineren Schema: Wie bei Moor ist auch dieser Text durch die Betonung von Erfolg und Veränderung an dem Handlungsschema der Romanze orientiert, der Umzug wird zur Erlösungsgeschichte bzw. zur Erzählung über die Selbstfindung der Heldin. Die im ländlichen Raum vollzogene Menschwerdung hängt letztlich an der Erkenntnis über den ländlichen Raum, die aber nicht einfach zu erlangen ist. Nachdem herausgearbeitet wurde, dass Wissen auch im Zentrum dieser Erzählung vom Gang aufs Land steht, wird im folgenden Abschnitt untersucht, welches Wissen in diesem Zusammenhang gemeint ist, wie es geordnet und präsentiert ist.

17

Ebd., S. 5.

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2.4 Landwissen, Regelwissen und Authentizität Mit dem bisher nachgezeichneten narrativen Programm erhält Landleben eine mehr persuasive denn unterhaltende Funktion, ist also mehr Ratgeber als Moors Text, der zur Unterhaltungsliteratur tendiert. Doch gerade von dieser Art der Gebrauchsliteratur wird Landleben immer wieder abgegrenzt, wenn Sezgin betont, dass die wiedergegebenen Erfahrungen deutlich über das Wissen der Ratgeber hinausgehen. So liest sich das Einfangen und Versorgen junger Schafe »im Schafsratgeber einfacher, als es mit einer eilig flüchtenden Schafherde tatsächlich ist.« (LV, 91) Zum Beweis schließen an diese Feststellung ausführliche Schilderungen des Einfangens von Schafen an, die Schafe werden dabei regelmäßig mit ihren Namen benannt, was sowohl Verbundenheit mit der Natur als auch Authentizität der Erfahrung beweisen soll (vgl. LV, 91-98). Darin sind Regeln des Schreibens über ländliches Wissen enthalten: Der eher überblicksartige Erkenntnismodus der Ratgeberliteratur kann den Gang aufs Land nicht erfassen, der subjektive Erfahrungsbericht hingegen schon. Dieser inhaltlichen Abgrenzung zur Ratgeberliteratur entspricht auch ein ständiger Wechsel der Darstellungsmodi: Der Erwerb von Wissen über Land mal als Erfahrungsgeschichte erzählt, mal als Ergebnis von Begegnungen, mal in allgemeinen Reflexionen über (gutes) Landleben oder aus Regeln abgeleitet, die zumeist aus den Erfahrungsberichten oder Reflexionen folgen. Wichtig ist, dass das gelieferte Wissen so immer begründet ist, entweder durch individuelle Erfahrung oder durch objektivierende Moralvorstellungen. Einige Wissenselemente bedürfen hingegen keiner Begründung, was an Sezgins Feststellungen über das soziale Miteinander im Dorf beispielhaft abzulesen ist: Eine zentrale Bedingung für das Gelingen heutiger Dorfgemeinschaften ist, dass genügend Arbeit vorhanden ist, um Abwanderung und Ausdünnung vorzubeugen. Hinzu kommt der nicht zu unterschätzende Einfluss von Schlüsselfiguren vor Ort (LV, 79). Ähnlich erfolgt die Angabe von Kriterien für die Auswahl eines neuen Wohnortes: Während die Suche bei Moor als zufällig beschrieben wurde, werden hier politische Wahlergebnisse und die geographische Lage als wichtige Kriterien guten Lebens auf dem Land definiert (vgl. LV, 26-29). Durch ihre Formulierung als feststehendes Regelwissen wird diesen Kriterien gleichzeitig der Stellenwert einer objektiven Wahrheit eingeschrieben. Für dieses Wissen bedarf es daher auch keiner Quellen, es ist sowohl aus der ländlichen Wirklichkeit abgeleitet als auch durch eingangs deklarierten Erfolg der Umzugserzählung und das anhängige Versprechen autorisiert: Wer da schreibt, hat Kenntnis. Auch da hängen die Erzählungen von Umzug und Erkenntnis also eng zusammen – wie genau dieser Zusammenhang erzählerisch gestaltet wird, ist Schwerpunkt der folgenden Seiten.

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2.4.1 Umzug und Erkenntnis Die ausführliche Schilderung ihrer Umzugsplanung und -vorbereitung beinhaltet auch Sezgins Vorgeschichte, also ihre Erkenntnisbedingungen: Darunter fallen der berufliche Weg von Frankfurt über Hamburg in die Selbstständigkeit sowie die Begegnung mit Menschen, die bereits vorher aufs Land gezogen sind, wobei sowohl Geschichten von Erfolg als auch von Scheitern erwähnt werden (vgl. LV, 16-25). Dadurch wird Sezgin selbst als Lernwillige mit anfangs geringem Wissensrepertoire gekennzeichnet, was zum einen den Wissensstand der Leser antizipiert, zum anderen Sezgins anschließenden Lernprozess vorbereitet. Der Umzug selbst wird dann auf nur etwas mehr als einer Seite erzählt (vgl. LV, 35f.), nachdem seine Planung, Organisation und Einrichtung sowie die Entsorgung des alten Lebens, als »die größte logistische Anstrengung meines […] Lebens« (LV, 34) geschildert wird (vgl. LV, 31-36). Ähnlich wie bei Moor ist der räumliche Vollzug lediglich Vorbedingung für die eigentliche Geschichte über Erkenntnis und Transformation während einer ca. einbis zweijährigen Phase des Ankommens. War diese Transformation bei Moor noch die Geschichte von seiner individuellen Entwicklung hin zum Gemeinschaftswesen, ist Sezgins Transformation eine moralische und auf Verallgemeinerung angelegt. So endet ihre Transformationsgeschichte mit dem Versprechen, eine Erkenntnis gefunden zu haben, deren Verallgemeinerbarkeit in der Formulierung als Utopie zum Ausdruck kommt: »Wenn wir wollen, so hoffe ich, könnte eine neue Zeit kommen, in der die Erde dem Menschen und seinen einstigen ›Nutztieren‹ wieder eine wunderbare Heimat ist.« (LV, 241) Die Autorin hat den Weg ins Himmelreich schon durchschritten, der Nachvollzug – praktisch oder epistemisch – wird den Lesenden als Aufgabe mitgegeben. Das dafür notwendige Wissen liegt mit dem Buch vor und ist in die übergeordnete Umzugserzählung eingebettet. Die Transformation vom Stadtmenschen zur Tierliebhaberin wird episodisch erzählt, wobei jede Episode Erkenntnisse oder Entwicklungsschritte enthält. Als Beispiel für ein Initiationsmoment des neuen Lebens auf dem Land ist das Kapitel »Gummistiefel-Alarm« zu lesen. Darin erzählt Sezgin am Beispiel von in der Stadt erworbenen Gummistiefeln von ihren Vorbereitungen auf das Landleben, denn sie habe schon vor dem Umzug in einer Dorfchronik aus dem 19. Jahrhundert von der Feuchtigkeit der Gegend gelesen (vgl. LV, 50). Diese Initiationsepisode endet mit der Feststellung, dass die anfangs in der Stadt erworbenen Gummistiefel den sich nun ergebenden Belastungen des Landlebens nicht standhalten, im Laden für Berufsbekleidung begegnet Sezgin schließlich Experten: Der Mann nickte wissend. In dem Fall bräuchte ich spezielle gülleresistente Stiefel. […] Als ich die Schachtel zu Hause öffnete, musste ich über diese Veränderung den Kopf schütteln. Bis vor zwei Jahren war ich der Couch potato par excellence gewesen, jetzt war ich ein Mensch, der gülleresistente Stiefel brauchte. (LV, 66)

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Das Kapitel ist also von zwei Wissensbeständen gerahmt, die historisch-urban geprägte Vorbereitung scheitert an der Realität des Raums, das lokale Expertenwissen erweist sich hingegen als praktikabel. Der Weg zwischen diesen Wissenszuständen ist durch einzelne Erfahrungen mit Schafhaltung strukturiert, die Entwicklung wird relativ schnell erzählt und reicht von einer eher teilnahmslosen Erstbegegnung (»Die Schafe, obwohl keine zwanzig Meter entfernt, waren für mich noch ziemlich weit weg.« (LV, 51)) zu der schon wenig später neugewonnenen Einheit mit den Tieren (»Hätte man es mir wieder weggenommen, hätte mir etwas Lebenswichtiges gefehlt.« (LV, 64)). Als Elemente dieser Entwicklungsgeschichte sind Initiationsmomente wie die Behandlung von Moderhinke (vgl. LV, 51) und das Begräbnis eines gestorbenen Lamms (vgl. LV, 52) enthalten. Dem Tod des Lamms kommt für den Erzählverlauf eine besondere Bedeutung zu, weil daran die Notwendigkeit von Wissen bewiesen wird, so nimmt Sezgin sich »fest vor, mich kundig zu machen, um bei der nächsten Geburt besser vorbereitet zu sein.« (LV, 52) Die mit dem Tod des Lamms eingeleiteten Ausführungen über Schafe changieren zwischen Erfahrungs- und Gefühlsbericht (»An diesem Abend sprachen Leonard und ich lange über das Lamm« (LV, 52)), imaginierten Betrachtungen eines Nichtwissenden (»Der Spaziergänger, der an einer Weide oder an den Deichen vorbeikommt, nimmt Schafe meist im unbestimmten Plural wahr« (LV, 53)) und eigenen Beobachtungen der Natur (»Die hiesigen Schafe allerdings sind alles andere als eine einheitliche Herde […]. Die Blicke aus diesen schönen Augen sind seelenvoll.« (LV, 54)). Solche Formulierungen werden von Sezgin durch unbestimmt bleibende Autoritätsargumente gestützt: »Schafe haben einen starken Familien- und, wie eine Tierärztin vor wenigen Jahren erforscht hat, auch Freundessinn« (LV, 55). So wird mehrfach ein Abgleich zwischen Forschung und Erfahrung vollzogen, was immer auf die Autorisierung des erzählten Wissens hinausläuft. Bspw. stellt Sezgin fest, »Veterinärmediziner haben einmal erforscht, dass sich Schafe zwei Jahre lang an die Gesichter von Menschen erinnern, die sie versorgten« (LV, 205), um die Forschung dann anhand eigener Erfahrungen zu überprüfen. Dabei bemerkt sie, dass dies nicht nur für Ausgewachsene, sondern auch für Jungschafe gilt: »Das bezweifle ich nicht im Geringsten, hatte aber zunächst geglaubt, dass sich das auf erwachsene Schafe bezog.« (LV, 205) Als Beleg für ihre eigene Beobachtung zu den Jungschafen heißt es dann weiter über die Erinnerungen eines Lamms und daraus resultierende Bindung, seine ersten »Lebenstage waren eine Zeit voller Zuneigung und Wärme gewesen. Nicht nur wir erinnerten uns also daran.« (LV, 206) Auch hier wird wieder ein Wechsel von Regelwissen, Erfahrung und Erneuerung der Regeln vollzogen. Das erzählte Geschehen ist dabei ein eher loses Organisationsprinzip, noch mehr als bei Moor folgt das erzählte Wissen nur selten einer chronologischen Verlaufs- als vielmehr einer Erkenntnisgeschichte. Durch die eher unsystematische Vermengung von Erfahrung, Fachwissen und Gefühl wird der ländliche Raum weniger als geographische oder kulturelle Einheit entworfen, sondern als unein-

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heitliches Gebilde, das eben nur durch individuelle Erfahrung in seiner Komplexität zu erfassen ist. Dass das anfängliche Problem der Moderhinke dann überwunden wird, wird damit zum Symbol fürs Ankommen im Ländlichen: Mich beschlich so etwas wie Reue, dass ich diese Art von Komplikation nicht bedacht hatte, als ich in die Nähe so vieler Tiere zog. Und jetzt waren seit meinem Umzug keine zwei Monate vergangen, ich hatte Spritzengeben gelernt, die Schafe trippelten gesunden Fußes über die Wiesen. Rückblickend konnte ich kaum glauben, wie leicht alles gewesen war. (LV, 59). Durch Zusammenfassungen wie das »[r]ückblickend konnte ich kaum glauben, wie leicht alles gewesen war«, wird die Deutung der Geschichte noch einmal abgesichert als Dreischritt von Erleben, Erkenntnis und Entwicklung. An dieser Episode und besonders dem eher sprunghaft erzählten Handlungsverlauf konnte beispielhaft gezeigt werden, dass die Umzugserzählung primär als narratives Organisationsmodell für Wissenserwerb und Entwicklung der Protagonistin verwendet wird. Denn die enge Verbindung von Erfahrung und Entwicklung wird erst durch den anfänglichen Zustand des Nichtwissens sowie den Wissenserwerb ermöglicht. Dass diese Entwicklung dabei notwendig aus Gegebenheiten des Landlebens und Schritten des Umzugsgeschehens folgt, hilft der argumentativen Struktur des Textes. Durch die wiederholte Abfolge von städtischen Erwartungen, ›ländlichen‹ Erfahrungen und daraus abgeleitetem neuen Regelwissen wird das allgemeine (städtische) Wissen über Land als unzureichend ausgestellt. Der eigene Lernerfolg wird durch wiederkehrende Formulierungen wie die folgenden vorgeführt: »Erst nach und nach lernte ich, dass […]« (LV, 118) oder »Man muss solche Dinge genießen können, um sich auf dem Land dauerhaft wohl zu fühlen« (LV, 69). Auch Sezgins ruraler Raum wird erst durch einen Wissenserwerb zugänglich, der durch eine »subjektgebundene Verfasstheit«18 geprägt ist, also eine im Subjekt gebündelte Mischung aus Erfahrung, Regeln und Ratschlägen anderer Figuren. Auffällig ist dabei, dass das erworbene (prozedurale) Erfahrungswissen sehr häufig eben um Gefühle und Moral erweitert wird. Hinzu kommen enzyklopädisches Wissen, das durch Ratgeber und Experten gewonnen wird, sowie ›Weisheit‹, die häufig von Vorgängern wie Thoreaus Walden übernommen wird.19 Indem Weisheit und Moral in die Umzugserzählung eingebettet werden, erfährt auch dieses Wissen eine Prüfung durch die Autorin, was in einer wechselseitigen Autorisierung von Wissen und Erzählung mündet. Die Bedeutung dieser Autorisierungsstrategien wird im nächsten Abschnitt dieses Unterkapitels ebenso in den Blick genommen wie weitere Strategien zur Darstellung von Wissen und Raum.

18 19

Klausnitzer 2008, S. 44f. Vgl. ebd.

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2.4.2 Wissensräume autorisieren Im Kapitel »Beide Hände in Säcken voll Zucker« schildert Sezgin, wie sie im Gespräch mit ihrer Nachbarin Dorle deren Lebensgeschichte sowie die Geschichte ihres eigenen Wohnhauses recherchiert (vgl. LV, 99-106). Die so gewonnene Perspektive auf den betretenen Raum sorgt dafür, dass die eigenen Lebenspraxen, in einen größeren historischen Kontext eingeordnet, natürlicher Teil einer langen Entwicklung werden. Dabei ist auffällig, dass historische Ländlichkeit nicht als zeitliche Abfolge, sondern als Bündel ländlicher Praktiken und Kulturtechniken erzählt wird, so werden das Einlegen von Gurken, Versorgung durch Wald und Felder, Fleischverarbeitung und Tauschhandel thematisiert (vgl. LV, 101-104). Diese historische Rundschau wird um Erzählungen über Herausforderungen und das Vergehen des historischen Landlebens infolge von Industrialisierung und Globalisierung (vgl. LV, 104-106) sowie um Fluchtgeschichten im Zuge des Zweiten Weltkriegs (vgl. LV, 99-104) erweitert. Damit wird an dem spezifischen entdeckten Raum auch eine Geschichte der Transformation ländlicher Räume im 19. und 20. Jahrhundert erzählt. Indem diese globalen Prozesse und das kulturgeschichtliche Wissen narrativ an die Familiengeschichte der Figur Dorle gebunden sind, werden diese greifbar und die Figur als beispielhaft für den Raum charakterisiert. Das gleicht der schon bei Moor etablierten und von der Dorfgeschichte geerbten ländlichen Typenlehre. Um diesen Raum zu vermessen, gleicht Sezgin die Geschichte des Ortes mit ihren eigenen Beobachtungen ab (»ungefähr hier waren früher die Schweine abgestochen worden« (LV, 107)) und reflektiert die teils schlechten Arbeitsbedingungen der vergangenen Zeit, um anschließend festzustellen, dass das historische Landleben, anders als historische Medien es vermitteln, »[n]atürlich […] keine reine Idylle« (LV, 107) war. Die idyllisierenden und kulturkritischen Tendenzen von longue durée-Erzählungen werden dann abgeschwächt, das eigene Erzählen über Land als authentischer hervorgehoben. Solche Beweise sind in Sezgins Landleben deutlich häufiger als in Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht. Der so etablierte Wechsel von idyllischen und realistischen Erzählverfahren ist gut zu erkennen, wenn es im Anschluss an die Schilderungen historischen Landlebens heißt: Man weiß um all das, und es kann den Zauber, von dem Dorle erzählt, nicht zerstören. […] Selbst wenn wir über Entfremdung klagen und uns das ›Beieinander‹, von dem Dorle spricht, schön vorstellen, gibt es doch zu viele Vorteile der heutigen ex-tremen Spezialisierung: Wir wollen nicht in die Zeit zurück, in der Zähne vom Schmied gezogen wurden. (LV, 107f.) Individuelle Erfahrungsberichte wie dieser werden also als Speicher wahren Wissens gegen romantisierende und idyllische Traditionserzählungen bzw. deren Fortwirken im Landlust-Diskurs gesetzt: »Und das, was wir Stadtflüchtlinge als ›Landleben‹ kennen, ist aus Dorles Sicht auch nur eine stark abgespeckte Version. ›Heu-

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te sind das ja gar keine ländlichen Haushalte mehr‹, meint sie, ›sondern die Leute führen städtische Haushalte auf dem Land.‹« (LV, 107) So wird ein im Gegensatz zu medialen Idyllen differenzierteres Bild von ländlichen Räumen behauptet, über die es also noch etwas zu lernen gebe. Darin steckt dann auch die Bedeutung der Figuren(geschichten) für das Schreiben über Land: Im Gespräch werden die Bildwelten idyllischer Ländlichkeit auf ihre historische Realität hin überprüft, um so eine vermeintlich valide Erzählung idyllischer Ländlichkeit zu liefern. In dieser Feststellung ist also der analytische Ansatz von Sezgins Text enthalten, wonach gerade am ländlichen Raum etwas über Kultur und Menschlichkeit zu entdecken ist. Die Autorin sucht in ihrem Selbstversuch auf dem Land nach dem »allgemein menschlichen Sockel dieser Begehrlichkeiten« (LV, 108) der Spätmoderne, also »mehr Sicherheit, mehr Komfort, auch mehr Vergnügen und Abwechslung« (LV, 108), und stellt fest, dass diese Bedürfnisse das Ende historischer Ländlichkeit und damit der Einheit von Mensch und Natur bedingt haben. Als Gründe identifiziert sie letztlich, dass »der Kapitalismus und die Moderne […] sich nicht nur durch Waren-, sondern eben auch durch Bedürfnisproduktion« (LV, 109) auszeichnen, und endet dann mit der evolutionsbiologischen These, »[d]er Mensch ist nun einmal ein soziales Tier.« (LV, 109) Damit werden die modernen, urbanen Bedürfnisse zwar noch kritisiert, aber auch schon naturalisiert. Diese These von der Natürlichkeit wird durch auf dem Land erworbenes empirisches Wissen untermauert, durch die eigene Anschauung tierischer Verhaltensweisen, denn auch »bei Schafen lässt sich beobachten, dass ihnen das, was die anderen beschnüffeln, vielversprechender als das Eigene erscheint« (LV, 109). In diesem Abgleich mit den Tieren als einer Art Naturzustand wird die von Sezgin zugeschriebene Bedeutung des ländlichen Raums als Wissensraum endgültig erkennbar. Die so am Raum entdeckten Wahrheiten verbinden letztlich die vergangenen Räume ländlicher Idylle mit der Behauptung von authentischem Wissen, um so die Ausschläge medialer Idyllen ins Fiktive abzuschwächen. In dieser erzählerischen Abfolge ist ein Bild vom ländlichen Raum enthalten, in welchem eine Wahrheit über den Menschen zu finden ist. Die durch den Umzug aufs Land entdeckte Qualität des Raumes ist es, die Natur des Menschen zu enthalten und zugleich durch vor Ort erworbenes Wissen die umlaufenden Vorstellungen idyllischer Ländlichkeit auf ein empirisches Fundament zu stellen. So werden der Umzug und das Schreiben hierüber zu kulturanalytischen Verfahren, die über traditionelles Schreiben über Land hinausgehen. Ein weiteres Beispiel für dieses Erzählverfahren ist, wie Sezgin ihre Umzugsgeschichte in die Kulturgeschichte des Vegetarismus einschreibt: »Aus den Gedichten und Erzählungen aller menschlichen Kulturen kennen wir die Freundschaft und den schonenden Umgang des Menschen mit dem Tier; oft wird von einzelnen Menschen berichtet, deren Tierliebe noch weiter ging.« (LV, 147) Von Pythagoräern über Mönche des Mittelalters hin zu »Leonardo da Vinci, Shelley, George Bernhard Shaw und Leo Tolstoi« (LV, 147) reiche diese Geschichte, über die Sezgin eigene

Sezgin – Landleben

Vermutungen hat: »Natürlich sind nur solch große Namen überliefert, aber ich persönlich nehme an, dass der Gedanke des Vegetarismus so alt ist wie die menschliche Kulturtechnik der Vorratshaltung« (LV, 147). Es ist dann exemplarisch für die narrative Struktur des Textes, dass diese Kulturgeschichte von Tierliebe und Vegetarismus mit den am neuen Ort erworbenen authentischen Geschichten verbunden wird, Geschichten davon, »wie gestandene Bauern und Jäger sich mal ein kleines Wildschwein, einen Frischling, als Haustier schnappten oder ein Rehkitz mit der Flasche aufzogen.« (LV, 150) Von diesen Beispielen für Tierliebe ausgehend, diskutiert Sezgin Fragen der Tierethik und Verantwortung (vgl. LV, 151−158) und versetzt sie mit eigenen Geschichten von Erkundungen zu Tierhaltung in ihrer direkten Umgebung (LV, 158−164; »So machte auch ich in meiner neuen Umgebung mehrmals Ausflüge zu Höfen, deren Produkte ich aus den Bioläden kannte« (LV, 160)). Bei diesen Wechseln vom narrativen in den deskriptiven bzw. argumentativen Modus schließt Sezgin die Lesenden häufig in eine dann kollektive Denk- bzw. Erzählfigur ein, bspw. wenn sie fragt: »Und wie viel Schutz bietet unser Tierschutzgesetz?« (LV, 165) Indem die Erkenntnisprozesse, über die verschiedenen narrativen Modi hinweg, fortlaufend erzählt werden, werden auch die nicht-narrativen Wissenselemente Teil der Arbeit an einer aktualisierten Erzählung vom guten Leben auf dem Land, die selbst zu einem entscheidenden Element der Erkundung des ländlichen Wissensraums wird. Die hier umrissene Autorisierung der am Raum erzählten Wissensbestände funktioniert letztlich ähnlich wie die schon bei Moor identifizierte und auch hier wiederholt vollzogene Normalisierung der traditionellen Schreibformen: Traditionelle wie idyllische Beschreibungen werden mit widerstreitenden Elementen, also bspw. locus horribilis-Motiven (»die Zeit […], in der Zähne vom Schmied gezogen wurden« (LV, 107)), verbunden, um einen realistischen Blick zu behaupten, der zwei Seiten des Landlebens bedenkt. Zwar tendiert die Erzählung dennoch zur Idylle, durch die Integration widerstreitender Bilder und analytischer Betrachtungen wird aber über diese Tradition hinausgegangen: Hier wird Landleben von seinen medialen Überzeichnungen befreit und als ›normaler‹ Lebensraum entdeckt. Die Behauptung von Normalität und entdecktem Wissen braucht keinen realen Vergleichswert mehr, es reicht die Abgrenzung von traditionellen und medialen Bildern, um die entworfenen Raumbilder zu autorisieren. In den drei folgenden Unterkapiteln werden nun Intertexte, Diskurs-Bezüge und Figurengestaltung als weitere Techniken der Produktion und Autorisierung von Wissen und Raum betrachtet.

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2.4.3 Intertexte Wie bereits an Thoreaus Walden, den Bezügen auf Ratgeberliteratur und der lange Geschichte des Vegetarismus gezeigt wurde, spielen für Sezgins Vermessung ländlicher Räume Traditionen eine besondere Rolle. Texte wie Walden, Astrid Lindgrens Das entschwundene Land und Alice Herdan-Zuckmayers Eine Farm in den grünen Bergen werden direkt als Vorlagen für Inhalt und Form genannt, wodurch Landleben zu einer Fortführung dieser Schreibtraditionen wird. Dabei dienen Texte wie Lindgrens Kerstin und ich zum einen als Speicher von Wissen über Traditionen des Lebens im Ländlichen, zum anderen als in Kultur verankerte Erinnerungen an idyllisches Leben, wenn Sezgin beschreibt, wie die Texte Kindheitserinnerungen anregen. Durch den Bezug auf solche Texte, werden ähnlich gelagerte Erinnerungen und Empfindungen der Lesenden angesprochen. Diese Funktion erfüllen auch Verweise auf popkulturelle Erzeugnisse, beispielsweise schreibt Sezgin, sie fühle sich beim Kümmern um ihre Tiere wie in einer »Tierklinik à la Daktari« (LV, 96), und sie habe »[n]och nie […] so viel unberührten Schnee gesehen« (LV, 69) wie in der Verfilmung des Märchens Drei Haselnüsse für Aschenbrödel. Schon diese wenigen Beispiele zeigen, welche Funktion den Intertexten zukommt: Sie werden als weitläufig bekannte Erinnerungen an Gefühle von und auch Sehnsüchte nach Kindheit und Heimat gebraucht, die zuvor nie eingelöst werden konnten, jetzt im ländlichen Raum aber doch gefunden werden. Intertexte speichern also nicht nur Wissen, sondern auch Räume, und tragen in diesem Kontext maßgelblich zur Entstehung des imaginären ruralen Raums bei. Das funktioniert insbesondere dann, wenn die Texte nicht als literarische Texte, sondern als historische Quellen gelesen werden, bspw. reflektiert Sezgin nach der Lektüre von Lindgrens Das entschwundene Land über Fragen sozialer Segregation: Das Buch über die Liebesgeschichte von Lindgrens Eltern bietet Einblicke in das ländliche Schweden um 1900, in dieser Zeit habe es zwar starke Unterschiede zwischen den Ständen gegeben, »[b]ei anderen Gelegenheiten saß man denkbar eng zusammen« (LV, 111). Dann ist der Intertext ein Erzählanlass für die eigenen Beobachtungen, denn solch ein Miteinander sei heute höchstens noch in ländlichen Gebieten möglich, »auf dem Dorf spürt man noch am ehesten etwas, das von der früheren Zeit übrig blieb« (LV, 111). Damit wird nicht nur die Vergangenheit gegenwärtig gemacht, der ländliche Raum selbst wird wie Literatur zum Speicher des Vergangenen. An anderer Stelle werden Intertexte als Kontrast genutzt, um die von Literatur geschaffenen Ländlichkeiten anhand eigener Erfahrungen bzw. eigenen Wissens als idyllische Konstruktionen zu kennzeichnen, so heißt es über die Pflege von Lämmern: Aus Astrid Lindgrens Bullerbü-Büchern waren wir natürlich längst mit dem Füttern von Lämmern vertraut; Pontus hieß Lisas Flaschenlamm. Irgendwie hörte sich dort alles viel einfacher an: Man musste nur ab und zu auf die Weide gehen und

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dem Lamm eine Flasche geben. Außerhalb von Småland gelten andere Regeln. (LV, 193) Hieran schließt dann eine ausführliche Beschreibung der eigenen Erfahrungen im Aufziehen von Lämmern an (vgl. LV, 193−206), der Intertext wird zum Auslöser und Vergleichsbild für diese Erzählung. In der direkten Gegenüberstellung wird die Komplexität der in Landleben vermittelten Realität betont und von der idealisierten Beschreibung des Ländlichen in den Intertexten abgegrenzt. Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit Alice Herdan-Zuckmayers Bericht über das Leben im amerikanischen Exil. In Eine Farm in den grünen Bergen (1949) erzählt diese von den Entbehrungen im ländlichen Vermont sowie den notwendig gewordenen Lernprozessen über Landleben. Sezgin reflektiert dann die Parallelen zwischen Buch und eigenem Landleben, denn auch Herdan-Zuckmayer schreibe von den speziesübergreifenden Balz- und Brutgewohnheiten des Geflügels, den Angriffen der Wanderratten, den Besuchen eigensinniger Vermonter Nachbarn, den Schneemassen, der Wasserleitung im Winter, mickrigen Ziegen, die vierundsiebzig Hektar Weideland hatten und doch nach einer Stunde lieber auf den Hof zurückkehrten, um dort ihr Unwesen zu treiben. (LV, 215) Durch die Parallelisierung mit dem eigenen Schreiben wird nicht nur behauptet, die literarische Tradition fortzuschreiben, sondern wird literarischen Erfahrungsberichten über Landleben Bedeutung beigemessen, wenn Sezgin Herdan-Zuckmayers Buch als »Trost, Begleitung und Inspiration; unendlich lustig und begeisternd« (LV, 214) beschreibt. Dann findet ein Abgleich von Intertext und eigener Erfahrung statt, Sezgin könne sich »nicht vorstellen, dass ihre (Zuckmayers, Anm. H.S.) fünf Jahre als Landwirte ohne Episoden von Einsamkeit und Heimweh vergangen sind« (LV, 216). Darin steckt die Behauptung, dass, indem sie genau diese eigenen Ängste schildert, Sezgins Landleben das wahrere Bild vermittelt, denn »[e]s wäre leicht, diese Seite zu verschweigen. In diesem Buch einfach nur die Sonne scheinen zu lassen und von Lämmern zu erzählen, die über Wiesen springen. Doch es wäre nicht ganz ehrlich.« (LV, 210) Beim Blick in Zuckmayers Farm in den grünen Bergen fällt aber auf, dass auch hier von Heimweh die Rede ist und auch die Betonung von Arbeit der in Sezgins Landleben ähnelt.20 In der beschriebenen Krise des eigenen Landlebens fragt sich Sezgin, ob sie sich nicht »zu sehr der Ferienstimmung hingegeben, zu ausgiebig Saltkrokan und Bullerbü ›gespielt‹ hatte.« (LV, 211) Durch diese Behauptung von Leerstellen in den Texten werden diese als weniger wahr gekennzeichnet, erst durch die Integration von

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Vgl. Herdan-Zuckmayer, Alice: Die Farm in den grünen Bergen, Frankfurt a.M.: Fischer 1974, S. 212f. Da heißt es u.a.: »Es ist viel zu tun, aber man kennt das Ausmaß an Arbeit und wird sich nicht mehr unterkriegen lassen.« (Ebd.)

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Krisenerzählungen werde wahres und authentisches Erzählen über Landleben möglich. Zugleich steckt darin eine Raumkonfiguration: Ländliche Räume seien eben mehr als Lindgrens Idyllen, da sie auch aus Überforderung, Verpflichtungen und Alltag bestehen (vgl. LV, 211f). Auf diese Krise folgt dann die Überwindung, wenn die Protagonistin reflektiert, sie sei nun »stärker und gelenkiger geworden, in körperlicher wie in seelischer Hinsicht.« (LV, 212) Das ist Entwicklung am Raum, sie formen und bestimmen die menschliche Entwicklung: »Ich hatte mich diesem Leben ausgesetzt, und es hatte nach mir gegriffen, an mir gezerrt und gezogen, und ich hatte reagieren und Probleme lösen und viel arbeiten und in ungewollte Richtungen wachsen müssen.« (LV, 213) Darin ist die bereits bei Moor herausgearbeitete Naturalisierung der eigenen Entwicklung durch den Gang aufs Land noch weiter zugespitzt. Primär werden die Intertexte aber genutzt, um die Anschaulichkeit des Erzählten zu steigern und ein vielstimmiges Bild von ländlichen Räumen zu produzieren. Astrid Lindgrens Jugendbuch Kerstin und ich wird als das Bild von Landleben benannt, das maßgeblich für den Umzug war, auch hier wird der Umzug einer schwedischen Familie von der Stadt aufs Land erzählt (vgl. LV, 45f.). Auch die Große Halle der Harry Potter-Romane wird zur Ortsbeschreibung genutzt, »man trat in die ehemalige Tenne und fand sich in einem magischen Raum wieder, der halb an den Orient, halb an Harry Potter erinnerte.« (LV, 17) Während Astrid Lindgrens Das entschwundene Land mit Lebenserinnerungen der Figur Dorle versetzt wird, um ein vielstimmiges Erinnerungsbild an eine vergangene Zeit und Ländlichkeit zu evozieren, die als »sehr sinnliche Welt« (LV, 110) beschrieben wird. Man könne bei der Lektüre »die Erde fast auf den Fingern spüren, riecht den Duft von Bergen frisch geschnittener Bohnen, hört den Zucker und das Getreide in den Säcken rieseln und leise knirschen.« (LV, 111) Zwar wird die beschriebene Zeit der Intertexte regelmäßig als vergangene markiert, jedoch sei sie auf dem Land noch erfahrbar: Ich las vom Schlittschuhlaufen auf zugefrorenen Seen, von Kirschwein, vergorenen Kirschen und beschwipsten Ferkeln; vom sommerlichen Tanz auf Saltkrokan und von Flaschenlämmern – ohne zu wissen, wie viel davon mir selbst noch bevorstand. (LV, 113) Ähnlich wie auch Moor verwendet Sezgin einen Vorausverweis, der durch die im Vorwort etablierten zwei Erzählpositionen möglich wird. Als letzter hier zu untersuchender Gebrauch von Intertexten ist der Verweis auf die Theoriegeschichte über Landleben zu nennen. Beispielhaft hierfür steht der Verweis auf Georg Simmels Unterscheidung von Stadt und Land: »In der Stadt, so schrieb einst Georg Simmel sinngemäß, ist der Mensch darauf angewiesen, schnelle Unterscheidungen zu treffen; er muss sich anderen distanzieren können, sonst überwältigt ihn die Vielzahl seiner Gegenüber.« (LV, 77) Sezgin liest das als Hypothese, die sie an ihren eigenen Erfahrungen überprüft, und stimmt zunächst

Sezgin – Landleben

zu: »All das ist überlebensnotwendig, wenn man tausend verschiedenen Menschen täglich begegnet, und ich will gar nicht behaupten, dass es der menschlichen Seele unbedingt schadet.« (LV, 77)21 Zwar sei die Identifikation der von Simmel postulierten dörflichen Gemeinschaft im globalen Maßstab nicht mehr so unbefragt möglich, aber in dem von Sezgin gefundenen Dorf seien solche traditionellen Strukturen durchaus noch vorzufinden: Und doch denke ich, dass das Leben in unserem Dorf in zumindest einer Hinsicht besser für Wohlgefühl und Seele ist und zwar gerade da, wo es Konflikte gibt. ›Man merkt diesem Dorf an, dass die Leute zusammen alt werden wollen‹, hat Katharina einmal zu mir gesagt, und besser kann man es nicht beschreiben. (LV, 78) Indem die Nachbarin als Quelle genannt wird, wird aus der aktuellen Erfahrung des Landlebens eine neue und einfachere Version von Simmels soziologischer Forschung abgeleitet. Damit wird das Leben am Ort als bestes Programm zur Erforschung der Besonderheiten des Landlebens dargestellt. Und im Schluss verweist Sezgin dann auf Rousseau als Zeuge dafür, dass ein ›Zurück zur Natur‹ nicht möglich sei (vgl. LV, 265).22 Die im folgenden Abschnitt untersuchten Bezugnahmen auf den Diskurs der Lust auf Land folgen einem ähnlichen Schema der Korrektur vorgefertigter Meinungen, sie werden nun auf Gemeinsamkeiten und Abweichungen zu den bisher erarbeiteten Wissens(re)präsentationen untersucht.

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Sezgin bezieht sich auf Georg Simmels Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben, worin dieser feststellt: »Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Der Mensch ist ein Unterschiedswesen […]. Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens […] einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes. Daraus wird vor allem der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens begreiflich, gegenüber dem kleinstädtischen, das vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist.« Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 116-131, hier: S. 116f. Der Ausspruch gilt als erst in der Rezeption formulierter Kern seines Erziehungsromans Émile oder Über die Erziehung sowie der politischen Schrift Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes; vgl. Mensch, Günther: Das Verhältnis des Zweiten Diskurses zu den Schriften Vom Gesellschaftsvertrag und Emile, in: Steinbrügge, Lieselotte/Rohbeck, Johannes (Hg.): Jean-Jacques Rousseau. Die Beiden Diskurse zur Zivilisationskritik, Berlin: de Gruyter 2005 (Klassiker auslegen), S. 179-194, hier: S. 179.

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2.4.4 Landlust-Diskurs oder engagierte Literatur? Im Laufe der Erzählung von ihrem Umzug bezieht sich die Erzählerin/Autorin auch auf den Diskurs der ›Lust auf Land‹ und gibt Erklärungsversuche für sein Entstehen, denn »bei der neuen Landlust, die so viele in sich spüren, geht es nicht um Vollständigkeit, nicht um Leistung, sondern man will Erde, Früchte und Material in den Händen fühlen.« (LV, 117) Damit wird nicht nur die Wahrnehmung des Diskurses passend zur eigenen Geschichte korrigiert, die Betonung echter körperlicher Erfahrung erscheint als primäre Maßgabe für gutes Leben (auf dem Land), die jedoch nicht jeder Leser selbst erfüllen kann. So wird die Definition letztlich zur poetologischen Maßgabe des eigenen Schreibens: Die stellvertretende Erfahrung durch die Autorin soll das Nachspüren ländlicher Lebensweise ermöglichen, die Erzählung bedarf also einer Sprache, welche genau das möglich macht. So wird der Anspruch auf detaillierte Schilderung einzelner Erlebnisse und Erfahrungen gesetzt, die sich dann zu einem Gesamtbild des Ländlichen zusammenfügen. Dieses implizite Programm, den Umzug ›nachvollziehbar‹ zu machen, erklärt auch das zuvor analysierte Anknüpfen an populäre Literaturen über Land oder die häufig bildreiche Sprache, die besonders in einer der ersten Schilderungen des bezogenen Hauses auffällt, es »stand mit seinem warmen Backsteinrot frei vor endlos hellblauem Himmel« (LV, 36). Oder später: »Aber sobald es wärmer und der Wald und die Weiden grün wurden und das Backsteinrot sich kräftig vom strahlend blauen Himmel abhob, wirkte alles wieder wie aus dem Bilderbuch.« (LV, 207) Auch die Anstrengungen mit den Tieren werden möglichst bildlich beschrieben, da ist die »Jacke […] übersät […] von weiteren lammbezogenen Körperflüssigkeiten« und »[u]nter den dreckstarrenden Jeans waren meine Beine von den Gantern zerbissen« (LV, 196). Die Nachvollziehbarkeit der Bilder wird zum Ersatz des räumlichen Vollzugs, die Sprache ähnelt der sehr bildreichen von Magazinen wie Landlust. Indem die ästhetisierenden Darstellungen des Landlust-Diskurses immer wieder durch die Erkenntnisgeschichten erweitert werden, wird letztlich eine Notwendigkeit erkannt, den Raum zu konservieren – auch als Refugium einer zu sich kommenden Kultur. Neben dem Landlust-Diskurs bedient Sezgins Text also auch Charakteristika der Aussteiger-Erzählungen und ökologisch engagierte Literatur wie bspw. Carl Safira – Die Intelligenz der Tiere, Charles Fosters Der Geschmack von Laub und Erde oder Louise Grays Richtig Tiere essen?! – Wie ich ein Jahr lang nur Fleisch von Tieren aß, die ich selbst tötete. Die thematische Nähe zu den genannten Büchern ist offensichtlich und ist bspw. in der Ähnlichkeit der von Sezgin wiederholt betonten Naturerfahrung und Fosters in Der Geschmack von Laub und Erde formulierten Experiment, sich wie ein Tier zu ernähren, zu sehen. Beispielhaft für diese Bezugnahmen nimmt Sezgin auf Alan Weismans Die Welt ohne uns (vgl. LV, 73) Bezug, in welchem Weisman das Gedankenexperiment durchspielt, was passierte, wenn alle Menschen auf einmal von der Erde verschwinden würden. Seit der Lektüre verfolge sie »beim Kauf von Plastik-

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verpackungen und Kunststoffteilen der Gedanke an riesige Müllstrudel im Pazifik« (LV, 73). Sie habe jedoch den Eindruck, durch den Umzug aufs Land und den Wegfall ständiger Anreize zum Unsinn-Kaufen ist ein entscheidender Schritt gemacht. Der ökologische Fußabdruck wird hoffentlich ein wenig geringer, das Lebensgefühl ändert sich – und zwar völlig. […] es kommt mir alles so viel schöner, realer, befriedigender vor. (LV, 73f.) Hier wird der ökologisch engagierten Literatur und dem durch sie vermittelten Wissen eine verhaltensändernde Potenz eingeschrieben und der Umzug aufs Land zu einer möglichen Realisationsform von Gedankenexperimenten erhoben, wie sie bei Weisman zu finden sind. Indem der Rekurs auf diese Literatur nur selten expliziert wird, werden die Einzigartigkeit des eigenen Schreibens und gleichzeitig die Bedeutung des wiederholt erwähnten Landlust-Diskurses gestärkt. Damit konnte beispielhaft für die Texte der ersten Untersuchungsgruppe an Landleben der Anspruch herausgearbeitet werden, über die Inhalts- und Formbeschränkungen einzelner Traditionen und Diskurse, insbesondere aber des Landlust-Diskurses hinaus zu gehen. Gerade durch die stetige Bezugnahme auf diesen Diskurs wird er durch die erzählten Erkenntnisgeschichten aber nicht nur abgelehnt, sondern letztlich erweitert. Wie bereits angedeutet wurde, erfolgt diese Abgrenzung vom Diskurs der ›Lust auf Land‹ maßgeblich durch die Behauptung von authentischem Wissen. Wie bei Moor sind auch in Sezgins Buch die ›einheimischen‹ Landbewohner neben den eigenen Erfahrungen die wichtigsten Träger dieses Wissens, was im nächsten Abschnitt dieser Studie herausgearbeitet wird.

2.4.5 Figuren Beispielhaft für das mittels Figuren erzählte Wissen über ländliche Räume steht Peter, dieser ist bereits in einem der einstigen Gesindehäuser des Hofs geboren worden […]; Gerüchte besagen, er verlasse den Landkreis selten bis nie. Trotzdem handelt es sich um einen geborenen Kosmopoliten. Er […] hatte anfangs Probleme mit meinem Vornamen (wer hat die nicht?), aber nie gefragt, wo ich ›denn herkomme‹. […] [i]n ihm sind so viele Jahrzehnte Erfahrung mit Maschinen, Land und Tieren gespeichert, er weiß über alles Bescheid. (LV, 75f.) Wie Peter hier zwischen Ortskenntnis, Verbundenheit und Weltwissen positioniert wird, ist exemplarisch für die Darstellung einzelner Figuren als Wissensspeicher. Gerade durch die Vereinbarkeit des Daseins als eingeborener Landbewohner und der Auszeichnung als Kosmopoliten wird eine Absage an dominante Bilder über Land formuliert.

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Die Bedeutung der Figuren wird schon an dem relativ übersichtlichen Figurenrepertoire ersichtlich, das größtenteils aus Funktionsfiguren zusammengesetzt ist: ein Tierarzt, die schon lange auf dem Land lebenden Vermieter, die bereits ihr ganzes Leben auf ihrem Hof wohnende Dorle sowie einige städtische Freunde, die zu Besuch kommen. Schon bei der Aufzählung fällt auf, dass diese Figuren stellvertretend für unterschiedliche Bestände von Wissen (oder Nichtwissen) über Land stehen können: Sei es Personifikation der Geschichte in Dorle, des Fachwissens im Tierarzt, Erfahrungswissens im Vermieter oder fehlendes (bzw. städtischen) Wissens in den städtischen Freunden.23 Deutlich seltener als bei Moor treten die Figuren als Akteure auf, sondern werden durch Sezgins Wahrnehmung in ihren Meinungen und Handlungen beschrieben. Dass die Figuren nur mit Vornamen benannt werden, bringt zum einen zwar Nähe zum Ausdruck, stellt aber zum anderen ihre Individualität hinter ihre Indizierungs- und Charakterisierungsfunktion zurück. Den ländlichen Figuren wird ein Wissen eingeschrieben, das den Zuziehenden zunächst verborgen und erst durch lange Erfahrung zugänglich wird. So wird bspw. über den Nachbarn Peter weiter festgestellt, er habe »[e]in glückliches Händchen für sämtliche Pflanzen, unerschöpfliche Vorräte an Brennholz und geheime Stellen mit Pilzen: ein mehr als gerechter Lohn, wenn man bereits auf diesem Gut geboren ist und im Rentenalter noch hier lebt und arbeitet.« (LV, 129) Wiederholt helfen Nachbarn oder der Tierarzt in Situationen, die von Sezgin mangels Wissen nicht bewältigt werden können. Der aus der jeweiligen Begegnung folgende Wissenserwerb wird häufig als Initiation stilisiert, weil das Landleben danach besser eigenständig gemeistert werden kann. An solchen Textstellen wird erkennbar, wie Wissen zur Zugangsberechtigung wird, und dass soziale Kontakte für ein erfolgreiches Leben auf dem Land entscheidend sind. Eine letzte Feststellung über solche Funktionsfiguren ist an einem Sonderfall zu sehen: Der Deutung von Tieren als Figuren, die aus der Nähe von Landleben zu nature writing folgt. Das ist daran abzulesen, dass Natur und Tiere häufig anthropomorphisiert werden und als dem Menschen gleichwertige Figuren erscheinen, von denen gelernt wird. Beispielhaft dafür stehen der bereits oben zitierte Umgang mit dem Schaf oder die Schilderung eines Ganters, der folgt der Gans »mit stolzem, kavaliershaften Ausdruck, als trüge er ihr die Handtasche nach.« (LV, 244) Das Verhalten der Tiere wird ausführlich beschrieben, um durch diese Beobachtungen den

23

Wie bereits im Kapitel zu Theorie und Methode gezeigt, wird ein Verständnis von Figurenwissen angenommen, nachdem stets verschiedene Wissensformationen in die Gestaltung literarischer Figuren eingegangen sind. Das kann also neben Faktenwissen auch Auffassungen über Moral, Geschichte etc. meinen. Zu dieser Konzeption von Figurenwissen vgl. Jappe, Lilith/Krämer, Olav/Lampart, Fabian: Einleitung. Figuren, Wissen, Figurenwissen, in: dies. (Hg.): Figurenwissen: Funktionen von Wissen bei der narrativen Figurendarstellung. Berlin/ Boston: de Gruyter 2012, 1−35.

Sezgin – Landleben

gewonnenen Respekt vor tierischem Leben und die Veränderung der eigenen Einstellung zu begründen. Dafür werden den Tieren komplexe mentale Zustände zugeschrieben, die von der Autorin zudem auch wahrgenommen werden können, denn sie stellt fest, die Tiere merkten, »[a]uch wenn sie die technischen Zusammenhänge nicht verstehen, […] oft sehr wohl, wenn man ihnen hilft, und fassen danach ein gewisses Vertrauen.« (LV, 41) Das im Zusammenspiel mit der belebten Umwelt gewonnene Erfahrungswissen autorisiert sowohl den Umzug ins Ländliche, als auch die dortige Lebensweise, da sie in großen Teilen auf aus Natur gewonnenem Wissen basieren. Es handelt sich bei Landleben neben schon aufgerufenen literarischen Traditionen auch um eine Variation des ökologischen Bildungsromans, in der statt anderer Menschen die »Auseinandersetzung mit der Natur […] für die individuelle Entwicklung«24 entscheidend ist. Mit der Schilderung der belebten Natur als Lehrmeister erfüllt Sezgin eine Konvention ökokritischer Literatur, weitere Auswirkungen dieser Verwandtschaft werden im Folgenden, die Analyse dieses Textes beschließenden Kapitel betrachtet.

2.5 Eine ›grüne‹ Erzählung? Bisher konnte gezeigt werden, dass Sezgin eine ›grüne Variante‹ der Umzugserzählung unter den Vorzeichen engagierter, naturverbundener Literatur geschrieben hat. Insbesondere das Lernen von der belebten Natur und die Konzentration auf die Schilderung von Emotionen konnten als Besonderheit der so etablierten Variante des Gangs aufs Land herausgearbeitet werden. Sezgin stellt in ihrer Erzählung vom Umzug in die Lüneburger Heide letztlich einen Konnex von Umweltethik und Naturästhetik dar und liefert mit ihrem Text eine mögliche Antwort auf die Kernfrage des Ecocriticism, wie ein »konventionelles Narrativ eines menschlichen Subjekts mit konventioneller Sprache und einer zwangsläufig anthropozentrischen Perspektive überhaupt ein ökozentrisches Weltbild vermitteln kann.«25 Die in Landleben formulierte Antwort könnte zusammengefasst lauten: Indem durch den Umzug in den ländlichen Raum eine zunehmende Erkenntnis der (verlorenen) Einheit des Menschen mit der Natur erzählt wird, wobei die Erkenntnisse nicht aus menschlicher Planung resultieren, sondern als notwendige Ergebnisse der Erfahrungen am Raum stilisiert werden. In Sezgins ländlichem Raum gibt es eine belebte Umwelt, Ruhe, Miteinander, Verständnis für Natur – diesen Raum zu erkennen, bedarf eines spezifischen Wissens, das aber erst in echter Teilhabe und Naturerleben erfahrbar werden könne. Auf diese Weise wird vorwiegend am ländlichen Raum gelernt, was gutes Leben, nicht nur auf dem Land, bedeutet. Durch die Schilderung der Entwicklung 24 25

Wanning 2018, S. 199. Zemanek 2018, S. 22.

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der Autorin an diesen Naturerlebnissen ist der Ratgeber letztlich auch als eine Variante des ökologischen Bildungs- oder Entwicklungsromans zu lesen.26 Eine weitere Auffälligkeit in der Raumkonstruktion des Textes ist, dass der entworfene ländliche Raum nicht neu erzählt wird, vielmehr handelt es sich um Reflexionen über Möglichkeiten der Aktualisierung historischer Ländlichkeit. Auch das erinnert an Thoreau, der über die Bedeutung von Wissen formuliert hat: »Neuigkeiten! Viel wichtiger ist es, das zu erfahren, was nie alt war.«27 Das eigentlich wichtige Wissen sei doch die Wiederentdeckung anthropologischer Konstanten, eben der Verbindung von Mensch und Natur. Sezgin hat ihre Lüneburger Heide also als Ort der Entdeckung natürlicher und menschlicher Essenzen verfasst, dadurch unterscheidet sich der imaginäre ländliche Raum aus Landleben markant von Moors Amerika, das insbesondere auf sozialer Ebene definiert ist. Trotz dieser Unterschiede gibt es zwischen beiden Büchern durchaus auch Ähnlichkeiten: Wie Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht ist auch Landleben eine Erzählung über Erkenntnis des ländlichen Raums sowie der Selbsterkenntnis im ländlichen Raum. Bei beiden Texten handelt es sich um hybride Formen zwischen autobiographischem Roman, Reisebericht und Ratgeber, wobei im Vergleich zu Moor der Unterhaltungsaspekt hier hinter die Form des ökokritischen Essays und Anleihen des englischsprachigen nature writing zurücktritt.28 Der aus Landleben abgeleitete Beitrag zu einer Poetologie des Wissens über Land ist von dem bei Moor herausgearbeiteten zu unterscheiden, schon dadurch, dass der Wissensbegriff sehr weit gefasst wird: Wissen über Land meint hier nicht nur Sachwissen, sondern auch Erkenntnisse auf emotionaler, moralischer und ästhetischer Ebene. So entsteht ein multidimensionaler Raum, dessen ›Wahrheit‹ nur in jenen Formen präsentiert werden kann, die alle genannten Dimensionen beinhalten. Der dafür gewählte Gang aufs Land ist noch mehr als bei Moor weniger am Wissensobjekt ländlicher Raum, sondern vielmehr an einer Erkenntnis des Menschen und guten Lebens orientiert. Hieran schließt die von Sezgin mehrfach wiederholte Feststellung an, die entdeckte Art von gutem Leben auf dem Land sei nicht jedem Menschen möglich, die Entdeckung muss also vermittelt werden. Darin steckt der Schreibanlass, den eigenen im Umzug erfolgten Erkenntnisprozess und so den Wert von gutem Leben auf dem Land im Leseprozess nachvollziehbar zu machen. Ähnlich 26

27 28

Denn auch in diesem fungiert die Natur als Lehrfigur. Mit der Frage nach der Herausbildung des ökologischen Bildungsromans beschäftigt sich u.a. Berbeli Wanning und stellt die Frage, »wie sich die Auflösungstendenzen der unitary selfhood in der Moderne im Rahmen konventioneller Narrative noch fassen lassen«; Wanning 2018, S. 195. Trotz aller Transformationserzählungen kann bei Sezgin nicht von einer Auflösung der einheitlichen Individualität gesprochen werden, in Landleben sind also lediglich Anleihen des ökologischen Bildungsromans zu finden. Thoreau 2020, S. 158. Siehe zu dieser Einschätzung auch Türke 2018, 383f.

Sezgin – Landleben

wie Joseph Vogl um 1800 und in Goethes Wahlverwandtschaften den ›ökonomischen Menschen‹29 als Effekt der Nationalökonomien auftreten sieht, kann auch hier ein Menschenmodell entdeckt werden, nämlich das eines urban-entfremdeten Menschen mit Interesse an der Wiederentdeckung eines vergangenen Naturzustands. Für diesen Menschen schreibt Sezgin bzw. ist er darin vorausgesetzt, dass die auf dem Land stellvertretend erworbenen Erkenntnisse für ein (städtisches) Publikum narrativ aufbereitet werden. Letztlich liegt diesem Anspruch eine Poetik zugrunde, in der das Schreiben selbst zur elementaren epistemischen wie didaktischen Praxis wird, bei Sezgin fallen, wie schon bei Thoreau, »Wissen und Tun, Schreiben und Leben«30 in eins.

29 30

Vgl. Vogl, Joseph: Mittler und Lenker. Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800, München: Wilhelm Fink Verlag 1999, S. 145-162, hier: S. 159. Wellek, René: Geschichte der Literaturkritik 1750-1950. Bd.2: Das Zeitalter des Übergangs, Berlin: de Gruyter 1977 (Komparatistische Studien 5), S. 165.

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3. Irmgard Hochreithers Schöner Mist. Mein Leben als Landei

Wer als Wochenendnachbar auf Integration in die dörfliche Gemeinschaft hofft, sollte etwas übrighaben für den Geist in der Flasche.1 Irmgard Hochreither beschreibt in Schöner Mist. Mein Leben als Landei (2011), wie sie ein Wochenendhaus im Wendland bezieht und dabei urbane Vorurteile gegenüber dem Landleben abbaut. Im Verlagstext wird Schöner Mist beschrieben als »Buch über kleine Fluchten in eine überschaubare Welt – erfrischend witzig und warmherzig erzählt«. Mit der Bezeichnung des ländlichen Raums als überschaubare Welt lässt bereits der Buchumschlag Rückschlüsse auf eine Fortsetzung eskapistischer Erzähltraditionen zu und zugleich wird vor Beginn des eigentlichen Textes eine Raumkonstruktion etabliert, in der Stadt und Land zwei unvereinbare Welten sind. Im Vorwort schreibt Hochreither, sie führe »das Doppelleben einer Stadt-Neurotikerin, die zum Teilzeit-Landei mit Teilzeit-Hund mutiert ist« (SM, 10), und ruft gerade durch die Gegenüberstellung von »Landei« und »Stadt-Neurotikerin« im Gegenwartsdiskurs verbreitete Bilder über Stadt und Land ab. Dieses »Doppelleben« macht den Unterschied zu den zuvor untersuchten Büchern, da hier kein kompletter Umzug aufs Land, sondern das Leben im Landhaus an Wochenenden beschrieben wird. Auch dieses Buch wird beispielhaft für eine Reihe von Ratgebern behandelt, die sich alle einer Idee widmen: die Arbeitswoche in der Stadt zu verbringen und am Wochenende ein Haus auf dem Land zu bewohnen. Zu diesem Typ Ratgeberliteratur gehört bspw. auch Sarah Khans Wochenendhaus. Ein Ort (2019). Dass das zeitweise Wohnen auf dem Land schon länger ein literarischer Topos ist, ist in ganz anderen literarischen Formen an Judith Hermanns Sommerhaus, später (1998) und Thomas Harding Sommerhaus (2018) abzulesen. Letzterer schreibt 100 Jahre Familiengeschichte und deutsche Geschichte in ein Sommerhaus ein. In der vorliegenden Untersuchung wird Hochreithers Schöner Mist nun insbesondere dahingehend

1

Hochreither, Irmgard: Schöner Mist. Mein Leben als Landei, Berlin: Ullstein 2011, S. 140. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle SM im Fließtext nachgewiesen.

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in den Blick genommen, wie das Erzählen über Landleben am Wochenende den literarisch produzierten ländlichen Raum verändert und ob er überhaupt als Wissensobjekt konstituiert wird. Wie alle Bücher dieser ersten Untersuchungsgruppe hat auch Schöner Mist einen autobiographischen Hintergrund, Hochreither selbst ist seit 2004 (Wochenend-)Bewohnerin des Wendlandes. Sie lebt im wendländischen Simander,2 welches im Buch Polkefitz heißt und mit dem Vermerk eingeführt wird, »[m]an wird Polkefitz vergeblich auf der Landkarte suchen. Aber es existiert – und es steht für den liebenswerten dickschädeligen Spirit im Wendland.« (SM, 11) Die Anonymisierung macht das Dorf zum Symbol für Leben im Wendland insgesamt, da der fiktive Name realen wendländischen Dorfnamen wie Meuchefitz nachempfunden ist.3 Vor Verfassen des Textes hat Hochreither den Blog Stadt. Land. Lust auf stern.de betrieben, die vorliegende Erzählung ist teilweise hieraus hervorgegangen. Schon daran ist eine enge Verbindung zum Landlust-Diskurs zu sehen, denn in diesem haben Wortspiele wie »Stadt. Land. Lust« Tradition, so werden auch Bücher über solidarische Landwirtschaft (Stadt – Land – Lust. Nachrichten vom Hof VII (2019)) oder Sammlungen von erotischen Geschichten (Stadt, Land, Lust. Romantische Geschichten zwischen Alpenrand und Waterkant (2013)) betitelt. Zudem schreibt Hochreither für das Magazin Landluft, welches von im Wendland ansässigen Autoren verfasst wird. Auch in diesem Magazin wird Wahrheit über Land behauptet, so heißt es im Programmtext, die Zeitschrift fasziniere »den Leser mit Essays und Reportagen, die uns unter das Oberflächliche und Offensichtliche führen«.4 Diese Beobachtungen zum Entstehungsumfeld von Hochreithers Text sowie die Feststellung, dass dieser erst sieben Jahre nach dem eigentlichen ›Teilzeit-Umzug‹ und drei Jahre nach dem Erfolg der Landlust erschienen ist, weisen es relativ deutlich als Reaktion auf den Erfolg der ›Lust auf Land‹ aus. Das Buch erscheint also nach dem ersten Blick als Ergebnis einer »Verwertungsästhetik«,5 die Norbert Mecklenburg als eins der wichtigsten Elemente des Schreibens über Provinz identifiziert hat. Die Nähe zur ›Lust auf Land‹ ist sowohl im Titel als auch in der Umschlagsgestaltung angelegt. Der Titel Schöner Mist. Mein Leben als Landei nimmt eine Erzählhaltung vorweg, die durch das Wortspiel zum einen Unterhaltung, zum anderen die Vereinbarkeit von schönem und anstrengendem Landleben verspricht. Die Formulierung »Mein Leben als Landei« stellt einen Selbstversuch in Aussicht, der erst durch den in 2

3 4 5

Seifert, Vanessa: Teilzeit-Provinzler fürs Wochenende. Stadt, Land, Lust, in: Hamburger Abendblatt 16.07.2011, URL: https://www.abendblatt.de/region/norddeutschland/article108 054006/Teilzeit-Provinzler-fuers-Wochenende-Stadt-Land-Lust.html [Zugriff am 3.4.2018]. Zu dem Effekt, Glaubwürdigkeit durch Anonymisierung zu erlangen, vgl. Klein/Martínez 2012, S. 66. Landluft-Autorenvorstellung, URL: https://www.landluft.biz/wendland/2014/autoren_landl uft.html [Zugriff am 5.4.2018]. Mecklenburg 1986, S. 9.

Hochreither – Schöner Mist

der Fremdbezeichnung »Landei« angelegten städtischen Blick zum Ereignis wird. Diese Bedeutungsdimension wird spätestens mit Beginn der Erzählung verfestigt, wenn die Autorin sich als eigentlich leidenschaftliche Stadtbewohnerin beschreibt, die vom Landleben erst überzeugt werden musste. Wenige Seiten nach dieser Einschränkung wird allerdings schon der Erfolg der Unternehmung versichert, wenn die Autorin sich im Vorwort die »Diagnose: Landlust-Virus« (SM, 10) stellt und genau wie Moor und Sezgin aus der Position der etablierten Landbewohnerin einen Blick zurückwirft. So wird, ähnlich wie in den bisher untersuchten Büchern, schon vor Beginn des Erfahrungsberichts eine Erzählposition etabliert, die Verfügungsgewalt über den erzählten Umzug und das Landwissen schafft, da Hochreither sowohl als unerfahrene Umziehende wie auch als erfahrene Landbewohnerin spricht. Direkt im Anschluss wird die Beziehung zum Landleben in Liebesnarrativen erzählt: »Dieses Buch beschreibt eine Liebesbeziehung. Eine quasi über Nacht entflammte Passion. Und es handelt von der Irrationalität der Gefühle.« (SM, 10) Diese Konfiguration des ländlichen Raums als Ort von Emotionen stellt den Gang aufs Land noch offensichtlicher, als dies in den bisher untersuchten Erzählungen der Fall war, in die Tradition der Idyllik. Für eine Poetologie des Wissens ist entscheidend, dass die Besonderheit ländlicher Räume zunächst als unerklärbar markiert wird. Auch die überzeichnete Umschlaggestaltung folgt diesem Bild vom Land als Ort der Schönheit und des Gefühls: Auf dem Cover sind Rumpf und Beine einer in grünem Kittel und roten Stiefeln gekleideten Frau abgebildet, sie hält einen Spaten in der Hand. Die Kleidung wirkt modisch – die Vermutung liegt nahe, dass das städtisch meint –, ist aber leicht verschmutzt. Neben der Figur steht ein gezeichnetes Huhn. Diese Collage aus Foto und Zeichnung verspricht Authentizität (Schmutz), ohne auf Idylle (gezeichnete Hühner, kräftige Farben) verzichten zu müssen. Auch hier ist eine ›typisch ländliche‹ Situation zu sehen, jedoch in einer stärker verfremdeten Gestaltung, die, im Kontrast zu dem schlichten Bild von Schaf- und Menschenbeinen auf dem Umschlag von Sezgins Buch, ein stärker ästhetisiertes Bild von Landleben verspricht. Durch das Spiel mit den umlaufenden Motiven von Landlust und Arbeit ähnelt die Gestaltung eher dem Bild von Moor als gutem Hirten. Zusammenfassend gesagt: Mit Titel und Umschlag wird die Erwartungshaltung vom Land als Idylle vorbereitet, zugleich wird durch die verfremdenden und spielerischen Elemente ein Abstand zu dieser Tradition geschaffen. Zum Eindruck gefühlsbetonten Schreibens trägt auch bei, dass der Stil noch stärker konzeptionell mündlich und durch viele sprachliche Bilder geprägt ist. Hochreither bildet Sprechpausen teilweise mit ab (»›[…] Aber … ich … ich überleg’s mir noch mal. […]‹« (SM, 40)) und schildert Affekte sehr direkt (»Als er weg ist, komme ich mir ziemlich bescheuert vor« (SM, 40)). So entsteht ein unmittelbarer Leseeindruck, durch die sprachliche Ausgestaltung des Gefühlslebens wird die Wahrnehmung des Erzählten zudem gesteuert. Dieser ländliche Raum ist also belebt, die Auswahl und Ausgestaltung der Motive folgt zumeist dem Repertoire

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etablierter Erzählmuster wie dem der Idylle oder von Märchen – der Hund ist dann ein »Wildfang« (SM, 32) und am Morgen ist »[d]as Symphonieorchester […] in großer Besetzung angetreten, um uns aus den Betten zu pfeifen.« (SM, 36). Zu dem sehr unmittelbaren Eindruck der Erzählung trägt auch bei, dass die Ereignisse überwiegend zeitdeckend erzählt werden, sodass die Leser direkt am Umzugsgeschehen teilhaben. Schließlich trägt auch die Auswahl der Ereignisse dazu bei: Sie erscheinen als willkürlich gewählte Einblicke in das fortlaufende Umzugsgeschehen, zwischen ihnen bestehen längere, häufig unmarkierte, aber fast immer unbestimmte Pausen (»Nach ein paar Monaten« (SM, 112)). Die Auswahl des Geschehens folgt nur selten einer erkennbaren Logik außerhalb des Umzugsgeschehens, die Leser müssen sich auf die Auswahl und Erfahrung der Erzählerin verlassen. In der folgenden Analyse liegt der Fokus auf der Frage, welche Auswirkungen eine solche eher ästhetisierende Darstellungsweise auf das Entstehen eines ländlichen Raums als Wissensobjekt hat.

3.1 Inhalt und Struktur Durch die Anlage als autobiographischer Erfahrungsbericht ist auch Schöner Mist eine Transformationserzählung über die Autorin. Die Gleichsetzung von Autorin und Erzählerin erfolgt schon im Beginn, wo es heißt: »Ich danke allen Polkefitzern. […] Wer in diesem Buch Ähnlichkeiten mit lebenden Personen entdeckt – Zufall!« (SM, 11) Durch dieses Spiel mit Wahrheit und Erfindung wird der Erfahrungsbericht zur Beispielgeschichte über Umzüge aufs Land, was auch die Auswahl und Strukturierung des erzählten Raumes sowie des darüber vermittelten Wissens als beispielhaft erscheinen lässt. Diese Konstellation kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Autorin überwiegend scheinbar prototypische Elemente von Landleben erzählt, und betont, es sei in der Erzählung »[n]icht der Einzelne […] gemeint, sondern der Mikrokosmos einer lebendigen dörflichen Gemeinschaft« (SM, 11). Hochreither berichtet chronologisch von Entschluss, Umzug und Ankommen, von Dorffest, Spaziergängen, den Erfahrungen mit dem eigenen Hund, Gartenarbeit, ländlichen Handwerker-Traditionen und erzählt besonders zum Ende des Textes, wenn sie schon angekommen ist, von Dorfgeschichten. Der Bericht wird mit vielen Dialogen mit dem ›Mann an ihrer Seite‹ und Dorfbewohnern angereichert, die ebenfalls Wertungen, Geschichten und Wissen liefern. In diesem Verlauf der Erzählung sind wenig Überraschungen integriert, sodass auch in diesem Buch nicht im Umzugsgeschehen, sondern in der Erkenntnis des Ländlichen das »Unerwartbare« liegt, was nach Koschorke die »Lust des Erzählens«6 auf sich zieht.

6

Koschorke 2012, S. 50.

Hochreither – Schöner Mist

Der als Erzählschema etablierte Wissenserwerb wird aus einer Mischung von eigenen Erfahrungen sowie Belehrungen und Geschichten einzelner Landbewohner zusammengesetzt. Letztere werden häufig in metadiegetischen Einschüben erzählt, bspw. wird so über den Tod des Elektrikers Erwin oder die Schwierigkeiten des Jungbauern aus der Nachbargemeinde berichtet (vgl. SM, 177-180). Diese Einschübe werden teils in direkter, zumeist in indirekter Rede wiedergegeben, sodass auch hier nur selten die ›subalternen‹ Dorfbewohner sprechen. Die Chronologie des Umzugs ist ein eher loses Bindeglied zwischen den einzelnen Episoden, da für den Fortlauf der Handlung der Erkenntnisprozess sowie die Entwicklung der Protagonistin entscheidender sind. Erst durch die Transformationserzählung von der »Stadt-Neurotikerin« zum »Teilzeit-Landei« (SM, 10) werden die sonst willkürlich erscheinenden Ereignisse zu elementaren Punkten des Umzugsgeschehen, wenn man annimmt, dass genau das erzählt wird, was die notwendigen Erkenntnisse ausgelöst hat. Darin ähnelt die Erzählkonstruktion der von Moor und Sezgin: Genau wie in deren Texten werden die Auswahl und Anordnung der einzelnen Geschichten zudem durch das im Vorwort gegebene Versprechen eines erfolgreichen Umzugs autorisiert. Neben diesem Verlaufsmodell von Umzug, Entwicklung und Ankommen wird das Geschehen durch zyklische Zeitläufe wie die Jahreszeiten oder aber soziale Zeitläufe wie generationenübergreifende Familiengeschichten geordnet. In Schöner Mist wird das Ankommen über ein Jahr hinweg von Februar (vgl. SM, 13) bis Dezember (vgl. SM, 206) erzählt, sodass durch den natürlichen Jahreszeitenrhythmus ein Rundumblick über Landleben ermöglicht wird. Erst seitdem die Autorin sich »außerhalb von Straßenschluchten bewege, geben Frühling, Sommer, Herbst und Winter einen ganz anderen Takt vor.« (SM, 85) Die Wahl dieses natürlichen Sequenzschemas trägt auch zur Autorisierung des Erzählten und der narrativ vermittelten Wissensbestände bei: Was hier erzählt wird, basiert nicht nur auf der Auswahl der Autorin, sondern ist notwendig, weil an den Zeitläufen der Natur orientiert. Zudem ist auffällig, dass, wie auch schon bei Moor, der Winter zur ästhetischen Leerstelle wird. Die Bedeutung der Jahreszeiten für die Entwicklungsgeschichte wird noch in den letzten Sätzen des Textes thematisiert, in denen versichert wird, dass Hochreither nun Teil des wiederkehrenden ländlichen Jahresverlaufs ist. So wird die Geschichte potenziell unendlich in die Zukunft verlängert: Der Jahreswechsel mit all diesen ritualisierten, gestelzten Gepflogenheiten war mir immer ein Gräuel. Aber hier, im Zentrum von Polkefitz, ist die Nacht voller Versprechungen. Auf in die nächste Runde. Alles auf Anfang. Alles neu und doch vertraut. Noch mal Frühling, Sommer, Herbst und Winter – ich freue mich drauf. (SM, 206) Innerhalb des so zwischen Wissenserwerb und Naturzeit etablierten Verlaufsschemas werden Umzug und Ankommen in einzelnen Episoden ausschnittsweise er-

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zählt. Ähnlich wie in den Büchern von Moor und Sezgin führt jede der erzählten Episoden zu einer neuen Erkenntnis und trägt zur Entwicklung der Autorin bei. Beispielhaft ist das an einer Unterhaltung mit dem ortsansässigen Jäger Willi über das Töten von Tieren zu sehen (vgl. SM, 188-194). Im Gespräch lernt Hochreither dann etwas über die Notwendigkeit der Jagd zur Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts und isst seither wieder (Wild-)Fleisch. Die lebensverändernde Wirkung dieses Wissens ist entscheidend, weil damit die Entwicklungsgeschichte etabliert wird. Die Bedeutung dieser Begegnung und der daraus folgenden Erkenntnis werden schon vor der eigentlichen Begegnung mit Willi durch einen Vorausblick versichert: Doch meine Vorurteile gegenüber Jägern saßen so tief, dass ich ein paar Monate brauchte, bis ich den wahren Willi erkannte und ihm die Tür zu meinem Herzen öffnen konnte. Heute sitzt er dort auf einem Ehrenplatz. Und nicht einmal ein erschossener Rehbock wird ihn jemals dort vertreiben können. (SM, 190) Diese Konstellation von parallelgesetztem Wissen und Unwissen über Landleben wird durch die im Vorwort festgelegte Dopplung des Erzählens ermöglicht, mit der auch eine Dopplung epistemischer Zustände vollzogen werden konnte. Erst durch diese Erzählkonstellation kann der Dualismus von »Stadt-Neurotikerin« und »Teilzeit-Landei« fortwährend in narrativer und epistemischer Hinsicht eingelöst werden. Am Ende der Episode wird die Deutung der Episode als eine Erkenntnisgeschichte und ›Ende der Täuschung‹ abgesichert: Wer trennt sich schon gern leichten Herzens von seinen jahrelang gehegten Überzeugungen? Doch selbst mir ist das inzwischen aufgegangen, dass der Abschuss von Tieren ein komplexes Thema ist, das sich nicht nur aus meiner sentimentalen Perspektive heraus betrachten lässt. (SM, 194) Gerade an diesem letzten Zitat ist zu erkennen, wie die persönliche Entwicklung der Autorin demonstriert und als Abfolge von Ablehnung (»Vorurteile gegenüber Jägern saßen so tief, dass ich ein paar Monate brauchte«), Erkenntnis (»bis ich den wahren Willi erkannte«) und Veränderung (»und ihm die Tür zu meinem Herzen öffnen konnte«) erzählt wird. Diese Episode steht beispielhaft für die kurzen Erkenntnisgeschichten, aus denen der Text zusammengesetzt ist, und die in Gänze die zentrale Erkenntnis- und Entwicklungsgeschichte des Buches konstituieren. Im folgenden Unterkapitel wird der Fokus darauf gerichtet, inwiefern auch die Raumkonfiguration von Schöner Mist von diesem Erzählschema geprägt wird, und inwieweit sie von Einstellungen und Erkenntnissen des Erzählsubjekts abhängig ist.

Hochreither – Schöner Mist

3.2 Raum, Umzug und Entwicklung Der Zusammenhang von Umzug, Entwicklung der Protagonistin und Raumkonfiguration ist u.a. daran ablesbar, dass am Beginn des Buches eine überzeugte Städterin beispielweise von Urlauben und urbaner Lebensweise berichtet, so heißt es in der Schilderung zu einem Paris-Besuch: Wie immer ist das Wochenende an der Seine in atemlosem Tempo vorbeigerauscht. Eine hochkonzentrierte Abfolge schöner, anregender, genussvoller Momente. Freunde treffen, durch Galerien bummeln, Museen besuchen, ins Theater gehen, Restaurants testen, Geld ausgeben für Dinge, die man sich eigentlich nicht leisten kann und überhaupt nicht braucht. (SM, 13) Hier wird das bekannte Bild der Stadt als Ort des Überflusses vorbereitet, aber eben noch positiv bewertet. Die erzählte Stadt soll den Lesenden schon aus medialen Produktionen und eigenen Erfahrungen bekannt sein. Dass hier eine ›Frau von Welt‹ zu Wort kommt, wird durch ihre Beschreibung des im Bus neben ihr sitzenden Mannes signalisiert, dieser spricht nämlich »[i]n diesem charmanten Indisch-Englisch, das mich immer an New Yorker Taxifahrer erinnert.« (SM, 15) Da erzählt also eine Städterin und so reagiert sie ablehnend auf den Vorschlag des Partners, ein Haus in Brandenburg zu beziehen: »›Du willst mich in die Pampa verschleppen? […] Vergiss es! Wenn überhaupt Pampa, dann nach Argentinien. Was soll ich in der deutschen Provinz?‹« (SM, 18) Die Protagonistin hat Kenntnis über Stadt und Land, der ländliche Raum ist ihr Provinz, ein geschlossener Raum im Gegensatz zur offenen, modernen Urbanität. Gleichzeitig zeigt der Umgang mit dem Begriff Pampa an, dass es im Folgenden um Wissen und Verfügungsgewalt über Räume gehen wird: Indem das für Provinz gebräuchliche Wort auf seine ursprüngliche Bedeutung, eine Bezeichnung des argentinischen Hochlands, zurückgeführt wird, wird nicht nur Weltwissen behauptet, sondern werden auch unterschiedliche Grade von Provinz gegenübergestellt. Der nahen brandenburgischen Provinz wohnt, anders als der argentinischen, keine exotische und damit wertvolle Dimension inne. Mit dieser Ablehnung wird ein exotistischer städtischer Blick auf ländliche Räume abgebildet, der sie als fremde Ort schreibt. Durch diese Einnahme einer urbanen Mehrheitsposition wird das zentrale Entdeckungsmoment des Textes vorbereitet: Die Umdeutung der nahen Provinz von einer uninteressanten, nahen Fremde zum Heimatort.7 Der Umzug selbst wird schließlich beschrieben als Verlassen der städtischen Sicherheit (»›[…] Ich bin ein Stadtmensch! […] Ich wohne sehr gerne im vierten Stock

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Das Konzept der nahen Fremde bzw. des Nahexotismus wird schon seit einigen Jahren aus der Ethnologie auch in Kultur- bzw. Literaturwissenschaft übertragen, vgl. hierzu u.a. Beutner, Eduard/Rossbacher, Karlheinz (Hg.): Ferne Heimat, nahe Fremde. Bei Dichtern und Nachdenkern, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2008.

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und kaufe mein Basilikum auf dem Wochenmarkt.‹« (SM, 18)) und als Weg in die wilde und bedrohliche Fremde, das »Ende der Welt« (SM, 19). Dieses locus terribilisMotiv prägt dann auch den ersten Gang aufs Land: Hochreither sieht »Überholverbote und mit Blumen geschmückte Kreuze am Wegesrand« (SM, 19). Es ist dann als Effekt einer veränderten Wissenslage zu verstehen, wenn aus der bedrohlichen Fremde direkt im Anschluss die zu entdeckende terra incognita wird, indem ihr Partner und eigentlicher Initiator des Umzugs erklärt: ›Durch die Lage im ehemaligen Zonenrandgebiet hat man den Landstrich sich selbst überlassen, und das ist der Natur sehr gut bekommen. Es gibt ganz viele seltene Tiere da. Störche, Fischadler, Biber. Und dann der Blick über die Wiesen, diese Weite.‹ (SM, 18) Diese Schilderung unberührter Natur macht den ländlichen Raum nicht nur zum Wissensobjekt, sondern bewertet auch einen vermeintlichen Naturzustand als schön und gut, was, das wurde im Traditionskapitel gezeigt, nicht neu ist. Der Wille, diesen unbekannten Ort dann zu beziehen, wird zunächst gebremst, wenn Land und Dorfgemeinschaft als geschlossene Entitäten vorgestellt werden, die sich solcher Aneignung verschließen. Das Rundlingsdorf erinnert Hochreither an »die Verteidigungsbereitschaft einer Wagenburg im Wilden Westen« oder »das wehrhafte gallische Widerstandsnest« aus Asterix und Obelix, das hier mit dem Römerlager »Klein Bonum« (SM, 20) verwechselt wird. Die so aufgerufenen Abenteuer- und Landnahme-Narrative erweitern den Umzug um Herausforderungsund Widerstandsmotive und machen die Fahrt ins Unbekannte noch einmal mehr beschwerlich. Anders als bei Moor oder Sezgin hält diese Fremde aber nur wenige Seiten stand, denn die Landnahme erfolgt schnell und wird auch in Schöner Mist durch Wissen erreicht: »›Polkefitz ist ein Rundlingsdorf‹, klärt mich der in Heimatkunde bewanderte Mann auf, ›so was gibt es nur hier, im Wendland.‹« (SM, 20) Auch der zunächst als »Bestie« (SM, 20) beschriebene Hund wird durch Wissen der Einheimischen und des Partners klassifiziert und damit bezwingbar: ›Leo ist ein Hovawart‹, klärt Paul uns auf, ›die waren im Mittelalter dazu da, in Eigenregie die Höfe zu bewachen.‹ Der Mann an meiner Seite nickt und meint fachkundig: ›Nicht ganz einfach, die Rasse. Sehr revierbewusst und schwer zu erziehen.‹ (SM, 22) Bei der ersten Begegnung mit diesem Hofhund wird die existenzielle Bedeutung von Wissen herausgestellt, denn für dessen Verwandlung von der Bestie in einen Freund gelte das »[e]rste[] Hofhund-Gesetz: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.« (SM, 32). Die Fremde, der Hochreither hier begegnet, wird durch solche Erfahrungen und dem daraus abgeleiteten Wissen schnell und relativ problemlos geordnet. Häufig werden die eigenen Erfahrungen durch kulturell tradierte Narrative or-

Hochreither – Schöner Mist

ganisiert, dann ist der Besitzer des gemieteten Hauses »ein kräftiger Mann mit wilder weißer Lockenmähne. Zeus« (SM, 22), und damit ein angemessener Bewohner des mythischen ländlichen Raums. Diese Abfolge von Herausforderung durch das Fremde und Landnahme führen einen Erzählmodus ein, der sich im Text mehrfach wiederholt und Parallelen zu den anderen Büchern aufweist: Das Land ist für Protagonistin und Lesende zunächst ein fremder Ort, die Landnahme wird anhand einzelner ›typischer‹ Geschichten erzählt, das aus der Erfahrung gewonnene Wissen macht die Fremde zugänglich und sorgt für Teilhabe. Das sonst noch notwendige Wissen erlangt die Autorin aus lokalen Wissensquellen, neben dem aus Polkefitz stammenden »Mann an ihrer Seite« ist insbesondere der Vermieter des Wochenendhauses, der ebenfalls als Träger von Wissen eingeführt wird, wenn er angesichts eines »Dschungel[s] aus Gräsern, Kräutern und Wildblumen« feststellt, das sei »›[g]ut für alle Bodenbrüter‹« (SM, 56). Und auch die anderen auf dem Land situierten Figuren des sind Wissensträger, z.B. Hochreithers »Nachbarin Helena ist so was wie ein botanisches Nachschlagewerk auf zwei Beinen.« (SM, 145) Schon nach wenigen Seiten ist von der anfänglichen Abwehr gegenüber Landleben dann nur noch wenig zu lesen und die »kräftige Märzensonne wirft Licht« (SM, 36) auf die Szene. So wandeln sich Naturschilderungen von locus horribilis(Kreuze am Straßenrand) zu locus amoenus-Motiven: »Wir bewundern gemeinsam die Seerosenblüten, und dann wandert unser Blick hinüber zur angrenzenden Hausweide, auf der ein paar Pferde grasen.« (SM, 22) Das Ganze wird dann als derartig schön beschrieben, dass Magie oder der von René Descartes eingeführte Täuschergott am Werk sein müssen, wenn beispielweise der Landluft vorgeworfen wird, dass sie »offensichtlich die Sinne vernebelt« (SM, 23). Auf diese Weise wird dem ländlichen Raum wiederkehrend eine unwiderstehliche Anziehungskraft eingeschrieben: Ich ziehe die würzige Luft in meine Lunge. Was ist nur los mit mir? Es ist fast so, als hätte mich jemand einer Gehirnwäsche unterzogen. Aber dieser Flecken außerhalb meines Koordinatensystems lässt mich doch tatsächlich sentimental werden. Dabei ist hier nicht Paris, sondern Polkefitz. […] Sollte ich nicht besser ganz schnell abhauen, bevor ich mein Herz verliere an einen Naturpark, der mir offensichtlich die Sinne vernebelt? (SM, 22) Die Städterin kämpft gegen die Verführungen des Landlebens, um zu veranschaulichen, dass die medial versprochene Schönheit zwar unglaublich, aber eben doch wahr ist. Zwar ist diese Raumkonfiguration schon in Titel und Umschlagsgestaltung des Buches sowie dem Verlagsprogramm angelegt, da sie aber erst hinter den städtischen Bildern über Land erkannt werden muss, wird die Schilderung umso wahrer. Mehr noch als in den anderen Büchern ist die Erkenntnis über Land primär eine Entdeckung von Schönheit, das meint aber nicht wie bei Sezgin oder Moor die unbekannte Schönheit der ländlichen Herausforderungen und ländlichem Alltag, son-

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dern eher die Entdeckung, dass die im Landlust-Diskurs enthaltenen Bilder vom guten Leben auf dem Land wahr sind. Zugleich wird durch die Einordnung des eigenen Handelns in die traditionellen und gegenwärtigen Bildwelten ländlicher Räume, also locus amoenus- bzw. locus horribilis-Motive, und die so etablierte Entdeckungsgeschichte die eigentlich handlungsarme Erzählung um ein Ereignis angereichert: Das Übertreten der Grenze zwischen Stadt und Land, die zwar beide schön aber doch unterschiedlich sind. Gerade durch den bildreichen Stil wird das Übertreten dieser Grenze für die daheimgebliebenen Leser nachvollziehbar und Schöner Mist zum belletristischen Äquivalent der Magazine wie Landlust. Dieser wichtigste Intertext wird wiederholt direkt adressiert, bspw. wenn Hochreither im Haus des künftigen Vermieters »[p]erfekte Landlust-Ästhetik« (SM, 25) vorfindet. Was darunter zu verstehen ist, wird anschließend ausführlich beschrieben: »Die weiß lackierten Fensterrahmen und die ochsenblutrot gestrichenen Türen geben dem langen, dunklen Ziegelbau ein fröhliches Gesicht […]. Den Hausflur schmückt ein Terrazzo-Fußboden« (SM, 24f.). Dann lobt Hochreither die »Patina des langen Eichentisches«, der dadurch aussieht »als habe dort schon Kaiser Barbarossa mit bloßen Händen eine Wildschweinkeule verzehrt« (SM, 25). Die Anziehungskraft dieses ländlichen Raums basiert nicht nur auf seiner natürlichen und architektonischen Schönheit, sondern auch darauf, dass er den Blick in eine vergangene Zeit ermöglicht. Aus der ästhetischen Entzückung über die Küchengestaltung folgt letztlich auch der Entschluss zum Umzug ins Wochenendhaus, er wird in stiller Übereinkunft mit dem eben noch Bestie gewesenen Hund gefasst: »Leo schleckt mir dankbar über die Hand, wir schauen uns in die Augen, und ich weiß: Das ist es.« (SM, 26) Die Entscheidungsfindung wird zu einem intuitiven, beinahe magischen Moment. Kurz darauf wird der Entschluss wiederholt als »lautes, deutliches ›Ja‹ zum großen Abenteuer« (SM, 29). Die Phase des Planens, Überlegens und Packens wird auf wenigen Seiten abgehandelt, sodass die Landnahme vollzogen werden kann, was ähnlich wie bei Moor in Abenteuer-Motiven erfolgt: Hochreither ist dann wahlweise »Entdecker« (SM, 30) oder »Marco Polo, der gleich seinen Fuß auf den Boden einer unbekannten Insel setzen wird.« (SM, 31) Den eigenen Umzugspraktiken werden dabei mitunter auch anthropologische Begründungen zugeschrieben: »›[w]enn man neues Terrain erobern will, muss man seine eigene Duftmarke setzen […] und weil wir Menschen sind, können wir leider nicht in jede Ecke pinkeln. Also putzen wir.‹« (SM, 30) Erst durch diese Eroberung ist der ländliche Raum nicht mehr Fremde, sondern »›ein wunderbares Gegengewicht zur Stadt, endlich ein Ort, um den Kopf freizukriegen, jeder Mensch braucht doch solche kleinen Fluchten‹« (SM, 27). Wenn die Heldin die kulturelle Grenze überschreitet, wird die anfangs gesetzte Raumkonfiguration als Stadt-Land-Dichotomie also nicht aufgelöst, sondern zunächst durch den Rückgriff auf etablierte Narrative ländlicher Räume verfestigt – durch die so einmal überschrittene aber auch nach dem Umzug immer noch feststehende Grenze wird

Hochreither – Schöner Mist

das für Wochenendhausberichte passende Erzählmuster vom Wanderer zwischen den Welten etabliert. Das dann im eroberten Raum erlangte Regionalwissen wird häufig eher beiläufig dargestellt, um die Verwurzelung in der Region zum Ausdruck zu bringen. »Längst wundern wir uns über nichts mehr« (SM, 43), stellt die schon ortsansässige Hochreither bereits auf Seite 43 von mehr als 200 fest und beweist so, dass sie an diesem Punkt durch Erfahrung Teil des eroberten Raumes geworden ist. Diese Zugehörigkeit wird innerhalb des Textes regelmäßig aufs Neue bewiesen, bspw. durch den Gebrauch von Regionalismen wie die Benennung Lüchow-Dannenbergs als »Psycho-Pannenberg[]« (SM, 43). Ähnlich wie auch in Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht wird die Region über Sprache zugänglich gemacht und dieses Wissen direkt an die Lesenden weitergegeben, kurz darauf heißt es etwa nach erfolgreichem Dorfputz: »Erna füllt Erbsensuppe in die Teller, schaut über den Dorfplatz und lobt: ›Alles wieder schön schier.‹ Schier, so lerne ich, ist ein Ausdruck höchster Anerkennung für Sauberkeit, Ordnung und Übersichtlichkeit.« (SM, 47) Hinzu kommen Erkenntnisse über die Täuschungen durch die eigenen urbanen Vorurteile, wie am Beispiel des Jägers Willi gezeigt wurde, aber auch über die eigene Vermieterin stellt Hochreither fest: »In meinem Kopf habe ich den Typus ›Landfrau‹ ganz anders abgespeichert.« (SM, 34) Die Vorurteile werden schnell abgebaut und schon vor der Mitte des Buches erwacht in der Erzählerin ein »Naturforscher-Gen«, das sie zur Naturbeobachtung anhält: Es ist immer wieder aufs Neue ein faszinierendes Schauspiel, die Präzision natürlicher Vorgänge hautnah mitzuerleben. Und auf Schritt und Tritt zu erkennen: Die Natur ist uns Menschen haushoch überlegen. Ein Tatbestand, den ich demütig und staunend zur Kenntnis nehme. (SM, 85) Doch die Einordnung der Beobachtungen ist auch hier noch konzeptionell städtisch, die Vögel fliegen »[w]ie auf einem internationalen Großflughafen.« (SM, 85.) Das erinnert an Moors Natur-Schilderung, der mit den Vögeln die Vorstellung von einem »Bio-GPS« (WB, 94) verbindet. Wie bei Moor ähnelt die Naturbeschreibung der von Naturdokumentationen, wenn es über Zugvögel heißt: »Die Kommunikation zwischen den einzelnen Reisegruppen läuft dank eingebauter Navigationstechnik wie am Schnürchen. Touchdown auf der Lieblingswiese vom letzten Jahr. Die Balz-Show kann beginnen.« (SM, 86) An anderer Stelle werden Tiere mit menschlichen Attributen beschrieben, über die Auseinandersetzung zweier Hunde schreibt Hochreither, der fremde Hund »trippelt aus seinem Hoheitsbereich und schnürt frech auf uns zu.« (SM, 61) Die Anthropomorphisierung, dass der Hund ›trippelt‹ und ›frech‹ läuft, bereitet die Beobachtung vor, »dass Hunde sich offenbar zivilisierter benehmen als manche Schüler auf dem Pausenhof.« (SM, 61) Diese Schilderungen schöner und belebter Natur sind idyllisches Repertoire, was wiederum die Vermutung stützt, dass primär die Entdeckung eines schönen Außenraums erzählt

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wird. Dass der Umgang mit ländlichen Räumen in dieser Deutung aber nicht aufgeht, ist an der wiederholten Formulierung von Regelwissen abzulesen, wodurch der schöne Ort zum unbekannten Objekt wird, über den Wissen und Anleitungen zu vermitteln sind. Aus der Beobachtung des Verhaltens der Hunde reift dann bspw. in der Erzählerin »die Überzeugung, dass wir von Hunden eine ganze Menge lernen können. Zum Beispiel, wie man sich Respekt verschafft – und unblutig Konflikte löst.« (SM, 61) Und auch die eigenen Erfahrungen mit dörflichem Sozialleben führen zur Etablierung eines Regelwerks mit der zentralen Feststellung, »[w]er als Wochenendnachbar auf Integration in die dörfliche Gemeinschaft hofft, sollte etwas übrighaben für den Geist in der Flasche.« (SM, 140) In Schöner Mist dienen solche Darstellungen von Wissen also nicht nur der Kennzeichnung des Umzugs als Entwicklungs- und Erfolgsgeschichte, sondern auch dazu, die Entdeckung guten und schönen Lebens als authentisch zu erzählen, also gewissermaßen eine empirische Validierung des Diskurses um die ›Lust auf Land‹ zu leisten. Im folgenden Unterkapitel wird untersucht, welche Bedeutung dem Raum selbst für die Entstehung dieses Wissens und damit der Transformation in eine ›echte Landbewohnerin‹ zugeschrieben wird.

3.3 Räume als innere Forschungsreisen War bei Moor und Sezgin das Landleben erst beschwerlicher als vorgestellt und bedurfte einer Änderung des Raumbilds und des Helden, so wird in Schöner Mist entdeckt, dass die traditionellen Idylle-Erzählungen keine Täuschung sind, man müsse sich nur auf den ›Zauber‹ des Landlebens einlassen, um ihre Wahrheit zu erkennen. Und diese Erkenntnis führt dann auch zu einer Entwicklung der Erzählerin, so stellt Hochreither in der Mitte ihrer Erzählung fest: »Früher stand ich an den Wochenenden gerne und ausdauernd vor dem Spiegel. […] Heute gehört zum Weekend-Feeling der Verzicht auf jeden eleganten Anstrich.« (SM, 132) Der Beweis des Ankommens ist durch die Absage an »jeden eleganten Anstrich« erbracht, was im Kontrast zu der anfänglichen Frage, ob »nicht jede Frau wenigstens eine Handtasche von Hermès besitzen« (SM, 13) sollte, zum Beweis einer raumgemäßen Veränderung wird. Um diesen Punkt zu betonen lässt Hochreither dann von zu Besuch kommenden Städterinnen bestätigen, dass ihre Form von Landleben eben nicht mehr den ästhetischen Idealen der Landlust entspringe, sondern authentisch sei, denn ihr »Outfit hat mit Bohemien-Country, oder wie immer der neue Style heißen mag, nicht das Geringste zu tun. […] Da überfiel mich plötzlich eine ferne leise Wehmut, weil ich erkannte: Das Luxusweibchen in mir ist mausetot.« (SM, 133) Durch diese Transformation kommt die Erzählerin »zu der Einsicht, dass Verzicht auch etwas Befreiendes haben kann. Kein Zwang zur Selbstinszenierung« (SM, 133). Diese Erkenntnisgeschichte erweitert dann auch die Stadt-Land-Erzählungen vom Anfang um das

Hochreither – Schöner Mist

Motiv vom Land als Ort außerhalb kapitalistischer bzw. neoliberaler Anforderungsund Inszenierungslogiken. Eine Fortsetzung dieses Motivs ist in der Schilderung der Ortsgeschichte, insbesondere der Anti-Atomkraft-Bewegung zu sehen, wo es heißt, »die Bosse von einst hatten die Rechnung ohne die wendländischen Dickschädel gemacht.« (SM, 100f.) So wird Polkefitz zum widerständigen und eigenständigen Ort außerhalb politischer Zeitläufe. Die darin angelegte neue Stadt-Land-Konfiguration wird auch durch einen zugezogenen, umweltbewussten Nachbarn Hochreithers repräsentiert, der über die Entwicklung seiner Kinder feststellt, für diese werde es »eine ganz neue Erfahrung, […] zu lernen, dass nicht immer alles sofort zur Verfügung steht. Dass das Leben nicht nur aus Kaufen und Konsumieren besteht.‹« (SM, 106) Wenige Seiten später wird diese Entwicklung der Protagonistin am Raum erneut betont, wenn die zugereisten Stadtbewohnerinnen angesichts der nun vollzogenen Gartenarbeit attestieren: »Du hast dich verändert« (SM, 151). Hochreither stellt darauf fest, sie »›finde es, […] entspannender, im Akkord Zucchini zu verarbeiten, als in einem angesagten Restaurant zu sitzen und mir Carpaccio mit Trüffeln servieren zu lassen.‹« (SM, 156) Die Transformation von der »Stadt-Neurotikerin« zum »Teilzeit-Landei« (SM, 10) ist damit abgeschlossen, erst jetzt kann Hochreither aus dem Dorfinneren erzählen, was in der zweiten Hälfte des Buches ausführlich macht. Am Ende des Buches macht Hochreither dann eine abschließende Inventur des erworbenen Wissens: Ich habe viel gelernt in Polkefitz. Ich kann mit bloßer Hand Zecken aus dem Hund drehen, ohne dass der Kopf stecken bleibt. Ich schaffe es, ruhig zu bleiben, wenn sich beim Duschen über mir die Spinne abseilt. Ich bin in der Lage, die merkwürdigsten Pflanzenzüchtungen zu einer schmackhaften Mahlzeit zu verarbeiten. Ich kann Jäger akzeptieren und Fleisch von Tieren essen, die ich kenne. Doch das Wichtigste: Ich habe das Gefühl, nach einer langen Reise zu Hause angekommen zu sein. (SM, 206) An dieser Textstelle sind mehrere Beobachtungen zu machen: Erstens eignet auch der ländliche Raum sich als Heimat und passt sogar besser als andere Räume. Zweitens besteht das gesammelte Wissen weniger aus Informationen über den Raum, sondern hauptsächlich aus praktischem Wissen oder Können, das benötigt wird, um gut im Raum leben zu können. Drittens ist von diesen ruralen Kompetenzen abhängig, ob die Einheit von Mensch und Raum eingelöst werden kann. Dass Hochreither zur Einheit kommt, ist als Beweis ihres Kompetenzerwerbs zu lesen. An die hierfür notwendige Unterscheidung von Stadt und Land werden weitere paradigmatische Oppositionen gehängt, die im Laufe des Textes regelhaft formuliert werden: In Anlehnung an Ferdinand Tönnies’ Bestimmung von Gesellschaft und Gemeinschaft wird die Stadt zum Ort rechtlicher, das Land zum Ort sozialer Kontrakte. Sehen laut Hochreither in der Stadt »die meisten Mietverträge aus wie

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die Schlussakte von Helsinki«, genügten »[a]uf dem Land […] ein Blatt Papier und das Versprechen, sich um den Kaminholz-Nachschub zu kümmern.« (SM, 33) Zudem wird das Miteinander des Dorfes als ordnende und kontrollierende Instanz bestimmt, es ist »kein Ort für Geheimniskrämer« (SM, 175). Diese Konfiguration schließt an die im Vorwort versprochene Erkenntnis an, »[w]as ein Dorf ausmacht, sind seine Bewohner.« (SM, 11) Erst die Kenntnis dieser Menschen und der Gemeinschaft bedeutet Teilhabe am Dorfleben. Stadtbewohner treten in Hochreithers Text eher selten auf und sind meist randständige Karikaturen eines anderen Lebensstils, so beobachtet sie bei Kulturveranstaltungen im Wendland zugereiste, »[b]egeisterungsfähige Großstädterinnen aus der ›Generation fünfzig plus‹, die in Phantasiegewändern dem Alter eine Nase drehen und im ländlichen Kulturraum Anregung und Genuss suchen« (SM, 121). Auch wenn die Autorin selbst zeitweise in der Stadt wohnt, werden die permanent in der Stadt wohnenden Menschen an diesem Punkt bereits in Abgrenzung zur eigenen Person als Außenstehende beschrieben. Darin steckt eine Regel über das Verstehen ländlicher Räume: Kenntnis ist erst durch Teilhabe möglich. Die Transformationsgeschichte Hochreithers wird zwar als ein Übergang zwischen Stadt und Land erzählt, darin steckt aber vielmehr eine Entwicklung zwischen zwei mentalen Zuständen: Zwischen dem durch kulturellen Ballast verstellten, urbanen Zustand und dem ruralen, in dem der Mensch zu sich kommen kann. Der erfolgreiche Vollzug dieser Entwicklung wird erst durch Erkenntnis der wahren Schönheit des Landlebens erreicht und mit dem Zugehörigkeitsgefühl der Protagonistin zur Dorfgemeinschaft bewiesen. Dadurch werden auch in dieser Erzählung der Erwerb von Wissen über Land und die dadurch ermöglichte Entwicklung zu dem wichtigsten Integrationsmodus des Erzählens, der die lose Reihung von Begegnungen und Erlebnissen zu einer Geschichte formt. Dass in dieser Verlaufsgeschichte die räumliche Bewegung als Vehikel einer psychischen Entwicklung erscheint, stellt Schöner Mist in die Tradition exotistischer Literatur, deren Plot traditionell durch das Motiv der »innere[] Forschungsreise«8 geprägt ist. Um diese innere Entwicklung als räumliche Geschichte erzählen zu können, muss also auch Hochreither Stadt und Land als finite Zustände, als Containerräume beschreiben. Ähnlich wie in den zuvor analysierten Büchern handelt es sich also auch bei Schöner Mist um die Geschichte einer Suche nach der Wahrheit etablierter Raum8

Zenk 2003, S. 15. Diese Deutung geht über das geläufige Verständnis von Exotismus hinaus, in welchem seine Autoren »als regressiven Wunschträumen verhaftete, vornehmlich mit dem Entwurf und der Ausmalung von Fluchtphantasien beschäftigte Literaten [erscheinen, H.S.]. Um sich der als bedrückend empfundenen Wirklichkeit der westlichen Zivilisation zu entziehen, projizieren sie archaisch-harmonisierende Bilder in die Fremde ferner Länder.« Ebd., S. 10; In der von Zenk vorgeschlagenen Deutung geht es zwar um die Erschließung neuer Gebiete, »jedoch nicht im geographisch-physikalischen Sinne; vielmehr geht es um die Entdeckung unerforschter Gebiete im Inneren der Psyche«; ebd. S. 11.

Hochreither – Schöner Mist

bilder. Anders als bei Moor und Sezgin geht es hier aber nicht um ein Ende der Täuschungen über Land, sondern um den Beweis, dass die traditionellen, märchenhaften und idyllischen Gemeinschafts- und Natur-Erzählungen tatsächlich wahr sind. Idylle-Tradition und Landlust-Diskurs werden fortgeschrieben, der Erfahrungsbericht dient als deren Beleg. Gerade durch das Narrativ vom Wanderer zwischen den Welten muss kein ganz neuer Raum entdeckt werden, der als Alltagsraum taugt, durch die Erzählung vom Wochenendhaus ist eine andauernde Brücke zwischen Stadt und Land hergestellt. Im folgenden Abschnitt werden diese Beobachtungen weiter ausgebaut und es wird gefragt, inwiefern durch den veränderten Umgang mit tradierten Raumbildern auch der Umgang mit Intertexten und Diskursen verändert wird.

3.4 Traditionen und Diskurse Gerade in Schöner Mist ist also eine Häufung von Intertexten auffällig, welche an Erfahrungswissen der Leser anknüpfen. Neben den bereits erwähnten Verweisen auf den Landlust-Diskurs gibt es eine auffällige Häufung von Verweisen auf populärkulturelles Repertoire. Dann ist bspw. »Kalle […] die wendländische Antwort auf Robert Pattinson« (SM, 117) oder Der kleine Prinz wird für eine Epistemologie für das Leben auf dem Land herangezogen, denn bei manchen Beobachtungen über Land »stimmt eben doch der Satz von Saint-Exupéry: Man sieht nur mit dem Herzen gut, die Wahrheit ist für die Augen unsichtbar.« (SM, 190) Indem so regelmäßig bekannte Bilder und Meinungen aufgerufen werden, wird ein gemeinsames kulturelles Repertoire zum verbindenden Element zwischen Autorin und Lesenden. Auf diese Weise werden aber nicht nur Identifikations- und Anknüpfungspunkte für den Rezeptionsprozess geschaffen, sondern die Autorin betont auch die von ihr mitgelieferte Verhältnisbestimmung des Textes zum großen Kontinuum literarischer und kultureller Erzählungen über Land.9 Zugleich wird die Tradition in konkrete Erfah-

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Hochreither nutzt zudem die von Roland Barthes identifizierte Eigenheit des Intertextes, das eigene Schreiben als gleichberechtigter Teil der Texttradition zu etablieren. Gemeint ist die »Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben – ob dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehbildschirm ist: Das Buch macht den Sinn, der Sinn macht das Leben.« Barthes, Roland: Die Lust am Text, 7 Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 53f. Zu diesem Prozess vgl. auch Fulda, Daniel/Matuschek, Stefan: Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung, in: Winko, Simone/Jannidis, Fotis/ Lauer, Gerhard (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin/New York: de Gruyter 2009 (Revisionen: Grundbegriffe der Literaturtheorie 2), S. 188-222, hier: S. 203f.

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rung übersetzt, was eine gängige Strategie zur Verständnis- und Aufmerksamkeitssicherung in Sachbüchern ist.10 Das ist insbesondere an der Vielfalt von Ratgeberliteratur abzulesen, auf die in Schöner Mist verwiesen wird. Ein Beispiel ist John Seymours Anleitung zum selbstversorgten Landleben Selbstversorgung aus dem Garten. Wie man seinen Garten natürlich bestellt und gesunde Nahrung erntet (1999): »›Seymour‹, klärt mich der botanisch bewanderte Mann auf, ›ist die Bibel. Gehört in jeden Landhaushalt und ist unverzichtbar für die Planung des Nutzgartens.‹« (SM, 66) Und Elizabeth Marshall Thomas’ Das geheime Leben der Hunde (1993) gibt »faszinierende Einblicke in Seele, Charakter und Persönlichkeit der treuen Hausgenossen.« (SM, 92) Die Nennung dieser Texte ist dabei nicht nur als Autorisierung des eigenen Wissens und der eigenen Lebensführung auf dem Land zu verstehen, sondern zugleich als Literaturhinweis für die Lesenden. Nur selten wird aus dieser Ratgeberliteratur für den Leser nachvollziehbares Wissen gewonnen, noch seltener findet eine genauere Einordnung ihres Inhalts statt, doch alleine durch die Nennung werden ländliche Räume zu etwas, über das man Rat geben kann, was die Raumkonfigurationen mitbestimmt. Und auch die grobe inhaltliche Einordnung hat einen Effekt auf die Entstehung imaginärer Räume, so wird der ländliche Raum durch die Nennung Seymours zum Ort gesunden, selbstversorgten Lebens, welches aber mit Aufwand und Arbeit verbunden ist. Eine wiederkehrende Strategie des Gebrauchs von Intertexten ist der Abgleich von literarischer und real vorgefundener Ländlichkeit. Bei der Begegnung mit der Dorfbewohnerin Erna Mackedanz stellt Hochreither fest, deren »Geschichten erinnern mich an ›Herbstmilch‹, die Biographie der Bauerntochter Anna Wimschneider, die ich vor vielen Jahren verschlungen habe.« (SM, 63) Die 1984 erschienenen Lebenserinnerungen werden häufig als Beispiel authentischer Schilderungen über Landleben gedeutet, obwohl, oder gerade weil, hier »weniger eine aufklärerische Tradition bemüht als eine nach Empathie verlangende Rezeption oder ein ethnographischer Blick des bildungsgewohnten Publikums auf ungewohnte Lebensformen eingefordert«11 wird. Durch den Verweis auf diesen Intertext wird nicht nur dessen Wahrheit bewiesen, sondern zugleich auch die Rezeption der Erzählung über Erna Mackedanz und über das selbst entdeckte Landleben gesteuert. Ein weiteres Beispiel ist die Kapitelüberschrift »Ländliches Dekameron« (SM, 175), welche einen Rückgriff auf Giovanni Boccaccios Novellensammlung 10

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Vgl. Porombka 2013, S. 156. Der vorliegende Text muss daher als »symptomatischer Knotenpunkt von Erzählungen entschlüsselt werden, die seine Gegenwart dominieren«; ebd., S. 159. Er kann dann mit der Frage konfrontiert werden, »in was für eine neue Erzählung diese Erzählungen im Hinblick auf was für eine Zielgruppe (und unter Umständen auch: mit welcher impliziten oder expliziten Wirkungsabsicht) transformiert werden«; ebd. Schumann, Andreas: Felders lyrisches Projekt, in: Längle, Ulrike/Thaler, Jürgen (Hg.): Franz Michael Felder (1839-1869). Aspekte des literarischen Werks, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2010, S. 61-81, hier: S. 63.

Hochreither – Schöner Mist

Il Decamerone (1349-1353) darstellt. Bei Boccaccio ist der ländliche Raum ein Ort der Flucht vor der in Florenz tobenden Pest. Zehn junge Adlige erzählen an zehn Tagen zu zehn Themen jeweils eine Geschichte. Damit ist ›das Land‹ nicht nur Schutzraum, sondern auch Ort der Poesie. Durch die thematische Spannbreite der Novellen wird der ländliche Raum zudem zum Ort, von welchem aus die ganze Welt zu erreichen ist. In dieser »Verbindung von historischer Krisensituation und daraus erwachsender, therapeutisch eingesetzter zyklischer Narration als Gegenwelt und zeitbezogenem Weltentwurf«12 ist ein eskapistisches Moment angelegt. Auf den ersten Blick übernimmt Hochreither aus dieser relativ komplexen Gemengelage lediglich die zyklische Form, wenn sie nach ihrem endgültigen Ankommen einzelne Geschichten aus dem Dorfinneren wiedergibt. Diese umfassende Auswahl der Geschichten folgt letztlich notwendig aus dörflichen Wissensstrukturen, denn »[w]er in einer überschaubaren ländlichen Gemeinschaft lebt, muss sich daran gewöhnen, unter ständiger Beobachtung zu stehen. […] Der liebe Gott sieht alles, Nachbarn sehen mehr.« (SM, 175) Die dann anschließende Fülle von Dorfgeschichten wird mit der Feststellung zusammengefasst, »›in Polkefitz gibt es viele filmreife Geschichten.‹« (SM, 186) Diese filmreifen Geschichten dienen größtenteils der Beschreibung eines funktionierenden Dorflebens, was letztlich der auch bei Boccaccio etablierten Funktionalisierung einer »zyklischen Narration als Gegenwelt« entspricht. An anderer Stelle wird auf philosophische Deutungen von Natur verwiesen, um die Bedeutung von Gartenpflege hervorzuheben: »Ob Platon, Rousseau oder Immanuel Kant, viele kluge Köpfe haben über Natur philosophiert. Doch ein chinesisches Sprichwort gefällt mir besonders gut: […] Willst du aber ein Leben lang glücklich sein, so schaffe dir einen Garten.« (SM, 55) Die langen Traditionen der Deutungen von Natur und gutem Leben werden ungeordnet und nicht hierarchisiert aufgerufen, alles Nachdenken über Land ist gleichberechtigt, Hochreithers Nachdenken also auch. Die unvermittelte Nennung von »Platon, Rousseau oder Immanuel Kant« dient dabei mehr dem Aufspannen der vielen möglichen Deutungen und dem Eintreten in ein langes Gefüge von Autoritäten, denn der inhaltlichen Füllung des Landlebens. Mit der Priorisierung des chinesischen Sprichworts wird die daoistische Tradition herangezogen, die weniger als die westliche Philosophie zwischen Natur und Menschen differenziert, sondern beide Bereiche als Gesamtheit versteht. Das dient u.a. als Begründung dafür, dass mit der Arbeit am Garten auch Arbeit am eigenen guten Leben vollzogen wird. In dieser Zusammenschau von Moralphilosophie und Epistemologie ist ein Teil der bereits oben herausgearbeiteten ländlichen Wissenspoetik verankert: Durch Wissen über den ländlichen Naturraum kommt der Mensch zum Menschen. 12

Mielke, Christine: Zyklisch-serielle Narration: erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie, Berlin/New York: de Gruyter 2006 (spectrum Literaturwissenschaft: Komparatistische Studien 6), S. 68.

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

An dieser Stelle ist auffällig, dass die theoretischen Beobachtungen gewissermaßen das eigentlich erzählenswerte Wissen über Garten und Gärtnern einleiten. Im Anschluss an die eigene Begeisterung fürs Gärtnern und ein Lob für die Gärten der Nachbarschaft wird der gesellschaftliche Trend rund um Gärten und ›urban gardening‹ erläutert, um das geschilderte Handeln in einen größeren kulturellen Zusammenhang einzuschreiben. Der Trend wird anhand verschiedener Medien erschlossen, welche vorwiegend unbestimmt bleiben, so heißt es: »Neulich stieß ich bei einer Internetrecherche auf die Behauptung, ›Gärtnern ist der neue Sex‹. Vielleicht etwas überspitzt formuliert, aber der Trend zum Grün ist da. […] Auf dem Zeitschriftenmarkt, in der virtuellen Welt, im wirklichen Leben.« (SM, 56) Die Behauptung wird zumeist der Gartenarchitektin Gabriella Pape zugeschrieben,13 deren Frage nach der kulturtheoretischen Bedeutung des Gärtnerns auch Hochreither aufgreift, wenn sie zu Pape zusammenfasst: »Die Autorin geht in ihrer Abhandlung der durchaus interessanten Frage nach, ob die Virtualisierung des modernen Lebens stärkere Erdungen erforderte.« (SM, 57) Auch dadurch wird die eigene Erfahrung in eine gesamtkulturelle Entwicklung eingeschrieben und Papes Frage wird durch Hochreithers Vollzug zugleich mit ›Ja‹ beantwortet. Weiterhin verweist Hochreither auf Andreas Hoppes Buch Allein unter Gurken: mein abenteuerlicher Versuch, mich regional zu ernähren (2009), in dem »Hollywood-Stars« (SM, 57) sowie »zahlreiche Studien« (SM, 58) als Zeugen der Lust am Gärtnern aufgerufen werden. In dieser wiederholten Adressierung populärer Intertexte steckt das Argument, dass die im Erfahrungsbericht geschilderte Erfahrung wichtig ist, mehr noch aber als praktische Umsetzung des eher theoretisierenden Diskurses der ›Lust auf Land‹ zu verstehen ist. Zudem wird ein Beleg dafür geliefert, dass die Lust am Gärtnern im realen Leben nicht so einfach ist, wie medial dargestellt. Als Beweis wird der eigene Versuch, einen Garten anzulegen als Kampf konzeptualisiert, »ein Kampf, der jedes Wochenende aufs Neue beginnt und den wir nie wirklich gewinnen« (SM, 56). Indem der Kampf aber mit einer sehr bildreichen Sprache, häufigen Verweisen auf Trends und Produkte sowie wiederkehrenden Anleitungen zu einzelnen Praktiken des Land- und Gartenlebens angereichert wird, erscheint Schöner Mist letztlich doch als Prosa-Äquivalent der diversen ›Landlust‹-Magazine. Das ist spätestens daran abzulesen, wenn Hochreither ihren Garten beschreibt und erzählt, wie »Gänseblümchen, Butterblumen und Löwenzahn […] mit dem knalligen Rot der Mohnblumen und dem Blau der Katzenminze, die überall wie Unkraut wuchern, Farbtupfer im satten Grün [bilden].« (SM, 56) Das erinnert dann an die oben erwähnte »[p]erfekte Landlust-Ästhetik« (SM, 25) oder die anfangs gestellte »Diagnose: Landlust-Virus« (SM, 9). Eine weitere Gemeinsamkeit mit den Landlust-Magazinen ist darin er13

Vgl. Rauterberg, Hanno: Das Glück ist grün. Was gibt uns der Garten? Ausgerechnet im digitalen Zeitalter erblüht die Lust am Pflanzen und Ernten, in: Die Zeit, 24.5.2012, URL: https:// www.zeit.de/2012/22/Garten [Zugriff am 6.11.2019].

Hochreither – Schöner Mist

kennbar, dass auch hier häufiger Produktempfehlungen gegeben werden, beispielweise wenn Hochreither von ihrem neu erworbenem Hundekissen schreibt »Sleepy Dog, Cube Premium Large, [ist] das endgültige Luxus-Lager mit punktelastischem Füllmaterial zur Entlastung der Gelenke« (SM, 96).14 Diese Episode endet in der Erkenntnis, dass der Hund dennoch die zuvor gewohnten Schlafplätze bevorzugt: »Es bleibt mir nichts weiter übrig, als das Ganze zu verbuchen unter: noch eine Lektion gelernt, Lehrgeld bezahlt. Soll die kleine Mistbiene doch schlafen, wo sie will …« (SM, 97) Auf diese Weise wird der konsumorientierte Diskurs der ›Lust auf Land‹ zwar erfüllt, aber zugleich abgewertet. Dieses Erzählschema wird an verwandten Entwicklungen und Diskursen wiederholt vollzogen, beispielhaft hierfür stehen ›Cocooning‹ oder ›Homing‹.15 Homing wird von Hochreither als neues Phänomen eingeführt, als Quelle dient zunächst »›ein Trendforscher-Professor, der die Wohnung als wichtigstes Naherholungszentrum ausgemacht hat. Kuscheliges Abschotten in den eigenen vier Wänden ist angesagt. Früher hieß das Cocooning.‹« (SM, 200) Dem werden dann eigene Erfahrungen entgegengehalten: »›Muss man Professor sein, um solche Binsenweisheiten zu verzapfen? Noch früher hieß das übrigens: Gut, dass die Häuser innen hohl sind. Das sagt mein Opa immer. Bei Sauwetter.‹« (SM, 200) Damit werden nicht nur Trends erklärt, um sie anschließend abzuwerten oder zu entkräften, im direkten Vergleich wird auch die eigene Erfahrung und die Bedeutung intergenerationellen Wissens hervorgehoben und aufgewertet. An den Beispielen ist zu erkennen, dass die stetige Bezugnahme auf den Diskurs der ›Lust auf Land‹ hauptsächlich einem Erzählen von ›wahrhaftigerem‹ Wissen gilt. Es ist naheliegend, dass das gerade durch die Nähe von Schöner Mist zu diesem Diskurs noch häufiger als in den bisher untersuchten Büchern geschieht. So können die erzählten Bildwelten den idealisierten Räumen des Diskurses ähneln und trotzdem durch die Bezugnahmen einen anderen Grad von Authentizität beanspruchen. Die so erzählte Abgrenzung zur ›Lust auf Land‹ leistet die Autorin zudem durch eine Reihe von Figuren, welche den Vorstellungen idyllischer Ländlichkeit widersprechen. Beispielhaft dafür steht die neu zugezogene Familie Erd14 15

Auf der Seite des Herstellers ist das Modell im Jahr 2016 noch für 220€ zu erwerben, URL: ht tp://sleepydog.de/ [Zugriff am 5.8.2016]. Homing, als Fortsetzung des Cocooning-Trends der 80er Jahre, gilt als moderne Form des Eskapismus, als »Reaktions- und Motivationsmuster aufgrund des soziokulturellen und technologischen Wandels sowie der beschleunigten Modernisierung schlechthin: nämlich Rückzug und Abschottung vor der bedrohlichen und komplexen Welt«; Wippermann, Carsten/ Wippermann, Katja: Mensch und Wald. Einstellungen der Deutschen zum Wald und zur nachhaltigen Waldwirtschaft. Bielefeld: Bertelsmann 2010, S. 81. Mit der Ankunft in der bürgerlichen und etablierten Mitte aber auch als Bemühen um ein repräsentables Wohnen zur Steigerung der sozialen Anerkennung; vgl. ebd. Der Begriff ist insbesondere in der Werbeindustrie, aber auch in Feuilleton, Trend- und Zukunftsforschung verbreitet.

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mann – deren Anspruch selbstversorgten Lebens auf dem Land habe »nichts mit jenem lieblichen Country-Lifestyle zu tun, der so überaus dekorativ in Hochglanzmagazinen präsentiert wird.« (SM, 111) Anhand von deren Erfahrung wird dann auch gelernt: »Nahrungsproduktion macht Schmutz und ist harte Arbeit, die nie endet.« (SM, 112) Durch den direkten Vergleich mit dem Landlust-Diskurs wird behauptet, dass Hochreithers Bericht über den eher ästhetisierenden Diskurs hinausgeht und Wahrheit über Landleben vermittelt. Der Anspruch wird jedoch schnell wieder aufgegeben, wenn die Praktiken der Nachbarn mit modernen Inszenierungen des Regie-Theaters verglichen und dann auf das Attribut »zusätzliche Attraktion« (SM, 110) des Dorflebens reduziert werden. Ohne eine Wertung werden solche Formen von Landleben dann als Inszenierung und Spiel gekennzeichnet: zwar schön, aber echtes Landleben sei das nicht. Im Dialog mit ihrem Partner entdeckt die Protagonistin schließlich Parallelen zwischen Stadt und Land, wobei das Land als authentischerer Ort erscheint: ›Wenn ich an unsere letzten Theatererfahrungen in Hamburg denke‹, sagt der kunstsinnige Mann an meiner Seite, ›erscheint mir so ein Güllesilo eigentlich als der passende Rahmen für die darstellenden der Moderne. Kein Regisseur, der auf sich hält, verzichtet doch heute auf urinierende und scheißende Bühnenhelden.‹ Wir zanken uns noch ein bisschen über Sinn und Unsinn des neuzeitlichen Regietheaters und einigen uns schließlich darauf, dass der Erdmann-Hof – ob mit oder ohne Gülle-Theater – eine Bereicherung für unser Dorfleben ist. Eine zusätzliche Attraktion. (SM, 110) Im Rückgriff auf die am Anfang des Unterkapitels aus der Sachbuchforschung abgeleitete Frage, wie vorhandene Erzählungen »im Hinblick auf was für eine Zielgruppe […] transformiert werden«,16 konnte herausgearbeitet werden, dass die Bezugnahmen auf Intertexte und Diskurse zu einer Erzählung beitragen, welche den ländlichen Raum zu einer schönen Fremde macht, die bereits kulturell erschlossen ist, für deren letztgültige Eroberung aber individuelle Erfahrungen notwendig sind. Durch die breite Referenzierung von Tradition und gegenwärtigem Diskurs wird Aufklärung nicht nur über Land, sondern auch über dessen Deutungen geleistet. Diese Art des Erzählens entsteht an einem Punkt, an dem ›das Land‹ ein von Deutungen gesättigter Raum ist, deren Wahrheitsgehalt vor Ort geprüft wird. Anders als bei Moor und Sezgin ist Hochreithers Erzählung keine Heldengeschichte, dieser ländliche Raum kein widerspenstiger, zu erobernder Ort, er ist vielmehr offen für Landnahmen und mitgebrachte Deutungen und kann relativ einfach als Ort guten, hier: schönen, Lebens gefunden werden. Im letzten Abschnitt dieser Analyse wird herausgearbeitet, welche Auswirkungen diese Konstellation auf das Wissensobjekt ländlicher Raum hat. 16

Porombka 2013, S. 159.

Hochreither – Schöner Mist

3.5 Das Wissen der Idylle Mehr als die beiden zuvor untersuchten Texte tendiert Hochreithers Umzugserzählung also zu traditionellen Erzählformen über den locus amoenus. Die Sprache ist gefühlsbetont, die Motive bekannt – um die Beobachtung noch einmal zu belegen, bietet sich Hochreithers Beschreibung eines morgendlichen Spaziergangs an: Die Sonne hängt noch tief am Horizont und taucht die Wipfel der Eichen und Birken am Jeetzel-Ufer in ein kitschiges Babyrosa. Nebelschleier liegen über den taufeuchten Wiesen rechts und links des schmalen Wirtschaftswegs, es schneit winzige weiße Blütensterne, und ein betörender Duft von Weißdorn weht mir in die Nase. (SM, 115) In Fortsetzung der bereits zitierten Beschreibung der Einrichtung im Landhaus-Stil und der Farben des Gartens wird der ländliche Raum zum vorwiegend ästhetischen Gegenstand, dessen nur angedeutete Bestimmung als Ort von Arbeit und Alltag so schnell in den Hintergrund rückt. Insofern erscheint dieses Schreiben als »Ausgestaltung, um nicht zu sagen […] Dekoration eines immer größer werdenden von der Arbeit entlasteten Lebensraumes«,17 ist also dem, hier kann der Begriff nicht mehr vollständig vermieden werden, ›Kitsch‹ nicht unähnlich. Wie im Methodenkapitel gezeigt wurde, ist eine Überbetonung bis hin zum Kitsch als Ausdruck der Normalisierung des ästhetisierten Gegenstands zu verstehen, da Darstellung von Normalität häufig gerade durch »›Herunterstimmung‹ ›ins Triviale‹ […], also ganz offensichtlich durch Transformation in Kitsch«18 erreicht wird. Daher wird gerade die motivüberladene Darstellung des Landlebens als Ausdruck des Versuches gedeutet, die Schönheit ländlicher Räume (wieder) als ihren Normalzustand zu etablieren. Darin schwingt der Versuch mit, das Unglaubliche glaubhaft zu machen. Es ist also zu kurz gegriffen, den im Text produzierten Raum nur als einfache Darstellung eines schönen Ortes und als Auslöser wohliger Empfindung zu verstehen. Hochreither präsentiert diesen ländlichen Raum regelmäßig als neu, unbekannt und zumindest in seiner Schönheit überraschend. Durch diese in der Umzugserzählung schrittweise vollzogene Erkenntnisgeschichte sind die Lesenden in der Lage, die Erkenntnis des Raums als ›einfach schön‹ schrittweise nachzuvollziehen. Durch die stetigen Rückgriffe auf Intertexte und Diskurse wie den der ›Lust auf Land‹ werden durchgehend Vergleichsbilder mitgeführt, die als Autoritäten verstanden und im Text empirisch geprüft werden. In diesem letzten Analyseabschnitt zu Hochreithers Text wird, an die Normalitätsbeobachtung anknüpfend, gezeigt, welche Besonderheiten sich aus der Verortung des ländlichen Raums zwischen schönem und fremdem Ort für das Wis17 18

Ueding 1992, S. 90. Link 1997, S. 179.

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sen über Land ergeben. Erstens ist festzustellen, dass eigentlich nichts Neues über Landleben erfahren wird, vielmehr werden die verbreiteten Bilder vom guten Leben auf dem Land validiert. Das ist für eine Poetologie des Wissens über Land entscheidend, da der Text so als eine innerhalb des unüberschaubar gewordenen Sinnkontinuums über ländliche Räume notwendig gewordene Orientierungshilfe erscheint. Dass es um Auswahl und Deutungen geht, ist an einer Sequenz zu sehen, in welcher die Protagonistin erkennt, dass der Kampf gegen Spinnen und Holzwürmer in einem alten Haus nicht zu gewinnen ist, was für sie zur »Lektion« mit dem »positiven Effekt« wird, »Haus, Hof und Umgebung zu genießen.« (SM, 42) Was nicht schön ist, kann also fremd und unbeherrscht bleiben, das Haus kann dabei primär so bleiben, weil es alt ist. Hier wird also nicht wie bei Moor oder Sezgin die Notwendigkeit ständigen Arbeitens zur vollständigen Aneignung des Raumes gelernt, sondern der uneingeschränkte Wert von gutem Leben auf dem Land. Was hier als Wissen ausgestellt wird, ist selten neu, sondern primär eine Wiederholung bekannter Motive. Diese als Wissen, also neu, zu erzählen dient dazu, den betretenen Raum als ›unglaublich‹ schön und alle traditionellen Beschreibungen übersteigend zu kennzeichnen. Ebenso wie Idyllen vermittelt auch Hochreithers Schreiben qua Erkenntnis des Naturschönen zwischen Natur und Kultur.19 Gerade die Gestaltung des Erzählten nach einem Narrativ vom Wanderer zwischen den Welten, also Stadtwohnung und Wochenendhaus, führt zu einem ständigen Abgleich der getrennten Welten. Die Umzugserzählung ist eine Organisationsform des Erkenntnisprozesses, die als Entwicklungsgeschichte stufenweise verläuft. Durch diese Aufhebung der Grenzen von Ästhetik und Epistemologie wird dem ländlichen Raum eine spezifische Ganzheitsvorstellung eingeschrieben, in der Wahrheit und Schönheit von Landleben eins sind. Die Feststellung, dass es auf dem Land wirklich so schön ist, wie in Idyllen, Romantik und Landlust behauptet, ist ein Ergebnis der äußeren wie inneren Forschungsreise. Durch diese Konstellation wird der Mensch letztlich versöhnt mit seiner Umwelt – das ist ein Einlassen auf eine ›Verzauberung‹ durch Natur. Feststellungen wie diese zur Einheit von Wahrnehmung und Natur »können im Kontext der ökologischen Krise gerade dadurch kritisches Potenzial entfalten, daß sie zeigen, daß der Mensch trotz allem in die Welt paßt.«20 Darin ähnelt Hochreithers Schöner Mist letztlich der ökokritischen Erzählung von Sezgin.

19 20

Vgl. Adler 2014, S. 23f. Siehe hierzu auch das Kapitel 3.1.2. Hohnsträter, Dirk: Ökologische Formen. Die ökologische Frage als kulturelles Problem, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 (Epistemata 369), S. 77.

4. Martin Reicherts Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz

Martin Reichert ist Journalist und Publizist, er schreibt für die taz, wobei sein Arbeitsschwerpunkt auf LGBTQI*-Themen liegt.1 Daneben schreibt er Zeitdiagnosen wie das Buch Wenn ich mal groß bin. Das Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche (2008). Reichert lebt regulär in Berlin und hat seit einigen Jahren ein Wochenendhaus im brandenburgischen Dorf Sommerfeld.2 Ähnlich wie Hochreither in Schöner Mist erzählt Reichert in Landlust das Leben mit Wochenendhaus im Grünen und wie sich sein Blick auf ländliche Räume und Ländlichkeit durch diesen (Teilzeit-)Umzug verändert hat.3 Schon mit dem Titel Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz (2011) wird durch den Bezug auf den Diskurs der ›Lust auf Land‹ eine inhaltliche Erwartung geweckt. Die im »Selbstversuch« angelegte Form verweist zudem auf die Tradition des Reiseberichts: Wie ein Ethnologe zieht der mit Reichert identische Erzähler in die Fremde, lebt dort und berichtet den in der (hier: städtischen) Sicherheit Zurückgebliebenen von seinen Erlebnissen.4 Die autobiographische Anlage ist klar erkennbar und so ist Reichert, wie auch die vorherigen Autoren, 1 2

3

4

Vgl. Selbstdarstellung auf der Seite des Autors URL: http://martinreichert.com [Zugriff am 15.5.2018]. Vgl. Reichert, Martin: Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz, Frankfurt a.M.: Fischer 2011, S. 217. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle LL im Fließtext nachgewiesen. In dieser kurzen Tradition des Schreibens über ein Leben in Stadtwohnung und Wochenendhaus steht auch Kerstin Höckels Buch Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhaupt (2011), in welchem sie ihre Erfahrungen zwischen Berlin und Bauernhof im Schwarzwald verarbeitet. Zu den Möglichkeiten der teilnehmenden Beobachtung im Roman vgl. den Band Literatur als Soziologie in welchem Potenziale von »Literatur als Illustration, als Quelle und als Analyse« betrachtet werden; Kuzmics, Helmut/Mozetič, Gerald: Literatur als Soziologie. Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2003, S. 6. Das Sachbuch in der von Reichert gewählten Prägung changiert dabei maßgeblich zwischen Illustration und Analyse und ist damit von den bisher untersuchten Texten abzugrenzen, bei z.B. Moor wird die Dimension von Literatur als Quelle relevanter.

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von Beginn an ein angekommener Landbewohner, der die Unwissenheit der Städter noch kennt, für die im Gegensatz zu ihm schon ein »Ausflug ins Umland einer Expedition ins Ungewisse mit hohem Abenteuerfaktor« (LL, 82) ist. Die autobiographische Umzugserzählung ist also zugleich als Entdeckung der Idylle, Forschung über Landleben sowie durch den Selbstversuch auch als Analyse eines kulturellen Phänomens angelegt. Gerade durch diesen letzten Ansatz geht es in dieser Umzugserzählung noch expliziter als in den bisher untersuchten Büchern um die Wahrheit der kulturellen Bilder ländlicher Räume. Dieses Programm wird im Verlagstext auf der Rückseite des Buches zusammengefasst: Martin Reichert macht sich auf und geht der Frage nach, was passiert, wenn der Kitsch, den viele Städter übers Landleben im Kopf haben, auf die Realität in der deutschen Provinz trifft, und wie es um die ›unberührte Natur‹ tatsächlich bestellt ist. Trotz dieser reflexiven Bezugnahmen auf den Diskurs der ›Lust auf Land‹ wird Reicherts Buch hier in die erste Untersuchungsgruppe gerechnet, da Reichert selbst häufig die Bildwelten idyllischer Ländlichkeit reproduziert. Dass diese Einordnung gerechtfertigt ist, wird ersichtlich, wenn es in dem Verlagstext weiter heißt, der Selbstversuch sei »[e]in Spaziergang querbeet durch alle vier Jahreszeiten in Stadt und Land.« Wie in den drei vorherigen Analysen gezeigt wurde, sind der »Spaziergang querbeet« und die »vier Jahreszeiten« wichtige Organisationsschemata des hier untersuchten Gangs aufs Land. Der im Selbstversuch angelegte raumzeitliche Rundumblick wird auch von Reichert als Methode der Landnahme und zugleich als Beweis der Wahrheit der eigenen Beobachtungen ausformuliert. Schon der Bucheinband ist mit idyllischen Motiven gestaltet und prägt so die Erwartung der Lesenden: Reichert steht im weißen Hemd auf einer Wiese, um ihn blauer Himmel und grünes Gras, in seinem Arm ein Kaninchen. Sein Blick ist halb Richtung Leser, halb in die ländliche Ferne gerichtet. Auf dieser Komposition prangt der Titel in kräftigem Gelb, leichte Schraffur erinnert an den shabby chic des Landhaus-Stils. Wenn also Reichert in der Einleitung abschließend fragt, »Was ist dort eigentlich wirklich los an diesem Sehnsuchtsort namens Land?« (LL, 13), wird zwei Jahre nach dem Erscheinen von Moors Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht ersichtlich, dass der ländliche Raum hier bereits fest als kulturelle Größe etabliert ist. In Reicherts Darstellung von Ländlichkeit sind Erfüllung, Analyse und Kritik der ›Lust auf Land‹ noch enger verwandt als in den bisher untersuchten Texten. In der folgenden Analyse wird nun nach den Auswirkungen dieses – vielleicht nur scheinbar bestehenden –Widerspruchs gefragt.

Reichert – Landlust

4.1 Ordnungen von Raum und Wissen In Reicherts Selbstversuch ist auffällig, dass diese Reise nicht nur der Analyse vom unbekannten ruralen Raum, Landleben sowie idyllischer Ländlichkeit dient, sondern vielmehr diese Phänomene selbst als Ausdruck einer Entfremdung der Menschheit von ›ihrer Natur‹ behandelt werden. Im Vorwort wird die kulturkritische These relativ breit ausgeführt: Der Mensch träumt von einem Leben inmitten jener Natur, die es längst nicht mehr gibt, weil sie nur noch in seiner Phantasiewelt existiert. Natur, das ist in Mitteleuropa schon seit langer Zeit eine Kulturlandschaft. Die Stadt hingegen beherbergt nunmehr die wahre Natur. (LL, 10) Die anschließenden Beobachtungen des Stadt-Land-Gegensatzes münden dann in dem Ausruf: »Ja, wo leben wir denn?! Zwischen allen Stühlen, so wie ich, der die Woche über in Berlin lebt, mitten drin, und am Wochenende den Ausgleich auf dem Lande sucht« (LL, 11). Das reflexive Moment dieses Schreibens wird also ähnlich wie bei Hochreither durch die Figur des Wanderers zwischen den Welten eingelöst. Denn gerade in dieser Hybridfigur liegt der Beweis, dass der Autor über Praxiswissen verfügt – nicht nur über Landleben, sondern über die gefährdete Stadt-LandDichotomie selbst, die zum Nukleus der Herausforderungen der Spätmoderne stilisiert wird. Die hybride Lebensform zwischen Stadt und Land wird bei Reichert zur besten Entsprechung der zunehmenden Vermischung von Natur und Kultur zu hybriden Räumen. Im Vergleich zu den zuvor untersuchten Texten bleiben zwar das Erkenntnisinteresse (Wahrheit über Land hinter den gesellschaftlichen Bildern), die Methode (Selbstversuch) und die Ästhetik ähnlich, indem aber direkt auf den ›Landlust‹-Diskurs und die Dichotomie imaginierter und ›echter‹ Ländlichkeit Bezug genommen wird, wird die Behauptung von Wissen und Wahrheit über Land verändert. Ein offensichtlicher Unterschied ist schon in den hier bereits angedeuteten Raumkonstruktionen zu sehen: Wenn Reichert im städtischen Raum ländliche und im ländlichen Raum städtische Lebenspraxen erkennt, zeichnet er damit ein Bild von Stadt und Land als hybriden Räumen, was den Bildern von Containerräumen bei Moor, Sezgin und Hochreither widerspricht. Es erscheint dann zunächst überraschend, dass Reicherts ›Selbstversuch‹ nicht in einer Auflösung der Grenzen von Stadt und Land mündet, sondern in einer als Utopie formulierten Stärkung dieser Gegensätze: Die Zukunft scheint der Stadt zu gehören, vielleicht kann man sie noch besser machen, als sie schon ist – wäre es nicht toll, wenn unsere grauen Fassaden irgendwann horizontal begrünt wären? Und was wäre in unseren Breitengeraden so schlimm daran, wenn das jetzt noch industriell beharkte Land zu seiner Urform

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als Urwald zurückfände, weil es nicht mehr gebraucht und also auch nicht mehr benutzt wird. (LL, 220) In dieser Utopie ist die dominante Raumkonfiguration des Textes aufgehoben: Laut Reichert wird der Wohnraum Stadt seit Jahren mit Elementen idyllischer Ländlichkeit überformt, was anhand von unterschiedlichsten Entwicklungen nachgewiesen wird: In der Überbetonung gesunden Lebens, Konsum von Landbrot, handgefertigten Produkten von Manufactum, urban-gardening, SUV-Nutzung, Nachbau dörflicher Strukturen innerhalb wohlhabender Quartiere oder dem Wettstreit um das schönste Vogelhaus in der Stadt (vgl. LL, 177). Durch diesen Export seiner positiven Eigenschaften in die Stadt wird ›das Land‹ nur noch ein Residualraum, was ihn demographisch und wirtschaftlich gefährde, denn, so Reicherts wiederkehrende These, »[n]irgendwo ist die Entfremdung vom Lande größer als auf dem Land selbst.« (LL, 80) Durch den Export seiner positiv konnotierten Eigenschaften und den Zuzug von Städtern, die auf dem Land leben und in der Stadt arbeiten, gehe der rurale Raum verloren. Dem liegt letztlich eine Vorstellung von Kulturräumen zugrunde, die eine Art Essenz hätten, die kurzzeitig formulierten hybriden Räume werden wieder zu Containern. Indem Reichert von Entfremdung des Raumes und von dessen Erkranken an den Anforderungen der Urbanisierung erzählt, schreibt er letztlich kulturkritische Narrative fort. Er behandelt Berlin und Brandenburg als Beispiele und sieht in dieser Raumkonstellation das Modell für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Interessant ist, dass die von Reichert formulierte Raumkonfiguration als Modell von Stadt und Land Erfolg zu haben scheint, denn in dem Sammelband Urbane Ungleichheiten: Neue Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie wird als Antwort auf die Frage, was städtische und ländliche Lebensstile unterscheidet, mehrfach aus Reicherts Text zitiert. Er mache »[a]uf die Eigenarten und Vermischungen städtischen und ländlichen Lebens […] in überspitzter und treffsicherer Form […] aufmerksam.«5 Deutlich expliziter als Moor, Sezgin oder Hochreither verspricht Reichert durch die Verbindung dieser kulturanalytischen Überlegungen und den empirischen Beobachtungen Wahrheit über ›den‹ ländlichen Raum. Entscheidend ist aber, dass diese Aufklärung aus seiner Sicht notwendig ist, da die Divergenz zwischen Bild und Realität zur Gefahr wird, welche die sowieso fragil gewordene Raumordnung zwischen Stadt und Land durch falsche Erwartungen von Städtern, Ausflüglern und Landlustigen ins Wanken bringt. Die Aufklärung über ländliche Realität zum Rettungsprogramm, das vorliegende Buch zum Medium dieser Rettung. Auch das greift der bereits zitierte Verlagstext auf, wenn es dort weiter heißt:

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Spellerberg, Annette: Was unterscheidet städtische und ländliche Lebensstile?, in: Berger, Peter A. u.a. (Hg.): Urbane Ungleichheiten: Neue Entwicklungen zwischen Zentrum und Peripherie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2014, S. 199-232, hier: S. 200.

Reichert – Landlust

Es tobt der ›Kampf der Kulturen‹ zwischen echten, EU-subventionierten Großbauern und Bio-Wochenendfarmern mit Manufactum-Gartengerät. Zwischen den Fronten steht Martin Reichert […]. Denn er kennt beide Welten aus eigener Anschauung; seit ein paar Jahren lebt er im Spagat zwischen nervösem Großstadtleben und dem langen, ruhigen Fluss des Brandenburger Landlebens. In dem Verweis auf Samuel P. Huntingtons Motiv gewordenen Kampf der Kulturen (1996) ist mit den ›Kulturkreisen‹ ein stark vereinfachendes epistemisches Erklärungsmodell angelegt, zugleich werden die globalen Konfliktlinien unterschiedlicher ›Kulturräume‹ in den Nahbereich verlegt und durch urbane und rurale Kulturen ersetzt. Wie bei Huntington werden so übersichtliche Verstehensmuster produziert, um eine einfache Orientierung leisten zu können und die beschriebene »Spagat«-Position einnehmen zu können. Für die Rettung beider Welten braucht es Wissen, das Reichert »aus eigener Anschauung« liefert. Das hier versprochene Wissen wird konstruiert aus etablierten Erzählmustern (Kampf der Kulturen), Position des Erzählers (Spagat) und Erfahrung (Anschauung). Das bei Moor und Sezgin bereits angelegte kulturkritische Motiv der verlorenen Einheit von Mensch und Raum wird hier noch stärker ausformuliert. Diese Entfremdungsgeschichte wird als Geschichte von verlorengegangenem Wissen erzählt, bspw. an der städtischen Verwunderung darüber, wie schnell Bio-Gemüse schimmelt, – landerfahren stellt Reichert fest, dass daran nichts falsch ist, »[m]an selbst funktioniert nur nicht mehr richtig im Kopf.« (LL, 134) Das verlorene Wissen wird mit Entfremdung und Krankheit verglichen und dieser Entfremdung dann Wissen um eine natürliche Einheit von Mensch und Raum entgegengesetzt, z.B. über den Zusammenhang von Jahreszeiten und Fruchtfolge: »Früher, als es noch einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen der Jahreszeit und dem Inhalt des Kochtopfs gab, galt der September als Kartoffel-Monat.« (LL, 121) Durch dieses unbestimmte »Früher« wird das Bild einer gesunden Vergangenheit gezeichnet, welche durch Modernisierung und Urbanisierung in Vergessenheit und Gefahr gerät. In dieser kulturkritischen Erzählung steckt der analytische Kern des Textes, denn Reichert sieht den Wunsch nach Auflösung dieser Entfremdungsprozesse als wahren Grund des Phänomens der ›Lust auf Land‹: Die Trennung von Mensch und Natur ist seit Evas Biss in den Apfel verdammt weit vorangeschritten. Womöglich ist sie endgültig. Doch das hält den Menschen nicht davon ab, sich unablässig zu sehnen und dorthin zu träumen, wo es besser ist. Also ganz romantisch dorthin, wo er gerade nicht ist. Er sehnt sich nach Einheit mit eben jener Natur, von der er sich entfernt hat. Er träumt von einem Leben inmitten jener Natur, die es längst gar nicht mehr gibt, weil sie nur noch in seiner Phantasiewelt existiert. Natur, das ist in Mitteleuropa schon seit langer Zeit eine Kulturlandschaft. (LL, 9f.)

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So wird der rural-urbane Sündenfall zum Ausgangspunkt des Textes. Das ist aber keine Absage an die Sehnsucht nach einer Re-Naturalisierung des Menschen, sondern der Vorschlag des von ihm gelebten hybriden Modells, schließlich will auch Reichert »Stadt und Land, verloren und geborgen zugleich sein, Rummel und Zurückgezogenheit, Entfremdung und Verschmelzung, Liebe und Freiheit, Natur und Kultur.« (LL, 30) Reicherts Landlust ist also als Beleg angelegt, dass durch das Modell Wochenendhaus das in Gefahr stehende Stadt-Land-Verhältnis gerettet werden könne. Wie bereits angedeutet wurde, beobachtet Reichert selbst den Umgang mit der Stadt-Land-Dichotomie aus der Position des vermeintlich unbeteiligten Dritten oder des Wanderers zwischen den Welten. Im folgenden Kapitel werden die Implikationen dieser Erzählposition genauer herausgearbeitet.

4.2 Teile und herrsche Der Autor schildert bspw. im Kapitel »Romeo und Julia«, wie im Frühjahr auf dem Land versucht wird, der Natur Einhalt zu gebieten. Diese ›Kultivierung‹ muss jedoch scheitern, denn [d]ie Natur ist grausam, sie kennt keine Gnade und nimmt ihren Lauf. In den Gärten bedeutet das, dass nun unerbittlich Buchsbäume und Rosen gepflanzt werden. Auf den Feldern werden die ersten Pestizide ausgebracht, natürlich werden auch die Ränder nicht vergessen, an denen zuvor ordentlich geschreddert wurde. (LL, 33) In Reicherts Vorstellung sterben dabei dann auch die sich paarenden Jungvögel aus dem Titel des Unterkapitels: Durch die elektrische Heckenschere finden nicht nur Romeo und Julia, sondern auch die Idee ländlicher Liebesidylle überhaupt ein vorzeitiges Ende, was daran belegt wird, dass auch die Männer des Dorfes mit einer Gefahr der Vereinsamung konfrontiert sind. Die dafür ursächlichen Abwanderungsbewegungen würden durch die stetige Urbanisierung ausgelöst, die zu Arbeitslosigkeit in strukturschwachen Gebieten führt (vgl. LL, 33f). Der hier beispielhaft nachgezeichnete Wechsel von einzelnen Beobachtungen, Transfer, Analysen und Interpretationen ist ein typisches Formelement des Textes. Gerade an der Benennung der imaginierten Jungvögel als Romeo und Julia ist auch zu sehen, dass in der Darstellung mehr auf unterhaltende Momente und weniger auf eine realitätsgerechte Differenzierung der unterschiedlichen Daseinsformen in ländlichen Räumen gezielt wird. Doch auch in der scheinbar nur unterhaltenden Analogiebildung zwischen Vögeln und Landbewohnern steckt anthropologisches Wissen: So viel anders als die Natur ist der Mensch gar nicht. Für diese häufig überzeichneten Darstellungsformen werden Prototypen von Land- und Stadtleben genutzt: Die Stadtbevölkerung wird auf die sogenannten Yuppies in Berlin begrenzt, die Landbevölkerung

Reichert – Landlust

besteht aus »Damen zwischen Post-Pubertät und Weiterbildung zur NagelstudioAssistenz« oder wenigen Vertretern der »gehobeneren Stände«, die »ihre BarbourJacken frisch gewachst« (LL, 65) haben. Wie in den bisher untersuchten Texten ist der so etablierte Gegensatz von Stadt und Land letztlich entscheidend dafür, dass der Umzug aufs Land überhaupt zum Ereignis wird: Die erzählte Welt ist durch eine unüberwindbare kulturelle, wirtschaftliche und politische Grenze in zwei Räume geteilt und erst indem Reichert diese Grenze überschreitet, wird der Text sujethaft. Eine Besonderheit von Landlust liegt nun in der andauernden Thematisierung dieser Grenze sowie in der auf den ersten Seiten deklarierten Mittler-Position – die Grenze wird abwechselnd überschritten und reproduziert, was eine Anwendung von Lotmans Modell der Raumsemantik schwierig macht. Bei einer erneuten Betrachtung der oben formulierten Utopie über die Zukunft von Stadt und Land fällt auf, dass Reichert durch seine Grenzüberschreitung in der Lage ist, die gesamte kulturelle Raumordnung zu überblicken, zu kritisieren und zu ordnen. Damit wird das andauernde Pendeln über die räumliche Grenze zwischen Stadt und Land zur Bedingung dafür, frei über die symbolische Grenze verfügen zu können. In der so etablierten Deutung kann nur der als Wochenendhausbesitzer erzählte Wanderer zwischen den Welten auch die symbolische Grenze dauerhaft überschreiten und es liegt in seiner Verantwortung, die dominierenden gesellschaftlichen Raumbilder zu verändern, indem er die Erfahrungen und das Wissen weitererzählt. Insofern müssen Reicherts analytische Verhandlungen der Raumordnungen als »Metaereignis« verstanden werden, weil »das System der semantischen Räume […] nach dem Ereignis nicht mehr dasselbe wie vor dem Ereignis ist.«6 Und genau dieser Anspruch ist in dem oben genannten Vorschlag formuliert, die Austauschprozesse zu vervollständigen, die Reste von Ländlichkeit in die Städte zu integrieren und die ländlichen Räume vollends der Natur zu überführen. Um solche neuen Modelle etablieren zu können, stilisiert sich Reichert mehr noch als die anderen Autoren als Scharnierfigur zwischen Stadt und Land, im narrativen wie epistemischen Sinne.7 Damit nimmt er die Position einer Figur des Dritten ein, die in den Kulturwissenschaften als Auflösungsfigur binärer, dichotomischer Unterscheidungen gilt.8 Diese Position einzunehmen, war für Reichert jedoch 6

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Titzmann, Michael: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik, in: Posner, Roland u.a. (Hg.): Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Berlin/New York: de Gruyter 2004 (Handbücher zur Sprach-und Kommunikationswissenschaft 13.4), Sp. 3028-3103, hier: Sp. 3081. Vgl. Bendorf, Thomas: Der Dritte als Scharnierfigur. Die Funktion des Dritten in sozialphilosophischer und ethischer Perspektive, in: Eßlinger, Eva u.a. (Hg.): Die Figur des Dritten – Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 125−137. Diese Position ist in jedem der bisher untersuchten Bücher implizit angelegt, doch hier wird sie auch explizit behauptet und daher behandelt.

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eine Herausforderung, schließlich sei das Landleben erst »über die Jahre zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die früher von vielen Freunden mit Kopfschütteln quittiert wurde.« (LL, 11) Das ist Überwindung von Hindernissen, wie sie auch Sezgin und Moor schildern. Reicherts Selbstdefinition als Wanderer ist jedoch letztlich auf die Aufrechterhaltung der Stadt-Land-Dyade angewiesen, um über beide Räume sprechen und infolge dessen verfügen zu können. Das entspricht dem von Georg Simmel beschriebenen divide et impera-Verhältnis des hinzukommenden Dritten. Dieser verbindet, indem er trennt.9 Diese Figur gewinnt ihre »Konturen erst aus den historischen Konstellationen der Dichotomien zwischen dem ›Einen‹ und dem ›Anderen‹.«10 Reichert kann also erst auf der Grundlage seines Umzugs ›herrschen‹ und eine Neubestimmung von idyllischer und realer Ländlichkeit fordern. Die Umsetzung erfolgt mittels verschiedener narrativer Techniken, eine der wichtigsten erzählerischen Realisationsformen ist die Auswahl und Gestaltung der Figuren, die entweder ›typisch ländlich‹ oder ›typisch städtisch‹ sind. So heißt es in der Beschreibung der urbanen ›Landbesucher‹ im Kapitel »Besuch aus der Stadt« (LL, 82-87) über das Aufeinandertreffen beider Kulturen: Das Staunen ist dann wechselseitig, und man weiß nicht so genau, wer nun hier im Zoo ist: Die habituell durch ein Übermaß an internalisierten Selbstverwirklichungswerten verschroben wirkenden Städter oder die seltsam behosten Einheimischen mit ihrem bellenden Akzent und der etwas versteppten Gemütsart. (LL, 85) Durch die Auswahl unterschiedlicher Lexiken für die Beschreibungen der Gruppen der Städter (bildungssprachlich: »habituell«, »internalisiert«) und der Landbewohner (alltagssprachlich: »behost«, »bellend«, »versteppt«) werden die Unterschiede manifestiert. Die Fremdheit ist derart groß, dass zwischen den Subjekten keine Verständigung möglich ist, weil sie gänzlich unterschiedlichen Ordnungen angehören.

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Georg Simmel, auf dessen Soziologie die meisten Analysen zu Figuren des Dritten zurückgehen, unterscheidet in dem zweiten Kapitel Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe seiner Soziologie drei mögliche Verhältnisbestimmungen des Dritten: (a) Der Sitte als Unparteiischer und Vermittler, (b) als lachender Dritter und (c) als der aus dem Streit hervorgehende und ihn dafür befeuernde Herrscher, nach dem lateinischen divide et impera (teile und herrsche); vgl. Simmel, Georg: Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 63-159, bes.: S. 76-88. Den Literaturhinweis verdanke ich Berger, Claudia/Döring, Tobias: Einleitung: Figuren der/des Dritten, in: dies. (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume; Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1998, S. 1-18, hier: S. 1f. Berger/Döring 1998, S. 1.

Reichert – Landlust

Reichert steht auch hier in der Position des unbeteiligten Beobachters, der die Wahrnehmungen beider Parteien wiedergeben kann. So wird die traditionell einseitige Abgrenzungsbewegung gegenüber dem Fremden durch eine mehrseitige ersetzt.11 Die hier nur angedeuteten Beschreibungen der ländlichen und landlustigen Figuren werden wiederholt zur Distanznahme genutzt, beispielsweise bezeichnet Reichert Landlustige als »Erregungssucher«, die »auf dem Lande abseits der Hektik zu sich finden und die Welt noch mal neu […] entdecken« (LL, 87). Und die Schilderung der Stadtbewohner erinnert wiederholt an Naturdokumentationen: Die Städter kommen nun, im Herbst, noch einmal in voller Regimentsstärke angeschoben, um sich Last Minute noch ein Stück Natur einzuverleiben […]. Noch einmal zwängen sie sich in ihre Trekking-Outfits und stülpen neonfarbene Schutzhelme auf den Kopf für ihre letzte Fahrradtour vor dem Ansetzen des Winterspecks. Die Ausflügler bilden in dieser Zeit Cluster, ähnlich den Staren […]. Sie wollen noch einmal das Gefühl haben, dazuzugehören zum Reigen der Jahreszeiten und dem Rhythmus des Lebens, wie es immer war. (LL, 139) Ähnlich wie Moor und Sezgin stellt auch Reichert Typen aus, die im Sinne der Indizierungsfunktion den jeweiligen Raum charakterisieren. Mehr noch als Räume repräsentieren die Figuren allerdings Raumordnungen, über die Reichert als Dritter durch Teilung verfügt. An diese Feststellung anknüpfend wird in den nachfolgenden Unterkapiteln herausgearbeitet, wie die so etablierten Raum- und Wissensordnungen erzählt werden.

4.3 Inhalt und Form Ebenso wie in den bisher untersuchten Texten wird auch in Landlust weniger der Umzug als das Angekommensein erzählt. Auch hier fungiert der Umzug vornehmlich als narratives Ordnungsschema, welches Auswahl und Ordnung des Geschehens rechtfertigt. Anders als zuvor wird aber durch den Umzug eine Themenvielfalt entdeckt und dann über die Besonderheiten der Themen in Stadt und Land erzählt. Der Text ist durchgehend intern fokalisiert, Reichert selbst spricht und eine Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor wird nicht vorgenommen. Hier erfolgt, anders als bei Moor oder Hochreither, keine Distanzierung zum Beschriebe-

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Bernhard Waldenfels stellt in seiner Phänomenologie des Eigenen und Fremden sogar fest, dass durch solche mehrseitigen Abgrenzungsbewegungen die Fremde aufgelöst wird. Während Waldenfels aber die Möglichkeit eines unbeteiligten Dritten bestreitet, implementiert Reichert sie und behauptet so Distanz zur Stadt-Land-Dichotomie; vgl. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie des Eigenen und des Fremden, in: Münkler, Herfried (Hg.): Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin: Akademie 1997, S. 65-83, hier: S. 69.

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nen (vgl. WB, 5). Reichert nutzt jedoch häufig einen erzählerischen Plural und suggeriert damit Gemeinschaften: Entweder mit einzelnen Figuren wie seinem Partner, Gruppen wie der Dorfgemeinschaft oder aber mit den landinteressierten Lesenden, um die gesamtkulturelle Dimension des subjektiven Erfahrungsberichts hervorzuheben: »Dass der deutsche Mittelstand dahinschmilzt wie die Polkappen, hat sich herumgesprochen. Beide Schmelzprozesse machen Angst […]. Und was machen wir jetzt? Aufs Land ziehen, oder wenigstens davon träumen.« (LL, 11)). Durch den Plural werden Gemeinschaft und eine Art bundesdeutsche Mentalität behauptet, zugleich wird so auch die Zielgruppe des Buches definiert. Sie erscheint als urbaner, klimabewusster Mittelstand, der sich den Gang aufs Land auch finanziell leisten kann, was sich auch wiederkehrend in der Themenauswahl niederschlägt. Beispielsweise wird die umwelt- und gesundheitsbewusste Lebensweise (Biomarkt und urban gardening) mit dem unhinterfragten Konsum von Elektronikartikeln konterkariert, »[d]enn während im Hintergärtchen beschaulich die Erdbeeren blühen, wird das Mobiltelefon eben in China hergestellt, mit Materialien, deren Abbau in Afrika Menschen das Leben kostet und die Natur zerstört.« (LL, 12) Diese Produktion von Nähe zu der städtischen Leserschaft zeigt sich auch auf sprachlicher Ebene. Denn besonders in Naturschilderungen werden überwiegend urbane Kultur oder Hochkultur als Ursprungsbereich gewählt. So sei eben nicht »die Nachtigall«, wie die idyllische Literatur seit Shakespeares Romeo und Julia es behaupte, »der wahre Klang des Sommers«, (LL, 92) sondern der Rasenmäher. Für Reichert »ist der mähende Bürger ein Solist, denn er liebt es nicht, im Konzert zu mähen.« (LL, 92) Zugleich ist Rasenmähen ein Massaker. […] Grashüpfer fliehen wie wild gewordene Pferde, Ameisen sind auf dem ungeordneten Rückzug wie die US-Army ohne Hummer-Jeeps, eine Käferfrau ruft um Hilfe, weil sie den Nachwuchs aus den Augen verloren hat, […]. Schlimm. (LL, 93) Diese sehr bildreiche Sprache erfüllt zum einen die Unterhaltungsfunktion des Textes, zum anderen folgt sie der Kommunikationssituation: Der sowohl in der Stadt wie auf dem Land lebende Autor bringt dem städtischen Publikum das (ihm nicht) fremde Landleben in einer für Städter verständlichen Weise dar. Dafür werden Bilder von Orchestern genau wie Actionfilmen bedient. Ein weiteres wichtiges Formelement ist der erzeugte Eindruck von Gegenwärtigkeit des Geschehens, von unmittelbarer Beteiligung. Es wird z.B. überwiegend im Präsens erzählt. Das so erzählte Geschehen folgt wieder dem Jahresverlauf, die vier Abschnitte des Buches (Frühling (LL, 15-68), Sommer (LL, 69-118), Herbst (LL, 119-170) und Winter (LL, 171-221)) sind in die jeweils zugehörigen Monate unterteilt. Auch in Reicherts Selbstversuch scheint also die zyklische Zeit die einzig mögliche Form der Darstellung von Landleben zu sein. Ein weiterer Effekt dieser Ordnung ist, dass in ihr auch Vergangenheit konserviert wird, beispielsweise heißt

Reichert – Landlust

es in dem oben zitierten Abschnitt über den September: »Früher, als es noch einen tatsächlichen Zusammenhang zwischen der Jahreszeit und dem Inhalt des Kochtopfs gab, galt der September als Kartoffel-Monat.« (LL, 121) Dass diese existenzielle Dimension ländlicher Zeitverläufe aber nicht ganz vergangen ist, wird im November offenbart, in dieser Zeit gehe es nach wie vor »um nichts anderes als das blanke Überleben« (LL, 169). Die Monatspassagen wiederum sind unterteilt in ›typische‹ Ereignisse, Motive und Aktivitäten des jeweiligen Zeitabschnitts: Vom Baumarkt-Besuch und Osterfeuer im Frühjahr, Leben im Freien im Sommer, Dorffesten und Herbstspaziergängen bis zur Winterruhe sind die Kapitel an Situationen des Landlebens orientiert, welche durch ihre Einbindung in den Jahreszeitenverlauf naturalisiert werden. Jedes dieser prototypischen Geschehenselemente wird in einem Unterkapitel erzählt, im März sind das »Im Märzen der Bauer« (LL, 17), »Stall ausmisten« (LL, 22) und »Osterfeuer« (LL, 25). Die einzelnen Abschnitte sind dabei selten konsequent der umfassenden Darstellung des titelgebenden Phänomens gewidmet, sondern changieren zwischen kulturellen Analysen und subjektiven Beobachtungen. Beispielsweise werden in »Osterfeuer« regionale Bräuche und Gepflogenheiten beschrieben (vgl. LL, 29f.), die dann von Betrachtungen über die kulturelle Bedeutung des Osterhasen und die Bedrohung des Feldhasen durch industrielle Landwirtschaft abgewechselt wird (vgl. LL, 25). Abgeschlossen wird das Kapitel mit Überlegungen zu Ostereiern, den individuellen Ernährungsvorlieben des Autors sowie deren Realisierbarkeit unter ökologischen wie organisatorischen Gesichtspunkten auf dem Land (vgl. LL, 26-28). Immer wieder wird das im individuellen Erlebnis gewonnene Erfahrungswissen in direkter Ansprache an die Lesenden weitergegeben: Beinahe hätte ich den Schmetterling im Wandschrank vergessen. […] Und ob man es nun glaubt oder nicht: Ein wenig verpennt zwar aber ganz fidel schwirrte das kleine Pfauenauge aus dem Schrank. Ich freute mich über den Beginn des Frühlings, den er in seiner Leichtigkeit und seinem farbenfrohen Wohlgemut repräsentierte. Und darüber, dass Schmetterlinge tatsächlich Winterschlaf halten – hätten Sie’s gewusst? (LL, 22) Das eigentliche Erleben auf dem Land wird bestimmt durch das Ereignis, von dem ausgehend Wissen und Erfahrungen erzählt werden. Indem diese eher lose Auswahl als Elemente des Jahreszeitenverlaufs und zugleich als einfach ›bemerkenswert schön‹ (»Ich freute mich über den Beginn des Frühlings, den er in seiner Leichtigkeit und seinem farbenfrohen Wohlgemut repräsentierte«) erzählt wird, wird ein Eindruck von Vollständigkeit erzeugt und zugleich werden die Gegenstände des Erzählens als notwendig herausgestellt. Dieses Vorgehen ist den bisher bearbeiten Umzugsgeschichten ähnlich. Dass diese Auswahl und Reihung aber eben nicht nur an eigenen Erfahrungen orientiert ist, sondern notwendig aus am Raum aufgedeckten gesellschaftlichen

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Fehldeutungen folgt, wird wiederholt deutlich gemacht, bspw. heißt es über die Freizeitgestaltung auf dem Land: Viele träumen vom Lande, weil sie die Vorstellung haben, dass man hier im Gegensatz zur Stadt endlich mal seine Ruhe hätte und ausschließlich die Seele baumeln lassen könnte. Dafür ist aber leider nie Zeit, weil man entweder Holz hackt oder Rasen mähen muss. (LL, 157) Und wenig später: Das Ende des vorletzten Kapitels suggerierte, dass man auf dem Lande gesünder lebt, weil der Konsum von Alkohol und anderen legalen Drogen nur eingeschränkt, möglich sei und deshalb in geringerem Maße erfolge. Diese Aussage ist jedoch falsch. In Wahrheit herrscht auf dem Land der blanke Alkoholismus. (LL, 158) Damit wird ein aufklärerisches Narrativ genutzt – Reichert schreibt den Umzug gewissermaßen in Tradition Immanuel Kants als ›Ausweg ländlicher Räume aus ihrer fremdverschuldeten Unmündigkeit‹. An diesen Beispielen ist zu sehen, wie auch in diesem Beispiel Umzug und Wissenserwerb maßgeblich zur Sequenzierung des eher losen Geschehens und damit zur Etablierung von Kohäsion, letztlich zur Bildung einer Geschichte genutzt werden. Reicherts Selbstversuch folgt damit der Tradition der Reisetagebücher, in denen die Kuriositäten der Fremde gesammelt und durch die narrativen Mittel der Reiseerzählung in eine Form gebracht werden. Durch die vom Reisebericht geerbte Behauptung von Chronologie und Erkenntnis wird der poietische Aspekt der literarischen Formung verschleiert.12 Wie bisher gezeigt wurde, entsteht das für Reichert wichtige kulturanalytische Wissen hauptsächlich und erst durch seine Positionierung als Scharnierfigur zwischen den Deutungen ländlicher Räume als idyllischer oder vergehender Ort. Im folgenden Unterkapitel werden diese Basisoppositionen des Textes genauer in den Blick genommen.

4.4 Zwischen ›Landlust‹ und ›Provinz‹ Dieses Unterkapitel folgt der Annahme, dass Reicherts Erzählen in Landlust letztlich erst aus der Unterscheidung von ›echtem‹ Landleben und kulturellen Imaginationen hervorgeht. Das ist insbesondere an dem wiederholt erzählten kulturgeschichtlichen Wissen erkennbar, so wird bspw. dargestellt, wie das Picknick von Feldarbeitern als einzig mögliche Form der Nahrungsaufnahme gewählt und dann durch 12

Vgl. Röcke 1997, S. 361.

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adelige und bürgerliche Kreise als Kulturtechnik übernommen wurde (LL, 97f.). Die ehemals ländliche Kulturtechnik sei dann als Imitation städtisch geworden, was auch heute noch daran erkennbar sei, dass insbesondere Städter viel draußen und unterwegs essen, insbesondere werden die Grillfeste türkischer Großfamilien in Berlin sowie die Grillversuche der »Berliner Szenegänger« (LL, 98f.) angeführt. Das eigentliche Geheimwissen des Umgezogenen ist aber die dann nachfolgende Feststellung, dass es entgegen städtischer Vorstellungen »dem wahren Dörfler nie einfallen würde, draußen im Freien zu essen« (LL, 100). Diese Beobachtung wird noch mit einer kulturanalytischen Reflexion versehen: »Das ›Raus und Grillen‹ ist eine kollektive Sehnsucht, die auf der Einbildung beruht, dass diese Form des gemeinsamen Essens eine Verbundenheit mit den Stämmen der Vorfahren und Kontakt zu Mutter Erde herstellt« (LL, 101). Solche Kontrastierungen bereiten die zentrale kulturanalytische Feststellung vor: Die in der Stadt erträumten und imitierten ländlichen Lebensweisen sind zwar Lügen und verstellen den Blick auf das wahre Wissen über Land, sie erfüllen aber letztlich eine für sich genommen relevante kulturelle Funktion. Durch seinen ›Gang aufs Land‹ kann Reichert dann immer wieder feststellen, dass die urbanen Bilder idyllischer Ländlichkeit nicht mit echtem Landleben vereinbar sind. Offensichtlich wird das, wenn er schildert, dass der eigene Hof mit seiner »hochglanzfähige[n] Streuobstwiese« nach Bezug durch die Hühner »aussah wie ein total ernst gemeinter Bauernhof in einem von der Welt abgeschnittenen Dorf auf dem Balkan. Also dort, wo nie ein Fotograf von ›Landlust‹ oder ›Unser schöner Garten‹ hinkäme.« (LL, 27) Reichert weiß also durch die eigene Erfahrung von Wahrheit über Land, durch globaleres Allgemeinwissen aber auch um andere Formen von Ländlichkeit. Durch die Einführung des »total ernst gemeinte[n] Bauernhof[s]« werden die eigenen und medialen Bilder von Ländlichkeit (»›Landlust‹ oder ›Unser schöner Garten‹«) als Imitationen und Ironie gekennzeichnet. Zugleich verschiebt Reichert die ›echte‹ Grenze von Stadt und Land – und zwar auf den Balkan. Eine weitere Strategie, die eigenen Erfahrungen mit kulturellen Imaginationen abzugleichen, ist der Gebrauch von Intertexten. Die Kapitelüberschrift »Über allen Wipfeln Ruhe« (LL, 92) dient bspw. als Motiv der Ruhe und Kontemplation in der Natur, der Bezug auf Goethes Wandrers Nachtlied/ein Gleiches muss mitgelesen werden. Der relevante Effekt entsteht dann im Kontrast von Idylle aufrufendem Intertext und Beobachtungen dörflicher Realität, denn die von Goethe versprochene Ruhe existiert nicht, »der wahre Klang des Sommers, das ist der Rasenmäher.« (LL, 92) Und in Rekurs auf Rainer Maria Rilkes Herbsttag stellt Reichert fest: »auch ohne Rilke-Kenntnisse ahnt der Bürger aufgrund der Pullover, die er sich abends über die Schulter hängen muss, dass sich nicht nur der Sommer dem Ende zuneigt« (LL, 133). Besonders auffällig ist an diesem Intertextgebrauch, dass auch die Gedichte letztlich nicht nur als Repräsentationen von Ländlichkeit, sondern als Formationen von

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Wissen gelesen werden, als mittlerweile historische Aufklärung, dass auf dem Land Ruhe zu finden ist und wie die Wetterverhältnisse sind. Entsprechend wird durch diesen Textgebrauch auch die Lektüre von Reicherts Landlust gesteuert. Immer wieder wird auf Volkslieder und Schlager Bezug genommen, die dann als Motive gelesen werden, so denkt Reichert an Gitte Haenings Ich will alles (vgl. LL, 220), wenn er vor die Wahl zwischen Stadt und Land gestellt wird. Und zum Beweis, dass es kein Entkommen aus eingespielten (idyllischen) Mechanismen des Landlebens gibt, dient Günter Wewels Und ewig rauschen die Wälder (vgl. LL, 37). Mit diesen (pop)kulturellen Bezügen wird Reicherts Darstellung anschlussfähig und gleichzeitig schreibt er seine Analyse in den Landlust-Diskurs ein. Damit wird Landlust zu einem Deutungsangebot über Land, welches zwar ein Text unter Texten ist, die aufgerufenen Intertexte letztlich aber an Wissen und Wahrheit übersteigt. Und parallel dazu kommt dem eher spielerischen Umgang mit Tradition eine Unterhaltungsfunktion zu.

4.5 Wissen und Ästhetik Sein Schreiben in diesen Traditionen und gegen die Vorstellungen der dörflichen Idylle führt der Erzähler vor, indem er jener Idylle zunächst selbst verfällt, um anschließend durch den Teilzeit-Alltag auf dem Land die Realität hinter der Idylle zu erkennen. Dadurch ist Landlust ebenfalls eine Erzählung vom Ende der Täuschungen, wie sie auch von Moor, Hochreither oder Sezgin erzählt wurde. Beispielhaft deutlich wird das, wenn Reichert nach dem Erwerb ›echt bäuerlicher‹ Wurst auf einem polnischen Markt feststellt, dass die Schweine für diese himmlische Wurst gar nicht von einem kleinen polnischen Bauernhof stammten, sondern von der aus Not illegal produzierenden Familie billig von einem polnischen Großbetrieb gekauft worden waren, weil sich das Geschäft sonst gar nicht lohnen würde. (LL, 56f.) Doch das sei »beim zweiten Glas trockenen Rotweins aus riesigen, EU-subventionierten toskanischen Aluminiumtanks […] vergessen« (LL, 56). Darin kulminiert das eigentliche Programm des Textes: Zwar weiß man, dass die Dörfer potemkinsche sind und angesichts der Anforderungen einer globalisierten Spätmoderne nicht bestehen würden, sie als real anzunehmen, schafft aber dennoch die gesuchte Entlastung von den Anforderungen städtischer Überlastung. Das illustriert einen neuen Umgang mit Ländlichkeit: Die Idyllisierungen müssen nur als Konstruktionen bewusstgemacht werden, dann sind sie weniger gefährlich. Reicherts Text leistet die dafür nötige Aufklärung. Diese Beobachtung schließt aber nicht aus, dass die entdeckte Ländlichkeit weniger schön ist, nur häufig anders als vorgestellt, so wird z.B. beim Besuch einer Töpferei eine spezifisch ländliche Äs-

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thetik entdeckt: »Auf dem Lande sollte es ja schon ein wenig gröber und weniger erlesen sein. Gefäße sind hier bevorzugt irden und handgefertigt.« (LL, 38) Die städtische ›Lust auf Land‹ sei aber nicht immer mit so einer ›echt ländlichen‹ Ästhetik vereinbar, denn diese bestehe auch aus »Kunststoffblumen auf Furniertisch, das alles ist nichts für zartbesaitete Freizeit-Liebhaber des Rustikalen, die ihre Auffassungen vom Landleben aus Zeitschriften und der Fernsehwerbung zusammengestellt haben.« (LL, 85) Wenn man sich dann aber auf die ästhetischen Besonderheiten ländlicher Räume eingelassen habe und hinter die Täuschung blicke, werde das belohnt. Die entdeckte Ländlichkeit übersteigt sogar Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, das Vorbild all dieser Entdeckungsfahrten nach Brandenburg, denn für Reichert ist »es […] überhaupt alles schöner, als es Fontane je bei einer Nachtwanderung durch die Mark Brandenburg hätte vorfinden können.« (LL, 42) Solche Betonungen des eigenständigen ästhetischen Werts von Landleben durchbrechen immer wieder das aufklärerische Programm. So schildert Reichert, wie er bei der Gestaltung seiner Küche einem Bild vergangener Ländlichkeit folgt: Natürlich sind unsere Pfannen nicht mit Materialien beschichtet, die geeignet sind, den Weltraum zu bereisen. […] Ich weiß nicht, was passiert, wenn man eine solche Gerätschaft in die Mikrowelle stellt, aber da sich eine solche in einer Landhausküche ohnehin verbietet, hatte ich noch nie Gelegenheit, es auszuprobieren. Unsere gusseisernen Pfannen und Bräter werden nämlich publikumswirksam auf der ›Kochmaschine‹ im Mittelflur beheizt. (LL, 41f.) Die Absage an Mikrowellen und die Behauptung einer spezifischen Eigenheit von Landhausküchen, die sich in einem ästhetischen Regelwerk manifestiert, ähnelt der Darstellung in Brigitte Jansons Winterapfelgarten.13 Dass die Behauptung ästhetischer Authentizität selbst eine Behauptung von Ungleichzeitigkeit und zudem Teil idyllischer Narrative ist, wird durch »publikumswirksam« reflektiert. Immer wieder werden so auch Elemente und Praktiken der ›Lust auf Land‹ affirmiert. Kurz darauf wird deutlich gemacht, dass dieses Einlassen auf die ästhetischen Bedingungen des Diskurses letztlich auch Vorbereitung einer Analyse des Landlust-Diskurses ist, wenn Reichert schreibt: »Es geht bei der Landhausgestaltung nämlich nicht darum die eigenen Eltern zu verarschen, indem man ihre Ästhetik ironisch vorführt, sondern darum, die Groß- und Urgroßeltern zu glorifizieren.« (LL, 43) Diese Analyse des Phänomens geht mit Reicherts Feststellung weiter, dass die Umzüge der landlustigen Stadtbewohner erst durch die Strukturprobleme ländlicher Räume ermöglicht werden. Hier zieht er eine große Linie, die vom Wegfallen von Arbeitsplätzen auf dem Land, über den Umgang mit ehemaligen Landar13

Auch da heißt es, dass Mikrowelle und Herd ausgeschlossen wurden, um mit »den modernen Geräten das Gesamtbild der Bauernküche nicht [zu] zerstören.« Janson, Brigitte: Winterapfelgarten, 4 Berlin: Ullstein 2015, S. 188.

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beitern sowie dem freigewordenen billigen Wohnraum bis hin zu der Erkenntnis reicht, dass durch den dann erfolgenden Zuzug Vorstellungen von Ländlichkeit importiert würden, die mit der Realität nicht identisch sind (vgl. LL, 77f.). Und auch in den in Städten eröffneten Imitationen des Landlebens oder den von Städtern gegründeten Dorfcafés stecke kein Mehrwert für die eingesessenen Landbewohner, »[d]enn weder würde diese ›Kulturfabrik‹ ihrem Verständnis von Erbauung entsprechen, noch könnten sie sich die angesagte, ganz auf neue Schlichtheit getrimmte Regionalküche leisten.« (LL, 79) Er schlägt dann »eine großangelegte Landverschickung von Menschen, die in den soziokulturellen Berufen, Medien – Werbung – Weiterbildung, arbeiten und den ganzen Tag Entfremdung produzieren« (LL, 79), vor, um billige Landarbeiter zu ersetzen. Diese Kritik mündet schließlich in Aufklärung, denn letztlich findet Reichert es [s]pannend […], wie sehr die Sehnsucht nach Landleben, hübsch anzuschauenden Bauernhöfen und gesund bis kernig daher stolzierenden Bauern und Bäuerinnen im Widerspruch steht zu der Lebenswirklichkeit von EU-Scheinlandwirtschaft und Hofsterben. (LL, 81) Reichert wisse also um die Wahrheit des ländlichen Raums – wie hier bewiesen wurde gerade im Gegensatz zu Stadtbewohnern. Wer mit Landleben vertraut ist, der kann sich auch auf die spezifisch ländliche Ästhetik mit Wachstischdecken und Tonzeug einlassen – dafür braucht es ein Wissen um ländliche Normalität, das nur denen zugänglich ist, die den Gang aufs Land wirklich gewagt haben. In diesem Argument ist der für Landlust elementare Zusammenhang enthalten: Die urbanen Imaginationen sind Täuschungen, wenn sie aber durch echte Erfahrung und Wissen überstiegen werden, dann wird die wahre Lebensqualität ländlicher Räume erfahrbar. Trotz der wiederholten Kritik an den idyllischen Bildwelten des Landlust-Diskurses bleibt der in Reicherts Selbstversuch formulierte epistemische Zielpunkt also dem der bisher untersuchten Bücher verwandt, denn es geht auch in Landlust um die Entdeckung einer ländlichen Normalität abseits kulturell tradierter Erzählungen über Land. Um diese Erkenntnis zu ermöglichen, wird aber nicht nur von Wissen, sondern von Deutungen erzählt. Und so sind das Wechselspiel von Erfahrung und Analyse sowie medialer und realer Räume als Autorisierung der entworfenen Provinz zu verstehen, was im folgenden Abschluss dieser Untersuchung ausgeführt wird.

4.6 Autorität und Aufklärung Denn letztlich geht es in Unterhaltungsliteratur dieser Art nicht um Wahrheit im Sinne einer Übereinstimmung mit den Tatsachen, sondern um Glaubwürdigkeit. Reichert verdichtet die urbanen Imaginationen des Ländlichen und die selbst ent-

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deckten Reste traditioneller Ländlichkeit zu einer Erklärung des Phänomens ›Landlust‹ und zu einem Ausweg aus der Verklärung ländlicher Räume. Nach der Schilderung der eigenen Erfahrung mit Gartenarbeit im Kapitel »Unter der Erde« (LL, 163) wird die Analyse sogar zur kulturanalytischen Prognose: Es ist zu befürchten, dass sich gerade die 30Plus-Gärtner zunächst wie die PopMusik an England orientieren werden, viel mit Retro-Samen und IndividualitätsSchnickschnack arbeiten, um dann das Ganze mit deutschen Lebensreform-Inhalten, einem Schuss Esoterik und ganz viel Ökobewusstsein aufzuladen. (LL, 168) Und die Schilderung von zu lang gelagertem Gemüse wird zum Abgleich mit dem gegenwärtigen Kunstbetrieb. Denn alte Kartoffeln sähen auf Fotos eben nach Kunst aus, [m]an kann die Aufnahmen dann noch schön am Rechner nachbearbeiten, die Ausdrucke auf Holzplatten ziehen, das Ganze mit Eigenurin lackieren. Danach kann behaupten wer will, dass es sich bei diesen Exponaten um ein crossover zwischen Leipziger Schule und ungarischem Realismus der Dreißiger Jahre handelt, und in der Scheune eine Galerie eröffnen. (LL, 218) Das ist nicht nur Kritik am Kunstbetrieb, sondern so wird die kulturelle Aneignung des ländlichen Raums thematisiert. Querverweise dieser Art werden selten ausführlich erläutert, wie durch die oben beschriebenen Intertexte wird ein semantisches Netz aufgespannt, das für die angenommene Leserschaft des Buches anschlussfähig zu sein scheint. Zugleich erhöht die regelmäßige Abwertung dieser als urban gekennzeichneten Praktiken den vorgestellten ›richtigen‹ Umgang mit Landleben. ›Richtig‹ heißt hier dem Raum, seiner Essenz und seiner Tradition angemessen – spätestens an der Stelle gleichen die erzählte Raumkonfiguration und die Bedeutung des erzählten Wissens wieder den Ansätzen aller bisher untersuchten Bücher, denn es geht hier auch wieder um die Entdeckung von Wissen, das ein ›raumangemessenes‹ Leben ermöglicht. Der Autor könne das qua Erfahrung und Wissen einschätzen. Damit das unerwartet und erzählwürdig ist, muss dieses Wissen als neu gekennzeichnet werden, muss also letztlich in einem Sachbuch auftauchen, in dem es darum geht, »gerade nicht amtlich bestätigtes Wissen auf amtlich erlaubte Weise zu präsentieren, sondern ›wildes‹ Wissen als authentisches, unverstelltes Wissen oder Gegen-Wissen in Umlauf zu bringen.«14 Gerade in dieser Bemühung, das er-

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Porombka 2013, S. 157. ›Wildes‹ Wissen ist implizites Wissen ohne institutionellen Ort, das »eine einheitliche, chronologisch stringente und überblicksartige Narration und de[n] damit verbundenen Machtgestus« ablehnt; Miersch, Beatrice: Evidenzen stören. Überlegungen zu einem Queer Curating. In: Krüger, Klaus/Werner, Elke A./Schalhorn/Andreas (Hg.): Evidenzen des Expositorischen. Wie in Ausstellungen Wissen, Erkenntnis und ästhetische Bedeutung erzeugt wird. Bielefeld: transcript 2018, S. 203-232, hier: S. 224.

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zählte Wissen als ›wildes‹ zu kennzeichnen, liegt der Zweck des bereits herausgearbeiteten und wiederkehrenden Abgleichs mit den als Täuschungen gekennzeichneten Vorstellungen der ›Landlust‹: »Aufs Land ziehen und Schafskäse züchten – leichter gesagt als getan. […] Wer kein Bauer ist, bekommt kein Land, aber ohne Land kann man auch nicht Bauer werden.« (LL, 178). Diese Schwierigkeit, Land zu erwerben, wird dann mit dem Reichssiedlungsgesetz von 1921 erklärt (vgl. LL, 178). Die Kenntnis solcher ländlichen Realitäten ist dann ›wildes‹, weil verlorenes Wissen. Erst die These von der kulturellen Entfremdung vom ländlichen Raum macht dieses Wissen über Hühnerhaltung und Landerwerb zu solchem ›wilden‹ und damit erzählenswerten Wissen. Zusammenfassend ist also festzustellen, dass auch in Martin Reicherts Landlust die Umzugs- als Erkenntnisgeschichte erzählt wird. Noch expliziter als in den drei bisher untersuchten Büchern geht es aber nicht nur um eine Wahrheit über Land, sondern auch um eine Kritik am Diskurs der ›Lust auf Land‹, was die Komplexität der Raumkonfiguration und damit der Wahrheitsbehauptung erweitert: hier geht es nicht mehr um Räume und Wissen, sondern um Raum- und Wissensordnungen. Indem Reichert gerade diese Ordnungen in den Blick nimmt, wird die Behauptung des Neuheitswertes des auf dem Land gewonnen Wissens verstärkt. Insofern ist auch dieses ›Schreiben zweiter Stufe‹ eine narrative Strategie des epistemischen Erzählens vom Gang aufs Land. Um die Besonderheiten eines gleichzeitig vollzogenen Schreibens über Räume, Wissen, Raum- und Wissensordnungen besser einordnen zu können, folgt im nächsten Kapitel die Analyse von Axel Brüggemanns Landfrust, eines weiteren Buches mit ähnlich analytischem Anspruch.

5. Axel Brüggemanns Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz

Ähnlich wie Reichert schreibt auch Axel Brüggemann in Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz nicht nur über Landleben, sondern auch über Konstruktionen des Ländlichen und die Auswirkungen der ›Lust auf Land‹. Über beide wisse Brüggemann [d]ie Wahrheit […]: Die deutsche Provinz stirbt einen langsamen, schmerzvollen Tod. Und anstatt zu fragen, ob es überhaupt noch einen Sinn macht, in unsere Provinzen zu investieren, verklären wir die dörflichen Ghettos zu Inseln der Glückseligkeit.1 Und in einem anlässlich des Erscheinens von Landfrust in der Berliner Zeitung erschienenen Artikel schrieb der Autor über den Diskurs der ›Lust auf Land‹, das Land sei nur noch als idyllische Konstruktion erhalten, »[s]o lebt es im Fernsehen. Und so feiert es der Moderator Dieter Moor in seinem Bestseller ›Geschichten aus der arschlochfreien Zone‹. […] Alles Lüge!«2 Aus dieser Feststellung schlussfolgert Brüggemann die Notwendigkeit, etwas gegen die idyllischen Ländlichkeiten zu setzen, nämlich Wahrheit. Ähnlich wie in Martin Reicherts Landlust geht es hier also nicht mehr nur um Wissen über, sondern auch um Wahrheit über Landbilder. Während Reicherts Selbstversuch durch die Form der Umzugserzählung und die Vielzahl idyllischer Motive eindeutig in die erste Untersuchungsgruppe zu zählen war, geht Brüggemann über den Erfahrungsbericht hinaus, indem er seinem Text eine dreiteilige Struktur gibt: Landfrust besteht aus drei voneinander unabhängigen Büchern, einem Roman, dem mit »Zur Lage« betitelten Essay und einer »Vor Ort« betitelten Reportage. Aus je drei dieser Elemente werden die einzelnen Themenkapitel des Buches zusammengesetzt. In dieser Form steckt eine erste Behauptung über ländliche Räume, dass sie nämlich nur mit einer Dreiteilung aus

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Brüggemann, Axel: Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz, Reinbek: Rowohlt 2011, S. 12. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle LF im Fließtext nachgewiesen. Brüggemann, Axel: Landfrust statt Landlust, in: BZ 27.3.2011, URL: https://www.bz-berlin.de /artikel-archiv/landfrust-statt-landlust [Zugriff am 24.5.2019].

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Beobachtung (Reportage), Reflexion (Essay) und Fiktion (Roman) zu erfassen seien. Zugleich steckt in dieser Auswahl der Formate des Wissens eine Einschätzung der Komplexität des Gegenstands. Es ist also naheliegend, dass Landfrust nicht trotz, sondern wegen dieser Besonderheit als Gegenstand der der Untersuchung von Poetologien des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert taugt. Zudem sind die drei erwähnten Formate in eine autobiographische Erzählung davon eingebettet, wie Brüggemann in das Dorf seiner Kindheit zurückkehrt und feststellt, in ›seinem‹ Dorf sei heute nichts mehr so, wie es zu Zeiten meiner Kindheit gewesen ist. […] Inzwischen ist dieses Dorf zu einem Vorort Bremens mutiert. […] Und genau genommen ist die eigentliche Herausforderung nicht die Restaurierung des alten Hauses gewesen, sondern die Frage, wie das Leben auf dem Land sich überhaupt lebendig gestalten lässt. (LF, 11) Aus dieser Erkenntnis folgt die Entsendung des Helden und Brüggemann begibt sich auf eine (Forschungs-)Reise durch die deutsche Provinz, um anschließend festzustellen, »dass das Landleben, wie man es sich als Städter vorstellt, mittlerweile kaum noch existiert.« (LF, 11) Die Beobachtungen aus dieser Reise sind in den mit »Vor Ort« überschriebenen Passagen versammelt. In diesen Kapiteln ähnelt Brüggemanns Landfrust einer Reihe von literarischen Deutschlandreisen, die einem ähnlichen Programm folgen. Zu nennen sind bspw. Moritz von Uslars Deutschboden (2011) und Nochmal Deutschboden (2020), Roger Willemsens Deutschlandreise (2002) oder Wladimir Kaminers Mein deutsches Dschungelbuch (2003). Mehr als in diesen Büchern geht es aber Brüggemann nicht nur um eine Bestandsaufnahme, sondern eben darum, »wie das Leben auf dem Land sich überhaupt lebendig gestalten lässt«, also die Frage nach gutem Leben auf dem Land angesichts der Herausforderungen von Urbanisierung in der Spätmoderne. Wie hier bereits angedeutet wurde, ist auch dieser Text in einer Schwebelage zwischen Affirmation und Negation des Landlust-Diskurses angelegt. Der Titel Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz ist die erste Absage an den Diskurs, die das eigene Schreiben von dieser nahen Tradition abhebt. Durch die im Untertitel angelegte Figuration des ländlichen Raumes als »Provinz« wird ein urbanes Raumbild aufgegriffen und durch das Versprechen vom »Selbstversuch« zur Diskussion gestellt. Das auf dem Umschlag abgebildete Foto folgt einem Blick aus einem Landhausfenster, von draußen schaut eine Kuh herein – das suggeriert, dass da jemand wirklich auf dem Land war und die im Selbstversuch angelegte Erfahrung erworben hat. Die Umschlaggestaltung ähnelt letztlich den Bildwelten der bisher untersuchten Bücher. Auch im Vorwort wird das Versprechen gegeben, hinter die Täuschungen des Diskurses zu blicken und die gängigen Vorurteile über Land zu dekonstruieren. Brüggemann fragt: »Wie ist es tatsächlich um die deutschen Dörfer bestellt? Sind sie noch zu retten oder längst von allen guten Geistern verlassen?«

Brüggemann – Landfrust

(LF, 12) Dabei wird darauf hingewiesen, dass eine Aufklärung dringend notwendig ist, denn er wisse, »dass eine Idealisierung des Landlebens seinen sicheren Tod bedeutet.« (LF, 13) Ähnlich wie in Reicherts Landlust sollen nun auch in Landfrust die umlaufenden Bilder der neuen Landromantik aufgedeckt werden, da sie einen Blick auf die realen Probleme des Ländlichen unmöglich machen würden. Dabei ist schon die poetologische Frage nach den Möglichkeiten wahren Schreibens über Land enthalten: »Wie soll man das Leben auf dem Land deutlich erfassen?« (LF, 12) So wird von Beginn an ein reflexives, kulturkritisches Narrativ vom Verlust ländlicher Räume und von Heimat etabliert, das als Aktualisierung einer Tradition zu verstehen ist, die seit der Romantik und über grüne Bewegungen hinweg leitend für den Blick auf Land ist: die Geschichte »des vom Menschen ausgelösten Verfalls und Untergangs der Natur«.3 Die üblichen Ausformungen dieses elegischen Narrativs über Naturverlust und Artenschwund werden hier um den Verlust traditioneller (Kindheits-)Räume erweitert.4 Dass das Bild vom vergangenen guten Leben auf dem Land in die relativ nahe Kindheit des Autors – dieser ist Jahrgang 1971 – datiert wird, rückt die Erzählung in die Nähe romantischer oder biographischer Narrative vom Verlust der Heimat.5 Versteht man Kulturkritik als »vage[n] Sammelbegriff für Verlustgeschichten und Pathologiebefunde«6 , so wird deutlich, dass in dieser Erzählung eine Vorstellung des ländlichen Raums als kranker Patient angelegt ist, für die Brüggemanns »Frage, wie das Leben auf dem Land sich überhaupt lebendig gestalten lässt«, und die Form des mehrdimensionalen Selbstversuchs Heilung versprechen. Im Gegensatz zu den Kerntexten dieser Untersuchungsgruppe (Sezgin, Hochreither oder Moor) wird das Verhältnis imaginierter und realer Ländlichkeit umgekehrt: Deckten erstere noch die Schönheit echten Landlebens hinter den gesellschaftlichen Horrorgeschichten auf, ist nun das gesellschaftliche Bild das eines locus amoenus, die Wahrheit aber horribilis. Letztlich wird aber unabhängig von der Verteilung der Wertungen auch dieser Gang aufs Land als eine Geschichte der Vermittlung zwischen zwei diametral entgegengesetzten Räumen erzählt, als Geschichte

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Heise, Ursula: Nach der Natur. Das Artensterben und die moderne Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010 (Edition Unseld), S. 10. Zur Deutung des elegischen Narrativs über Naturverlust und Artenschwund vgl. Bühler, Benjamin: Ecocriticism: Grundlagen – Theorien – Interpretationen, Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 154. Auch Wendelin Strubelt hat in seiner Rezension festgestellt, dass idyllische Ländlichkeit schon zu Brüggemanns »Kinderzeit, also in den 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch schon lange zuvor eine gesellschaftliche, rückblickende Fiktion gewesen ist, zumindest keine durchgehende soziale Wirklichkeit«; Strubelt, Wendelin: Rezension, in: Raumforschung und Raumordnung 70, 2012, S. 545-549, hier: S. 548. Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders, München: Beck 2007, S. 7.

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von Entdeckung und Erkenntnis. Ähnlich wie bei Reichert wird auch in dieser Erzählung zwischen imaginären und ›wahren‹ Räumen unterschieden, also eine Art Essenz von Ländlichkeit vorausgesetzt, zu der die Raumdarstellungen erneut finden müsste, um die Gesundheit der Räume zu retten. In der folgenden Analyse werden die hier umrissenen Besonderheiten der erzählten Räume, des erzählten Wissens und der Erzählung eingehender untersucht. Bevor aber Inhalt und Form des Buches genauer betrachtet werden, erfolgt eine eingehendere Analyse der im Text angelegten Behauptung von Wahrheit über Land, für die, und das ist eine wichtige Besonderheit für die vorliegende Studie, eine spezifische Komplexität des Erzählens notwendig zu sein scheint.

5.1 Schreibformen des Ländlichen Als zentrale Besonderheit des Textes wird also die Dreiteilung der Form verstanden, wodurch die Möglichkeiten des (aufklärenden) Schreibens über Land von Beginn an zum Thema erhoben werden. Gerade durch dieses reflexive Moment ähnelt Landfrust der Tradition idyllischen Schreibens, da nicht nur Möglichkeiten guten Lebens, sondern durch das Formspiel auch Möglichkeiten des Erzählens vom guten Leben diskutiert werden. Eigentlich habe Brüggemann, ähnlich wie Moor, Sezgin und Hochreither davon erzählen wollen, »wie unglaublich schön mein Leben geworden ist, seit ich aus der Großstadt Berlin in ein Dorf bei Bremen zog – von der Kulturhauptstadt in die Natur« (LF, 11), was ihm aber nach dem Realitätscheck auf dem Land nicht mehr möglich gewesen sei. Brüggemann stellt zwar fest, »wie verlockend es ist, sich selbst zu betrügen« (LF, 11), widerstehe aber dennoch der Versuchung einer einfachen Umzugserzählung, die er als Lüge deklassiert. Hingegen führt er aus, was ›Wissen über Land‹ überhaupt nur sein könne: Dieses Buch erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit. Es sollte eher als eine Melange aus Gefühlen, Gedanken und Beobachtungen betrachtet werden. Ich bin mir sicher, dass Verklärungen, Mythen und Selbstbetrug uns nicht weiterbringen, wenn wir dem Landleben – und uns selbst – noch eine Chance geben wollen. (LF, 12f) Der »Anspruch auf Wahrheit«, den Brüggemann in anderen Publikationen über Dorf und Land zu finden scheint – man denkt unwillkürlich an die bisher analysierten Umzugserzählungen – wird mit »Verklärungen, Mythen und Selbstbetrug« gleichgesetzt und von der besseren Erkenntnis mit Hilfe von »Gefühlen, Gedanken und Beobachtungen« unterschieden, die so zur einzig möglichen narrativen und epistemischen Zugangsweise zu Wahrheit über Land werden. Darin steckt nicht nur eine Absage an die Reihe der Landlust-Literatur, deren Schreiben als angesichts der ländlichen Realität unmöglich deklariert wird, sondern auch eine Definition guter Literatur über Land: Denn nur subjektiv wahre, auf Beobachtung basierende, in

Brüggemann – Landfrust

der Form komplexe und aufklärende Literatur könne dem ländlichen Raum gerecht werden und ihn so durch die Etablierung wahrer Raumbilder retten. In solchen programmatischen Aussagen sind noch expliziter als in den bisher untersuchten Texten Anlagen einer Poetologie des Wissens über Land enthalten. Zur weiteren Abgrenzung falschen Schreibens über Land erarbeitet Brüggemann anhand von Schwarzwaldklinik, Das weiße Band und Lehrer Lämpel Probleme traditionellen Erzählens über Landleben: Entweder ist das Land eine schöne heile Welt […], oder es wird zum Albtraum, der seinen Einwohnern – oder denen, die es werden wollen – teuer zu stehen kommt. […] Sowohl die Stimmungen auf dem Land als auch das Personal scheinen fest definiert. Es gibt ›Dorfdeppen‹ […]. Es gibt den Dorfarzt […] und die Dorfbürgermeister, die für den Aufstieg ihrer Gemeinde in der Regel über Leichen gehen. (LF, 21) Ähnlich wie Moors Darstellungen seien auch diese Erzählungen Lügen, denn »[v]om guten alten Romanpersonal der deutschen Provinz bleiben also nur noch die Alten und die Dorfdeppen zurück. Heile Dorfwelten gibt es fast nur noch im Fernsehen« (LF, 22) oder aber in der Stadt, die, wie schon bei Reichert, der wahre Ort idyllischer Ländlichkeit sei: Das ideale Dorf ist ein Fleckchen Erde, an dem jeder Tag zum Groschenroman wird. […] Das ideale Dorf unserer Gegenwart heißt: Schöneberg. […] Während der Geist des Guten in der deutschen Provinz nur noch spukt, feiert er ausgerechnet in den Metropolen seine Auferstehung. (LF, 23f.) Eine Besonderheit dieses Buches ist, dass Brüggemann trotz seiner Absage an idyllische Darstellungen von Ländlichkeit die entsprechende idyllische Bild- und Formsprache wiederholt nutzt. So heißt es beispielweise über den Besuch auf einem Weingut: Wir sitzen auf einer alten Holzbank unter einem Sonnenschirm im Hof des Schlosses. Johannes hat leichten Salat mit gebratenen Shrimps gemacht – dazu gibt es einen erfrischenden Riesling. […] Ein bisschen scheint es, als würde die Zeit auf Schloss Wetterhaus stillstehen. Alles kreist hier um den Wein und die Familie. (LF, 76f.) In diesem Stillstand der Zeit und der Fülle an Raum ist der von Bachtin erarbeitete idyllische Chronotopos aufgehoben. An diesen Stellen ähnelt die Beschreibung von Landleben durchaus denen von Moor oder Hochreither. Die Abgrenzung zur Idylle wird durch die Versicherung von Authentizität vorgenommen, denn im Gegensatz zu den bisher untersuchten Büchern sind die Personen hier nicht verfremdet, sondern als Johannes Joachim Graf von Schönburg-Glauchau und Ivonne von Opel zu erkennen. An diesen ist dann zu lernen, wie Arbeit, Traditionspflege, Verantwortung und Besitz in einer ›besseren‹ Version von Ländlichkeit zusammengehören, so

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werden beide zitiert: »›Es war klar, dass wir das ganze Haus mit dem Weinanbau über Wasser halten müssen. Wenn etwas schiefläuft, ist alles weg. Das Risiko ist groß, aber mit Fleiß und sehr viel Arbeit könnten wir es hinbekommen.‹« (LF, 74) Und weiter heißt es über die Verkettung von Landleben und Tradition: Mit dem Bild des Adels, das Blätter wie die Bunte regelmäßig beschreiben, hat das Leben auf Schloss Westerhaus nichts zu tun. Hier gilt der Satz, dass Adel verpflichtet, in seinem ursprünglichen Sinn. Es ist ein großes Stück Arbeit, die Tradition zu pflegen. Und es ist ein Bekenntnis für das Leben auf dem Land. Und zur Familie. (LF, 79) Die Episode kulminiert dann nochmal in der Absicherung, dass hier reales Landleben außerhalb medialer Idyllen präsentiert wurde: »Für die Schlossherren kommt das Leben in der Natur nicht aus einem Hochglanzmagazin. […] Anders als ihre Freunde in Berlin können sie sich nicht leisten, das Landleben nur zu spielen.« (LF, 80) In dieser eindeutigen Abgrenzung gegenüber medialen Idyllen ähnelt die Betonung von Arbeit und Verantwortung durchaus den Erzählungen von Moor oder Sezgin. Dennoch wird die regelmäßige Abgrenzung gegenüber medialen Idyllen gebraucht, um das eigene Schreiben über Land als authentischer und ›wahrer‹ auszustellen. Die Absicht, ländliche Räume durch wahre Darstellung zu retten, strukturiert nicht nur die Form des Buches, sondern auch das erzählte Wissen selbst, sodass insbesondere über strukturelle Probleme des Landlebens erzählt wird. So kann Brüggemann nach Überlegungen zum Bedeutungsverlust von Kirchen auf dem Land (vgl. LF, 106-108) feststellen, »dass die latente Amoral längst in den Köpfen nistet.« (LF, 124) Und über die Zunahme von Sexarbeit in ländlichen Gebieten wird diagnostiziert, dass sie erst aufgrund steigender Mieten aus der Stadt aufs Land verdrängt wurde. Im Anschluss daran schlussfolgert Brüggemann, dass in ländlichen Räumen durch die größere soziale Kontrolle tendenziell mehr Triebe unterdrückt werden, denn »[a]uf dem Land gelten eigene Gesetze. Was nicht zur Fassade der heilen Welt passt, wird unter den Teppich gekehrt.« (LF, 146) Es passiert viel im Geheimen, was aber letztlich dennoch allen Bewohnern bekannt ist, die Weitergabe solcher Geheimnisse folgt einer »Hierarchie des Wissens« (LF, 147), die streng geregelt ist. Dass Brüggemann hier nicht nur von Wissen über Land schreibt, sondern sogar eine Wissenssoziologie des Ruralen verfasst, betont noch einmal die von ihm eingenommene Meta-Perspektive. An diesem Beispiel ist zu erkennen, wie aus einzelnen Beobachtungen eine kulturanalytische Dimension des Wissens über Land abgeleitet werden soll. Gleichzeitig wird anhand dieser Passagen sichtbar, dass das in Landfrust erzählte Wissen und damit auch die erzählten Räume maßgeblich durch kulturanalytische Verfahren und kulturkritische Narrative strukturiert ist. Letztere treten insbesondere dann hervor, wenn von einer zunehmenden Verrohung ländlicher Räume, ihrem Niedergang oder der Entstehung kulturfremder

Brüggemann – Landfrust

Residualräume erzählt wird. Zum Beweis dieses Niedergangs werden wiederholt die Unterschiede historischer und gegenwärtiger Zustände beschrieben, die jeweils mit Hilfe von Statistiken oder Expertenmeinungen belegt werden. Häufig werden dafür öffentlich verfügbare Wissenselemente in den Stand wissenschaftlicher Informationen erhoben, um Aussagen eine entsprechende Autorität zu verleihen.7 Bis hierhin konnte gezeigt werden, dass Brüggemanns Aufklärung über Landleben aus einer Raumkonfiguration folgt, in der Landleben durch falsche Vorstellungen gefährdet ist. Und auch das erzählte Wissen entsteht aus dieser Konfiguration, in der reale und imaginäre Räume als gleichberechtigt produktive Formen nebeneinanderstehen. Das dann zu erzählende Wissen ist eine gleichermaßen persuasive wie narrative Strategie, da es auch eine Ordnungsfunktion übernimmt. Beispielsweise scheinen die Kapiteleinteilung und Themenauswahl des Textes einer ›Taxonomie des Ländlichen‹ zu folgen: Die erzählte Annäherung an Land findet stufenweise statt durch Kenntnis von Gemeinschaft (vgl. LF, 15), Natur (vgl. LF, 36), Kirche (vgl. LF, 99), Ritualen (vgl. LF, 199) oder Tod (vgl. LF, 254). An diesen Beobachtungen und besonders dem in den Kapitelüberschriften angelegten Rundumblick ist zu erkennen, dass auch Brüggemann letztlich einen Gang aufs Land im Sinne einer epistemisch-räumlichen Erkundungsbewegung beschreibt. Trotz aller behaupteten Unterschiede zu den bisher untersuchten Texten gleicht Landfrust diesen nicht nur in der Auswahl der Wissensinhalte, sondern auch im Plot, in der epistemischen Behauptung und der kommunikativen Absicht (Aufklärung städtischen Publikums). Dass diese Erkenntniserzählung aber durch die formale Dreiteilung des Textes ganz anders erzählt wird und wie genau das passiert, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts, in welchem Inhalt und Form analysiert werden.

5.2 Inhalt und Form Aus den drei literarischen Formen Roman, Essay und Reisebericht wird also immer wieder je ein Unterkapitel gebildet, von denen dann je drei ein Themenkapitel konstituieren. Die Wahl der Themen erscheint angesichts der bereits umrissenen Traditionen des Schreibens über Land wenig überraschend: von »Die Gemeinschaft« über »Die Natur« bis zum letzten, dreizehnten Abschnitt »Der Tod« (LF, 254). Aber auch »Sex« (LF, 137), »Hoffnung« (LF, 177) und »Die Welt da draußen« (LF, 238) werden als semantische Fixpunkte des Landlebens definiert und in je drei literarischen For-

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Obwohl die Darstellung dabei zumeist wirkt, als seien die Informationen aus Studien oder selbst geführten Interviews entnommen, stammen sie zumeist aus online verfügbaren Quellen. Das wird weiter unten anhand von Auszügen aus dem Spiegel oder dem Aurora-Magazin deutlich.

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men erkundet. Durch diese Einteilung entstehen insgesamt 39 Unterkapitel, hinzu kommt die bereits behandelte Vorbemerkung, also 40. Die Titel der einzelnen Kapitel und Unterkapitel liefern eine klare Strukturierung der Handlung. Insbesondere die analytischen Essay-Passagen sind sprechend betitelt bspw. als »Vom Mythos der deutschen Dörfer« (LF, 20). Die in den Überschriften definierten Themen werden in den jeweiligen Untertiteln thesenhaft zusammengefasst, wodurch die Deutung des folgenden Textes vorbestimmt ist, bspw.: »Deutschlands Provinz wird zur nationalen Gefahr« (LF, 20). An dem Beispiel ist zu erkennen, wie auf die umlaufenden Bilder von Landleben rekurriert wird: Durch »Provinz« werden zunächst beschaulich-statische Assoziationen aktiviert, »Gefahr« durchbricht dieses Bild und die Gleichsetzung widerspricht den gängigen Semantiken von Provinz. Sie wird zum Agens in einem neuen Narrativ, in dem sie nicht mehr in Gefahr steht, sondern selbst zur Gefahr für die gesamte Gesellschaft wird. Beim Lesen des Kapitels wird aber offenbar, dass die Gefahr hauptsächlich von städtischer Kultur und Verwaltung ausgeht, die an etablierten Erzählungen von der Provinz als ungleichzeitigem Ort ohne Potenziale festhalten. Brüggemanns Erzählung von der Rettung der Provinz gegen die Einflussnahmen der Stadt folgt letztlich einem kulturkritischen Narrativ, in welchem »seit der Antike in Kontrast zu einer sittenstrengen bäuerlichen Gesellschaft die großen Städte als Orte der Intrigen, des Luxus und der Verweichlichung erklärt«8 werden. Dieses Erzählmuster, in dem durch die semantisch aufgeladenen Überschriften Erwartungen geweckt und im Laufe des Kapitels korrigiert werden, wird dann immer wieder wiederholt – darin ist der bereits bekannte Wechsel von Täuschung und Erkenntnis angelegt. Ähnlich sind dann auch die immer mit »Vor Ort« (LF, 28) überschriebenen Reportage-Kapitel strukturiert, denn auch diese Berichte von Brüggemanns Deutschlandreise sind umfassend und vorausgreifend betitelt, bspw. als »Spaziergang durch die Dorfkulisse«, wobei die Ergebnisse der Beobachtungen im Untertitel vorweggenommen werden: »In Wollbach sieht alles nach heiler Welt aus – nur die Menschen sind weg.« (LF, 28) Das setzt zwei Perspektiven voraus, zum einen die urbane Außenperspektive der Mehrheit, die sich von der Kulisse täuschen lässt, und die des Ortskundigen, der die Täuschung durchschaut. Dass diese drei Teile als Elemente einer Geschichte vom Niedergang des Ländlichen und der schwindenden Integrationskraft tradierter Narrative über Land verfasst sind, ist auch am Ende des Textes zu erkennen, denn er endet mit dem Tod: Im letzten Kapitel wird von der Beerdigung eines Bauern in Westerbur an der Nordsee erzählt, die Entscheidung für diesen Ort und diese Beobachtung sei »willkürlich« gefallen, »[e]igentlich nur um zu sehen, wie heute auf dem Land gestorben wird.« (LF, 266) An der symbolischen Dopplung wird kein Zweifel gelassen, schon auf der Fahrt ins Dorf sieht Brüggemann, »wie auch hier alles auszusterben 8

Bollenbeck 2007, S. 8.

Brüggemann – Landfrust

scheint.« (LF, 267) Diese Beobachtung zum Sterben in ländlichen Gebieten wird zugleich als Beispiel dafür erzählt, wie ursprünglich gemeinschaftliche Praktiken und Lebensformen des Landlebens heute mangels Bevölkerung und Gemeinschaft eher in Städten denn auf dem Land praktiziert würden (vgl. LF, 259-265). Zugleich ist daran zu erkennen, wie den einzelnen Beobachtungen der Deutschlandreise ein kulturanalytisches Potenzial beigemessen wird. Wenn am Ende dieses Kapitels versichert wird, dass die Natur den Menschen überdauert (»De Bur ist tot – und der kalte Wind an der Nordsee weht weiter.« (LF, 269)), ist zu sehen, dass der ländliche Raum in Landfrust letztlich doch in traditionellen Narrativen erzählt. Die Bedeutung von Leben und Tod wird nivelliert und zugleich gilt, dass ›die Provinz‹ nicht besiegt werden kann, da sie im Kern kein schwindender Ort, sondern unberührte Natur ist. In den drei folgenden Unterkapiteln wird herausgearbeitet, wie diese abschließende Erkenntnis durch die als Roman, Essay und Reisebericht strukturierte Erkenntnis ländlicher Räume vorbereitet wird.

5.2.1 Roman: Über aller Wirklichkeit In den Roman-Kapiteln Über aller Wirklichkeit werden Geschichten aus einem dysfunktionalen Dorf erzählt. Seit Jahren wird hier Normalität gelebt, die im Laufe der Geschichte dann aber durch zwei zentrale Ereignisse, die bisher aus dem kollektiven Gedächtnis des Ortes verdrängt wurden, als Täuschung aufgedeckt wird: Zum einen die Denunziation der »Mühlen-Juden« (LF, 256) in der Zeit des Nationalsozialismus, zum anderen die Vergewaltigung der jungen Dorothea und ihr anschließender Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft. Von beiden erfahren die Lesenden zwar erst im Laufe des Romans, den Dorfbewohnern sind die Geschichten aber nicht neu. Damit wird das Bild vom Dorf als locus amoenus, Idealinsel innerhalb einer gefährlichen Welt, nicht nur infrage gestellt, sondern es wird verneint. Das Dorf ist keine Insel, sondern ebenso wie die umgebende Welt ein locus terribilis. Auch das ist ein Ende der Täuschungen über Landleben, diese Erzählung von Wahrheit hinter Dorffassaden ist schon im Titel Über aller Wirklichkeit angelegt. Dass mit dieser Feststellung mehr als nur ein Dorf gemeint ist, wird spätestens durch den Namen des Dorfes Überall ersichtlich. Zudem liegt Überall nahe dem Ort Nirgendwo, »einem etwas größeren Dorf als Überall, auf der anderen Seite der Autobahn.« (LF, 199) Und dann heißt es in einem Fernsehbeitrag, auf den die Handlung des Romans zentral zuläuft: »›Ein Dorf wie Überall gibt es nirgendwo. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein‹« (LF, 239). Das Dorf steht zwar für alle Dörfer, damit aber auch für einen vergehenden Raum bzw. eine vergehende Sozialform. Der Erzähler des Romans ist dicht am Ort und der Situation. Er kennt die Bewohner des Ortes (»Ganz besonders regt es die Überaller auf, dass er (Bauer Hans, Anm. H.S.) behauptet, sein Hof läge nicht am Ende der Hauptstraße, sondern an deren Anfang.« (LF, 16)) und beobachtet sie bei ihrem täglichen Geschäft (»Inge […],

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die gerade in die Küche kommt« (LF, 17)). Die Figuren haben lediglich Vornamen, ihre Geschichte ist bekannt, die Gefühle zu diesen Geschichten sind es auch. Jedoch wird schon nach vier Seiten das im Untertitel angegebene Vorhaben des Kapitels, »das uns das Dorf Überall und seine Bewohner vorstellt« (LF, 15), aufgegeben, denn »[e]s würde ausufern, alle einhundertvierundzwanzig Einwohner von Überall vorzustellen […]./Außerdem ereignet sich im Hirschen gerade eine nicht alltägliche Szene, die weitaus spannender ist.« (LF, 18) Damit wird der Roman zu einer Führung durch das Dorf, die Lesenden ›folgen‹ dem Erzähler in die Dorfkneipe. Hier ist das zentrale Ereignis zu beobachten: die Rückkehr Dorotheas, Tochter von Hans und Inge, die das Dorf bereits neun Jahre zuvor ohne Angabe von Ziel und Gründen verlassen hat. Später erfährt man, dass sie als Kind von anderen Dorfjugendlichen vergewaltigt wurde. Ohne den Lesenden die Gründe für die Rückkehr zu verraten, wird sie auf ihrem Rückweg nach Überall begleitet, der Raumübertritt schwankt zwischen Kindheitserinnerungen (vgl. LF, 37f.) und städtischer Überforderung (»die Absätze ihrer gelben Schuhe waren nicht für die ländlichen Pfade bestimmt.« (LF, 36)). Ebenso wie die Gedanken der Dorffiguren sind auch die Gedanken, Gefühle und Beobachtungen der Wiedergekehrten dem Erzähler bekannt. In der Familie angekommen, bleibt die Ablehnung bestehen, die Kommunikation ist von wechselseitigem Unverständnis geprägt. Mit »›Wirklich, mir geht es gut. Ich wohne in der Stadt‹« (LF, 61) wird die Stadt zur Begründung guten Lebens und die Differenz ausgebaut. Immer wieder wird indirekt auf die Vergewaltigung verwiesen, direkt angesprochen wird das Thema aber nicht. Das geschieht bspw. durch eine Frage des Pfarrers an einen der Vergewaltiger beim Besuch der Dorfkneipe, nachdem bekannt wird, dass das Opfer zurückgekehrt ist: »Nach einiger Zeit schaut Pfarrer Witte ihn eindringlich an: ›Hast du Angst?‹« (LF, 82) Erst im achten Kapitel (»Das Verbrechen« (LF, 157)) wird erklärt, welche Angst hier gemeint ist. So ist das Dorf von Beginn des Romans an ein Ort von Geheimnissen und Gewalt, die Gemeinschaft wird dadurch als dysfunktional gekennzeichnet. Der Eindruck setzt sich beim Gespräch der Männer in der Dorfkneipe fort, bei dem die Bewohner und das Sozialgefüge als enthemmt charakterisiert werden, wenn sie Dorothea wahlweise als »Schlampe«, »Tussi« (LF, 83) oder »Flittchen« (LF, 84) bezeichnen. Dadurch wird auch das Wirtshaus zu einem Ort, der sich nicht als Idylle eignet. Die Feststellung, dass die Erzählung vom Wirtshaus als Mittelpunkt einer funktionalen Dorfgemeinschaft eine Fiktion ist, wird auch durch das vorangestellte Zitat aus Das Wirthaus im Spessart von Wilhelm Hauff ironisch verdeutlicht: »Ich kenne diese Wirtschaft seit mehr als zehn Jahren und habe nie etwas Unrechtes darin verspürt.« (LF, 81) Indem das Zitat der folgenden Geschichte, in der das Wirtshaus Kulminationspunkt der dysfunktionalen Seiten des Dorflebens wird, diametral entgegensteht, werden Erzähltraditionen über ländliche Räume als gefährlich gedeutet, denn schon die Erwartung idyllischer Dorfbilder verhindert, dass man »etwas Unrechtes

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darin verspürt.« Diese Feststellung über Erkenntnis ländlicher Räume ist eine der epistemischen und zugleich narrativen Zentralstellen des Textes. Den Romankapiteln sind häufig Zitate aus Literatur und Popkultur (Georg Büchners Lenz (vgl. LF, 36, 99) oder Lars von Triers Dogville (vgl. LF, 15)) vorangestellt. An dem Beispiel Lenz ist zu sehen, wie damit Wahrnehmung und Bedeutung der Kapitel vorbestimmt werden, wenn es heißt: »Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich ins All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe tat.« (LF, 36)9 Lenz saugt das bedrohliche Wetter in sich auf, ganz Naturemphase, verliert aber gegen die Natur, da er sie nicht fassen kann, sondern seinen Körper verliert und selbst Natur wird.10 Durch das vorangestellte Zitat wird bereits vor dem Beginn des Kapitels Naturerfahrung als Empfindung von Ganzheit, Selbstauflösung, Lust und Schmerz konzeptualisiert, im Kapitel wird diese Vorlage schließlich auch erfüllt: So wird auch Dorotheas »Körper von einer kühlen, nach Moos riechenden Luft umgeben.« (LF, 38). Doch die Auflösung erfolgt hier nicht in Natur, sondern in Erinnerung an eine Kindheit auf dem Land, der sie sich gedanklich annähert. Mit zunehmender Kenntnis ihrer Kindheitsgeschichte wird die ländliche Umgebung zur Bedrohung, die Auflösung in dieser Natur bzw. Heimat sogar lebensbedrohlich. Das zweite Zitat aus Lenz ruft ein Bild kirchlicher Erziehung auf: Ein Priester züchtigt einen Jungen, gibt ihm danach einen Kuss und versichert, »alle möglichen Schläge würden keine einzige seiner Sünden tilgen.« (LF, 99) Diese Geschichte von institutionalisierter Gewalt wird fortgesetzt, wenn im darauffolgenden Gespräch zwischen Dorothea und Pastor deutlich wird, dass letzterer geraten hatte, nicht über die Vergewaltigung zu sprechen, um »das Dorf nicht zum Sodom zu machen« (LF, 101). Die Bilder vom guten Leben auf dem Land sind so wirksam, dass sie die Erlösung Einzelner verhindern. Dem Pfarrer erscheint Dorothea nun »wie die Sünde – geschaffen, um Sünder zu schaffen.« (LF, 101) Nicht das Dorf bzw. die Gemeinschaft ist damit schuld am Geschehen, sondern die einzelne Person. Dorothea findet im Gespräch mit dem Pastor entsprechend keine Erlösung, sondern ergibt sich in die ihr von Dorf und Pastor zugeschriebene Rolle und bietet Letzterem sogar an, mit ihr zu schlafen, worauf dieser auch eingeht (vgl. LF, 102, 256f.). Ganz auf göttliches Wirken bezogen, stellt er fest, es sei »›nicht an uns, den Sündern ihre 9

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Die Bedeutung von Lenz wird durch die erneute Nennung dieses Zitats in einem »Vor Ort«Kapitel betont. Brüggemann habe sich »entschlossen, Lenz’ Wanderung nachzugehen, um zu sehen, wie man sich heute als zivilisierter Mensch in den Wäldern bewegen kann, was übrig geblieben ist vom alten Waldleben in unserer postmodernen Zeit«; LF, 51. Das ist letztlich auch eine Erneuerung der Walden-Erzählung, die bei Sezgin als intertextueller Bezug herangezogen wird. Diese Deutung verdanke ich Grill, Oliver: Die Wetterseiten der Literatur. Poetologische Konstellationen und meteorologische Kontexte im 19. Jahrhundert, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2019 (Münchener Studien zur Literaturwissenschaft), S. 91.

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Sünden zu vergeben, nicht zu sühnen.‹« (LF, 100) Hier wird die Gemeinschaft zum Zwang und die Kirche als zweite dörfliche Institution dekonstruiert. Das sechste Kapitel des Romans, Teil des Abschnitts »Die Moral« (LF, 118), beginnt mit der vor fast leerem Haus stattfindenden Fronleichnams-Predigt des Pastors, sowie der Feststellung, dass auch auf dem Land christliche Traditionen nicht mehr gepflegt werden. Die entscheidende Erkenntnis ist hier, dass der von außen auf Dorfgemeinschaften gerichtete Blick Täuschungen unterliegt, denn die Wiederkehr Dorotheas wird wie in der Dorfkneipe auch im Gottesdienst ausgeschwiegen: »Beträte ein Fremder in diesem Moment den Hirschen, könnte er meinen, in die Dorfidylle eines Heimatfilms geraten zu sein.« (LF, 119) Mediale Idyllen werden damit generell als Fiktion gekennzeichnet. Doch der Pfarrer betont wiederholt die Bedeutung der dörflichen Traditionen und die Wahrheit der Stadt-Land-Dyade: »Die Tugenden der Zurückgezogenheit, der liebenswerten Weltfremdheit, der Gemeinschaft, der Einfachheit, all das würde den dauernden Verlockungen der großen Städte geopfert werden« (LF, 220). Doch die Verlockungen sind mit Dorothea in das Dorf zurückgekehrt und der Pastor beichtet der Gemeinde, dass auch er mit Dorothea geschlafen hat. Danach dankt er dem Dorf und gesteht, dass er in der Erfahrung der Sünde Gott begegnet sei, ausgerechnet in diesem Dorf, legt Talar und damit Amt nieder und verlässt die Kirche (vgl. LF, 258). Sünde oder Sündenfreiheit können damit nicht mehr als Eigenschaft von Räumen begriffen werden. Noch expliziter wird der Verfall im Kapitel »Sex« erzählt. Ulrich überredet die wiedergekehrte Dorothea zu Sex gegen Bezahlung, ihre Beschäftigung als Sexarbeiterin wird angedeutet (vgl. LF, 137f.). Erst in Dorotheas Gespräch mit Stefan wird indirekt von der Vergewaltigung durch mehrere Männer des Dorfes vor neun Jahren erzählt. Wie am Ende der Kneipenszene werden auch hier problematische Gespräche nicht geführt, sondern mit einem Lächeln und dem Versichern von Freundschaft abgebrochen. Dieses Verhalten wird im Text als Angewohnheit aus der Kindheit benannt, hier steht sie für eine besondere Form des Miteinanders auf dem Dorf (vgl. LF, 138f.). Gleichzeitig wird auf diese Weise verdeutlicht, dass solche Konventionen sozialer Enge zum Niedergang des Landlebens führten. Im vorgelagerten Zitat aus Michael Hanekes Film Das weiße Band (2009) wird von den Auswirkungen der Prüderie in der deutschen Provinz des frühen 20. Jahrhunderts erzählt. Da spricht der Pfarrer mit dem Sohn über die Sünde der Onanie, sodann konnte der Junge »nicht mehr damit aufhören, zerrüttete so schließlich alle seine Nerven, dass er daran zu Grunde ging.« (LF, 137). Indem Sex so zur von der Gemeinschaft ausgeschlossenen Praxis wird, wird auch das fehlende Verständnis erklärt, was Dorothea als Vergewal-

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tigungsopfer entgegenkommt. Die mottogebenden Zitate steuern also nicht nur die Wahrnehmung, sie sortieren den Text zugleich in eine Tradition.11 Das zweite zentrale Ereignis besteht darin, dass Dorotheas Bruder Tim sich bei der Sendung »›Landwirt sucht Dame‹« (LF, 17) bewirbt – schon die Variation des Titels von Bauer sucht Frau macht die Geschichte zur Medienkritik. Tim ist Landwirt und erfüllt durch eine leichte Behinderung die Rolle des ›Dorfdeppen‹. Die Dorfbewohner sind zunächst begeistert, dass das Fernsehen in den Ort kommt, und das Dorf wird von allen Bewohnern als medientaugliche Provinz hergerichtet (vgl. LF, 178f.). Von einigen Dorfbewohnern wird jedoch auch befürchtet, dass durch die mediale Aufmerksamkeit die Geheimnisse des Dorfes offenbart werden könnten, beispielhaft dafür stehen Ulrich und Frank. Ulrich echauffiert sich gegenüber Tim und ist außer sich: ›Das geht die überhaupt nichts an. Die haben hier nichts zu suchen. Sag mal, bist du so beknackt? Kapierst du nicht, dass die hier jeden Stein umdrehen werden? Dass hier nichts mehr sein wird, wie es ist, wenn die vom Fernsehen erst da sind?‹ (LF, 120) Hier wird das Fremde als Bedrohung der eigenen Geschichte und der dahinter verborgenen Geheimnisse geschrieben, die eigentliche Bedrohung liegt jedoch im Eigenen, den Geschichten des Dorfes. Die in Gefahr stehende Idylle war nie echt, daher wird sie durch die mediale Berichterstattung bedroht. Auf dem Dorffest eskaliert der hier angedeutete Streit um die Veröffentlichung von Dokumenten über die SS-Vergangenheit von Franks Großvater, der eine jüdische Familie verraten hatte, um nicht in den Krieg zu müssen: Hans will die Geschichte in seiner Dorfchronik verarbeiten und dem Fernseh-Team vorstellen, Frank will das verhindern, bedroht Tims Mutter Inge, woraufhin Hans droht, Frank zu erschießen. Bei der Schilderung der Dreharbeiten im 11. Kapitel (»Der Dorfheld« (LF, 217)) wird aber schnell deutlich, dass weder die von den Dorfbewohnern geplante idyllische Erzählung über den eigenen Ort noch Hans’ Dorfgeschichte durchgesetzt werden kann. Im zwölften Kapitel erfahren die Überaller, dass Dorotheas Geschichte zum eigentlichen Inhalt des Beitrags gemacht wurde, dass sie als Sexarbeiterin tätig und mit AIDS infiziert ist. Sie denunziert das ganze Dorf, indem sie darstellt, wie ihr Bruder gedemütigt wurde (vgl. LF, 240f.). So wird der Sexualverkehr mit ihren 11

Ein weiteres Beispiel ist das dritte Romankapitel »Am Überaller Familientisch«. Dieses führt in die Familiengeschichte Dorotheas ein, der Paratext (Andrea Maria Schenkels Tannöd) erzählt dabei den Teil der Geschichte, der nicht erzählt werden kann: die Vergewaltigung eines Mädchens durch den Vater (vgl. LF, 58). In Tannöd wird Provinz als Kriminalgeschichte erzählt: Ein Tyrann beherrscht den in Einöde gelegenen Hof, zieht dabei mehrere Akteure in das Beziehungs- und Machtgeflecht. Der Witwer Georg tötet alle Beteiligten und führt den Hof einige Tage weiter, um das Funktionieren im Dorf nicht in Frage stehen zu lassen. Auch diese Provinz ist ein Schreckensort von versteckten Geschichten.

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ehemaligen Vergewaltigern und dem Pastor zur potenziellen Ansteckung mit AIDS und damit zur Rache. Nicht zuletzt dadurch ist der Roman eine Geschichte über Wahrheit, Gemeinschaft und Moral auf dem Land. Daher ist die Macht der Erzählungen im Umgang mit ländlichen Räumen als ein wichtiges Thema des Buches zu sehen. Für eine tiefergehende Deutung muss der Roman aber im Wechselspiel mit den Essay-Passagen »Zur Lage« und den Reportage-Passagen »Vor Ort« betrachtet werden, welche in den beiden folgenden Unterkapiteln betrachtet werden.

5.2.2 Zur Lage In den »Zur Lage«-Kapiteln wird aus unterschiedlichen Wissensbeständen ein Essay über Land zusammengesetzt, in dem untersucht wird, welche Auffassungen von Ländlichkeiten heute vorherrschen und in welchem Verhältnis diese zur ›realen‹ Ländlichkeit stehen. Da heißt es über die urbanen Vorstellungen idyllischer Ländlichkeit, sie seien »kulturell angelernt« (LF, 20), und im Dorf repräsentiere sich die »psychologische Keimzelle unserer Gesellschaft« (LF, 21). Genau wie beim Roman laufen auch diese analytischen Passagen auf die These zu, dass die traditionellen Erzählweisen über Land falsche Bilder produzieren und so Formen realer Ländlichkeit bedrohen. Ähnlich wie Reichert sieht auch Brüggemann »[h]eile Dorfwelten« (LF, 22) nur noch im Fernsehen, wo das Dorf, zum Symbol verkommen, wirke wie eine »Trutzburg gegen die unaufhaltsame Globalisierung oder wie die Renaissance eines urromantischen deutschen Traumes.« (LF, 23) In den »Zur Lage«-Kapiteln werden traditionelle Bilder vom Landleben durch die Darstellung eines Ist-Zustands widerlegt, denn »mit der modernen Wirklichkeit auf dem Land hat all das nichts zu tun.« (LF, 21) Für die Darstellung dieser Wirklichkeit wird z.B. vom Verlust von Ärzten, Lehrern und Pastoren erzählt (LF, 23f.). Das dafür notwendige Wissen wird aus eigenen Beobachtungen sowie Verweisen auf Studien der Bildungs- und Sozialwissenschaften zusammengesetzt.12 Diese Studien übernehmen bei Brüggemann die Wissensvermittlungs- und Autorisierungsfunktion, die bei Moor, Sezgin und Hochreither die ländlichen Wissensträger inne haben. In den Essay-Kapiteln wird die Provinz selbst zur belebten Entität, die »stets das Herz der Nation« (LF, 26) war, und bei deren Tod »die ganze Bundesrepublik aus dem Gleichgewicht« (LF, 27) gerate. Dieses Bild von belebter vs. sterbender Provinz wird beibehalten, wenn es heißt, »die Provinz ist längst nicht mehr intakt, weil sie

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Auch hier zeigt sich das zeitökonomische Entstehen solcher Bücher, denn die Informationen und Zitate dieser Passage entstammen größtenteils einem Artikel aus dem Spiegel, diesem sind auch die Verweise auf einen Artikel der Süddeutschen Zeitung entnommen; vgl. Bölsche, Jochen: Deutsche Provinz. Verlassenes Land, verlorenes Land, in: Der Spiegel, 14.3.2006, URL: https://www.spiegel.de/jahreschronik/a-451996-2.html [Zugriff am 26.11.2019].

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sich zunehmend an den Metropolen orientiert und keine neuen, eigenen Kräfte entwickeln kann.« (LF, 205) Wenn Brüggemann diesen ›Patienten‹ dann erforscht, wird zum einen das für die Diagnose notwendige Wissen geliefert und zum anderen die Notwendigkeit einer neuen Art, Land zu erzählen, begründet. Nach Aussage des Autors lässt sich das Landleben »nur noch als Gruselroman beschreiben – nur leider nicht so spannend.« (LF, 27) Im Gegensatz zu dieser Feststellung wird aber die bereits beschriebene Niedergangs-, Entdeckungs- und Rettungsgeschichte etabliert. Mit diesem veränderten Narrativ wird auch die Raumkonfiguration geändert, da hier nicht mehr nur individuelle Erfahrung als Zugangsweise zum Landleben ausreicht, sondern gerade durch die Figuration des ländlichen Raums als ›Patient‹ Expertenwissen notwendig wird, um den nicht mehr nur fremden, sondern vergehenden ländlichen Raum freizulegen. Dieses poetologische Moment, die Abfolge der Darstellung von Wissen und die Reflexion über Raumordnung und Erzählen, wird in den »Zur Lage«-Kapiteln stetig wiederholt. Noch einmal ist das Muster bspw. anhand der Zitate von Sigmar Groeneveld zu erkennen, nach dem »Deutschland längst nicht mehr in seinen natürlichen Landflächen begriffen wird, […] sondern in sogenannten ›Entwicklungsregionen‹.« (LF, 43) Deren Unterschiede werden daran erzählt, wie Tourismus, Agrarindustrie und Eventkultur ländliche Räume verändern, und Brüggemann verwundert es nach diesem Wissenszuwachs letztlich »kaum, dass gerade auf dem Land inzwischen das traditionelle Bewusstsein für ein ökologisch nachhaltiges Wirtschaften fehlt.« (LF, 48).13 Entsprechend schlussfolgert er dann auch, »[d]as Zurückdrängen von Flora und Fauna wird unweigerlich zu einem gesellschaftlichen Problem und verändert das soziale Gefälle in Deutschland, das nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Stadt und Land verläuft.« (LF, 49) An dieser Stelle ist das Bild von Land und vom gesellschaftlichen Gesamtzustand der Bundesrepublik nicht mehr nur aus eigenen Beobachtungen erwachsen, sondern wird auch aus Expertenwissen gespeist. Gerade durch dieses Faktenwissen und die anhängigen Wahrheitsbehauptungen wird in den »Zur Lage«-Kapiteln die im Roman etablierte Geschichte vom kulturellen Niedergang ländlicher Räume fortgeschrieben. Die enge Verbindung der drei Teile des Buches ist gut zu sehen, wenn Brüggemann über das Format Bauer sucht Frau schreibt, dass hierbei »RTL über das neue Prekariat im Kuhstall lacht« (LF, 63), da in diesen Formaten die Bauern als »Trottel« (LF, 63) präsentiert werden, was im Roman bereits mittels Figur Tim vorgeführt wurde. Und weiter stellt er fest, dass die vom NDR produzierten idyllischen Formate sogar noch realitätsferner seien, denn sie »befriedigt[en] […] ein Publikum, das sich nach 30 Minuten heiler Welt sehnt.«

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Die Zitate entsprechen weitestgehend Auszügen aus dem online veröffentlichten Aurora Magazin, vgl. Groeneveld, Sigmar: Vom Verschwinden des Landes, in: Aurora. Magazin für Kultur, Wissen und Gesellschaft, 1.7.2005, URL: http://www.aurora-magazin.at/gesellschaft/land_g roeneveld_frm.htm [Zugriff am 29.11.2019].

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(LF, 64) Da »werden die trostlosen Provinzen also mit virtuell genormten Bildern überschwemmt, die in den Metropolen entworfen werden, um den Dörfern zu verleihen, was sie längst verloren haben.« (LF, 246) Mediale Überformung des verlorenen Residualprodukts Land wird also ebenso problematisiert wie der Strukturwandel, sodass der Landlust-Diskurs selbst zum Gefährder seines Objekts wird. Auch die in dieser Studie untersuchte ›Landlust‹-Literatur wird als Inszenierung abgegrenzt, denn zu viele Städter schrieben »Bücher über die heile Welt auf dem Land: Ironische Reflexionen über die eigene Kindheit in der Provinz, Aussteigerbücher oder Erfahrungsberichte von professionellen Medienmachern, die sich als leidenschaftliche Freizeitbauern verwirklichen.« (LF, 27) Die Bezugnahme auf Autoren wie Moor oder Reichert ist nicht zu überlesen. Brüggemanns Buch wird aber trotz dieser Abgrenzung mit ihnen gemeinsam untersucht, beide verbindet das Erzählen von Wissen und Wahrheit über Land sowie die streng aufgeteilte Raumordnung, denn auch für Brüggemann verläuft die »Demarkationslinie« der Gesellschaft, »zwischen Stadt und Land«, und wie Reichert findet auch Brüggemann in der Stadt hauptsächlich »Metropolen-Yuppies« (LF, 27), die letztlich von den Anforderungen des Landlebens keine Ahnung haben. Brüggemann wisse hingegen am Ende seiner Erkundungen etwas über Landleben und kann daher aus diesem Überlegungen Rat geben: Dabei ist das Landleben in Deutschland nur zu retten, wenn die Städte, Gemeinden und Kommunen ihre Gestaltungsspielräume zurückbekommen. Sie wissen am besten, was ihre Region braucht, um eine Überlebenschance zu wahren. In der Regel sind das mehr Schulen, eine größere Förderung des sozialen Lebens und eine Stärkung der Gemeinschaft durch Kultur. (LF, 188) Aus dem bis dahin formulierten Wissen von kranken und gesunden Räumen werden dann also Regeln für ›gute ländliche Räume‹ entwickelt. In den nachfolgend untersuchten Reportage-Passagen wird das dafür benötigte Wissen um Erfahrungen und Beobachtungen erweitert.

5.2.3 Vor Ort In den »Vor Ort«-Passagen sind Erfahrungen des Autors versammelt, die er während seines Lebens auf dem Land sowie einer Deutschlandrundfahrt gemacht hat. Brüggemann sucht bei diesen Beobachtungen in den verschiedenen Orten »typische Dorfstrukturen oder eine traditionell ländliche Architektur« (LF, 29), muss dann aber feststellen, dass »es gar nicht leicht ist, […] heile Dörfer zu finden.« (LF, 29) Mit dieser Suche nach der ›heilen‹ Welt bzw. ›heilen‹ Dorfstrukturen schreibt er die seit der Romantik bestehende Erzähltradition vom Verlust der gesunden Natur fort, die

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letztlich eine Form »regressive[r] Utopien«14 darstellt. Brüggemanns Methode und Blick sind die des »Gegenwartsarchäologe[n]« (LF, 28) auf der Suche nach intakten Dorfstrukturen, welche durch diese Figuration zu Relikten und Artefakten werden. Im Modus der teilnehmenden Beobachtung folgt er dem Dorfleben und die Lesenden schauen ihm gewissermaßen über die Schulter. Dafür wird der eigene Blick häufig direkt beschrieben: »Wenn man allein die Kulisse eines Dorfes betrachtet, kann man bereits viel über seine Einwohner erfahren« (LF, 28) und »Es ist Sonntag. Mülsen schläft noch. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Nur bei Martin Seifert brennt schon Licht. Er ist Mitte vierzig, die wenigen Haare sind kurz geschoren, der Bart wird vermutlich alle drei Tage rasiert.« (LF, 110) Beschrieben werden mehrere Stopps in unterschiedlichen Orten, hier wird dann aus Beobachtungen Brüggemanns und Gesprächen mit einzelnen Dorfbewohnern Regionalwissen gesammelt. Die Auswahl der erzählten Orte reicht von Zentren von Rechtsradikalismus über Touristenhochburgen bis zu Orten mit literarischer Tradition. Diese Suche nach »heile[n] Dörfer[n]« wird dabei von Beginn an symbolisch aufgeladen, ähnlich wie schon bei Moor erfolgt die Wahl der Ausfahrt von der Autobahn »willkürlich« (LF, 29). Damit wird die Reise zur Fahrt ins Ungewisse und der Methode wird ein zufälliges Element zur Stärkung der Objektivitätsbehauptung eingeschrieben. So wird der Gang aufs Land zur wissenschaftlichen Methode, zugleich wird die deutsche Provinz zum Ort der nahen Fremde umgedeutet. Als erstes hält Brüggemann an einem Unfallkreuz am Straßenrand und damit an einem der Symbole, die den ländlichen Raum in den anderen Texten zum Ort des Schreckens gemacht haben. Durch Beobachtungen von Ladenöffnungszeiten, Speisekarten, Schwarzem Brett, Friedhof und Kirche wird ein erster Rundumblick über das jeweilige Dorf gegeben und gleichzeitig wird vorgeführt, wie man das macht, aufs Land fahren. Auffällig ist, dass alle Beobachtungen am Maßstab gesellschaftlichen Lebens abgelesen werden: wo findet sichtbares Leben statt? Wo sind die Menschen? Ist Wollbach nur noch Schlaf- und Pendlerdorf? (vgl. LF, 31-35) Nach diesen Beobachtungen hofft Brüggemann, dass Wollbach »den Kampf der Tradition gegen die Moderne« (LF, 35) nicht verliert, und schreibt so konservative Narrative über Land fort. An diesen Stellen wird das analytische Programm zugunsten eines Schreibens als Intervention aufgegeben. Gerade diese symbolische Aufladung einzelner Beobachtungen ist typisch für kulturkritische Narrativbildungen, denn »Kulturkritiker berufen sich auf ihre Erfahrung und sprechen einzelnen Phänomenen eine Art ›symbolische Prägnanz‹ […] für Verlustgeschichten zu«.15 Wie schon in den »Zur Lage«-Kapiteln schlägt Brüggemann »die Kultivierung der Provinz« (LF, 53) als Mittel gegen Landflucht vor, dadurch wird das Land im14 15

Hönig, Christoph: Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt. Der Topos. Texte und Interpretationen, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 82. Bollenbeck 2007, S. 8.

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plizit zum unkultivierten Ort, der modernisiert werden muss. Bei Brüggemann ist zwar eine Wiederbelebung eines noch in eigenen Erinnerungen bestehenden intakten Raumes gemeint, die Erzählung erinnert aber an koloniale Narrative der Besiedlung und Urbarmachung kulturell ›leerer‹ oder ›wilder‹ Räume. Bei einer Fahrt ins Elsass bleibt Brüggemann mit dem Auto stecken und stellt fest, er »hätte nicht gedacht, dass es mitten in Europa noch Orte gibt, an denen uns die Natur mit einer merkwürdigen Furcht erfüllt.« (LF, 50) Diese Empfindung wird dann auf die Lektüre von Lenz und die darin geschilderte Naturerfahrung zurückgeführt (vgl. LF, 50). Zur Wahrheit werden die subjektiven Beobachtungen dann durch die Gegenüberstellung von Lektüre und Realität (»Ich erinnere mich, wie Büchner beschrieben hat, dass Lenz nach langer Wanderung endlich das Dorf erreicht […]./Mit diesem ländlichen Menschenidyll hat mein Hotel allerdings wenig zu tun.« (LF, 53)) Die wichtigen Erkenntnisse über Probleme ländlicher Räume werden also durch einen Abgleich von Lektüre und Realität erworben. Doch bei aller Konstruktion scheint es eine traditionelle Essenz von Raum zu geben, die erst durch Entfernen des ›kulturellen Ballasts‹ zugänglich wird. Die implizite Behauptung ist, dass erst durch die vorgestellte Formtrias die Dekonstruktion falscher Raumbilder mithilfe von literarischem, Fakten- und Erfahrungswissen geleistet werden kann, was durch den ständigen Wechsel von Roman, Essay und Reisebericht eingelöst wird. Nur so könne die Realitätsferne vermieden werden, welche der Autor den gegenwärtigen kulturellen Imaginationen über Land zuschreibt. Die Analyse von Landfrust wird mit der Beantwortung der Frage beschlossen, wie aus diesem Vorgehen eine Raumkonstruktion zwischen Normalität und Fremdheit entsteht und welche Auswirkungen diese auf das Entstehen des ländlichen Raums als Wissensobjekt hat.

5.3 Normalität und Fremdheit Brüggemann hat bereits im Jahr 2009 einen Zeitungsartikel über sein Leben auf dem Land veröffentlicht, auf den er auch im Buch verweist (vgl. LF, 92) und in dem gerade Normalität als Kern des Lebens in der ländlichen Kleinstadt beschrieben wird: Wer sein ganzes Leben in Arbergen verbracht hat, ist daran gewöhnt, dass es wenig Politik, wenig Kultur und wenige Menschen gibt, die unsere Blicke ablenken. Also wird eben über herumliegende Handtücher geredet – oder über die Aufstehzeiten. Statt ›Wii‹ im Wohnzimmer spielen wir Badminton im Garten, der Fitnessclub heißt hier noch Turnverein. Das Normale ist für mich eine neue, spannende Welt. Man punktet nicht, weil man auf der Vernissage in Mitte war, sondern weil man

Brüggemann – Landfrust

authentisch ist. Denn darauf kommt es an: Wer ist, wie er ist, gehört dazu. Wer tut, als wäre er etwas anderes, ist draußen.16 Dieses »Das Normale ist für mich eine neue, spannende Welt« könnte dann auch als Beschreibung der gesamten Entdeckungsbemühungen in Landfrust gelten, da gerade die Normalität des Ländlichen als das eigentlich überraschende Potenzial ländlicher Räume erzählt wird. Diese Einschätzung über das narrative Potenzial der Normalität hat schon Umberto Eco getroffen, der festgestellt hat, »dass die Normalität narrativ überraschend ist«.17 Eco verbindet mit diesem Satz eine Emphase des Erzählens von Alltag, die genutzt wird, um überkomplexe Phänomene verstehbar zu machen. Ähnlich ist das auch hier angelegt: Gesellschaftliche Normalität ist nicht in der Stadt zu finden, sondern auf dem Land, sie muss aber erst hinter gesellschaftlichen Täuschungen über diesen Raum freigelegt werden. Mit dieser Normalitätsbehauptung geht die Vorstellung eines bundesrepublikanischen Normalzustands einher, der erst in echter, unverstellter Ländlichkeit zur Erfüllung kommt und dessen Erkenntnis gesellschaftlichen Entfremdungsbewegungen entgegensteuern könnte. Zudem ist in diesem Normalitätsbegriff auch eine Zugangsbedingung zum Leben in ländlichen Räumen formuliert, wenn Brüggemann feststellt: »Wer ist, wie er ist, gehört dazu.« Das erinnert an die bei Moor etablierte Raumkonfiguration, bei dem gutes Leben auf dem Land definiert ist als »Nichts-darstellen-Müssen, keinen Erwartungen entsprechen müssen, einfach nur da sein dürfen.« (WB, 291) In beiden Fällen wird Normalität zu Authentizität. Normalität hat aber auch eine normative Dimension. Wenn Brüggemann in Landfrust beobachtet, man trage »in einem Dorf die Gleichheit zur Schau« (LF, 96), dann wird Normalität zur Ausgrenzungsbewegung und als Problem ländlicher Räume dargestellt. In dem Kapitel »Zur Lage: Von allen guten Geistern verlassen« (LF, 122) wird das unter Rückgriff auf eine Poetik des Dorfromans expliziert, in diesem dringt »[e]twas Fremdes […] von außen in den kleinen Kosmos ein und stellt das ländliche Idyll auf den Kopf. Unterdrückte Bedürfnisse, Ängste und Sehnsüchte führen zu absurden Taten.« (LF, 122) Das Motiv ist auch in dem in Landfrust enthaltenen Roman zu finden, wobei hier mehr die dörfliche Normalität als das Fremde Gegenstand kritischer Betrachtung ist, denn Gewalt auf dem Land und das Bemühen, diese und ihre Täter zu decken, resultiere zumeist aus einer Normativität des Normalen: »Ein Ursprung ländlicher Gewalt ist das Prinzip des Wegschauens. Dorfgemeinschaften entwickeln oft ihre eigenen Regeln und Schuld und Sühne.« (LF, 166) Spätestens mit dem Versprechen auf einen »Einblick in die dunkle Seele der vermeintlich heilen Provinz« (LF, 168) wird die positive Normalitätsbehauptung des oben zitierten Zeitungsausschnitts aufgegeben und durch den 16

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Brüggemann, Axel: Na, auch schon wach? Von Berlin in die Provinz, 8.9.2009, URL: https://w ww.faz.net/aktuell/gesellschaft/von-berlin-in-die-provinz-na-auch-schon-wach-1856013.ht ml [Zugriff am 4.12.2019]; Hervorh. H.S. Eco, Umberto: Kant und das Schnabeltier, München: Carl Hanser 2000, S. 14.

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Topos von der dörflichen Enge ersetzt, Landleben wird wieder zur auszustellenden Fremde. An diesen abschließenden Beobachtungen zur Normalitätsbehauptung wird deutlich, wie die Darstellung ländlicher Räume in Landfrust zwischen den Behauptungen von Normalität und Fremde schwankt und dass gerade dieses unbeschadete Nebeneinander scheinbar widersprüchlicher Bilder als zentrales Element von Brüggemanns Poetik des Wissens über Land zu verstehen ist, denn mit ›Wahrheit über Land‹ ist in diesem Text weniger eine klare Erkenntnis als vielmehr eine auf mehreren Ebenen vollzogene Annäherung an Raumstrukturen und Lebensweisen gemeint, welche hinter den vereinfachenden ›Wahrheiten‹ aktueller und historischer Erzählungen über ländliche Räume zu entdecken ist. Deutlicher als in allen bisher untersuchten Texten ist darin formuliert, dass es für jedes Wissen über ländliche Räume eine angemessene Erzählform gebe. Die also nur scheinbar widersprüchliche Konstellation korrespondiert mit der relativ komplexen Form des Textes, in der jede narrative Form einen eigenständigen Beitrag zu einer annähernden Darstellung von Land leistet. In dieser Behauptung einer ›methodischen‹ Offenheit des eigenen Schreibens wird Landfrust zum Forschungsbericht (vgl. LF, 12f.). Im Hinblick auf die entstehenden Räume ist an diesem Zusammenhang zu erkennen, wie das Bild eines (narrativ) überformten und daran langsam sterbenden Raums sowie eine Epistemologie, die mehr an einer »Melange aus Gefühlen, Gedanken und Beobachtungen« (LF, 12) als an Wahrheiten orientiert ist, zur Notwendigkeit einer narrativ produzierten Vielfalt ländlicher Räume und damit einer Vielfalt der Erzählformen führt. Ein Effekt des so erworbenen Wissens ist dann die Möglichkeit, gesunde Räume zu finden, denn solche Räume entstehen erst dann, wenn ein Umgang mit prekären Räumen gefunden wurde, welcher von allen (narrativen) Überformungen der urbanen Moderne befreit wurde. Ähnlich wie bei Reicherts Schreiben geht es auch hier nicht mehr um Räume und Wissen, sondern um Raum- und Wissensordnungen. Und ebenfalls wie bei Reichert ist die so eingenommene Metaperspektive primär der letzte Beweis der Authentizität der erzählten Ländlichkeit. Bei allen Abgrenzungen zu den bisher untersuchten Texten geht es also auch hier darum, am echten, singulären Ort eine verlorene Einheit von Mensch und Natur zu ermöglichen – ermöglicht durch ›echtes‹ Wissen. Nachdem die formale Engführung der Erfahrungsberichte der Sach- und Unterhaltungsliteratur mit Brüggemanns Roman bereits aufgelöst wurde, wird in der letzten Einzeltextanalyse dieser Untersuchungsgruppe mit dem Roman Winterapfelgarten eine literarische Form in den Blick genommen, die von allen bisher untersuchten Texten klar zu unterscheiden ist, in der aber auch die Geschichte eines Umzugs erzählt wird, der ohne die Erkenntnis ›echter‹ Ländlichkeit nicht möglich wäre.

6. Brigitte Jansons Winterapfelgarten

Brigitte Jansons1 Roman Winterapfelgarten zählt zu den später veröffentlichten der hier untersuchten Reihe. Auf den Verlagsseiten wird der Text als Unterhaltungs-, Liebes- oder Frauenliteratur geführt, in der vorliegenden Auswahl steht er stellvertretend für eine Reihe von Texten, in denen ruralen Räume Orte von Glück und romantischer Liebe sind. Andere Romane dieser Art sind Anneke Mohns Kirschsommer (2013) und Apfelrosenzeit (2014) sowie Gabriela Engelmanns Apfelblütenzauber (2015). Noch mehr als alle bisher untersuchten Texte zählt Winterapfelgarten in die Unterhaltungsliteratur oder – die Kategorisierung ist fast nicht zu vermeiden – zum Kitsch. Auffällig ist jedoch, dass sowohl in diesem als auch in den anderen drei genannten Texten von einem Gang aufs Land erzählt wird, aus dem eine individuelle Entwicklung resultiert. Obwohl die Form also von den anderen Texten zu unterscheiden ist, zählt auch Winterapfelgarten durch die Gestaltung der Umzugs- als Erfolgsgeschichte in die erste Untersuchungsgruppe und wird daraufhin befragt, welche Bedeutung Wissen über Ländlichkeit für die Entwicklungsgeschichte hat. Ähnlich wie in den zuvor untersuchten Büchern wird auch hier im Verlagstext auf der Rückseite der Gang aufs Land zur Abenteuergeschichte, wenn gefragt wird: »Raus aus dem alten Leben und mit einem Kopfsprung hinein in ein neues. Ist das mutig? Oder verrückt?« Dass nur »mutig« und »verrückt« als Deutungen in Frage kommen, macht den Text von vornherein zur Reise ins Unbekannte und Abenteuererzählung. In der so etablierten Deutung weicht der im Roman erzählte Lebensweg von einer gesellschaftlichen Norm ab, was an das Schema der autobiographischen Denormalisierungserzählung erinnert und die Deutung des Ortes als terra incognita, also auch als Wissensobjekt, vorbereitet. Zugleich wird der Umzug mit dem Chronotopos Lebensweg verbunden, den Bachtin genauer als »Lebensweg eines nach der wahren Erkenntnis suchenden Menschen«2 bestimmt hat. Im Verlagstext heißt es weiter: »Brigitte Janson nimmt ihre Leser mit auf eine Reise in ein neues Leben und schreibt dabei mit so viel Witz und Charme, dass man ihr überall hin folgen möchte – am liebsten natürlich auf den Apfelhof im Alten Land.« Damit wird auch hier

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Ein Pseudonym der Autorin Brigitte Kanitz. Bachtin 2008, S. 56f.

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

versprochen, dass der Umzug stellvertretend unternommen wird, die Lesenden begleiten das Abenteuer von der (städtischen) Couch aus. Neben der Abenteuererzählung ist der Umzug in Jansons Text auch als Entwicklungsgeschichte angelegt und weist damit mehrere Ähnlichkeiten zu den bisher untersuchten Erfahrungsberichten auf.3 Weiterhin wird die Raumkonfiguration auf der Innenseite des Rückumschlags definiert, wo die Autorin sich an die Lesenden richtet: »Kennen Sie das Alte Land? Für mich ist es ein besonderer, ein magischer Ort.« Seit jeher wollte sie »eine Geschichte schreiben, die beides miteinander verbindet: Das Glück echter Freundschaft und den Zauber einer traumhaft schönen Kulturlandschaft.« Indem der ländliche Raum zum magischen Ort wird, wird ihm ein eigenes Potenzial zur Veränderung des Lebens eingeschrieben. Auf diese Weise wird auch hier vor Beginn des Romans behauptet, dass das erzählte Geschehen zwar fiktiv aber dennoch glaubwürdig ist, da es als notwendiges Ergebnis einer Konstellation aus Raum, Zeit und menschlicher Entwicklung gedeutet wird. Auch wenn der Roman von der Form der bisher untersuchten Texte deutlich abweicht, sind schon an den Paratexten klare Parallelen in der Raumkonfiguration sowie der narrativen und epistemischen Struktur zu erkennen. In der folgenden Analyse wird daher insbesondere untersucht, ob und wie sich der hier erzählte Umzug und die erzählten Räume von denen der Sach- und Unterhaltungsliteratur unterscheiden. Dafür werden zunächst Inhalt und Form des Buches, dann die erzählten Räume und schließlich das erzählte Wissen einer detaillierten Betrachtung unterzogen.

6.1 Inhalt und Form Im Buch wird von vier Frauen erzählt, deren urbane Leben von Zäsuren unterbrochen werden. Claudia Konrad, die eigentliche Protagonistin, wird aus ihrem Beruf als Parfümverkäuferin entlassen, ihre Tochter Jule kann nach einem Reitunfall nicht mehr richtig laufen und leidet seither an Depressionen. Konrads beste Freundin Sara Stelling wurde von ihrem Mann verlassen. In dieser kritischen Lebensphase findet Konrad auf einer Parkbank einen Apfel aus dem nahe Hamburg gelegenen Alten Land, dessen belebende Wirkung sogleich als Symbol dafür gedeutet wird, dass die Region als Ort des Heils taugt. Nach einer ersten Ortserkundung kaufen Konrad 3

Das im Paratext gegebene Erfolgsversprechen wird im Laufe des Romans verstärkt, wenn der Neuanfang wiederholt als beschwerlich geschildert wird: »Von einem Neuanfang wollte sie erzählen, von einem guten neuen Leben. Von frischer Luft und knackigen Äpfeln, von einem Abenteuer und von neuen Zielen. Im ersten Stock verschwand die Farbe aus ihren Worten, im zweiten klangen sie nur noch hohl.« Janson, Brigitte: Winterapfelgarten, 4 Berlin: Ullstein 2015, S. 137. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle WA im Fließtext nachgewiesen.

Janson – Winterapfelgarten

und Stelling einen alten Apfelhof samt Obstwiese mit alten Apfelsorten – darunter auch der titelgebende Winterapfel. Der Umzug droht schon an den ersten Herausforderungen des Landlebens zu scheitern, da kommt mit Elisabeth Fischer, Witwe eines Hamburger Industriellen, »›Mädchen vom Fließband aus Hamburg-Hamm‹« (WA, 81) und liberale Sympathisantin der Hippie-Bewegung, die vierte Frau als Rettung hinzu. Von nun an werden Herausforderungen gemeinsam gemeistert und die Frauen im Alten Land immer mehr heimisch. Als eine dieser Herausforderungen wird der Nachbar Johann van Sieck eingeführt, der den Obstgarten selbst erwerben wollte, um die Äpfel an einen Investor zu verkaufen und mit dem Gewinn die Beziehung zu seinen Töchtern zu retten. Letztlich verlieben Claudia Konrad und Johann van Sieck sich ineinander, sodass dieses zentrale Hindernis überwunden wird: Auch dieser Umzug ist erfolgreich. Schon an diesem ersten Überblick der Handlung lässt sich die zentrale Raumkonfiguration ablesen, in welcher der städtische Raum mit Krisen und der ländliche Raum mit Glück und Liebe verbunden werden. Der Grenzübertritt wird als Auslöser der individuellen Entwicklung und damit als lebensrettende Maßnahme erzählt, sodass es sich nicht nur um eine Entwicklungs-, sondern auch um eine Heilungsgeschichte handelt. Der Erfolg des Umzugs wird daran bewiesen, dass alle Figuren am Ende Glück und Liebe finden, sich also ›raumgemäß‹ entwickelt haben. Das Geschehen wird durch eine heterodiegetische Erzählinstanz mit variabler externer Fokalisierung erzählt, die das Gefühlsleben der Figuren gut kennt. Die Erzählung geht selten über das Erleben oder Fühlen der vier Hauptfiguren hinaus, sodass diese als Einheit wahrgenommen werden, deren Leben und Umzug für die Lesenden nachvollziehbar werden. Die Handlung folgt beinahe ausnahmslos der Chronologie, wobei mit den Kapitelwechseln häufig größere Zeiträume übersprungen werden (»Vier Wochen später« (WA, 258)) und die erzählte Zeit deutlich gestreckt wird. Bis auf Einschübe vergangener Ereignisse dominiert die intradiegetische Erzählebene, sodass ein Eindruck von Kontinuität und von Vollständigkeit erzeugt wird. Durch diese erzählerischen Mittel wird der Übertritt vom städtischen Raum der Überforderung in den ländlichen Raum des Glücks ohne Mehrdeutigkeiten, Herausforderungen oder Lücken erzählt. Diese lineare Erzählung wird dann zur Bedingung dafür, dass eine ungebrochene Transformationserzählung der Figuren etabliert werden kann, die im folgenden Unterkapitel untersucht wird.

6.2 Figuren Durch die regelmäßige Betonung der Transformation zu echten Altländerinnen (vgl. WA, 287) wird die anfängliche urbane Raumordnung schon bald umgekehrt und die Stadt zum eigentlich ›Anderen‹ bzw. Außen des Romans. Um die Notwendigkeit des Umzugs und dieser Entwicklung zu motivieren, werden zunächst die

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Brüche im Leben der vier Frauen beschrieben. Der Roman beginnt mit Claudia Konrad, die aus ihrem Beruf als Kosmetikverkäuferin entlassen wird, »[s]ie gehörte nicht mehr in die Welt der Düfte, Cremes und Tinkturen.« (WA, 13) Mit dem Ausschluss aus dieser »Welt« wird das entscheidende Motiv für den nachfolgenden Umzug geliefert und gleichzeitig das Scheitern als Befreiung gedeutet, denn »[s]ie fühlte sich tatsächlich wunderbar. Befreit. Claudia Konrad, einundfünfzig Jahre alt, durfte noch einmal ganz neu anfangen.« (WA, 13f.) Der Neuanfang wird mit dem auf einer Parkbank gefundenen Apfel verknüpft. Der Biss in den Apfel wird, wie im biblischen Sündenfall, zum Erkenntnismoment, was ein Fortführen des bisherigen Lebens unmöglich macht.4 Zunächst steht er aber als Symbol für gesundes, gutes Leben, er hatte lediglich »50 Kalorien« (WA, 16) und »[i]hre Müdigkeit verschwand mit einem Schlag« (WA, 16). Auch das Leben von Konrads Tochter Jule wird zunächst als Tragödie erzählt, diese beginnt mit einem Unfall, nach dem sie, eigentlich professionelle Reiterin, weder regulär laufen noch reiten kann. Von ihr heißt es: »es war nicht zu übersehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war.« (WA, 23) Ereignisse wie dieser Unfall stehen außerhalb der Erzählung, werden in externen Analepsen lediglich nachgereicht und als Motive für das weitere Handeln funktionalisiert. Jule steht dem Umzug anfangs kritisch gegenüber, das Land ist ihr ein wilder und unkultivierter Ort. Erst durch die Freundschaft zu Johann van Sieck und ein eigenes Pferd auf dem Hof wird auch ihr das Landleben zur Heilung. Auch Sara Stelling wird, mitten in einer Umbruchsphase befindlich, in die Erzählung eingeführt, nach ihrer Scheidung sei es »[m]it ihrem bequemen Leben als Anwaltsgattin […] ein für alle Mal vorbei.« (WA, 18) Die drei städtischen Leben werden so bereits auf den ersten Seiten für beendet erklärt und infolge dessen wird auch bald der Entschluss gefasst, einen Hof im Alten Land zu erwerben. Die drei Frauen werden dafür zur »Gemeinschaft, die den Wirrnissen des Lebens gemeinsam trotzte« (WA, 24). Die vierte Frauenfigur, Elisabeth Fischer, stößt erst im sechsten Kapitel zu dieser Gemeinschaft dazu. Der Apfelbauer Johann van Sieck wird als Antagonist zu den städtischen Figuren eingeführt, wodurch er für die Etablierung des Stadt-Land-Gegensatzes relevant wird. Wegen seiner Haare und des Barts wird er als »›Rübezahl‹« (WA, 74) beschrieben, was an die Schilderung von »Zeus« (SM, 22) in Schöner Mist erinnert. Die sich dann entwickelnde Liebesgeschichte zwischen van Sieck und Claudia 4

In der Bibel nach Luther heißt es über die Frucht vom Baum der Erkenntnis: »4 Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; 5 sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon eßt, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« Gen 3,4f. Von hier an Leitmotiv des Buches wird der Apfel mit verschiedenen Semantiken verknüpft, traditionell kann er sowohl für den biblischen Sündenfall, für Macht, für Weiblichkeit, Fruchtbarkeit wie auch für Streit (Zankapfel der griechischen Mythologie) stehen. Durch seine Kugelform wird er als Sinnbild der Ewigkeit gebraucht. In Winterapfelgarten werden diese Bilder abwechselnd genutzt.

Janson – Winterapfelgarten

Konrad erinnert mehrfach an Die Schöne und das Biest, wenn es über eine Begegnung ganz im Märchenton heißt, er »trat hinter einer hohen Tanne auf dem Brachland zwischen den zwei Höfen hervor. Der warme Spätsommertag verwandelte sich in eine Winternacht, als sie der Blick aus seinen Eisaugen traf.« (WA, 121) Durch solche wiederkehrenden Bezugnahmen auf mythische Erzählweisen tendiert die Geschichte ins Magische. Indem van Sieck wiederholt mit mythischen Figuren gleichgesetzt wird, aber auch als einzige relevante ›ländliche Figur‹ den ruralen Raum repräsentiert, wird dieser auch mythisiert. Diese angedeutete Einheit von Mensch und Raum wird durch die Schilderung von van Siecks Familiengeschichte fortgeschrieben. Im Laufe des Romans erfahren die Städterinnen, dass seine Familie bei der Nordsee-Flut 1962 ums Leben gekommen ist. Zudem waren seine Vorfahren Holländer, die das um Hamburg gelegene Marschland trockengelegt haben. Und auch durch den als regionaltypisch klassifizierten Beruf des Apfelbauers personifiziert er die Kulturgeschichte des Alten Landes und kann zur Verkörperung der Region und ihrer Geschichte werden. Die so zwischen den Figuren etablierte Trennung durch die Stadt-Land-Dichotomie wird wiederholt betont, bspw. wenn die Zugezogenen auf van Siecks Erzählung seiner Familiengeschichte entgegnen: »›Das ist ja phänomenal!‹, rief Sara aus. ›Sie können Ihre Familie bis ins zwölfte Jahrhundert zurückverfolgen? Ich komme nur bis zu meinem Urgroßvater.‹« (WA, 106) Mit Ausnahme Johann van Siecks bleibt das Figurenrepertoire auf städtische Figuren beschränkt, zu den vier Protagonistinnen kommen Liebesbeziehungen mit ebenfalls aus der Stadt kommenden Männern. Andere ländliche Figuren spielen bis auf kurz erwähnte eifersüchtige »Nachbarinnen, die ein Auge auf Recht und Moral im Dorf hatten« (WA, 124; vgl. WA, 135f.), Ärzte oder andere Bauern keine weitere Rolle. Dadurch werden Stadt- und Landleben aus nur einer Perspektive erzählt, sodass Umzug und Entwicklung ungebrochen und die verbundenen Räume als perfekte Zustände erzählt werden können. Was diese Konstellation u.a. für die Raumkonfiguration bedeutet, wird im folgenden Unterkapitel weiter dargestellt.

6.3 Raumkonfiguration Um das neue, bessere Leben im Alten Land zu finden, muss zunächst ein Bild des Ausgangspunktes Stadt produziert werden. Sie wird als Ort exkludierender Praktiken beschrieben, im städtischen Leben zählten »Verjüngung, Konkurrenz und neue Perspektiven« (WA, 8), und auf dem Hamburger Rathausmarkt herrschte ein »Ballett der Betriebsamkeit und Effizienz« (WA, 15). Die Stadt wird zum Ort neoliberaler Marktlogik. Insbesondere die auf Äußeres und Funktion ausgelegte Hamburger Welt wird gegenüber Menschen mit Behinderung als exkludierend dargestellt, denn »[i]n dieser perfekten kleinen Welt gab es keinen Platz für jemanden wie Jule.«

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(WA, 14) Nach diesen anfänglichen Schilderungen von Stadtleben kommt der urbane Raum lediglich als Vergleichselement vor, so war für die Umziehenden »[d]er Himmel hier […] weiter und höher als in Hamburg, die Luft roch frisch und klar. Es gab keinen Großstadtlärm und keinen Smog. In ihrer Nähe wieherten Pferde, ein Hund bellte.« (WA, 178) Die Idylle entsteht hier erst durch die Gegenüberstellung. Dem so etablierten locus horribilis Stadt wird das Land als Ort des Heils direkt entgegengesetzt, explizit kommt das in den Beschreibungen des gekauften Hofes zum Ausdruck: »›Der Glockenhof ist unsere neue Heimat. […] wir alle drei wären verloren ohne diesen Ort.‹« (WA, 189) Oder: »Es ist ein Wunder, dachte sie. Es ist der Glockenhof.« (WA, 149) Die Gleichsetzung von Hof und Wunder macht das Gesunden und Heilen zu einer unerklärlichen, magischen Eigenschaft des Raumes. Die »magische[n] Kräfte« (WA, 200) und die »Magie des Glockenhofes« (WA, 245) werden wiederholt erwähnt, um die Verbindung von Person und Raum zu verfestigen und zu beweisen. Die Beweise erfolgen lediglich durch verkürzte Erklärungsversuche, welche die Kausalität zwischen den Ereignissen aussparen: »Ein Wunder, dachte sie wie schon vorhin. So einfach kann es sein. Das Land, der Hof, die Tiere. Ein neues Leben. Es ist nur eine Frage der Zeit, und alles wird gut.« (WA, 160) Indem dem ländlichen Raum so eine magische oder wunderwirkende Qualität eingeschrieben wird, können schon aus der Raumordnung und dem Raumübertritt widerspruchsfrei die Entwicklungen der Figuren erzählt werden. Durch die Konfiguration von neoliberaler Stadt und magischem Land erscheinen beide als diametral entgegengesetzte Kulturen mit einer verfestigten Grenze. Durch Letztere wird der Gang aufs Land zur Herausforderung, wie bei Moor ist dann das Haus in schlechterem Zustand als erwartet, die Finanzreserven sind bald aufgebraucht und keiner der örtlichen Handwerker ist bereit, die Aufträge anzunehmen (vgl. WA, 128f.). Diese Hindernisse führen nicht nur zu einer Stärkung der Grenze, sondern zugleich der Figuren, die es schaffen, die Grenze zu überschreiten. Auf diese Weise wird der ländliche Raum zum widerständigen Ort und die Figuren werden zu autonomen Heldinnen. Dass auch dieser ländliche Raum erst durch seine Kenntnis in Besitz genommen werden kann und daher wie in den zuvor untersuchten Texten als Wissensobjekt verstanden werden muss, wird spätestens dann deutlich, wenn Claudia Konrad am Ende des Buches durch Johann van Sieck als »›[g]ut informiert, wie eine echte Altländerin‹« (WA, 287) beschrieben wird. Erst durch diese Veränderung zur »echte[n] Altländerin« wird die Liebe zwischen beiden Figuren möglich, die vorher den unvereinbaren städtischen und ländlichen Ordnungen angehörten. Dabei ist entscheidend, dass diese Entwicklung durch die Semantisierung des ländlichen Raums als ›magisch‹ nicht dem Willen der Figuren, sondern der Raumordnung folgt und so naturalisiert wird. Anders als in der Sach- und Ratgeberliteratur ist das im Umzug erworbene Wissen über den Raum nicht per se als Ziel der Darstellung zu verstehen, sondern fokussierter als ein Mittel zum Beweis des erfolgreichen Raumüber-

Janson – Winterapfelgarten

tritts, der Transformationserzählung der Figuren und der Authentizität des besonderen erzählten Raumes. Indem Kenntnis zur Bedingung für das Gelingen von Umzug, Landleben und Liebe wird, wird auch in Winterapfelgarten mit dem Alten Land ein literarischer Raum geschaffen, der sich städtischer Aneignung entzieht und für dessen Einnahme vor Ort erworbenes Erfahrungswissen essenziell ist – darin ähnelt die Art der literarischen Landnahme jener der untersuchten Sachbücher. Diese Feststellung lässt sich fortsetzen, denn da in allen Büchern der ländliche Raum als Alternative zum städtischen Lebensraum ›erforscht‹ wird, hängen die Beschreibungen von Ländlichkeit maßgeblich vom jeweils unterschiedlichen Leiden an der Stadt ab. Auffällig ist aber, dass das Motiv vom Ende der Täuschungen hier deutlich weniger offensiv fortgeschrieben wird als in den anderen Texten. Um die sich daraus ergebenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Produktion von Wissen und Raum erfassen zu können, wird im folgenden Abschnitt die Bedeutung des Übertritts zwischen den beiden gegensätzlichen Räumen noch eingehender untersucht.

6.4 Der Umzug Auch in Jansons Roman ist der Gang aufs Land eine Herausforderung, daher folgt die erste Fahrt ins Alte Land auch gängigen Abenteuer-Narrativen: Die beiden Protagonistinnen sind auf der Suche nach dem Winterapfel und brechen ohne größeres Wissen um ihr Ziel auf. Was zunächst als Fahrt ins Unbekannte startet, entwickelt sich bald zum Abenteuer: Wenn sie den Hof von Johann van Sieck betreten, werden sie von dem als »Bestie« beschriebenen Hund (WA, 70-73) begrüßt, dann begegnet ihnen der »Eingeborene« (WA, 73) van Sieck mit Ablehnung. Auf das Abenteuer folgt schließlich die Belohnung durch die Entdeckung des Paradieses: Kein großes Anwesen, aber für ihre Zwecke genau richtig. Sie stand da und sah vor ihrem inneren Auge die Bäume, fachgerecht zurückgeschnitten. Sie sah einen Kräutergarten, den sie selbst angelegt hatte, und die große Wiese, auf der eine braune Stute weidete. Und sie sah Jule, die laut nach Carina rief und dann ihrer Mutter ein glückliches Lächeln zuwarf. Sie kam auf sie zu, ganz ohne Krücken. So deutlich konnte sie all das sehen, als wäre es schon Wirklichkeit. Auf einmal fügte sich alles zusammen. Claudia wusste, was sie zu tun hatte. (WA, 116) Ähnlich wie bei Moor wird der Grund für die Wahl des neuen Lebensortes auch bei Janson mit Gefühlen erklärt, die ein Bild von einer vorbestimmten Einheit aus Mensch und Raum entwerfen: »›Es muss hier sein‹, gab Claudia fest zurück. ›Ich kann es nicht erklären, aber dieser Hof ist genau das Richtige.‹« (WA, 120). Diese Mystifizierung der Umzugsgründe wird im Laufe des Romans wiederholt: »Eine höhere Macht hatte offenbar beschlossen, dass ihr Abenteuer schon beginnen sollte, kaum dass sie die Elbe hinter sich gelassen hatte.« (WA, 182) Die höhere

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Macht bleibt unbestimmt, dadurch wird die Wahl des Ortes nicht zur aktiven Entscheidung der Figur, sondern erfolgt aus Bestimmung, der Ort selbst wird zum Auslöser der dann folgenden Geschichte. Damit werden idyllische wie HeimatNarrative wiederholt, die häufig auf solchen mystischen Einheitsbehauptungen und Bildern ›gestimmter‹ Räume basieren. Diese Räume werden als abgeschlossen und vollendet konzeptualisiert und können gerade deshalb nicht mit Fragen nach ihrer demographischen oder topographischen Bestimmtheit konfrontiert werden.5 Erst einem solchen Raum können magische Eigenschaften eingeschrieben werden. Das damit vermittelte Mensch-Raum-Verhältnis wird durch anthropomorphisierende Naturbeschreibungen unterstützt, bspw. in der ersten Schilderung der Apfelplantage: »In Reih und Glied standen niedrige Apfelbäume wie Soldaten in altertümlicher Aufstellung zur Schlacht. Die Äste hingen voll mit Früchten, die kurz vor der Reife standen.« (WA, 113) Später wird der titelgebende Apfelbaum für die eingetretenen Veränderungen verantwortlich gemacht: ›Hey, du. Hast du eigentlich eine Ahnung, was du angerichtet hast?‹ Er stand nur stumm vor ihr. Vielleicht träumte er von summenden Bienen, die im Frühjahr seine Blüten bestäuben würden, von bunten Schmetterlingen und vorwitzigen Staren, die in seinen Aushöhlungen nisteten. (WA, 195) Spätestens wenn der Apfelbaum dann antwortet, wird diese Sequenz zu einer traumhaften oder magischen: »›Dafür kann ich aber nichts‹, antwortete der Apfelbaum.« (WA, 195) Auch den beschriebenen Tieren wird ähnlich wie bei Sezgin (unregelmäßig auch bei Moor) intentionales Handeln und Verstehen menschlicher Interaktionen unterstellt, bspw. »begriff« das Schaf »instinktiv, dass es nicht im Weg sein durfte.« (WA, 307) Durch die dann notwendig gewordene Einheit mit der Natur wird der Hof, wie in Sezgins Buch, allmählich zum Gnadenhof für alte und kranke Tiere (vgl. WA, 182-184). Der so entstehende Eindruck belebter Natur trägt zum Bild idyllischer Ländlichkeit bei. Auffällig ist dabei, dass diese Schilderungen häufig durch einen Stilwechsel hervorgehoben werden, bspw. heißt es in einer

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Die Philosophin Karen Joisten beschreibt das in ihrer Philosophie der Heimat in Bezug auf Otto Friedrich Bollnows Untersuchungen zu Mensch und Raum und zeigt dabei zugleich, wie Fragen topographischer Bestimmtheit an solchen Raumkonzepten vorbeizielen: »Der gestimmte Raum, in dem sich die ungeteilte Einheit zwischen Mensch und Raum ausspricht, ist die Fülle selbst. Er ist in diesem wesentlichen Zusammengehören in sich gerundet und geschlossen, weshalb die Frage nach der Maßangabe eines Ortes oder Lage an ihm vorbeizielt. In gleicher Hinsicht muss im gestimmten Raum Nähe qualitativ als das Einlösen dieser ursprünglichen Einheit zwischen Ding und Mensch verstanden werden, die in der Ferne zum Verschwinden des gestimmten Raums führt. Die Bewegung des Menschen hat ihr Maß in dem Durchstimmtsein des Raums, sie wird von ihm förmlich ›gezogen‹, weshalb auch keine ausgezeichneten Richtungen ausgemacht werden können.« Joisten, Karen: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 70.

Janson – Winterapfelgarten

Naturbeschreibung: »Die Welt war still. Dunkelheit lag über dem Land, der frühe kalte Morgen versteckte sich noch hinter der eisigen Nacht.« (WA, 230) Neben dieser idyllischen Landnahme sind andere Schilderungen des in Besitz genommenen ländlichen Raums von geographischer Genauigkeit geprägt, er wird durch Wissen vermessen und eingenommen. So werden in Gesprächen oder Situationsbeschreibungen häufig Details gegeben, die eine klare Situierung des Geschehens zulassen (»Sie hatten schon den Elbtunnel hinter sich gelassen, als die erste von ihnen wieder sprach.« (WA, 60) »fuhr an der Ausfahrt Moorburg von der A7 ab« (WA, 61), »Ein paar Meter weiter entdeckte sie das Ortsschild von Francop.« (WA, 62)). Auf diese Weise wird belegt, dass der literarische Raum dem realen entspricht, wodurch die mitlaufende Betonung von Wissen über den Ort ermöglicht und die Erzählung authentifiziert wird: »Das Alte Land südlich von Hamburg ist das größte Apfelanbaugebiet nördlich der Alpen. Das wusste natürlich auch Sara.« (WA, 50) Wie bereits oben gezeigt wurde, wird dieses Raumwissen im Laufe der Erzählung zur Bedingung des Ankommens. Durch dieses Nebeneinander der durch Gefühl und Erkenntnis ermöglichten Landnahmen wird eine idyllische Variante realer Orte für eine (vermutlich) größtenteils städtische Leserschaft entworfen. Dieses Wechselspiel von realem (authentischem) und imaginärem (idyllischem) Raum ist ein entscheidendes Merkmal dieses Buches und ermöglicht eine über den Text hinausgehende Bedeutung: Erst durch die Verbindung von Realitätsversprechen und Idyllisierung wird eine reale Idylle produziert, die wie ein Spiegel auf das reale Raumvorbild wirkt. Damit wird Winterapfelgarten zur Regionalliteratur, in welcher der literarische Raum als Repräsentation eines realen genutzt und zugleich eine Heterotopie geschaffen wird. Die besondere Verbindung von Wissen und Gefühl für ihr Schreiben über ländliche Räume hat Janson schon im anfangs zitierten Klappentext formuliert: »Kennen Sie das Alte Land? Für mich ist es ein besonderer, ein magischer Ort.« Also hängt die Gestaltung des literarischen Alten Landes maßgeblich sowohl mit idyllischer Erzähltradition als auch dem vermittelten Wissen zusammen. Beide Faktoren dieses Schreibens werden in den folgenden Abschnitten differenzierter betrachtet.

6.5 Reale Räume des Wissens Besonders auffällig ist die Darstellung des Wissens in der Schilderung der ersten Landnahme, deren Ton und Informationsdichte an Reiseführer erinnern. Hierfür werden Landschaftsbeschreibungen mit historischem und landwirtschaftlichem Wissen versetzt. Dieses Wissen begegnet den Lesenden dann während der Beschreibung der Fahrt durch das Alte Land, diese entspricht zunächst eher einer Motivsammlung und produziert vielmehr ein ästhetisches Raumbild, wenn es heißt, sie fuhren

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[v]orbei an mit Kanälen durchzogenen Obstgärten und an saftigen Wiesen, auf denen schwarzweiß gefleckte Kühe weideten. Dann wieder ging es durch Dörfer, die geprägt waren von Bauernhäusern aus rotem Backstein, deren weißes Fachwerk in der Sonne leuchtete. (WA, 66) Dieses Bild vom schönen Alten Land wird dann weiter mit Wissen verknüpft, das direkt aus einem Reiseführer vorgelesen wird, es handele sich um »Marschland im Elbe-Urstromtal […], das von den Holländern vor mehr als neunhundert Jahren urbar gemacht worden war.« (WA, 66) Dann werden die historische und ästhetische Dimension der Gegend verwoben: Sie erzählte von Entwässerung, von den drei ›Meilen‹, in die das Alte Land unterteilt war, von Deichen, die mehrmals in der Geschichte nicht ausgereicht hatten, […] von fruchtbarer Erde, vom Obstanbau und von den berühmten Prunkpforten, mit denen sich wohlhabende Altländer Bauern einst die Zufahrten von ihren Höfen verzieren ließen. (WA, 66f.) So wird während der ersten Landnahme durch Wissen und Empfindungen ein mehrdimensionales – nämlich ästhetisches, kulturelles, historisches und topographisches – Bild der Gegend entworfen. Diese Landschaftsbeschreibungen sind beinahe wörtlich aus Miriam Fehlbus’ Reiseführer Altes Land: Unterwegs vor den Toren Hamburgs (2013) entnommen. Die nachfolgende Schilderung des Tores und der Brauttür auf dem Hof von Johann van Sieck ähnelt dem Kapitel Prunkpforten im Reiseführer, sodass das 1683 errichtete Haus in der Nincoper Straße 45, heute Café Obsthof Puurtenquast, als Vorlage des Gehöfts identifiziert werden kann. An diesen Schilderungen lässt sich das Verhältnis von realen und literarischen Orten gut beobachten: In Winterapfelgarten starb Johann van Siecks Familie bei der Sturmflut 1962 auf diesem Hof, der Reiseführer informiert, dass der Hof als einziger der Gegend nicht von der Flut erreicht wurde. Der reale Ort dient als Identifikationspunkt, er wird jedoch zu Gunsten des Handlungsverlaufs verändert. An diesem Beispiel wird deutlich, wie Wissen über ländliche Räume mit literarischer Fiktion so verbunden wird, dass eine enge Verbindung zwischen literarischem und realem Ort entsteht, die nicht auf realitätsgetreue Abbildung eines Raumes, sondern auf die Versicherung von Authentizität und Besonderheit des erzählten Raumes zielt. Auch darin gleicht der Roman den Erfahrungsberichten bzw. Ratgebern der ersten Untersuchungsgruppe. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass Johann Van Sieck eine ähnliche Funktion als Wissensträger erfüllt, wie das einzelne Figuren oder Intertexte in allen bisher untersuchten Büchern geleistet haben. Er berichtet z.B. über den titelgebenden Apfel, es sei eine alte Sorte, wird nicht mehr viel angebaut. Den Namen hat er von seiner Glockenform. Die Grundfarbe ist Grüngelb, und er schmeckt säuerlich und erfri-

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schend. Dieser Apfel wird im Oktober gepflückt und ist normalerweise erst im Dezember genießbar. Richtig gelagert, hält er sich bis zum folgenden Sommer. (WA, 108) In dieser Darstellung geht es weniger um die Vermittlung pomologischen Fachoder bäuerlichen Erfahrungswissens, denn um die Charakterisierung der Figur als einheimisch, ländlich und erfahren. Wissen hat hier eine entscheidende Funktion als Charakterisierungs- und Distinktionsmerkmal: Wer Wissen hat, kann die Einheit von Subjekt und Raum und damit Heimat gewinnen. Auch durch solche Charakterisierungen oder best practice-Beispiele werden Landnahme und Heimischwerden der Städterinnen als Prozess der Wissensaneignung erzählt. Als das Auto auf einer späteren Fahrt aus der Stadt ins Alte Land wegen einer Schafherde anhalten muss, erklärt Claudia Konrad und beweist damit ihr schrittweises Ankommen: ›Schafe haben Vorfahrt. […] Die Tiere sind wertvoller als jeder Rasenmäher. Sie halten nämlich nicht nur das Gras auf den Deichen kurz, sondern verfestigen auch mit ihren kleinen Klauen den Boden und treten kleine Löcher zu. Für die Deichpflege sind sie unersetzlich.‹/›Du klingst schon wie ein Ureinwohner.‹/Claudia grinste. ›Altländer heißt das.‹ (WA, 145) Die für den Wissenserwerb notwendigen Quellen werden erwähnt, bleiben dabei aber relativ unbestimmt. So heißt es zur Verfestigung des Ankommens nach dem Umzug: Claudia »war kein Fachmann, aber sie hatte sich erkundigt. So eine Apfelernte brachte einen ordentlichen Batzen Geld ein.« (WA, 131) Wo oder beim wem sie sich erkundigt hatte, spielt keine Rolle, vielmehr ist die Autorisierung des Erzählten durch seine ländliche ›Herkunft‹ entscheidend. Häufig wird die Bedeutung lokaler Quellen betont, im Zusammenhang mit der Tochter heißt es da beispielsweise: »Ihr Wissen hatte Jule von den Erntehelfern.« (WA, 196) Der Kulturkontakt bleibt abstrakt, doch das Erfahrungswissen trägt dazu bei, dass auch sie am Ende des Romans zur Einheimischen wird. Jule teilt ihr neuen Kenntnisse daraufhin mit Sarah Stelling, sodass der Prozess der Apfelernte auch den Lesenden in Ausführlichkeit beschrieben wird: Es ist nämlich gar nicht so einfach, einen Apfel zu pflücken, wusstest du das?‹ Sara schüttelte den Kopf. ›Ich dachte, Apfel in die Hand nehmen, abreißen, und das wär’s.‹ ›Eben nicht. Der Apfel muss am Stielansatz mit dem Finger gedrückt und dann so gedreht werden, dass er unversehrt in der Hand liegt. Einen Apfel ohne Stiel abreißen kann jeder, aber dann verfault er im Tresor.‹ (WA, 202) Im Verlauf des Gesprächs wird die Apfellagerung im Tresor auch noch erläutert. Indem das ländliche Geheimwissen von heimischen Wissensträgern an die ankom-

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menden Figuren und durch den Austausch untereinander schließlich auch an die Lesenden weitergegeben wird, wird einerseits das Wissen zum Beleg für ein erfolgreiches Angekommensein und treten anderseits die Lesenden durch die Lektüre symbolisch in den geheimen ländlichen Ort ein. Ein weiteres Beispiel für diesen Vermittlungsprozess ist die schon mehrfach erwähnte Nordsee-Flut von 1962. Sie wird als ein Ereignis vorgestellt, welches bis in die Gegenwart wirkt und sowohl van Sieck als auch die ganze Region bestimmt. Dazu wird wiederholt der Bezug auf das reale außerliterarische Ereignis expliziert, es geht um die »Nacht, als die Nordseeküste von der großen Sturmflut heimgesucht wurde.« (WA, 282) Zum Beweis der Authentizität wird historisches Faktenwissen in Form von Zahlen als Information mitgeliefert (»Am schlimmsten traf es Hamburg mit 315 Toten.« (WA, 282)) und es wird an die Berichterstattung der Medien als Teil des kulturellen Gedächtnisses (»erinnerte sich gut an die Filme und Fotos aus jener Zeit.« (WA, 282)) erinnert. Johann van Sieck schildert am Ende des Textes den Verlust seiner Eltern, was sein Verhalten rückwirkend erklärt. Nach der Geschichte heißt es: »Claudia schwieg. Sie rang um Fassung. Auf einmal verstand sie so viel von diesem Mann. Jetzt konnte sie sich erklären, warum er so oft so schweigsam war und andere Menschen auf Abstand hielt.« (WA, 285) Wissen verändert hier die Wahrnehmung. Da van Sieck exemplarisch für die gesamte Region steht, wird damit auch eine Erklärung des kollektiven Traumas der gesamten Region geliefert und zugleich der Typus des maulfaulen Norddeutschen historisch eingeordnet. Gerade an dem letzten Beispiel wird nachvollziehbar, dass das erzählte Wissen letztlich nicht aus neuen Informationen bestehen muss, sondern dazu dient, den Charakter des Raumes daraus abzuleiten. So wurde in diesem Analyseabschnitt mehrfach herausgearbeitet, wie das Alte Land durch ein Wissen strukturiert wird, welches hauptsächlich aus öffentlich verfügbaren Quellen (Reiseführer) und allgemein verfügbaren Informationen über bspw. historische Ereignisse (Sturmflut) zusammengesetzt ist. Neben dieser Ausgestaltung der literarischen Räume durch Wissen um reale Räume, erfolgt eine weitere wichtige Dimensionierung durch traditionelle Raumbilder, was im abschließenden Unterkapitel thematisiert wird.

6.6 Schöne Räume der Dauer Wie bereits im vierten Unterkapitel gezeigt wurde, liegt dem Roman neben der Konfiguration des ländlichen Raumes als zu entdeckender Ort maßgeblich eine Raumkonfiguration idyllischer Ländlichkeit zugrunde, welche besonders die Erzählung vom Land als Ort des Heils, des guten Lebens und von belebter Natur sowie die Liebesgeschichte und die Stadt-Land-Dichotomie mitbestimmt. Im vorangegangenen fünften Unterkapitel wurde dann herausgearbeitet, wie durch Schreiben über Wissen im Buch bewiesen wird, dass die erzählten Räume (potenziell) real sind.

Janson – Winterapfelgarten

Wie auch in den bisher untersuchten Texten werden häufig traditionelle Motive und Raumbilder als entdeckte Neuheiten über Land erzählt, die immer wieder durch ästhetische Überformung verändert und zur Variation traditioneller Raumbilder werden. Die Bedeutung solcher traditionellen Bilder ländlicher Räume wird schon bei der ersten Fahrt ins Alte Land und dem Besuch in van Siecks Haus ersichtlich, hier betreten die Protagonistinnen einen durch und durch hässlichen Raum. Früher mochte dies eine gemütliche, weißgetünchte Bauernküche mit einem großen Kachelherd, einem Vitrinenschrank, in dem alles Geschirr seinen Platz fand, und einem alten Holztisch über schwarzweißen Bodenfliesen gewesen sein. Irgendwann jedoch hatte der Besitzer offenbar entschieden, die Moderne Einzug halten zu lassen. (WA, 104) So wird eine feste Paarung von früher und schön sowie modern und hässlich formuliert und dem ländlichen Raum eine spezifische Ästhetik des Historischen eingeschrieben. Auch die Gestaltung des eigenen Hauses folgt einem primär ästhetischen Programm, welches mit terra incognita- bzw. terra nullius-Motiven verknüpft wird: Das Ankommen ist von dem Bemühen geprägt, »›in der Wildnis ein stilvolles Heim zu schaffen.‹« (WA, 155) Weiter heißt es über die Einrichtung der Küche, dass Mikrowelle und Herd ausgeschlossen wurden, um mit »den modernen Geräten das Gesamtbild der Bauernküche nicht [zu] zerstören.« (WA, 188) Durch die anschaulichen Beschreibungen (»die Stühle […] passten […] mit ihren hohen geschnitzten Rückenlehnen und den einfachen Sitzkissen zum nostalgischen Stil« (WA, 188)) wird zum einen die Gestaltung des Raums nachvollziehbar und zum anderen die Einrichtung als raumgemäß vermittelt. Raumgemäß heißt dann unter Einhaltung eines Bilds historischer Ländlichkeit. Diese ästhetischen Regeln zur Gestaltung raumund zeitgemäßen Wohnens erinnern dann eindeutig an Magazine wie Landlust. Das ›gute Leben auf dem Land‹ ist hier eines, das eine dem Land scheinbar eigene, eigentlich aber historische Ästhetik erhält. Um dieses gute Leben zu erreichen, muss die ästhetische Idylle aber erst in der »Wildnis« (WA, 155) konstruiert werden. Die Formulierung vom Land als Wildnis betont die dafür notwendigen Anstrengungen und Wagnisse, zugleich aber auch die Leere des Raumes. In solchen Passagen ist auffällig, wie auch Narrative der Landnahme oder Kultivierung der Provinz um eine ästhetische Dimension erweitert werden. Immer wieder werden diese traditionellen Erzählweisen über Land mit den Bildwelten des Landlust-Diskurses vermengt, woraus sowohl eine ästhetische Erneuerung der tradierten Narrative wie auch eine Einbettung des Diskurses der ›Lust auf Land‹ folgt. An diesen Beispielen ist zu sehen, wie durch wiederholte Bezugnahmen auf Tradition und Landlust-Diskurs der ländliche Raum als schöner Ort außerhalb der Moderne produziert wird, womit der rurale Raum in die Lage versetzt wird, einen vergangenen Zustand zu konservie-

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

ren. Dadurch werden die Trennung von Stadt und Land sowie die ungleichzeitige Raumkonfiguration zur Bedingung guten Lebens auf dem Land. Ein zweites Beispiel für die Produktion eines ländlichen Raums außerhalb der Zeitläufe ist in der Darstellung einer eigenen Ökonomie des ländlichen Raums zu sehen. Im Gegensatz zur bereits am Anfang des Romans herausgearbeiteten Konfiguration der Stadt als Ort neoliberaler Ausschöpfungstechniken, besteht auf dem Land eine scheinbar natürliche, archaische Tauschwirtschaft: Zwar wurde Sarah für ihre Tätigkeit als Hebamme nicht immer angemessen bezahlt, aber zwei Kleinbauern hatten ihr schon im Gegenzug für die Betreuung ihrer Frauen ihre Arbeitskraft angeboten. […] einer der beiden werdenden Väter hatte ihnen gestern die Bodendielen in der guten Stube abgeschliffen und frisch lackiert. (WA, 261) An dieser Schilderung ist erkennbar, wie auf dem Land Mechanismen entdeckt werden, die außerhalb der neoliberalen Wertschöpfungstechniken funktionieren. Ähnlich wie in den bisher untersuchten Texten wird nur beiläufig von der Notwendigkeit von Geld oder den finanziellen Herausforderungen des Landlebens erzählt, vielmehr wird ein Leben außerhalb solcher Fragen vermittelt, das nur auf dem Land und nur durch die Konfiguration als Ort außerhalb der Ordnungssysteme der Moderne möglich ist. Auch durch solche narrativen Ausschlussmechanismen wird die Umzugsgeschichte erweitert und ist dann nicht mehr nur idyllische Liebes- sondern auch Aussteigererzählung. Diese Konfiguration mündet letztlich aber nicht in einer Kapitalismuskritik, sondern vielmehr in der Stärkung des idyllischen Raumes, also in Eskapismus. An diesen Beobachtungen zur Integration tradierter Erzählmuster ist zu sehen, wie in Winterapfelgarten je nach Bedarf unterschiedliche Erzählungen miteinander verbunden werden, die letztlich eine gemeinsame Funktion erfüllen: einen Ort außerhalb von der urbanen Ordnung von Raum und Zeit zu produzieren, in dem eine freie Entwicklung der Figuren möglich wird. Dass das gelingt ist daran zu erkennen, dass am Ende des Romans die Figuren transformiert sind: Jule kann wieder laufen, Sarah hat sich von ihrer gescheiterten Ehe emanzipiert und ist in ihren erlernten Beruf zurückgekehrt und Claudia Konrad hat die Liebe und einen neuen Beruf gefunden. Auch in diesem Text wird eine Entwicklung der Figuren erzählt, die erst durch eine bestimmte Raumkonfiguration möglich geworden ist. Diese ist geprägt von der Magie des Ortes, der weitgehenden Freiheit von Widerständen und einer faktischen Leere des Raums. Dieses erste Fazit widerspricht dem zweiten nur scheinbar, wonach das Ankommen und Aufgehen im ländlichen Raum erst durch Wissen über diesen möglich wird. Der Widerspruch löst sich jedoch auf, sobald man die Produktion des leeren bzw. magischen Raums und des Wissensobjekts zusammendenkt: Das erzählte Wissen wird benötigt, um den fiktiven Raum als authentische Möglichkeit

Janson – Winterapfelgarten

zu entwerfen – auch in diesem Anspruch ähnelt Winterapfelgarten der Ratgeber- und Unterhaltungsliteratur.

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7. Rückblick II: Ein Narrativ entsteht

Die bisher untersuchten Bücher über den Umzug aufs Land haben zunächst ihr Geschehen gemeinsam: Eine oder mehrere Figuren ziehen von der Stadt aufs Land, geprägt von allerlei (städtischen) Erwartungen werden sie durch verschiedene Erlebnisse mit ländlicher Realität konfrontiert. Erst durch den Abbau dieser Erwartungen wird ein Leben auf dem Land möglich und der Gang aufs Land langfristig zur Erfolgsgeschichte. Die erzählerische Ausgestaltung dieser Umzugsgeschichten ist dabei nicht komplett einheitlich, denn in den Büchern von Sezgin, Hochreither oder Moor wird der Verlauf von Umziehen und Ankommen als gegenwärtig geschildert, bei Reichert oder Brüggemann ist der Umzug schon vor Beginn des Buches vollzogen: Der Erzähler lebt bereits auf dem Land, erinnert aber zum Beweis der Authentizität eigenen Wissens immer wieder an den Umzug und die gemachten Erfahrungen. Trotz dieser Unterschiede ist in allen Erzählungen ein zentrales Vergleichsmoment von Erwartung und Erfahrung angelegt, was die Umzüge zu Geschichten von der Erkenntnis und Wahrheit ländlicher Räume macht. Diese enge Verbindung von epistemischer und räumlicher Entwicklung ist in fast allen Büchern darin formuliert, dass eine gesellschaftliche Entfremdung vom Landleben festgestellt wird, die (kulturellen) Erwartungen ans Landleben als problematische Vorurteile erzählt werden und die Erkenntnis der ›wahren‹ Ländlichkeit eine Herausforderung ist, welche aber ein langfristiges Ankommen erst ermöglicht. Letztlich ist also die für die erste Untersuchungsgruppe konstitutive Erzählung der Umzüge als Erfolgsgeschichten nicht nur auf räumlicher, sondern auch auf epistemischer Ebene zu verstehen, denn erst durch die immer wieder erzählten Beweise von dem Erfolg des Umzugs und der Authentizität des Erlebten kann den Lesenden wahres Wissen (über Land) versprochen werden. Diese Bedeutung des erfolgreichen Umzugs ist auch daran abzulesen, dass in (fast) allen Texten dieser ersten Untersuchungsgruppe der Erfolg von Beginn an durch Rahmenerzählungen und paratextuelle Signale versichert wird. In den Analysen wurde herausgearbeitet, dass die Erkenntnis des jeweiligen Raums überwiegend anhand von Erlebnissen mit Tieren, Entdeckung der Natur, Begegnungen mit den ›Einheimischen‹, Herausforderungen der Jahreszeiten und letztlich auch der ästhetischen Ausgestaltung des neuen Lebensraums erzählt wird. Durch diese Erlebnisse vor Ort werden Informationen über die Geschichte des

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

Raumes und seiner Bewohner, ländliche Traditionen und Natur erworben, die dann durch die Umzugsgeschichte zu Wissen über ländliche Räume zusammengeführt werden. Dieses Wissen steht aber selten für sich, sondern mündet letztlich in die übergeordnete Erkenntnis der eigenen bzw. allgemein menschlichen Natur. Wie oben und in den Einzelanalysen bereits angedeutet wurde, wird der Raum nicht nur durch landwirtschaftliches, demographisches oder biologisches Fachwissen erkannt, sondern auch durch (neue) Erfahrungen ästhetischer Übermannung, die Erfahrung emotionaler Verbundenheit mit Tieren und immer wieder Herausforderungen der Räume. Was nicht oder nur randständig erzählt wird, sind alltägliche Arbeit, Probleme der Landwirtschaft, Wegzug der Jugend oder andere wirtschaftliche und soziale Strukturprobleme ländlicher Regionen wie Rechtsradikalismus, hohe Arbeitslosigkeit, Verschwinden von Arztpraxen und öffentlichem Nahverkehr. Lediglich bei Reichert und Brüggemann, die mehr von Raumbildern als Räumen erzählen, werden diese Themen angesprochen, um dann Möglichkeiten des Lebens im Ländlichen abseits dieser Probleme zu erkunden. In der Mehrzahl der Texte werden solche Strukturprobleme nur als aus der Stadt mitgebrachte Vorurteile über Land erzählt – erst wenn diese überwunden werden, könne die Erkenntnis von wahrem Landleben entstehen. Insofern sind gegenwärtige und historische Erzählungen über Landleben ein elementarer Teil all dieser Erzählung, weil erst durch den so etablierten Kontrast die entdeckten Räume als Gegenstand des Erzählens interessant werden.1 Im Abgleich mit der im dritten Kapitel dieser Studie herausgearbeiteten Tradition des Erzählens über Land wird deutlich, dass dieses Muster eines ›Sachberichts aus der Fremde‹ nicht wirklich neu ist. Auffällig ist aber, dass in den hier untersuchten Texten nur selten tiefere Form- oder Bedeutungsebenen aufzudecken sind, wie bspw. die in der Literatur der Lebensreformbewegung umlaufende Frage: »Wie kann der Einzelne den Herausforderungen der Moderne trotzen?«2 Oder die darin enthaltene Suche nach einem ›Neuen Menschen‹, »der sich von jedweder gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionalisierung emanzipierte.«3 Im Gegensatz zu solchen idealistischen Erzählungen überwiegen in den bisher untersuchten Texten rein subjektive Erzählungen von der Suche nach dem guten Leben auf dem Land, eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen, die dann durch die Anlage als Erfahrungsbericht zu Erzählungen über Wissen und damit Wahrheit oder Authentizität des Erzählten werden. Gerade das in den wiederholten Traditionsbezügen angelegte gattungs- und diskursreflexive Moment des Erzählens hebt die hier untersuchte Literatur von den literarischen Traditionen über Land ab, da von einer Wahrheit hinter

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Vgl. hierzu die Ausführung zur kultursemiotischen Raumtheorie von Lotman in Kap. 2.2.2 sowie die bereits genannten Passagen zum Erzählinteresse; Koschorke 2012, S. 50. Carstensen/Schmid 2016, S. 14. Ebd.

Rückblick

den Täuschungen gesellschaftlicher Raumbilder erzählt wird. Diese besondere Betonung der Neuheit und Wahrheit des Erzählten führt zum Auftauchen dieses eigentlich bekannten Wissens und dieser eigentlich bekannten Erzählungen in Sachund Unterhaltungsliteratur. Zugleich ist in der Form eine Vereinfachungstendenz gegenüber der langen Tradition zu erkennen. Betrachtet man nur die zeitlich nächsten Erzählungen vom Gang aufs Land, so ist bspw. in Sarah Kirschs Allerlei-Rauh ein Eindruck von Diskontinuität angelegt, da von vier Zeitpunkten aus erzählt – in der ungebrochenen Chronologie und der relativ einfachen epistemischen Ordnung der gegenwärtigen Umzugsgeschichten sind solche Komplexitäten nicht zu finden.4 Und diese Differenz besteht auch inhaltlich, so ist bei Kirsch im Erzählen über Landleben noch eine Warnung enthalten gegen »[d]ie feige Flucht in die sanften Utopien«.5 Die hier untersuchten Texte sind letztlich selbst solche »sanften Utopien«, da wenig Handlung erzählt wird und die am Ort zu überwindenden Hindernisse überschaubar sind. Die Umzugsberichte werden vielmehr erst durch das erzählte Wissen mit Bedeutung aufgeladen, wobei sowohl das erzählte Wissen als auch die entdeckten Raumbilder zumeist außerhalb der Texte bereits vorgeformt zur Verfügung stehen. Gerade in dieser Beobachtung zum Auftreten der Erzählungen vom Gang aufs Land in Sach- und Unterhaltungsliteratur steckt eine entscheidende Feststellung für eine Poetologie des Wissens über Land im 21. Jahrhundert, denn das so erzählte Wissen muss nicht neu sein, es muss vielmehr so ausgewählt und geordnet werden, dass es als neu behauptet werden kann. Durch die Umzugsgeschichten wird dann Kohärenz gestiftet, denn was sonst nur eine lose Sammlung von Anekdoten und Informationen wäre, wird erst durch die Umzugsgeschichten zu einer geschlossenen Erzählung und zu Wissen. So wird durch den Umzug sowohl die zeitliche, räumliche wie epistemische Dimension der Texte organisiert, was als zentrales Moment dieses Erzählens über Land erscheint: Als räumlicher und epistemischer Ausgangszustand wird ein vergangenes Leben in der Stadt eingeführt, lediglich bei Moor übernimmt die streng geordnete Schweiz die Funktion dieses Gegenraums. Fast immer wird das Geschehen nicht nur durch den Umzugsverlauf, sondern auch durch natürliche Sequenzschema wie den Jahreszeitenverlauf organisiert. Der allen gemeinsame 4 5

Vgl. Böthig, Peter: Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren, Berlin: Lukas Verlag 1997, S. 25f. Kirsch, Sarah: Allerlei-Rauh, in: dies.: Werke in fünf Bänden, Bd. 5: Prosa 2, hg. von FranzHeinrich Hackel, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2000, S. 7-100, hier: S. 99. In Allerlei-Rauh heißt es weiter: »nein, ich konnte mich auch nicht mit dem paradiesischen Zustand als Gedankenspiel für eine kurze glückliche Zeit befreunden«; ebd. Vielmehr wird die unendliche Dauer zyklischer Natur zur Last und so endet der Text nach der Schilderung des Eingebundenseins in ländlichen Zusammenhängen mit der Feststellung: »[I]ch bin dem Wechselhaften eingebunden, es scheint mir zu lange zu gehen.« Ebd. Den Hinweis auf die »sanften Utopien« verdanke ich Böthig 1997, S. 25f.

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

Zielpunkt ist ein gutes Leben auf dem Land. Dadurch, dass das Umzugsgeschehen selbst relativ erwartbar verläuft, wird die Bedeutung des Umzugs als epistemisches Erzählschema erkennbar, welches in dieser Studie und in Rückgriff auf den wiederkehrenden Abgleich mit etablierten Erzählungen als ›Ende der Täuschungen‹ oder ›Ent-Täuschung‹ gefasst wird. Erst diese Ent-Täuschung führt in allen untersuchten Büchern der ersten Gruppe zur ›wahreren‹ Erkenntnis über Land.6 Dabei geht es darum, »so enttäuscht zu werden, dass daraus nachhaltige Effekte für den praktischen Lebenswandel eines Menschen entspringen: Man ist hinterher ein Anderer«.7 Dann wird durch den Erlebnisbericht herausgestellt, welche Vorzüge das veränderte Wissen über Land bzw. die korrigierte kulturelle Raumordnung für das Subjekt hat. Das kann eine Transformation vom Individuum zur dörflichen Gemeinschaft meinen, in Abgrenzung zur städtischen Gesellschaft. Aber auch eine Erzählung von der eigenen Menschwerdung, die als Fortschritt, zugleich als Befreiung vom durch Kultur verstellten urbanen Leben erzählt wird. In diesen Zielpunkten unterscheiden sich die bisher untersuchten Bücher, ihnen sind ländliche Räume immer unterschiedliche Orte: Guten Lebens (Moor, Hochreither), ökologischen Lebens (Sezgin), der Heilung (Janson), der Idylle (Hochreither), von Freiheit (Moor) oder eben

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Michael Kauppert hat in seinen Beiträgen zur Biographieforschung den Zusammenhang von Erfahrung und Erzählung untersucht und dabei die Enttäuschung von Erwartungen als zentral für die Bildung und Erzählung von Erfahrung herausgestellt. Dabei unterscheidet er drei Erzählweisen dieser Enttäuschung: Erlebnisbericht, Bildungsgeschichten und Konversionserzählungen. Gerade durch die Identität von Protagonist und Erzähler gleichen die untersuchten Erzählungen dem Erlebnisbericht, in diesem »geht es um die Darstellung der Reorganisation eines Wissensvorrates, der für den Weltumgang eines Alltagssubjekts angemessen(er) erscheint«; Kauppert 2010, S. 117. Kauppert unterscheidet den Erlebnisbericht von Konversionserzählungen und Bildungsgeschichten, letztere »bestimmt sich […] weder von der Lebensalltäglichkeit her, wie der Erlebnisbericht, noch ist sie durch die ausdrückliche Abkehr davon motiviert, wie die Konversionserzählung […]. Es handelt sich demzufolge um Erzählsituationen, in denen die Selbstthematisierung auf der Suche nach dem durchlaufenden Faden des eigenen Lebensweges und dessen Einmündung in die Erzählgegenwart ausgerichtet ist.« Ebd., S. 117. Die Bildungsgeschichte hingegen hat »einen Offenbarungscharakter: Sie zeigt eine Welt (die Geschichte) und sie zeigt jemanden (den Protagonisten) in ihr. Sichtbarkeit wird damit zur elementaren Voraussetzung narrativer Selbsttransparenz. Bildungsgeschichten haben demnach eine sozialontologische Funktion. Sie entwerfen eine Welt und Figuren, die in dieser Welt vorkommen.« Ebd., S. 119. Bei aller Sichtbarkeit verdeckt die Bildungsgeschichte am Anfang den Endzustand und erscheint so als teleologisches Verfahren, dessen Ziel vom Erzähler immer schon gewusst wird, den Protagonisten und Lesern aber vorenthalten werden muss. Und über Konversionserzählungen heißt es, sie »sind Darstellungen von Wendepunkten im Lebenslauf«, in ihnen geht es »um eine für den Lebensvollzug eines Biographiesubjekts nachhaltig wirksam gewordene Neuorientierung im Lebenslauf. Demzufolge unterscheiden Konversionserzählungen zwischen zwei Zeithorizonten: die Phase vor der ›Kehre‹ und den Zeitraum danach«; ebd., S. 120. Ebd., S. 114.

Rückblick

auch verschwundener Raum hinter kultureller Verklärung (Reichert, Brüggemann). Die Bücher von Reichert und Brüggemann bilden dabei Sonderfälle, da hierin auch Strukturprobleme wie der Leerzug ganzer Regionen oder die existenzielle und gefährdende Bedeutung von EU-Subventionen erzählt und damit kulturkritische Perspektiven auf ländliche Räume eröffnet werden. Aber auch in diesen Büchern wird die Erzählung vom Umzug als Sequenzschema verwendet und es sind wie alle anderen Geschichten solche von der individuellen Erkundung und Erkenntnis eines gesellschaftlich fremdgewordenen Raums. Ein konstantes Merkmal dieser Erkenntnisgeschichten ist, dass durch den ständigen Rekurs auf etablierte Raumbilder die Bücher letztlich Einschreibungen in den gesellschaftlichen Wissensvorrat über Land sind, der in den Texten immer wieder in kulturellen Raumbildern und -konstruktionen zum Ausdruck kommt und dann durch Erfahrung korrigiert wird. Indem die Erzählungen damit immer ein ›wahrer als‹ transportieren, werden die tradierten Bilder als Erkenntnishemmnisse formuliert und haben daher neben ihrer narrativen und epistemischen noch eine argumentative Dimension. So wird gerichtetes Wissen produziert. Trotz dieser Absagen an Tradition sind die Erzählungen zumeist in kulturell tradierten Narrativen über Land verfasst, insbesondere denen der Idylle, Landnahme, Eroberung, kolonialen oder evolutionistischen Narrativen von der Vervollständigung der Person am unbekannten Raum. Diese Anbindung an erzählerische Traditionen steigert die Integrationskraft des Erzählens, darauf ist gerade die eher inhaltsarme populäre Sach- und Unterhaltungsliteratur angewiesen. Aus diesem imitativen ›more of the same‹ sind auch die unübersehbaren Konvergenzen zwischen den Büchern zu verstehen, die letztlich auch als Effekt der langen Tradition des Erzählens über ländliche (Sehnsuchts-)Orte gedeutet werden. Diese Gemeinsamkeiten des Erzählens und des Erzählten führen letztlich auch zur hier angestrebten Identifikation eines neuen Umzugsnarrativs, welches aber erst im Gesamtfazit dieser Untersuchung nach der zweiten Untersuchungsgruppe genauer in den Blick genommen wird. Die hier bereits dargestellten Varianten der Umzugserzählungen und ihrer erzählten Räume verhindern letztlich nicht die Bildung eines solchen Narrativs, sondern steigern letztlich seine Integrationskraft. In den folgenden Abschnitten werden einige Besonderheiten der erzählten Erkenntnis zusammengefasst. Wie bereits deutlich wurde, sind die erzählten Erkenntnisse und das erzählte Wissen gerade dadurch geprägt, dass diese Umzüge immer wieder in autobiographischen Berichten oder zumindest durch einzelne Figuren erzählt werden. So werden die subjektive Erfahrung und Raumvermessung als entscheidende Mittel der Erkenntnis ländlicher Räume markiert. Vermessung meint hier nicht nur auf räumlicher, sondern auch sozialer, emotionaler wie auch kognitiver Ebene. Diese individuelle Erkenntnis ist das letzte von drei Elemente, dieser Erkenntnisgeschichten: 1. Der Ausgangszustand städtischen Unwissens, im populären Sachbuch ist es »genau diese inszenierte Unwissenheit, die den Ausgangspunkt der Berichte markiert und

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

Spannungen hinsichtlich der Entwicklung des Narrativs aufbaut«.8 2. Dann der Abgleich mit anderen Wissensbeständen. Durch die regelmäßige Integration von Bildern der Politik, Demographie, Landlust-Diskurs und literarischer Tradition wird die individuelle Erfahrung zum holistischen Gegenentwurf zu gegenwärtig und historisch verbreiteten Darstellungen von Ländlichkeit. 3. Erkenntnis wahrer Ländlichkeit, die nur aus individueller Erfahrung entsteht. Diese Bedeutung von Erfahrung kommt bspw. darin zum Ausdruck, dass das Gefühl von Einheit mit dem Raum häufig erst durch praktische Tätigkeiten im Raum errungen wird, seien das Gartenbau, Tierpflege oder Spaziergänge durch den neuen Lebensraum. Mit Erfahrung ist also in den meisten Fällen ein Wirken am Raum gemeint. Da diese Handlungen oder dieses Arbeiten immer wieder als notwendige Effekte des Verlaufs von Umzug oder Jahreszeiten erzählt werden, wird auch das hierbei erworbene Wissen ›naturalisiert‹, also von dem Vorwurf individueller Auswahl und Konstruktion befreit. Auch der Erwerb von Wissen und Kompetenz wird als Reaktion auf Herausforderungen des Raumes erzählt, so führen bspw. bei Sezgin das erste Scheitern bei der Pflege von Tieren zum Informieren beim Nachbarn oder Tierarzt, bei Moor das Scheitern an der Mahd der Wiese notwendig zum Erwerb spezifisch ländlicher Kleidung und Gerätschaften. Ein weiteres Beispiel naturalisierenden Erzählens ist, dass die historische Dimension des Raumes nicht geplant erforscht wird, sondern sich häufig in der Begegnung mit einzelnen Figuren entfaltet, deren Lebensgeschichte eng mit der von Ort oder Region verbunden sind, seien das Schwester Alma oder Krüpki bei Moor, Dorle bei Sezgin oder die Johann van Sieck in Jansons Roman. Auf diese Weise wird die Bedeutung der eigenen Entscheidungen und des Erzählens negiert, der Erzähler ist zwar Subjekt der Erfahrung, aber nicht ihr Auslöser. Die Umzugserzählung wird vom individuellen Erleben erhoben, objektiviert und damit als Äquivalent zum Experiment der Wissenschaft vorgestellt.9

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Türke 2018, S. 386. Eine weitere Deutung liegt nahe, wenn man den Ausführungen des Historischen Wörterbuchs der Philosophie folgt, in dem die besondere Bedeutung des Erlebens bzw. Erlebnisses nachzulesen ist. Erleben ist da durch eine spezifische Unmittelbarkeit und damit durch den Ausschluss subjektiver Konstruktionen bestimmt: »›Erleben‹ heißt zunächst ›noch am Leben sein, wenn etwas geschieht‹. Von daher trägt das Wort den Ton der Unmittelbarkeit, mit der etwas Wirkliches erfaßt wird, die keiner fremden Beglaubigung bedarf und aller vermittelnden Deutung vorhergeht. Das Erlebte ist stets das Selbsterlebte, dessen Gehalt sich keiner Konstruktion verdankt. Zugleich bezeichnet die Form ›das Erlebte‹ solches, was im Fluß des unmittelbaren Erlebens als der aus ihm ermittelte Ertrag Dauer und Bedeutsamkeit für das Ganze eines Lebenszusammenhangs gewonnen hat. Beide Bedeutungsmomente erscheinen in der Wortprägung ›E.‹ in verdichteter Weise produktiv vermittelt: zum E. wird ein Erlebtes, sofern es nicht nur schlicht erlebt wurde, sondern sein Erlebtsein einen besonderen Nachdruck hatte, der ihm bleibende Bedeutung sichert. Im E. ist der Erlebende aus dem Trivialzusammenhang seines ›sonstigen‹ Erlebens herausgehoben und zugleich bedeutsam auf das Ganze seines Daseins

Rückblick

Diese Enttäuschung hat aber nicht nur eine epistemische, sondern auch eine entscheidende narrative und raumproduzierende Funktion, da letztlich nicht die Autoren oder Figuren an der ländlichen Realität scheitern, sondern die kulturell umlaufenden Raumbilder. Für die Figuren ist dieses Scheitern immer nur ein kurzer Rückschlag, der den Fortlauf der Handlung nicht behindert, sondern neu orientiert: In diesem ländlichen Raum passiert letztlich niemandem etwas, denn alle Rückschläge werden schnell abgefedert und so zu Gefährdungen niedriger Lage, die Kraft eigenen Wollens zu überwinden sind. Diese Erzählungen vom Scheitern ohne Auswirkungen erinnern gewissermaßen an Foucaults Utopiebegriff, in welchem die Utopie ein »Land der Feen« ist, ein »Ort jenseits aller Orte«, »in dem man von einem hohen Berg stürzen kann und dennoch heil unten ankommt«.10 An diesen Ausführungen zur erzählten Erkenntnis ist zu sehen, dass als eigentliches Ereignis der Bücher letztlich nicht mehr nur der erfolgreiche Umzug zu deuten ist, sondern die Erkenntnis einer Wahrheit des Raumes: Landleben ist Arbeit, IdylleErzählungen sind Täuschungen, es gibt eine spezifische ländliche Alltäglichkeit, die man kennen muss, will man auf dem Land leben. Diese Sammlung einzelner Wahrheiten wird hier gedeutet als Erkenntnis, dass es Leben auf dem Land abseits kultureller Erzählungen von Schrecken oder Freuden des Landlebens gibt: Eine ländliche Normalität. Das ist der nächste Kernpunkt der bisher herausgearbeiteten Poetologie des Wissens: Nachdem es erst durch die Umzugserzählung möglich wurde, den ländlichen Raum zur Fremde zu machen, kann seine Entdeckung als belebbarer, normaler Raum als Ereignis erzählt werden. Erkennt man diese ländliche Normalität an und wird erfolgreicher Landbewohner, ist eine normalisierte, abgeschwächte, aber tatsächlich lebbare Idylle erreicht. Insofern ist die Erkenntnis von Normalität auch eine Normalisierung von Idyllen, die so nicht mehr außerhalb aller Ordnung stehen müssen. Das kommt darin zum Ausdruck, dass die Protagonisten nicht mehr den ungestörten locus amoenus der Idylle entdecken, sondern einen ländlichen Raum der Normalität und Alltäglichkeit, der eben auch aus Technoparties, toten Tieren oder schlechten Straßen besteht. So wird das Repertoire idyllischen Erzählens erweitert, indem die Erzählung vom locus amoenus mit einer abgeschwächten Variante des locus horribilis/terribilis vereinbar gemacht wird. Auf diese Weise erfolgt die Rückführung des verlorenen ruralen Raumes in den gesellschaftlichen Innenraum der Normalität. Für diese Neuorganisation der Raumordnung wird der Anfangszustand benötigt, in welchem der ländliche Raum der (städtischen) Gesellschaft zum Ort außerhalb der Ordnung geworden ist.

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bezogen.« Cramer, Konrad: Erleben, Erlebnis, in: J. Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel: Schwabe Verlag 1972, Sp. 702-711, hier: Sp. 703f., Hervorh. H. S. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2005, S. 26.

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Vom Verstehen – Analyse der ersten Untersuchungsgruppe

Diese Abschwächungen sind auch ein Ergebnis der von Albrecht Koschorke identifizierten Leistung des Erzählens, »Abweichungen durch erzählende Ausdeutung zu ›normalisieren‹«,11 und damit ein Indiz für die Funktion dieser Literatur für den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit (fremdgewordenen) ländlichen Räumen: die zwischen locus horribilis und Landlust-Diskurs schwankenden Raumbilder zu normalisieren. Zudem erfüllen, wie bereits im Kapitel zu Theorie und Methode herausgearbeitete wurde, Normalitäten historisch »die wichtige Funktion einer Versicherung moderner Kulturen gegen die Risiken des (symbolisch) exponentiellen Wachstums der Moderne«.12 Die so entstehenden normalisierten Idyllen sind unabhängig von ihrer Übereinstimmung mit den Tatsachen leichter zu kommunizieren und als (historische) Fixpunkte zu etablieren als ›reine‹ Idyllen. Dass diese Normalisierung gerade in Sach- und Unterhaltungsliteratur erzählt wird, ist als formale Entsprechung ihrer gattungsgemäßen Abschwächungstendenzen und des Hangs zu vereinfachten Bildern zu verstehen. Gerade Sach- und Unterhaltungsliteratur sind in der Lage, solcherart Normalität zu behaupten, da sie als normalistische Massenmedien verstanden werden können, die eine wichtige gesellschaftliche Funktion innehaben: Damit sich die Individuen moderner Massengesellschaften an statistischen ›Landschaften‹ orientieren und ihr Verhalten eventuell normalisieren können, müssen wichtige statistische Daten und Trends öffentlich verbreitet werden. Das geschieht durch normalistische Massenmedien und Narrative, darunter auch künstlerische im weiten und im engen Sinne.13 Solche normalistischen Massenmedien und Narrative produzieren also Bilder zur Orientierung und zugleich zur Legitimierung von Wissen. Als Abschluss dieses Unterkapitels wird eine Strategie beispielhaft zusammengefasst. Eine in fast allen Büchern genutzte Strategie zur Legitimierung der erzählten Wissensbestände ist die Nutzung von Intertexten. Die Intertexte werden in den bisher analysierten Erzählungen entweder direkt als Wissens- und Autoritätsspeicher oder als Zugang zum Diskurs vorgestellt, in welchen die Autoren sich stellen. Im ersten Fall wird also die Autorität der Texte, im zweiten die der Diskurse genutzt, um das eigene Wissen als wahr und relevant zu kennzeichnen. Diese Auseinandersetzungen mit dem bestehenden Wissen sind auch als Beweise des eigenen Erfahrungshorizonts zu verstehen, die Erzähler gerieren sich so als Autoritäten. Solche Funktionen treten neben die bereits in den Einzelanalysen herausgearbeiteten Absichten, das Zielpublikum zu definieren und anzusprechen, sowie den Text in die

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Koschorke 2012, S. 315. Ebd., S. 202. Link, Jürgen: Normalismus, in: Borgards, Roland u.a. (Hg): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 202-207, hier: S. 203.

Rückblick

Tradition des Schreibens über Land einzuordnen, was letztlich eine Variation der hier vorgestellten Autorisierungstechniken ist. Die wichtigste Funktion der Intertexte ist also, dass die Autorität der Traditionen und Diskurse durch individuelle Erfahrung hinterfragt und negiert wird.14 Dabei ist festzustellen, dass durch die Intertexte selten neue Informationen eingeführt werden, sie werden den eigenen Erfahrungen beigestellt und dienen daher mehr als Stabilisatoren für das behauptete Bild vom ländlichen Raum als dass sie selbst an der Produktion imaginärer Ländlichkeiten beteiligt werden. Dieser Blick auf die Intertexte kann nur ein Beispiel für das reichhaltige Repertoire von Textstrategien sein, welches bereits in den Einzelanalysen herausgearbeitet wurden. Nach diesem ersten Rückblick auf die bisher untersuchten Texte ist für eine Poetologie des Wissens über Land zusammenzufassen, dass allein das Auftauchen ländlicher Räume in den Umzugserzählungen der Sach- und Unterhaltungsliteratur nicht nur ein entscheidendes Indiz dafür ist, dass der rurale Raum zum Wissensobjekt wurde, sondern auch dafür, wie dieses Objekt durch das erzählte Wissen gestaltet wird. Dabei wurden unterschiedliche erzählerische Strategien herausgearbeitet, die sämtlich in der Umzugserzählung als narrativer Metastrategie aufgehoben sind. In diesen Analysen zur ersten Untersuchungsgruppe wurde bereits mehrfach angedeutet, dass die Umzugserzählung selbst als aktuellstes Narrativ über Landleben gedeutet wird – diese Vermutung gilt es nun in den Analysen zur zweiten Untersuchungsgruppe zu überprüfen, denn hier wird das Narrativ selbst zum Gegenstand.

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Wie bereits in der Analyse gezeigt, nutzt bspw. Martin Reichert den beschriebenen Effekt durch seine Bezugnahme auf Wandrers Nachtlied (1815), wenn er die erste Zeile des zweiten Teils (Ein Gleiches), sprachlich angepasst, als Überschrift nutzt: »Über allen Wipfeln Ruhe« (LL, 92) und dann im Kapitel mit dem Krach von Rasenmähern konterkariert, denn »der wahre Klang des Sommers, das ist der Rasenmäher.« (LL, 92) Der Intertext dient auch hier sowohl der Erzeugung von Aufmerksamkeit und Komik als auch dazu, die eigene Erfahrung hervorzuhaben – als wahrer als die Tradition. Eine andere Verwendungsweise ist bei Sezgin zu beobachten, sie formuliert mit ihren Verweisen auf idyllische Dorf-Erzählungen keine Absage an die Idylle, sondern bindet sie als longue durée-Perspektive in ihre Erzählung ein: Die Intertexte wirken dann sowohl als Motivation für den Umzug wie als Vorlage und Spiegel für die ästhetische Ausgestaltung des eigenen Landlebens. Das Dorf der Literatur wird als Vergleichswert zu den eigenen Erfahrungen aufgerufen, wodurch die Bedeutung vom Schreiben über Land, also auch von Sezgins Landleben hervorgehoben wird. Die Verbindung der Sehnsuchts- und Kindheitsvorstellungs-Motive verknüpft die individuellen mit kulturellen Vorstellungen von Landleben, immer wieder werden intertextuelle und -mediale Bilder mit einem möglichst hohen Bekanntheitsgrad verwendet, um maximale Anschlussfähigkeit bzw. Nähe zur Erfahrungswelt der Leser zu generieren.

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III Vom Scheitern – Analyse der zweiten Untersuchungsgruppe

Vorbemerkungen

Die Relevanz bisher untersuchten Texte für den Diskurs der ›Lust auf Land‹ ist insbesondere an ihrer kurzfristigen literarischen Wirksamkeit abzulesen. So treten seit Erscheinen der zuvor analysierten Texte in Büchern von Autoren wie Juli Zeh, Dörte Hansen oder Enno Stahl Figuren auf, die von der Stadt aufs Land ziehen. Dieser Transformationsprozess des gesellschaftlichen Phänomens der ›Lust auf Land‹ über Sach- und Unterhaltungsliteratur in Romane steht nun im zweiten Teil der Untersuchung zur Analyse. Betrachtet man den Zusammenhang von Verfassern und Texten, fällt auch hier auf, dass viele der Autoren seit Jahren selbst auf dem Land leben. Zwar handelt es sich nicht um autobiographische Texte im engeren Sinn, es ist aber auch hier ersichtlich, dass die eigenen Erfahrungen zur Aufklärung über Landleben anregen. Legt man nun Paul de Mans Definition der Autobiographie zugrunde, wonach diese »keine Gattung oder Textsorte [ist], sondern eine Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt«,1 so sind auch die Texte von Zeh und Hansen strukturell als autobiographische Texte anzusehen. Beide Autorinnen haben ihre Texte wiederholt durch Aussagen in Interviews zu autobiographischen Dokumenten gemacht. Solche Paratexte sind, wie schon in den Beispielen der ersten Untersuchungsgruppe, letztlich als Autorisierungsstrategien zu verstehen, da versichert wird, dass in den Büchern durch eigene Erfahrung akkumuliertes Wissen über Land vermittelt wird. So beantwortete Juli Zeh die Frage eines Interviewers, ob ihr 2007 erfolgter Umzug aufs brandenburgische Land Schreibanlass für Unterleuten war, folgendermaßen: Ja, das war im Jahr 2007 und ein großer Einschnitt. Ich bin auf dem Land erstmal mit sehr vielen Situationen konfrontiert worden, die mich sehr überrascht haben. Eine völlig andere Welt, in die ich als Städterin eingetaucht bin, und feststellen musste, wie wenig Ahnung ich vom Landleben habe. Als Schriftstellerin verarbeite ich immer eigene Erfahrungen, auch wenn man sich natürlich vieles dazu aus-

1

De Man, Paul: Autobiographie als Maskenspiel, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 131-146, hier: S. 134.

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Vom Scheitern – Analyse der zweiten Untersuchungsgruppe

denkt, oder überspitzt. Bei einigen Autoren fußt die Arbeit auf Recherche, beim mir ist es eher das Erlebte.2 Im selben Interview stellt Zeh dann kulturanalytische Beobachtungen über die neue Lust auf Land an und bindet daran poetologische Prinzipien des Schreibens von Unterleuten: Aus meiner Sicht ist das ganz eindeutig eine Fluchtbewegung. Das ist auch ein Teil dessen, was ich mit einem Gesellschaftsroman abbilden möchte, dieses Gefühl, dass sich sehr stark verbreitet hat, dass wir in der heutigen Welt nicht mehr klarkommen, überfordert sind, dass wir raus wollen, es aber kein ›raus‹ mehr gibt. Weil die Entwicklung dazu geführt hat, dass Kultur immer flächendeckender wird, das Exotische immer weniger vorhanden ist und der Weltinnenraum langsam zum Gefängnis wird. Man müsste dann schon zum Mond fliegen, damit es wirklich anders aussieht. Mit diesem Gefühl entdecken die Leute dann die Provinz, die neue Exotik, den neuen Fluchtort, die neue Sehnsucht. Auch wenn sie vielleicht nur ein paar Kilometer von der eigenen Haustür entfernt liegt.3 Neben diesem Nahexotismus und Eskapismus wird im Interview als ein zweiter Schreibanlass herausgestellt, dass Traum und Realität nur selten Konvergenzen aufweisen, wodurch das Scheitern dieser Träume über Land letztlich unausweichlich ist, da sie als Wünsche die ländliche Realität überschreiten, »[d]ann zielen die Wünsche nicht mehr auf einen konkreten Lebensentwurf, sondern auf etwas, was nicht sein kann.«4 In diesen utopischen Imaginationen ländlicher Räume als Entlastungsraum und ihren gesellschaftlichen Auslösern sieht Zeh letztlich das gesellschaftsanalytische Potenzial, das Unterleuten zu einem Gesellschaftsroman macht. Und auch Dörte Hansen stellt im Interview die Untersuchung der Diskrepanz medialer und realer Ländlichkeiten in den Mittelpunkt ihres Schreibens über Land: »Ich komme vom Land, ich lebe wieder auf dem Land und fragte mich: Warum ist das Bild vom Landleben so merkwürdig?«5 Auch wenn (oder gerade weil) diese Texte als Beobachtungen zweiter Stufe einzuordnen sind, werden die in ihnen enthaltenen Imaginationen über Land bereits paratextuell durch Wissen autorisiert. Neben dieser Parallele zur ersten Untersuchungsgruppe steht die zweite Beobachtung, dass die Umzugserzählung mitsamt

2

3 4 5

Tigchellar, Klaas: Juli Zeh. Wir sind als Gesellschaft momentan leicht angeknackst, in: Planet Interview 31.3.2016, URL: https://www.planet-interview.de/interviews/juli-zeh/48657/ [Zugriff am 5.5.2019]. Ebd. Ebd. dpa: Bestseller-Autorin Dörte Hansen surft die Welle, in Süddeutsche Zeitung, 30.7.2016, URL: www.sueddeutsche.de/news/kultur/literatur-bestseller-autorin-doerte-hansen-surftdie-welle-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150730-99-02771 [Zugriff am 5.5.2019].

Vorbemerkungen

ihrer Motive und Figuren aufgenommen und literarisch verarbeitet wird. Daran ist zu erkennen, dass schon mit den Büchern der ersten Untersuchungsgruppen maßgebliche Transformationsleistungen des außerliterarischen Landlust-Diskurses in eine erzählerische Form erbracht wurden. Die Bücher beider Gruppen sind gleichberechtigte Gegenstände der in dieser Studie untersuchten Poetologie des Wissens über Land am Beginn des 21. Jahrhunderts.

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1. Juli Zehs Unterleuten

›Es ist nicht einfach mit dem einfachen Leben, das werden die auch noch merken.‹ 1 Juli Zehs Roman Unterleuten (2016) wird durch den Untertitel als Gesellschaftsroman markiert, womit die Individualgeschichte der Erfahrungsberichte durch ein Nebeneinander mehrerer Handlungsstränge abgelöst wird und der Anspruch der Gattungstradition einhergeht, »die ganze Gesellschaft seiner Zeit modellhaft darzustellen«.2 Ursprünglich Typus eines europäischen Romans des Realismus’ im 19. Jahrhundert versucht der Gesellschaftsroman, die ganze Welt als soziale Welt (und nicht mehr als religiös geordnete oder moralische Welt) darzustellen. […] Die symbolischen Ordnungen der Romanwelten werden durch Kombinationen von semantischen Oppositionen so organisiert, dass modellhafte Durchblicke auf die Totalität der ganzen Gesellschaft möglich werden – häufig in kritischer Perspektive. Innerlichkeit und Privatleben erscheinen als sozial vermittelt. Eine große Breite der Gesellschaftsdarstellung wird oft panoramatisch, d.h. durch ein umfangreiches Figurenspektrum und eine Vielzahl von Schauplätzen, erreicht.3 Zudem muss, da Unterleuten in einem (gleichnamigen) Dorf angesiedelt ist, auch die Tradition des Dorfromans bei der Lektüre mitgedacht werden, wonach »[d]er Mikrokosmos Dorf […] der Erklärung des Makrokosmos bürgerliche Gesellschaft«4 dient. Der dafür notwendige Eindruck der Vollständigkeit wird primär dadurch erzeugt, dass das Geschehen durch eine wechselnde interne Fokalisierung aus der 1

2 3 4

Das Zitat ist der Verfilmung von Unterleuten entnommen und konnte im Buch nicht nachgewiesen werden. Im Film wird es bei der zentralen Versammlung von Arne Seidel ausgesprochen Es ist ein Beispiel dafür, wie im Film die Frage nach Möglichkeiten guten Lebens auf dem Land stärker betont wird als in der literarischen Vorlage, wodurch die im Buch sehr präsente kapitalismusskeptische Haltung abgeschwächt wird. Damit ist es ein Beispiel für die thematische Engführung der für Verfilmungen typischen Popularisierungsprozesse. Auerochs, Bernd: Gesellschaftsroman, in: Burdorf, Dieter u.a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur, 3. völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 286. Ebd. Wild 2011, S. 69.

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Sicht verschiedener Akteure des 250 Einwohner umfassenden Dorfes erzählt wird: Bürgermeister, Zugezogene, Bauern, Investoren und Alteingesessene betrachten das Geschehen, die Auswahl erscheint als Querschnitt der Stimmen des Dorfes. Hier sind schon zwei Beobachtungen für eine Poetologie des Wissens angelegt: Erstens ist in diesen beiden Gattungsbezügen eine Komplexitätsbehauptung über ländliche Räume angelegt, die in eine gesteigerte Komplexität der Darstellung mündet. Zweitens scheinen am Beginn des 21. Jahrhunderts ländliche Räume und besonders Dörfer als vereinfachte Erklärungsmodelle für zu komplex gewordene gesellschaftliche Zusammenhänge zu dienen.5 Thematisch aktualisiert Zeh die Gattung des Dorfromans, inden sie statt von expandierender Industrialisierung, Ende des 19. Jahrhundert maßgebliches Thema der frühen Dorfromane, in Unterleuten von einem breiten Spektrum an Fragen rund um Individualisierung, Energiewende, Neoliberalismus, Digitalisierung und die Transformation von Solidarität und Kollektiven im Übergang vom 20. (»Epoche des kollektiven Wahnsinns«6 ) ins 21. Jahrhundert (»Zeitalter bedingungsloser Egozentrik« (UL, 615)) erzählt.7 Zeh schildert in Unterleuten die damit einhergehende 5

6 7

Durch diese Konstellation, in welcher der ländliche Raum pars pro toto für Gesellschaft steht, wird eine enge Verbindung lokaler und globaler Prozesse behauptet. Diese Verbindung schließt an das Konzept der Glokalisierung an, mit welchem ein gleichzeitiges Neben- und Miteinander lokaler und globaler Prozesse behauptet und der Annahme widersprochen wird, Globalisierung würde lokale Besonderheiten einfach beenden. Das Konzept geht insbesondere auf den Soziologen Roland Robertson zurück, im deutschen Sprachraum auf Zygmunt Bauman. Zur Bedeutung der Verschränkung beider Dimensionen in Zehs Unterleuten vgl. Klocke, Sonja: Die Provinz als Austragungsort globaler Probleme. Juli Zehs Unterleuten (2016), in: Neuhaus, Stefan/Nover, Immanuel (Hg.): Das Politische in der Literatur der Gegenwart, Berlin: de Gruyter 2019 (Gegenwartsliteratur), S. 497-514, hier: S. 510-512. Eine Darstellung des Dorfes als Modell hat seit der Herausbildung des Dorfes als Topos der Literatur Tradition, sodass immer wieder »[d]ie kleine und überschaubare ›Dorfgemeinschaft‹ […] zum Modell des unübersichtlich Großen« wurde; Langthaler, Ernst/Sieder, Reinhard: Die Dorfgrenzen sind nicht die Grenzen des Dorfes. Positionen, Probleme und Perspektiven der Forschung, in: dies. (Hg): Über die Dörfer: Ländliche Lebenswelten in der Moderne, Wien: Turia und Kant Verlag 2000, S. 7-30, hier: S. 10. Zeh, Juli: Unterleuten, 3 München: Luchterhand 2016, S. 614. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle UL im Fließtext nachgewiesen. Unterleuten steht hier stellvertretend für eine Reihe von Büchern, die gesamtgesellschaftliche Fragen auf dem Dorf verhandeln. Dazu zählen Saša Stanišićs Vor dem Fest (2015), in dem der kollektive Dorfgeist die Geschichte einer Nacht erzählt, oder auch Bernd Schroeders Auf Amerika (2014). In Letzterem wird ein Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit an der – seit Beginn der Urbanisierung – drängendsten Frage zum Landleben erzählt: Bleiben oder Gehen? In Bastian Asdonsks Mitten im Land (2016) zieht der namenlose Erzähler von der Stadt aufs Land, um dort die Brüchigkeit der erwarteten Idylle zu entdecken und als Symbol für einen gesamtgesellschaftlichen Rechtsruck und Konservatismus zu erkennen. Und auch in Andreas Mosters Wir leben hier, seit wir geboren sind (2017) ist die dörfliche Gemeinschaft kein Garant für Sicherheit und Glück mehr, sondern für Kontrolle, Überwachung und Gewalt. Längst ist in

Zeh – Unterleuten

Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie des Subjekts in der Spätmoderne und leistet so am Dorf eine Gesellschaftsanalyse.8 Wie deren Ausgestaltung in Inhalt und Form realisiert wird, ist Schwerpunkt der weiteren Analyse im folgenden Unterkapitel. Dabei sind, wie in allen Texten der zweiten Untersuchungsgruppe, die Fragen entscheidend, inwiefern der Umzug aufs Land anders als in den bisher untersuchten Büchern erzählt wird und welche Veränderungen sich daraus im Hinblick auf das erzählte Wissen und die erzählten Räume ergeben.

1.1 Inhalt und Form Die oben nachgezeichnete Themenvielfalt des Romans wird aus dem zentralen Ereignis der Handlung entwickelt: Dem Plan der Investment-Firma Vento Direct GmbH, in der Nähe des brandenburgischen Dorfes Unterleuten zehn Windkraftanlagen zu errichten. Der Streit entbrennt an einem zwei Hektar großen Flurstück, das der aus Berlin zugezogenen Pferdewirtin Linda Franzen gehört und von allen Landeignern benötigt wird, um für den Bau der Windanlagen ein zusammenhängendes Flurstück zur Pacht anbieten zu können. Die Gründe, welche für oder gegen den Bau sprechen, sind vielfältig und entzweien das Dorf schnell: Bürgermeister Arne Seidel will die leeren Kassen der Gemeinde für notwendige Sanierungen füllen; Bauer Gombrowski, Sohn eines in der DDR enteigneten Großgrundbesitzers und Chef des wichtigsten Arbeitsgebers des Dorfes, der Ökologica GmbH, sieht die Pacht-Einnahmen als finanzielle Absicherung des Unternehmens; Kron nimmt die Windräder als letztes Zeichen kapitalistischer Landnahme und das Ende des Dorfes wahr. Durch die so entstehende Auseinandersetzung kommt der zwanzig Jahre zurückliegende Tod Erik Kesslers wieder ins Gedächtnis des Dorfes zurück, gemeinsam mit der Erkenntnis, dass es sich dabei um Mord gehandelt hat. Eng

8

diesen Romanen das Dorf nicht mehr heile Welt, sondern es wird ein Ort des Nebeneinander beschrieben, gutes Leben ist möglich, schließt Gewalt aber nicht aus. In fast allen genannten Fällen wird die literarische Analyse dörflicher Strukturen letztlich zur Reflexion über gesellschaftliche Transformationsprozesse insgesamt. Zumindest ähneln die Themen solchen Gesellschaftsanalysen. Richard Sennett hat dem Typus des getriebenen Menschen im Spätkapitalismus eine »endlose Suche nach Anerkennung durch andere und nach Selbstachtung« zugeschrieben; Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 8 Berlin: Berliner Taschenbuch-Verlag 2010, S. 141. Zeh behandelt damit Themen, die sie in ihrem Engagement als öffentliche Person schon seit Jahren betont, sodass die Analyse des politischen Gehalts naheliegt. Dieser Aspekt wird hier jedoch ausgespart, da er bereits an anderer Stelle hinreichend diskutiert worden ist. Vgl. dazu Klocke 2019, S. 497-514; Preußer, Heinz-Peter: Zeh, Juli. Unterleuten, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Kindlers Literatur-Lexikon, 3., völlig neu bearb. Aufl., aktualisiert mit Artikeln aus der Kindler-Redaktion, Stuttgart/Weimar 2009, URL: www.kll-online.de [Zugriff am 13.5.2018].

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darin verstrickt sind Gombrowski, Kron und der KFZ-Mechaniker Bodo Schaller, welcher am Beginn des Romans nach einem Unfall mit Gedächtnisverlust ins Dorf zurückkehrt und sich erst langsam daran erinnert, dass er als Schläger für Gombrowski tätig war. In der Mitte des Romans verschwindet Krons Enkelkind, es kommt zu weiteren wechselseitigen Beschuldigungen. Die Auseinandersetzungen enden erst mit Grombrowskis Selbstmord, der sich in einem Akt der Verzweiflung über die Undankbarkeit des Dorfes in der Wasseranlage des Dorfes die Pulsadern aufschneidet, sodass sein verwesender Körper das Trinkwasser des Dorfes vergiftet. Die Handlung beginnt unvermittelt mit einem Gespräch zwischen Gerhard Fließ und Jule Fließ-Weiland, einem aus Berlin zugezogenen Paar, welches sein Haus nicht verlässt, seitdem der Nachbar Bodo Schaller auf seinem Hof Müll verbrennt und damit das Versprechen guter Landluft und die Erwartung ländlicher Idylle ad absurdum führt. Schon in diesem ersten Kapitel prallen städtische Erwartung und ländliche Realität aufeinander, wobei sich letztere aber bald als eine nicht räumliche, sondern soziale Realität herausstellt. Im Roman geht es immer wieder um solche Diskrepanzen, aber eben auch um die Lebensentwürfe zweier zugezogener Paare. Diese Zugezogenen sehen in der Krise um die Windräder ihre Chancen, im nun erodierenden Dorfgefüge neue Positionen einzunehmen. Ihr Ankommen wird dann als Geschichte von der Erkenntnis erzählt, dass der ländliche Raum nicht außerhalb der ›neoliberalen Kampfzone‹ liegt, sondern ein Teil davon ist. Schon an diesem Überblick zur Handlung ist zu erkennen, wie mit Windkraft, Neoliberalismus und Individualismus am Dorf zentrale Themen der Gegenwartsgesellschaft behandelt werden. Insofern ist der imaginäre ländliche Raum als ein symbolischer Ort strukturiert, der für eine ländliche wie gesamtgesellschaftliche Realität steht. Ein entscheidender Aspekt dieses Spiels mit Realität und Fiktion wird erst im Epilog aufgelöst, in welchem die Journalistin Lucy Finkbeiner sich als Erzählerin vorstellt. Sie habe vom Selbstmord Gombrowskis in der Zeitung gelesen und dann nach ihren Recherchen die eben gelesene Geschichte geschrieben. Finkbeiner behauptet, 41-mal in Unterleuten gewesen zu sein und erzählt vom Weiterleben der Figur nach dem Romanende (vgl. UL, 628-634). Auffällig ist der hintenangestellte Hinweis zur Verfremdung des Dorfes aus Datenschutzgründen, der an Sachbücher wie Moors oder Sezgins Umzugserzählungen erinnert: »Den Namen des Dorfs musste ich ändern, ebenso die Namen von lebenden Personen, soweit diese darauf bestanden.« (UL, 629) Diese Rahmenerzählungsstruktur scheint schon innerhalb des Romans mehrfach durch, sie ist bspw. an der Sprache zu erkennen, die von journalistischer Nüchternheit geprägt ist und keine Regio- oder Soziolekte der einzelnen Figuren abbildet.9 9

Vgl. Moser, Natalie: Dorfroman oder urban legend? Zur Funktion der Stadt-Dorf-Differenz in Juli Zehs Unterleuten, in: Marszalek, Magdalena/Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.), Über

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Der mit der Rahmenstruktur einhergehende Distanzierungseffekt wird durch die am Beginn jedes Abschnitts stehenden, thematisch zugeordneten Zitate verstärkt. Zeh nutzt Zitate ihrer fiktiven Figuren und gibt ihnen damit Verfügungsgewalt über die Deutung des Textes.10 Solche Textmottos sind als Einstimmung auf die Textwelt und zugleich als eine besondere Art der Kommunikation zwischen Autorin und Lesenden zu verstehen.11 Da hier Zitate fiktiver Figuren genutzt werden, können die Texte auch als Kommentar zum einen auf die Tradition der Textmottos, zum anderen auf die Authentifizierungs-Strategien der Sachbücher gelesen werden.12 Diese Mottos stehen als Interpretationshilfe vor jedem Abschnittsbeginn, eins zusätzlich vor dem eigentlichen Textbeginn: »›Alles ist Wille.‹/Manfred Gortz« (UL, 5) Ein ähnlich gelagertes Zitat ist das der fiktiven Verfasserin am Beginn des vierten Abschnitts: »Man dreht ein wenig, und alles sieht anders aus./Lucy Finkbeiner« (UL, 426). Indem hier die Erzählerin zu Wort kommt, wird eine Metaperspektive auf den Akt des Erzählens eröffnet, welcher durch den Inhalt des Zitats als unzuverlässig gekennzeichnet ist. An den Mottos des ersten und zweiten Abschnitts sind die widersprüchlichen Figurationen des Landlebens durch Alteingesessene (»Unterleuten ist ein Gefängnis./Kathrin Kron-Hübschke« (UL, 8)) und Zugezogene (»Unterleuten bedeutet Freiheit./Gerhard Fließ« (UL, 182)) zu erkennen, wodurch zum einen der ländliche Raum ein Ort vielfältiger Stimmen wird, zum anderen die Behauptung wahrer Raumbilder infrage gestellt wird. In den folgenden Unterkapiteln werden die durch diese Polyphonie entstehenden Veränderungen der Umzugserzählung eingehender untersucht, was anhand der Perspektiven der Zuziehenden sowie der Perspektive der Dorfbewohner auf die Zuziehenden analysiert wird. Auf diese Weise wird überprüft, welche Annahmen über die Möglichkeiten des Erzählens von Wahrheit über Land im Text enthalten sind und inwiefern die enthaltenen Umzugsgeschichten als Verweise auf den Diskurs der ›Lust auf Land‹ sowie die Texte der ersten Untersuchungsgruppe gedeutet werden können.

10 11 12

Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit, Bielefeld: transcript 2018, S. 127-140, hier: S. 128f. Vgl. Retsch, Annette: Paratext und Textanfang. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie), S. 218. Vgl. ebd., S. 138f. Vgl. ebd., S. 218.

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1.2 Ländlichkeit als Ergebnis von Perspektiven Unterleuten war das reinste Panoptikum. (UL, 211) Entgegen der Konvention des Gesellschaftsromans wird die Nullfokalisierung von einer ständig wechselnden internen Fokalisierung abgelöst, das Geschehen wird zwar von einer heterodiegetischen Erzählerin wiedergegeben, aber in jedem der 61 Kapitel (zuzüglich Epilog) wechselt die Fokalisierung zu einer Figur des Dorfes. Das dadurch entstehende ›Panoptikum‹ macht den ländlichen zum Disziplinarraum, in welchem sich die Individuen schon durch das Wissen um die potenzielle Überwachung selbst disziplinieren, sodass keine weiteren Überwachung notwendig ist.13 Das so aus unterschiedlichen Perspektiven erzählte Geschehen folgt weitestgehend den Regeln der Chronologie. Die sechs Teile des Romans strukturieren die Handlung in erkennbare Phasen, wobei der Ablauf einem Spannungsbogen folgt, der sich in etwa wie folgt darstellen lässt: 1. Vorstellung der Figuren, 2. Gesellschaftliche Dimension und Diskussion der jeweiligen Beweggründe im Kampf um die Windräder, 3. Agieren der Figuren in Verhandlungen, 4. Eskalieren des Streits 5. Erodieren der dörflichen Ordnung, 6. Ende der dörflichen Ordnung. Diese Passagen sind in Kapitel eingeteilt, die mit den Namen der jeweils ›begleiteten‹ Figuren überschrieben sind. Die Handlung läuft zumeist über die Kapitelgrenzen hinweg weiter, sodass trotz wechselnder Fokalisierung der Eindruck eines fortlaufenden Geschehens entsteht und die unterschiedlichen Blickwinkel dennoch zu der Gesamtheit eines Dorfkörpers verschmelzen. Zwar werden die Ereignisse nur selten aus zwei Perspektiven wiedergegeben, durch das Ineinanderfließen wird aber deutlich, dass das Geschehen von allen gemeinsam erlebt und auch bedingt wird. Durch diese ständigen Wechsel entsteht der Eindruck eines potenziellen Rundumblicks auf das Geschehen. Durch die unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Deutungen der einzelnen Figuren wird das Vertrauen des Lesers in die Wahrheit der jeweiligen Beobachtungen jedoch unterminiert. Und auch die Erzählerin weiß, obwohl sie das Geschehen verwaltet, in jedem Kapitel nur das, was die begleitete Figur weiß. Aus dieser Erzählkonstruktion ergeben sich bereits zwei Deutungen von Dorf- und Landleben: 1. Die Dorfgemeinschaft ist zwar ein Kollektiv, das heißt aber nicht, dass hier Einheit herrscht, sie ist komplexer als vermutet. 2. Den Behauptungen von Wissen und Wahrheit ist mit Vorsicht zu begegnen, sie sind zumeist auch nur subjektive Erzählungen.

13

Foucaults Rezeption von Jeremy Benthams Panoptikum ist insbesondere in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses und Die Macht der Psychiatrie formuliert. Da findet sich auch der Begriff des Disziplinarraums; vgl. Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon, Paderborn: W. Fink Verlag 2007, S. 105.

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Vor allem der zweite Punkt wird im Roman wiederholt programmatisch formuliert, denn »[e]s gibt eben keine Wahrheit, […] sondern immer nur Perspektiven.« (UL, 533) Mehrfach wird durch Figuren davor gewarnt, auf dem Land Wahrheit zu erwarten, so sagt Jule Fließ-Weiland im Dialog mit ihrem Mann: »›Das hier ist ein Dorf, Gerhard. Du musst nicht alles glauben, was die Leute erzählen.‹« (UL, 365) Im Laufe der Erzählung wird diese Erkenntnis zu einem Prinzip ausgebaut, das poetologische Dimensionen annimmt. Beispielsweise stellt Gombrowski über seinen Streit mit Kron fest: »Unterleuten war ein Instrument, auf dem ein Virtuose jede beliebige Melodie erzeugen konnte. […] Die Wahrheit war nicht, was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten.« (UL, 407f.) Ist der Zweifel an Wahrheiten zunächst noch auf das Dorf beschränkt, wird er zunehmend ausgeweitet und zur Besonderheit menschlichen Erzählens und Miteinanders insgesamt. Dazu stellt Finkbeiner im Epilog fest: »Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen.« (UL, 629) Im Dorfgeflecht müssten die unterschiedlichen Meinungen als individuelle Realitäten anerkennt werden, aus denen eine (Dorf-)Gemeinschaft zusammengesetzt ist. Diese Wahrheit sei letztlich entscheidender als das, was man regulär Wissen, Fakten oder Wahrheit nennen würde. In diesen Äußerungen zu Perspektiven und Wahrheit steckt ein wissenspoetologisches Moment, da gerade die vielstimmige Erzählung als einzig mögliche Zugangsweise zu Landleben gekennzeichnet wird. Das ist dann auch als Kommentar auf das derzeitige Schreiben über Land zu lesen: Wahrheit über Dorf- und Landleben erfährt man demnach nicht aus monoperspektivischen Erzählungen: Wie sollen die Lesenden da den bisher in dieser Studie untersuchten Texten vertrauen? Vielmehr ist es eine Aufgabe für die Lesenden, mit archäologischen Verfahren aus der Vielfalt der Stimmen ein wahres Geschehen freizulegen. Damit ist nicht nur etwas über die Eigenheit von Kommunikation in Dörfern und das Schreiben über Land ausgesagt, sondern auch über die Frage nach Zuverlässigkeit von Informationen und Meinungen im digitalen Zeitalter insgesamt. Aus der Vielzahl der erzählenden Perspektiven werden in der folgenden Analyse insbesondere jene Figuren betrachtet, die von der Stadt aufs Land ziehen. Diese Einschränkung folgt aus dem Schwerpunkt der Analyse der zweiten Untersuchungsgruppe, in der es letztlich um die Frage geht, inwiefern der Umzug aufs Land anders als in den bisher untersuchten Büchern erzählt wird und welche Veränderungen sich daraus im Hinblick auf das erzählte Wissen und die erzählten Räume ergeben.

1.2.1 Die alteingesessenen Dorfbewohner Im Mittelpunkt des Romans steht die Rivalität zwischen Gombrowski und Kron. Ersterer ist der Sohn eines ehemaligen Großgrundbesitzers, seine Familie wurde in der DDR enteignet und dennoch ist er zum Leiter der LPG aufgestiegen und nach der Wende Chef des daraus hervorgegangenen Landwirtschaftsbetriebs Ökologica

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GmbH geworden. Kron ist überzeugter Kommunist, war SED-Mitglied und Gegner der Privatisierung der Ökologica GmbH. Im zwischen beiden entbrannten Streit kam es zwanzig Jahre vor Einsetzen der Handlung zu einer Auseinandersetzung, bei der es einen Toten gab (Erik Kessler). Nun sollen Windräder gebaut werden, was für Gombrowski Gewinn verspricht, für Kron als letzter Schritt der kapitalistischen Landnahme erscheint. Beide Figuren besitzen Land, auf dem die Windräder gebaut werden könnten. Gombrowski wird als Figur vorgestellt, die Einfluss im Dorf hat und Verantwortungsgefühl für das dörfliche Miteinander empfindet. Er sieht Zuziehende positiv, ist aber auch gleichzeitig Bewahrer eines impliziten ländlichen Regelwerks, das wiederholt ausformuliert wird: Das war typisch Frau und typisch Wessi. Seit zwei Jahren lebte die Rothaarige im Dorf und war kein einziges Mal auf ein Schwätzchen in die Ökologica gekommen. […] Man sprach miteinander, fand eine Lösung. Man gab sich die Hand und ging als Freunde auseinander. In der Welt von Frauen und Westdeutschen kam ein solches Verhalten nicht vor. Sie schickten Briefe oder den Anwalt oder fingen an zu schauen und zu heulen und wunderten sich hinterher, wenn man ihnen nur mit äußerster Vorsicht begegnete. (UL, 246f.) Kron hingegen steht für eine kritische Perspektive auf das Dorf, da es ihm durch Gombrowskis Einfluss dysfunktional erscheint, das Dorf verfalle insbesondere durch die Versprechen des Neoliberalismus, denn Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt. (UL, 107) Für ihn gehört zu viel Veränderung »zur Welt der Zugezogenen und damit zu den Dingen, die er nicht verstand.« (UL, 486) Und dennoch kann er sie nicht verhindern, auch an sich selbst, so ist Kron am Ende der Romanhandlung in der Gegenwart angekommen, im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter bedingungsloser Egozentrik. […] Kron fühlte sich gut. Er war jetzt kein Kommunist mehr. Sondern ein Don Quijote, der entschieden hatte, seine eigenen Windmühlen zu errichten, statt gegen fremde anzurennen. (UL, 614f.) Als Gegenpol zur Veränderung dient ihm die Natur, die als unbeteiligt verstanden und als einzige echt longue durée-Perspektive akzeptiert wird. Die Natur ist älter als er, kennt keine Vergangenheit oder Zukunft, nur den Zustand der Gegenwart: »In solchen Momenten erhob er sich schnell, um den Wald nach Beweisen für die Gegenwart abzusuchen – und fand nichts. Für Bäume spielten Jahreszeiten keine Rol-

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le. Egal, was die Menschheit veranstaltete, der Wald stand daneben und schwieg.« (UL, 393) Menschliche longue durée-Vorstellungen wie Familientraditionen hingegen sind für ihn zerstörerisch, so heißt es über die Auswirkungen der anhaltenden Streitigkeiten im Dorf auf das Leben seiner Tochter und Enkelin: »die Vergangenheit sei dabei, ihre Zukunft zu zersetzen wie ein langsam wirkendes Gift.« (UL, 484) Für seine Enkelin »Krönchen« erhofft Kron sich Freiheit, was ein Leben außerhalb des Dorfes meint. Seine Tochter Kathrin Kron-Hübschke kehrt nach ihrem Medizin-Studium aus Verantwortungsgefühl zum Vater zurück, sie ist an das Dorf gebunden, was sie als Fessel und nicht als Freiheit versteht. Für sie »war Unterleuten nicht nur ein beliebiger Punkt auf der Erdoberfläche, an dem sich zweihundert Individuen zufällig zum gemeinsamen Leben versammelt hatten. Unterleuten war ein Lebensraum, eine Herkunft, ja, sogar eine Weltanschauung« (UL, 449). Sie sieht, wie dieser Lebensraum durch die anhaltenden Fehden gefährdet ist und versucht sich und ihren Ehemann (ein städtischer Theaterautor, der unter Schreibblockaden leidet) aus den Geschehnissen herauszuhalten. Kathrin Kron-Hübschke sieht das Dorf als locus horribilis, was wiederholt durch Abgrenzungen zu idyllischen Erzählungen unterstrichen wird, wenn sie sich »fragte […], ob Dichter, die von Nachtigallen schwärmten, jemals eine gehört hatten.« (UL, 179) Diese Ablehnung kennzeichnet mediale Ländlichkeiten insgesamt als realitätsfern und falsch informiert. Das meint sowohl romantische Erzählungen in Nachfolge von Shakespeares Nachtigall in Romeo und Julia als auch die Wahrheitsbehauptungen des Landlust-Diskurses.14 Denn falsche Bilder von Ländlichkeit bergen nicht nur die Gefahr von Enttäuschung, sondern sind Gefahren für die Ordnung ländlicher Räume selbst. Zwischen den von Kron und Gombrowski repräsentierten Polen im Streit um die Windkrafträder gibt es weitere Nebenfiguren, die hier lediglich knapp behandelt werden, da ihre Bedeutung für die Konstruktion von Landbildern deutlich geringer ist. Ein Beispiel dafür ist der Bürgermeister Arne Seidel. Nach dem frühen Tod seiner Frau ist ihre Tätigkeit als Stasi-Spitzel publik geworden. Um ihn aus seiner daraus folgenden Depression zu befreien, wurde ihm kurz nach der Wende von Gombrowski und anderen ins Amt verholfen. Er verdankt einen großen Teil seines Einflusses Gombrowski, was die Wahrnehmung seiner Neutralität im Dorf gefährdet, ihn aber nicht von dem Versuch abhält, der bestmögliche Bürgermeister zu sein.

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Innerhalb dieser Studie handelt es sich nach Moor (WB, 42) und Reichert (LL, 92) um den dritten Text, in dem das ornithologische Wissen aus Romeo und Julia in Frage gestellt wird. Aus dieser Häufung lässt sich schlussfolgern, dass gerade in dieser fünften Szene des dritten Akts die existenzielle Bedeutung von auf dem Land zu erwerbenden Wissen exemplarisch zum Ausdruck kommt. Aber auch abseits dieser Deutung dürfte die Szene zu den bekanntesten Dramenszenen überhaupt gehören.

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Auch er sieht die dörfliche Ordnung durch das Geschehen um die Windkraftanlagen gefährdet, will deren Bau aber für die benötigte Gewerbesteuer voranbringen. Letztlich ist er Idealist mit Hang zu Vorstellungen (vergangener) idyllischer Ländlichkeit, was besonders in seiner Auffassung von Glück offensichtlich wird, das für Seidel »aus wenigen Zutaten« besteht: »ein offenes Fenster, der Geruch von sonnenwarmem Gras und die Abwesenheit von Lärm.« (UL, 315) Er begrüßt die Motive der Zugezogenen und ihr Engagement: »›Ich freue mich, wenn sich die Bürger engagieren. Gerade bei Zugezogenen. Das ist ein Zeichen von Gemeinschaftssinn.‹« (UL, 231) Mit dem Gemeinschaftssinn betont Seidel gerade die kulturell tradierten Eigenschaften von Dörflichkeit, deren Verschwinden erzählt wird. Mit diesem Bemühen um Dauer und Konstanz scheitert er jedoch, das Ende seiner Amtszeiten als Bürgermeister wird im Laufe des Buches unausweichlich. Abgelöst wird er von Kathrin Kron-Hübschke. Der Automechaniker Bodo Schaller repräsentiert ein Bild vom Land als Ort außerhalb staatlichen Zugriffs, »Dosenpfand interessierte ihn genauso wenig wie die restlichen sinnlosen Regeln, aus denen die Welt bestand. Er konnte richtig und falsch ohne fremde Hilfe auseinanderhalten.« (UL, 68) Nach einem Unfall hat er sein Gedächtnis verloren, erinnert sich nicht mehr an seine Rolle bei der Auseinandersetzung um die Neuausrichtung der LPG Anfang der 1990er Jahre und den Tod von Erik Kessler. Schaller ist eine Figur, die durch eine ihr unbekannte Vergangenheit in eine für ihn unverständliche Gegenwart versetzt wurde. Doch trotz seines Gedächtnisverlusts hatte »Schaller […] genug von der Welt gesehen, um zu wissen, dass Menschen Raubtiere waren.« (UL, 69) Er verbrennt zunächst Müll und Reifen auf dem Nachbargelände von Gerhard und Jule Fließ, um sich für deren Eintreten gegen den Umbau seiner Scheune zu rächen, im Auftrag von Gombrowki macht er damit weiter, um dessen Verhandlungsposition im Streit um die Windkrafträder zu verbessern. Schallers Tochter, die bei ihrer Mutter lebt, bringt ihn letztlich dazu, sich aus den Streitigkeiten des Dorfes herauszuhalten. Neben diesen Figuren werden einzelne Dorfbewohner beiläufig vorgestellt wie bspw. Oma Rüdiger, diese »war mit ganz Unterleuten und noch ein paar Nachbardörfern in irgendeiner Form verwandt […]. Oma Rüdiger war Börse und Dorfzeitung in einem.« (UL, 124) Diese Funktionalisierung als Wissensträgerin erinnert an die Figurengestaltung bei Moor, Sezgin oder Hochreither, in Unterleuten entscheiden solche Figuren über die Grenzen von Innen und Außen des Dorfes, was in der Schilderung der Dorfversammlung betont wird: »Aber wenn Oma Rüdiger entschieden hatte, dass der Vogelschützer vielleicht ein Fremder, aber immer noch weniger fremd als der Pilzjunge war, würde es ohne hin nicht lange dauern, bis Ärger losbrach.« (UL, 143) Schon in dieser Übersicht der Einwohner des Dorfes entsteht ein uneinheitliches Bild von Ländlichkeit und unterschiedlichen Perspektiven auf Tradition und Modernisierung. Land ist hier kein Ort von Gemeinschaft, sondern widerstreiten-

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der Stimmen, die es Zuziehenden schwer machen, eine Position in dieser Komplexität einzunehmen. Dieses Bild wird in der folgenden Analyse der zugezogenen Figuren verstärkt.

1.2.2 Zugezogene Am Anfang stehen Gerhard Fließ und Jule Fließ-Weiland. Fließ ist promovierter Soziologe, der auf dem Weg zur Professur in befristeten Stellen im Universitätsbetrieb steckengeblieben ist. Der Gang aufs Land ist für ihn keine freie Wahl, sondern ein Ausweg, er war nun einmal in erster Linie Denker und nur in zweiter ein Mann der Tat. […] Im Grund seines Herzens vertrat Gerhard die Auffassung, dass nicht er selbst schuld war an seinen mangelnden Erfolgen, sondern das korrumpierte Uni-System. Er zog mit Jule aufs Land. (UL, 472) Dass der Umzug als Folge des Scheiterns im akademischen Betrieb vollzogen wird, ohne dass dazwischen ein Zusammenhang erklärt wird, macht die Entscheidung zum Kurzschluss. Durch den Universitätsbetrieb im Einwerben von Drittmitteln erprobt, leitet er nun den örtlichen Naturschutzbund, der durch die von ihm eingeworbenen EU-Mittel zum Erfolgsmodell wird. Seine Frau Jule Fließ-Weiland schreibt ihre Dissertation »über die destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glücksversprechens« (UL, 17) und damit zugleich über eins der Themen von Unterleuten. Am Ende des Buches geht sie wieder in die Stadt und will »eine moderne Soziologie des Ruralen entwickeln« (UL, 631) – nach der Lektüre des Textes kann man vermuten, es handele sich um die gleiche Arbeit unter anderem Titel. Der Gang aufs Land ist also ein Ausweg, insbesondere in Jule Fließ-Weilands Schilderungen wird die Suche nach ländlicher Idylle zum Motiv. Die Idylle wird zunächst im Privaten zu realisieren versucht, beispielweise durch Einrichtung des eigenen Hauses, in dem Zusammenhang heißt es in einer der ersten Schilderungen, »[d]ie alten Dielen glänzten wie vollgesogen mit Licht. Unter der Dachtraufe nisteten Spatzen.« (UL, 33) Diese Idylle-Bilder tauchen vorwiegend in Erinnerungen an den Hauskauf und den Umzug auf, da sind dann Alter und Dauer das wichtigste Motiv für gutes Leben auf dem Land: Die Klinke musste weit über hundert Jahre alt sein, und diese Erkenntnis lähmte ihn wie ein Schock. […] Auch er wollte eine Phase im Leben der Klinke sein, die sich nach seinem Tod immer noch an ihrem Platz befinden würde. Er wusste jetzt, dass er dieses Haus erwerben musste.« (UL, 15) Neben diesen idyllischen Landbildern ist die Motivation für den Umzug von negativen Stadtbildern geprägt, im Selbstverständnis der Figuren verlassen sie damit eine »Gesellschaft, in der es nur noch darum ging, beim großen Ausverkauf der Werte die

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eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen.« (UL, 18) Hier werden also die ›Landlust‹-Vorstellungen mit klassischen Idylle-Motiven (Naturnähe, Dauer) akzentuiert, um anschließend mit der Dimension Kapitalismus- und Kulturkritik verknüpft zu werden. Für beide stellt »[d]er Umzug aufs Land […] kein Problem, sondern die Lösung dar« (UL, 22), es handelt sich um die Mission, »[d]as Bestehende gegen die psychotischen Kräfte eines überdrehten Fortschritts zu verteidigen.« (UL, 15) Das Motiv hat Tradition und so ist die Nähe zu Jean Pauls Feststellung, dass die Provinz zur Idylle neigt, weil hier die »Gewalt der großen Staatsräder«15 unsichtbar bleiben kann, offensichtlich. Die Idealisierung des Ländlichen erinnert zugleich an das biedermeierliche Glück im Winkel der frühen Dorfgeschichten, an Eskapismus sowie an die Motive der Umziehenden aus der ersten Untersuchungsgruppe. Der Bezug zu den Letztgenannten ist nicht zu übersehen, noch deutlicher wird er in Jule FließWeilands Stolz auf das auf dem Land erworbene Wissen, auf die Tatsache, »dass sie es alleine schaffen würden […]. Noch vor wenigen Monaten hatte sie nicht gewusst, was eine Dampfsperre ist. Heute war sie in der Lage, ein ganzes Dach zu dämmen.« (UL, 39) In diesem Blick aufs Land steckt eine relativ klar erkennbare Funktionalisierung mit wenig Interesse an ländlichen Realitäten. Wenn Jule Fließ-Weiland die im Buch zentrale Dorfversammlung beobachtet, erinnert der abschätzige Blick auf die anderen Dorfbewohner an koloniale Erzählungen, welche die Bewohner zu Objekten machen: »Um sie herum saßen die Dörfler wie Vieh, das nicht wusste, ob es auf Schlachtbank oder Futter wartete.« (UL, 125) Das beobachtete Landleben wird immer wieder abschätzig geschildert, da es nicht in das gesuchte idyllische Bild zu passen scheint. Und auch die Windräder werden hauptsächlich wegen ihrer Gefährdung der eigenen Idylle kritisiert, der Naturschutz erscheint dabei nur als vorgeschobene Begründung, schließlich war Gerhard Fließ nicht aufs Land gezogen, um zu erleben, wie der urbane Wahnsinn die Provinz erreichte. ER verzichtete nicht auf Theater, Kino, Kneipe, Bäcker, Zeitungskiosk und Arzt, um durchs Schlafzimmerfenster auf einen Maschinenpark zu schauen, dessen Rotoren die ländliche Idylle zu einer beliebigen strukturschwachen Region verquirlten. Gerhard war ein Exilant, geflohen vor dem Gespinst aus Belästigungen, zu dem das moderne Leben geworden war. […] Unterleuten bedeutete Freiheit, Symbol der Freiheit war ein unverstellter Horizont. (UL, 201) Dieses idyllische Bild von Ländlichkeit wird um die Dimension Komplexitätsreduktion erweitert, wenn es über Jule Fließ-Weiland heißt: »Sie war der uneigentlichen Welt entkommen. Das Dorf war ein Lebensraum, den sie überblickte und verstand.« (UL, 216) Direkt im Anschluss an diese Komplexitätsreduktion werden die 15

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, hg., textkrit. durchgesehen und eingeleitet von Wolfhart Henckmann, Hamburg: Meiner 1990, S. 261.

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Dorfbewohner als Menschen kritisiert, die sich nur um ihre eigene Ordnung kümmerten: »Die Unterleutner lasen keine Zeitungen, sahen wenig fern, benutzten das Internet nicht. Dass sie alle vier Jahre ihren Arne zum Bürgermeister wählten, war Ehrensache; den Namen des Bundespräsidenten kannten sie vermutlich nicht.« (UL, 216f.) Der Vorwurf von Bildungsferne und Weltfremdheit wird genau an der Stelle gemacht, an der das Land als überschaubar und verstehbar figuriert und der überfordernden Stadt gegenübergestellt wird. Hier wird die exotistische Perspektive auf Land aufrechterhalten. Das aufgerufene Bild vom Dorfbewohner als passive Figur und der schon vorher etablierte Vergleich mit Tieren tragen zu einer Vorstellung vom Land als wilde Fremde bei und erinnern an koloniale Narrative, da die ursprünglichen Bewohner der Gegend als nicht handlungsfähig beschrieben werden. Die exotistische Perspektive der beiden Zuziehenden wird weiter verschärft, wenn es heißt, sie hatten »halbe Nächte damit verbracht, über das Unterleutner Soziotop zu reden. Über das Phänomen der Tauschgesellschaft konnten sie sich begeistern wie Naturforscher, die unverhofft einen neuen Käfer entdeckt hatten« (UL, 218). Durch die beibehaltene Beobachtungsperspektive erscheint der Umzug zunächst halbherzig und auch zur städtischen Welt gehören beide nicht mehr, was im direkt anschließenden Satz verdeutlicht wird: Wenn Jule allerdings ihren Berliner Freunden davon erzählte, schüttelten diese ungläubig den Kopf. Sie konnten nicht glauben, dass es in Deutschland Menschen gab, für die das Anbauen von Gemüse kein Hobby war. Was Jule erzählte, klang für sie nach Weißrussland oder Kasachstan. […] Sie warfen ihr Sozialromantik vor und dass sie ihre Zivilisationsflucht hinter Provinzverklärung verberge. (UL, 218) So steht Jule Fließ-Weiland letztlich noch auf der Grenze zwischen den Räumen. Beide Figuren sind jedoch nicht statisch, sondern vollziehen Entwicklungen, die sie aus dieser Grenzposition befreien, so wird Fließ in einer Entwicklung vom theoretisierenden Soziologen hin zum Idylle-getriebenen Land-Aktivisten beschrieben. Auf seine Frau wirkt er damit »glücklich, die große Bühne vor der eigenen Haustür zu finden. Als böten die Windmühlen seinem politischen Unbehagen endlich ein passendes Ziel.« (UL, 372) An dieser Stelle wird der im Kampf gegen Windräder angelegte und sonst nur unterschwellig mitlaufende Don Quijote-Intertext klarer herausgestellt, ebenso wie zuvor in der Beschreibung von Kron.16 Die Imaginationen

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In Cervantes Don Quijote projiziert der titelgebende Held seine aus der Literatur gewonnenen Vorstellungen der Ritterwelt auf die Wirklichkeit und macht diese so selbst zur romanhaften Welt. Die Windmühlen sind dabei das bekannteste Beispiel, der Kampf gegen die vermeintlichen Riesen scheitert; vgl. Poppenberg, Gerhard: Das Buch der Bücher, in: Strosetzki, Christoph (Hg.): Miguel Cervantes‹ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote, Berlin: Schmidt 2005, S. 195-204, hier: S. 198.

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der Zugezogenen sind demnach häufig aus kulturellen wie literarischen Erzählungen entstanden und führen daher zum Scheitern des Gangs aufs Land. Insgesamt lebt das Paar ca. drei Jahre in Unterleuten. Gerhard Fließ wird am Ende verhaftet, weil er Bodo Schaller zusammengeschlagen hat, um den Konflikt um die Feuer auf dessen Hof zu beenden. Schaller hatte zu diesem Zeitpunkt bereits alle Aktivitäten beendet, sodass Fließ’ Aggressionen nicht, wie von ihm selbst behauptet, aus dem Wunsch resultieren, die Region zu retten, sondern vielmehr aus einem animalischen Verteidigungsinstinkt – nach der anfänglichen Benennung Schallers als Tier, ist nun auch Fließ Tier geworden. Die von ihm soziologisch behandelte Zivilisationsgrenze ist damit überschritten, in seinem Selbstverständnis ist damit aber auch ein Initiationsritus vollzogen, er ist nun wirklich Teil des Dorfes, das eben keine Idylle, sondern Ort der Gewalt ist: »Er hatte bereits drei Jahre in Unterleuten verbracht, er hatte ein Haus saniert, Himbeerhecken gepflanzt und ein Kind gezeugt. Aber erst jetzt war er richtig angekommen.« (UL, 565) Hier sind also die in der ersten Untersuchungsgruppe für das Ankommen auf dem Land ausreichenden Initiationsriten und Kompetenzerwerbe unbedeutend, Zugehörigkeit hängt nicht vom Wissen, sondern von raumgerechtem Handeln, von Gewalt ab. Bis zum Prozess arbeitet Fließ daran, als Nachfolger Gombrowskis in die Ökologica GmbH einzusteigen, die Grenze ins Dorfinnere ist durch den Gewaltakt endgültig überschritten. Erst durch Anerkennung der Eigenschaften und Regeln des betretenen Ortes geht die Figur im neuen Ort auf. Jule Fließ-Weiland verlässt das Dorf wieder und zieht nach Berlin, ihr Umzug ist gescheitert (vgl. UL, 631). Auf dieses Scheitern wird bereits am Beginn des Romans hingewiesen, wenn vorhergesagt wird, dass nicht nur die Stadt, sondern auch »ein Dorf mit zweihundert Einwohnern zu eng sein konnte« (UL, 12). Ihr Scheitern ist ein Scheitern der idyllischen Vorstellungen vom Land als Gegenraum zur Moderne, Urbanität und Neoliberalismus, auch das Leben auf dem Land folgt diesen Ordnungen. Das Scheitern erscheint dabei als Absage an solche funktionalisierenden Imaginationen des Ländlichen, da sie den realen Raum zu einem symbolischen Residualprodukt machen. Darin steckt auch ein Kommentar auf Tradition: Die Tradition vom Gang aufs Land als Flucht vor Urbanität und Kapitalismus besteht auch heute noch, solche Vorstellungen sind aber unter den Bedingungen einer längst vollzogenen kapitalistischen Landnahme nicht mehr tragfähig.17 17

Dabei beziehe ich mich auf die von Klaus Dörre in Die neue Landnahme (2009) entwickelte Theorie, nach welcher der Kapitalismus durch die andauernde Landnahme eines außerkapitalistischen Anderen geprägt ist – seien dies Räume, Lebensweisen, Klassen, Ideen oder im Fall des Finanzmarktkapitalismus seit den 1970er Jahren »marktbegrenzende Institutionen«, die »Objekt einer neuen Landnahme« werden; Dörre, Klaus: Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus, in: ders./Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (Hg.): Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 21-86, hier: S. 22. Nun ist dieses Andere eben der ländliche Raum, der in seiner Geschichte auch immer wieder Ort jenseits des Kapitalismus war.

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Und schließlich kann diese Erzählung auch als poetologischer Kommentar gedeutet werden, dass die urbane Erwartungshaltung, im 21. Jahrhundert auf dem Dorf Idylle und Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen zu finden, keine belastbaren Erzählungen über Land produzieren kann. Das inhärente Heilsversprechen solcher eskapistischen und sozialutopischen Erzählungen über Land wird nicht nur damit abgewiesen, dass Neoliberalismus in Form von Windrädern in das Dorf einbricht, sondern auch damit, dass die Sozialform Dorf immer schon wegen ihres nicht nur nicht idealen, sondern ebenso gewalttätigen Miteinanders solchen optimistischen Vorstellungen widerspricht. So zwingen die Ereignisse Gerhard, sich zu fragen, ob er Unterleuten jemals richtig verstanden hatte. Ob ihm sein euphorischer Wunsch, jeder staatlich-kapitalistischen Gewalt den Rücken zu kehren, nicht den Blick getrübt hatte. Vielleicht war das, was Gerhard und Jule ›Freiheit‹ nannten, in Wahrheit nicht mehr als ein Jagdrevier für schwergewichtige Fleischfresser. (UL, 363) Denn letztlich sind die städtischen Vorstellungen koloniale Bilder vom edlen Wilden, die Menschen auf dem Land sind aber – wie überall – Tiere. An beiden Figuren lässt sich zeigen, dass mit dieser Variation der mittlerweile in der Literatur etablierten Umzugserzählung nicht nur ein Scheitern idyllischer Landbilder erzählt wird, sondern auch neue Umzugsregeln etabliert werden: Nur wer sich der realen räumlichen Ordnung beugt und selbst zum Fleischfresser wird, der kann erfolgreich aufs Land ziehen – das verdrängt Wissen als wichtigste Zugangsvoraussetzung. Die Pferdewirtin Linda Franzen repräsentiert einen anderen Typen von Landsuchenden: Sie ist jung, erfolgsorientiert und tritt als Vertreterin einer jungen Generation auf, die den Erfolgsdruck und Individualismus des Neoliberalismus inkorporiert hat. Ursprünglich auf der Suche nach Platz für ihr Pferd nach Unterleuten gezogen, plant sie bald Führungsseminare für Manager. Als Besitzerin der von allen gewollten zwei Hektar Land tritt sie schnell als Akteurin in den Streit um Pachtverträge für die Windkraftanlagen und ist so in die Macht- und Verhandlungsnetze des Dorfes involviert. Immer wieder liest Franzen in dem fiktiven Ratgeber Dein Erfolg von Manfred Gortz, durch den darin gepredigten Hyper-Individualismus erscheint sie als Repräsentationsfigur des Themas von Unterleuten: Individualismus und Erfolgsoptimismus bestimmen letztlich ihr Verhältnis zu Landleben und Dorf stärker, als das reale Dorfleben es tun würde. Anfangs ist Franzens Blick auf Dorf und Landschaft noch von ästhetischen Raumvorstellungen geprägt, so heißt es am Beginn ihres Umzugs über das Verhältnis zum neuen Heimatort: Linda hatte einen Auftrag, der darin bestand, ein Stück Welt abzuzäunen. […] Überhaupt ging es um das Herstellen von Schönheit, im Haus, im Garten, auf den Weiden. […] Dieser Traum war Lindas Zukunft, und nur weil er einer Postkarten-

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sammlung glich, hieß das noch lange nicht, dass er sich nicht realisieren ließ. Manfred Gortz sagte, das Wichtigste im Leben sei Freiheit, und Freiheit bedeute zu entscheiden, wer man sein wolle. (UL, 40) Diese Suche nach realen Idyllen erinnert wiederum an die Texte der ersten Untersuchungsgruppe. Im Roman wird dann beschrieben, wie der Grundbesitz sie verändert und vom unbestimmten Lebensgefühl ihrer Generation distanziert, da »[e]in Haus […] das beängstigende Möglichkeitenlabyrinth der Zukunft in überschaubares Terrain« (UL, 460) verwandelt. Obwohl Franzen durchgängig die Kontrolle über ihre Handlungen betont und sichert, passt sie sich an die Bedingungen des Landlebens an, trotzdem diese nicht ihren ursprünglichen Vorstellungen entsprechen. Damit wird die Umzugsgeschichte auch zu einer Neuverhandlung von Heimaterzählungen, die auf ihre Tauglichkeit für eine jüngere Generation geprüft werden. Zugleich wird die Tragfähigkeit der idyllischen Erzählungen vom Glück der eigenen Scholle verneint. Auch diese traditionellen Erzählungen über Landleben scheitern an den vorgefundenen Machtkämpfen. Franzens Freund Frederik Wachs ist ein Kind der 1980er Jahre, er steht für einen Individualismus anderen Typs, da er sein Individualitäts- und Freiheitsgefühl bei der Loveparade und im Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation entdeckt hat. Er ist Spieleentwickler, aus Vorsicht und geringem Antrieb hat er die Chance auf frühen Erfolg vertan, was mehr Linda Franzen als ihn stört. Im Streit um die Windkraftanlage mischt er sich wenig ein, ebenso wie in das Dorfleben insgesamt. Im Gegensatz zur erfolgsoptimistischen Linda Franzen besteht »[s]ein persönlicher Luxus […] nicht darin, in einer Welt alles zu erreichen. Sondern darin, zwischen verschiedenen Welten hin- und herwechseln zu können.« (UL, 244) Er reflektiert den eigenen Umzug als Teil einer kulturellen Entwicklung von Menschen, die von der Stadt aufs Land ziehen, um ihr Glück zu finden. Doch das sei eben nicht einfach, so weiß Wachs, dass [i]n Berlin […] nicht wenige Leute herum[liefen], die nach erfolglosem Ausstiegsversuch zurück in die Stadt gezogen waren. Gescheitert waren sie nicht an einstürzenden Dächern oder vollgelaufenen Kellern, sondern an den Nachbarn. Was Dorfangelegenheiten betraf, gab es eigentlich nur ein Rezept: Raushalten. (UL, 140) Zugleich erkennt er aber die Schwierigkeit, ein unbeteiligtes Verhältnis zur ländlichen Welt aufrecht zu erhalten, sodass er sich schon bald nach der »Berliner Uneigentlichkeit« (UL, 243) sehnt. Wachs vertritt eine skeptische Perspektive gegenüber Landromantik und bleibt der städtischen Lebensweise verhaftet, in welcher er mehrere Tage pro Woche arbeitet und lebt. Ihm ist das brandenburgische Land zunächst Provinz und nicht Idylle, denn

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[s]osehr er bereit war, brettflache Sandböden, eintönige Kiefernwälder und verfallende Gründerzeitarchitektur romantisch zu finden – Plausitz war von einer speziellen ostdeutschen Trostlosigkeit, die jedem fühlenden Menschen aufs Gemüt schlagen musste. (UL, 570) Trotz der Bereitschaft zur romantischen Betrachtung bleibt das Vokabular hier fern idyllischen Beschreibungsinventars, die Distanz ist eindeutig und so wohnt Wachs in seinem Selbstverständnis nicht in der grünen Idylle, sondern in einem »Haus am Ende der Welt« (UL, 136). Er steht am ehesten für den Typus des am Dorfleben unbeteiligten Teilzeit-Landbewohners, wie er bspw. in Irmgard Hochreithers Schöner Mist präsentiert wird. Auch diese Ausdeutung des Gangs auf Land erfährt eine Absage, das ist spätestens am Ende des Textes erkennbar, denn da verkauft Franzen ihr Land an den Investor Konrad Meiler und stellt sich damit gegen den Willen des Dorfes. Zur Rettung der eigenen Position im Dorf will Wachs den Dorffrieden wiederherstellen und sucht allein das Gespräch mit den Dorfbewohnern. Auf dem Rückweg hat er einen Verkehrsunfall und vermutet noch im Moment des Unfalls eine RacheAktion der Dorfbewohner gegen Franzens als Verrat empfundenen Verkauf. Er landet im Krankenhaus, die Wahrheit über den Unfall will er nicht mehr herausfinden, für ihn ist der ländliche Raum schon lange ein Ort von Gewalt. Damit ist auch die von Wachs repräsentierte Möglichkeit vom unbeteiligten Umzug in den ländlichen Raum gescheitert, der Raumübertritt restitutiv. Franzen und Wachs werden hier als Stellvertreter für zwei divergierende Positionen zum Landleben interpretiert: konsequente Aneignung (Franzen) und unbeteiligte Anwesenheit (Wachs) werden dabei als Paar direkt gegenübergestellt. Dieser Gang aufs Land wird als Verhandlung darüber verstanden, inwieweit das Subjekt die vorgefundene Raumordnung nach seinen Vorstellungen verändern kann. Wie auf den letzten Seiten herausgearbeitet wurde, sind die zwei zugezogenen Paare hier als Stellvertreter für Umzüge und den Diskurs der Lust auf Land insgesamt zu interpretieren. An ihren unterschiedlichen Imaginationen und Funktionalisierungen von Landleben ist zu sehen, dass dabei eine Differenzierung der Motive und Verhaltensweisen vorgenommen wird. Neben diesen Figuren treten eher randständig zwei weitere städtische Figuren auf: Der Projektentwickler Herr Pilz und der Investor Konrad Meiler. Pilz ist als Mitarbeiter der Windenergie-Firma Vento Direct für den Ausbau im Umland von Unterleuten zuständig, er wird als Vertreter einer Generation beschrieben, welche die alten Erklärungsmuster für Lebensentscheidungen hinfällig mache: »Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging nicht einmal um Geld. Was diese Generation antrieb, war der unbedingte Wunsch, alles richtig zu machen.« (UL, 151) Der Investor Konrad Meiler steht für einen anderen Zugriff auf Land. Nachdem er mehr aus Langeweile denn aus Interesse bei einer Auktion 250 Hektar Land in Brandenburg erworben hat, wird er von Linda Franzen ins Dorf eingeladen, da

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sie sein Land für ihre Pferdekoppel braucht (vgl. UL, 51). Er erkennt im Verlauf der Handlung, dass er ein Eignungsgebiet für den Bau des Windparks besitzt, dafür aber selbst Franzens Stück Land benötigt. Am Anfang ist ihm der fremde ländliche Raum nur ein Investment, dabei ist sein Blick abfällig bis uninteressiert: »Während der letzten Etappe seiner Fahrt sah Konrad Meiler dabei zu, wie die Landschaft sich selbst abschaffte. […] In Preußen machte der Sand jede Landschaft unmöglich.« (UL, 49) Damit wird ein Raumverständnis vorgeführt, nach dem Naturbilder Konstruktionen sind, welche von den jeweiligen Interessen der Wahrnehmenden abhängen. Nach und nach offenbart sich, dass Meilers Sohn drogenabhängig ist, woran seine Ehe zerbrochen ist. Von da an will er selbst das Land für die Windräder, die Erträge sollen die Therapie des Sohnes finanzieren und so ihr Verhältnis verbessern. Dementsprechend ändert sich seine Wahrnehmung und er entdeckt eine neue Qualität des Dorfes: Er stand inmitten eines Netzes von Zusammenhängen, welche die Welt zu einem kleinen, begreiflichen Ort machten. […] Während er stand und schaute, breitete sich ein Wort in ihm aus: Heimat. Unterleuten war nicht seine Heimat, er hatte nicht einmal Verwandte in der Region. Aber Unterleuten sah aus wie etwas, das man Heimat nennen konnte. (UL, 64) Beide Figuren sind eher unbeteiligt und haben kein originäres Interesse an Landleben. Dennoch sind sie für das dichte Gefüge von Ansprüchen an den ländlichen Raum entscheidend. Für dessen Analyse wird im folgenden Unterkapitel das Verhältnis von Dorfbewohnern und Zugezogenen, Land und Stadt detaillierter in den Blick genommen.

1.2.3 Raumordnung durch kollektive Identitäten In Unterleuten leben also sowohl Einheimische als auch Zugezogene. Allem Integrationswillen zum Trotz sind die Letzteren immer als solche zu erkennen, so ist die Dorfversammlung »[e]ine summende Ansammlung in gedeckten Farben«, jedoch »hier und da bunt getupft von den Kleidern der Zugezogenen, für die der Sommer keine Jahreszeit, sondern eine Modeerscheinung darstellte.« (UL, 104) Die Trennung offenbart grundsätzlich unterschiedliche Verständnisse von Raum und Zeit, was die Gruppen als unvereinbar bestimmt. Das Dorf hingegen wird als Gemeinschaft geschildert, die zwar zunehmend verfällt, aber dennoch als Subjekt auftreten und eine kollektive Meinung haben kann (»Nach Meinung des Dorfes lastete ein Fluch auf der Villa Kunterbunt.« (UL, 169)). Die dörfliche Gemeinschaft wird wiederholt als einheitliches Subjekt dargestellt, was die Bedingung der Dorfgeschichte erfüllt, eine »überschaubare, abgegrenzte Einheit in der Provinz (im Gegensatz zur Stadt)«18 18

Baur 1997, S. 390.

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darzustellen. So sind sich beide Gruppen einig, dass Stadt und Land unvereinbare Zustände sind, in diesem Sinne heißt es über Gombrowskis Wahrnehmung von Linda Franzen: »Als ob das Leben in der Stadt die Leute besser machte. […] Woher sie das Recht nahm, auf jemanden herabzusehen, der hier aufgewachsen war, blieb schleierhaft.« (UL, 249) Anders als in den Texten der ersten Untersuchungsgruppe hat das Land hier eine Stimme, die unabhängig von der Wahrnehmung städtischer Erzähler sprechen kann. Zudem entsteht auch ein fremder Blick auf Städte, die als erinnerungslose Orte gezeichnet werden, für Gombrowski ist eine Stadt nicht »mehr […] als eine Ansammlung von haushoch gestapelten Heimatlosen« (UL, 249). Diese Perspektive wird mit Zuspitzung der Dorffehden verschärft, da irgendwann die Zuziehenden als wahre Bedrohung des Dorflebens dargestellt werden, die Auslöschung des Dorfes erfolge [d]ieses Mal nicht durch Bomben, sondern durch die Ankunft von Menschen ohne Erinnerung. Mit jedem neuen Vogelschützer und jeder neuen Pferdefrau starb ein Stück des alten Unterleutens. Je voller, teurer und lauter Berlin wurde, desto mehr Städter würden ins Umland schwappen. Sie konnten den Kreislauf durchbrechen. Sie konnten nach und nach ein neues Unterleuten begründen, eines, das weder Kron noch Gombrowski gehörte. Dann jedenfalls, wenn sie klüger waren als der Vogelschützer, der versucht hatte, das alte Spiel mitzuspielen, statt ein neues zu erfinden. (UL, 613f.) Das Dorf ist demnach tatsächlich, wie in allen longue durée-Erzählungen, Ort der Zusammenhänge und Erinnerung. Das ist aber keine positive Auszeichnung, wie die städtischen Idylle-Vorstellungen es behaupten, es ist eine Last und bedingt einen Kreis von Streit und Gewalt, der durch Zuzug durchbrochen werden kann, sofern dieser nicht rückgängig gemacht wird und die bestehende Raumordnung verändert. Auffällig ist aber, dass auch diese Erinnerungen, das Wissen um die Dorfgeschichten, nicht zuverlässig ist, sondern Ergebnis unterschiedlicher Perspektiven. Durch dieses Geflecht wird die Konfiguration des ländlichen Raums als Ort von Tradition, Besitz und Verantwortung für Jule Fließ-Weiland zur Last, die Stadt dadurch wieder zum freieren Lebensraum: »Weil die Stadt niemandem gehörte, gehörte niemand der Stadt. Wenn das Verantwortungslosigkeit war, dann wollte Jule verantwortungslos werden. Sie kannte Menschen, die Freiheit dazu sagten.« (UL, 581) Und auch in Fragen der Politik wird die Stadt als Gegensatz zum Dorf dargestellt, dabei wird häufig noch die deutsch-deutsche Teilung mitgedacht, sodass die »Spinner aus dem Westen« als Bedrohung wahrgenommen werden. Es waren aus dörflicher Perspektive entweder »Superkapitalisten, […] und hoben dadurch die Bodenrichtwerte weiter an« oder »gehörten zur Kategorie ›Weltenretter‹« (UL, 99). Aus der Perspektive der Landbewohner sind Städter realitätsfern und nicht alltagstauglich, so war jedem Landbewohner von Beginn an bewusst, »dass die DDR ein schwachsinniges System darstellte. Die Partei, nach deren Pfeife man plötzlich zu

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tanzen hatte, war aus den Städten hervorgegangen.« (UL, 127) Städte sind für die staatliche Steuerung nicht geeignet, da sie nicht über ländliches, also lebensnahes Wissen verfügen. Und auch Windparks werden »in Städten beschlossen und auf dem Land gebaut. Jeder weiß, dass die Dinger nichts taugen. Damit wird einfach nur Geld verdient auf Kosten der Steuerzahler. So etwas brauchen wir hier nicht!« (UL, 127) Die Stadt-Land-Differenz schließt jedoch Komplexität nicht aus, denn das Dorf wird sowohl aus der Perspektive der Dorfbewohner (durch Kron) wie der Zugezogenen (Fließ) wiederkehrend als komplexes System bezeichnet. Damit wird das Bild der dörflichen Gemeinschaft nicht abgelöst, sondern um die Semantiken Komplexität und Krise erweitert. Um diese Komplexität zu verstehen, bedarf es Wissen, das entweder aus jahrelanger Teilhabe oder einem Eintreten in die dörflichen Machtstrukturen folgt. Das wird dann, wie oben bereits angedeutet, zum poetologischen Prinzip des Buches, da Kenntnis der alten Geschichten und Fehden für den Eintritt in dieses komplexe System entscheidend ist. Das sieht man auch an der Fähigkeit einiger Landbewohner, die rurale Komplexität zu steuern: Kron kannte jedes einzelne Gesicht, aber vor allem kannte er das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar strukturiert wie ein Spinnennetz. (UL, 104) Dieses Bild vom Dorf als komplexe Struktur und der Vergleich mit biologischen Kategorien (Spinnennetz) wird von Fließ erneut aufgegriffen, hier jedoch durch soziologisches Beschreibungsinventar anders akzentuiert: Die dörfliche Tauschgesellschaft glich einem System kommunizierender Röhren, das sich in zwei Stufen unterteilen ließ. […] Wer auf welchem Markt tauschen durfte, wurde von niemandem entschieden, stand nirgendwo geschrieben und war trotzdem jedem klar. (UL, 361f.) In dieser Erklärung (»wurde von niemandem entschieden«) wird das Sozialsystem Dorf als Ergebnis undurchsichtiger sozialer Verhandlungsprozesse dargestellt. Im Vergleich beider Vorstellungen wird das universitäre Expertentum durch Krons ländliches Erfahrungswissen desavouiert (»Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System«). Darin sind implizite Regeln über Wissen über Land formuliert: Erfahrung schlägt soziologische Analyse und Wissen ist Macht. Die besondere Art dieses Wissens ist entscheidend, denn dörfliches Sozialleben ist ein vielschichtiges Netz verdeckten Wissens: Man weiß hier aus Gerüchten alles übereinander, die Quellen sind nicht immer eindeutig identifizierbar und schon gar nicht erkennbar, wenn man mit städtischen (hier: wissenschaftlichen) Vorannahmen arbeitet. Bei allen Unterschieden zu den Wissensvorstellungen der ersten Untersuchungsgruppe

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ist auch hier Teilhabe ein entscheidendes Kriterium für Wissen über ländliche Räume. Letztlich unterscheiden sich die Deutungen als Spinnennetz und Marktplatz nur marginal, in beiden Fällen ist der Ort ein System von großer Komplexität und von außen undurchschaubar. Von einer möglichen Auflösung dieses Systems der Erinnerungen wird am Ende des Romans erzählt, da wird eine Utopie über Krons Enkelin formuliert: Krönchen war der Beginn einer neuen Ära. Sie würde den Knoten durchschlagen, der die Familie an Unterleuten band. Es galt, eine ganze Ahnenreihe von Bauern, Landarbeitern und Leibeigenen zu beerdigen. […] Sie würde in Hamburg oder München leben, vielleicht sogar in New York oder Singapur, und schon ihre Kinder würden nichts mehr davon ahnen, dass sich ihre Vorfahren eine kümmerliche Existenz aus dem Märkischen Sand gekratzt hatten. (UL, 612) Der Wegzug wird nicht als Niedergang, sondern als Befreiung gedeutet.19 Die zuziehenden Figuren sind in der Deutung der Landbewohner nur ein schwacher Kontrast zu dieser Entwicklung, entsprechend kritisch wird ihre Motivation dann auch hinterfragt: Sollten die verrückt gewordenen Städter kommen und die Häuser der Gestorbenen oder Geflohenen übernehmen. Typen wie der durchgedrehte Vogelschützer mochten den Ostprignitzer Fatalismus für eine Offenbarung halten und die Mentalität ›sehr bodenständig‹ und ›authentisch‹ finden. Aber Fatalismus war nichts weiter als Notwehr gegen Verhältnisse, die man nicht ändern konnte. So entstanden Menschen, die noch während des Weltuntergangs die Ellenbogen auf die Gartenzäune stützten und Sätze wie ›Irgendwas ist immer‹ sagten. Zugezogene begriffen nicht, dass der Weltuntergang hier bereits stattgefunden hatte. Mehrmals. […] Die Überlebenden sprachen eine eigene Sprache und folgten einer eigenen Moral. Kron hatte das immer gut und richtig gefunden, schlicht aus dem Grund, dass er es für unvermeidbar hielt. (UL, 613f.) Diese Reihung steht stellvertretend dafür, wie der Gang aufs Land in Unterleuten immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert und bewertet wird. Die unterschiedlichen (gegenwärtigen wie traditionellen) städtischen Erzählungen

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Das stellt einen deutlichen Bruch mit den longue durée-Narrativen dar, welche die zuvor untersuchten Texte noch aufrufen, ich verweise hier auf die positive Deutung der Umzugstradition bei Moor, der betont, dass schon immer Zuziehende »aus Brache Kulturland« (WB, 222) machten: »Vor 200 Jahren wurde das weitere Umland Berlins als landwirtschaftliche Nutzfläche immer wichtiger, um die rasant wachsende Stadtbevölkerung mit Nahrung zu versorgen. Man brauchte Menschen, die das Land bestellten.« (WB, 221f.) Bei Zeh werden solche positiven Idylle- und Traditionsnarrative der Zuziehenden ins Negativ verkehrt.

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über Land werden dabei radikal infrage gestellt. Doch auch die Gemeinschaftsbilder der Dorfbewohner stehen infrage, da sie eben nicht mehr für »unvermeidbar« gehalten werden. Gerade durch die vielstimmige Anlage des Textes werden Landlust und Umzug ganz anders gedeutet als in den zuvor untersuchten Sachbüchern. Darin steckt ein wesentlicher Kernpunkt für eine Poetologie des Wissens: Räume, genau wie das Wissen hierüber, sind ein Ergebnis der Perspektive ihres Erzähltwerdens. Die Behauptung von Tradition ist genauso eine Konstruktion, wie es die Blickwinkel der einzelnen Figuren sind. Diese besondere Betonung des Zusammenhangs von Wissen, Wahrheit und Perspektive wird im folgenden Unterkapitel abschließend zusammengefasst, dabei geht es auch erneut um die Frage nach der gegenwartsanalytischen Bedeutung des Romans.

1.3 Unterleuten als Ort von Wahrheit, Fiktion und Wissen Wie bereits herausgearbeitet wurde, wird im Roman ein reichhaltiges Repertoire von Themen der Gegenwart behandelt. Dass der Text auf eine gesellschaftliche Umbruchssituation reagiert, wird in programmatischen Sätzen betont, die den Text durchziehen und sicherstellen, dass die gesellschaftliche Dimension der Handlung mitgelesen wird.20 So heißt es beispielsweise: »›Unterleuten wurde lang genug von alten Männern regiert. Die Zeit der alten Männer ist vorbei‹« (UL, 598), und an anderer Stelle: »Die Vergangenheit war ein Ort, an dem der Wahnsinn wohnte.« (UL, 349). Erscheint der Text also zunächst als eine Begleitung der umlaufenden Diskussionen über Sinn und Notwendigkeit von Windkraftanlagen in ländlichen Gebieten, so wird er zum Ende zu einer Erzählung über Transformation und Verfall traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, über die gesellschaftlichen Vorstellungen von Gemeinschaft und über die Macht von Wissen, Erzählen und Meinung. Die im Untertitel (Ein Gesellschaftsroman) angelegte gesamtgesellschaftliche Bedeutung erweitert diesen ländlichen Raum dann zu einer Gesellschaft im Kleinformat. Das wird dadurch gestützt, dass die Fiktion immer wieder als Realität gekennzeichnet wird, sei es durch die im Epilog angelegte Rahmenerzählung oder durch die real aufrufbaren Homepages der Windenergie-Firma, der Dorfkneipe und des Naturschutzbundes.21 Am offensichtlichsten ist dieses Spiel mit den Grenzen von

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Vgl. hierzu auch Richter, Lars: Juli Zeh. Literatur und Engagement unter Leuten, in: Adler, Hans/Klocke, Sonja (Hg.): Protest und Verweigerung/Protest and Refusal: Neue Tendenzen in der deutschen Literatur seit 1989, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2018, S. 129-155, hier: S. 153-155. Vgl. www.ventodirect.de/, www.maerkischer-landmann-unterleuten.de/ und www.vogelschutzbund-unterleuten.de/ [Zugriff am 30.7.2019].

Zeh – Unterleuten

Realität und Fiktion jedoch in dem von Linda Franzen gelesenen Buch Dein Erfolg angelegt, denn der fiktive Ratgeber des ebenfalls fiktiven Autors Manfred Gortz wurde parallel zu Unterleuten im Portobello-Verlag veröffentlicht.22 In einer Stellungnahme über die Identität von Manfred Gortz hat Juli Zeh deutlich gemacht, dass sie die komplexen Wahrheits- und Wissenssysteme dörflicher Gemeinschaften als symbolhaft für Kommunikation der Spätmoderne versteht: Das Kommunikationszeitalter verändert uns, als Einzelne und als Gesellschaft. Viele Fragen stellen sich noch einmal neu: nach der menschlichen Identität, nach dem feinen Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit, auch nach Autorenschaft, nach Plagiat und Zitat. Durch die mediale Inflation wird immer wichtiger, was in der Provinz ›Dorffunk‹ genannt wird – eine globale Gerüchteküche. Jeder glaubt, alles über alles und jeden zu wissen, während es in Wahrheit nur Milliarden von Geschichten sind, die wir uns pausenlos gegenseitig erzählen. Sie werden zu einem undurchdringlichen Netz aus Legenden, Anekdoten und Fiktionen, welches unsere Realität ausmacht. Gibt es überhaupt noch etwas anderes als Virtualität, wenn es doch vor allem der ›Dorffunk‹ ist, der unser Denken, unsere Entscheidungen und Handlungen bestimmt?23 Dass das Dorf selbst in Zehs Deutung der passende symbolische Ort für die Frage ist, was Erzählungen, Wahrheit und Wissen überhaupt noch unterscheidet, lässt sich auch am Roman erkennen: Zwar ist das Wissen über Vergangenheit des Dorfes ungenau, weil narrativ konstruiert, es bestimmt aber das Handeln und die alltägliche Realität des Landlebens genauso, wie Wahrheit es täte. Im Buch ist das ähnlich formuliert: Sorgfältig hatte Gerhard alle Aussagen in ihre Bestandteile zerlegt und die Informationen neu zusammengesetzt. Was herauskam, stellte die Wahrheit dar. Dann jedenfalls, wenn man aufgeklärt genug war, um ›Wahrheit‹ als den Fall mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu betrachten. (UL, 558) Letztlich kann die Wahrheitsfrage aber nicht geklärt werden, da sie zu eng mit Machtfragen verbunden ist. Geschichten und Erzählungen sind hier immer etwas,

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Hier geht die Inszenierung sogar so weit, dass nach mehreren Artikeln über den fiktiven Autor ein Videostatement des Autors bei Youtube veröffentlicht wurde; vgl. Gortz Statement, URL: https://www.youtube.com/watch?v=6Wkecy6EHsk [Zugriff am 30.7.2019]. Tobias Lehmkuhl hatte Gortz zuvor als literarische Fiktion von Zeh enttarnt; vgl. Lehmkuhl, Tobias: Wer in Juli Zehs ›Unterleuten‹ wen bewegt, in: Süddeutsche Zeitung, 14.4.2016, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/juli-zehs-unterleuten-hat-juli-zeh-fuer-ihren-ak tuellen-roman-abgeschrieben-1.2949260 [Zugriff am 30.7.2019]. Zeh, Juli: Juli Zeh über Manfred Gortz und den virtuellen Kosmos von Unterleuten, URL: htt ps://unterleuten.de [Zugriff am 2.8.2019].

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das den eigenen Bedürfnissen angepasst werden kann. Es geht darum, eine Geschichte über die eigene Person zu finden, die im ländlichen Komplex von Macht und Raum wirksam wird. Das ist auch an der Verwendung von Intertexten zu erkennen, deren Gehalt, ähnlich wie in allen bisher untersuchten Texten, häufig so verfremdet wird, dass sie einen ganz anderen Sinn erhalten als im ursprünglichen Äußerungszusammenhang. So erscheint es beinahe als Kommentar auf diesen Umgang mit Tradition, wenn Gerhard Fließ feststellt, Goethe habe Fausts Ausspruch »schlichtweg falsch herum formuliert. Das Teuflische des Menschen liege zweifellos in jener Kraft, die stets das Gute will und dann das Böse schafft.« (UL, 19) Zeh führt in Unterleuten vor, wie traditionelle Raumordnungen durch Kapitalismus und Digitalisierung enden und zugleich, dass traditionelle Erzählungen über Land unter diesen Bedingungen nicht mehr tragfähig sind. Unterleuten ist ein Beispiel für programmatische Narrative, welche als Reaktion auf traditionelle (autoritative) Narrative entstehen und die Letzteren als nicht mehr zeitgemäß kennzeichnen und dekonstruieren. Darin steckt auch eine Absage an urbane Entlastungs-Narrative wie das der Dorfgeschichte, welche den ländlichen Raum nach einem bestimmten Bedarf herstellen. Zudem steckt in der Absage an ländliche Idyllen die Erkenntnis, dass imaginäre Dörfer die von Sennett beschriebene »endlose Suche nach Anerkennung durch andere und nach Selbstachtung«24 nicht erfüllen können. Mit der eingehenden Betrachtung von Unterleuten konnte zusätzlich herausgearbeitet werden, dass die Darstellung von zuziehenden Figuren für die Verhandlung der urbanen Land-Bilder entscheidend ist.

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Sennett 2010, S. 141; vgl. dazu auch Richter 2018; Preußer 2009.

2. Dörte Hansens Altes Land

Dörte Hansens Roman Altes Land ist aus zwei Gründen ein wichtiges Dokument einer Poetologie des Wissens über rurale Räume im beginnenden 21. Jahrhundert. Zum einen wurde es über 500.000-mal verkauft. Zum anderen erklärt Dörte Hansen, wie im Eingang dieses Kapitels bereits erwähnt, eine Frage zum Mittelpunkt ihres Schreibens über ländliche Räume, mit der, wie in den Paratexten der ersten Untersuchungsgruppe, Aufklärung über Land versprochen wird: »Warum ist das Bild vom Landleben so merkwürdig?«1 Obwohl Altes Land kein Sachbuch ist, wird dadurch die Figuration ländlicher Räume als zu entdeckende und zu rettende Orte zum Mittelpunkt dieses Schreibens erhoben. Ähnlich wie in den Texten der ersten Untersuchungsgruppe ist auch dieser Anspruch autobiographisch begründet: Hansen kommt aus der Nähe von Husum, wo sie auch heute lebt. Bis 2016 wohnte sie selbst im Alten Land, wohin sie Mitte der 2000er Jahre aus Hamburg-Ottensen gezogen ist und das auch der Handlungsort ihres gleichnamigen Romans wurde. In Altes Land werden die Umzüge von Vera von Kamcke und ihrer Nichte Anne Eckhoff erzählt, ihr Ankommen auf dem Land und insbesondere von ihren Versuchen, gemeinsam ein Haus in der nahe Hamburg gelegenen Kulturlandschaft zu bewohnen. Beide Umzüge werde als Fluchtgeschichten erzählt, denn Vera von Kamcke ist als Fünfjährige mit einem Flüchtlingstreck auf den Hof gekommen, über 60 Jahre später flieht ihre Nichte Anne vor den Überforderungen des Stadtlebens aufs Land zur Tante. Dass dieses Ankommen dann schwierig ist wird schon dadurch versichert, dass über der Tür des von beiden bewohnten Hauses ein Satz steht, der zum Leitmotiv des Romans wird: »Dit Huus is mien und doch nich mien, de no mi kummt, nennt’t ook noch sien«.2 Damit werden die Last von Tradition und die Möglichkeiten von Heimat schon am Beginn des Textes zu den wichtigsten Themen erhoben. In 1

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dpa: Bestseller-Autorin Dörte Hansen surft die Welle, in: Süddeutsche Zeitung, 30.7.2016, URL: www.sueddeutsche.de/news/kultur/literatur-bestseller-autorin-doerte-hansen-surftdie-welle-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150730-99-02771 [Zugriff am 5.5.2019]. Der nachfolgende Roman Mittagsstunde erzählt keine Zuzugs-, aber eine Dorfgeschichte und wird daher hier nicht untersucht. Hansen, Dörte: Altes Land, 27 München: Albrecht Knaus Verlag 2015, S. 7. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle AL im Fließtext nachgewiesen. Die niederdeutsche

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dieser Erzählung ist der Gang aufs Land also nicht so einfach zu vollziehen, da er nicht nur vom Willen der Umziehenden, sondern auch von den (historischen) Bedingungen des Raumes abhängt: Vielleicht bekam man es vererbt, wenn man hineingeboren wurde in eine dieser Marschfamilien, wenn man Teil eines Fachwerks war von Anfang an. Man kannte seinen Platz und seinen Rang in dieser Landschaft, es ging immer nach dem Alter: Erst kam der Fluss, dann kam das Land, dann kamen die Backsteine und Eichenbalken und dann die Menschen mit den alten Namen, denen das Land gehörte und die alten Häuser. Alles, was dann noch kam, die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher, waren nur Flugsand und angespülter Schaum. Fahrendes Volk, das auf den Wegen bleiben musste. (AL, 169) Da wird der Raum also nicht durch die Zuziehenden geordnet, sondern sie müssen sich der historisch gewachsenen Raumordnung anpassen. Wer das nicht tut, scheitert. Für diese Studie ist zudem relevant, dass die landlustigen Figuren der Gegenwart (»Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher«) mit Geflüchteten in eine Reihe gestellt werden, denn beiden ist die Unmöglichkeit gemein, auf dem Land Heimat zu finden. Das Motiv von der Last der (familiären) Tradition wird durch die Geschichten der Frauen ausgebaut, welche vor der eigentlichen Handlung abgelaufen sind und erst im Laufe des Textes in externen Analepsen geschildert werden. Aus diesem groben Überblick ist eine zentrale Frage des Romans abzuleiten: Kann der ländliche Raum die an ihn gehefteten Versprechen von Heimat, Freiheit und Verbindlichkeit heute noch erfüllen? Dass Altes Land nun in dieser Studie untersucht wird, liegt nicht nur an den beiden Geschichten vom (unfreiwilligen) Gang aufs Land, sondern auch daran, dass wiederholt Motive und Erzählweisen der ›Lust auf Land‹ zitiert und so auf ihre Tauglichkeit zur Beantwortung der eben umrissenen Frage geprüft werden. Insbesondere die Figur Burkhard Weißwerth steht, wie später noch gezeigt wird, für diesen Diskurs und die medialen Versprechen ländlicher Idylle. Am Ende scheitert sein Umzug, wodurch, ähnlich wie in Zehs Unterleuten, diese Erzählung dann zu einer Art ›Machbarkeitsstudie‹ über oder Kommentar auf mediale Idyllen der Gegenwart, insbesondere Umzugserzählungen von Autoren wie Moor, Sezgin oder Hochreither, wird. Für eine Poetologie des Wissens ist besonders relevant, dass durch solche in Raum- und Figurengestaltung angelegten Diskursreaktionen Altes Land nicht nur ein Text über Wissen vom Ländlichen ist, sondern auf einer Metaebene die Frage behandelt wird, wie Wissen und Wahrheit über Land erlangt und erzählt werden können. Das erinnert an Hansens oben zitierte Frage, »Warum ist das Bild vom LandlePassage lässt sich übersetzen mit: »Dies Haus ist meins und doch nicht meins, der nach mir kommt, nennt es auch noch seins.«

Hansen – Altes Land

ben so merkwürdig?«, die zugleich als Forschungsinteresse und Authentizitätsversprechen für das eigene Schreiben gelesen werden kann. Es liegt also nahe, die Wissensbehauptungen, Darstellungsweisen und Raumkonfigurationen von Altes Land mit denen der ersten Untersuchungsgruppe zu vergleichen. Auch in der Rezeption des Romans ist sein Verhältnis zum Diskurs der ›Lust auf Land‹ wiederholt betont worden, wenn mal gelobt wurde, dass der Text nicht in Landromantik verfalle,3 und zum anderen beanstandet wurde, dass Hansen die von ihr kritisierten Romantisierungen selbst nutze.4 Gerade dieses Verhältnis von wiederkehrenden idyllischen Motiven und Aufklärung über Land(lust) wird in der folgenden Analyse vertieft. Um das zu leisten, wird im folgenden Unterkapitel das Geschehen des Romans zusammengefasst, wobei insbesondere die zentrale Konfiguration des ländlichen Raums als mögliche oder unmögliche Heimat fokussiert wird. Dann wird auf einige formale Besonderheiten dieses Erzählens eingegangen, um schließlich zu schlussfolgern, was für eine Poetologie des Wissens über Land folgt, wenn auch in Altes Land die forschenden Umzugserzählungen der Sach- und Unterhaltungsliteratur in Literatur eingehen.

2.1 Handlung, oder: Raumkonfiguration Heimat Der Roman beginnt mit der Beschreibung von Vera von Kamckes Haus, welches der zentrale Ort der Handlung ist. Von Beginn an ist dieser rurale Raum ein Ort des Verfalls und der Beständigkeit zugleich: »Das Haus stöhnte, aber es würde nicht sinken. Das struppige Dach saß immer noch fest auf seinen Balken. Grüne Moosnester wucherten im Reet, nur am First war es durchgesackt.« (AL, 7) Die Personifizierung des Hauses macht es zum lebendigen Gegenüber, mit dem gerungen werden muss – das ist das wiederkehrende Bild von Landnahmen, die keine Selbstverständlichkeit sind, sondern ein andauernder Kampf.5 Um dieses Ringen zu schildern wird, ähn3

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Da heißt es bspw.: »Dieser Roman ist wohltuend anders. Keine Romantik. Klischeefrei.« NDR: Buch des Monats März 2015, zit.n. Autorenseite des Verlags, URL: https://www.randomhous e.de/Buch/Altes-Land-Roman/Doerte-Hansen/e462499.rhd [Zugriff am 27.7.2018]. Vgl. Freidel, Morten: Dit Huus is mien und doch nich mien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.8.2015, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/roman-altes-land-von -doerte-hansen-ueber-romantisierung-13760302.html#void [Zugriff am 27.7.2018]. Dieses Ringen mit einem anthropomorphisierten Haus wurde in den letzten Jahren in mehreren Romanen als Topos etabliert. So tritt das Haus in Kerstin Höckels Wie wir damals auf dem Bauernhof geheiratet haben, und der Alois am Tag drauf fast den Hund erschossen hat, weil er was gegen die Stadtmenschen hat und das Glück überhaupt (2011) noch offensichtlicher als Figur auf, welche die Entscheidungen der zugezogenen Erzählerin begleitet und steuert. Ähnlich steuert die Geschichte des Hauses auch in Pauline de Boks Blankow oder Das Verlangen nach Heimat (2011) das Ankommen der Erzählerin. Als Variation der Erzählung vom Ringen mit der Natur zählt das zum narrativen Repertoire der Idylle.

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lich wie in Unterleuten, einzelnen Elementen des Hauses die besondere Fähigkeit zugeschrieben, Erinnerung und Tradition zu inkorporieren. Handelte es sich in Zehs Roman um einen Türgriff, wird in Altes Land anhand der Brauttür der besondere Wert häuslicher Artefakte beschrieben, dabei wird aber der traditionelle und symbolische Gehalt deutlich weiter ausformuliert: Sie wusste nicht, wie viele Menschen in diesen kalten Mauern schon gelebt hatten, es mussten neun oder zehn Generationen sein. Hochzeiten gefeiert, ihre Kinder gezeugt, geboren, verloren, ihre Toten aufgebahrt in dieser zugigen Diele. Junge Frauen waren in ihren Hochzeitskleidern in das Haus gekommen, durch die Brauttür, und hatten es in ihren Särgen wieder verlassen – durch dieselbe schmale Tür, die außen keine Klinke hatte, die nur geöffnet wurde beim Heiraten und beim Sterben. (AL, 47) Für Vera von Kamcke erhöht die Tradition jedoch nicht den Wert des Hauses, die longue durée verhindert vielmehr eine eigene Inbesitznahme und Entwicklung. Letztlich ist es nicht möglich, in einem solch alten Haus heimisch zu werden, »[m]an musste großgeworden sein in diesen Häusern, um sich in ihnen nicht zu fürchten, nachts, wenn die Wände zu flüstern begannen.« (AL, 31) Diese Raumkonfiguration folgt auch aus ihrer Biographie, in welcher der Gang aufs Land eine Geschichte von Vertreibung und Flucht war: Vera von Kamcke ist 1945 als Flüchtlingskind mit ihrer Mutter Hildegard auf den Hof von Vera Eckhoff gekommen. Hildegard von Kamcke, ehemals ostpreußischer Adel, konnte sich mit der Rolle der Geflüchteten nicht arrangieren, zwischen ihr und Ida Eckhoff entbrannte ein andauernder Streit um die Deutungshoheit. Um diesen Streit zu entscheiden heiratete Hildegard von Kamcke Eckhoffs Sohn Karl, der durch die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg traumatisiert war und zumeist nur auf einer Bank im Garten saß. Der Streit eskalierte endgültig, als Hildegard eigenmächtig einen Schrank umstellte, Ida Eckhoff hielt die darin manifestierte neue Ordnung nicht lang aus und erhängte sich. Aber Hildegard wurde nicht friedlicher, als Ida Eckhoff unter der Erde war. Ihre Wut wechselte nur die Richtung, raste nun ungebremst auf Karl und Vera zu, die schief und schiefer wurden in dem ewigen Sturm, zwei windgeschorene Menschen. Vera wurde schließlich wieder gerade, mit vierzehn Jahren, als ihre Mutter schwanger wurde und wegging mit dem Vater ihrer kleinen Tochter, die Marlene hieß. (AL, 33) Diese Marlene selbst hat dann zwei Kinder, einen musikalisch hochbegabten Jungen und Anne, die stetig am Erfolg des begabten Bruders leidet, bis sie dann zur Tante aufs Land zieht. All das ist vor Einsetzen der Handlung passiert und wird im Laufe der Erzählung in Analepsen nachgereicht. Aber die Geschichten sind nie abgeschlossen, sondern die Zeitebenen überlagern sich durch das Nachwirken der

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Vergangenheit. Noch bevor die Lesenden von der Geschichte des Suizids erfahren, heißt es darüber: Das hatte man davon, wenn man es wagte, Hand an dieses Haus zu legen. Man brach ihm eine alte, morsche Seitentür heraus und zahlte dann dafür Blut und Scherben in der Diele. […] Man verrückte einen schweren Eichenschrank, der zweihundert Jahre an seinem Platz gestanden hatte, und am Abend hing jemand tot an einem Balken auf dem Boden. (AL, 36f.)6 Das Kind Vera bleibt mit Karl in dem Haus ohne je heimisch zu werden, studiert und wird Zahnärztin. Die Geräusche der vielen Generationen im alten Haus halten sie wach, Schlaf findet sie erst in den Morgenstunden, wenn auch Karl Eckhoff ruhig ist, der im Traum immer wieder den Krieg durchlebt. So wird im Roman die deutsche Geschichte zum Hindernis für das Finden von Heimat, wenn es über Veras Dableiben heißt: Sie war auf Ida Eckhoffs Hof gespült worden wie ein Ertrinkender auf eine Insel. Um sie herum war immer noch das Meer, und Vera hatte Angst vor diesem Wasser. Sie musste bleiben auf ihrer Insel, auf diesem Hof, wo sie zwar keine Wurzeln schlagen konnte, aber doch festwachsen an den Steinen, wie eine Flechte oder ein Moos. (AL, 42) In dieser ersten Erzählung scheitert das Ankommen auf dem Land letztlich an der Unausweichlichkeit der Geschichte. Kurz nach Einsetzen des Geschehens zieht dann Veras Nichte Anne mit ihrem Sohn auf den Hof. Sie wurde von ihrem Partner betrogen und flüchtet vor dem Ende ihrer Beziehung, aber auch vor dem Treck der Ottensener Vollwert-Mütter, die jeden Tag aus ihren Altbauwohnungen strömten, um ihren Nachwuchs zu lüften, die Einkäufe aus dem Bio-Supermarkt im Netz des Testsieger-Buggys, den Kaffeebecher in der Hand und im Fußsack aus

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An dem Zitat sind gut Besonderheiten der dem Roman zugrundeliegenden Raumvorstellungen abzulesen: Die Vorstellungen vom unveränderlichen ländlichen Raum werden durch die willkürlich erscheinenden Konditionale sowie die Personifizierung des Hauses mythologisch überhöht, sie wirken dadurch wie ein Kommentar auf gesellschaftliche Konstruktionen vom Land als idyllischer Raum der Dauer. Die so etablierte mythische Konfiguration ländlicher (Bauernhaus-)Räume wird zur Basis von Altes Land und zu einer Regel über Landleben, wonach man den menschlichen Einfluss auf das Leben in ländlichen Räumen nicht überschätzen darf. Damit wird der Vorstellung vom leeren Raum eine Absage erteilt, welche der Landnahme-Tradition zugrunde liegt. In der implizierten Raumkonfiguration sind ländliche Räume immer belebt – von Lebenden, Häusern oder Toten.

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reiner Schafwolle ein kleines Kind, das irgendetwas Durchgespeicheltes aus Vollkorn in der Hand hielt. (AL, 24) Diese Ablehnung des urbanen Lebens ist maßgeblich für den Wunsch, aufs Land zu ziehen, der ländliche Raum wird ihr zum Gegenentwurf für die beschriebenen Lebenskonzepte. Diese Konfiguration wird durch die Begründung ihrer bisherigen Heimatlosigkeit ausgebaut, sie fühlte durch den frühen musikalischen Erfolg des Bruders und das damit einhergehende Schattendasein ein »[u]nheilbares Heimweh nach einem Zuhause, das es nicht mehr gab« (AL, 54). Sie war »[e]ine Vertriebene, die nicht mehr wusste, wo sie hingehörte« (AL, 54). Der Umzug selbst wird als lebensverändernden Maßnahme geplant: »Sie war jetzt froh, dass es zu Ende war. Dass sie rauskam aus dieser Wohnung, aus der Stadt, weg von dem verdreckten Taubentunnel, nie wieder mit nervösen Müttern auf dem Spielplatz sitzen […]. Sie würde über Felder gehen. Das Weite suchen.« (AL, 78) Nach diesen beiden Umzügen ist das eigentliche Geschehen übersichtlich: Anne bleibt auf dem Hof, repariert das Haus, lebt dafür kostenlos bei Vera, woraufhin sich beide Frauen aneinander entwickeln und am Ende doch noch Heimat finden. Mehr nebenbei werden einzelne Lebensgeschichten von anderen Dorf- und Stadtbewohnern erzählt. An dieser Übersicht über das Geschehen ist zu erkennen, dass bereits am Beginn des Textes eine relativ bekannte Raumordnung etabliert wird, in welcher die Stadt ein Ort von sozialer Überlastung ist, während der ländliche Raum zunächst als Ort von Weite, Heilung und Heimat erträumt wird. Dann muss erkannt werden, dass die Deutung als Ort von Tradition ungenau ist, da die Tradition einfache Inbesitznahmen eines Raumes verhindert, denn, das ist eine zentrale Botschaft, leere Räume gibt es nicht. Besonders der strikte Stadt-Land-Dualismus erinnert an die Raumkonfigurationen der Texte der ersten Untersuchungsgruppe, durch die abwägende Erzählung von der (Un-)Möglichkeit, Heimat zu finden, wird der ländliche Raum aber mit mehr Komplexität beladen. Schon an dieser engen Verbindung des Erzählens über Heimat und der Raumkonfiguration des Textes ist zu erkennen, wie in Altes Land Erzähltraditionen, Klischees und Diskursbilder genutzt werden, um die Raumkonfiguration zu gestalten. Gerade die strikte Unmöglichkeit, Heimat als fixen Ausgangs- oder Zielpunkt eines Geschehens zu erzählen, erscheint dann beispielhaft als Kommentar auf gegenwärtiges Erzählen über ländliche Räume und Heimat, besonders auf den häufig unhinterfragten Konnex der beiden Imaginationen. Weiterhin stehen die Ottensener Mütter und der sogenannte Lifestyle of Health and Sustainability (LOHAS) beispielhaft für Klischeebilder dieser Art, durch welche das Stadtleben abgewertet wird.7 7

Damit wird ein Diskurs adressiert, der Gesundheits- und Nachhaltigkeitsversprechen mit Konsum vereint und so die Werteorientierung fragwürdig erscheinen lässt. In der eher überschaubaren Forschung zum Thema werden wiederholt Parallelen zwischen LOHAS-Anhängern und Landlust-Lesern gezogen, insbesondere in Bezug auf deren wertkonservative Hal-

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Und auch andere Figuren repräsentieren etablierte (Niedergangs)Erzählungen über ländliche Räume: Der Apfelbauer Dirk zum Felde hat immer mehr Schwierigkeiten, den Betrieb wirtschaftlich zu halten und muss sich entscheiden, ob er verkauft oder den Hof zu einem Erlebnisbauernhof umbaut, auf dem selbstgemachte Marmeladen an Wochenend-Besucher aus der Stadt verkauft werden. Vera von Kamckes Nachbar Heinrich Lührs ist Witwer, seitdem seine Frau von einem Auto »in der großen Kurve vom Fahrradweg gefegt« (AL, 66) wurde. Mehr als an den Entwicklungen der Apfelwirtschaft leidet er an der Absage seiner drei Söhne, den Familienbetrieb zu übernehmen: »›Vadder, ik ook nich‹, hatte Georg gesagt, ein paar Tage bevor Elisabeth mit dem Fahrrad losfuhr, dabei wäre er von den dreien der beste gewesen. Drei Söhne hatte Heinrich Lührs und keinen Nachfolger.« (AL, 67) Obwohl der Sohn auf Niederdeutsch antwortet, steht nun auch Lührs für das Ende ländlicher Traditionen und für die Feststellung, dass der ländliche Raum nicht mehr der Ungleichzeitigkeit medialer Idyllen entspricht, sondern ein Raum in Transformation ist. In beiden hier angeführten Beispielen werden also etablierte Niedergangserzählungen über ländliche Räume genutzt, auf diese Weise entsteht ein literarischer Raum unter glaubwürdigen, weil narrativ etablierten, Bedingungen. Im folgenden Unterkapitel wird nun untersucht, in welcher erzählerischen Form dieses Geschehen, das erzählte Wissen, die erzählten Räume und die Suchen nach Heimat präsentiert werden.

2.2 Heimat und Ankommen erzählen Das Geschehen wird von einem heterodiegetischen Erzähler vermittelt. Ähnlich wie in Zehs Unterleuten wechselt die Fokalisierung stetig, sodass verschiedene Perspektiven auf den ländlichen Raum gegeben werden. Zumeist erfolgt auch hier der Wechsel mit den einzelnen Kapiteln, der Aufbau ist jedoch deutlich weniger programmatisch, da die Kapitelüberschriften nach dem Inhalt und nicht den Erzählern gewählt sind. Auch Hansen greift in der Auswahl der Erzählfiguren auf die extratextuellen Schemata traditioneller sowie aktueller Diskurse über Land zurück, sodass das Figurenrepertoire kulturell tradierte Stimmen über Land umfasst: die Zuziehenden,

tungen sowie gehobene Einkommen. Beiden wird dabei eine eher mediale denn tatsächlich lebensverändernde Agenda unterstellt, was auch in der obigen Beschreibung der Ottensener Mütter in Altes Land zu erkennen ist. Ursprünglich eine von dem amerikanischen Soziologen Paul Ray in dem Buch The Cultural Creatives (2000) vorgeschlagene Beschreibung eines nachhaltigkeitsorientierten Lebensstils, ist der Begriff heute insbesondere im Marketing zur Beschreibung der Einstellung von Konsumenten gebräuchlich; vgl. Helmke, Stefan/Scherberich, John Uwe/Uebel, Matthias: Einführung: Die Zielgruppe LOHAS, in: dies. (Hg.): LOHAS-Marketing. Strategie – Instrumente – Praxisbeispiele, Wiesbaden: Springer 2016, S. 1-8, hier: S. 1.

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die Eingesessenen, die Bauern, die Landlustigen. Anhand dieser verschiedenen Perspektiven wird dann von den verschiedenen Möglichkeiten des Ankommens oder Beheimatet-Seins auf dem Land erzählt, dennoch erscheint die Auswahl weniger systematisch als bei Zeh, sodass zunächst weniger der Eindruck eines Panoptikums als eines komplexen Raumes entsteht. Dass aus diesen unterschiedlichen Perspektiven diverse Räume entstehen, ist beispielsweise an dem zugezogenen Journalisten Burkhard Weißwerth zu sehen, diesem ist Landleben als idyllische Ländlichkeit primär eine Einnahmequelle, hingegen ist für den Bauern Heinrich Lührs das Land ein agrarisch-geprägter Ort familiärer Traditionen. In dieser Gegenüberstellung unterschiedlichster Raumbilder erscheinen letztlich alle als brüchig, der ländliche Raum in Altes Land ist zwar ein Raum aus Klischees, aber auch ein Raum in Bewegung. Mit der Fokalisierung ändern sich auch Stil und Ausführlichkeit des Erzählens. So wird Hildegard von Kamckes Hochzeit mit Karl Eckhoff nur in einem knappen Satz erwähnt, obwohl damit ein Generationenwechsel auf dem Hof einhergeht (»Und im Oktober […] zog Ida Eckhoff auf ihr Altenteil und hatte eine Schwiegertochter« (AL, 14)). Auch Veras Schilderungen von Landleben sind knapp, häufig von niederdeutschen Passagen durchsetzt, die nicht durch die Erzählinstanz eingebettet werden, was an einen Stream of Consciousness erinnert.8 In den Kapiteln der Zugezogenen hingegen erfolgen die Naturbeschreibungen deutlich ausführlicher, so in der ersten Wahrnehmung des Alten Lands durch Anne: Zum ersten Mal sah sie das Alte Land in seiner kalten Blöße, die Obstbäume, die wie Soldaten in der schweren Erde standen, kahle Regimenter in endlosen Reihen und dazwischen der hartgefrorene Marschboden. In den tiefen Furchen, die die Traktoren hinterlassen hatten, war das Regenwasser zu weißem Eis gefroren. Große Greifvögel, deren Namen sie nicht kannte, hockten in den Ästen, als wären sie zu schwer zum Fliegen. Auf den Deichen und an den Gräben lag das Gras struppig und fahl, eine Landschaft ohne Farben, nur auf dem Fußweg leuchteten neongelb die Sicherheitswesten einer Kindergartengruppe, die mit ihren Erzieherinnen in einer ordentlichen Zweierreihe den Straßenrand entlangzuckelte. […] Sie musste herausfinden, wo es diese gelben Westen gab.« (AL, 84f.) Der Ursprungsbereich ›Krieg‹ (Soldaten, Regimenter) des Vergleichs sowie die Gegenüberstellung der struppigen, farblosen Landschaft gegen die geordnete Kinderwelt machen den ländlichen Raum zu einem bedrohlichen Raum der Fremde, gleichzeitig werden die Wissenslücken der Stadtbewohnerin betont, was die Distanz ver-

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Dabei handelt es sich um einen Formbegriff, bei dem »nicht rational gesteuerte Bewusstseinsabläufe […] in ihrer Ungelenktheit, Inkohärenz und Flüchtigkeit ohne jede Vermittlung durch einen Erzähler dargestellt werden«; Müller, Wolfgang: Bewusstseinsstrom, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4 Weimar: Springer 2008, S. 68.

Hansen – Altes Land

größert. Daran schließen die Bemühungen an, die eigenen Wissenslücken zu schließen und damit anzukommen (»Sie musste herausfinden, wo es diese gelben Westen gab.«). Im Gegensatz zu dieser Ausführlichkeit werden in den Naturwahrnehmungen der Einheimischen die Ordnung und Regelkonformität von Landleben und Natur betont, was in Heinrich Lührs Blick über die Elbinseln wiederzufinden ist: »Über der Elbinsel kreisten die Möwen, Brutplätze besichtigen, Partner suchen, Rivalen weghacken, Nester bauen, alles auf Kommando, alles lief nach Plan.« (AL, 167) Die beiden unvereinbaren Welten Stadt und Land sind durch ihr Verständnis für Landleben und das hierfür notwendige Wissen voneinander getrennt. Und zudem gilt: Was Natur und Landleben bedeuten, hängt maßgeblich an Geschichte und Interesse der Betrachtenden. An dieser sprachlichen Modellierung der Wahrnehmung scheint letztlich auch der Charakter abzulesen zu sein, so wird der Musikschulleiter und Noch-Arbeitgeber Annes als Figur der Stadt charakterisiert, er setzt sein pädagogisches Vokabular nicht aus eigener Überzeugung, sondern zur Überzeugung der Eltern ein: »Musimaus stand für ein anspruchsvolles Frühförderungskonzept, und wenn Bernd seine kurze Begrüßungsansprache hielt, baute er sorgfältig die einschlägigen Schlüsselwörter ein. Spielerisch war immer das erste.« (AL, 16) Die Stadt wird durch seine Schilderung als ein Ort von Berechnung und Uneigentlichkeit erzählt. Die Beschreibung des Landlebens bzw. der ländlichen Figuren hingegen weist ein Vokabular aus traditionellen und regionalen Begriffen auf, über Heinrich Lührs erfährt man, sein Vater »war in der Buddel« (AL, 30), und das Kind Vera pirschte »[f]rühmorgens […] in Karls alter Lodenjoppe durch die Obstplantagen und knallte Hasen und Rehe ab« (AL, 37f.). Durch das unterschiedliche Vokabular wird Kohäsion zwischen ländlichen sowie städtischen Zuständen geschaffen, die sowohl auf sprachlicher wie inhaltlicher Ebene getrennt werden. Vor der Arbeit an der Musikschule hatte Anne eine Ausbildung zur Tischlerin gemacht. Die Freundin ihres ehemaligen Tischlermeisters, Urte, verbildlicht ebenso wie die LOHAS-Figuren als dezidiert städtische Figur Konzepte alternativer Lebensführung. Obwohl Urte und die Ottensener Mütter nur beiläufig verhandelt werden, sind sie wichtige Beispiel dafür, wie im Text über solche Abgrenzungsfiguren Identität geschaffen wird: Ihre Schilderung wirkt ironisch, ihr Handeln wird zumeist durch die Hauptfiguren abgelehnt und hat keinen Einfluss auf den Fortlauf der Geschichte, wohl aber auf die Figuration der Stadt als Kontrastraum zum Land. Über Urte heißt es, sie war Lehrerin an einer Waldorfschule und wohnte mit zwei anderen Frauen in einer von Wertschätzung und Achtsamkeit geprägten WG, während sie mit Carsten eine komplizierte On-off-Beziehung lebte. Im Kern ging es immer um die Frage, ob ihre Widersprüche auszuhalten waren oder überwunden werden mussten. (AL, 58)

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Beim Weiterlesen fällt auf, dass eine solche Wahl den alteingesessenen Landbewohnern nicht bleibt, diese Fragen und Diskurse werden als städtische Themen markiert. Ähnlich geschieht dies durch die oben beschriebene Darstellung der Hamburger Mittelschicht oder durch die Figur Burkhard Weißwerth. Solche Funktions-, Repräsentations- oder Diskursfiguren stehen gerade durch ihre klischeegemäße Darstellung für einen gefilterten Ausschnitt aus einem gesellschaftlichen Diskurs.9 Der Umgang der Haupt- und Erzählfiguren mit diesen Repräsentationsfiguren geht mit der Wertung der dahinterstehenden Diskurse einher, dies »erfolgt entweder durch explizite evaluative Äußerungen im Erzähltext oder implizite Bewertung des Figurenverhaltens und der Figurenhandlungen«.10 Eine Möglichkeit der impliziten Bewertung in Altes Land ist es, die Figur scheitern zu lassen, was sowohl bei Urte als auch bei Burkhard Weißwerth geschieht. Indem so die Diskurse der ›Lust auf Land‹, des Lifestyle of Health and Sustainability oder mit Urte der Achtsamkeitsbewegung in den Roman integriert werden, wird erst Hansens epistemisches Programm ermöglicht, die Beantwortung der Frage, »[w]arum […] das Bild vom Landleben so merkwürdig« ist. Um die Bedeutung dieser Frage für eine Poetologie des Wissens über Land zu analysieren, werden die Funktionsfiguren im folgenden Unterkapitel eingehender betrachtet, dabei wird insbesondere nach einer Bewertung des Diskurses der ›Lust auf Land‹ gesucht und es werden Behauptungen von Wissen über Raum herausgearbeitet.

2.3 Die ›Lust auf Land‹ wird Figur Wie bereits angedeutet wurde, ist besonders die Figur Burkhard Weißwerth als Kommentar zum Landlust-Diskurs insgesamt zu verstehen. Der aus Hamburg stammende Journalist hat mit einer Abfindung ein Haus gekauft und über diese Erfahrungen bereits das Buch Willkommen in der Gummistiefelwelt veröffentlicht, das zweite Buch Elbmenschen – Knorrige Gesichter einer Landschaft hat er kürzlich abgeschlossen. Auch den »Titel seiner Zeitschrift hatte er schon lange im Kopf: Land&Lecker, Magazin für Menschen, die genug hatten, downshifters wie ihn, die kapiert hatten, dass weniger mehr war, die den ganzen Ballast loswerden wollten.« (AL, 105) Die Ähnlichkeit zur thematischen Ausrichtung und zum ausstellenden Duktus einzelner Publikationen wie Landlust und auch den Büchern der ersten

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Vgl. Mair, Meinhard: Erzähltextanalyse. Modelle, Kategorien, Parameter, Hannover: Ibidem 2016, S. 53. Hier ist auch die Bedeutung von Kitsch oder Klischee für die Integration gesellschaftlicher Diskurse in die Literatur zu erkennen, denn sie werden für die strikte Trennung beider Räume benötigt und gerade die Wahl des erzählten Ausschnitts ist eine Aussage über die Wertung von Tradition und Diskurs. Ebd.

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Untersuchungsgruppe sind unverkennbar, sodass hier der gesamte Diskurs Figur wird. Weißwerth renoviert das erworbene Haus nach dem Vorbild alter Land-Bauernhöfe, um ein möglichst authentisches Landleben zu erreichen. Sein Scheitern ist bspw. daran zu erkennen, dass das ›authentische‹ Pflaster des Hofes schlecht (aber teuer) verlegt wurde, das Dorf ist darüber amüsiert, aber ihm ist es »ohnehin jeden Cent wert, es gab ihrem Haus etwas Raues, Ehrliches. Hier war kein Platz für das urbane, neurotische, überreizte High-Heel-Leben.« (AL, 104) Der Gegensatz vom Land als ehrlichem und rauem Ort gegenüber dem gestressten städtischen Leben wird durch die Figur stetig fortgeschrieben, bis zu einem Höhepunkt in der Beschreibung idyllischen Landlebens: Es war erstaunlich. Seit er hier draußen lebte, flogen ihm die Ideen nur so zu, sie verfolgten ihn praktisch! Weil er nicht mehr zugedröhnt war vom Getöse der Stadt, nicht mehr abgelenkt durch die Poser und Schwätzer in den Redaktionskonferenzen, in den Tapas-Bars und Theaterfoyers und Kunstgalerien – allein das Geld, das er jetzt sparte! Und die Zeit! Er hatte alle Zeit der Welt hier draußen, Stress war passé, Stress war Geschichte! (AL, 190) Die strukturellen Probleme ländlicher Räume oder die von ihm vorangetriebene räumliche Entgrenzung von Urbanität werden von Weißwerth nicht reflektiert, da sie die gefundene idyllische (und damit medial verwertbare) Ländlichkeit gefährden würden. Wiederholt wird sein Blick auf Land als eigentlich abschätzig oder als exotistisch gekennzeichnet, wenn Weißwerth die Altländer Apfelbauern mit einem Pomologen vergleicht, einem »Quereinsteiger, der früher Orientalistik studiert hatte«, über den man merke, »dass so ein Mann einen anderen Horizont hatte als der normale Altländer Bauer« (AL, 185). Solche Behauptungen konterkarieren den formulierten Selbstanspruch Weißwerths, durch seinen Umzug einen ›wahreren‹ Zugang zum ländlichen Raum zu besitzen, als andere Journalisten (vgl. AL, 104f.). Wiederholt erinnern seine moralische Überhöhung und intellektuelle Abwertung der Landbewohner an die koloniale Figur des ›Edlen Wilden‹. Als solche Figuren sind die Ureinwohner der kolonisierten Gegend eben häufig zwar moralisch gut, weil sie in einem vorkulturellen, gewaltfreien Zustand leben, aber eben auch ungebildet, was sich bspw. im Fehlen einer Schriftsprache ausdrückt.11 Und so heißt es auch über Weißwerth, er »musste grinsen bei der Vorstellung, dass Klaus Jarck ein Steuerformular ausfüllte. Der wusste nicht mal, wo bei einem Stift oben und unten war.« (AL, 107)

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Die Figur wurde bereits früh in kolonialen Texten wie Jean-Baptiste Du Tertres Histoire générale des Antilles habitées par les François (1667-1671) formiert; vgl. Hofmann, Sabine: Die Konstruktion kolonialer Wirklichkeit: Eine diskursanalytische Untersuchung französischer Karibiktexte des frühen 17. Jahrhunderts, Frankfurt/New York: Campus 2001 (Campus Forschung 824), S. 64f.

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Dass die Überzeichnung dieser Figur Kritik an der medialen Lust auf Land insgesamt ist, lässt sich nicht überlesen. Die von Weißwerth repräsentierte Art des Umzugs aufs Land wird endgültig als falsch zurückgewiesen, wenn sein Übertritt am Ende des Romans scheitert. Im Rahmen dieser Studie ist relevant, dass, wie schon in Unterleuten, auch dieses Scheitern als eine Erkenntnis über ländliche Räume erzählt wird, wenn der ländliche Raum für ihn vom Ort der Ruhe zum Ort von Lärm und Stress wird: Die Möwen saßen schreiend in den Bäumen vor dem Haus, die Frösche seiner Nachbarn erreichten Spitzenwerte von 80 Dezibel, er hatte es gemessen. Es dröhnten die Traktoren, die Rasenmäher, die Motorsägen, das ganze Alte Land schien ständig abgeholzt zu werden, ein Wunder, dass noch Bäume standen. Hörsturz, plus Tinnitus. ›Kürzertreten, mein Lieber‹, sagte sein Hausarzt, ›kein Stress, kein Lärm. › Er nahm jetzt Ohropax, wenn er sich konzentrieren musste, aber das Fiepen, rechts vor allem, wurde nicht weniger davon. ›Das hast du jetzt von deiner Scheißentschleunigung!‹ (AL, 276) Mit der Veränderung des Raumbildes geht auch eine veränderte Deutung der Bewohner einher, »[m]an musste ehrlich sein, bei aller Sympathie zu den skurrilen Typen, die er getroffen hatte, der brain drain war hier draußen nicht zu leugnen.« (AL, 277) Diejenigen, die dennoch blieben, sind in dieser Deutung »der Bodensatz, die Resterampe« (AL, 278). Das Projekt, über Landleben zu schreiben, ist damit beendet, die Landbewohner »waren auserzählt« (AL, 278). Weißwerth scheitert, weil er über Land schreiben will, ohne es zu verstehen – authentische Raumbilder kann er so nicht schreiben. Damit ist Burkhard Weißwerth auch als poetologischer Kommentar auf das Schreiben über Land und die Frage, »[w]arum […] das Bild vom Landleben so merkwürdig« ist, zu deuten, da er mit seinen Erwartungen und Vorurteilen ein Negativbild für Umzüge aufs Land darstellt. Letztlich steckt darin eine Variation der in der ersten Untersuchungsgruppe wiederkehrenden Erzählung vom Ende der Täuschung, nur dass Weißwerth einen locus amoenus erwartet, aber einen horribilis entdeckt. Die Ablehnung solcher Landlust-Figuren wird in Altes Land auch immer wieder durch die ländlichen Figuren formuliert. Eine davon ist Dirk zum Felde, von Burkhard Weißwerth hatte dieser »die Schnauze voll. Aber so was von. Es schienen täglich Neue anzukommen. Sinnsucher aus der Stadt, die planlos durch die Gegend liefen und ihm im Weg rumstanden.« (AL, 89) In seinen Augen zogen nur »die Ausgemusterten, die es in der Stadt nicht geschafft hatten« (AL, 91) aufs Land, um dort einen Neuanfang zu versuchen. Zum Felde kritisiert die, die aufs Land ziehen, um »runterzukommen oder mit sich ins Reine, die Sorte mochte er ja am liebsten, mit den Bäumen schmusen und an der Elbe nach Kraftorten suchen, am Arsch.« (AL, 150) Dieser Blick auf Landromantik wird um die wirtschaftliche Dimension der Ausflüge von Städtern ins Alte Land erweitert:

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Hajo Dührkopp hatte seinen Hof zum Schlarapfelland gemacht, er zog jetzt die Touristen mit dem Trecker hinter sich her, in seinen alten Erntekisten, Rentner in Windjacken, Familien vom Campingplatz oder Schulklassen, denen er erzählte, wie ein Apfel wächst. Sie konnten dann hinterher ein Apfeldiplom bei ihm machen und Butterkuchen essen in seinem Hofcafé, und bevor sie wieder in die Busse oder Wohnmobile stiegen, gingen sie noch durch den Hofladen und kauften Obstbrand und Kirschmarmelade und Fliederbeergelee, das machte alles seine Frau. […] Die Touristen fuhren zurück in ihre Mietwohnungen und Reihenhäuser, und ihr hübsches Bild vom Landleben hatte nicht eine Schramme abgekriegt. Ein Leben in Kalenderbildern, und alles so gesund, sie kamen immer wieder. (AL, 152-154) Das »Leben in Kalenderbildern« der Städter entspricht der Konstruiertheit städtischer Landbilder und ist zugleich eine Absage an das Authentizitätsversprechen des Landlust-Diskurses, wenn vermutet wird, dass die Marmeladen aus dem Supermarkt kommen und dann in eigene Gläser umgefüllt werden (vgl. AL, 153). In dem so entstehenden Streit von Deutungen spielt Wissen eine übergeordnete Rolle, in diesem Zusammenhang stellt Weißwerth fest, dass er noch viel Arbeit leisten müsse, »bevor jemand wie Dirk zum Felde endlich realisierte, dass der moderne Obstbau mit seinen Überzüchtungen und Überdüngungen und seinen Monokulturen und der ganzen Gentechnologie ein Irrsinn war. Kompletter Irrsinn!« (AL, 185f.) Parallel dazu ist zum Felde überzeugt, dass »[d]iese Öko-Missionare […] Boskoop nicht von Jonagold unterscheiden« konnten und »garantiert noch nie einen verwurmten, schorfigen Finkenwerder Herbstprinz gefressen« hatten, »sonst wüssten sie, dass diese beschissenen alten Sorten völlig zu Recht ausstarben.« (AL, 94) Zum Felde ist sich bewusst, dass die Modernisierung ländlicher Apfelwirtschaft nicht mit der in idyllischer Ländlichkeit angelegten Vorstellung von Ungleichzeitigkeit vereinbar ist: Ein diplomierter Agrarwissenschaftler, der mit moderner Landtechnik einen Altländer Obsthof bewirtschaftete, der Pflanzenschutzmittel auf seine Apfelbäume sprühte und sie einfach absägte, wenn sie nicht mehr trugen – das war wie eine vierspurige Autobahn in einem Heimatfilm. (AL, 92) Die Absage an den Landlust-Diskurs wird durch Weißwerths Einschätzung des Verhältnisses zwischen ihm und Dirk zum Felde verstärkt, wenn dieser nämlich seine Zugehörigkeit zum ländlichen Raum feststellt, dann ist diese nur ein Imitat, welches durch Wissensbehauptungen legitimiert werden soll: »Er war ja längst einer von ihnen! […] Er streute kleine plattdeutsche Brocken in seine Sätze, er sagte ›kiek mol an! › oder ›dat segg man!‹, und zum Abschied rief er, kurz und kernig, ›seh to!‹« (AL, 90) In dieser Gegenüberstellung sind zwei unterschiedliche Funktionalisierungen des ländlichen Raums enthalten, wobei eine klar als natürlich und erhaltenswert gekennzeichnet ist: Dirk zum Feldes Handeln ist von dem Versuch geprägt,

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den ländlichen Raum agrarwirtschaftlich produktiv zu gestalten, Weißwerths Handeln von einem wirtschaftlichen Interesse an der Produktion und dem Erhalt des ländlichen Raums als Idylle. Eine weitere Zentralstelle für eine Untersuchung von Wissen über Land ist auch hier die wiederholt auftretende Figur des Wissensvermittlers. In Altes Land wird diese Position mit Theis zum Feld von einem Kind ausgefüllt. Er ist die der erste Dorfbewohner, den Anne und ihr Sohn treffen, als sie aus Hamburg kommen: Er zog die Nase hoch, wischte mit dem Ärmel einen Schnodderfaden weg und sagte: ›Ein Schädling. Frostspanner.‹ Dann ließ er ihn fallen, trat zur Sicherheit noch einmal kräftig mit dem Fuß darauf, drehte sich auf der Ferse einmal um die eigene Achse, bis der Falter zermalmt war, tippte mit dem Finger an den Schirm seiner Mütze und strampelte davon. Leon, der den Auftritt schweigend verfolgt hatte, ging zu dem plattgetretenen Falter und murmelte ›Frostspanner‹, als lernte er die erste Vokabel einer fremden Sprache. (AL, 87) Durch sein Auftreten bei der ersten Landnahme wird Theis zum Felde also nicht nur zum Wissensträger, sondern zur Grenzfigur, dessen Wissen zugleich die Grenze definiert wie auch bei ihrem Übertreten hilft. Da das Wissen immer wieder mit der Schilderung kindlicher Verhaltensweisen konterkariert wird, erscheint die Nähe zu den Wissens- und Grenzfiguren der Texte der ersten Untersuchungsgruppe als ironische Bezugnahme. Die gleichaltrigen Jungen werden Freunde und Theis zum Felde klärt die Städter immer weiter über Landleben und Viehwirtschaft auf. An einer anderen Stelle identifiziert er das sonderbare Verhalten des aus der Stadt mitgebrachten Zwergkaninchens als Nestbautrieb und damit das von seinen Besitzern immer für einen Widder gehaltene Tier als ein Weibchen (vgl. AL, 168). Dass mit Theis zum Felde ein Kind zum Wissensträger gemacht wird, desavouiert also erstens das Wissen der Zugezogenen als besonders gering, ist zweitens eine Aussage über die Bedeutung von Wissen für das Ankommen im ländlichen Raum und kann drittens als Ironisierung der kurzen literarischen Tradition der ersten Untersuchungsgruppe gelesen werden, in welcher ländliche Figuren hauptsächlich als verkörperte Wissensspeicher funktionalisiert werden. Wie bereits am Anfang dieser Analyse angedeutet und spätestens am Scheitern der ›landlustigen‹ Figuren vorgeführt, ist auch in Altes Land ein Regelwerk nicht nur über Wissen, sondern über Wissensordnungen und Raumbilder formuliert, das letztlich auf Aufklärung über Land und Landbilder zielt. Die impliziten Regeln lassen sich in etwa so formulieren: Der Diskurs um die ›Lust auf Land‹ basiere größtenteils auf urbanen und medialen Imaginationen. Das eigentlich ›wahre‹ Landleben werde gefährdet, wenn diese medialen Idyllen zusätzlich am realen Ort reproduziert werden, um Touristen und Landlustige anzulocken. Wahrheit und Wissen könnten nicht mittels Umzügen erlangt werden, sondern seien nur

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im Dorfinneren zu erfahren. Auch diese Aufklärung über Möglichkeiten des Wissens über Land kann, genauso wie das erzählte Wissen über Land in der ersten Untersuchungsgruppe, als ein Authentizitätsversprechen des Romans gelesen werden. Diese Feststellung wird im abschließenden Unterkapitel erweitert und zusammengefasst.

2.4 Der ländliche Raum als Ort von Heimat und Authentizität Bis hierhin wurde herausgearbeitet, dass auch in Altes Land Bilder von Landleben und ländlichen Räumen entworfen werden, die gerade durch die Abgrenzung gegen Diskursbilder wahrer und authentischer erscheinen (sollen). Das entspricht dem von Hansen formulierten Willen zur Aufklärung über Land, welche neben der Abgrenzung zu Diskursbildern auch über die Absage an tradierte Erzählungen von Heimat oder Landnahme etabliert wird. Auffällig ist aber, dass bei all dieser Absage an die Bilder und Wahrheitsbehauptungen der Sach- und Unterhaltungsliteratur auch in diesem Buch, wie in den Texten von Hochreither, Sezgin oder Moor, primär durch Erzählungen aus dem Dorfinneren ein Bild authentischen Landlebens erzeugt wird. Abschließend wird anhand zweier Beispiele dargestellt, wie dieses Schema der Erzählung aus dem Dorfinneren hier aufgegriffen und variiert wird und welche Veränderungen damit einhergehen. Ein Ausdruck dieses Wahrheitsversprechens des Dorfinneren sind bspw. die kursivierten Passagen in niederdeutscher Mundart, die entweder die Gedanken einzelner Figuren oder des ganzen Dorfes zum Ausdruck bringen. So entsteht ein Dialog der Figuren mit dem inkorporierten Dorfbewusstsein, was zum einen die Kenntnis von Wissen, Meinungen und Werten vermittelt, zum anderen Figuren wie Vera Eckhoff als außerhalb der hierdurch etablierten dörflichen Ordnung stehend kennzeichnet. Anders als in der positiven Betonung der ersten Untersuchungsgruppe kann dieses Eintreten in Tradition und Gemeinschaft auch Enge produzieren, denn das Wissen des Dorfes wird zur Disziplinartechnik, Vera selbst »wusste, dass man an der Elbe nie allein war. […] Sie war ein freier Mensch, und dafür zahlte sie genug.« (AL, 29) Sie zahlt beispielsweise mit andauernder Beobachtung und Bewertung ihres Verhaltens, z.B. beim Baden: wenn es stimmte, was Dora Völckers erzählte, dann hatte sie im letzten Sommer splitternackt bei Bassenfleth gebadet, in der Elbe. […] Und hinterher im Sand gesessen und geraucht. Smöökt as een Damper. Nookt. […] De kriggt keen af, das war mal sicher. (AL, 38) ›Das Dorf‹ ist hier eine Kollektivfigur, die zwar unbestimmt bleibt, aber dennoch durch ein inkorporiertes Regelwerk wirksam wird. So erfährt die dörfliche Gemein-

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schaft gegenüber ihrer traditionell (und in der ersten Untersuchungsgruppe wiederholten) positiven Auslegung als Raum von Gemeinschaft und Selbstverwirklichung eine Umdeutung. Letztlich wird diese Kollektivfigur aber primär gebraucht, um die Besonderheiten der Protagonistin Vera zu erzählen: »Kein Mensch sprang mit dem Kopf zuerst von einer Lühebrücke. Fußsprung, allerhöchstens Arschbombe, und Mädchen sowieso nicht. Kopfsprünge machten nur Irre. Und Vera Eckhoff.« (AL, 197) Der Rest des Dorfes hingegen lebt nach Regeln, für ihren Nachbar Heinrich Lührs und andere Bauern des Dorfes waren »Symmetrie und Ordnung die Säulen ihrer Selbstachtung. Wer seinen Hof verkommen ließ, war selbst verkommen« (AL, 86). Sie halten an traditionellen Ordnungen fest, obwohl diese angesichts fehlenden Nachwuchses oder veränderter Geschäftsmodelle im Apfelbau nicht mehr tragfähig sind. Das wird nochmal offensichtlicher, wenn das Verhalten einzelner Figuren bewertet wird: »Hinni tat das Richtige, er hatte Land und Geld geheiratet und eine Frau, die wie ein zahmer Vogel war: Elisabeth Buhrfeindt, alter Marschbauern-Adel, schmal, still und blond.« (AL, 26) In dieser Umdeutung folgt ›das Richtige tun‹ nicht mehr einer rationalen, sondern einer sozialen Logik, womit die Regeln als konstruiert und nicht natürlich gekennzeichnet werden. Diese enge Verbindung von Wissen, Regeln und Zugehörigkeit macht auch dieses Dorf, ähnlich wie Zehs Unterleuten, zu einem Panoptikum mit exkludierender Praxis, da im Wissen um die Regeln auch Grenzen und Zugehörigkeit definiert werden. In Altes Land kann demnach im Modus solcher narrativen Verschiebung der Grenzen von Individualität und Gemeinschaft etwas über Realitäten hinter idyllisierenden Erzählungen und über die sozialen Probleme ländlicher Räume gelernt werden. Durch die regelmäßige Variation von etablierten Erzählungen über Land wird auch hier ein unbekannter Ort geschaffen, in dem eine authentische Normalität entdeckt werden kann. Diese Normalität zeichnet den ländlichen Raum aber, anders als in den Texten der ersten Untersuchungsgruppe, nicht mehr als schönen Lebensraum aus, sondern beweist die Schwierigkeit, an diesem Ort individuelle Vorstellungen vom guten Leben zu realisieren. Die ständige Bezugnahme auf den Diskurs um die ›Lust auf Land‹ wird als der mitlaufende Beweis gelesen, dass Altes Land über dessen einfache Bilder hinausgeht. Das wird insbesondere anhand der gegensätzlich konfigurierten Räume, der veränderten Normalitätsbehauptung und des ganz anders erzählten Wissens deutlich, da Wissen über Land nicht mehr nur als Beweis der Zugehörigkeit, sondern ländliches Wissen als Disziplinartechnik erzählt wird. Bei all diesen Absagen an die Imaginationen der ersten Untersuchungsgruppe bleibt aber auch Altes Land durch die strikte Trennung von Stadt und Land sowie die spätestens am Ende eingelöste Semantisierung vom Land als Ort des Heils den Texten der ersten Untersuchungsgruppe verbunden. Am Ende des Romans wird das Haus gezähmt, Anne findet Heimat, Vera findet Schlaf, das alles Kraft der von Anne gespielten Musik:

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In der Woche spielte Anne Schlaflieder für Leon, sie ließ die Tür zu seinem Zimmer offen und spielte, bis er eingeschlafen war. Und spielte weiter, wenn sie sah, dass Vera noch mit ihren blauen Händen in der Küche saß, in irgendeiner Reisezeitschrift blätterte. Anne spielte, bis Vera sich in ihrem Stuhl nach hinten sinken ließ, die Lesebrille abnahm, die Hände in den Schoß legte und einschlief, so wie nur Vera Eckhoff schlafen konnte, im Sitzen, den Rücken immer gerade, nur die Augen fielen zu. Man musste manchmal lange spielen, in manchen Nächten half nur noch Satie, schleppender Dreivierteltakt, lent et douloureux. Anne schlief schon fast beim Spielen ein. Es dauerte, bis sie es endlich wagte, sie ins Bett zu schicken. ›Vera, leg dich hin, ich halte hier die Stellung.‹ Erst lachte Vera nur und schüttelte den Kopf, als hätte Anne einen Witz gemacht, sie musste es am nächsten Tag noch einmal sagen. Und dann am übernächsten, es musste Winter werden, bis Vera Eckhoff sich endlich traute, in ihr Bett zu gehen. Zwei Türen blieben angelehnt in ihrem Haus, zwei Menschen schliefen, eine alte Frau, ein kleiner Junge. Ein Mensch blieb wach und hütete die Träume. Das Haus stand still. (AL, 286f.) Wie schon in der Bukolik ist in solchen Erzählungen über die Bedeutung von Musik und Gesang die ländliche »Kulisse mehr als nur heitere schöne ergötzliche Landschaft, nämlich Chiffre sinnvoller, Mensch und Natur im Gesang verbindender Existenz.«12

2.5 Rückblick III: Ein Narrativ in Bewegung Anhand der ersten beiden Texte dieser zweiten Untersuchungsgruppe konnte gezeigt werden, wie die Umzugserzählungen der Sach- und Unterhaltungsliteratur in Form von Figuren Teil vielstimmiger Romane über Land geworden sind. Dabei wurden die optimistischen Erfolgsgeschichten umgekehrt und nun scheitern die figurgewordenen Landlustigen. In den folgenden Einzeltextanalysen ist nun weiter zu verfolgen, wie diese Umdeutungen der Umzugserzählungen ausgebaut werden und wie gerade durch solche Veränderungen der Gang aufs Land zu einem wichtigen Teil der literarischen Verhandlung der Frage geworden sind, was der rurale Raum am Beginn des 21. Jahrhunderts eigentlich noch ist. Mit Enno Stahl lässt bspw. einer der politischsten Autoren der Gegenwart in Spätkirmes ein Dorf sein 175-jähriges Bestehen feiern. In den sich darum entspinnenden Auseinandersetzungen wird mit

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Garber 2009, S. 28.

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Hannes Tannert wieder ein scheiternder Juniorprofessor der Literaturwissenschaften zur zentralen Umzugsfigur. Die Parallele zum Figurenrepertoire von Zehs Unterleuten ist offensichtlich, die Texte sind ungefähr gleichzeitig entstanden. Und auch in Daniel Mezgers Land spielen ist der Umzug einer Familie aufs Land das zentrale Ereignis des Buches. Der Umzug wird letztlich als Reaktion auf eine familiäre Krise erkennbar, sodass die Erzählung als empirische Studie zu dem Heilsversprechen erscheint, das traditionell und in der bisher untersuchten Literatur mit dem Gang aufs Land verbunden wird. Diese nun zu analysierenden Romane sind in ihrer betont realistischen und desillusionierenden Weise des Erzählens über Landleben von dem ersten Teil der Untersuchungsgruppe abgegrenzt, sie erscheinen in ihrem »analytischen Realismus«13 noch offensichtlicher als Interventionen, welche der Verschiebung des Landlebens in die Idylle entgegengestellt werden. Da die Untersuchung der narrativen Gestaltung von den im Scheitern vollzogenen Erkenntnisgeschichten in den beiden ersten Analysen bereits ausführlich erfolgt ist, werden in den drei folgenden Analysen lediglich einige hinzukommende Inhalte und Formen untersucht, wie beispielsweise die Metaphorisierung des Umzugs als Spiel in Mezgers Land spielen, die Diskussion der Möglichkeiten von Normalität in Stahls Spätkirmes oder die Möglichkeit einer Rückkehr in den Heimatraum in Jan Böttchers Das Kaff.

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So der Verlagstext zu Stahls Spätkirmes.

3. Daniel Mezgers Land spielen

Der Dramatiker Daniel Mezger beschreibt in Land spielen die Versuche einer Familie, auf dem Land anzukommen. Moritz und Vera ziehen mit drei Kindern von der Stadt in eine nicht näher bestimmte Bergregion, um einer Lebenskrise zu entkommen. Der Gang aufs Land wird im Text wiederholt als Spiel beschrieben: »Man muss mit viel Einsatz spielen, muss das alte Leben aufgeben, gewinnt dafür ein neues Leben, gewinnt Spaß, gewinnt Gemeinsamkeit. Wir haben unser altes Leben eingesetzt, der Spielsieg ist das gute Leben.«1 Dass dieses Umzugsspiel nicht nur auf das diskursgemäße gute Leben zielt, sondern auch eine Flucht ist, erfährt der Leser erst mit Fortschreiten der Handlung. Durch diese zentrale Metapher werden Umzug und ländlicher Raum mit (Spiel-)Regeln belegt, die Akteure nehmen Rollen ein. Für eine Poetologie des Wissens ist zentral, dass der Gang aufs Land als Spiel und damit als symbolischer Nachvollzug realer Handlungen zur quasi empirischen Versuchsanordnung wird, ob gute Luft und Platz zum Spielen wirklich Leben verändern können. Die umziehende Familie ist als Akteur dieses Spiels eins geworden und erzählt am Beginn des Umzugs noch als kollektives »Wir«, was bereits mit dem ersten Satz eingeführt wird: »Wir spielen Land.« (LS, 5) Die stetige Wiederholung dieser Formulierung wirkt wie eine Beschwörungsformel, die den Willen der Familie aufrechterhält und immer wieder den symbolischen Modus dieses Umzugs in Erinnerung ruft. Das so etablierte Kollektiv erzählt von den Versuchen, Arbeit zu finden, das Haus zu renovieren, Anschluss in der Schule zu finden und die familiäre Ordnung aufrecht zu erhalten. Der Versuch scheitert an der Affäre des Vaters mit der Frau des Dorflehrers, an Mobbing auf dem Schulhof und schließlich an dem Verschwinden von Sohn Fabian, der vor dem Zerfall des Traums vom guten Leben und dem Zerfall der Familie auf eine Almhütte flüchtet. Neben dem guten Leben auf dem Land sind Probleme bei der Integration in die Dorfgemeinschaft dann genauso Thema wie Gewalt, Liebe, Depression und Sexualität.

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Mezger, Daniel: Land spielen, Zürich: Salis 2012, S. 55. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle LS im Fließtext nachgewiesen.

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In der folgenden Analyse des Textes wird zunächst untersucht, wie die städtischen und ländlichen Räume sowie die sie trennende oder verbindende Grenze narrativ produziert werden, um anschließend herauszuarbeiten, inwiefern der Roman schon durch das erzählte Spiel als Reaktion auf die Umzugserzählungen der ersten Untersuchungsgruppe gelesen werden kann.

3.1 Kollektive und Grenzen erzählen Die Geschichte wird von dem intradiegetisch-homodiegetischen ›Wir‹ erzählt, was zum einen den Blickwinkel erweitert, zum anderen die Lesenden durch das ›Wir‹ mit der erzählenden Einheit verbindet. Schon auf den ersten Seiten des Romans wird deutlich, wie eng diese Erzählperspektive mit der Etablierung einer Stadt-Land-Grenze verbunden ist, da aus dem mit ›Wir‹ definierten Innenraum auch ein Außenraum und eine dazwischenliegende Grenze folgen, die durch den räumlichen Umzug nicht aufgelöst, sondern verschoben werden. Wie um das zu beweisen, muss die selbstgepflanzte Hecke wegen eines Irrtums beim Ziehen der Grundstücksgrenze verschoben werden: »Unser Reich ist nun verkleinert, aber es ist unser Reich, ist immer noch groß genug, um Land zu spielen.« (LS, 6) Das so gestärkte ›Wir‹ ist durch die Grenze klar von der Dorfgemeinschaft getrennt, wodurch das Ankommen schon durch die Erzählform als beinahe unmöglich erscheint. Diese Konstruktion wird durch wechselseitige Beobachtungen von Dorfbewohnern und Zuziehenden zugespitzt, die Dorfbewohner »haben uns zugeschaut, als wir nach der Heuernte ein Bier tranken, aber in den Hirschen sind wir nie gekommen.« (LS, 13) Die Dorfbewohner selbst kommen zunächst nicht zum Sprechen, ihre Gedanken werden nur antizipiert, z.B. wenn die Ankommenden sich von der Skepsis der Dorfbewohner begleitet fühlen: »Dorfleute […] schauen uns zu, freuen sich, dass wir zu ihnen gehören wollen, dass wir alles falsch machen […], dass wir Land spielen, ausgerechnet hier, wo sie arbeiten müssen.« (LS, 8) Ländliche Kommunen bräuchten mehr Geld, Infrastruktur oder Land, »aber niemanden, der sie schlecht imitiert« (LS, 8). Indem hier Spiel und Arbeit bzw. Alltag gegenübergestellt werden, werden Zuziehende und Landbewohner weiter getrennt und zu zwei Kulturen. Und gerade in der Formulierung, dass die Zuziehenden »alles falsch machen«, kommt die Bedeutung von Regelwissen für das Landspiel zum Ausdruck. Auch dieser literarische ländliche Raum ist ein Ort, der über Kenntnis erschlossen wird. Am Ende erfährt man schließlich von den Problemen, die aus Fehlannahmen über Landleben und ländliche Gemeinschaft entstehen, denn die Grenze ist gar nicht so verfestigt, wie immer angenommen, das ›Wir‹ hätte längst Teil des Dorfes werden können. Den Zuziehenden und Lesenden wird diese Feststellung durch den Förster mitgeteilt, der findet, »es brauche die Neuen, sonst könne man den Laden bald dichtmachen.«

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(LS, 306) Dann ist es jedoch zu spät, denn Moritz »›weiß nicht, ob wir überhaupt bleiben.‹« (LS, 307). Die ersten eigenen Versuche, die von Beginn an etablierte Grenze zu übertreten, zerstören auch noch die als Sicherheit empfundene Ordnung des Anfangs: Der Vater verliebt sich in die Frau des Dorflehrers, die Mutter in den Pfarrer, einer der Söhne in einen Klassenkameraden. Diese Grenzüberschreitungen sind Brüche der Ordnung, an der sie letztlich auch scheitern. Bald setzt Desillusionierung ein, dass der erfolgreiche Eintritt in die Dorfgemeinschaft noch zu leisten ist, das führt zu einer Stärkung des Kollektivs zumindest in der Theorie: Wir wollen wir sein. Das war Regel Nummer eins. Wir wollen wir bleiben, wollen unter uns bleiben, wollen keine Fremdlinge, Eindringlinge, da geht es uns wie den Dorfbewohnern, die auch nicht gewartet haben auf Dorfstraßengespräche, die sie mit Ex-Städtern führen sollen […]. (LS, 111) An späterer Stelle heißt es weiter: »Wir wollen wir sein, wollen wir bleiben, sind nicht aufs Land gezogen, um uns auseinander-, sondern um uns zusammenzuleben. Wir sind wir.« (LS, 165) Der Wunsch nach dem Funktionieren von Gemeinschaft ist an dieser Stelle bereits durch die Affäre des Vaters und damit aus dem Inneren des Kollektivs bedroht. Die ständigen Selbstbestärkungen und medial aufgeladenen Landbilder halten den gemeinsamen Plan letztlich nicht aufrecht, es kommt zur Entfremdung der Familie und zur Desillusionierung der Landbilder. Schon bald kündigt sich das Erodieren der Gemeinschaft an, der Vater »genießt es« immer öfter, »nicht Teil eines großen Ganzen, sondern ganz er selbst zu sein« (LS, 76). Lediglich mit dem Dorflehrer und seiner Frau findet eine Annäherung statt, die letztlich zur Affäre und zum Zerbrechen der anfänglichen Ordnung führt. Die im Text zentrale Bedeutung der Räume und Raumbilder ist schon an diesen Konvergenzen zwischen dem etablierten Erzählkollektiv, den erzählten Räumen und den daraus resultierenden Raumgrenzen zu erkennen. Im folgenden Abschnitt werden die zentralen literarischen Räume eingehender untersucht.

3.2 Imaginationen über Land Auch in Land spielen wird der ländliche Raum zunächst mit etablierten Semantiken beschrieben, wenn er als ein Ort von Gemeinschaft, Ruhe und Frieden erträumt wird. Die Tragfähigkeit dieser traditionellen Raumbilder wird schnell fragwürdig, bspw. wenn die Reflexion über das gute Leben auf dem Land nicht durch Naturerfahrungen, sondern durch eine Pausenzigarette während der Arbeit als Altenpflegerin ausgelöst wird: »Vera genießt das Abtauchen, genießt die Ruhe, denn darum geht es doch hier, hier auf dem Land, um die Ruhe geht es, ums Ankommen, gemeinsam.« (LS, 72) In diesem »darum geht es doch hier« ist die Strukturierung des ländli-

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chen Raums als Entlastungsraum vorgegeben, der maßgeblich als Projektion durch das Leiden an der Stadt definiert ist. Diese wird als Ort von Konsum und Selbstoptimierung bebildert, ein Ort, in dem Eltern »mit schicken Kinderwagen über schicke Kinderspielplätze spazieren« und »das Optimum aus ihrem Kind herausholen« (LS, 170). Das ähnelt den Ottensener Müttern aus Hansens Altes Land (vgl. AL, 24). In der Theorie wird das Land von der Erzählgemeinschaft hierzu als Gegenraum eingerichtet: »Hier auf dem Land ist es anders, hier ist das gute Leben, hier ist es richtig, hier hat man alles«, der jedoch durch die eigene Erfahrung nicht mehr als reine Vorstellung aufrecht zu erhalten ist, denn man hat alles »[a]ußer eine Entschuldigung fürs Unglücklichsein.« (LS, 58f.) Die Erzählung vom guten Leben auf dem Land wird im weiteren Erzählverlauf mehr und mehr zur Selbstüberzeugungsstrategie, da auf dem Land nicht automatisch alle vermeintlich städtischen Anforderungen enden: »Er spricht davon, dass der Neuanfang langsam zu Alltag werde, davon, dass er nicht bloß hierhergekommen sei, um Arbeiter zu sein.« (LS, 75) Das erzählende Kollektiv scheint in einem Zwischenraum zwischen Erwartungen und Realität festzustecken und hält diese Erzählung vom guten Leben auf dem Land schließlich für Selbstbetrug: »Nichts von alledem wird sie darüber hinwegtäuschen können, dass sie sich das Leben nicht so vorgestellt haben.« (LS, 170) So scheitert die Erzählung vom ländlichen Raum als Schutzraum gegen die Anforderungen der Moderne oder des Kapitalismus. An dieser Diskussion der Raumbilder und Umzugsmotive ist zu sehen, wie auch in Land spielen der Landlust-Diskurs und damit die bisher untersuchten Texte Figuren werden. Noch offensichtlicher wird das in der Erzählung vom neuen Haus auf dem Land, wobei die Betonung der Dauer des Hauses und der Vergänglichkeit des Menschen an Dörte Hansens Altes Land erinnern: »Der Wind pfeift seltsame Töne durch die Löcher in der Hauswand, er benutzt das Haus als Musikinstrument, den Rhythmus spielt er mit den Fensterläden, der Rest des Hauses ist Orgel. Das Instrument gehört ihm länger als uns« (LS, 123). Auch hier werden bekannte longue duréeMotive dekonstruiert, die Beweise des Alters dienen im Gegensatz zu den Texten der ersten Untersuchungsgruppe nicht der positiven Auszeichnung ländlichen Lebensgefühls, sondern zeigen die Unmöglichkeit, mit Kindern und Familie an einem solchen Ort heimisch zu werden. So heißt es weiter über den Wind: »seit zweihundertfünfzig Jahren übt er täglich, da kann man keine Rücksicht nehmen auf kleine Kinder, die keinen Raum mehr betreten, ohne vorher Licht zu machen.« (LS, 123) Auch die Hoffnung der beiden Zugezogenen, als Pioniere für den städtischen Freundeskreis zu wirken, zerschlägt sich schnell. Das zeigt sich auch an der kritischen Reaktion der spärlich kommenden Besucher, die sich dann wundern, »›[d]ass ihr so leben könnt!‹« (LS, 173) Aber diese Kritik wird durch die Umgezogenen schnell zu einem Mangel an Kenntnis umgedeutet: »Wir wissen, dass hier der Städter spricht, dass Städter keine Ahnung haben vom Landleben, dass sie keine Ahnung haben von der Natur und von der Realität.« (LS, 173) Um Landleben zu verstehen,

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braucht es also Wissen über Natur und Realität ländlicher Räume, und dieses gibt es nur auf dem Land. An diesen Stellen wird auch in Land spielen der Gang aufs Land als Erkenntnisgeschichte und als Ende der Täuschungen erzählt. Diese in der ersten Untersuchungsgruppe etablierte Erzählung wird im vorliegenden Text dadurch konterkariert, dass der Familienvater Moritz die Aufklärung mit Gewalt herbeiführt, indem er den Versuch unternimmt, vor den verwirrten Besuchern aus der Stadt ein Huhn zu schlachten, um so den Erfolg des eigenen Umzugs zu beweisen. Dass das dafür notwendige Wissen angelesen und noch nicht erprobt ist, wird eher beiläufig erwähnt: »Wir wissen, wie Hühner geschlachtet werden, haben uns eingelesen, haben uns gemerkt, was es braucht« (LS, 172). Dass die aus urbanem Leben exkludierte Praxis des Schlachtens als Ankommensbeweis für ›echtes‹ (Land)leben genutzt wird, kann als Kommentar auf den in der ersten Untersuchungsgruppe etablierten Gebrauch von Wissen und Können als Authentizitätsbeweis gelesen werden. Diese Bedeutung der Umzugs- als Erkenntnisgeschichte wird also im Laufe des Textes als Strategie zur Selbstüberzeugung gekennzeichnet und durch Ironie abgewertet. Die Bedeutung von Wissen über rurale Räume wird weiter ausgebaut, wenn das Sprechen über Strukturprobleme ländlicher Räume, sonst eher eine Leerstelle des Diskurses der ›Lust auf Land‹, dann als Smalltalk-Thema genutzt wird, wenn die persönliche Ebene versagt und es nichts mehr zu sagen gibt. Dann ist die Rede von aussterbenden Dörfern und von Problemen der Landwirtschaft und Politik im Allgemeinen, weiter heißt es zur Situation von Landschulen: Mit dem Geschirrtuch in der Hand erörtert er, dass die Dorfschule geschlossen werde, wenn der Dorflehrer tatsächlich gehe, dass sie dann mit der des Nachbarortes zusammengelegt werde, dass unser Dorf dann zum bloßen Anhängsel des Nachbarortes verkomme, von der verlorenen Identität kleiner Orte spricht Moritz und davon, dass die Dorfmenschen sich dagegen wehren sollten. Ob er die Beweggründe des Dorflehrers versteht oder nicht und ob er seine ehemals tägliche Besucherin vermissen wird, geht in seinen wortreichen Erörterungen wohlweislich unter. (LS, 161) Zwar weiß Moritz von den Zusammenhängen demographischer und sozialer Strukturprobleme ländlicher Räume, letztlich geht es aber in der Aussprache dieses Wissens nur um die Sicherung der Affäre und der eigenen Position. Wie in diesem Beispiel werden wiederholt zentrale Motive und Deutungen über Land aus Gründen ihrer Demontage erzählt, was schon in der uneigentlichen und symbolischen, der spielerischen, Zugangsweise zum Landleben begründet ist. Weitere Aspekte dieser Metapher vom Landleben als Spiel werden im folgenden Abschnitt identifiziert.

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3.3 Landleben als Spiel In Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen hat dieser die Frage nach der Ernsthaftigkeit des Spiels und der Bedeutung für Fragen der Ästhetik gestellt: »Wird aber, möchten Sie längst schon versucht gewesen seyn mir entgegen zu setzen, wird nicht das Schöne dadurch, daß man es zum bloßen Spiel macht, erniedrigt und den frivolen Gegenständen gleich gestellt […]?«2 Er setzt dem aber sofort entgegen, dass dem Menschen »gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet«.3 Daran schließt dann seine berühmte Definition, wonach der Mensch nur da spielt, »wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«.4 Indem die aus der Stadt Zuziehenden das Landleben zum Spiel machen, wird es also in dieser Deutung »erniedrigt und den frivolen Gegenständen gleichstellt«. Die regelmäßige Konzeptualisierung des Landlebens als Spiel stellt die Ernsthaftigkeit des Umzugs infrage und macht den erzählten ländlichen Raum zur lediglich imaginierten Realität – aber gerade das ist menschlich. Unter Berücksichtigung dieser anthropologischen Bedeutung des Spielens liegt jedoch auch eine andere Deutung in Rückgriff auf Huizingas Spielbegriff nahe, nach der das Spiel ›Landleben‹ eben eine regelgeleitete, räumlich begrenzte Beschäftigung wäre, die »ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹.«5 »Wir spielen Land«, ist dann nicht nur einleitende Phrase, sondern eine Aussage darüber, wie das Kollektiv mit seinen Imaginationen vom guten Leben auf dem Land eine Ausgleichshandlung betreibt und den ruralen Raum zum Residualprodukt macht. In der Spiel-Metapher liegt also nicht nur die Frage nach der Ernsthaftigkeit des eigenen Handelns, sondern auch danach, ob mit dem Spiel eine Welt neben der eigentlichen Alltagswelt geschaffen werden soll oder kann. Verfolgt man die Spiel-Metapher im Laufe des Buches weiter, so ergeben sich weitere Anhaltspunkte zur Deutung: Christine, die Frau des Dorflehrers, fragt dann den Familienvater Moritz nach der Ernsthaftigkeit ihrer Affäre: »›Oder war das alles nur Spiel – Hast du mich gar nicht gemeint?‹« (LS, 165) Indem das Spiel als uneigentliche Handlung definiert wird, die ihren Gegenstand nicht meint, ist dann

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Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Fünfzehnter Brief, in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften I, hg. von Benno von Wiese, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1962, S. 309-412, hier: 357. Ebd., S. 358. Ebd., S. 359. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, 18 Reinbek: Rowohlt 2001, S. 37.

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auch das Landleben selbst vom Umzugsspiel nicht gemeint, sondern nur Platzhalter für die Wünsche und Vorstellungen vom guten Leben, die durch das gescheiterte Stadtleben produziert wurden. Das Scheitern des spielerischen Umzugs wird in dieser Deutung unausweichlich und am Ende heißt es schließlich: »Vorne anfangen, was für ein Blödsinn! Weitermachen, man kann immer nur weitermachen. An einem neuen Ort an Altes anknüpfen. […] Scheißidee, das alles ein Spiel zu nennen!« (LS, 294) In Land spielen scheitert das Spiel an der Nachahmung des Dorf- und Landlebens, weil der Umzug eben nicht dazu geeignet ist, aus allen etablierten Ordnungen auszutreten. Der Gang aufs Land ist dann doch nur ein topographisches und kein soziales Ereignis. Das lernen die Zuziehenden auch in dem Kapitel »Wir spielen Dorfkneipe« (LS, 45), in dem sie versuchen, Zugehörigkeit zu demonstrieren und daran scheitern. Moritz »will lachen und sagen, dass ja alles nur ein Spiel sei, über das Wesen des Spiels will er reden, aber das hier ist kein Spiel, denn hier wird nicht gelacht.« (LS, 50) So wird vorgeführt, dass das Spiel als symbolisches Verhältnis zur Umwelt keine adäquate Ordnung für Umzüge aufs Land ist. Wenn man das Landleben aber doch als Spiel begreift, dann müssten wenigstens die Regeln bekannt sein, sodass die Zugezogenen nicht schon an der Abschiedsformel scheitern: »Dann sagt sie nicht: ›Meine Herren!‹, und klopft auch nicht auf den Tisch, macht also alles falsch, was man falsch machen kann« (LS, 49). Gerade dieser Zusammenhang von Spiel und Regelwissen ist dann zentral für die Deutung von Land spielen innerhalb einer Poetologie des Wissens. In dieser Deutung ist der gesamte Text als Erkenntnisgeschichte darüber konzipiert, wie der Gang aufs Land nicht gestaltet werden darf, anders als die Bücher der ersten Untersuchungsgruppe ist Land spielen nicht als best practice-, sondern als worst practice-Übung angelegt. Was aus dieser Feststellung für eine Poetologie des Wissens über Land genau geschlussfolgert werden kann, wird im letzten Abschnitt dieser Analyse zusammengefasst.

3.4 Spiel, Wahrheit und Gemeinschaft Wie herausgearbeitet wurde, scheitert in Land spielen der Umzug an den Vorstellungen von Landleben, die von kulturellen Imaginationen und Erzählungen geprägt sind. Ebenso wie anhand der Texte von Zeh und Hansen wird auch dieses Scheitern der optimistischen Erzählungen vom Gang aufs Land als ein Kommentar auf den Landlust-Diskurs interpretiert, dem häufig Versprechen auf Glück und Lebensveränderung inhärent sind. Diese Absage ist auch als eine Anleitung für die korrekte (epistemische) Haltung für den Gang aufs Land zu deuten, denn darin kann eine Forderung nach der Befreiung von urbanen Imaginationen des ländlichen Raums als leere, gestaltbare Fremde gesehen werden. Als letzter Beleg dieser Deutung wird hier die Beschreibung vom ersten Besuch in der Dorfkirche angeführt. Von den Zuziehenden wird der Kirchbesuch als eine

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der letztmöglichen Integrationsleistungen verstanden, da die Kirche als Ort der Gemeinschaft erinnert und mit der Hoffnung auf Zugang zur Dorfgemeinschaft verbunden wird (»Endlich werden wir dazugehören, denkt er und beschließt, ab jetzt notfalls auch allein in die Kirche zu gehen.« (LS, 205)). Die Vorstellung scheitert jedoch an der Realität von Kirchen im ländlichen Raum, denn »[d]ie Kirche ist schlecht besucht, die Dorfbewohner gehen wohl lieber in den Hirschen, geben wohl lieber vor, auch am Sonntagmorgen Kühe melken zu müssen.« (LS, 206) Die Erfahrung vor Ort korrigiert also die Erwartung und verändert somit die angenommenen Spielregeln. Mit dem »geben wohl lieber vor, auch am Sonntagmorgen Kühe melken zu müssen« wird das fehlende Wissen der Zugezogenen über Landwirtschaft und Tierhaltung offengelegt. An diesem Beispiel wird die epistemische Ebene der Spiel-Metapher erneut sichtbar: Dass das Landleben scheitert, liegt maßgeblich daran, dass die Familie die Regeln dieses gewünschten Landlebens nicht kannte, die verbreiteten Deutungen des Gangs aufs Land als Weg ins Glück haben die falschen Vorstellungen bzw. Regeln diktiert. Doch trotz dieses vermeintlichen Scheiterns wird der Umzug nicht rückgängig gemacht, die Familie bleibt intakt und auf dem Land leben. Die idyllische Ordnung bleibt jedoch auch am Ende latent instabil, da unterschwellig deutlich wird, dass das neugeborene Kind des Dorflehrers aus der Affäre von Moritz hervorgegangen sein könnte (vgl. LS, 309-315). Anders als in den meisten bisher untersuchten Texten bleibt eine eindeutige Bewertung des Umzugsgeschehens aus. Für diese Studie hat sich jedoch insbesondere die Analyse der Spielmetapher als produktiv erwiesen, die als narrative Variation und damit auch als Wertung der Umzugserzählung verstanden wird, ihr Entstehen hängt dabei maßgeblich an Wissenselementen. Im folgenden Kapitel wird Enno Stahls Spätkirmes als ein weiteres Beispiel betrachtet, von dem ebenfalls Wertungen bzw. Variationen der Umzugserzählungen zu erwarten sind.

4. Enno Stahls Spätkirmes

Enno Stahls Spätkirmes ist der fünfte und letzte Teil des Zyklus’ Die Turbojahre, in welchem Stahl die »(eingebildeten) Leiden des Mittelstandes und […] den verschleierten Widerspruch von ›Heimat‹ und Sicherheit«1 verhandelt. In dem so formulierten analytisch-realistischen Programm wird u.a. davon erzählt, wie eine Familie von der Stadt aufs Land zieht – und an diesem Umzug scheitert. Das Dorf Kirchweiler, ein fiktiver Ort, zehn Kilometer von Düsseldorf entfernt, feiert sein 175-jähriges Bestehen mit einer Spätkirmes. Inmitten dieser Spätkirmes stehen Hannes und Meta – ein aus der Stadt zugezogenes Paar, welches lange keinen Zugang zum Ort findet, aber im Laufe der Feierlichkeiten immer tiefer in dessen Angelegenheiten verstrickt wird. In diesem ländlichen Raum herrscht ein Ausnahmezustand, der sich im Laufe des Romans als Normalität herausstellt. Der Text ist in acht Abschnitte unterteilt, die sich jeweils aus mehreren Unterkapiteln zusammensetzen. Die Abschnitte werden durch Zitate des Neusser Pastors Peter Josef Gerards aus dem 19. Jahrhundert eingeleitet, ein von Stahl aufgetaner Archivbestand »aus der Zeit des Kulturkampfes […]. Dort wird ziemlich verklausuliert der Widerstand gegen das preußische Bestreben formuliert, den Protestantismus hierzulande zur Staatskirche zu machen.«2 Immer wieder geht es in diesen Zitaten um Fragen nach gutem Leben und den unterschiedlichen Vorstellungen davon, so heißt es bspw.: »Wir können keine Engel sein, ganz gut, aber ihr braucht auch keine Bengel zu sein und nicht im Tal der wüsten, sumpfigen Niederungen stecken zu bleiben mit den Gedanken.«3 Letztlich erscheinen durch diese vorangestellten Zitate auch die Auseinandersetzungen über das Dorfleben als ein Kulturkampf um die Deutungshoheit über gutes Leben. Dabei wird schnell deutlich, dass auch Kirchweiler nur als ein Beispiel zu verstehen ist, es könnten jede beliebige Klein- oder Mittelstadt und 1 2

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Verlagsseite zu Spätkirmes, URL: https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/890 [Zugriff am 18.6.2018]. Clemens, C.: Enno Stahl. »Ellbogen spielen eine zentrale Rolle«, in: Neuss-Grevenbroicher Zeitung, 28.7.2017, URL: https://rp-online.de/nrw/staedte/neuss/ellbogen-spielen-eine-zen trale-rolle_aid-19484889 [Zugriff am 18.6.2018]. Stahl, Enno: Spätkirmes, Berlin: Verbrecher Verlag 2017, S. 67. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle SK im Fließtext nachgewiesen.

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jede beliebige mittelständische Familie, welche nach Glück auf dem Land sucht, gemeint sein. In dieser Einzeltextanalyse stehen der Gang aufs Land und die darin enthaltene Frage, ob auf dem Land Normalität oder Ausnahmezustand zu finden sind, im Mittelpunkt. Dafür werden zunächst Besonderheiten in Inhalt und Form herausgearbeitet, dann wird die Umzugs- und Entwicklungsgeschichte untersucht, um abschließend zu einer Diskussion über die Bedeutung von Normalität und Ausnahmezustand für eine Poetologie des Wissens anzusetzen.

4.1 Inhalt und Form Das Geschehen rund um die Vorbereitung und Durchführung der Spätkirmes wird von einem heterodiegetischen Erzähler vermittelt, welcher Dorf und Handlung umfassend überblickt. Ein Großteil des Geschehens wird aus der Sicht einzelner Figuren erzählt, dabei erfolgt die Schilderung sehr dicht an deren Wahrnehmungen und Gedanken entlang. In diesen Passagen mit wechselnder interner Fokalisierung dominieren wörtliche Rede und Gedankenströme. Der Wechsel zwischen den verschiedenen Perspektiven wird lediglich durch Absätze markiert, sodass nicht immer eindeutig nachvollziehbar ist, aus wessen Perspektive das Geschehen erzählt wird. Durch diese Erzählkonstruktion entsteht der Eindruck eines vermeintlich einheitlichen, aber komplexen Dorfgefüges. Die Erzählung setzt relativ unvermittelt am Tag vor der Spätkirmes ein, geschildert wird eine (etwas angestrengte) Familienidylle im Haus von Hannes und Meta. Im Ort herrscht Ruhe, das Kind macht Mittagsschlaf. Von Beginn an ist klar, dass die Kirmes auch eine Bedrohung der dörflichen (Schein-)Ordnung ist, wenn wiederholt angedeutet wird, dass die dörfliche Idylle brüchig zu werden droht: Noch immer keine Wolke, muranoblau […]. Die Hüpfburg […] war bereits aufgeblasen, aber kein einziges Kind verlustierte sich darauf – die Mittagspause lastete über dem Ort, große Lethargie vor dem rauschenden Fest. Oder vor etwas ganz anderem. […] Eine Ruhe vor dem Sturm also? (SK, 35) Der Sturm beginnt dann auf mehreren Ebenen: Bob wird von den anderen Kindern und auch seinen alkoholabhängigen Eltern gemobbt, Dorfnazis bedrohen die Kulisse und die beiden minderjährigen Mädchen Mandy und Jeanette versuchen, als Lolita-Figuren die Ordnung des Dorfes ins Wanken zu bringen (vgl. u.a. SK, 121). Trotz dieser Einbrüche bleibt die lethargische Ordnung zunächst bestehen und keine der Figuren schafft es, den Status quo zu verändern – sei es mangels Handlungsmöglichkeiten (Bob) oder aus Lethargie (Hannes). Mit Beginn des Dorffestes wird die zivilisatorische Schicht brüchig, was die Lethargie der Zugezogenen beendet, Hannes und Meta beginnen zu handeln. Der Aus-

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nahmezustand beginnt mit der Debatte um Aufnahme geflüchteter Menschen im Dorf (vgl., SK, 89f.) und setzt sich in der Bedrohung eines betrunkenen Mannes fort, »[d]er tanzt mit den Kindern wie mit Nutten. Deine Tochter ist auch dabei. Der denkt, er ist in Thailand.« (SK, 102) Hier endet Metas liberale Einstellung, Hannes jedoch ist noch gänzlich passiv, für ihn ist klar, »der Kerl war hackedicht und harmlos« (SK, 103). In dem Kapitel »Der trunkene Mann. Ein Dramolett« (SK, 107) erwägt dann ein Teil der Dorfbewohner, den bewusstlosen Mann zu töten. In Form und Sprache erinnert das Kapitel an ein Drama, wodurch es deutlich vom Rest des Textes abgehoben wird. Der zugezogene Hannes steht neben dem Geschehen und analysiert, seine Teilnahme ist ausgeschlossen. Ihm ist das Dorf längst nur noch ein soziologischer Gegenstand für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft, [e]in Sonderfall, der den Kern der Dinge enthüllt. Dreht sich gar nicht so sehr um sie und mich, das ist mehr – das Rätsel und die Zumutung der menschlichen Existenz in einer deformierten Welt. Und sie deformiert sich mehr und mehr, unsere Räume werden enger, das Normale gibt es gar nicht, es ist verschwunden, hat sich verflüchtigt. (SK, 115) Die Bedeutung dieser Beobachtungsperspektive und der Normalitätsbehauptung wird in den folgenden Unterkapiteln weiter herausgearbeitet. Der Betrunkene wird von der Party entfernt, der erste Tag der Spätkirmes endet, Hannes und Meta gehen heim. Die so beendete Spätkirmes hat einen ersten Einblick hinter die dörfliche Zivilisation ermöglicht und zugleich in die Brüche der Beziehung von Hannes und Meta. Die Bedeutung solcher Risse wird auch in einer späteren Beobachtung von Stadtbewohnern betont, die den örtlichen Kunstverein besuchen: »Die Fassade musste aufrechterhalten werden, denn ein Zweifeln, ein Riss gar in der Attrappe konnte den Todesstoß bedeuten.« (SK, 141) An dieser Stelle ist die Fassade gutbürgerlichen Lebens gemeint. Solche Beobachtungen können sowohl als Kommentar auf die Beziehung, auf den Umzug wie auf die Gegenwartsgesellschaft, die »eingebildeten Leiden der Mittelschicht«, gelesen werden. Dass der »Riss« sich bis aufs Land vergrößert, zeigt sich schließlich, wenn Hannes’ Begegnung mit den Lolita-Figuren Jeanette und Mandy in einer ästhetischen Leerstelle endet (SK, 161). Die nächste Szene beginnt mit Metas Rezitation einer derben Variante des Volkslieds Einst ging ich am Ufer der Donau entlang, das eine Vergewaltigungsszene beschreibt und damit Vermutungen über das Geschehen der Leerstelle nährt (»Einst ging ich am Strande der Donau entlang […]/ein schlafendes Mädchen am Ufer ich fand […]/Ich machte mich über die schlafende her/da hört’ sie das Rauschen der Donau nicht mehr« (SK, 162) Bei einer späteren Zusammenkunft des Dorfes beschuldigen Jeanette und Mandy Hannes der Vergewaltigung, in der darauffolgenden Diskussion ringen beide um das Vertrauen der Dorfgemeinschaft und damit die Deutungshoheit, was in Form eines Sportkommentars geschildert wird:

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Das Gedränge nimmt Form an, Pfarrer Wulf als Schiedsrichter versucht zu schlichten, beide Seiten rangeln um den eiförmigen Ball, er ist in diesem Falle die Deutungshoheit, Kindesmissbrauch ja oder nein, man ist bereit, so richtig durch den Schlamm zu waten … (SK, 210). Hannes reagiert schließlich mit Selbstanzeige, bei der anschließenden Befragung ist Jeanette verunsichert und nimmt die Beschuldigung zurück, sie wird von der Polizei mitgenommen (SK, 210-214). Im Rückblick scheint nun die frühere kapitalismuskritische Reflexion von Hannes als Kommentar auf diese Szene gelesen werden zu müssen, da heißt es: »wer kriegt Recht in diesem Land? Im Zweifelsfall die Frauen und Männer in den Limousinen.« (SK, 48) Hannes weiß, wie er dörfliche Meinung und staatliche Gewalt lenken muss, dem Mädchen aus prekären Verhältnissen fehlt dieses Wissen: Sie wird ausgeschlossen, Hannes wird Teil der Dorfgemeinschaft, indem er die Machtstrukturen nutzt, denn schon früher weiß er, »[s]ouverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet […].« (SK, 81) Trotz dieser Landnahme endet der Text mit der Aussicht auf ein Scheitern des Umzugs, wenn Hannes Meta offenbart, dass seine Juniorprofessur ausläuft und der Kredit für das Haus so nicht mehr zu bezahlen ist. Für diese Untersuchung ist entscheidend, dass der Erzähler nicht nur das Geschehen rund um die Spätkirmes vermittelt, sondern in den mit »Ortskunde« überschiebenen Kapiteln auch Wissen um Geschichte (vgl. SK, 13f.; 70f.), sprachliche Besonderheit (vgl. SK, 84f.) oder Infrastruktur des Dorfes (vgl. SK, 20-22). In den mit »Aus der Geschichte« überschriebenen Kapiteln wird aus der Zeit des Kulturkampfes erzählt (»Aus der Geschichte 1: Kulturkampf. Katholiken im Widerstand« (SK, 93)). Die Anordnung dieser Geschichts- und Ortskunde-Kapitel erscheint zunächst beiläufig, der Bezug auf die Handlung wird aber immer implizit oder explizit hergestellt, beispielsweise wenn wiederholt von historischen Stadt-Land-Gegensätzen erzählt wird, im folgenden Zitat am Beispiel von Medien und ihrer Auswirkungen auf Machtverhältnisse in Stadt und Land. Da wird der ländliche Raum zum unregulierbaren Raum, von dem eine gewisse gesamtgesellschaftliche Widerstandswirkung ausgeht: Wer auf dem Dorf liberale Blätter hielt, musste sich über Anfeindungen nicht wundern, auf dem Dorf las man katholisch, da half keine Überwachung, da wirkten keine Prozesse. […] Die Stimmung, wieder diese Stimmung, sie ward immer aufgeheizter, sie ließ sich nicht steuern […], Auflösung mehrerer Schwesternorden und einiger katholischer Vereine, nichts ließ die Staatsmacht unversucht […], am Ende brauchte der Reichskanzler das Zentrum und manches wurde zurückgedreht, die katholische Partei stärker, […] auch wenn die Gesellschaft im Ganzen ein Stück mehr säkularisiert, am Ende, wie immer, fanden die Widersprüche zu neuen Synthesen. (SK, 95f.)

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Gerade dieses »Die Stimmung, wieder diese Stimmung, sie ward immer aufgeheizter, sie ließ sich nicht steuern« kann als poetologisches Prinzip des Buches verstanden werden, in dessen Verlauf die Handlung sehr langsam aber stetig eskaliert und auf einen Machtkampf über Deutungshoheit zuläuft, in dem Wissen zur zentralen Steuerkraft wird. Die Zusammenhänge zwischen Zitaten zum Kulturkampf und Geschehen werden noch deutlicher, wenn in einem der Ortskunde-Kapitel von einem stillgelegten Bahndamm im ehemaligen französisch-deutschen Grenzgebiet erzählt wird, dieser lief unvermindert geradeaus, zwanzig Kilometer geradeaus […]. Baubeginn 1904, doch nie fuhr hier ein Zug, das ließen sie nicht zu, die früheren Erzfeinde, heutigen Erzfreunde. Geblieben ist ein Bodendenkmal, von Brücken und Unterführungen gequert, […] nichts wirkt mehr militärisch, alles friedlich und zivil. (SK, 24f.) Wenn dann im darauffolgenden Kapitel die scheiternden Versuche des behinderten Jungen Bob geschildert werden, eine Straße für das Dorffest zu sperren (»Muss das absperren, hier darf keiner durch« (SK, 25)), wird deutlich, dass die Geschichte unnützer Grenzen nicht zu enden scheint. Noch expliziter als in den Texten der ersten Untersuchungsgruppe wird also durch die Passagen des Neusser Pastors Peter Josef und die Geschichten aus dem Kulturkampf auch in Spätkirmes das eher handlungsarme Geschehen durch Intertexte mit Bedeutung aufgeladen. Noch auffälliger wird das, wenn Schillers Wallenstein als Kommentar auf die Verführungsversuche Jeanettes gebraucht wird: »Sirene, Sirenchen, Lo-Li-ta, nicht Macht ist’s, die sein Herz verführt« (SK, 36). Dass das Original variiert wird, ist als Kommentar zu verstehen, denn in Wallenstein heißt es eigentlich: »Denn seine Macht ist’s, die sein Herz verführt,/Sein Lager nur erkläret sein Verbrechen.«4 So werden Macht und Ort (Lager) als Erklärung der weiteren Eskalation aufgegeben. In dieser Übersicht zur Form und dem Geschehen in Spätkirmes konnte dargelegt werden, dass mehr noch als in allen bisher untersuchten Texten dieser Umzug als eine Geschichte über Landnahme und Gewalt geschrieben wird. Gerade durch Hannes’ Entwicklung vom unbeteiligten Beobachter zum aktiven Nutzer von Macht und Gewalt ist aber auch diese Umzugs- eine Transformationsgeschichte. Im folgenden Unterkapitel zum Gang aufs Land wird herausgearbeitet, wie in der Schilderung des Umzugsgeschehens wiederholt Motive gebraucht werden, die aus der ersten Untersuchungsgruppe bekannt sind, sodass auch Spätkirmes als Variation und Kommentar der bisher untersuchten Umzugsgeschichten zu verstehen ist und wie alle un4

Schiller, Friedrich: Wallenstein, in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 8: Wallenstein II, hg. von Norbert Oellers nach der Ausgabe Julius Petersen u.a., Weimar: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger 2010, S. 457.

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tersuchten Texte auch als eine Deutung darüber gelesen werden kann, wie ein Gang aufs Land heute überhaupt noch zu machen ist. In einem letzten Schritt wird die Bedeutung von Normalität und Wissen in Spätkirmes herausgestellt.

4.2 Der Gang aufs Land Wie schon in den Büchern von Brüggemann, Reichert und Zeh ist bei Beginn des Geschehens der Umzug bereits vollzogen. Dass Hannes und Meta als Beispiel für viele Umzüge stehen, wird daran deutlich, dass in ihnen verschiedene Motive der ›Lust auf Land‹ und Deutungen über den Gang aufs Land inkorporiert sind. Ähnlich wie in Unterleuten oder Land spielen ist es auch hier die (scheiternde) akademische Mittelschicht, die auf dem Land einen Neuanfang versucht. Hannes ist ein Juniorprofessor ohne Aussicht auf Verlängerung der Stelle und ohne Inspiration für ein Habilitationsprojekt, die Universitätslaufbahn ist zur Sackgasse geworden. Auch Meta hat studiert, keine Aussicht auf eine Anstellung und arbeitet auf 400-Euro-Basis im Dorf. Zunächst wollen beide für ihre Tochter Cora mehr Platz und Geborgenheit. Schnell wird klar, dass der Umzug aufs Land hauptsächlich auf Metas Wunsch hin erfolgt ist, wenn sie im Gespräch mit sich selbst feststellt: »Man lebt besser, wenn man einverstanden ist, […] zufrieden mit der Situation und mit sich selbst im Einklang. Mit dem Großen Ganzen nicht, der Politik, der Einrichtung der Welt, … das nicht, natürlich nicht.« (SK, 17) Ihr Glück auf dem Land ist von Beginn an durch solche autosuggestiven Verfahren gestützt: »Besser man hält die Träume klein, schätzt, was man hat, das ist der eigentliche Reichtum.« (SK, 23) Hannes hingegen reicht das Leben auf dem Land nicht als Glücksdefinition, so stellt er beim Spaziergang mit der Tochter durch das Dorf fest: »Ist das vielleicht, was ich gesucht habe? Ruhe und Abgeschiedenheit, wie alt bin ich denn? Dieser kleine Ort, bin nicht gemacht für so Dörfer, heute keine Spur von Ruhe, Umweltverschmutzung, akustische. Die Kirche ist windschief.« (SK, 44) Er begegnet dem Leben auf dem Land mit Distanz, da die anhängigen Idylle-Versprechen nicht eingelöst werden. An der Spätkirmes entwickelt sich dann die ganze Kritik am vorgefundenen Landleben, schon im Voraus des eigentlichen Festes stellt er fest, er brauche das heute wirklich nicht […] warum gehen sie nicht einfach in die Kneipe und besaufen sich, wozu dieses Beiwerk? Stellt sich die Frage, ist das Ganze ein Epiphänomen des Trinkens oder umgekehrt? Undurchschaubar, jedenfalls für mich, ich sehe, begreife da nichts … Zusammenhalt, Freundschaft, Tradition. (SK, 26) Und auch während des Festes steht er beobachtend daneben, sich die Dorfbewohner als Urmenschen vorstellend: »sie hockten in ihrer Höhle, die verziert war mit archaischen Jagdszenen oder auch nicht, sie kauerten am Lagerfeuer, tranken den schäumenden Met und kicherten. Nur Hannes stand abseits« (SK, 100). Seine Perspektive

Stahl – Spätkirmes

aufs Dorf ist von solchen abwertenden Deutungen und Vorstellungen von Ungleichzeitigkeit geprägt, die als Motive bereits aus den vorherigen Analysen bekannt sind. Und auch in der Beobachtung von Landschaft oder Universitätsbetrieb wird wiederkehrend Kulturkritik formuliert: »Eudaimonia, das wäre vollkommene Selbstgenügsamkeit, das ist, was sie damit meinen, Sein zum Tode hin.« (SK, 28) Um die Spätkirmes als soziales Großereignis des Dorfes kommt Hannes jedoch nicht herum, der Ausnahmezustand ist unausweichlich, die Auswirkungen wurden bereits im vorhergehenden Unterkapitel beschrieben. Für Hannes sind Erzählungen von Landidylle, Utopien vom guten Leben auf dem Land und Heimatdiskurse schon längst Fiktion, in seiner Deutung wurde Gemeinschaft abgeschafft – erst durch den Kapitalismus des 20. und in dessen Nachfolge durch den Neoliberalismus des 21. Jahrhunderts. So denkt er über die vor Heimat strotzende Rede des Vereinsvorsitzenden: worüber redete der Mann? Blanke Illusionen, was ist davon übrig? Jede und jeder steht für sich allein, großes Rattenrennen um Erfolg und Glück, das soziale Gelingen, Einzelkämpfertum, Konkurrenz der Monaden, alles strebt auseinander, alles klatscht an den Rand. (SK, 60) Wie in diesen Betrachtungen von Dorfgemeinschaft geht es in Hannes’ Reflexionen dann zunehmend um ein Zerbrechen etablierter Ordnungen, schließlich wird der Ausnahmezustand zu einem möglichen Thema seiner immer noch ausstehenden Habilitationsschrift: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, in diesem Fall nämlich der Dichter.«5 Hannes sieht den Ausweg, den Ausnahmezustand Landleben zu beenden und wieder in die städtische Normalität zu gehen, mit dem Kind »oder gleich ganz allein« (SK, 83). Aber auch die Rückkehr nach Berlin ist keine Option, die Ablehnung der Stadt, »darum ja weg« (SK, 83), ist mittlerweile inkorporiert, sodass Hannes außerhalb aller urbanen oder ruralen Ordnung zu stehen scheint. Letztlich stehen die hier geschilderten Ausschnitte aus der Schilderung des Ankommens nur beispielhaft für eine Reihe solcher im Text enthaltenen Deutungen über Ordnung, Unordnung, Normalität und deren Auswirkungen auf die Möglichkeit, ein gutes Leben auf dem Land zu führen. Diese Feststellung wird im letzten Unterkapitel dieser Analyse weiter untersucht.

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SK, 81; Der kursivierte Teil ist der erste Satz aus Carl Schmitts konservativer Schrift Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922); vgl. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 9 Berlin: Duncker & Humblot 2004, S. 13. Durch den nachfolgenden Halbsatz wird das Zitat zum poetologischen Kommentar auf die Handlung von Spätkirmes sowie Schreiben über Land insgesamt, was auffällig an die poetologischen Zitate in Juli Zehs Unterleuten erinnert.

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4.3 Normalität, Ausnahmezustand und Wissen Wie in den letzten Unterkapiteln deutlich wurde, ist, ähnlich wie in Zehs Unterleuten und Mezgers Land spielen, auch in Spätkirmes das Bild der Zuziehenden ein komplexeres als in der ersten Untersuchungsgruppe: Zwar sind in Meta auf mehrfache Weise die Motive des Landlust-Diskurses personifiziert, Hannes bleibt der Ort jedoch lange fremde Provinz, er wird erst heimisch, als er die Bedeutung von Machtstrukturen in ländlichen Gebieten erkennt. Dass ebenso wie in Unterleuten scheiternde akademische Existenzen aufs Land ziehen und dort durch ihr Eintreten in Macht- und Gewaltstrukturen die von ihnen auf dem Land erwarteten Heilsversprechen selbst unmöglich machen, wird als Verfestigung im Gefüge der narrativen Aushandlungen rund um die Möglichkeiten gelebter ›Lust auf Land‹ gedeutet. Und auch die Zentralstellung der Diskussion um Normalität und Ausnahmezustand können als solche Kommentare gedeutet werden. In Spätkirmes wird also erzählt, dass die Sorgen der Mittelschicht nicht mit einem Umzug aufs Land enden, wodurch der Gang aufs Land als wirkungsloser Eskapismus gekennzeichnet wird. Daher wird auch diese Variante des Umzugsgeschehens als Absage an die in der ersten Untersuchungsgruppe etablierten Erzählungen vom Umzug aufs Land als Entdeckung guten Lebens verstanden. Ähnlich wie das Dorf Unterleuten ist auch Kirchweiler ein Ort von unterschiedlichen Stimmen, Gruppen und Kulturen, die nur selten in friedlicher Koexistenz leben. Dadurch und durch das Ende der Erzählung rund um die Figuren Hannes und Jeanette wird Spätkirmes zu einer Geschichte über gesellschaftliche Gewalt und ihre Auswüchse in der Provinz, die dann nicht als belebbarer idyllischer Raum außerhalb aller Ordnung taugt, wie es in der ersten Untersuchungsgruppe angelegt ist. Für diese Deutung ist entscheidend, dass der zentrale Gewaltakt, die (mutmaßliche) Vergewaltigung und die Übervorteilung mit Hilfe staatlicher Institutionen, letztlich von der zuziehenden Figur ausgeht. In dieser Deutung endet die (staatliche) Gewalt nicht auf dem Land, man kann nicht aus der Stadt vor ihr fliegen. Hannes geht hier mit (intellektueller) Macht und Gewalt in der Provinz vor, was als eine Form der kolonialen Landnahme erscheint, zugleich erkennt er gewissermaßen die Ordnung des Ortes an. Dieser Zusammenhang von Landnahme und der Etablierung eigener Ordnungen wird schließlich auch das lang gesuchte Thema für Hannes’ Habilitationsschrift, er findet darin endlich ein Sujet, das ihn interessiert, endlich überhaupt einmal ein Sujet. Trübe Rinnsale an Reden, Geplauder, Partytalk, Sehnsucht nach Abgrund, sie zogen ihn hinab in den Strudel der Vergeblichkeit […]. Nomos … Einheit von Ordnung und Ortung … Ortung gleich Schaffung und Bestimmung des Raumes, in dem die Ordnung überhaupt gilt. Heimat. Ist die Ordnung tatsächlich eine staatliche, kom-

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munale? Sind es nicht wir selbst, die diese Ordnung schaffen? Unseren vertrauten Raum … Wo ist mein vertrauter Raum … mein Nomos? (SK, 207) In Carl Schmitts Theorie des ›Nomos‹, auf die in diesem Zitat angespielt wird, ist eine Rechtfertigung der kolonialen Landnahme durch ›zivilisierte‹ Völker angelegt, da ›unzivilisierte‹ Völker mangels eigener Staatstheorie keine echten Ordnungen und daher keine Ortsbestimmungen etabliert hätten.6 Bringt man das wiederum zusammen mit der früheren Variation des Carl Schmitt Zitats, »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, in diesem Fall nämlich der Dichter«, so ist darin nicht nur das Zusammenfallen von Macht und Wissen angelegt, sondern noch deutlicher eine Zentralstellung der Normalitätsdeutungen. Demnach ist die Darstellung von Normalität für die Erkenntnis einer Sozialform nicht entscheidend, erst im Ausnahmezustand offenbaren sich die realen Machtverhältnisse; »Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles«.7 Die realen Verhältnisse sind nicht von Wahrheit (Wissen), sondern von Macht abhängig, »die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht«,8 heißt es bei Schmitt weiter. Damit geht es auch in Spätkirmes um das Verhältnis von Wissen und Raum: In Hannes’ Aktualisierung von Schmitts Theorie braucht der Dichter dann letztlich nicht Wissen und Wahrheit über Land zu haben, er muss sie nur behaupten und kann so neue Raumordnungen produzieren. Hannes zieht die dafür notwendige Grenze zwischen ›zivilisiert‹ und ›unzivilisiert‹ mittels akademischer Bildung(smacht) nach, orientiert sich dabei an der Grenze von Stadt und Land. Darin ist eine Wertung von Wissensproduktion als ein Werkzeug der Landnahmen angelegt, was letztlich die lange Reihe der hier untersuchten Umzugs- und Erkenntnisgeschichten noch deutlicher in die Nähe kolonialer Schreibtraditionen stellt. Gerade auch durch diese letzte Feststellung ist Enno Stahls Spätkirmes, deutlich klarer als zunächst angenommen, ein relevantes Dokument einer Poetologie des Wissens über Land im beginnenden 21. Jahrhundert. Deshalb dient diese Einzeltextanalyse auch als Vorbereitung für den Blick auf einen weiteren (vermeintlichen) Zweifelsfall: Die Einreihung von Jan Böttchers Das Kaff in diese Untersuchung.

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Vgl. Neumann, Volker: Carl Schmitt als Jurist, Tübingen: Mohr Siebeck 2015, S. 476. Schmitt 2004, S. 21. Ebd., S. 19.

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5. Jan Böttchers Das Kaff

Jan Böttchers Das Kaff ist in dieser Arbeit ein Sonderfall, weil darin kein Umzug ›aufs fremde Land‹ erzählt wird, sondern die Rückkehr in einen (ländlichen) Ort der Kindheit.1 In Das Kaff wird diese Geschichte anhand der Heimkehr von Michael Schürtz erzählt. Schürtz ist nach einer Ausbildung zum Studieren nach Berlin gegangen, wo er mittlerweile als Architekt arbeitet. Ihm wird die Bauleitung für Eigentumswohnungen in dem Ort seiner Kindheit übertragen, was ihn für einige Wochen dorthin zurückführt. In Einstellungen und Habitus wird Schürtz als urbaner Mensch, eigentlich als Snob vorgestellt, der dem Gedanken an Heimat lediglich als Witz begegnen kann. Je länger er nun in seinem Heimatkaff ist, desto mehr reifen in ihm Zweifel, ob ein Entrinnen aus dem Komplex ›Heimat‹ überhaupt möglich ist und ob die in Berlin angelernte Ablehnung der Provinz wirklich nötig ist. Bald trainiert er die Jugendmannschaft des lokalen Fußballvereins, beginnt eine Affäre mit einer der Mütter, versöhnt sich mit seinen Geschwistern und schließt Frieden mit dem ehemaligen Fußballtrainer. Auch in diesem Roman wird also eine Entwicklungsgeschichte erzählt, anders als in den bisher untersuchten Büchern geht es dabei aber nicht primär um die Erkenntnis ländlicher Räume, sondern um den Abbau der in der Stadt entwickelten Vorurteile gegen die Normalität der Provinz. Der Unterschied erscheint zunächst rudimentär, denn auch in Das Kaff verläuft die Entwicklung also von einem urbanen Zustand der Vorurteile über eigene Erfahrungen und Erinnerungen hin zu einem subjektiv geformten Bild von Landleben. Anders als in den anderen Texten war die Provinz schon mal Heimat, da muss kein Wissen über Vieh- und Landwirtschaft, Geographie oder Biologie mehr erlangt werden. Eine weitere Parallele zu den bisher untersuchten Texten ist, dass auch dieser Gang aufs Land in einem komplexen Gefüge bestehender Deutungen geschieht, so werden auch in Das Kaff wiederholt Motive aus verschiedenen Erzähltraditionen über Stadt und Land verwendet, um Schürtz’ Verhältnis zu diesen Räumen zu bestimmen. Beispielsweise dominiert bereits in der 1

Variationen solcher Heimkehr-Geschichten wurden in den letzten Jahren wiederholt erzählt u.a. in Judith Zanders Dinge, die wir heute sagten (2012), Thilo Krauses Elbwärts (2020) oder John von Düffels Der brennende See (2020), sodass auch dieser Roman für eine literarische Entwicklung steht.

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Eröffnung des Romans die für idyllische Tradition maßgebliche, belebte Natur den Eindruck vom ländlichen Raum: »Der ganze Wald hört mich kommen. Kiefern wippen im Wind, Buchen fallen sich über dem Weg in die Arme […]. Mein Handtuch fällt aus dem Korb. Vor Glück, denke ich«.2 Indem dann aber auch das Handtuch belebt wird, erscheint die narrative Tradition ironisiert und bereits eingangs auf Distanz gesetzt. Direkt im Anschluss wird die Erkenntnis vorbereitet, dass Natur und Heimat sich nicht darum scheren, ob man in ihnen lebt: »Die Strömung ist die Strömung geblieben, hinreißend mitreißend.« (DK, 7) Aber gerade mit diesem »hinreißend mitreißend« wird ein gänzlich unbeteiligtes Verhältnis ausgeschlossen. Das Geschehen wird in einzelnen, bruchstückhaften Episoden geschildert, die durch Kapitel wie »Anbaden« (DK, 7), »Sommerregen« (DK, 115) oder »Briefkopf« (DK, 241) strukturiert sind. Die Wahrnehmung geht dabei nie über die des Protagonisten hinaus, reicht aber in sein Inneres, wenn Gedankenströme oder Selbstgespräche geschildert werden. Anhand dieser kurzen Zusammenfassung ist bereits zu erkennen, dass trotz des anders gelagerten Geschehens und der abweichenden Erzählform auch in Das Kaff eine Erkenntnisgeschichte über ländliche Räume mit einer Transformationsgeschichte verbunden wird, weshalb auch in diesem Text Spuren einer Poetologie des Wissens über Land zu erwarten sind. In der folgenden Analyse wird dafür neben der Darstellung von Wissen, Erkenntnis und Normalität auch herausgearbeitet, wie die Stadt-Land-Dichotomie verfasst ist und das Schwanken zwischen beiden Orten erzählt wird.

5.1 Raumkonfiguration Das Kaff bleibt namenlos, wird lediglich als eine deutsche Klein- oder Mittelstadt westlich von Berlin mit wenig Platz für Veränderungen und Abweichungen bestimmt. Schürtz begegnet seinem Heimatort abfällig und bezeichnet ihn besonders am Beginn der Handlung andauernd als ›Kaff‹. Auch durch eine konsequente Begrenzung des Figurenrepertoires bleibt der Ort klein. Mit dieser urbanen Vorstellung vom provinziellen locus terribilis wird die im Anfang bereits angelegte und im Protagonisten reifende Erkenntnis vorbereitet, dass auch der zu klein gewordene Heimatort ein Ort zum Leben sein könnte. Diese Erkenntnis beginnt mit der Überraschung, dass der Ort überhaupt unabhängig von der Anwesenheit des Protagonisten Bestand hatte: »Wahrscheinlich stand mir der Mund offen, weil ich dachte, dass es Käseblatt kraft meiner Ablehnung nicht mehr geben kann.« (DK, 15) Der Blick in das Käseblatt zeigt dann, dass hier keine Heimat möglich sein wird,

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Böttcher, Jan: Das Kaff, Berlin: Aufbau 2018, S. 7. Im Folgenden werden Zitate aus diesem Titel mit der Sigle DK im Fließtext nachgewiesen.

Böttcher – Das Kaff

denn dieser fremdgewordene Raum erscheint ihm komplett unkultiviert, Schürtz erkennt einen Mangel an Anspruch, der einen schon als Jugendlicher eingeschläfert hat, Missgeschicke statt Katastrophen, Lackschäden statt Diktatur, dazu die Festlichkeiten im Landkreis und andere Wochenendtipps. Was das helle, harmlose Herz eben so verkraftet. (DK, 15) Das »helle, harmlose Herz« lebt in der Provinz, in der Stadt hingegen werden die echten politischen Probleme wahrgenommen, beide sind in der Raumkonfiguration des Romans streng getrennt. Ganz traditionsgemäß ist die Provinz hier ein rückschrittiger Ort und bleibt es auch, wenn Schürtz später die beschleunigten Zeitläufe der Stadt zum Maß erhebt und feststellt: »Ich kratze mich am Kopf. ›Irgendwas stimmt mit dem Tempo nicht‹, sage ich, ›in dem hier Veränderungen passieren.« (DK, 202) Doch mit dem Gang aufs Land wird auch der urbane Lebensstil zunehmend ablehnend geschildert, z.B. wenn der Hyperindividualismus als eigentliches Charakteristikum urbaner Lebensstile definiert wird. Diese Erkenntnis wird an den Freunden seiner ehemaligen Geliebten ausgestellt, diese sind für ihn ein Haufen extrovertierter Studenten, Theaterwissenschaftler, die nur wenige Seminare besuchten, weil sie viel lieber auf der Probebühne ihrer Fakultät abhingen. […] Sie hielten sich bereits für die Off-Theaterszene Berlins, ich hielt sie dann doch eher für verwöhnte Waldorfschüler (West) und hysterische Befreiungskämpfer (Ost). (DK, 82) Im städtischen Kulturbetrieb »krabbeln sie […] im Überlebenskampf um Miete und Dispo umeinander.« (DK, 82) Diese Umdeutungen der eigentlich eigenen Gruppe kündigt die Transformation an, so werden erst der Berliner Kunst- und Kulturbetrieb und dann das wohlhabende Hamburger Bürgertum in ihrer je eigenen Regelhaftigkeit als eigentliche Räume der Enge, als städtische Provinz beschrieben (vgl. DK, 230-235). Parallel zu der wachsenden Ablehnung städtischer Kultur werden die Vorurteile gegen Landleben abgebaut. Das geschieht durch Erfahrung, welche in der Betreuung eines lokalen Fußballvereins, dem Wiedersehen mit der eigenen Familie oder der Affäre mit einer Bewohnerin des betreuten Bauvorhabens gemacht werden. Durch Erfahrung und den Abbau von Vorurteilen werden die Grenze zwischen Stadt und Provinz durchlässiger und so nimmt Schürtz seinen provinziellen Habitus wieder an. Zum Beweis, dass der sowieso noch nicht verlernt war, werden schon auf den ersten Seiten halbstarke Aktionen des Protagonisten geschildert, was in seinem Stolz auf die immer noch beherrschte Schraubklemme im Handgemenge am See (vgl. DK, 8f) oder auf die beste Technik, jemandem ein Bein zu stellen (vgl. DK, 41f.), zum Ausdruck kommt. Mit der Erkenntnis, dass diese raumspezi-

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fischen ›Kulturtechniken‹ nicht verlernt wurden, reift dann auch die Einsicht, dass das Kaff noch immer als Lebensraum taugt. Das wird verfestigt, als ein Randberliner von einer spezifischen Glückseligkeit kleiner Orte spricht, dann lobt auch Schürtz das Landleben: [d]ie Bodenständigkeit, die Selbstironie, der unbedingte Einsatz für eine lebbare Normalität. Ein Mensch, der mit wenig zufrieden ist, weil es – in seinem Lichte betrachtet – gar nicht so wenig ist. […] Vielleicht ist es das, was ich in meiner Heimatstadt am ehesten im Fußballverein sehe. Oder dort vermute. Soziale Intelligenz, fernab von Sozialromantik. (DK, 197) Die Erkenntnis der kleinstädtischen »lebbare[n] Normalität« wird dem Kaff zum Rechtfertigungszusammenhang, dieses Lob wird durch »in seinem Lichte betrachtet« direkt abgeschwächt, in Stadt und Land herrschen unterschiedliche Anforderungen an gutes Leben, die eigentlich nicht objektiv verglichen werden können, die aber dennoch schnell abgestuft werden. Wie in Stahls Spätkirmes wird auch in Das Kaff die in der ersten Untersuchungsgruppe identifizierte Behauptung von der Normalität ländlicher Räume explizit thematisiert, denn auch Normalitätsbehauptungen sind letztlich Deutungen und nicht frei von Wertungen. An dieser Stelle ist das Zitat aus Fernando Pessoas Buch der Unruhe aufzulösen, welches dem Text vorangestellt ist: Niemand, vermute ich, gesteht einem anderen Menschen wirklich wahre Existenz zu. Er mag einräumen, daß dieser Mensch lebendig ist, daß er fühlt und denkt wie er, aber es wird da immer ein namenloses Etwas des Unterschieds, eine materialisierte Benachteiligung bestehen. (DK, 5) Diese Produktion von Unterschieden kommt in dem abschätzigen (urbanen) Blick auf Provinz zum Ausdruck, der zum zentralen Thema des Buches wird. Die dafür elementare Stadt-Land-Differenz wird auch dadurch zum Thema, dass Schürtz an einem Bauvorhaben mitwirkt, welches die Kleinstadt dichter an die Großstadt heranbringen soll: Durch stadtähnliche Infrastruktur soll das Wohnen auf dem Land für diejenigen attraktiv werden, die sich das Leben in der Großstadt nicht mehr leisten können, aber deren Nähe suchen (vgl. DK, 42f). Durch diese Suburbanisierungsprozesse wird die bisher verfestigte dichotome Raumordnung plötzlich selbst brüchig und mit ihr gerät auch der wiederentdeckte ländliche Raum der Kindheit in Gefahr, der erst durch die Grenzziehung in seinem ursprünglichen Zustand konserviert werden konnte. So wird die zunehmende Ausweitung der Städte in suburbane Gebiete zum weiteren Thema des Textes. Die raumverändernde Bedeutung solcher Bauvorhaben wird auch dadurch thematisiert, dass Schürtz ein Architektur-Lehrbuch geschenkt kriegt, nach dessen Lehre Bauen streng an den Bedingungen des Ortes ausgerichtet werden müsse. Er lehnt diese Lehre aber als veraltet ab, »weil beim Bauen sowieso nie alles zusammenpasst und man die Dinge nicht vorherse-

Böttcher – Das Kaff

hen kann.« (DK, 100) Von diesem Moment an gerät auch die Frage in den Mittelpunkt, ob es einen ›natürlichen‹ Lebensraum gibt, was in den Büchern der ersten Untersuchungsgruppe wiederholt betont wurde. Mit dem Kulturunterschied zwischen Stadt und Provinz wird auch der Protagonist immer wieder implizit und explizit beschrieben: Das ist der Unterschied zu Berlin, der mich am meisten beunruhigt. In Berlin kommst du an neuen Bekanntschaften gar nicht vorbei, hier bin ich ständig denselben Gesichtern ausgesetzt. Auch die Artikel im Käseblatt kenne ich alle schon: Irgendjemand, der Orwell gelesen hat, sitzt im Redaktionskeller und klebt ein neues Datum auf alte Lokalpropaganda. Der Mehrwert liegt in der Wiederholung. (DK, 95) Diese Ablehnung der Eintönigkeit ländlichen Lebens markiert nicht nur Schürtz als städtisch-überheblich, sondern diese Kritik selbst erscheint als stetige Wiederholung etablierter Kritik am Landleben, bezeichnenderweise steht diese Beschreibung im Kapitel »Utopie« (DK, 95). Die Utopie für das eigene Leben bestand für Schürtz stets im Verlassen der Heimat, er kämpft dagegen an, dass dieses Projekt nun infrage gestellt wird: Du führst hier den Stift, du hast Ziele. Dein Weg ist vorgezeichnet. Und du hast dir geschworen, in den Kampf zu ziehen für deine Freiwilligkeit. Du musst anfangen, darüber nachzudenken, was dich von all diesen Menschen trennt. Ihre Langsamkeit, das erwartbare Gesülze im Lokalteil, dieser generelle Mangel an Energie und Leidenschaft, das alles schnürt dir doch noch immer den Hals zu. Du bist doch ausgewandert, um frei zu atmen und deine Kräfte einzusetzen. Also bleib jetzt standfest und fang bitte nicht an, beim ersten Sommerregen einzuknicken wie die Stange eines Tchibo-Zeltes. (DK, 120) Diese Selbstüberzeugung steht im Kontrast zu der oben zitierten Erkenntnis, dass man beim Bauen »die Dinge nicht vorhersehen kann.« Dass der ländliche Raum das an ihn geheftete Versprechen vom guten Leben nicht halten kann, liegt auch an einer raumunabhängigen Beschleunigung und Veränderungen der Welt, denn »[d]ie Erdplatten verschieben sich./Die Welt ordnet sich neu.« (DK, 159) Da diese Feststellung aber auf Überlegungen dazu folgt, im ehemaligen Heimatort eine Liebesbeziehung zu beginnen, bleibt offen, ob wirklich eine globale oder nur eine individuelle Veränderung gemeint ist. Von diesen Feststellungen an ist die Wahl des Wohnortes weniger eindeutig und Bleiben oder Gehen stehen neu zur Debatte, was auch daran zu erkennen ist, dass Schürtz den The Clash-Klassiker Should I stay or Should I Go hört: »If I go, there will be trouble, if I stay it will be double.« (DK, 101)

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5.2 Bleiben oder Gehen Erst im Laufe des Romans wird erkennbar, dass Schürtz’ Bericht immer wieder an seine kranke und mittlerweile verstorbene Mutter gerichtet ist (vgl. DK, 123-127). Erst daraus erklärt sich der wiederholt erzählende Ton des Textes, der wiederkehrend wie ein innerer Dialog gestaltet ist (»Das alles geschah am Donnerstag, aber ich habe vergessen, vom Wochenanfang zu erzählen.« (DK, 204)). So wird die Rückkehr zur Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte, und es häufen sich Passagen, in denen Schürtz den Umgang mit seiner eigenen Wut schildert, der er auch durch den Wegzug aus dem Kaff nicht entkommen konnte: Pardon. Ich kämpfe doch dafür, dass es in mir aufhört. Weißt du noch, wie du am Ende meditiert hast, Sigrid? Ich bin an allen gängigen Techniken gescheitert. Aber ich lese, ich höre zu. Ich will mehr mit Menschen sprechen, die nicht den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Um ihre Lebensentwürfe verstehen zu lernen. Ich spüre, dass ich Gesellschaft brauche. Kompagnons statt Konkurrenz. Deshalb der Fußballverein. Nicht gegen die Wut kämpfen muss man doch, sondern dafür, dass sie aufhört. (DK, 127) In diesen Passagen wird deutlich, dass der ländliche Raum trotz aller Ablehnung als ein Ort von Gemeinschaft und Heilung taugt, das muss aber auch von dieser Figur erst entdeckt werden. Diese Entdeckung wird dann zum Prozess, der am Ende fast in die zuvor kritisch beäugte »Normalität« (DK, 197) mündet, aber nur fast: »Das ist noch keine Normalität, das sind Fortschritte, du weißt es« (DK, 260), richtet Schürtz sich da nochmal an seine Mutter. Am Ende des Textes steht die Rückkehr nach Berlin zwar in Aussicht, aber Schürtz engagiert sich weiter im Dorf, indem er die Wiederherstellung des alten Fußballplatzes in die Wege leitet und beaufsichtigt, was als letzter Schritt der Versöhnung mit der eigenen Kindheit erscheint (vgl. DK, 261-267). Das zentrale »Should I stay or should I go?« bleibt unbeantwortet, aber die Möglichkeit, sich in ländliche Normalität zu fügen, wurde neu (wieder-)entdeckt und mit ihr ein neuer möglicher Lebensraum. Anders als in den meisten bisher untersuchten Texten ist in Das Kaff Wissen kein zentrales Zugangselement zum ländlichen Raum, aber gleichbleibend sind tradierte und mitgebrachte Vorstellungen vom Landleben Hindernisse beim Gang aufs Land, sodass auch dieser Roman als Geschichte über die Neuentdeckung ländlicher Räume gelesen werden kann.

6. Rückblick IV: An Wissen scheitern

In dieser zweiten Untersuchungsgruppe wurden die Umzüge größtenteils nicht mehr als Erfolgsgeschichten erzählt, sondern die Figuren scheitern auf die eine oder andere Weise. Während der Erfolg beim Überschreiten der kulturellen StadtLand-Grenze die ersten Umzüge noch zu Helden- und Entdeckungsgeschichten gemacht hat, wird bei Zeh und Hansen von Scheitern erzählt, bei Mezger, Stahl und Böttcher bleiben die Figuren zwar zunächst auf dem Land, resignieren aber an der ländlichen Realität und die Rückkehr bleibt in den relativ offenen Textenden als Möglichkeit bestehen. Trotz dieser Unterschiede sind aber auch diese Texte Erkenntnisgeschichten, was den Zusammenhang beider Untersuchungsgruppen sichert. Deswegen, durch das relativ ähnliche Umzugsgeschehen und das ähnliche Figurenrepertoire lassen sich die im zweiten Teil untersuchten Texte also eindeutig als Variationen der Umzugsgeschichten der ersten Untersuchungsgruppe lesen, als Kommentar sowie als Teil der gesellschaftlichen Aushandlung über Möglichkeiten eines guten Lebens auf dem Land. In dieser Feststellung einer Variation steckt zudem die Beobachtung, dass die in der Umzugserzählung vermittelte Erkenntnisgeschichte als ein Kernpunkt dieser Aushandlungsprozesse narrativ verfestigt wird. Dabei sind einige wiederkehrende Muster im Erzählen auffällig, begonnen mit der Auswahl der Figuren: In Unterleuten, Land spielen, Spätkirmes oder Altes Land scheitern Publizisten und Akademiker an ihren Hoffnungen auf ein gutes Leben auf dem Land, schon diese Auswahl des Personals lässt die erzählten Umzüge als soziologische oder demographische Analyse des Landlust-Diskurses erscheinen, denn es drängt sich die Vermutung auf, dass diese Figuren den Autoren der ersten Untersuchung entsprechen oder ähneln. Anders als im ersten Teil der Untersuchung sind die aber nur eine – und dann häufig randständige – Stimme in der Polyphonie von Stimmen, die hier über Landleben erzählen. Damit sind diese ländlichen Räume Orte vielfältiger Perspektiven, während das Sprechen der ›ländlichen Figuren‹ in der ersten Untersuchungsgruppe immer von den ehemals städtischen Erzählern organisiert wurde. Schon an diesem Beispiel ist zu erkennen, dass die im zweiten Schritt untersuchten Romane teilweise wie Korrekturen zu den Umzugserzählungen der zuvor analysierten Sach- und Unterhaltungsliteratur wirken.

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Eine weitere Beobachtung ist an den erzählten Themen fest zu machen, da in den nun analysierten Romanen häufig über das Ausgelassene der ersten Untersuchungsgruppe erzählt wird: Besonders auffällig ist bspw., wie in Spätkirmes oder Unterleuten über die Auswirkungen der Herausforderungen von Markt, Kapitalismus und Repräsentationsdruck des Neoliberalismus in ländlichen Räumen erzählt wird, während diese Themen in der ersten Untersuchungsgruppe, besonders in Jansons Winterapfelgarten oder Sezgins Landleben, noch als rein städtische Probleme apostrophiert wurden, die durch den Umzug gelöst wurden. In dieser Ausschlussbewegung gegenüber diesen Themen der Spätmoderne folgte die erste Untersuchungsgruppe der langen Tradition, das Land als Ort fern von Geld und Markt zu schreiben. Die Dauer dieser Tradition ist daran abzulesen, dass schon Horaz den ›Wucherer‹ Alfius, letztlich ein früher Finanzmarktakteur, darüber nachdenken lässt, ob er aufs Land zieht: »Glücklich ist der, der fern von Geschäften/Wie das Menschengeschlecht der Vorzeit/Das väterliche Feld mit seinen Stieren pflügt/Und frei von allem Wucher ist«.1 Den gleichen Gedanken hätten auch die Figuren formulieren können, die in Spätkirmes (Hannes) und Unterleuten (Gerhard Fließ) derart unter dem neoliberalen Druck der Stadt leiden, dass sie eine Kontrasterfahrung auf dem Land suchen. In dieser zweiten Gruppe enden die Suchen aber nun immer wieder mit der Erkenntnis, dass ein solcher Ort außerhalb kapitalistischer Ordnungen nicht existiert, weil die traditionell erzählte Grenze zwischen Stadt und Land nicht besteht. Insbesondere in Unterleuten wird das Dorf genau wie die Stadt zum Ort von Markt und Gewalt, die Figuren reagieren unterschiedlich auf diese Feststellung: Gerhard Fließ geht in der neu erkannte Ordnung auf, seine Frau geht zurück nach Berlin. Aber auch in Spätkirmes, Das Kaff und Land spielen enden mit der Ortsgrenze der Stadt die ständigen Sorgen um berufliche Sicherheit und der Repräsentationsdruck des Neoliberalismus nicht. Zwar werden die Umzüge nicht sofort rückgängig gemacht, dafür werden aber alle (städtischen) Traumbilder vom guten Leben außerhalb der Marktlogiken aufgegeben. Die hier verneinte Grenze zwischen Markt und Land hat hingegen sowohl bei Horaz als auch in der ersten Untersuchungsgruppe, insbesondere in Winterapfelgarten, noch Bestand. Bei Horaz scheitert der Traum vom guten Leben auf dem Land an den Verlockungen des frühen Kapitalismus, wenn Alfius am Ende der Epode zu neuen Spekulationen ansetzt: »Als so der Wucherer Alfius gesprochen hatte,/Schon drauf und dran, ein Bauersmann zu werden,/Kündigte er an den Iden all sein Geld:/Er will’s an den Kalenden – wieder anlegen!«2 Der Traum platzt, Alfius entscheidet sich wieder für Spekulationsgeschäfte in der Stadt, die Raumordnung bleibt bestehen, der Umzug scheitert. In Winterapfelgarten bleibt die Grenze

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Horaz: Epode II, in: ders.: Oden und Epoden, hg. von Gerhard Fink, Berlin/Boston: de Gruyter 2002 (Sammlung Tusculum), S. 273-277, hier: S. 273. Ebd. S. 277.

Rückblick

der Räume noch bestehen, dennoch ist der Umzug ein Erfolg und damit der Beweis erbracht, dass ein Raum außerhalb kapitalistischer Ordnung gefunden werden kann. In der nun analysierten zweiten Untersuchungsgruppe taugen ländliche Räume nicht mehr als Orte urtümlicher Arbeit und als abgeschlossene Entlastungsräume, da die Grenzen des Marktes nicht mehr mit den Grenzen der Stadt übereinstimmen.3 Auch das ist eine Erkenntnisgeschichte. Durch die Hinzunahme dieser Texte ist also noch einmal die anfängliche Vermutung bewiesen worden, dass die Anlage der Umzugserzählung als Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte eng mit der erzählten Raumkonfiguration zusammenhängt. Es wurde aber auch gezeigt, dass ländliche Räume in unterschiedlichsten Umzugserzählungen als Wissensobjekte auftauchen – unabhängig von ihrem Auftauchen in Romanen, Sach- oder Unterhaltungsliteratur, unabhängig davon, ob sie als Erfolg oder Scheitern erzählt wurden. Gerade an diesen Beobachtungen zu den erzählten Grenzen erscheint eine weitere Parallele zu den Texten der ersten Untersuchungsgruppe, die jedoch zunächst als Unterschied erscheint: Bei den hier erzählten Umzügen handelt es sich zumeist um restitutive Ereignisse, bei denen die Überschreitung der klassifikatorischen Grenze zwischen zwei (semiotischen) Räumen wieder rückgängig gemacht wird. Daher erfolgt keine nachhaltige Veränderung der Raumordnung, sondern die vor den Umzügen gültige Konfiguration wird wiederhergestellt und bestätigt.4 Insofern handelt es sich nicht nur um Geschichten über Räume, sondern auch über Raumordnungen. Mit deren Untersuchung konnte gezeigt werden, dass zumeist die (städtischen) Bilder und Annahmen über Land als Bedingung dieses Scheiterns erzählt werden, sodass das Erzählen über Raum- immer auch ein Erzählen über Wissensordnungen ist. Das ist beispielhaft an der Nutzung von Ironie in der Darstellung der zuziehenden Figuren ersichtlich, die im folgenden Abschnitt noch einmal zusammengefasst wird. Die Ironie spielt in der Erzählkonstruktion der Romane eine bedeutende Rolle, da sie als ein Mittel der »Rahmenkonfusion«5 der erzählerischen Distanznahme und der Steigerung des »Fiktivitätsbewußsein[s]«6 dient. Sie gibt der Handlung, mehr aber noch den Bildern von Landleben eine Wendung »ins Unbestimmte, ja Unbestimmbare«, die »sich jedem abschließenden Verständnis«7 widersetzt. Unterleuten enthält beispielsweise einen zweifach ironischen Blick auf Landleben: Zum 3

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Dieser Absatz folgt teilweise meiner früheren Publikation: Seel, Henri: Verloren geglaubte solidarische Räume«. Spuren des Neoliberalismus-Diskurses in der Stadtflucht-Literatur der Gegenwart, in: Langner, Sigrun/Frölich-Kulik, Maria (Hg): Rurbane Landschaften: Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt. Bielefeld 2018, S. 65-82. Vgl. Martínez/Scheffel 2005, S. 142. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 53. Ebd., S. 177. Wirth, Uwe: Ironie, in: ders. (Hg.): Komik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2017, S. 16-21, hier: S. 19f.

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Vom Scheitern – Analyse der zweiten Untersuchungsgruppe

einen den ironischen Blick der Zugezogenen auf die Traditionen und Lebensweisen des Dorfes, zum anderen den ironischen Blick auf diese Figuren. Beide entstehen durch Übertreibung der Motive und durch das Scheitern ihrer Ankommensbemühungen. Die Bedeutung dieser ironischen Darstellungen entfaltet sich erst aus den Bezugnahmen des Romans auf die literarische Tradition und die ›Lust auf Land‹, so wird das Erzählen zum Kommentar auf die gesellschaftlichen Deutungen über Land, welche Zeh beispielhaft im Interview kritisiert hat.8 Zwar werden in Unterleuten weder Landlust-Magazine noch -Bücher direkt erwähnt, jedoch müssen Figuren wie Gerhard Fließ als Repräsentationsfiguren des Diskurses verstanden werden, dessen Wertung erfolgt dann »entweder durch explizite evaluative Äußerungen im Erzähltext oder implizite Bewertung des Figurenverhaltens und der Figurenhandlungen«.9 Eine direkte Erwähnung des Diskurses ist dann gar nicht mehr nötig, da auch so das von Umberto Eco beschriebene postmoderne Spiel mit den »Echos der Intertextualität« funktioniert, wonach »[a]lle Bücher […] immer von anderen Büchern [sprechen], und jede Geschichte […] eine längst schon erzählte Geschichte«10 erzählt. Der Bruch mit den kulturell-literarischen Bildern des Ländlichen, bspw. bei Zeh oder Brüggemann erhöht die »Aufmerksamkeit für Rahmungen«11 , also bspw. für den bestehenden Landlust-Diskurs.12 Gerade indem die Figuren also durch die Übertreibungen in ihrer Darstellung zum Teil einer historischen wie gegenwartsgesellschaftlichen Massenbewegung aufs Land gemacht werden, erscheint die Ironie als direkte Reaktion auf die individualistischen Heldengeschichten der ersten Untersuchungsgruppe. Mehrere Beispiele für diese Ironie wurden bereits in den Einzelanalysen angedeutet, insbesondere ist der Journalist Burkhard Weißwerth aus Hansens Altes Land zu nennen. In dieser Figur sind die Motive des Landlust-Diskurses derart überzeichnet, dass die Darstellung als Ironie gelesen werden muss.13 Zudem wird 8 9 10 11 12

13

Siehe hierzu die Vorbemerkungen zur zweiten Untersuchungsgruppe. Mair 2016, S. 53. Eco, Umberto: Nachschrift zum ›Namen der Rose‹. 8 München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 28. Luhmann 1999, S. 415. Dass solche Vorstellungen gerade bei den Lesern als vorhanden angenommen werden zeigt ein kommunikationstheoretisches Modell der Ironie. Demnach versteht der Empfänger, dass etwas anderes gesagt als gemeint ist, wenn der Sprecher seine Aussage so gestaltet, dass sie offensichtlich gegen die Maxime der Wahrhaftigkeit, hier also Wahrheit des kulturellen Bildes verstößt; vgl. Wirth 2017, S. 19f. Das geschieht durch die wiederholte Übertreibung der Motive wie bspw. das Auftreten eines Kleinkindes als Wissensträger in Altes Land. Das ist gut zu erkennen, wenn er sein Leben auf dem Land als produktiver als das in der Stadt schildert, »[w]eil er nicht mehr zugedröhnt war vom Getöse der Stadt, nicht mehr abgelenkt durch die Poser und Schwätzer […] – allein das Geld, das er jetzt sparte! Und die Zeit!« (AL, 190) Das Schema wird wiederholt: »Burkhard Weißwerth wusste, wie diese herrlich unverkopften Menschen tickten, all die urigen, wortkargen, dickschädeligen Bauern, von denen er in seinen

Rückblick

bei Weißwerth eine ironische Haltung gegenüber ländlichem Leben festgestellt, besonders in der Schilderung eines Dorf-Gottesdienstes, bei dem Weißwerth und seine Frau Eva sich über den schiefen Gesang des Dorfchors belustigen: Er schnitt Grimassen, wenn wackelige Töne kamen, stieß mit dem Ellenbogen die Frau an seiner Seite an, dann grinsten sie. Zwei Menschen, die keine Ahnung hatten. Die nicht verstanden, dass diese Lieder genau so klingen mussten, wie der kleine Kirchenchor sie sang. (AL, 244) Weißwerths Perspektive ist hier schon verlassen – nicht mehr die Bewohner des Dorfes sind hier die Fremden, sondern er, der Städter. An dieser Stelle ist die Bedeutung von Wissen gleich in zweierlei Hinsicht abzulesen: Die Fremden verhalten sich ironisch, weil sie es nicht besser wissen. Nur echtes Einlassen auf Landleben und seine Eigentümlichkeiten ermöglicht Verständnis und damit ein Ankommen. Gerade durch die Mittel der Ironie wird in der zweiten Untersuchung die Sättigung mit Motiven der Idylle aus der Naturalisierung herausgehoben, welche in der ersten Untersuchungsgruppe identifiziert wurde. Zudem konnte auch hier die Bedeutung von Wissen über Land als ein zentrales Element des Schreibens über Umzüge aufs Land erwiesen werden. In diesem Fall dient Wissen einer Umordnung, da die literarische Aushandlung zwischen erster und zweiter Untersuchungsgruppe als Prozess interpretiert wird, in dem es um die Klärung der Frage geht, wie fremd ländliche Räume sind und wie ihre Erkenntnis möglich sein kann. Anhand der im zweiten Teil dieser Arbeit untersuchten Romane konnte nun herausgearbeitet werden, dass auch darin ein Wahrheitsanspruch manifest ist, sodass die Texte beider Untersuchungsgruppen als literatur- und kulturimmanenter Kampf um die Deutungshoheit über Umzüge ins Ländliche und über den ländlichen Raum per se interpretiert werden können. In diesem zweiten Teil der Analyse wurde nachgewiesen, welche unterschiedlichen Formmerkmale dafür präferiert werden, wie bspw. autobiographische, also subjektive und von Erfahrung gesättigte, oder polyphone Erzählkonstruktionen. Diese Unterschiede in der Erzählung des Umzugs aufs Land sind auch als Auseinandersetzung über das Verhältnis von Fremdheit und Normalität ländlicher Räume zu deuten. Wurde in der Sach- und Unterhaltungsliteratur der ersten Untersuchungsgruppe noch die Entdeckung von Normalität hinter der gesellschaftlich produzierten Fremdheit erzählt, wird den darin enthaltenen Fixierungstendenzen in den Romanen der zweiten Gruppe durch die Polyphonie der Stimmen und das Scheitern idyllischer Narrative eine Absage erteilt. Wenn bspw. Gerhard Fließ in Unterleuten das Landleben insgesamt zum Büchern so amüsant und augenzwinkernd erzählte.« (AL, 90) Weißwerths Ironie wird durch die übertriebenen Adjektive ironisiert, da seine eindimensionalen Bilder über ländliche Figuren gegen die Maßregel der Wahrhaftigkeit verstoßen.

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Vom Scheitern – Analyse der zweiten Untersuchungsgruppe

menschlichen Natur- und Normalzustand macht, verhindert dieser naturalisierende Blick auf Land letztlich sein erfolgreiches Ankommen, da er die Komplexität der vor Ort wirksamen Sozialprozesse nicht erkennt. Da geht es auch um die Frage, ob Erzählen über Land dem Mythos überlassen werden kann.14 Denn in der zweiten Gruppe wird auf die in der ersten Gruppe formulieren Wünsche reagiert und gezeigt, dass der Umzug nicht als Heilung eines Unbehagens am städtischen Leben und der ländliche Raum nicht als mediale Projektionsfläche taugt. Auch sie geben letztlich Rat: traut den Ratgebern nicht, das Land hat eine eigene, individuell zu erfassende Wahrheit, die aber, hier liegt die zentrale Differenz der Raumkonfigurationen, nicht weit von jener der Stadt entfernt ist. Diese Auseinandersetzung über Fremdheit und Normalität ländlicher Räume wird im nachfolgenden Fazit als Auseinandersetzung um Deutungsmacht behandelt.

14

Über die Normalisierung von Deutungen hat Roland Barthes in seiner Definition des Mythos geschrieben: »Diese ›normalisierten‹ Formen erregen desto weniger Aufmerksamkeit, je weiter sie verbreitet sind […]; von den einen wie von den andern mehr oder weniger unbeachtet, verschwimmen sie in der ungeheuren Masse des Undifferenzierten, Unbedeutenden, kurz: des Natürlichen.« Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 292.

IV Rück- und Ausblick

1. Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten – ein Fazit

Ob du reisen sollst, so fragst du, reisen in der Mark? Die Antwort auf diese Frage ist nicht eben leicht. Und doch würde es gerade mir nicht anstehn, sie zu umgehen oder wohl gar ein ›nein‹ zu sagen. So denn also ›ja‹. Aber ›ja‹ unter Vorbedingungen. […] Du wirst wenn du heimkehrst, nichts Auswendiggelerntes gehört haben wie auf den großen Touren […]. Der Mensch selber aber wird sich vor dir erschlossen haben. Und das bleibt immer noch das Beste.1 Mit dieser Studie konnte ca. 150 Jahre nach Fontanes Ratschlägen für Wanderungen durch die Mark Brandenburg gezeigt werden, dass auch die gegenwärtige Literatur über ländliche Räume von Ratschlägen und Wissen über (den Gang aufs) Land gesättigt ist. In den hier untersuchten Text entsteht ›der ländliche Raum‹ wieder als Wissensobjekt, wobei jedoch mit der spätmodernen Raum- und Wissensordnung einige zentrale Veränderungen gegenüber den historischen Vorbildern einhergehen: Es geht in den untersuchten Erzählungen nicht mehr nur darum, kurzfristig in die Sommerfrische zu gehen, oder wie in der Bukolik ländliche Abenteuer zu ›spielen‹, sondern immer wieder um die Entdeckung des einzelnen, besonderen ländlichen Raums als ›normalen‹ Lebensraum.2 Hier zieht nicht mehr nur das Unerwartete die ›Lust des Erzählens‹ auf sich, sondern das Besondere: Der ländliche Raum, der außerhalb der urbanen Wissensordnung stand, wird durch seine Entdeckung und Erzählung wieder eingeordnet und deshalb ›belebbar‹. Bei allem in den Texten formulierten Traditionsbewusstsein entstehen die erzählten Räume primär durch die Helden- und Erkenntnisgeschichten sowie die Betonung der individuellen Entdeckung als singuläre Orte außerhalb aller bekannten Ordnung. In den Texten der 1 2

Fontane 1997, S. 5-7. Andreas Reckwitz hat in solchen besonderen Orten eine entscheidende Dimension der urbanisierten Spätmoderne erkannt, in dieser zählen »nun wiedererkennbare einzelne Orte mit je eigener Atmosphäre«; Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 8. Die weiteren Implikationen dieser Feststellung werden aber zunächst bis zum Ende dieses Fazits zurückgestellt.

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Rück- und Ausblick

zweiten Untersuchungsgruppe wurde diese Möglichkeit wiederholt infrage gestellt. Auch in dieser ›Aushandlung zwischen Texten‹ ist zu sehen, dass ländliche Räume nicht mehr nur als Idyllen oder Spiegel urbaner Gesellschaft entstehen, sondern als in Wissensbehauptungen formulierte Aushandlungen über Möglichkeiten des Lebens außerhalb der urbanen Ordnung. Da die untersuchte Sachliteratur trotz dieser Besonderheiten Teil einer narrativen Tradition ist, in welcher der ländliche Raum immer wieder ein fremder Ort war, erscheint die Behauptung von Wissen über Land als stetig reproduzierter Mythos und ist damit als Teil der kulturellen Selbstverständigung und als kulturelles Repertoire einer urbanisierten Gesellschaft zu verstehen. Die Umzugserzählung ist die aktuellste narrative Verfertigung dieser Wissensbehauptung, über sie sind drei Beobachtungen zentral: 1. In allen diesen Texten ist ein besonderer Entdeckungswille oder ein Forschungsinteresse an ländlichen Räumen formuliert. 2. Dieser Entdeckungswille findet seine narrative Entsprechung immer wieder in Geschichten vom Umzug, die als ein zugleich narratives wie epistemisches Schema interpretiert werden. 3. Dabei ist nicht nur interessant, wie der ländliche Raum als Fremde produziert und dann angeeignet wird, sondern auch, was überhaupt als Wissen formuliert und wie dieses Wissen erzählt wird. So dominiert in den Texten der ersten Untersuchungsgruppe Wissen über Tierhaltung, Landwirtschaft, Nachbarschaft und Raumgeschichte, wobei dieses Wissen insbesondere als Können verstanden wird. Es wird durch individuelle Erlebnisse und Empfindungen erworben, was auch Ästhetik und Gefühl als zentrale Verfahren für diese Raumvermessung in Anschlag bringt – all das sind Wissensformen, die Anwesenheit und Teilhabe des Erfahrungssubjekts voraussetzen und über enzyklopädisches Wissen aus der (städtischen) Ferne hinausgehen. Die vor Ort gefundenen Informationen über ländliche Räume sind nicht strikt an Disziplingrenzen von Geographie, Soziologie, Biologie oder Anthropologie orientiert, sondern eher ein ›wildes Wissen‹, welches in einer als Umzug erzählten, neuen (Selbst-)Erfahrung des Menschen am Raum gebündelt wird. Diese Selbstfindung geht auch über die von Fontane im Eingangszitat formulierte Feststellung hinaus, durch eine Wanderung durch die Mark Brandenburg werde »[d]er Mensch selber […] sich vor dir erschlossen haben«.3 Die untersuchten Texte implizieren insofern nicht nur eine Poetologie des Wissens über Land, sondern auch über Menschen und individuelles Glück. Erst im Konnex dieser beiden Wissensgebiete entsteht mit der Umzugserzählung eine empirische Wissenschaft vom guten Leben (auf dem Land) als Komplement des bereits vielfach untersuchten Diskurses um die ›Lust auf Land‹. Dieses als Differenz erzählte Wissen wird in den Texten der zweiten Untersuchungsgruppe als fragwürdig markiert, wenn wiederholt die Erkenntnis, dass ländliche Räume eben nicht als ›andere Orte‹ außerhalb der Ordnung taugen, zum Schei3

Fontane 1997, S. 7.

Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten

tern der Umzüge führt. Das hierfür notwendige Wissen ist bspw. bei Zeh oder Stahl Wissen um die Gewalt- und Machtstrukturen des Dorfes. Diese hier nur angedeuteten zentralen Ergebnisse werden im Folgenden genauer ausgeführt.

1.1 Erkenntnis erzählen Trotz der benannten Unterschiede ist eine zentrale Gemeinsamkeit aller untersuchten Texte, dass der Erfolg des Gangs aufs Land als von der ›wahren‹ Erkenntnis des jeweiligen ruralen Raum abhängig geschildert wird. Besonders in der ersten Untersuchungsgruppe sind diese erzählten Wahrheiten eine Zugangsberechtigung zum Raum – so kann eben Moor erst wirklich auf dem Land ankommen, nachdem er seine Vorurteile über den Raum abgelegt hat und eigene Erfahrungen macht. Gleichermaßen scheitern in der zweiten Untersuchungsgruppe ›landlustige‹ Figuren wie Burkhard Weißwerth oder Gerhard Fließ letztlich an den aus der Stadt importierten Vorstellungen, wie das Leben auf dem Land zu sein habe. Mit ihnen scheitern die gesellschaftlichen und insbesondere idyllisierenden Erzählungen über Land an der Erfahrung ›echter‹ Ländlichkeit. Dass dieses Scheitern als Zusammenhang von städtischem Vorurteil und Erfahrung am Ort erzählt wird, ist ein Beweis dafür, wie eng verbunden Raumbilder, Wissensordnungen und narrative Verfahren im Erzählen über den ›Gang aufs Land‹ sind. Diese Verbindung ist gut an den Unterschieden beider Untersuchungsgruppen zu sehen, da die Erkenntnis der ›echten‹ Wahrheit über Land das wichtigste Element der in der ersten Untersuchungsgruppe etablierten Raumordnung ist. Dass die so entdeckten ›Wahrheiten‹ dann in der zweiten Untersuchungsgruppe als idyllisierende Fehlannahmen gekennzeichnet werden, verändert die Erzählung und die Raumordnung, aber nicht die Bedeutung von Wissen bzw. das daran zu beobachtende Klärungsbedürfnis. Darin steckt die für eine Poetologie des Wissens zentrale Beobachtung, dass eine (urbane und kulturell tradierte) Raumordnung in eine Wissensordnung mündet, die dann selbst bestimmte Erzählungen und Narrative hervorbringt: Nämlich solche, die der Klärung der Frage dienen, was das eigentlich im beginnenden 21. Jahrhundert noch ist, dieses ›Land‹. An der Antwort auf diese Frage hängen in beiden Untersuchungsgruppen die Möglichkeiten guten Lebens auf dem Land. Als die wichtigste narrative Realisationsform dieser Frage wurde die Erzählung vom Gang aufs Land herausgearbeitet. Diese Erzählungen können als Teil eines nachgereichten Gründungsmythos der ›Lust auf Land‹ verstanden werden, denn gerade durch die wissensbasierte Erklärung, wie dieses idyllische Landleben wirklich ist, wird ein Service für die (bisher) in der Stadt gebliebene Leserschaft versprochen. In den Analysen wurde gezeigt, wie die narrative Tradition, der umlaufende Diskurs sowie die dominierenden Textsor-

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Rück- und Ausblick

ten bestimmen, was überhaupt als Wissen erzählt wird und welche narrativen Formen es annimmt. Die Bedeutung des Gründungsmythos wird bei einem Blick auf die Demographie ersichtlich: Wie bereits in der Einleitung gezeigt wurde, hat sich das Verhältnis von Zuzug und Wegzug schon während des Entstehens der untersuchten Bücher umgekehrt und so gehört bspw. Brandenburg, immer wieder Ort der Erzählungen, zu den Bundesländern mit den meisten innerdeutschen Zuzügen, insbesondere durch Abwanderungen aus Berlin. Der Zeitpunkt des Entstehens der meisten untersuchten Bücher lag jedoch vor dieser Entwicklung, was erst die Erzählung vom einzelnen Helden, der in die Fremde zieht, oder die Erzählung des Umzugs als Experiment möglich gemacht hat. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Fazits im Jahr 2022 scheint der Umzug ins direkte Berliner Umland keine Erzählung mehr wert zu sein, nachdem viele Berliner der Stadt den Rücken gekehrt haben, verschärft durch die Corona-Pandemie. Hölderlins ›Komm! ins offene, Freund‹ scheint eingelöst zu sein. In dieser neu entstehenden Raumordnung wären die sowieso handlungsarmen Geschichten vom Gang aufs Land im Lotman’schen Sinne ereignislos.4 In dieser Beobachtung steckt die Bedeutung der untersuchten Sach- und Unterhaltungsliteratur als Teil gesellschaftlicher bzw. kultureller Selbstverständigung, denn Sachbücher stellen »ein Wissen bereit, das nicht nur den Anspruch auf Faktizität, wissenschaftliche Geltung und Wahrheit erhebt, sondern darüber hinaus Narrative existentieller und kollektiver Selbstvergewisserung gestaltet.«5 Im untersuchten Fall ist diese Selbstvergewisserung in der Frage enthalten, wie gutes Leben möglich sein kann. Gerade im Modus des Narrativen können die Schilderungen vom Gang aufs Land unabhängig von der Wahrheit ihrer Bilder wirksam sein, denn »[a]ufs Ganze gesehen, bleiben Kulturen sich selbst opak. Sie träumen und dichten sich eher, als dass sie sich denken. Auf dieser Stufe wird unentscheidbar, was Dichtung und was Wahrheit ist.«6 Wenn in den Büchern Wahrheit und Wissen über Land behauptet wird, dann hängt die Wirksamkeit der entstehenden Raumbilder nicht an der Wahrheit ihres Gehalts, sondern an der Integrationskraft ihrer Erzählung. Sobald der Gang aufs Land jedoch keine besondere Erfahrung einer Minderheit mehr ist, schrumpft der narrativ wirksame Wissensvorsprung und die Integrationskraft der Erzählung schwindet aufgrund zu vieler nebeneinander bestehender Raumbilder. Diese Integrationskraft wird in den Texten insbesondere dadurch hergestellt, dass mit dem Umzug auch eine Entwicklung der Erzähler bzw. Figuren einher-

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5 6

Das schließt an die These von Lotman an, wonach »der Sieg eines bestimmten semiotischen Systems gleichbedeutend mit dessen Verschiebung ins Zentrum und seinem unausweichlichen ›Verblassen‹« ist; Lotman 2010, S. 189. Hahnemann 2006, S. 142. Koschorke 2012, S. 398.

Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten

geht – wenn also in den Büchern von Sezgin, Hochreither oder Moor betont wird, wie sehr die Autoren durch die Erfahrung im ländlichen Raum ›bei sich‹ sind. Damit wird eine Einheit von Mensch und Raum insinuiert, der Weg aufs Land ist Weg zum Menschen – in dieses komplexe anthropologisch-räumliche Verhältnis kann eine Unmenge von Informationen integriert und zu Wissen werden. Im Wissensobjekt ländlicher Raum steckt letztlich verlorenes Wissen über die Ursprünglichkeit oder das eigentliche Dasein des Menschen. Dieses Einswerden mit dem verlorengeglaubten menschlichen Ich im Angesicht der ebenfalls wiederentdeckten Natur heißt im englischsprachigen Raum nature writing.7 Die hier untersuchte Sachund Unterhaltungsliteratur wäre dann als deutschsprachige Entsprechung dieses Phänomens zu verstehen, was die Einbindung dieser Textsorte in den Kanon der Kulturgeschichte des Ländlichen notwendig macht. Darin steckt mehr als ein Wiedererzählen der alten anti-urbanen Erzählung von der Entfremdung in der Stadt – die primäre Funktion dieser Umzugsgeschichten besteht in der hier vorgelegten Deutung primär darin, den verlorenen, aus divergierenden Tendenzen und unterschiedlichsten Elementen bestehenden ländlichen Raum in eine Einheit, ein verstehbares Muster, ein das alles integrierendes Narrativ zu fassen. Es geht bei dieser Einheit von Mensch und Raum nicht unbedingt um ein Aufgehen in Natur, sondern um ein Aufdecken des Ländlichen, damit es in eine urbane Ordnung als Lebensraum zurückgeführt werden kann. Das Scheitern der Figuren in Unterleuten, Altes Land und Spätkirmes ist dann eine Absage an diese Integrationsbemühungen, diese erzählten ländlichen Räume ›wehren sich‹ gegen erzählerische Reduktion und Vereinnahmung. Solche Wiedereingliederungsversuche haben Tradition. Konrad Köstlin hat gezeigt, dass bereits in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Bauernmärkten und einzelnen Quartieren dörfliche Strukturen in Städten imitiert wurden, »weil die Rede von der ›Unwirtlichkeit unserer Städte‹ nicht nur die Diskussion, sondern auch die Erfahrung leitet, sind die Muster dörflicher Intaktheit wichtig geworden«8 . Demnach entstehen alle Imaginationen über Land im Kontext der Selbst-

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8

In nature writing und ecocriticism wird Natur als real und nicht sprachlich-kulturell konstruiert verstanden. Auch deren Wahrheit muss also entdeckt werden. Schon die Trennung von Natur und Kultur sowie die Annahme einer menschlichen Konstruiertheit der Natur führe zur ökologischen Krise, weil das implizite Objektverhältnis zur Abwertung von Natur führt – vielmehr sei davon auszugehen, dass die Autoren des nature writing sich der Beherrschung durch Umwelt nicht entziehen können, was Alexander Starre in Rekurs auf konstruktivistische Theoriebildung in seinem gleichnamigen Beitrag als »always already green« gefasst hat; vgl. Starre 2010, S. 13-34. Zu Poetik des nature writing gehört auch eine Erweckungserfahrung durch Naturerleben, was auch in den untersuchten Texten nachgewiesen wurde; vgl. Zapf 2002, S. 12-16. Köstlin 1998, S. 304.

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bestimmung einer urbanen Gesellschaft.9 Hierfür sind ständig neue Bilder von Ländlichkeit notwendig. In diesem Sinne schlage ich vor, das Schreiben über Land als ein etabliertes urbanes Ritual zu verstehen, das sich in immer zu aktualisierenden Narrativen manifestiert. Dabei ist aber davon abzusehen, die Imaginationen des Ländlichen als reine Negative oder einfaches Kontrastprogramm der Stadt zu verstehen, denn diese Deutung droht letztlich selbst in Kulturkritik zurückzufallen und vernachlässigt die zentrale Behauptung der untersuchten Literaturen, eine Wahrheit ländlicher Regionen hinter städtischen und traditionellen Bildern aufzudecken. Im Anschluss an Lawrence Buell wird ihre Verhandlung in Sachund Unterhaltungsliteratur als Ausdruck einer ›Krise der Imagination‹ ländlicher Räume verstanden. Gerade die Raumkonstruktionen der Sach- und Unterhaltungsliteratur, die Vorstellungen eines verlorenen Raumes liefern, indem sie tradierte Erzählungen reproduzieren, machen das Beklagen des Verlustes ländlicher Räume erst möglich, nachdem sie aus dem gesellschaftlichen Raumrepertoire verschwunden sind.10 Für diese Deutung ist es entscheidend, die imaginären Räume nicht nur als Spiegel städtischen Lebens zu verstehen, sondern als genuine Produktionen, zumindest als Ergebnisse eines weitergefassten Bereichs von gesellschaftlichen Klärungsbedürfnissen, Diskursen und erzählerischen Traditionen. Nach diesem ersten Rückblick auf Ergebnisse und Implikationen dieser Untersuchung wird auf den folgenden Seiten zunächst das herausgearbeitete Narrativ vom Umzug ins Ländliche zusammengefasst, hieran schließen in einem Ausblick die Implikationen dieses Erzählens für die Produktion von Raum und Wissen unter besonderer Beachtung der Aspekte Normalität, Deutungsmacht und der Entstehung belebbarer Singularitäten an.

1.2 Ein Umzugsnarrativ Legt man also alle untersuchten Texte nebeneinander, so sind gewisse erzählerische Strukturverfestigungen zu erkennen, die hier als Entstehen eines Narrativs vom Gang aufs Land interpretiert werden. Wie auch die einzelnen untersuchten Texte folgt dieses einer Poetik der Ent-Täuschung: In allen Büchern wird von Erwartungen erzählt, die aus umlaufenden Diskursen und Narrativen über Land ent9

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Er meint, dass urbane Gesellschaften »von und mit einer Zitierkultur des ruralen Implantats in der Stadt leben.« Das ist letztlich auch die Rückbindung zu Phänomenen wie Urban Gardening oder eben Magazinen wie Landlust, die vorwiegend in Städten rezipiert werden. Lawrence Buell hat darin die mittlerweile vielzitierte These geprägt, dass die Umweltkrise auch eine Krise der Imagination der Natur sei, die ich hier variiere; vgl. Buell, Lawrence: The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture, Cambridge: Harvard University Press 1995, S. 2. Den Hinweis verdanke ich Bühler 2016, S. 154.

Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten

stehen, und durch die im Umzug gemachten Erfahrungen an der ländlichen Realität geprüft werden. Diese Erwartungen werden zumeist zur eigentlichen Bedrohung ruraler Räume. Durch die abweisenden Bezugnahmen auf Traditionen und das zentrale Argument der Erfahrung vor Ort kann dann eine neue, authentischere ›Wahrheit‹ aufgebaut werden, egal wie eng diese mit den tradierten Erzählungen oder Vorstellungen verwandt ist. Gerade wegen der Nähe der entstehenden Raumbilder zu den zunächst abgelehnten Bildern von Schönheit oder Herausforderungen des ländlichen Raums wird die im Anfang der Umzugserzählungen angelegte Behauptung von Fremdheit benötigt, um etwas Neues zu entdecken und damit Wissen und Raum zu produzieren.11 Insofern handelt es sich nicht nur um ein epistemisches Narrativ, sondern auch um ein programmatisches, welches etablierte Erzählungen vom Land als fremdem Ort aktualisiert, indem die Vereinbarkeit existierender Erzählungen und authentischen Landlebens geprüft wird. Um diese Feststellungen genauer einzuordnen, wird im folgenden Abschnitt anhand der von Albrecht Koschorke identifizierten acht Operationen des Erzählens und der Narrativbildung eine Spezifizierung dieses Narrativs vorgenommen. Dabei werden zunächst primär die Gemeinsamkeiten der Texte der ersten Untersuchungsgruppe betont, da sie den Kern dieser Untersuchung gebildet haben. Die Bedeutung der zweiten Untersuchungsgruppe wird in den darauffolgenden Passagen zur Deutungsmacht herausgestellt. Als untrüglichstes Zeichen, dass aus der Menge der Erzählungen überhaupt ein Narrativ entsteht, ist die stetige und gleichförmige Erzählung des Immergleichen zu sehen: Erzählt werden Erwartungen des guten Lebens, Umzug, Enttäuschung über die ländliche Realität, Entwickeln eines Widerstands- und Überwindungswillens und schließlich Erfahrung echter ländlicher Idylle unter Beibehaltung der Ausschläge ins Negative – das Ankommen in einem neuen, normalen Lebensraum. Dieses in Varianten reproduzierte Muster ist mit Koschorke als Effekt der (1) Schema- oder Narrativbildung zu verstehen, welches das Wiedererkennen und Einsortieren einzelner Erzählungen ermöglicht.12 Solche Schemata dienen zur Reduktion der überkomplexen, »schimmernden« Vielfalt der Erzählmöglichkeiten und letztlich der Etablierung einer abgeschlossenen Erzählung – »ein Prozess der Akkommodation, der das Neue, das jeden Augenblick verglüht und vergeht, in 11

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In diesem Verständnis ist Alterität »keine ontologische Kategorie. Sie ist vielmehr eine imaginative Projektion, der in Narrationen performativ zur Geltung verholfen wird und die […] zumeist an die partikularen Identitäts-, Sinn- und Legitimationsbedürfnisse ihrer Erzähler gebunden bleibt«; Neumann, Birgit: Überlieferung. Von Anderem und Anderen erzählen. Einleitung, in: Berndt, Frauke/Fulda, Daniel (Hg.): Die Erzählung der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung in Halle a. d. Saale, Hamburg: Meiner 2018 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 38), S. 323-328, hier: S. 326. Koschorke versteht Schemata als »erzählerische Generalisierungen« und daher als Narrative; vgl. Koschorke 2012, S. 30, 37f.

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die langsamere, gleichförmige Arbeit der kulturellen Semiosis überführt.«13 Es handelt sich also um einen Prozess der narrativen Schließung, dazu trägt auch die (2) Reduktion bei, worunter bspw. die Einengung der Vielfalt ländlicher Lebensentwürfe auf ein bestimmtes und erzählerisch fassbares Figurenrepertoire fällt, das zumeist aus Landlustigen, Bauern, Besuchern aus der Stadt, Wissensträgern, tumben Dorffiguren und hilfreichen Nachbarn besteht. Aber auch der Ausschluss von komplexitätsfördernden Elementen wie Arbeitsalltag oder Strukturproblemen ländlicher Regionen ist als Effekt dieser narrativen Reduktion zu deuten. Die Organisation des so reduzierten Repertoires erfolgt dann zunächst durch (3) Sequenzbildung, die primär durch das Umzugsgeschehen bestimmt ist, was sowohl durch den Dreischritt von Beschluss – Durchführung – Ankommen als auch durch ›typische‹ Erkenntniselemente wie erstes Verzweifeln, Kennenlernen von Nachbarn oder erste Einsichten in ländliche Realitäten strukturiert ist. Dass epistemische und narrative Sequenzierungen in eins fallen, ist eine Besonderheit des Narrativs. Hinzu kommt die in vielen Büchern wiederkehrende Sequenzierung des Erzählten durch Monate und Jahreszeiten – das ist die bereits herausgearbeitete Naturalisierung des Erzählens. (4) Redundanz und Variation treten nicht nur in der häufig zyklischen Erzählstruktur, sondern auch in der ständigen Wiederholung von traditionellen Motiven und Meinungen über Land auf, denen mit aus individueller Erfahrung gewonnenen Details mal zugesprochen und mal widersprochen wird. Redundanz und Variation dienen also gleichermaßen der narrativen Schließung und Öffnung. In dieser Funktion des Erzählens steckt eine für diese Untersuchung wichtige Funktion: das Potenzial, aus einer alten Geschichte eine neue entstehen zu lassen.14 Das ist sowohl im Erzählen über den scheinbar auserzählten ländlichen Raum als auch für das Entstehen von Literatur im Spannungsfeld von Unterhaltungsliteratur, Sachbuch und Roman unerlässlich. Die (5) Motivation und damit Verknüpfung der erzählten singulären Ereignisse des Umzugs schwankt zwischen Aufklärung über Land und Suche nach Glück bzw. Leiden an dem Ort, von dem die Helden ausgezogen sind – bei Moor ist das die soziale Enge der Schweiz, die zu einer Erzählung über die Freiheit Brandenburgs führt, in Winterapfelgarten das Leiden an exkludierenden Praxen der Stadt, welches in eine Erzählung über Gemeinschaften in ruralen Räumen mündet. Solche Motivationsmomente konstituieren eine individuelle Geschichte unter vielen möglichen – dass gerade der gewählte Weg dann zum Erfolg des Angekommenseins führt, hebt die Erzählung eben als best practice hervor. Durch den sehr direkten Erzählmodus der Erfahrungsberichte kann das Entstehen der Erzählung nachverfolgt und als eine Geschichte unter vielen möglichen verstanden werden, ihr Reiz »lebt von den Hintergrundmöglichkeiten

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Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 57.

Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten

einer alternativen Verknüpfung«.15 Zugleich werden die auf dem Weg zum Erfolg bzw. Misserfolg gemachten Erfahrungen und das zugrundeliegende Wissen so einer Wertung unterzogen. Durch die (6) Position der Erzählinstanz inmitten des Geschehens und des untersuchten Ortes wird dann gesichert, dass die gemachten Erfahrungen und der entdeckte Raum zusammengehalten werden. Durch die Reduktion der Erfahrungen auf eine Stimme wird gesichert, dass der entstehende Raum wie die entstehende Erzählung konsistent und geschlossen sind. Zudem wird die Erfahrung eng an die Wahrnehmung der Erzählinstanz geknüpft, sodass (7) die Erregung und Bindung von Affekten eng mit der Erfahrung verbunden sind. Die Gefühle der Erzähler bzw. Autoren werden miterlebt, Alternativen entfallen. Indem dieses Prinzip in der zweiten Untersuchungsgruppe aufgelöst wird, werden die teleologischen Gestaltungsprinzipien in Frage gestellt und die Umzüge erscheinen als Möglichkeiten unter vielen anderen. An diesen sieben Grundoperationen des Erzählens ist zu sehen, dass das herausgearbeitete Narrativ primär durch Elemente der narrativen Schließung geprägt ist. Das ist einleuchtend, denn die Erzählungen vom Gang aufs Land müssen letztlich kein unendliches Spektrum an alternativen Möglichkeiten integrieren, sondern müssen teleologisch auf Erfolg oder Scheitern zulaufen. Dennoch erfolgt, neben diesen schließenden Elementen, die Öffnung der Erzählung durch (8) Diversifikation. Das geschieht bspw. durch die wiederkehrende Erwähnung von Überlegungen, den Umzug rückgängig zu machen und zu scheitern. Zudem führen die bereits im ersten Zwischenfazit betonten Unterschiede der entstehenden Räume zu einer Diversifikation der im Narrativ bereitgestellten Deutungsmöglichkeiten: Die entdeckten ländlichen Räume sind mal grüner, mal individueller, mal ästhetischer und mal, wie bei Brüggemann, vergehender Ort. In dieser inhaltlichen Variation steckt auch die Bedeutung der Gemeinsamkeit: Raus aufs Land ist die Devise, egal wie das aussieht. Und auch die Variation der Form in Erfolg und Scheitern, Autobiographie oder Polyphonie, Erzählung oder Untersuchung scheiden die Texte. Gerade dieser »Effekt des widerständigen Details«16 ist für die Narrativbildung entscheidend, da so Erzählungen im Narrativ aufgehen können, die einzelnen Regeln widersprechen. An dieser Vielfalt ist zum einen die Integrationskraft des Narrativs abzulesen, zum anderen hängt daran die Vermutung, dass die Narrativbildung eben noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Das ist ein notwendiger Effekt, da diese Umzugsgeschichten in einer derart stabilen Erzähltradition stehen, dass ein Abschluss im eigentlichen Sinne nicht zu erwarten ist. Es handelt sich vielmehr um eine Aktualisierung des alten Narrativs vom Gang aufs Land, an dem schon Horaz, Hölderlin oder Fontane geschrieben haben. In seiner derzeitigen Iteration entsteht es im Rahmen der Verhandlungen

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Ebd., S. 75. Ebd., S. 53.

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des ländlichen Raums als Wissensobjekt und der Frage nach der Haltbarkeit der ans Ländliche gehefteten Versprechen vom guten Leben. Gerade in diesem Verständnis der Umzugserzählung als Aktualisierung eines alten Narrativs wird die oben angedeutete Funktion dieses Erzählens über Land noch einmal ersichtlich: den aus divergierenden Tendenzen und unterschiedlichsten Elementen bestehenden ländlichen Raum in eine Einheit, ein verstehbares Muster, eine das alles integrierende Erzählung zurückzuführen. Indem diese Rückführung als Umzug erzählt wird, wird die Entdeckung eines Lebensraums und so die Ausweitung des ›belebbaren‹ Bereichs der urbanen Ordnung erzählt. Gerade dieses Ausstellen eines singulären Raums sowie von Erfolg und Wissen lässt die Umzugsgeschichten als eine Auseinandersetzung mit den durch Tradition und Gegenwartsdiskurs etablierten Möglichkeiten des Erzählens über Land und so als programmatisches Narrativ erscheinen. Für diese Funktion sind die Behauptungen von Authentizität und Wissen entscheidend, deren Bedeutung im folgenden Abschnitt dieses Fazits zusammengefasst wird.

1.3 Wissen und Deuten Das erzählte Wissen ist vielgestaltig und wurde als Bedingung wie als Effekt des Erzählens herausgearbeitet. Schon die Wahl des Wissens und seiner Quellen formt den Raum: Wenn das Wissen aus den bezogenen Häusern, aus Möbeln, aus Geschichten der Dorfbewohner, aus Gefühlen und aus dem Umgang mit Tieren erworben wird, entsteht daraus ein ganzheitlicherer, in sich geschlossener Raum, dessen Erkenntnis individueller Erfahrung bedarf. Das ist ganz anders, als wenn das Wissen enzyklopädisch aus der Ferne der Stadt erworben wird. Erst eine Konfiguration, in der das Wissen so eng mit dem Raum verwoben und an allen Plätzen (Haus, Möbeln, Nachbarn, Natur) zu entdecken ist, macht es zugleich möglich wie notwendig, mittels zunehmender Erfahrung in dem Raum aufzugehen. In diesem Sinne hängen Erkenntnis des Raumes und des Menschen eng zusammen. Gerade an der Entdeckung der Einheit von Mensch und Natur ist zu sehen, dass im Umzugsnarrativ nicht nur eine Erkenntnisgeschichte angelegt ist, sondern zugleich eine kulturkritische Entfremdungsgeschichte, welche durch das häufige Adressieren von Wissen über historische Ländlichkeit den Blick auf die urbane (Fehl-)Entwicklung lenkt. Über den ländlichen Raum wird eine Phase der Menschheitsgeschichte wiederentdeckt, in der ein ruhigeres, gesünderes, natürlicheres Leben möglich war und so ist der Umzug auch ein Blick zurück in eine ungleichzeitige Gegenwart: Das Land als schöne alte Welt. Anders als in rein kulturkritischen Schriften erfolgt durch dieses Wissen über Land letztlich eine Rückführung von Tradition auf die unterschiedlichen Herausforderungen und Lebenssituationen der Gegenwart. Dieser Integrationsmodus von Wissen ist spätestens seit Fontanes

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Wanderungen Tradition des Schreibens über Land, denn dieser hat durch die literarische Verarbeitung von Quellen »[m]it der Generierung und Systematisierung von Wissensbeständen […] Altes als Neues wieder in die Geschichte zurückgeführt und damit aktuell verfügbar gemacht«.17 Ähnlich wie Fontanes Mark Brandenburg sind auch die hier bezogenen Orte solche, an denen man etwas über die Vergangenheit und ihre Chancen für die Gegenwartskultur lernen kann. Diese Konfrontation von Tradition, Gegenwart und Erfahrung ermöglicht erst die dominierende epistemische wie narrative Technik der Ent-Täuschung. Sie findet ihren erzählerischen Niederschlag in einem ständigen Wechsel aus Formulierungen von (städtischen) Erwartungen, Erlebnisberichten und der Reflexion der dabei gemachten Erfahrung, die zu einer epistemischen Reorganisation der eigenen Hoffnungen und damit auch der Bilder über Land führt. In der Betrachtung der so erzählten Erkenntnisse fällt wieder auf, dass parallel zu der Erkenntnis über Land auch eine Geschichte über die Selbsterkenntnis der Autoren/Erzähler geschrieben wird: Die Erkenntnis, dass Landleben sie zu ihrer eigenen – von Kultur befreiten – Natur hin verändert, so hat Sezgin seit ihrer endgültigen Ankunft in der Lüneburger Heide »das Gefühl, noch nie vollständiger, noch nie mehr der Mensch gewesen zu sein, der ich sein sollte.« (LV, 90). Das ist letztlich anthropologische Archäologie, da im unbekannten (ungleichzeitigen) Raum Erkenntnis über ein ›natürliches‹ Dasein des Menschen erlangt wird. Darin steckt die wissensorganisierende Funktion kulturkritischer Narrative, in denen die Urbanisierung als eine Art Überbauung des Ich erzählt wird, das erst durch die Erkundungen im ländlichen Raum wiederentdeckt werden kann. Ein weiteres Ergebnis dieser Analyse ist in den Grenzen des Wissens über Land zu sehen, das meint insbesondere die wiederholt formulierte Unmöglichkeit, das Lebensgefühl auf dem Land zu beschreiben. Dabei ist es nicht als Widerspruch zu verstehen, dass gerade in den Büchern, in denen der ländliche Raum durch Wissen aufgespannt wird, die eigentliche Qualität ländlicher Räume wiederholt als nicht zu beschreiben deklariert wird. Diese Grenzen des Sagbaren erweitern den ländlichen Raum in den Bereich des Nicht-Sagbaren – das erinnert an die romantische Wiederverzauberung der Wirklichkeit. Zugleich wird damit die zentrale Frage, was den Raum als Ort guten Lebens denn nun ausmacht, in den Bereich der individuellen Erfahrung verschoben. Das ist keine Absage an die Erkenntnis, sondern das

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Ritter, Nils: »Im Übrigen ist alles hinüber«. Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg als Reservoir einer Poetik der Enttäuschung. In: Fontane Blätter 105, 2018, S. 40-60, hier S. 42f. Über die Bedeutung der Wissensbestände in Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg hat Nils Ritter festgestellt, Fontane betreibe »eine Poetisierung des Archäologischen, des Gewesenen, in steter Rückkopplung zum Zustand der vorhandenen materiellen Kultur der Mark Brandenburg«; ebd.

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schon bei Hölderlin formulierte ›Komm! ins Offene, Freund!‹. Wie Ratgeberliteratur überhaupt, schaffen die Bücher eine fiktive Kommunikationssituation, die nicht wirklich auf eine Einlösung dieser Einladung zielt. In den Texten oder Paratexten wird häufig direkt das Publikum angesprochen, das sichert die Bedeutung der Erfahrung und entspricht der Anlage als (Erfahrungs-)Bericht, der immer auch Experiment ist.18 Gerade in dieser Anlage als Experiment steckt auch die Darstellung der Informationen als unerhörtes oder ›wildes‹ Wissen, die genutzt wird, um eine eigene Wahrheit über Land zu etablieren, und sich eben von Reiseführern und Magazinen abzugrenzen.19 Bei der Darstellung solchen wilden und damit authentischen Wissens geht es letztlich um dessen Auszeichnung als authentische und damit zuverlässige Informationen. Also geht es auch in der Darstellung von Wissen um die Arbeit an einer tragfähigen, verbreitungsfähigen Erzählung über Land. Als eine der wichtigsten Techniken zur Etablierung einer solchen Erzählung wurde die Behauptungen von Normalität herausgearbeitet, die Bernhard Waldenfels als »eine besondere Weise, mit dem Fremden fertig zu werden«,20 bestimmt hat. Dabei steht Normalität eben als epistemische Stufe zwischen dem Konventionellen und dem Innovativen, was die Funktion des Umzugsnarrativs belegt, den ländlichen Raum durch Ausweitung der (urbanen) Wissensordnung wieder in eine urbane gesellschaftliche Ordnung einzuholen.21 In dieser Untersuchung wurden letztlich zwei verschiedene Formen von Normalität identifiziert: Die erste (Normalität1 ) ist die, welche das Leben im Ländlichen als normal, im Sinne einer authentischen und eigenständigen, ausstellt und dadurch produziert wird, dass neben den schönen auch die anstrengenden Seiten des Landlebens in eine Erzählung vom guten Leben auf dem Land integriert werden. So werden wiederholt Landarbeit, Probleme mit Tieren, Schmutz, Lärm durch Feiern, kleinere wirtschaftliche Schwierigkeiten erzählt, die aber letztlich keine Hindernisse sind, sondern zu einer tieferen Erkenntnis von ›echter‹ Ländlichkeit führen, da sie die kulturellen Erwartungen als solche enttarnen. Die traditionellen Grenzen von locus amoenus und locus horribilis werden als historische Ausschläge der Tradition abgeflacht und in eine

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Als solches ist er immer »auf die literarisch produzierte Präsenz eines spezifischen Publikums angewiesen […]. Die zentrale wissenschaftliche Kategorie der Erfahrungstatsache […] ist nämlich an ihre Validierung […] durch ein Publikum gebunden«; Gipper 2002, S. 18. Literatur ist der traditionelle Ort wilden Wissens, daher wird ihr häufig die Fähigkeit zugeschrieben, durch die Darstellung von Unsagbarem über das Raumwissen von Reiseführern, der Geographie, Soziologie oder Demographie hinauszugehen und so bspw. etwas über das spezifische Lebensgefühl in Paris auszusagen; vgl. Stierle, Karlheinz: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München/Wien: Hanser 1993, S. 49. Waldenfels, Bernhard: Grenzen der Normalisierung, Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 (Studien zur Phänomenologie des Fremden 2), S. 9. Zu dieser Funktion des Erzählens vgl. Rolf, Thomas: Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts, München: Fink 1999, S. 27, 43f.

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neue Normalität überführt. Diese Normalität dient nicht nur dem Beweis der Authentizität des Erlebten, die Abflachungen ermöglichen es, den traditionell schwer zu erfassenden ländlichen Raum einzunehmen und die konfliktreichen politischen, raumplanerischen und kulturellen Imaginationen über Land zu harmonisieren. Dadurch steht der fremde Raum nicht mehr außerhalb aller Ordnungen. Mit Normalität2 ist die gegenläufige Behauptung gemeint, nämlich keine Entdeckung ländlicher Normalzustände, sondern Ausweitung der (urbanen) Normalität aufs Land, was ein Ende ländlicher Kontrasträume bedeutet. Davon ist insbesondere in den Diskursreaktionen zu lesen, beispielsweise in Juli Zehs Unterleuten, worin der Bau von Windkraftanlagen zum Sinnbild für die Ausweitung des Neoliberalismus auf ländliche Gebiete wird und so der alten Erzählung vom Land als Ort des Gemüts statt des Kapitals eine Absage erteilt wird. Auch bei Martin Reichert ist das nachzulesen, hier wird der Anschluss der abgelegenen Dörfer an die städtische Kanalisation zum Sinnbild für das Ende aller Hoffnung, einen Fleck jenseits der zivilisatorischen Normalität, sprich: Gleichförmigkeit, gefunden zu haben (vgl. LL, 182). So wird der Einzug von Normalität als Ende der idyllischen Vorstellungen des Landlust-Diskurses strukturiert: Es gibt keine Orte außerhalb der Ordnung. An dem Widerspruch von Normalität1 (lebbare, normalisierte Idylle) und Normalität2 (Ende des Raums außerhalb aller Ordnung) ist abzulesen, wie innerhalb der Prozesse der Narrativbildung widerstreitende Varianten auftauchen, ohne das Entstehen verfestigter Erzählungen zu verhindern. Um dieses Spiel von Deutungen als Teil des Narrativs zu verstehen, ist ein Rückblick zur Verdichtung angezeigt: In der hier vorgelegten Interpretation sind die Umzugserzählungen letztlich Ausdruck einer Raumkrise; einer Krise der hergebrachten Ordnung von Stadt und Land, die durch anhaltende Urbanisierung in Verbund mit steigenden Mieten und Platzmangel in den großen Metropolen unsicher wird. Die Darstellung von Wissen ist dann Ausdruck des (urbanen) Bedürfnisses nach einer Neuvermessung des fremdgewordenen ländlichen Raumes, für den, einem fremden Planeten gleich, die Bedingungen für menschliches Leben geprüft werden. An dem Zeitpunkt, an dem die bundesrepublikanische Kultur dominant städtisch geworden ist, der rurale Raum von Tradition und medialen Produktionen gesättigt erscheint, wird der ›fremde‹ ländliche Raum wieder angeeignet. Neu an den so entstehenden Umzugserzählungen sind die Gewinnung eines ›normalen‹ Lebensraums sowie die reflexive Behauptung, hinter die kulturellen Imaginationen über Land zu blicken und über sie hinausgehen zu können. An der untersuchten Literatur konnte also nicht nur das Auftauchen eines Wissensobjekts, sondern auch seine Ausgestaltung und Verhandlung beobachtet werden. Gerade der Fokus auf die Poetologie des Wissens deckt dabei auf, wie Wissens- und Raumordnung in einem wechselseitigen Prozess narrativer Gestaltungsweisen inszeniert und stabilisiert werden. Bereits mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass die in den Büchern unterschiedlich ausfallenden Deutungen über die Möglichkeiten eines Umzugs von der

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Stadt aufs Land als Ausdruck einer kulturellen Selbstverständigung gedeutet werden, in der es nicht um Annäherung an eine existente Wahrheit geht, sondern um einen »Prozess des Alternativen erwägenden Suchens nach Wirklichkeit«22 . Gerade das herausgearbeitete Verhältnis beider Untersuchungsgruppen zeigt, wie die Behauptung von Wahrheit in ein Spiel von Deutungsmacht münden und so den hier beobachteten Prozess der Narrativbildung prägen kann. Im Sinne einer Poetologie des Wissens wurde dabei gezeigt, dass diese Deutungen nicht frei, sondern in einem Kontinuum von Erzählungen und Deutungen entstehen. Entscheidend ist dafür, dass die in den Sachbüchern und Literaturen produzierten Deutungen in einem nicht-reduktionistischen Wissensparadigma denen ›harter‹ Wissenschaften gleichgestellt sind.23 Unabhängig davon, ob sie einen fiktiven oder realen Ursprung haben, können »Deutungen […] zu Ursachen werden […]. Immer wenn sie einen Unterschied machen, entfalten sie Macht und überführen Möglichkeit in Wirklichkeit.«24 Der produktive Aspekt dieser Deutungsmacht von Narrativen und erzähltem Wissen wird im Folgenden am Entstehen imaginärer und realer Räume erläutert.

1.4 Produzierte Räume Durch die Situierung der Bücher der ersten Untersuchungsgruppe zwischen Prosa und Sachbuch ist ihre Darstellung nicht auf den fiktiven literarischen Raum begrenzt, es handelt sich um hybride Formen, denen eine »Zwitterstellung zwischen Realitätsbezug […] und imaginärer Leistung«25 eigen ist. Eine Ambivalenz, die hier im besonderen Maße konstitutiv ist: In der Vielfalt von Imaginationen ländlicher Räume entsteht eine Mischform, die im mäandernden Raum zwischen Fiktion und Realität verortet ist und durch den wiederholt formulierten Authentizitätsanspruch letztlich fiktive ländliche Räume als Realität ›verortet‹. Auch wenn das über den Raum Geschriebene dabei nicht wahr sein muss, muss es doch potenziell wahr

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Hastedt, Heiner: Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen, in: ders. (Hg.): Deutungsmacht von Zeitdiagnosen: Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld: transcript 2019, S. 11-34, hier: S. 16. Vgl. auch Hastedt, Heiner: Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen, in: ders. (Hg.): Macht und Reflexion, Hamburg 2016 (Deutsches Jahrbuch Philosophie 6), S. 17-40, hier: S. 24f. Siehe dazu auch das Programm des Neuen Realismus, das Markus Gabriel in Weshalb es die Welt nicht gibt (2013) entworfen hat. Dafür wurde wiederholt erwiesen, dass ein weiter Begriff von Wahrheit genutzt werden muss, denn für diese Darstellung von Wissen ist nicht Übereinstimmung mit den Tatsachen entscheidend, sondern die Begründung der eigenen Erzählung als umfassend, genügend und plausibel. Ebd., S. 26. Mundhenke, Florian: Zwischen Dokumentar- und Spielfilm: Zur Repräsentation und Rezeption von Hybrid-Formen, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 4.

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sein und als wahr behauptet werden, um auf die gesellschaftliche Deutung des ländlichen Raums (als Wissensobjekt) zu wirken. Die so produzierten ländlichen Räume sind vielgestaltige Wissensobjekte zwischen Raum der Neuheit, Menschwerdung, Erinnerung und Unterhaltung. Immer sind sie aber relativ abgeschlossen. Das erleichtert zum einen die Verfügung über sie, zeigt aber auch, dass es nicht um die Auflösung der Grenzen geht, die traditionelle Stadt-Land-Dichotomie wird aufrechterhalten. Und wenn die auf dem Land Angekommenen zurück auf die Stadt blicken, sehen sie einen Ort, an dem man nicht mehr sein will oder leben kann. Der Blick aufs Land wie der Blick zurück auf die Stadt implizieren und (re)produzieren ein traditionelles Bild der Räume als feste Container.26 Letztlich sind die Umzugsgeschichten keine wirklichen Entdeckungen, sondern Wiederholungen kultureller Erzählungen und Deutungen über Land, verbunden mit der Behauptung von Neuheit und Authentizität. Auf den ersten Blick erfüllen die imaginären ruralen Räume mit der Wiederherstellung des ländlichen Raums als Provinz eine alte Funktion, sie dienen so der Aufrechterhaltung kultureller Ordnungen – eine Funktion, die auch Bücher wie Brüggemanns Landfrust bei aller Absage an Landromantik auf den ersten Blick erfüllen. Damit sind die Bücher nicht nur Kulturprodukte über Land, mehr noch sind sie (in Doppelbestimmung) Reflexionen über und für die (urbane) Gesellschaft. Diese Reflexionen können aber auch anders gedeutet werden, was an zwei Beispielen ersichtlich wird: Erstens wurden auch die großen Erzählungen ›über Land‹ (als Provinz oder Idylle) wiederholt so gedeutet, dass sie Ländlichkeit als Heterotopie entwerfen, die dann zugleich (urbane) Raumbilder und -grenzen infrage stellen.27 In dieser Deutung gestalten imaginäre ländliche Räume eine gesellschaftliche Heterotopie zur Aneignung der Stadt, denn »die Aneignung einer Topie ist […] nur mög-

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Aktuellere Raumbilder fluider (Zwischen-)Räume finden erst in der zweiten Untersuchungsgruppe Eingang in die beschriebene Literatur. Wie bereits im Methoden-Kapitel herausgearbeitet wurde, basieren aktuelle Raumbegriffe eher auf dem Begriff der Translokalität: Räume entstehen demnach immer im Wechselspiel mit den sie umgebenden Orten, ohne dass dadurch die abgeschlossenen Räume wie Stadt oder Land verneint werden. In diesem Verständnis sind die anhaltenden Aushandlungsprozesse zwischen beiden sind vielmehr Ausdruck einer gewissen Trägheit der kulturell gewachsenen Raumkonzepte; vgl. hierzu auch: Zimmermann, Clemens/Mahlerwein, Gunter/Maldener, Aline: Landmedien und mediale Bilder von Ländlichkeit im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Landmedien: Kulturhistorische Perspektiven auf das Verhältnis von Medialität und Ruralität im 20. Jahrhundert, Innsbruck: StudienVerlag 2018 (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes), S. 7-19, hier: S. 8. Ein solches Verständnis von Räumen konnte am ehesten in Brüggemanns Landfrust identifiziert werden. Vgl. Sick, Franziska: Erzählte Karten, Erzählkarten. Mours, Novalis, Goethe, Robbe-Grillet, Gracq, in: Baumgärtner, Ingrid/Klumbies, Paul-Gerhard/Sick, Franziska (Hg.): Raumkonzepte: Disziplinäre Zugänge, Göttingen: V&R unipress 2009, S. 199-231, hier: S. 229.

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lich durch die Postulierung einer Heterotopie.«28 Insofern handelt es sich nicht um rein fiktive Verhältnisbestimmungen, denn ländliche Heterotopien sind als ein Einbruch des Gegenbilds in die Realität der Stadt zu verstehen.29 Anders als Utopien sind Heterotopien als vollkommene Orte begehbar, sind »lokalisierte Utopien«.30 Wie oben bereits angedeutet, ist jedoch gerade durch das Auftauchen dieser lokalisierten Utopien in Sach- und Unterhaltungsliteratur, die herausgearbeitete Normalitätsbehauptung sowie den Wechsel von Erfolg und Scheitern in den beiden Untersuchungsgruppe zu erkennen, dass, nimmt man die Bücher ernst, es nicht um einen Raum außerhalb aller Ordnung gehen kann, sondern vielmehr um eine Wiedereinholung des Raumes in die Ordnung. Im Gegensatz zu Heterotopien werden hier keine Entlastungsräume geschaffen, von denen nach kurzer Zeit wieder in die Ordnung zurückgekehrt wird, sondern die urbane Ordnung wird so verändert, dass der ländliche Lebensraum ihr Teil wird, obwohl er ganz anders als die Stadt ist. Gerade weil die untersuchten Bücher voll von Entdeckungen spezifisch ländlicher Eigenheiten sind, die dann als normal verstanden werden, ist ihr Potenzial für solche ›Wiedereinholungen‹ groß. Eine zweite Beobachtung zur Produktion von Raum wurde bereits oben angedeutet: Die Imagination vom Land als schöne alte Welt. Darin steckt auch die Behauptung von Ungleichzeitigkeit des Ländlichen, welche die ländlichen Räume dann zu Erinnerungsorten einer spätmodernen urbanen Gesellschaft werden lässt.31 Sie fungieren als ein Blick in die Vergangenheit der Gesellschaft und sind 28

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Schmid, Christian: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, S. 277. Die Heterotopie steht nach Schmid für »kontrastierende, differentielle Orte oder Räume«; ebd. Foucaults Begriff der Heterotopie ist hier anschlussfähig, da er es ermöglicht, die Position des idyllischen (ländlichen) Raums zwischen Realität und Utopie zu bestimmen. Heterotopien sind letztlich Unordnungen, denn sie produzieren Ordnungsmuster, die bestehenden Ordnungen widersprechen und so alle gleichberechtigten Ordnungen als produziert und (historisch) zufällig kennzeichnen. Dieses verunsichernde und zugleich produktive wie destruktive Moment bestimmt Foucault, für ihn stellen Heterotopien »alle anderen Räume in Frage, und zwar auf zweierlei Weise: entweder wie in den Freudenhäusern, von denen Aragon sprach, indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen realen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.«; Foucault 2005, S. 19f., Hervorhebung H.S.; vgl. hierzu auch Schäfer-Biermann, Birgit u.a.: Foucaults Heterotopien als Forschungsinstrument. Eine Anwendung am Beispiel Kleingarten, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 58. Foucault 2005, S. 10. Das ist klassisches idyllisches Werkzeug: der ländliche Raum als Ort, wo die ursprüngliche Einheit von Mensch und Natur eingelöst werden kann. Mnemotope hat Magdalena Marszałek in dieser Reihe identifiziert als (gedachte oder reale) Räume, an denen sich das kollektive Gedächtnis einer Gruppe, also ihre kollektive Identität entfaltet: »Dörfer als Erinnerungsräume interessieren zum einen in ihrer empirischen – materiellen und sozialen – Existen-

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Versprechen eines guten Lebens in einer gesellschaftlichen Urtümlichkeit, die nur noch auf dem Land zu finden ist und für diese Behauptung dort produziert wird. Gerade durch die enge Verbindung von Wahrheit und Erfindung in dem hier untersuchten Erzählen bedarf dieses Versprechen keiner realen Einlösung. Denn schon im symbolischen Akt des Erinnerns und stellvertretenden Umzugs findet die Sehnsucht ihre Erlösung. Sie funktionieren dabei wie Fotoalben, in denen man sich die Bilder vergangener Urlaube und damit glücklicher Zeiten vergegenwärtigt und überlegt, dass man da doch mal wieder hinkönnte. Tatsächlich aufbrechen muss man dabei nicht. Darin zeigt sich wieder die bereits oben angedeutete Bedeutung solcher Massenmedien über Land, sie machen die verlorenen Gegenstände erst sichtbar, häufig indem sie sie schaffen. Es wäre nach diesen Bemerkungen zum Entstehen imaginärer Räume nun naheliegend, in einer Studie zwischen Rezeptionsästhetik, Soziologie und Demographie zu untersuchen, wie reale durch solche imaginären Ländlichkeiten beeinflusst werden. Da das an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, werden hier lediglich zwei Beispiele für solche Refigurationsprozesse angeführt.32 Ein Beispiel hat Saša Stanišić auf einer Lesung geben: Seit Erscheinen von Vor dem Fest besuchen immer mehr Literaturbegeisterte das Dorf Fürstenwerder, Vorlage für das Fürstenfelde des Romans, und suchen dort nach Spuren für seine Funktion als Vorlage des Romans – zum Beispiel die Eierbox des ehemaligen Stasi-Mitarbeiters Ditzsche, aus der im Roman für 2€ Eier genommen werden können. Figur, Eierbox und die ländliche Praxis des Vertrauens sind eigentlich Erfindungen des Autors, zwischenzeitlich haben aber einige Dorfbewohner der Fiktion zu Realität verholfen und zur Befriedigung literaturbegeisterter Ortsbesucher eine Eierbox aufgestellt.33 Daran ist beispielhaft zu erkennen, wie literarische Imaginationen ländlicher Räume zu einer ›Reruralisierung‹ ihrer realen Vorbilder beitragen. Ein weiteres Beispiel für die Produktion von Raum durch solche Literatur ist in der Entstehung regionaler Idyllen zu sehen. Insbesondere bei Sezgin und Hochrei-

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zweise: mit ihren Topografien als historische Schauplätze und räumlich sedimentierte Zeitschichten, die als Erinnerungsträger oder Gedächtnislandschaften aufgefasst werden können, sowie mit ihren sozialen Überlieferungen als erinnerte und erinnernde Gemeinschaften oder Sozialräume. Zum anderen verweist das Dorf als Erinnerungsort (Mnemotopos) auf das symbolische Feld kultureller Deutungen, Zuschreibungen und Projektionen, die seine lange Geschichte wie auch seine Gegenwart prägen.« Marszałek, Magdalena: Das Dorf als Erinnerungsraum, in: Nell, Werner/Weiland, Marc (Hg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2019, S. 348-356, hier: S. 348. Einige Auswirkungen literarischer Orte auf ihre realen Vorbilder sind schon in der oben angedeuteten Auseinandersetzung um Moors ›Modelldorf‹ offensichtlich geworden, siehe hierzu das Unterkapitel 4.1.7 (Re-)Figuration des Ländlichen. Erinnerung des Autors an eine Lesung mit Saša Stanišić im Rahmen der Konferenz Rurbane Landschaften am 29.6.2017 in Weimar.

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ther, in Ansätzen auch bei Moor, wird wiederholt die Bedeutung der beschriebenen Region hervorgehoben, die als Spezialfall für die Vorzüge von Landleben ausgestellt wird. Damit bewegt sich dieses Schreiben in der seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmenden Betonung der Bedeutung einzelner Regionen, was in der Ausbildung regionaler Idyllen mündet – 100 Jahre nach der Heimatschutzbewegung um 1900 erscheint das als Wiederholung von Kulturgeschichte.34 Solche Regionalliteratur fiktionalisiert die behandelte Region, zugleich ist ihr aber auch ein produktives Potenzial inne – sie schafft eine Raumkonstellation, die außerliterarische Wirksamkeit entfaltet, bspw. durch zunehmenden Tourismus in den beschriebenen Regionen.35 Dabei werden zugunsten der Verbreitung solcher Medien überwiegend existierende Raumkonfigurationen reproduziert. Christoph Baumann hat beispielhaft gezeigt, wie diese Form idyllischer Ländlichkeit zur Gründung von Regionalverbänden geführt hat, deren Programm sich »maßgeblich in Form einer Stadt-Land-Dichotomie«36 artikuliert, also ebenfalls in tradierten Erzählungen über Stadt und Land arbeitet. Dabei wird die Identität der jeweiligen Regionen in den Mittelpunkt der Bemühungen gestellt. Eine besondere Häufung solcher Vereine findet sich auch im Berliner Umland, bspw. der Dorfbewegung Brandenburg e.V. – Netzwerk Lebendige Dörfer.37 Deren Entstehen korreliert mit der Häufung literarischer Räume rund um die Hauptstadt, hier zu sehen bei Reichert, Zeh oder Moor. Im letzten Abschnitt dieser Arbeit wird nun die wiederholt angesprochene These ausgeführt, dass die hier produzierten ländlichen Räume nicht nur als neu, sondern als besondere, singuläre Orte zu lesen sind.

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Vgl. Baumann 2018, S. 113f. Siehe dazu auch Ermann, Ulrich/Hock, Sonja: Die Konstruktion des ländlichen Raumes im Diskurs der ›Regionalbewegung‹. Anmerkungen zur wissenschaftlichen (Re-)Produktion von Regionalität und Ländlichkeit, in: Bröckling, Frank/Grabski-Kieron, Ulrike/Krajewski, Christian (Hg.): Stand und Perspektiven der deutschsprachigen Geographie des ländlichen Raumes, Münster: Selbstverlag der Arbeitsgemeinschaft Angewandte Geographie Münster 2014 (Arbeitsberichte der Arbeitsgemeinschaft Angewandte Geographie Münster 35), S. 13-24. Die Bedeutung von Regionalliteraturen der Gegenwart hat Katharina Löffler an den Regionalkrimis beispielhaft herausgearbeitet, vgl. Löffler, Katharina: Allgäu reloaded. Wie Regionalkrimis Räume neu erfinden. Bielefeld: transcript 2017. Vgl. Baumann 2018, S. 114. Auf den Internetseiten der Dorfbewegung Brandenburg e.V. heißt es dementsprechend: »Dorfgemeinschaften können die Geschicke ihres Dorfes in die eigenen Hände nehmen, indem sie ihre Kräfte bündeln, um das Dorfleben gemeinsam zu organisieren selbst Ideen entwickeln und planen wie die Lebensqualität im Dorf verbessert werden kann und geeignete Strukturen im Dorf aufbauen das bürgerschaftliche Engagement im Dorf mobilisieren, um gemeinsam selbst zu gestalten, was aus eigener Kraft erreicht werden kann geeignete Partner wie ihre LEADER-Aktionsgruppe, die lokale Wirtschaft und die Verwaltung in die Gestaltungsprozesse einbeziehen.« (Internetseiten der Dorfbewegung Brandenburg. Netzwerk lebendige Dörfer, URL: https://lebendige-doerfer.de [Zugriff am 7.5.2020].

Von Wissensräumen und ruralen Singularitäten

1.5 Singuläre Orte Abschließend möchte ich dafür argumentieren, die Umzugserzählungen auch als eine Form der Verortung und eine Sicherungstechnik des flexiblen Menschen im Spätkapitalismus verstanden werden.38 Das folgt zum einen daraus, dass in der untersuchten Literatur eben um die Entdeckung eines besonderen Lebensraums geht. Diese Deutung als Phänomen der Spätmoderne wird zudem dadurch gestützt, dass wiederholt die schwachen sozialen Verbindungen urbaner Lebensstile konterkariert werden mit der ländlichen Gemeinschaft, dass die Anforderungen der Arbeitswelt keine Rolle spielen oder dass die Sinnhaftigkeit des ländlichen Raums betont wird. Damit wird die Wissensproduktion nicht mehr nur als Ausgleichseffekt zur Entfremdung vom vergangenen Ort, sondern als Produktion eines solitären Ortes, eines Fixpunktes verstanden, was auch an der ständigen Betonung der ästhetischen Empfindung und Authentizität abzulesen ist – denn gerade der wiedererkennbare Raum muss ausgestaltet werden. Andreas Reckwitz beschreibt in diesem Zusammenhang eine grundsätzliche Transformation räumlicher Strukturen: An die Stelle der austauschbaren Räume der klassischen Moderne sollen in der globalisierten und urbanisierten Spätmoderne nun wiedererkennbare einzelne Orte mit je eigener Atmosphäre treten, an die sich spezifische Narrationen und Erinnerungen heften.39 Dass vom guten Leben auf dem Land in einer Überbetonung individueller Erfahrung, ihrer emotionalen und ästhetischen Dimension und gerade in klassischen Unterhaltungs- und Sachmedien berichtet wird, ist als Ausdruck dieser Suche nach einem besonderen, eigenen Lebensraum zu lesen. Es ist Ausdruck einer »Selbstkulturalisierung des Lebensstils«40 im ländlichen Raum bzw. von Ländlichkeit als Lebensstil. Die betonte »singularistische Lebensführung«41 auf dem Land wird beispielsweise durch die Nutzung von Helden-Narrativen und das betonte Unverständnis der Freunde aus der Stadt narrativ hergestellt. Es ist ein Effekt ihres Entstehens in dominant städtischen Ordnungen, dass die so erzählten Räume und Lebensstile besonders und erzählwürdig sind. Diese Betonung der Einzigartigkeit ist Ausdruck einer Gesellschaft der Singularitäten, nach Reckwitz eine Besonderheit der Spätmoderne, denn in dieser finde

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Damit ist es eine Reaktion auf die von Richard Sennett in Der flexible Mensch (1998) herausgearbeitete Figur der Spätmoderne. Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp 2017, S. 8. Ebd., S. 283. Ebd., S. 283, 289-294.

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Rück- und Ausblick

ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen. Dieses Besondere, das Einzigartige, also das, was als nichtaustauschbar und nichtvergleichbar erscheint, will ich mit dem Begriff der Singularität umschreiben.42 Die Helden- und Eroberungsnarrative, die Authentizitätsbeweise oder die autobiographischen Eroberungen eines unbekannten Ortes fügen sich scheinbar nahtlos in dieses Muster. Und die Erzählungen vom Scheitern der zweiten Untersuchungsgruppe können als Reaktionen hierauf interpretiert werden, als Kritik an der Inanspruchnahme ländlicher Räume als »Bausteine des singularistischen Lebensstils«.43 Dass also ländliche Räume hier als etwas Besonderes und damit als Mittel der Distinktion verstanden werden, passt auch dazu, dass die untersuchten Literaturen in einem Kontinuum ästhetischer Ausgestaltungen von Landleben entstehen. Denn auch in Magazinen wie Landlust werden ländliche Bilder und Praktiken als ein das Individuum auszeichnender Lebensstil vorgeführt. Die in den Literaturen hinzukommende Behauptung von Wissen, Wahrheit und Authentizität geht, so der inhärente Anspruch, über solche ästhetischen Verallgemeinerungen hinaus, um ein letztlich wahreres, authentischeres, sprich: singuläres Landleben zu präsentieren. Gerade in diesen letzten Schlussfolgerungen liegt eine entscheidende Differenz zum eingangs zitierten Gang aufs Land von Hölderlin, in dem das »Komm! ins Offene, Freund!« ein Ausruf war, der seinen Wert dadurch erhielt, dass die Erfahrung vom Gang aufs Land als allen Angesprochenen gemein zu verstehen war. Eine chiffrierte Menschheitsgeschichte, wie Hölderlin sie in seinem Elegienfragment angelegt hat, ist in den hier untersuchten Texten nicht zu entdecken. Was jedoch gefunden werden konnte, ist eine Erkenntnisgeschichte des urbanen Menschen innerhalb von sich in Bewegung befindenden Raumordnungen.

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Ebd., S. 11. Ebd., S.308. Reckwitz fasst darunter bspw. Essen, Wohnen, Reisen, Körper, Urbanität, Neuen Liberalismus und Work-Life-Balance.

Anhang

Literatur

Primärliteratur: Böttcher, Jan: Das Kaff, Berlin: Aufbau 2018. Brüggemann, Axel: Landfrust. Ein Blick in die deutsche Provinz, Reinbek: Rowohlt 2011. Hansen, Dörte: Altes Land, 27 München: Albrecht Knaus Verlag 2015. Hochreither, Irmgard: Schöner Mist. Mein Leben als Landei, Berlin: Ullstein 2011. Janson, Brigitte: Winterapfelgarten, 4 Berlin: Ullstein 2015. Mezger, Daniel: Land spielen, Zürich: Salis 2012. Moor, Dieter: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht, 16 Reinbek: Rowohlt 2011. Reichert, Martin: Landlust. Ein Selbstversuch in der deutschen Provinz, Frankfurt a.M.: Fischer 2011. Sezgin, Hilal: Landleben. Von einer, die raus zog, Köln: DuMont 2011. Stahl, Enno: Spätkirmes, Berlin: Verbrecher Verlag 2017. Zeh, Juli: Unterleuten, 3 München: Luchterhand 2016.

Sekundärliteratur: [Art.] Dorf, in: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, Bd. 5, vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage, Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts 1886, S. 76f, hier: S. 76. Ächtler, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945-1960. Göttingen: Wallstein 2013. Adler, Hans: Gattungswissen. Die Idylle als Gnoseotop, in: Berg, Gunhild (Hg.): Wissenstexturen. Literarische Gattungen als Organisationsformen von Wissen. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2014 (Berliner Beiträge zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte 17), S. 23-42. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970. Adorno, Theodor W.: Résumé über Kulturindustrie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I, hg. v. Rolf Tiedemann, Band 10.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 337-345.

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Literatur

Ahbe, Thomas: Die Ost-Diskurse als Strukturen der Nobilitierung und Marginalisierung von Wissen. Eine Diskursanalyse zur Konstruktion der Ostdeutschen in den westdeutschen Medien-Diskursen 1989/90 und 1995, in: ders./Gries, Rainer/Schmale, Wolfgang (Hg.): Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig: Universitätsverlag 2009, S. 59-112. Albrecht, Andrea: Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon, in: Köppe, Tilmann (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge, Berlin: de Gruyter 2011 (linguae & litterae 4), S. 140-163. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a.M.: Campus 2005. Angermüller, Johannes: Neoliberale Hegemonie und postmodern-schizophrene Subjektivität: Eine diskursanalytische Annäherung an Michel Houellebecqs Ausweitung der Kampfzone, in: Kron, Thomas/Schimank, Uwe (Hg.): Die Gesellschaft der Literatur, Opladen: Budrich 2004, S. 143-163. Auerochs, Bernd: Gesellschaftsroman, in: Burdorf, Dieter u.a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 286. Babka, Anna: Den Balkan konstruieren. Postkolonialität lesen. Ein Versuch mit Karl Mays Kara Ben Nemsi Effendi aus In den Schluchten des Balkan, in: Schmidt, Matthias u.a. (Hg.): Narrative im (post)imperialen Kontext Literarische Identitätsbildung als Potential im regionalen Spannungsfeld zwischen Habsburg und Hoher Pforte in Zentral- und Südosteuropa, Tübingen: Narr 2015, S. 103-116. Backhouse, Maria: Green Grabbing, in: Brunner, Jan u.a. (Hg.): Wörterbuch Landund Ressourcenkonflikte. Bielefeld: Transkript 2019, S. 122-126. Bal, Mieke: Intercultural Story-Telling, in: Strohmaier, Alexander (Hg.): Kultur – Wissen – Narration: Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Kultur- und Medientheorie, Bielefeld: 2013, S. 289-305. Bal, Mieke: Wandernde Begriffe, sich kreuzende Theorien. Von den cultural studies zur Kulturanalyse, in: Fechner-Smarsly, Thomas/Neef, Sonja (Hg.): Mieke Bal. Kulturanalyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. Barbieri, Alessandro/Vogl, Joseph: Historische Epistemologie und Medienwissenschaft. Ein Gespräch mit Joseph Vogl, in: televisionen. historiografien des fernsehens. Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14, 2001, S. 115-128. Barthes, Roland: Am Nullpunkt der Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985. Barthes, Roland: Die Lust am Text, 7 Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Berlin: Suhrkamp 2010. Basler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen: Narr Francke Atempo 2005.

Literatur

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Literatur

Böhm, Alexandra/Sproll, Monika: Einleitung, in: dies. (Hg.): Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 7-26. Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders, München: Beck 2007. Bölsche, Jochen: Deutsche Provinz. Verlassenes Land, verlorenes Land, in: Spiegel Online, 14.3.2006, URL: https://www.spiegel.de/jahreschronik/a-451996-2.htm l [Zugriff am 26.11.2019]. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle, Stuttgart: Metzler 1967. Böthig, Peter: Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren, Berlin: Lukas Verlag 1997. Bourdieu, Pierre: Position und Perspektive, in: ders.u.a. (Hg.): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Köln: Herbert von Halem 2017, S. 17-20. Brämer, Rainer: Was es mit Landlust auf sich hat. Ein Biedermeier-Magazin als Shootingstar, in: natursoziologie.de 3, 2014, S. 1-7. Brandstetter, Gabriele/Neumann, Gerhard (Hg.): Romantische Wissenspoetik: die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004 (Stiftung für Romantikforschung 14). Braungart, Wolfgang: »Komm! ins Offene, Freund!« Zum Verhältnis von Ritual und Literatur, lebensweltlicher Verbindlichkeit und textueller Offenheit. Am Beispiel von Hölderlins Elegie ›Der Gang aufs Land. An Landauer‹, in: Denneler, Iris (Hg.): Die Formel und das Unverwechselbare. Interdisziplinäre Beiträge zu Topik, Rhetorik und Individualität, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1999 (Sonderdruck), S. 96-114. Breger, Claudia/Döring, Tobias: Einleitung: Figuren der/des Dritten, in: dies. (Hg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam-Atlanta: Rodopi 1998, S. 1-18. Brenner, Peter.: Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in: ders. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 14-49. Brüggemann, Axel: Landfrust statt Landlust, in: BZ 27.3.2011, URL: https://www.bz -berlin.de/artikel-archiv/landfrust-statt-landlust [Zugriff am 24.5.2019]. Brüggemann, Axel: Na, auch schon wach? Von Berlin in die Provinz, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.9.2009, URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellsch aft/von-berlin-in-die-provinz-na-auch-schon-wach-1856013.html [Zugriff am 4.12.2019]. Brüggemann, Beate/Riehle, Rainer: Das Dorf. Über die Modernisierung einer Idylle. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 1986.

Literatur

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Literatur

Egnolff, Mareike: Die Sehnsucht nach dem Ideal. Landlust und Urban Gardening in Deutschland. Diss., Universität Saarbrücken 2015, URL: https://publikationen. sulb.uni-saarland.de/bitstream/20.500.11880/23712/1/Die_Sehnsucht_nach_de m_Ideal_Finale_Version.pdf [Zugriff am 3.2.2017]. Ehlert, Klaus: Realismus und Gründerzeit, in: Beutin, Wolfgang u.a. (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. 8 Stuttgart: Metzler 2019, S. 295-343. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literatur-Geschichte der DDR. Berlin: Aufbau Verlag 2007. Engel, Manfred: Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur – am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik, in: Danneberg, Lutz/ Vollhardt, Friedrich: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert., S. 65-91. Erll, Astrid/Roggendorf, Simone: Kulturgeschichtliche Narratologie, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2002 (WVT-Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium 4). Fenske, Uta/Hülk, Walburga/Schuhen, Gregor: Vorwort, in: dies. (Hg): Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld: transcript 2014, S. 7f. Fichte, Hubert: Mein Freund Herodot. New York, November 1980, in: ders.: Die schwarze Stadt. Glossen, hg. v. Wolfgang von Wangenheim, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1991, S. 327-367. Flecken-Büttner, Susanne: Wiederholung und Variation als Poetisches Prinzip. Exemplarität, Identität und Exzeptionalität in Gottfrieds ›Tristan‹, Berlin/New York: de Gruyter 2011. Fohrmann, Jürgen: Robinsonade, in: Killy, Walter (Hg.): Literaturlexikon. Begriffe, Realien, Methoden, Bd. 14, Gütersloh/München: Lexikon Verlag 1993, S. 299f. Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Vorwort zur zweiten Auflage, in: ders.: Große Brandenburger Ausgabe, Bd. 1: Die Grafschaft Ruppin, hg. von Gotthard Erler und Rudolf Mingau, Berlin: Aufbau Verlag 1997. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens,5 Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 (stw. 356). Foucault, Michel: Das Auge der Macht, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 3: 1976-1979, hg. von Daniel Defert/François Ewald/Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 250-271. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt a. M: Suhrkamp 2005. Frank, Michael: Andere Völker, andere Zeiten. Das evolutionistische Narrativ in den Humanwissenschaften 1750-1930, in: Höcker, Arne/Moser, Jeannie/Weber, Philippe (Hg.): Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissenschaften. Bielefeld: transcript 2006, 127-138.

Literatur

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Literatur

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Literatur

Häntzschel, Günter: Anthologie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, hg. von Klaus Weimar u.a., 3., neubearb. Aufl., Berlin/New York: de Gruyter 1997, S. 98-100. Harbsmeier, Michael: Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Maczak, Antoni/Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, Wolfenbüttel: Herzog August Bibliothek 1982 (Wolfenbütteler Forschungen 21), S. 1-31. Hartmann, Kathrin: Cocooning im Misthaufen, in: Frankfurter Rundschau, 1.5.2011, URL: https://www.fr.de/kultur/literatur/cocooning-misthaufen-11420 152.html [Zugriff am 4.8.2020]. Heimerdinger, Timo: Der gelebte Konjunktiv. Zur Pragmatik von Ratgeberliteratur in alltagskultureller Perspektive, in: Hahnemann, Andy/Oels, David (Hg.): Sachbuch und populäres Wissen im 20. Jahrhundert, Frankfurt u.a.: Peter Lang 2008, S. 97-108, hier S. 104. Heise, Ursula: Nach der Natur. Das Artensterben und die moderne Kultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010 (edition Unseld). Heller, Jakob Christoph: »Die stillen Schatten fruchtbarer Bäume«. Die Idylle als ökologisches Genre?, in: Zemanek, Evi (Hg.): Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, S. 73-89. Helmke, Stefan/Scherberich, John Uwe/Uebel, Matthias: Einführung: Die Zielgruppe LOHAS, in: dies (Hg.): LOHAS-Marketing. Strategie – Instrumente – Praxisbeispiele, Wiesbaden: Springer 2016, S. 1-8. Hieber, Jochen: Komm! ins Offene, Freund! Was aufhört, was anfängt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2014, S. 11. Hinderer, Walter: Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller, Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. Hofmann, Michael: Schiller. Epoche, Werk, Wirkung, München: Beck 2003. Hofmann, Sabine: Die Konstruktion kolonialer Wirklichkeit: Eine diskursanalytische Untersuchung französischer Karibiktexte des frühen 17. Jahrhunderts, Frankfurt/New York: Campus 2001 (Campus Forschung 824). Hofmann-Rehnitz, Philip: Zur Unwahrscheinlichkeit der Krise in der Frühen Neuzeit. Niedergang, Krise und gesellschaftliche Selbstbeschreibung in innerstädtischen Auseinandersetzungen nach dem Dreißigjährigen Krieg am Beispiel Lübecks, in: Schlögl, Rudolf/ders./Wiebel, Eva (Hg.): Die Krise in der Frühen Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 (Historische Semantik 26), S. 169-208.

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Literatur

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Literatur

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Dank

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die an der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock angenommen wurde. Ihr Zustandekommen und meine Nerven während dieser Zeit verdanke ich einer Vielzahl von Personen und Umständen, von denen ich bestimmt viele nicht erwähne – aber nicht vergesse. Auf keinen Fall vergessen möchte ich: Holger Helbig fürs Betreuen und Vertrauen, Astrid Köhler für zielgenaue und hilfreiche Kritik und ein sehr weitsichtiges Zweitgutachten, Serena Grazzini für eine sehr genaue Lektüre und ein ebenso hilfreiches Drittgutachten, dem transcript Verlag für die Drucklegung der Studie, dem gesamten Experimentierfeld Dorf der Universitäten Halle und Weimar für hilfreiche Anregungen, besonders Marc Weiland und Werner Nell für das Vertrauen in meine Arbeit, Markus Rossnagel für die Gestaltung des Umschlags, meinen Eltern für die jahrelange Unterstützung und das biographisch angelegte Interesse für Umzüge aufs Land, meiner Schwester für gemeinsame Entdeckungen des Ländlichen, meiner Frau für ein unbezahlbares Lektorat, ihr erneut und meinen Kindern für viel Geduld, starke Nerven und ein Leben neben dem Schreibtisch.

Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Elias Kreuzmair, Magdalena Pflock, Eckhard Schumacher (Hg.)

Feeds, Tweets & Timelines – Schreibweisen der Gegenwart in Sozialen Medien September 2022, 264 S., kart., 27 SW-Abbildungen, 13 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-6385-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6385-7

Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 13. Jahrgang, 2022, Heft 1 August 2022, 192 S., kart., 1 Farbabbildung 12,80 € (DE), 978-3-8376-5900-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5900-3

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