Grenzfall Krieg: Zur Darstellung der neuen Kriege nach 9/11 in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 9783839440353

Fiend or friend? An examination of participants in war and border constructions within the context of contemporary wars

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Grenzfall Krieg: Zur Darstellung der neuen Kriege nach 9/11 in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
 9783839440353

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
I. Theoretische Vorüberlegungen und Methodik
1. Theoretische Grundlagen zu den neuen Kriegen
2. Theoretische Vorüberlegungen zur Bestimmung der Kategorie Grenze
II. Grenzüberschreitung – Theorie der Grenze und Untersuchungsfragen
1. Theoretische Konzeption der Grenze
2. Grenzebenen
3. Umgang mit den Grenzen
III. Untersuchung des Textkorpus
1. Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten – Figuren aus der Sphäre des Eigenen
2. Kriegsreporter – Vermittler-Figuren
3. Terroristen – Figuren aus der Sphäre des Anderen
IV. Verortungen
1. Moralische und ethische Dimensionen der Grenze
2. Die literarische Einhegung des Krieges – formal-ästhetische Aspekte
3. Interdiskursive Kritik an medialen Darstellungsformen der neuen Kriege
4. Kritik am Krieg – grenzenlose Ideologie?
5. Ausblick
Literaturverzeichnis

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Stephanie Willeke Grenzfall Krieg

Lettre

Stephanie Willeke (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Kriegsdarstellungen in der Gegenwartsliteratur, Shoah- und Lagerliteratur.

Stephanie Willeke

Grenzfall Krieg Zur Darstellung der neuen Kriege nach 9/11 in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

D466

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: bisgleich / photocase.de Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Print-ISBN 978-3-8376-4035-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4035-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung | 9

I. THEORETISCHE V ORÜBERLEGUNGEN UND METHODIK 1. Theoretische Grundlagen zu den neuen Kriegen | 27

1.1 Der klassische Staatenkrieg | 28 1.2 Die neuen Kriege | 31 1.3 Neue Kriege und Medien | 46 2. Theoretische Vorüberlegungen zur Bestimmung der Kategorie Grenze | 55

2.1 Die Diskurs- und Dispositivanalyse: Michel Foucault | 75 2.2 Der praxeologische Ansatz: Andreas Reckwitz | 88 2.3 Die semiologische Ereignistheorie: Jurij M. Lotman | 95

II. GRENZÜBERSCHREITUNG – THEORIE DER GRENZE UND U NTERSUCHUNGSFRAGEN 1. Theoretische Konzeption der Grenze | 101 2. Grenzebenen | 107

2.1 Räumliche und zeitliche Grenzen | 107 2.2 Figurale und symbolische Grenzen | 111 2.3 Formal-ästhetische Grenzen | 115 3. Umgang mit den Grenzen | 117

3.1 Begrenzung | 117 3.2 Grenzüberschreitung | 118 3.3 Entgrenzung | 119

III. UNTERSUCHUNG DES TEXTKORPUS 1. Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten – Figuren aus der Sphäre des Eigenen | 123

1.1 Sprachpessimistische Tagebücher eines Soldaten. Norbert Scheuers Die Sprache der Vögel | 125 1.2 »Solange es Afghanistan gibt, ist niemand unschuldig.« Dirk Kurbjuweits Kriegsbraut | 156 1.3 »Die Differenz zwischen Orient und Okzident ist zu groß«. Georg Tenners Jenseits von Deutschland | 203

Exkurs 1: Die Kriegsheimkehrer. Ingo Niermanns und Alexander Wallaschs Deutscher Sohn und Michael Kleebergs Das amerikanische Hospital | 216 2. Kriegsreporter – Vermittler-Figuren | 235

2.1 »Es gab keinen unbeteiligten Beobachter, es hatte nie einen gegeben«. Linus Reichlins Das Leuchten in der Ferne | 237 2.2 Medienkritik in der Totale. Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens | 267 3. Terroristen – Figuren aus der Sphäre des Anderen | 293

3.1 Gescheiterte Transgression. Christoph Peters’ Ein Zimmer im Haus des Krieges | 295 3.2 Kategorische Absage an Kategorien. Sherko Fatahs Das dunkle Schiff | 334 Exkurs 2: Der Krieg im Inneren. Dorothea Dieckmanns Guantánamo | 377

IV. V ERORTUNGEN 1. Moralische und ethische Dimensionen der Grenze | 395 2. Die literarische Einhegung des Krieges – formal-ästhetische Aspekte | 401 3. Interdiskursive Kritik an medialen Darstellungsformen der neuen Kriege | 403 4. Kritik am Krieg – grenzenlose Ideologie? | 407 5. Ausblick | 419 Literaturverzeichnis | 421

Primärliteratur | 421 Sekundärliteratur | 421

Vorwort

Krieg und Terrorismus sind ebenso facettenreiche wie aktuelle Themen. Eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen, gerade auch im Bereich der Kulturwissenschaften, ist besonders dringlich, weil sie langfristige Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Kultur haben. Zu diesen Auswirkungen zählt auch die Konstruktion von Grenzen, die als Distinktionsmarkierungen eingesetzt werden, um auf räumlicher, aber auch auf symbolischer Ebene das Eigene vom Anderen zu trennen. Um diese Bereiche im Hinblick auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur kreist die vorliegende Studie, die im Wintersemester 2016/17 als Dissertationsschrift an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn angenommen wurde. Dass ich mich während der Erstellung dieser Arbeit mit literarischen Grenzkonstruktionen beschäftigte, dabei aber nicht meine eigenen Grenzen überschritt, habe ich zahlreichen Menschen zu verdanken, bei denen ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Zuerst gilt mein Dank meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Norbert Otto Eke, der mich während der gesamten Promotionsphase durch zahlreiche Gespräche, Diskussionen und konstruktive Kritik unterstützt hat. Ebenso danke ich meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Lothar van Laak für die zur Reflexion anregenden Hinweise und Denkanstöße. Auch meinen Kolleginnen und Kollegen möchte ich für die wertvolle, vielfältige Unterstützung durch Anregungen und interessante Gespräche danken. Das Graduiertenstipendium der Universität Paderborn eröffnete mir durch finanzielle Förderung die Möglichkeit, mich besonders zeitintensiv mit meinem Projekt zu beschäftigen, auch hierfür möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Mein besonderer Dank gilt meiner Familie, vor allem meiner Mutter, sowie meinen Freunden, die mir fortwährend zur Seite standen und durch ihren Rückhalt und Rat und ihre Ermutigungen entscheidend zu dem Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Dieses Buch ist Tim gewidmet, ohne den ich es nicht hätte schreiben können.

Stephanie Willeke

Einleitung

In seinem 2001 erschienenen Debütroman Im Grenzland1 macht Sherko Fatah das Grenzgebiet zwischen dem Iran, dem Irak und der Türkei zum Motiv seiner Erzählung. Im Zentrum steht die Figur ›der Schmuggler‹, dessen Name in dem Roman nicht genannt wird2, weshalb die Konzentration ganz bei seiner namengebenden Tätigkeit, die für ihn selbst zur »Leidenschaft« (GL 153) geworden ist, liegt. Die Romangegenwart umfasst die Beschreibung seines zirkulären Weges, die auf der syntagmatischen Achse der Kombination eine Grundchronologie der Räume einhält – Ausgangsraum, Grenzland, Türkei, Grenzland, Ausgangsraum. Indes wird die Erzählung immer wieder durch unterschiedlich lange Analepsen unterbrochen, die einerseits Hintergrundinformationen über den Protagonisten und sein Leben, andererseits aber auch über die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten des Landes beinhalten. Diese Anachronien werden zum Teil als durch den Weg des Schmugglers assoziierte Rückblenden initiiert und evozieren mehrfach einen deutlichen, scheinbar unmotivierten Bruch zwischen der Romangegenwart und der Erinnerung, deren Motive an anderer Stelle wieder aufgegriffen werden. Die Aus- und Nachwirkungen des zu dem Zeitpunkt der Handlung bereits beendeten Zweiten Golfkrieges, die »merkwürdig friedliche Nachkriegszeit« (GL 72), sowohl im Hinblick auf die Bevölkerung als auch auf die Wirtschaft, bilden die alles verbindende Folie der Erzählung. Obwohl in verschiedenen Situationen darauf aufmerksam gemacht wird, dass die äußerlich sichtbaren Spuren des Krieges, wie beispielsweise die »direkten Treffer der Bomben und Marschflugkörper […] kaum noch zu sehen« (GL 57) sind, ist der Krieg stets gegenwärtig. Der Schmuggler, der vor und während des Krieges als Schwarzhändler tätig war (vgl. GL 68), hat die Situation der wirtschaftlichen Stagnation im Nachkrieg erkannt und sich zunutze gemacht, wodurch er indirekt zum Profiteur des Krieges wird. Er transportiert nun in der Nachkriegszeit im Auftrag reicher Händler und Geschäftsleute Waren, die er in der Türkei erstanden hat, über die Gren1 2

Im Fließtext wird die folgende Ausgabe mit der Sigle GL und der entsprechenden Seitenzahl zitiert: FATAH, Sherko: Im Grenzland. Roman. München: btb 22003. Ebenso haben fast alle anderen Figuren keine Namen, sondern eher Bezeichnungen, die ihre Position, zumeist im Verhältnis zu dem Schmuggler, deutlich machen, wie ›die Frau‹, womit die Ehefrau des Schmugglers gemeint ist, oder ›der Neffe‹. Eine sehr augenscheinliche Ausnahme bildet die Figur Beno, ein Beamter der Inneren Sicherheit, auf die unten noch eingegangen wird.

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ze in den Irak. Dabei muss er das Grenzland, das während des Krieges größtenteils vermint wurde, durchqueren. Genau hier liegt der Grund seiner exklusiven Position, die sein Geschäft finanziell besonders lukrativ macht: Der Schmuggler ist einer der Wenigen, die einen Weg durch das verminte Grenzland kennen. Aufgrund seiner Tätigkeit, die, obwohl oder möglicherweise auch weil sie illegal ist, einen »gewissen gesellschaftlichen Aufstieg« (GL 76) mit sich brachte, unterscheidet er sich von den anderen Menschen seiner Heimatstadt. Die so entstehende Abgrenzung konstituiert sich durch seine Tätigkeit als Grenzüberquerer, indem er zwei Räume zusammenfügt und dies regelrecht personifiziert: »Er war die Verbindung dieser Stadt mit dem Land dort draußen« (GL 11), wodurch er sich in besonderem Maße als bewegliche Figur,3 als Grenzgänger auszeichnet. Das von Lotman definierte Merkmal einer Grenze – ihre Unüberschreitbarkeit4 – findet in den Minen seine symbolische Entsprechung. Sie stellen Gegenstände dar, die nicht nur durch die sozialen Praktiken5 des Figurenkollektivs im Sinne des Vermeidens gesellschaftliche Bedeutung erlangen, sondern sie beeinflussen auch zugleich dessen Bewegungsfreiheit und damit dessen Verhalten. Die Praktiken des Vermeidens dieses Gebiets durch die unbeweglichen Figuren stehen konträr zu dem Verhalten des Schmugglers, das sich durch das stets wiederholende und routinisierte6 Überqueren der Grenze, das Versetzen der Figur über die Trennlinie zwischen zwei disjunkten Teilräumen definiert. Die Grenze ist hier, wie der zweite Teil des romantitelgebenden Kompositums bereits andeutet, jedoch keine Linie, wie es eine geographische Grenze zwischen Ländern zunächst vermuten lässt, sondern umfasst eine räumlich ausgedehnte Schwelle, ein Grenzland. Neben dieser Ausdehnung gibt es noch weitere signifikante Merkmale dieses Raums. Während der Beschreibung des Weges, den der Schmuggler im Grenzland zurücklegt, wird immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass alle Bewegungen, die er ausführt, exakt geplant und stets genau wiederholt werden. Der Schmuggler ist sich der von den Minen ausgehenden Gefahr bewusst und versucht, durch die Wiederholung seines bisher erfolgreichen Verhaltens, dieser entgegenzuwirken.7 In diesem Zusammen3 4 5 6 7

Vgl. LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink 1972, S. 338. Vgl. ebd., S. 327. Vgl. RECKWITZ, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 4 (2003), S. 282-301, hier S. 289. Diese Schreibweise folgt der Theorie von Andreas Reckwitz zu den sozialen Praktiken. Der Protagonist befindet sich in ständiger Bewegung zwischen den drei dargestellten Räumen, welche die Unterschiede zwischen ihnen erst in eine »bedeutungsstiftende Relation« zueinander setzt. (HALLET, Wolfgang/NEUMANN, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung, in: Dies. (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 11-32, hier S. 14.) Doch nicht nur die signifikanten Differenzen der Räume werden durch die Bewegung des Schmugglers sichtbar, sondern auch die Bewegungen des Protagonisten selbst sind extrem unterschiedlich. Während er in dem Ausgangsraum flaniert und den reichen Kaufleuten in dem Wissen um seine Unentbehrlichkeit mit großem Selbstbewusstsein gegenübertritt, bewegt er sich durch das Grenzland sehr langsam und mit höchster Konzentration, um nicht von ›seinem‹ Weg abzukommen, und versucht schließlich in dem Raum, in dem er die Waren kauft, möglichst unauffällig zu wirken. So beeinflussen die unterschiedlichen Räume

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hang wird auf verschiedene Arten von Minen hingewiesen, die aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften je eine spezielle Handhabung verlangen, woran bereits anschaulich wird, dass sich das Grenzland nicht durch eine einzelne, klar definierbare Bedrohung auszeichnet, sondern durch verschiedene Gefahren, die unterschiedliche Gestalt annehmen und nicht sofort erkennbar sind. Diese undefinierbare Gefahr potenziert sich noch bis zum Äußersten, da auf der einen Seite die Minen durch die von Regenfällen verursachten Erdrutsche in die Täler gelangen (vgl. GL 63), sich die Gefahr damit in steter Bewegung befindet, und auf der anderen Seite das verminte Gebiet selbst nicht klar verortbar ist, sondern eher Mutmaßungen darüber angestellt werden können, welche Teile der Landschaft vermint sind und welche nicht: »Westlich erstreckte sich das verminte Gebiet bis hinab zum Fluß, im Osten lag zwar kein ausgewiesenes Minenfeld, aber niemand ging dort spazieren, weil es nicht sicher war. […] Die deklarierten Minenfelder waren sozusagen die ungefährlichsten. Doch gerade ein Gebiet wie das im Osten galt als völlig unbetretbar, ja, man konnte sich ihm nicht einmal nähern, da man nicht wußte, wo genau es begann.« (GL 60)

Hier wird die zentrale Funktion der Grenze, Räume zu definieren und damit sowohl semantisch aufzuladen als auch zuordbar zu machen, ausgehebelt – die durch die verminten Gebiete ausgehende Gefahr ist nicht verortbar, sie kann potentiell überall auftreten. Trotz der zunächst unbestimmten Verortung des Grenzraumes gibt es doch Grenzposten, die eine genaue Festlegung der Grenze zwischen dem »Länderdreieck« (GL 30) markieren. Diese Posten sind von Soldaten, die als Wächter über die Grenze fungieren, besetzt, zu denen der Schmuggler in einem besonderen Verhältnis steht. Seine Tätigkeit ist, wie der sprechende Name bereits deutlich zeigt, illegal. Die Soldaten, die an der Grenze postiert sind, wissen darum, weshalb sie und der Protagonist ein ritualisiertes Spiel vorführen, das stets mit der Ankunft des Schmugglers an der Grenze beginnt (»Sie wußten zwar nie genau, wann er kam, rechneten aber mit ihm« [GL 105]) und darin mündet, dass er den Soldaten Geld, den sogenannten »Eintrittspreis« (ebd.), aushändigt, damit sie ihn ungehindert die Grenze passieren lassen. Die klar hierarchisierende Rollenverteilung wird trotz des »fröhlich[en]« (GL 106) Auftretens des Schmugglers zunächst strikt eingehalten: Der Schmuggler wird als Bittsteller und die Soldaten werden als Machtinhaber inszeniert. Zudem haben die Grenzwächter und der Schmuggler Verständigungsprobleme, da die Soldaten zumeist aus entlegenen Teilen des Landes stammen, wodurch sie, wie der Erzähler lakonisch zusammenfasst, »wie Besatzer im eigenen Land« (GL 107) wirken. Gerade diese Assoziation ist im Kontext des gerade vergangenen Krieges bedeutend für die Semantisierung des Soldatenbildes und verweist auf die exponierte Stellung der Soldaten. Erst wenn zwischen dem Protagonisten und den Soldaten »das Eis gebrochen« (GL 108) ist, was Ersterer intentional durch das Erzählen verschiedener, lustiger Geschichten zu erreichen versucht, wandelt sich das Verhältnis: »[D]ie Baracke war ein Ort außerhalb der normalen Ordnung geworden.« (Ebd.) Der Container wird also das Verhalten der Figur, seine Bewegungen werden durch sein Wissen um den Charakter des jeweiligen Raums determiniert und passen sich dem an.

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zu einem Raum, der eine neue Ordnung formiert, eine, die nicht an die Ordnung des Irak gebunden ist, sondern in der andere Gesetze, die Gesetze der Grenze, gelten. Durch die Inszenierung dieses an eine groteske Szenerie grenzenden Spiels werden die Konnotationen, die mit dem Berufsbild von Soldaten in der Funktion der staatlichen Exekutive verbunden sind, unterlaufen; sie erweisen sich als korrupt und bestechlich. Durch die dargestellte Routine, die sich zum einen in der Reisevorbereitung des Schmugglers zeigt (er berechnet vor dem Antritt seines Weges die Schmiergelder mit ein) und zum anderen in seinem methodischen Wissen über das von ihm erwartete Verhalten, wird dem Rezipienten vorgeführt, dass dieses Spiel innerhalb der Normalitätsgrenzen8 der erzählten Welt verläuft. Somit stellt der Roman ein spezifisches Soldatenbild aus, das jedoch kein homogenes ist, wie eine andere Szene zeigt. Der Protagonist wird bei einem seiner Versuche, die Grenze wieder in Richtung seines Heimatlandes zu überqueren, von zwei jungen Soldaten überrascht (vgl. GL 153), die ihn brutal zusammenschlagen, gefangen nehmen und foltern.9 Bereits zuvor hatte er die türkischen Streitkräfte, die einem Sonderkommando mit dem Auftrag »die kurdischen Freischärler in den Bergen zu vernichten« (GL 135) angehören, in der Stadt gesehen, in der er sich aufhielt, um die beauftragten Waren zu kaufen. Haben bereits die Grenzsoldaten einen gewissen Machtstatus inne, der ihnen erlaubt, den Schmuggler festzusetzen bzw. an der Überquerung der Grenze zu hindern, ist die Macht dieser Soldaten um ein Vielfaches größer: »Wie immer, wenn so etwas geschah, waren sie offiziell auf der Jagd nach Terroristen, was bedeutete, daß sie im Operationsgebiet praktisch vollkommen freie Hand hatten.« (GL 146f.) Die staatlich lizensierte ›Jagd‹ auf Terroristen findet also ebenfalls im Grenzland statt, was die negative, gefahrenvolle Semantisierung dieser Schwelle noch potenziert. Zudem verweist gerade die in diesem Kontext stehende Nennung der Kurden auf den realhistorischen Aufstand kurdischer und schiitischer Gruppierungen im Irak 1991, der von den Soldaten Saddam Husseins niedergeschlagen worden war. Der Zweite Golfkrieg, dessen Ausgang – die militärische Niederlage der irakischen Armee gegen die von den USA angeführten internationalen Streitkräfte – direkt im Zusammenhang mit den Aufständen steht, wurde bereits durch eine Analepse, im Kontext der ersten Begegnung zwischen der Figur Beno und dem Schmuggler, in dem Roman erwähnt. 8

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Vgl. zur theoretischen Grundlegung des Normalismus: LINK, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 4 2006. Die dargestellte Brutalität und die vorgeführte Erniedrigung des Schmugglers, beispielsweise durch das Urinieren auf seinen Kopf (vgl. GL 165), stehen, ebenso wie die inszenierte Professionalität der Verhörmethode, im scheinbaren Gegensatz zu dem jugendlichen Alter der Peiniger, das der Schmuggler bereits bei der Festnahme erkannt hat. Signifikant ist neben der Unbestimmtheit des Ortes, an den der Protagonist verschleppt wurde, dass bis zum Ende der Szene und auch im Nachhinein weder expliziert wird, warum der Schmuggler gehen durfte, noch, was die Soldaten des Sonderkommandos von ihm zu erfahren hofften. Diese Willkür im Zusammenhang mit der Behandlung und der Festnahme des Schmugglers, der zwar einer illegalen Tätigkeit nachgeht, jedoch deutlich nicht als Anhänger einer terroristischen Organisation gezeichnet wird, lässt die uneingeschränkte Macht der Soldaten und des Staates, der sie dazu legitimiert, besonders hervortreten.

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Im Fokus der Beschreibung des »großen Krieg[es] mit den USA« (GL 37) steht zum einen das explizit genannte asymmetrische Verhältnis in Bezug auf die Waffen der involvierten Parteien – ihrem Auftrag nach sollten die irakischen Soldaten einen Hubschrauber-Angriff der Amerikaner abwehren, waren aber lediglich mit Gewehren ausgestattet. Damit zusammenhängend wird zum anderen das Fremdbild der amerikanischen Soldaten deutlich: »›Leise und schnell wie Insekten‹, sagte er [Beno]. Schlimmer noch war aber die Tatsache, daß die Besatzungen dieser Hubschrauber, wie er meinte, aus reinen Killern bestanden, vor allem wenn sie nachts im Einsatz waren.« (GL 46) Dieses Verhalten der Amerikaner wird von der Figur mit der waffentechnologischen Überlegenheit erklärt, denn das Display, das sie für diese nächtlichen militärischen Aktionen benutzten, führe dazu, dass die irakischen Truppen entmenschlicht werden, sodass die amerikanischen Soldaten keine Hemmungen hätten, zu schießen: »Wir sahen für sie aus wie weiße Tiere, die sich viel zu langsam bewegen. Sie konnten einfach nicht danebenschießen.« (Ebd.) So werden die Erinnerungen an diese real-historischen Ereignisse mit dem Merkmal der Asymmetrie10 aus der Perspektive eines kämpfenden irakischen Soldaten in dem Roman aufgenommen. Diese stehen im Kontrast zu den, gerade im Kontext des Zweiten Golfkrieges überwiegend durch das amerikanische Militär beeinflussten,11 medial propagierten Vorteilen, die mit dem Schlagwort eines ›sauberen Krieges‹ verbunden sind. So wird darauf aufmerksam gemacht, dass derartige Bewertungen unmittelbar mit dem Standpunkt der jeweiligen Kriegsakteure verbunden sind und zugleich gezeigt, dass die Seite der irakischen Truppen in derartigen medialen Darstellungen vornehmlich ausgeschlossen wurde. Die staatlich-diktatorische Atmosphäre wird nicht nur durch die umfänglich bevollmächtigten Soldaten, sondern auch durch eine andere Gruppe verkörpert: durch die Beamten des Roten Hauses, dem Hauptquartier der Inneren Sicherheit (vgl. GL 70). Anhand dieses Figurenkollektivs wird eine weitere Grenzziehung markiert, die zwischen den zivilen Figuren und den Figuren dieser Behörde verläuft. Sie wird vor allem durch das Überwachungssystem charakterisiert, dem auch der Schmuggler ausgesetzt ist und das mit verschiedenen Bedrohungen verbunden ist,12 durch die ein 10 Vgl. zu der asymmetrischen Kriegsform: MÜNKLER, Herfried: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2006. 11 Vgl. SCHRADER, Gunther: Zensur und Desinformation in Kriegen, in: Albrecht, Ulrich/ Becker, Jörg (Hrsg.): Medien zwischen Krieg und Frieden. Baden-Baden: Nomos 2002, S. 45-54, hier S. 51. 12 Exemplarisch ist dafür die Stelle, an der beschrieben wird, dass der Protagonist im Begriff ist, in die Hauptstadt zu fahren, um sein durch den Schmuggel erworbenes Geld von Schwarzhändlern in Dollar umtauschen zu lassen. Zuvor wird er vermeintlich zufällig von der Figur Beno angesprochen, der im Roten Haus arbeitet. Als ein staatlicher Beamter stellt Beno sich allerdings nicht vor: »Der Schmuggler versuchte, den Mann irgendwo einzuordnen. Er war gekleidet wie ein wohlhabender Zivilist, aber seine unverhüllte Neugier deutete auf einen Militär.« (GL 36) Gerade das Problem der Unzuordbarkeit macht den Protagonisten vorsichtig, während sich der andere auffällig ungezwungen gibt. Dass dieses Verhalten nur vorgetäuscht ist, zeigt sich spätestens dann, als er den Schmuggler vor Leuten warnt, die »einem sehr gefährlichen Beruf – kann man das so nennen? – nachgehen.« (GL

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Machtverhältnis wirkt, wie Foucault es theoretisch ausgearbeitet hat: als Handeln, das auf das Handeln Anderer Einfluss hat.13 Das Handeln der Behörde beschränkt sich nicht nur auf die unsichtbare Überwachung, sondern wird jetzt auf das Informieren des Schmugglers ausgeweitet. Diese Maßnahmen sollen das Handeln des Protagonisten, nämlich von nun an Informationen über das Grenzland zu übermitteln,14 beeinflussen; so formt sich der Diskurs sein Subjekt. Der Schmuggler beugt sich, vorrangig aufgrund der Drohungen implizierenden Aussage, dass auch sein Sohn überwacht wird,15 und liefert Informationen über das Grenzgebiet – zum einen über seinen genauen Weg durch das Minengebiet und zum anderen über die Gruppe der Freischärler, über deren Begegnung in einer Analepse berichtet wird. Als jemand aus dieser Gruppe versucht, den Schmuggler auf seinem Weg durch das Grenzland auszurauben, erkennt dieser, dass es sich nicht um einen Erwachsenen, sondern um ein Kind handelt, und zudem, dass es zwar Militärkleidung trägt, seine Waffe jedoch lediglich eins jener Holzgewehre ist, »die von schlecht ausgerüsteten Soldaten zum Exerzieren benutzt werden« (GL 120f.). Damit wird in dem Roman auf das Phäno58) Deutlich, obwohl signifikanter Weise unausgesprochen, ist hier von Schmugglern die Rede. Vor allem das Umtauschen in Dollar, also genau das, was der Protagonist gerade vorhat, sei jetzt unter Strafe gestellt: »Für ein paar von diesen Dollars – das kannst du vielleicht weitererzählen – wird jetzt die Hand, die gierige Hand, abgehackt. Auf größere Summen steht der Tod. Ich sage dir das, damit du weißt, wer in welcher Gefahr ist, wenn er hierher kommt.« (GL 58f.) Diese kaum verhüllte Drohgebärde wird durch die einleitende Aussage »auch wenn es dich nicht betrifft« (GL 58) nur noch verstärkt. 13 Vgl. FOUCAULT, Michel: Wie wird Macht ausgeübt?, in: Ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskurs und Medien, hrsg. v. Jan Engelmann. München: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 187-201, hier S. 192. 14 Auch hieran zeigt sich die aufgrund seiner Tätigkeit exponierte Stellung des Protagonisten, die bereits im Zusammenhang mit der übrigen Bevölkerung seiner Heimatstadt angesprochen wurde. Während es dort die Waren sind, die er überbringen soll, sind es hier die für die staatliche Verfolgung der ›Terroristen‹ – denn darauf zielt der Mitteilungswunsch ab – notwendigen Informationen zum Beispiel über deren Aufenthaltsorte, die fast ausschließlich der Schmuggler durch das permanente Überqueren des Grenzlandes besitzt. Hier ist zugleich erkennbar, dass dieser nicht hilf- und vor allem machtlos dem Roten Haus gegenübersteht, sondern dass er ein »freie[s] Subjekt« (FOUCAULT, Michel: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 194.) ist, dessen eigene Macht darin besteht, seine Informationen weiterzugeben oder nicht bzw. zu sondieren, worüber er berichtet. 15 Es wird dem Schmuggler mitgeteilt, dass sein Sohn in der Koranschule »die falschen Freunde« (GL 82) gewonnen habe. Diese Gruppierung wird in dem Roman als ›Islamische Bewegung‹ bezeichnet und auch hier zeichnet sich die scheinbar unbegrenzte Macht der Inneren Sicherheit ab: Sie sei, wie Beno dem Schmuggler mitteilt, lediglich eine »geduldete Organisation. Das bedeutet gar nichts. Die Islamisten können schon morgen verboten und zur Hölle geschickt werden.« (GL 82f.) Neben der so aufgezeigten Willkür ist bedeutsam, dass auch der Schmuggler selbst bzw. seine Tätigkeit als ›geduldet‹ klassifiziert wird: »Du bist ein geduldeter Kleinkrimineller.« (GL 113) In Zusammenhang gebracht unterstreicht dies die Atmosphäre der Überwachung und Macht, die von der Inneren Sicherheit ausgeht.

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men der Kindersoldaten aufmerksam gemacht, das Herfried Münkler aus politologischer Sicht als Charakteristikum der ›neuen Kriege‹ im Zusammenhang der Entmilitarisierung der Gewalt ausmacht.16 In der literarischen Darstellung werden diese als ›Freischärler‹, also als Guerillagruppe, bezeichnet, die in »Maulwurfgräben ›operieren‹, die noch vom Krieg herrührten und vom Feind angelegt worden waren« (GL 120). Auch hier zeigt sich, dass der bereits beendete Krieg zumindest im Grenzland noch anwesend, seine Auswirkungen noch spürbar sind. Der Schmuggler hingegen kann sein Zusammentreffen mit dem Kind und der Bezeichnung, die eine militärische Organisation impliziert, gedanklich nicht miteinander vereinbaren: »eine Kinderarmee mit Spielzeugwaffen, schlimmstenfalls.« (GL 121) Bedeutsam ist hier neben der so ausgestellten Differenz zwischen dem Wissen des Schmugglers und dem öffentlich Sagbaren der stete Verweis darauf, dass Kinder bzw. Jugendliche – sei es in Form der Freischärler, in Form von Soldaten oder auch in Bezug auf seinen dreizehnjährigen Sohn, der sich potentiell zum Terroristen entwickelt – an der ausgeübten Gewalt unmittelbar beteiligt sind, was zum einen die Semantisierung des Iraks stark beeinflusst und zum anderen ein zentrales Merkmal der neuen Kriege ausstellt. Nachdem die Innere Sicherheit diese Informationen von dem Schmuggler erhalten hat, versiegen die Mitteilungen über das Verbleiben des Sohnes gänzlich, er erlangt keinen Zugang zum diskursiven Wissensraum, weil das Rote Haus ihm diesen verweigert. Der Protagonist versucht, die Grenze zwischen sich und der Behörde zu überwinden, indem er die Informationen liefert, die sie benötigt, das Rote Haus aber, dessen Macht dezentriert und undurchsichtig ist,17 hält die Grenze aufrecht, wodurch sie für den Schmuggler unüberwindbar wird, was schließlich zum Scheitern dieser Grenzüberschreitung führt. Die Innere Sicherheit mit ihrer allgegenwärtigen und scheinbar übergroßen Macht generiert sich auf diese Weise mittels ihrer hierarchischen Struktur einen Wissens- und Sagbarkeitsraum, verweigert aber anderen Subjekten den Zugang dazu, wodurch sie sich ihre Stellung sichert, und verweist damit zugleich auf die enge Wechselbeziehung von Wissen und Macht. Der Protagonist, der wortwörtlich ein geographischer Grenzgänger ist, wird in dieser Situation zu einer unbeweglichen Figur, die die soziale Grenze nicht übertreten kann. Somit stellt der Roman keinen diskursiven Aushandlungsprozess aus, sondern zeigt einen starren, mit Grenzen durchzogenen Ist-Zustand, der durch die Praktiken der Figuren sichtbar wird. Dass der Schmuggler sich weder über die Methoden der Inneren Sicherheit noch über die ausgeübte Gewalt zu wundern scheint, suggeriert 16 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Was ist neu an den neuen Kriegen? Eine Erwiderung auf die Kritiker, in: Geis, Anna (Hrsg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden: Nomos 2006, S. 133-150, hier S. 134. 17 Der Unterschied zwischen der »traditionellen Macht« und der Disziplinarmacht besteht laut Foucault darin, dass Erstere gerade darauf angewiesen ist, sich zu zeigen und sich kundzutun, die Disziplinarmacht hingegen dies in das Gegenteil verkehrt: »[S]ie setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt. […] Es ist gerade das ununterbrochene Gesehenwerden, das ständige Gesehenwerdenkönnen, … was das Disziplinarindividuum in seiner Unterwerfung festhält.« (FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 241.)

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Normalität in Bezug auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse des dargestellten Irak. Obwohl in der Romangegenwart der Zweite Golfkrieg bereits beendet ist, bildet er den Hintergrund der Erzählung – der Krieg wirkt auf allen gesellschaftlichen und staatlichen Ebenen. Diese allgegenwärtige Präsenz des Krieges wird zum einen inszeniert durch die die zentralen Strukturen der neuen Kriege (wie beispielsweise die waffentechnologische Asymmetrie) thematisierenden Analepsen, kommt aber auch in der Beschreibung gegenwärtiger Phänomene wie der Involvierung von Kindersoldaten oder auch dem Agieren terroristischer Organisationen zum Ausdruck. Zum anderen wird die Präsenz des Krieges in der Darstellung des Figurenkollektivs der Soldaten deutlich, das uneingeschränkte Befugnisse besitzt, was auch die Festnahme und das Foltern von Zivilisten einschließt und so primär physische Gewalt umfasst. Damit zusammenhängend wird die staatlich-diktatorische Seite durch das Rote Haus repräsentiert, dessen Beamte mit psychischem Druck in der Form vollkommener Überwachung arbeiten. Alle diese Ebenen vereinen sich in dem Grenzland. Dort agieren die verschiedenen Akteure – die Freischärler, die sich dort verstecken, die Soldaten, die sie jagen, das Rote Haus, das versucht, Informationen darüber zu sammeln. Das Grenzland ist somit ein Kampfgebiet, um dessen Vorherrschaft gerungen wird. Aber mehr noch: Mit seinen unterschiedlichen Gefahren, seiner Unberechenbarkeit und seiner Undefinierbarkeit, die einer klaren Einordnung entgegenstehen, symbolisiert das Grenzland regelrecht den Krieg und dessen Strukturen. Dieses literarische Beispiel weist direkt in das Zentrum dieser Arbeit: die Grenzverhandlungen in der Darstellung und Verarbeitung der neuen Kriege. In diesem Zusammenhang sind die sich auf verschiedenen Ebenen manifestierenden Folgen der terroristischen Anschläge auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington D.C. vom 11. September 2001 entscheidend. In politischer Hinsicht lag die Konsequenz in dem Aufruf des damaligen US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush zum ›Krieg gegen den globalen Terror‹. In diesem Kontext folgten die Kriege gegen das Taliban-Regime in Afghanistan 2001 und gegen den Irak 2003. Unmittelbar nach den Anschlägen verpflichtete sich Deutschland zur Solidarität mit den USA und damit verbunden zur Unterstützung jeglichen Vorhabens gegen die terroristischen Netzwerke. Daraus folgte unter anderem die Entsendung deutscher Soldatinnen und Soldaten in die sogenannten »Krisengebiete«18: Die Bundeswehr beteiligte sich an der Operation ›Enduring Freedom‹ und am ISAFEinsatz19 in Afghanistan sowie an der Ausbildung der irakischen Sicherheitskräfte in Kuweit und den Vereinigten Arabischen Emiraten. In medialer Hinsicht haben die Terroranschläge ebenfalls Konsequenzen nach sich gezogen. Durch die Fernsehübertragung konnten Zuschauer in Echtzeit mitverfolgen, wie das zweite Flugzeug in den südlichen Turm der ›twin towers‹ am 11. 18 Der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) hat im Zusammenhang mit dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan niemals von ›Krieg‹ bzw. ›Kriegshandlungen‹ gesprochen. Auch sein Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg bezeichnete die Situation in Afghanistan nicht als Krieg, sondern als ›kriegsähnliche Zustände‹. 19 International Security Assistance Force.

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September 2001 flog. Auch die unmittelbaren kriegerischen Folgen des Anschlages wurden detailliert, zumeist in bewegten Bildern, dokumentiert. Die Medien gelangen hier zu einer besonderen Stellung, da sie stark den öffentlichen Diskurs beeinflussen und dementsprechend bewusst eingesetzt werden können – und zwar sowohl von der staatlichen Seite, die die terroristischen Organisationen bekämpft, als auch von den Terroristen selbst. Der Strategie Letzterer ist eine besondere Medienwirksamkeit inhärent, da Terroranschläge explizit auf psychische Folgen und Manipulation abzielen.20 Damit wird eine neue Dimension der Verknüpfung von Krieg und Medien, nämlich Medien als Informations-, aber auch als Kampfmittel zu instrumentalisieren, erreicht. Dies gilt besonders für bewegte Bilder, jedoch auch für die Literatur, die sich mit Fotografien, Filmen und Dokumentationen, also vornehmlich technischen Medien, in einem besonderen Spannungsfeld der »Medienkonkurrenz«21 befindet. Vor allem durch die Involvierung deutscher Soldaten und Soldatinnen rückt das Themenfeld der neuen Kriege vermehrt in den Fokus der deutschsprachigen Literatur. Kriege als literarisches Thema weisen indes eine lange Tradition auf. So konstatiert Susi Frank, dass der Krieg neben der Liebe das älteste Thema der Literatur sei, was sich bereits an den homerischen Epen, dem Anfang der abendländischen Literatur, ablesen lasse.22 Der Literatur kommt dabei eine besondere Funktion zu: »Seit je wurden Kriege mithilfe von Narration als gerechte Kriege bzw. Verteidigungskriege legitimiert oder als ungerechte Kriege (z.B. Überfall gegen Wehrlose) verurteilt, als entscheidende historische Ereignisse konstruiert, als zentraler Bestandteil von Gründungs- oder anderen Anfangsnarrativen (Befreiung, Wiedergeburt etc.) oder auch von Untergangs- oder Endnarrativen (Apokalypse) eingesetzt.«23

Neben diesem literarischen Urteil über Kriege, das potentiell Einfluss auf die Einstellungen der Rezipienten nimmt, kommen in der Literatur auch bestimmte Abgrenzungsmechanismen zum Tragen, die die kollektive Identität stärken (sollen) und den ›Feind‹ als Bestimmbaren werten, der ›anders‹ als man selbst ist – zumeist böse.24 20 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 22005, S. 177; HOFFMANN, Bruce: Terrorismus – der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt. 2. erweiterte und aktualisierte Ausgabe. Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 305ff.; WALDMANN, Peter: Terrorismus. Provokation der Macht. Hamburg: Murmann 1998, S. 10ff. 21 Vgl. dazu KARPENSTEIN-ESSBACH, Christina: Zur Präsenz von Neuen Kriegen in der Literatur und ihren Gattungen, in: Weimarer Beiträge (56) 2010, S. 5-29, hier S. 5ff. 22 FRANK, Susi K.: Einleitung: Kriegsnarrative, in: Borissova, Natalia/Frank, Susi K./Kraft, Andreas (Hrsg.): Zwischen Apokalypse und Alltag. Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript 2009, S. 7-40, hier S. 10f. 23 Ebd., S. 7. 24 Joachim Utz stellt in seiner Untersuchung von englischen und deutschen Hassgedichten im Kontext des Ersten Weltkrieges heraus, dass hier vielfach versucht wurde, den Charakter des jeweils ›Anderen‹ zu diffamieren. So habe sich bei den Engländern beispielsweise ein »Staatsverständnis entwickelt, in dem die Sicherheit und Behaglichkeit des Individuums den höchsten Rang« einnehme, was zu einer »außerordentlichen Wesensverflachung« ge-

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Die Identitätsstärkung der Gruppe erfolgt auch dadurch, dass »die eigene Geschichte in einen größeren historischen Zusammenhang gestellt [wird] (sei es heilsgeschichtlich, sei es weltgeschichtlich)«25. Manuel Köppen macht darauf aufmerksam, dass schriftliche oder filmische Medien selbstverständlich nicht widerspiegeln können, wie Kriege waren, aber man könne an ihnen ablesen, wie Kriege gesehen wurden und damit zugleich Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen und politischen Mechanismen der jeweiligen Zeit ziehen: »Die Sichtweisen auf das kriegerische Geschehen unterliegen dabei den verschiedensten Einschreibungen: den jeweiligen kulturellen oder auch nationalen Realitätskonstruktionen, den tradierten und immer wieder korrigierten bzw. neu formulierten Darstellungsschemata, die sich in den verschiedenen Medien – und dies unter wechselseitiger Beeinflussung – herausgebildet haben, und nicht zuletzt den je spezifischen Darstellungsmöglichkeiten der Medien selbst.«26

Hier zeigt sich aber auch, dass sich literarische Texte zu aktuellen oder vergangenen Ereignissen positioniert – »geschichtlich reflektierte Zeitgenossenschaft«, so Braungart, avancierte in der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg besonders in Deutschland »zu einem moralischen und ästhetischen Imperativ wie nie zuvor.«27 So sei alles Tun, alles Sprechen und damit auch die Literatur ein integraler Bestandteil der »geschichtlich-kulturelle[n] Semantik«28. Diese auf die Gegenwartsliteratur allgemein bezogene Beobachtung scheint im Kontext von Kriegsliteratur noch um ein Vielfaches gesteigert. Hierbei ist jedoch auch zu beachten, dass die Wirkungsweise und Rezeption von Literatur auch abhängig von dem Diskurs ist, an dem sie teilhat: »Wenn die Worte fehlen, um Vernichtung zu bezeichnen, so liegt das möglicher-

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führt habe. (UTZ, Joachim: Der Erste Weltkrieg im Spiegel des deutschen und englischen Haßgedichts, in: Assmann, Jan/Harth, Dietrich (Hrsg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 373-413, hier S. 377.) In England wurden die Deutschen indes zum Beispiel als »Hunnen« bezeichnet, was ihre Exkommunikation und damit auch eine Legitimation für den Krieg impliziere: »Der Krieg ist kein Kampf zwischen verfeindeten Glaubensbrüdern mehr, sondern der Kampf des Einen Gottes gegen einen von vielen Götzen und dessen Diener. Diese Ausgrenzung der Deutschen aus einer gemeinsamen europäischen Familie verwandelt sie aus Feinden in Verbrecher, die in einem Krieg vernichtet werden dürfen, der nicht mehr gehegt werden kann.« (Ebd., S. 396f.) FRANK, Susi K.: Einleitung: Kriegsnarrative, S. 11. KÖPPEN, Manuel: Das Entsetzen des Beobachters. Krieg und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Heidelberg: Winter 2005, S. 1. BRAUNGART, Wolfgang: Gegenwärtigkeiten der Literatur. Notizen zur Einführung. Am Beispiel dreier Gedichte Eduard Mörikes, Uwe Kolbes und Dirk von Petersdorffs, in: Ders./Laak, Lothar van (Hrsg.): Gegenwart – Literatur – Geschichte. Zur Literatur nach 1945. Heidelberg: Winter 2013, S. 9-26, hier S. 11. Ebd.

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weise nicht am Autor, sondern ist ein Zeichen, daß derartige Beschreibungen als unzumutbar angesehen und nicht geduldet werden.«29 Die Literatur, die die neuen Kriege thematisiert, unterscheidet sich sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht sehr deutlich von derjenigen über die Kriege des 20. Jahrhunderts. Die offensichtlichen Gründe liegen in der real-politischen Situation der Kriege und der Eingebundenheit der Bevölkerung. Zum einen sind vergleichsweise wenig Soldaten und Soldatinnen im Einsatz und zum anderen befindet sich, anders als bei den beiden Weltkriegen, der Ort des Kriegsgeschehens gänzlich im Ausland, wodurch für die Bevölkerung keine unmittelbare Kriegserfahrung entsteht. Dies könnte in erster Linie ein Grund für die Quantität der Romane sein, die in den letzten Jahren zu der Thematik der neuen Kriege in deutscher Sprache verfasst wurden. Aber auch die qualitative innerliterarische Auseinandersetzung ist different. Während sich die Texte über den Ersten Weltkrieg durch ein Fehlen »gedanklicher und sprachlicher Formen des Ausdrucks«30 auszeichnen, da die vorbildlosen Ereignisse dieses Krieges außerhalb der Ordnung des Denkens lagen, verfolgt vor allem eine literarische Linie der Nachkriegsliteratur des Zweiten Weltkriegs einen »›harten‹ Realismus«31. Diese möglichst realistische, naturalistische Schreibweise versucht nichts zu beschönigen und besteht auf Authentizität, was mit den Begriffen ›Stunde Null‹ und ›Kahlschlag‹ verbunden wird, um sich nach dem Krieg von jeglicher etwaigen (nationalsozialistischen) Ideologie freizumachen.32 Im literarischen Diskurs über die neuen Kriege hingegen findet die Fiktionalität einen großen Raum, wobei hier weniger das Diktum der Authentizität suggerierenden Augenzeugenschaft33 fokussiert wird, sondern eher die literarische Verarbeitung und 29 HEUKENKAMP, Ursula: Zwang zur Erinnerung, Lust zum Vergessen, in: Dies. (Hrsg.): Militärische und zivile Mentalität. Ein literaturkritischer Report. Berlin: Aufbau 1991, S. 723, hier S. 9f. 30 Ebd., S. 9. 31 CALZONI, Raul: Krieg und Zivilisationsbruch. Einleitung, in: Agazzi, Elena/Schütz, Erhard (Hrsg.): Handbuch Nachkriegsliteratur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945-1962). Berlin/Boston: De Gruyter 2013, S. 141-152, hier S. 147. 32 Norman Ächtler macht plausibel, dass eine derartige Abwendung von nationalsozialistischem Gedankengut sogar in den Opfernarrativen der Wehrmachtsoldaten zum Tragen kommt. Diese zunächst paradox anmutende Abkehr macht Ächtler an der Metapher des Kessels anschaulich: So seien die Wehrmachtsangehörigen zwischen zwei Seiten eingekesselt gewesen, »zwischen dem militärischen Gegner auf der einen und der eigenen militärischen Obrigkeit auf der anderen Seite.« (ÄCHTLER, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945-1960. Göttingen: Wallstein 2013, S. 9.) Dadurch wird der »persönliche Kampfeinsatz zur bloßen reaktiven Überlebensstrategie reduziert und bekommt, wo er sichtlich für eine falsche Seite geleistet wurde, ›tragische‹ Qualität verliehen.« (Ebd.) 33 Heukenkamp macht deutlich, dass die Qualität der Kriegsbücher wie beispielsweise Remarques Im Westen nichts Neues darin liege, beschrieben zu haben, ›wie es war‹, und »den Krieg des kleinen Mannes und Frontsoldaten so zur Sprache« zu bringen, dass auch die Zivilbevölkerung daran teilnehmen konnte. (HEUKENKAMP, Ursula: Zwang zur Erinnerung, Lust zum Vergessen, S. 15.)

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Aufbereitung von Kriegen, die die Bevölkerung nicht unmittelbar erlebt und die zudem noch stark an andere, potentiell als fremd wahrgenommene Kulturen gebunden sind. Die Forderung der Rezipienten nach einer literarischen Darstellung dessen, was sie erlebt haben, wie sie besonders nach dem Zweiten Weltkrieg an den Werturteilen über die Literatur abzulesen ist,34 kann die Literatur über die neuen Kriege aufgrund der fehlenden Antizipation der Zivilgesellschaft an den Kriegen somit kaum erfüllen. Ob sie hingegen einer anderen Forderung nachkommt, nämlich jener nach einer Deutung der Kriegsereignisse,35 ist ein Teil der folgenden Untersuchung. Dass eine derartige Deutung im Kontext der neuen Kriege besonders relevant ist, liegt nicht nur daran, dass der Rezipient aus der Zivilbevölkerung diese wahrscheinlich nicht mit seinem eigenen Erfahrungsraum abgleichen kann (dafür aber umso mehr mit anderen medialen Darstellungen), sondern auch daran, dass nach den politischen Veränderungen nach 1989 und im Zuge der Globalisierung starre duale Konzepte wie Kommunismus | Kapitalismus oder Osten | Westen entfallen, was auch bedeutet, dass sich die globalen Machtverhältnisse verschoben haben und spezifische Erklärungsmuster nicht mehr greifen: »An die Stelle einer ›binären‹ Systemopposition, wie sie für das 20. Jahrhundert noch weithin bestimmend war, ist eine Vielzahl neuer ›unübersichtlicher‹ Konfliktlagen getreten, die vielfach nicht mehr nach dem alten, allzu reduktionistischen Muster des Kampfes zwischen verfeindeten Nationalstaaten sowie der Systemkonfrontation zwischen zwei feindlichen Blöcken zu interpretieren sind.«36

Die hier postulierte ›Unübersichtlichkeit‹ steht im Konnex mit der Form der gegenwärtigen Kriegsgeschehnisse, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 vermehrt theoretisch untersucht und von Herfried Münkler unter dem Theorem der ›neuen Kriege‹ subsumiert werden. Diese Kriegsform habe sich zunehmend seit dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet und kann in drei Typen eingeteilt werden: die Ressourcenkriege an der Peripherie, die Pazifizierungskriege und die Verwüstungskriege (z.B. Terrorismus).37 Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Typen, dass sie drei zentrale Charakteristika aufweisen: Entstaatlichung, Asymmetrie und Automatisierung der kriegerischen Gewalt.38 Daraus werden von Münkler wiederum besondere Entgrenzungsphänomene für die neuen Kriege abgeleitet, die sich nicht lediglich auf eine von ihm ausgemachte entgrenzte Gewalt beziehen, sondern auch auf scheinbar klar definierte Parameter des Krieges wie Raum, Zeit und die Unterscheidung zwischen Kombattant und Zivilist. All diese sich durch Entgrenzung aus34 Vgl. ebd., S. 17f. 35 Vgl. ebd. 36 GANSEL, Carsten/KAULEN, Heinrich: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien von 1989 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, in: Dies. (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 9-12, hier S. 10. 37 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, in: Frech, Siegfried/Trummer, Peter I. (Hrsg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2005, S. 13-32. 38 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 10ff. und Abschnitt I, Kapitel 1.2.

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zeichnenden Elemente, die einer Übersichtlichkeit und Ordnung entgegenstehen, machen die verschiedenen Ausprägungen der neuen Kriege nur schwer greifbar. Auf der anderen Seite jedoch verlangt gerade die spezifische Situation des Krieges nach Trennungen, Unterscheidungen und damit nach Grenzsetzungen. Denn erst durch das Ziehen einer Grenze, die in einem ganz allgemeinen Sinn einen Raum in zwei Teile teilt, können Bereiche voneinander unterschieden werden. Grenzen verleihen Räumen eine Form, eine Kontur und machen sie durch die Eingrenzung definierbar. Dadurch sind Grenzziehungen stets sinnstiftende Akte, die sich aber nicht lediglich auf den Raum beschränken, sondern auch in zahlreichen anderen Kontexten deutlich werden. Das bedeutet für die Situation des Krieges, dass erst durch Grenzsetzungen Trennungen, wie zum Beispiel zwischen Freund und Feind, Kombattant und NonKombattant, Krieg und Nicht-Krieg, überhaupt möglich sind. Im Krieg müssen nämlich genau solche expliziten Unterscheidungen vorgenommen werden, um Krieg überhaupt führen zu können. Der Aufruf des damaligen Präsidenten der USA George W. Bush zum ›Krieg gegen den Terror‹ ist der Aufruf zum Krieg gegen ein Abstraktum. Der Feind muss erst näher bestimmt und definiert werden, um ihn zu bekämpfen, hier in Form der terroristischen Organisationen der Taliban und Al-Qaida, personifiziert insbesondere in Osama bin Laden. Erst durch diese Bestimmung, durch diese Eingrenzung des Feindes, ist Kriegsführung praktizierbar. Damit bewegt sich diese Arbeit im Spannungsfeld zwischen einer Kriegsform, die sich vor allem durch das Merkmal der Entgrenzung auszeichnet, und der Notwendigkeit, Grenzen zu ziehen, Bereiche voneinander zu trennen und zu definieren. Ein Ziel dieser Arbeit ist dabei zu untersuchen, wie die deutschsprachigen Romane, die sich mit dem Bereich der neuen Kriege auseinandersetzen, mit diesem Spannungsfeld, mit der Gleichzeitigkeit von Entgrenzung und Begrenzung, umgehen und wie sie es ästhetisch verarbeiten. Die Literatur wird hier grundsätzlich als Kulturprodukt verstanden, das einerseits aus einem bestimmten kulturellen Kontext hervorgeht, aber andererseits zugleich auch auf die Kultur zurückwirkt und sie wiederum beeinflusst. Das bedeutet, dass auf die gegenwärtigen realen Kriege und auf ihre Auswirkungen Bezug genommen und referiert wird, wodurch diese Romane natürlich immer auch politische Implikationen in sich bergen. Das heißt aber auch, dass genau dieses gegenwärtige Phänomen literarisch und damit auch fiktiv verarbeitet wird, wodurch die Literatur im Besonderen durch die sich potentiell eröffnenden unterschiedlichen Perspektiven einen »kulturellen Raum semiotischen Probehandelns«39 inszeniert. Die Fragen, die in dieser Arbeit an die literarischen Texte gestellt werden, knüpfen genau an diese dialektische Verklammerung von Entgrenzung und Begrenzung an: Werden in den Romanen durch Grenzziehungen binäre Oppositionen wie Freund | Feind, Soldat | Zivilist oder auch Eigenes | Fremdes explizit konstruiert, um sie zu tradieren, zu stärken und die Kriege durch die Grenzziehungen erklärbar zu machen? Oder genau das Gegenteil: Wird versucht, diese binären Denkschemata durch literarische Entgrenzungsstrategien aufzuheben und zu unterlaufen? Kommen 39 FRANK, Gustav/LUKAS, Wolfgang: ›Grenzüberschreitungen‹ als Wege der Forschung. Zur Einführung in den Band, in: Dies. (Hrsg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Passau: Karl Stutz 2004, S. 20.

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Mechanismen der Identitätsstiftung zum Ausdruck, die stets einhergehen mit der Erzeugung von Alteritäten?40 Ergreift die Literatur die Möglichkeit, ihre tendenzielle Neigung zu formalen Entgrenzungen an diesem Thema vorzuführen, oder rekurriert sie vornehmlich auf traditionelle Erzählverfahren? Stößt die Literatur an diesem Thema an ihre eigenen Grenzen der Vermittelbarkeit41 oder erweist sie sich letzten Endes als »Kriegsgewinnler«42? Um diese Fragen zu untersuchen, wird in einem ersten Schritt der Gegenstand der Romane, die neuen Kriege, zum einen in Abgrenzung zu den vorherigen Staatenkriegen und zum anderen in Auseinandersetzung mit der Kritik an diesem Theorem, kursorisch beleuchtet. Das Ziel besteht dabei nicht darin, die kontrovers geführte politikwissenschaftliche Diskussion zu bereichern, sondern vor allem darin, eine Arbeitsdefinition für die folgende Untersuchung zu umreißen. Im Anschluss daran wird der höchst komplexe Themenbereich der Grenze fokussiert. Neben einigen theoretischen Prämissen werden drei Bereiche näher betrachtet: 



die durch die Diskurse im Sinne Michel Foucaults explizit oder implizit in Erscheinung tretenden Diskursgrenzen, die Sagbares von Nicht-Sagbarem und Wahres von Falschem trennen, sowie die interdiskursiven Grenzmechanismen nach Jürgen Link; die mit Andreas Reckwitz definierten Praktiken der Figurenkollektive, die besonders auf figuraler und symbolischer Ebene Grenzen sichtbar machen; Jurij Lotmans mit Grenzüberschreitungen verbundene Theorie des Ereignisses, die zwischen beweglichen und unbeweglichen Figuren unterscheidet.

Nach den Vorüberlegungen schließt sich ein Kapitel an, das sowohl die theoretischen Ansätze zusammenführt als auch die möglichen Untersuchungsebenen der Grenze – räumlich-zeitliche, figurale und symbolische sowie formal-ästhetische – entfaltet. Danach werden die Romane des Textkorpus in Einzeluntersuchungen betrachtet. Dieser umfasst deutschsprachige Romane, die den Themenkomplex der neuen Kriege aufgreifen und nach dem 11. September 2001 erschienen sind. Der Grund für diese zeitliche Eingrenzung liegt nicht so sehr in der viel beschworenen Zäsur dieses Datums – in den Reaktionen auf die Terroranschläge finden sich häufig Variationen

40 Vgl. ASSMANN, Aleida/ASSMANN, Jan: Kultur und Konflikt. Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns, in: Assmann, Jan/Harth, Dietrich (Hrsg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 11-48, hier S. 27. 41 Walter Benjamin prognostizierte in pessimistischer Haltung, dass es »mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht«, ein Prozess, der durch die nicht-mittelbaren Erfahrungen des Ersten Weltkrieges angestoßen worden sei und sich in den Kriegsbüchern manifestiere, die nicht die Erfahrung abzubilden in der Lage seien. (BENJAMIN, Walter: Der Erzähler, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II, Zweiter Teil, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 438-465, hier S. 439.) 42 BOHRER, Karl Heinz: Kriegsgewinnler Literatur. Homer, Shakespeare, Kleist, in: Merkur 58 (2004), S. 1-16.

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der Formulierung ›Nichts wird mehr so sein, wie es war‹43 –, sondern vielmehr darin, dass die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit durch die Anschläge verstärkt auf dieses Thema gelenkt wurde, dass die deutsche Politik mit dem Einsatz der Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen darauf reagierte und dass die kriegerischen Auswirkungen dieses Ereignisses im Mittelpunkt der meisten der hier untersuchten Romane stehen. Der Fokus auf ausschließlich epische Werke liegt zum einen in der einer detaillierten Einzeluntersuchung entgegenstehenden Fülle der Gedichte, Dramen und Romane des deutschsprachigen Raums und zum anderen in der Spezifik des Romans begründet: Der Roman ist in besonderer Weise dazu in der Lage, eine fiktionale Welt zu erschaffen, objektive Geschichtsschreibung zu imitieren oder die Psyche eines Protagonisten bzw. einer Protagonistin dazustellen, wobei die Hauptfigur häufig im Kontrast zu ihrer Umwelt steht.44 Zudem birgt gerade der Roman das Potential, andere mediale Interdiskurse aufzunehmen und zu reflektieren:45 »Dies führt zu der hochgradigen Ambivalenz, daß eine medial geschulte Wahrnehmung die Präsenz von Kriegen im literarischen Werk steigert, Beschreibungsmöglichkeiten potenziert, während zugleich die Affinität von Medien und Krieg zum Gegenstand literarischer Empörung und Kritik gemacht werden kann.«46

Daher ist die Untersuchung von Romanen im Kontext dieser Arbeit besonders Ertrag versprechend. Im Gegensatz zu der bereits vielfältigen wissenschaftlichen Thematisierung der medialen Aufbereitung der Terroranschläge vom 11. September 200147 fanden die 43 Vgl. bspw. FRANKENBERGER, Klaus-Dieter: Ins Herz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.09.2001, S. 1. Diese Reaktion, die vermehrt in Zeitungsartikeln und in Aussagen von Politikern in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Anschlägen anzutreffen ist, wird auf wissenschaftlicher Seite negiert. Vgl. dazu POPPE, Sandra/SCHÜLLER, Thorsten/SEILER, Sascha (Hrsg.): 9/11 als kulturelle Zäsur. Repräsentationen des 11. September 2001 in kulturellen Diskursen, Literatur und visuellen Medien. Bielefeld: transcript 2009; BUTTER, Michael/CHRIST, Birte/KELLER, Patrick (Hrsg.): 9/11. Kein Tag, der die Welt veränderte. Paderborn: Schöningh 2011. 44 Vgl. FLUDERNIK, Monika: Roman, in: Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. 627-645, hier S. 627. 45 So stellt Karpenstein-Eßbach im Zusammenhang ihrer Analyse von Nicolas Borns Roman Die Fälschung fest, dass »die Ausarbeitung der Konkurrenz von Literatur mit anderen Medien – im Fall von Borns Roman: mit dem Journalismus – dazu [führt], der literarischen Darstellung eine hervorgehobene Position einzuräumen, weil im Akt des ausgreifenden Erzählens, wie es gerade den Roman kennzeichnet, die Logik dieser anderen Medien zum literarischen Objekt wird. Es gehört zur Gattungsspezifik des Romans, daß in ihm eine Fernsehsendung vorkommen kann, aber nicht umgekehrt in einer Fernsehsendung das, was ein Roman zu leisten vermag.« (KARPENSTEIN-ESSBACH: Zur Präsenz von Neuen Kriegen in der Literatur und ihren Gattungen, S. 10.) 46 Ebd. 47 Vgl. u.a. REITER, Margit/EMBACHER, Hela (Hrsg.): Europa und der 11. September 2001. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2011; IRSLIGER, Ingo/JÜRGENSEN, Christoph (Hrsg.): Nine

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literarischen Darstellungen der neuen Kriege bisher kaum literaturwissenschaftliche Beachtung in übergeordneten Untersuchungen.48 Christa Karpenstein-Eßbach hat mit ihrer Monographie Orte der Grausamkeit. Die Neuen Kriege in der Literatur49 eine breit angelegte Studie vorgelegt, die sowohl Romane als auch Dramen und Lyrik einbezieht, die aus internationalen Kontexten stammen. Eine spezifisch deutsche Sicht auf die gegenwärtigen Kriege ist damit, im Gegensatz zu dieser Untersuchung, ebenso wenig ihr Ziel wie die Analyse des dialektischen Verhältnisses von Grenze und Entgrenzung. Während der internationale Aspekt von Karpenstein-Eßbach betont wird und verschiedene Gattungen in dieser Studie wesentlich breiteren Raum finden als in dieser Arbeit, ist der Untersuchungsgegenstand einer anderen Studie thematisch eingeschränkter. Die Dissertationsschrift Poetik des Terrors. Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur50 von Michael König fokussiert mit dem hermeneutischen Interpretationsverfahren besonders Texte, die um den Komplex des Terrors kreisen, wodurch auch einige der hier behandelten Romane, die den religiös motivierten Terrorismus aufgreifen, analysiert werden. Die vorgenommene Einteilung des Textkorpus folgt in dieser Untersuchung weder einer geographischen noch einer chronologischen Ordnung, sondern orientiert sich an den im Zentrum stehenden Protagonisten, wodurch sich drei Bereiche von fiktiven Kriegsakteuren – Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten, Kriegsreporter und Terroristen (bei den letzten beiden handelt es sich ausschließlich um männliche Figuren) – ausdifferenzieren. Diese Einteilung soll jedoch nicht einem strengen Kategorien-Denken dienen – jeder der Romane thematisiert zahlreiche Facetten, die ebenso in die Untersuchung einfließen –, sondern soll vielmehr die verschiedenen Perspektiven auf das Kriegsgeschehen hervorheben. In einem letzten Schritt werden einige der heterogenen Einzelergebnisse der Analysen zusammengeführt. Der Fokus liegt dabei besonders auf der Verhandlung ethischer und moralischer Implikationen, die mit dem Sprechen über den Krieg stets verbunden sind, und auf der Frage, wie sich die Romane zu dem Diskurs um die neuen Kriege positionieren.

Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001. Heidelberg: Winter 2008; LORENZ, Matthias N. (Hrsg.): Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004; Limbus. Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft, hrsg. v. Franz Josef Deiters u.a. Bd. 4: Terror und Form. Freiburg/Berlin/Wien: Rombach 2011. 48 Dazu zählen nicht die zahlreichen vorhandenen Rezensionen, die in einigen Untersuchungen Beachtung finden. Ebenso gibt es eine umfassende Studie zu den neuen Kriegen in internationalen Filmen: GREINER, Rasmus: Die neuen Kriege im Film. Jugoslawien, Zentralafrika, Irak, Afghanistan. Marburg: Schüren 2012. 49 KARPENSTEIN-ESSBACH, Christa: Orte der Grausamkeit. Die Neuen Kriege in der Literatur. München: Fink 2011. 50 KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors. Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: transcript 2005.

I. Theoretische Vorüberlegungen und Methodik

1. Theoretische Grundlagen zu den neuen Kriegen

Das Thema ›Krieg‹ ist besonders in Deutschland nach den beiden Weltkriegen mit großer Vorsicht behandelt worden und erlebte erst in den 1990er Jahren im Kontext der Beteiligung deutscher Soldaten im Serbien-Montenegro-Krieg, dem ersten militärischen Einsatz nach der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, eine öffentliche und wissenschaftliche Renaissance.1 Seitdem wird besonders auf theoretischer Ebene versucht, die (europäische) Vorstellung von Krieg mit den aktuellen politischen und militärischen Kontroversen der globalisierten Welt zu vergleichen und sie zu modifizieren.2 Bisher wurde von dem Theorem der ›neuen Kriege‹ gesprochen, ohne es genauer zu hinterfragen und ohne zu erwähnen, dass diese Bezeichnung für die gegenwärtigen Kriege sowohl in der Soziologie als auch in den Politik- und Geschichtswissenschaften umstritten ist. Sven Chojnacki zum Beispiel setzt es in Analogie zum griechischen Mythos des Odysseus mit einem Sirenengesang gleich, dem die Theoretiker der Internationalen Beziehungen sowie der Friedens- und Konfliktforschung ausgesetzt seien.3 Er betont, dass ein Wandel der Kriegsformen keinesfalls ungewöhnlich sei, sondern durch die sozialen und historischen Veränderungsprozesse stets gegeben und damit zugleich auch ein Motor des Wandels selbst sei. Durch diese Annahme werde das Theorem der neuen Kriege jedoch nicht bestätigt, es weise zwar in die »richtige Richtung«, schieße aber »über das Ziel hinaus[…]

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Selbstverständlich gab es auch in der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den 1990er Jahren in Deutschland öfftliche Diskussionen über gegenwärtige Kriege wie zum Beispiel die Protestbewegungen der 1960er Jahre, die sich vehement gegen den Vietnamkrieg aussprachen. Der Fokus der Argumentation, auf den in diesem Zusammenhang abgehoben wird, liegt indes vor allem in der aktiven Involvierung deutscher Streitkräfte in einem Kriegsgeschehen. Vgl. GEIS, Anna: Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse, in: Dies. (Hrsg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden: Nomos 2006, S. 9-46, hier S. 9. Vgl. CHOJNACKI, Sven: Wandel der Kriegsformen? – Ein kritischer Literaturbericht, in: Leviathan 32 (2004), S. 402-424, hier S. 402.

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und [bleibe] in Fragen der theoretischen Erklärung unzureichend«, was schließlich zu einer »Überpointierung des Wandels« führe4: »Zweifellos ist das Etikett ›neu‹ so trügerisch wie irreführend. Es suggeriert nämlich, dass eine klare zeitliche Bestimmung bzw. Eingrenzung des Kriegsgeschehens in ›alte‹ und ›neue‹ Kriege möglich sei. Darüber hinaus legt es die mögliche Fehldeutung nahe, ›alte‹ Kriege seien empirisch wie theoretisch inzwischen bedeutungslos.«5

Um sich dem Thema zu nähern und herauszufiltern, was genau das (vermeintlich) ›Neue‹ an den neuen Kriegen ist, soll zunächst geklärt werden, was unter ›Krieg‹ zu verstehen ist. Doch auch hier gibt es keine einheitliche Definition, was vor allem auf den Umstand zurückgeht, dass »die Kennzeichnung eines Konfliktes als Krieg auch immer eine politische Konnotation [hat].«6 Weitgehend Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass Krieg kein einheitliches, gleichbleibendes Phänomen ist, sondern ein »wahres Chamäleon«7, dessen stetiger Wandel durch politische und wirtschaftliche, aber auch durch kulturelle und soziale Veränderungen beeinflusst wird8: »Krieg ›wesenhaft‹ oder zeitlos zu definieren, ist angesichts seiner Historizität, seines Gestaltund Formenwandels im Laufe der Geschichte, seiner vielfältigen Erscheinungsformen wohl kaum möglich.«9 Um die Besonderheiten der neuen Kriege herausstellen zu können, werden im Folgenden Merkmale klassischer Staatenkriege erläutert. Dabei geht es nicht um den Versuch, detailliert die Kriegsgeschichte nachzuzeichnen, was den Rahmen dieser Arbeit deutlich sprengen würde. Vielmehr soll eine Folie geschaffen werden, auf deren Grundlage die Charakteristika bestimmter gegenwärtiger Konflikte und Kriege untersucht werden können.

1.1 D ER KLASSISCHE S TAATENKRIEG Was man heute unter dem Terminus ›Krieg‹ versteht, hat sich in Europa – freilich in verschiedenen Entwicklungsstufen – erst zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert konstituiert. In diesem Zeitraum waren die Kriege mit der Herausbildung der modernen Staaten verknüpft.10 »Während das Fehderecht allmählich durch die Herausbildung moderner Staatlichkeit und den damit einhergehenden Aufbau einer wirksamen Gerichtsorganisation eingedämmt und schließ4 5 6

Ebd., S. 403ff. Ebd., S. 407. SCHLICHTE, Klaus: Neues über den Krieg? Einige Anmerkungen zum Stand der Kriegsforschung in den Internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9 (2002), S. 113-138, hier S. 113. 7 CLAUSEWITZ, Carl von: Vom Kriege. Berlin: Vier Falten 1832, S. 23. 8 Vgl. GEIS, Anna: Den Krieg überdenken, S. 14. 9 Ebd. 10 Vgl. KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 26.

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lich ganz beseitigt wurde, führte dieselbe Entwicklung mit der Entstehung einer Vielzahl souveräner Staaten, die keine höhere Autorität über sich hatten, zur Festigung ihres Anspruchs, ihre Rechte – oder das, was sie dafür hielten oder zu halten vorgaben – mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen.«11

Bereits im Mittelalter wurde der Begriff ›Staat‹ verwendet. So unterschied beispielsweise Thomas von Aquin drei Formen des Staates: status optimatum (Aristokratie), status paucorum (Oligarchie) und status popularis (Demokratie). Doch erst im 16. Jahrhundert kann man von einem Gebilde mit klareren Umrissen sprechen, einem »in sich geschlossenen politischen Körper«12. Konstitutiv wurde das Merkmal der Staatlichkeit im Zusammenhang mit Krieg vor allem im Westfälischen Frieden (1648), der eine politische Ordnung Europas einläutete, die bis ins 20. Jahrhundert bestand hatte. Die Differenzierung, die hier vorgenommen wurde, galt der Unterscheidung von Staatenkriegen und Bürgerkriegen: Staatenkriege waren demzufolge politisch und rechtlich regulierbare Kriege, da es sich hierbei um einen klar eingegrenzten Raum und bei den Kriegsakteuren um klar definierte Souveräne handelte, im Gegensatz zu den Bürgerkriegen, die »weder eindeutig definierbar noch präzise fassbar« waren und damit die »Restgröße des nichtnormierbaren und nichtregulierbaren Krieges«13 darstellten. Somit wurden Staatenkriege als Auseinandersetzung zwischen zwei Souveränen definiert, während sich unter dem Begriff ›Bürgerkrieg‹ verschiedene Konfliktarten mit unterschiedlichen Ursachen subsumierten, mit dem einzigen einheitlichen Merkmal, dass sie innerhalb eines bestimmten Gebietes gegen einen Souverän geführt wurden.14 Carl von Clausewitz, der von vielen Wissenschaftlern als einer der wichtigsten Theoretiker des modernen Krieges bezeichnet wird,15 definiert den Krieg in seiner zum Standardwerk avancierten Abhandlung Vom Kriege (1832) folgendermaßen: »Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns die Unzahl der einzelnen Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir besser, uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.«16

Zwei zentrale Punkte seiner Untersuchung über den Krieg, die aus eigenen militärischen Erfahrungen hervorgehen,17 werden hier primär deutlich: Zum einen gibt es 11 GREWE, Wilhelm G.: Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden: Nomos 21988, S. 132. 12 Ebd., S. 197. 13 MÜNKLER, Herfried: Der Wandel des Krieges, S. 32. 14 Vgl. ebd., S. 33. 15 Vgl. GREWE, Wilhelm G.: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 19. 16 CLAUSEWITZ, Carl von: Vom Kriege, S. 13. 17 Carl von Clausewitz war als Offizier am vierten der Koalitionskriege gegen Napoleon beteiligt, die man insgesamt als die ersten Volkskriege bezeichnen kann, wobei eine spezi-

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zwei fest definierte Parteien und zum anderen weist jede von diesen einen je einheitlichen, staatlichen Willen auf. Daran gekoppelt ist ein bestimmtes Staatsinteresse, das, gleichsam als ergebnishafte Zielvorstellung von Kriegen, der anderen Partei aufgezwungen werden soll. Hieran anknüpfend gelangt Clausewitz zu dem viel zitierten Schluss, dass »der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln.«18 Auch heute noch basieren viele Definitionen zur Bestimmung des Themenkomplexes Krieg auf der Verbindung mit Staatlichkeit, was jedoch in den letzten Jahrzehnten in der Politikwissenschaft vermehrt zu starker Kritik führte. Diesem Definitionsansatz nach werden Krieg und andere Formen organisierter Massengewalt dadurch unterschieden, dass im Zusammenhang mit einem Krieg das Merkmal der Staatlichkeit bei mindestens einem daran beteiligten Akteur gegeben sein muss.19 In diesem Sinne definiert beispielsweise auch die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) Kriege: »In Anlehnung an den ungarischen Friedensforscher István Kende (1917-1988) definiert die AKUF Krieg als einen gewaltsamen Massenkonflikt, der alle folgenden Merkmale aufweist: (a) an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt; (b) auf beiden Seiten muß ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn dies nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg usw.); (c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet einer oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern. Kriege werden als beendet angesehen, wenn die Kampfhandlungen dauerhaft, d.h. für den Zeitraum von mindestens einem Jahr, eingestellt bzw. nur unterhalb der AKUF-Kriegsdefinition fortgesetzt werden. Als bewaffnete Konflikte werden gewaltsame Auseinandersetzungen bezeichnet, bei denen die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllt sind. In der Regel handelt es sich dabei um Fälle, in denen eine hinreichende Kontinuität der Kampfhandlungen nicht mehr oder auch noch nicht gegeben ist.«20

fische Konstellation, nämlich die Entstehung der modernen Staaten im Zuge von Kriegsereignissen, hervortritt (vgl. KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege, S. 28ff.). 18 CLAUSEWITZ, Carl von: Vom Kriege, S. 210. 19 Vgl. SCHLICHTE, Klaus: Neues über den Krieg?, S. 113. 20 Homepage der Universität Hamburg, Fachbereich Sozialwissenschaft, Arbeitsstelle AKUF: https://www.wiso.uni-hamburg.de/fachbereich-sowi/professuren/jakobeit/forschung/akuf/ kriegsdefinition.html [letzter Zugriff: 07.06.2017], Herv. i.O.

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Obwohl deutlich wird, dass auch andere Variationen des Kampfes, wie zum Beispiel Guerillastrategien, in diese Definition Eingang gefunden haben, wird mit dem ersten Bestimmungsmerkmal die staatliche Beteiligung an einem Krieg als konstitutiv erklärt – auch wenn nicht mehr obligatorisch beide Seiten, wie in einem klassischen Staatenkrieg im Sinne des Westfälischen Friedens oder nach Clausewitz, staatliche Systeme sein müssen. Kritiker von solchen an Staatlichkeit geknüpften Definitionen sind hingegen der Meinung, dass diese zwar für einen bestimmten historischen Zeitraum zutreffend gewesen seien, in der heutigen Situation jedoch keine Verwendung mehr finden könnten: »Nimmt man das Merkmal der Staatlichkeit ad nomine, d.h. betrachtet man all das als Staat, was sich Staat nennt, dann führt die Unterscheidung in der Tat Differenzen ein, die nicht unbedingt plausibel sind. Das trifft zum Beispiel auf jene Kriege zu, in denen Staatlichkeit kaum institutionalisiert ist und vor allem als Behauptung existiert wie in Afghanistan, Sierra Leone oder der DR Kongo. Die Identifizierung des staatlichen Akteurs ist in diesen Fällen eine politische Entscheidung, keine allein wissenschaftliche.«21

Auch Münkler weist auf eben diese politische Dimension der Kennzeichnung eines gewaltsamen Konfliktes als ›Krieg‹ hin und sieht damit die definitorischen Probleme verknüpft, die die gegenwärtigen Konflikte mit sich bringen.22 Seiner Meinung nach hat die Bezeichnung dieser Kriege als ›organisierte Gewalt‹ zwei Gründe: auf der einen Seite könne man sie auf die Unentschlossenheit und Ratlosigkeit einiger in Bezug auf die jüngsten Entwicklungen zurückführen, weshalb diese den Terminus der organisierten Gewalt dem des Krieges vorzögen. Auf der anderen Seite gebe es einige, die diesen verharmlosenden Begriff benutzen und somit Krieg nur im Zusammenhang von Staatlichkeit definieren, weil zahlreiche internationale Verträge und Organisationen so weiterhin die Auffassung vertreten könnten, dass die Anzahl der Kriege durch ihren Verdienst zurückgegangen sei: »Das Versagen besonders der UNO, aber auch anderer internationaler Organisationen in vielen dieser neuen Kriege […] würde dann nämlich einen erheblich geringeren Einwand gegen deren politische Handlungsfähigkeit und vor allem keinen gegen ihre Fähigkeit zur Kriegsprävention darstellen.«23

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Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde von vielen Seiten die Hoffnung auf ein Ende der Kriege, sogar auf einen ewigen Frieden artikuliert. Diese basierte auf der Annahme, dass durch den Zusammenbruch der UdSSR Anfang der 1990er Jahre das 21 SCHLICHTE, Klaus: Neues über den Krieg?, S. 114. 22 »Das theoretische Problem der Definition von Krieg und seiner Abgrenzung gegen Formen nichtkriegerischer Gewalt ist dementsprechend mit dem politisch-praktischen Problem der neuen oder alten Weltordnung aufs engste verknüpft.« (MÜNKLER, Herfried: Der Wandel des Krieges, S. 30.) 23 Ebd.

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Ende der ›Systemkonkurrenz‹ gekommen und damit die Ursache zahlreicher Kriege obsolet geworden sei.24 Diese Erwartung hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Zahlreiche Kriege begannen bereits kurze Zeit später, so zum Beispiel der Golfkrieg 1990/91, die sogenannten ›Zerfallkriege‹ Jugoslawiens und der Bosnienkrieg.25 Diese militärischen Auseinandersetzungen konnten oftmals nicht mehr mit den herkömmlichen Kriegstheorien analysiert werden, da sich – zumindest teilweise – die Strukturen geändert hatten, weshalb auf wissenschaftlicher Ebene versucht wurde, neue Konzepte für die aktuellen Kriegsgeschehnisse auszuarbeiten. Aus dieser Diskussion gingen zahlreiche neue Begrifflichkeiten bzw. Bezeichnungen für die gegenwärtigen Kriegsformen hervor, wie zum Beispiel ›low intensity conflicts‹ (van Creveld), ›postnationale Kriege‹ (Zangl/Zürn, Beck), ›Kriege im Prozess von Globalisierung und der Durchsetzung des Kapitalismus‹ (Jung u.a.).26 Einerseits wird versucht, durch bestimmte Adjektive wie postnational, gerecht, klein, neu etc. den besonderen Charakter der Kriegsformen zu bestimmen. Andererseits werden Oppositionen aufgeführt wie zum Beispiel Angriffs- und Verteidigungskrieg, Staaten- und Bürgerkrieg, gerechter und ungerechter Krieg, kleiner und großer Krieg, symmetrischer und asymmetrischer Krieg. Durch diese Kategorisierung sollen die Unterschiede und Merkmale der einzelnen Kriegsformen deutlich gemacht werden. Mary Kaldor führte 1999 in ihrer Monographie New and Old Wars: Organized Violence in a Global Era (Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung) eine solche Dichotomie anhand des Bosnien-HerzegowinaKrieges (06.04.1992-12.10.1995) ein. Sie macht deutlich, dass ›neu‹ primär als Abgrenzungskriterium zu Kriegskonzeptionen aus vergangenen Epochen fungiert, während ›Krieg‹ den politischen Charakter akzentuieren soll.27 Eng verbunden mit dem Aufkommen dieser Kriegsform stehen die Globalisierungsprozesse, verstanden als globale Vernetzungen in Bezug auf Politik, Wirtschaft, Militär und Kultur. Obwohl diese in der Moderne ihren Ausgang genommen hätten, seien sie doch als qualitativ neues Phänomen anzusehen. Vor allem die Auswirkungen auf den modernen Staat, speziell die »Aushöhlung der Autonomie des Staates«28, stehe in direktem Zusammenhang mit den neuen Kriegen.29 Im deutschsprachigen Raum hat besonders Herfried Münkler das Theorem der neuen Kriege weiterentwickelt und ausgearbeitet. Er charakterisiert sie durch drei unmittelbar zusammenhängende Merkmale, die im Folgenden erläutert und diskutiert werden sollen.

24 Vgl. BALZ, Mathis: Die Politische Ökonomie von Bürgerkriegen. Eine Kritik der »Neuen Kriege« anhand der Fallbeispiele Angola, Somalia und Afghanistan. http://edoc.vifapol.de/ opus/volltexte/2011/3376/pdf/AP2009_2.pdf (= Arbeitspapier 2 (2009) Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg), S. 5. 25 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Was ist neu an den neuen Kriegen?, S. 135f. 26 Vgl. HERBERG-ROTHE, Andreas: Privatisierte Kriege und Weltordnungskonflikte, in: Geis, Anna (Hrsg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden: Nomos 2006, S. 95-110, hier S. 95. 27 Vgl. KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege, S. 8. 28 Ebd., S. 12. 29 Vgl. ebd., S. 10ff.

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1.2.1 Die Entstaatlichung der Gewalt Das erste Charakteristikum der neuen Kriege sieht Münkler in der Entstaatlichung bzw. Privatisierung der Gewalt. Er erklärt die klassischen Staatenkriege, die für die kriegerischen Auseinandersetzungen bis einschließlich zum Kalten Krieg vorherrschend waren, zum »historischen Auslaufmodell«30: »Die detaillierte Betrachtung der Jahre 1998 und 1999 zeigt den vorläufigen Endpunkt eines während der letzten Jahrzehnte immer stärker werdenden Trends: Die Kriege zwischen den Staaten werden seltener, wohingegen innerstaatliche und transnationale Kriege zunehmen.«31 Dies wird einerseits auf die Entwicklungen der Waffentechnologie, hauptsächlich von Nuklearwaffen, und deren gravierende Folgen, aber auch auf die Verletzbarkeit der heutigen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften zurückgeführt, dadurch seien »Staatenkriege unführbar geworden«32. Andererseits – und dies ist das Hauptargument Münklers – wird die Entwicklung von überwiegend klassischen Staatenkriegen hin zu innerstaatlichen und substaatlichen Auseinandersetzungen damit begründet, dass der Staat im Kontext des Krieges keine Monopolstellung wie vornehmlich im 18. und 19. Jahrhundert mehr innehat, sondern nun verschiedene para- und substaatliche Akteure das Kriegsgeschehen bestimmen. Zu diesen gehören unter anderem die sogenannten Warlords, lokale Kriegsherren, die ihre Macht primär durch das kontinuierliche Fortschwelen der Kriege bzw. durch deren stetig neues Anfachen aufrechterhalten. Damit unterscheiden sie sich grundlegend von einem Staat, der in den meisten Fällen eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges anstrebt. Ursächlich hierfür ist auch ein Wandel der Kriegsökonomie.33 Während eine Regierung auf staatliche Ressourcen zurückgreifen muss, um sowohl ein Heer, seine Soldaten und deren langjährige Ausbildung als auch die Waffen finanzieren zu können, wird der Krieg hier durch den Prozess der Privatisierung zu einem ökonomischen Vorteil für bestimmte Personen oder Gruppen: »Warlords sind die Protagonisten und Profiteure der Entstaatlichung des Krieges, indem sie entweder Teilfunktionen der zerfallenen Staatlichkeit übernehmen oder aber eine durch keinerlei staatliche Macht mehr geschützte Bevölkerung ausplündern und auspressen.«34 Mit diesem Geld werden dann wiederum auch die Kämpfer bezahlt, »denen mangels anderer Einkommensmöglichkeiten kaum eine Wahl bleibt. In diesem Zusammenhang ist der Begriff des Gewalt-

30 MÜNKLER, Herfried: Der Wandel des Krieges, S. 11. 31 MÜNKLER, Herfried: Über den Krieg. Stationen der Kriegsgeschichte im Spiegel ihrer theoretischen Reflexion. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002, S. 220. 32 MÜNKLER, Herfried: Was ist neu an den neuen Kriegen?, S. 135. 33 Die Begriffe ›Kriegsökonomie‹ oder ›Gewaltökonomie‹ werden nicht einheitlich verwendet. Heupel stellt zwei Bedeutungen heraus: In einem engeren Sinn versteht man unter Gewaltökonomie »schlicht die Art und Weise, wie Staaten und nichtstaatliche Akteure gewaltsame Konflikte finanzieren.« (HEUPEL, Monika: Die Gewaltökonomien der »Neuen Kriege«, in: APuZ 46 (2009), S. 9-14, hier S. 9.) In einem weiteren Sinn bezeichnet man damit einen Raum, in dem die Verteilung und Aneignung von Ressourcen durch Gewalttaten gelenkt wird (vgl. ebd.). 34 MÜNKLER, Herfried: Über den Krieg, S. 223.

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marktes angebracht.«35 Die Waffen, die diese Kriegsakteure vorrangig benutzen, sind leichte Waffen wie zum Beispiel automatische Gewehre, Landminen und Mehrfachraketenwerfer, die zum einen einfach in der Handhabung und zum anderen auch besonders billig sind.36 D.h., dass der Krieg hier anstatt zum Kostenverursacher zur Einnahmequelle wird: »Während die klassischen Staatenkriege sich nicht mehr lohnen, weil die Gewaltanwendung für jeden der Beteiligten mehr kostet, als sie einbringt, sind die neuen Kriege für viele der Beteiligten so lukrativ, weil die Gewalt in ihnen kurzfristig mehr einbringt, als sie kostet – die langfristigen Kosten haben andere zu tragen.«37

Während die Beobachtung eines Wandels der Gewaltökonomie seit dem Ende des Ost-West-Konflikts auch von anderen Politikwissenschaftlern gestützt wird, zielt die Kritik an dieser These darauf ab, dass die wirtschaftlichen Vorteile der vornehmlich nicht-staatlichen Kriegsakteure allein die Dauer der Kriege beeinflussen würden. Für die deutliche Verlängerung kriegerischer Gewalt seien neben dem ökonomischen Nutzen ebenso eine Stärkung der Verhandlungsposition wie auch eine Erhöhung der physischen und ökonomischen Unsicherheit mitverantwortlich. Somit greife das Moment der Kriegsökonomie allein zu kurz, um die langen Auseinandersetzungen zu erklären.38 Die Kritik von Kahl und Teusch zielt hingegen in die Richtung, dass es in der unübersichtlichen Gemengelage gegenwärtiger Auseinandersetzungen und Kriege generell keine deutliche Unterscheidbarkeit einzelner Motive geben könne. Sie verweisen auf zahlreiche Konflikte, die »auf anderen Motiv- und Interessenlagen basieren. Selbst dort, wo ökonomische Motive einen hohen Stellenwert besitzen, lassen sie sich von anderen Beweggründen nur schwer unterscheiden; oft sind die Grenzen fließend, so dass es kaum akzeptabel ist, den ökonomischem Aspekt in den Vordergrund zu rücken.«39

Somit lehnen die Kritiker an der These einer gewandelten Kriegsökonomie vor allem die Eindimensionalität des Erklärungsversuches ab. Neben dem ökonomischen Nutzen, gebe es noch weitere Motive, die zu einer Verlängerung der Kriegsdauer führen können. Eine Interpretation, die sich auf die Ökonomie beschränkt, berge die Gefahr, politische und andere Motivationen zu unterschlagen.40 Münklers Beobachtungen

35 GANTZEL, Klaus Jürgen: Neue Kriege? Neue Kämpfer? http://edoc.vifapol.de/opus/ volltexte/2012/3360/pdf/ap2_02.pdf (= Arbeitspapier 2 (2002) Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg), S. 14. 36 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 132. 37 Ebd., S. 136f. 38 Vgl. CHOJNACKI, Sven: Wandel der Kriegsformen?, S. 410. 39 KAHL, Martin/TEUSCH, Ulrich: Sind die »neuen Kriege« wirklich neu?, in: Leviathan 32 (2004), S. 382-401, hier S. 396. 40 Vgl. ebd., aber auch SCHLICHTE, Klaus: Neue Kriege oder alte Thesen? Wirklichkeit und Repräsentation kriegerischer Gewalt in der Politikwissenschaft, in: Geis, Anna (Hrsg.):

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hingegen, dass die Gewalt zunehmend entstaatlicht sei und sich ein genereller Wandel der Kriegsökonomie vollziehe, werden grundsätzlich nicht infrage gestellt. 1.2.2 Die Asymmetrie der Gewalt Das zweite Charakteristikum umfasst die Asymmetrie der kriegerischen Gewalt, die sich vor allem in der Kriegsführung bzw. -strategie manifestiert. Während es sich bei den Gegnern in Staatenkriegen um weitestgehend gleichartige handelt, die sich auch als solche gegenseitig anerkennen, kämpfen in den neuen Kriegen ungleiche Gegner gegeneinander. Diese Ungleichheit konstituiert sich besonders auf der waffentechnologischen und personellen Ebene. Dies bedeutet nicht, dass eine der kämpfenden Seiten ausschließlich mit stark veralteten Waffen kämpft, es verweist vielmehr auf die Benutzung von leichten Waffen, was sowohl moderne Kommunikationsmittel als auch moderne Waffen nicht ausschließt. Die Zusammensetzung der Gruppen unterscheidet sich indes stark von klassischen Staatenkriegen. Während dort eine klare Trennung der beiden kämpfenden Seiten vorgenommen werden kann und diese jeweils deutlichen hierarchischen Militärstrukturen unterliegen, setzen sich die Kämpfer der neuen Kriege aus verschiedenen, dezentral organisierten Gruppen mit unterschiedlichen Zielsetzungen zusammen. Hierzu gehören »paramilitärische Einheiten, örtliche Kriegsfürsten, kriminelle Banden, Polizeikräfte, Söldnergruppen wie auch reguläre Streitkräfte und abtrünnige Einheiten regulärer Streitkräfte.«41 Dies hat entscheidende Konsequenzen auf der rechtlichen Ebene: Der moderne Territorialstaat wird häufig noch als Monopolist der kriegerischen Gewalt angenommen und dementsprechend auch im humanitären Völkerrecht,42 das in Folge und unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, als solcher benannt. Hobe stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Völkerrecht »auf der Vorstellung einer Symmetrieerwartung der staatlichen KriegsakteuDen Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. BadenBaden: Nomos 2006, S. 111-132, bes. S. 117f. 41 KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege, S. 19. 42 Genau hier setzt Sibylle Tönnies mit ihrer Kritik an der gesamten Theorie der neuen Kriege an. Sie geht davon aus, dass nicht die Form der Kriege, sondern die Einstellung zu ihnen einen Wandel durchlaufen habe: »Wirklich neu an den asymmetrischen Auseinandersetzungen ist die Ablehnung, die ihnen die Politikwissenschaftler seit einiger Zeit entgegenbringen«. »Neu«, so Tönnies weiter, »sind nicht die heute sogenannten ›Neuen Kriege‹, sondern die Haltung, mit der man dem Kampf gegen Staatsordnungen gegenübersteht.« Den Erfolg der Theorie führt sie unter anderem auf eine veränderte Haltung gegenüber dem Völkerrecht zurück, die gerechtfertigt werden müsse. Sie sieht die Ordnung des Völkerrechts in Auflösung begriffen. Dieser Prozess, der seinen Anfang in den 1990er Jahren genommen habe, solle verschleiert werden. Indem etwas ›Neues‹ deklariert werde, könne der zentrale Punkt der UN-Charta, nämlich das generelle Verbot grenzüberschreitender Gewaltanwendung, übergangen werden und spiele in der Diskussion um die neuen Kriege schlicht keine Rolle mehr. Begünstigt und gerechtfertigt werde dies durch den angeblichen Zweck der Theorie: Angst zu verbreiten (vgl. TÖNNIES, Sibylle: Die »Neuen Kriege« und der alte Hobbes, in: APuZ 46 (2009), S. 27-32, Zitate S. 28.).

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re«43 basiert und spricht von der Monopolstellung moderner Territorialstaaten als bedeutendstem zivilisatorischen Erfolg. »Insofern reflektiert auch das moderne humanitäre Völkerrecht immer noch diese von einer Gegenseitigkeitserwartung gekennzeichnete Symmetrie der zwischenstaatlichen Konflikte und ihres Austrags.«44 Dies wirft die Frage auf, inwieweit das Völkerrecht in kriegerischen Auseinandersetzungen mit nur einer oder überhaupt keiner staatlichen Partei zur Anwendung gebracht werden kann bzw. inwiefern es gemessen an den Entwicklungen der neuen Kriegsform modifiziert werden müsste.45 Die asymmetrische Kriegsform hat neben diesen rechtlichen Fragen vor allem Auswirkungen auf die Kampfhandlungen und die eingesetzten Strategien, da es kaum mehr zu frontalen Auseinandersetzungen kommt, sondern überwiegend partisanenhafte und terroristische Aktionen das Geschehen bestimmen. Der Guerillakrieg, entstanden als Ablenkungs- oder Ausweichmanöver, ist eine Taktik, die eine Gruppenkonzentration vermeidet und so den Vorteil der militärischen und personellen Übermacht der anderen Seite umgeht.46 Dementsprechend gibt es in den gegenwärtigen Gewaltkonflikten oftmals keine Entscheidungsschlacht, die darauf zielt, die gegnerische Seite zu zerschlagen oder zu bezwingen. Von dieser Überlegung ausgehend muss auch der Begriff ›Sieg‹ neu definiert werden. Ein Sieg in den klassischen Staatenkriegen bedeutet, dass eine Seite sich militärisch durchsetzt und über den Gegenstand des Konflikts, oftmals Land, nach dem Krieg die Gewalt übernimmt.47 Hippler konstatiert im Gegensatz dazu für die neuen Kriege: »Als Kriterium für Erfolg oder ›Sieg‹ kann nur gelten, ob es einer Konfliktpartei gelingt, die politischen Absichten durchzusetzen, die dem Krieg oder Gewaltkonflikt zugrunde lagen. Hierbei kann es sich um die Gewinnung staatlicher Macht, die Bereicherung einer Führungsgruppe oder die Ausbeutung natürlicher Ressourcen handeln, oder auch um die Durchsetzung einer Veto-Position über zentrale Entscheidungen, die Vernichtung einer politischen oder ethischen Gruppe, die Selbstbestimmung, Autonomie oder Unabhängigkeit.«48

Somit kann hier festgehalten werden, dass im Gegensatz zu den klassischen Staatenkriegen die militärische Stärke in den neuen Kriegen nicht mehr entscheidend für den Ausgang sein muss. Durch die asymmetrische Kampfweise können auch militärisch und personell unterlegene Gruppen in ihrem Sinn erfolgreich bzw. siegreich sein.

43 HOBE, Stephan: Der asymmetrische Krieg als Herausforderung der internationalen Ordnung und des Völkerrechts, in: Heintze, H.-J./Ipsen, K. (Hrsg.): Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht. 20 Jahre Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht – 60 Jahre Genfer Abkommen. Berlin/Heidelberg: Springer 2011, S. 69-86, hier S. 70. 44 Ebd. 45 Vgl. ebd., bes. S. 83ff. 46 Vgl. KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege, S. 17f. 47 Vgl. BRZOSKA, Michael: Bedingungen erfolgreicher Friedenskonsolidierung, in: APuZ 46 (2009), S. 15-20, hier S. 15. 48 HIPPLER, Jochen: Wie »Neue Kriege« beenden?, in: APuZ 46 (2009), S. 3-8, hier S. 3f.

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In den Kontext der Verlegung des Austragungsortes der kriegerischen Aktionen gehört auch die Verlagerung der ausgeübten Gewalt: in den zwischenstaatlichen Kriegen gegen das gegnerische Heer, in den neuen Kriegen vermehrt gegen die Zivilbevölkerung. Die Gewaltausübung mündet hier oftmals in regelrechten Massakern.49 Diese Entgrenzung der Gewalt zeigt sich laut Münkler unter anderem an der erhöhten Opferzahl aus der Bevölkerung: Während 90% der Opfer in den klassischen Staatenkriegen Soldaten waren, seien in den neuen Kriegen 80% der Opfer NonKombattanten.50 Kaldor, die ebenfalls auf eine erhöhte Opferzahl unter den Zivilisten insistiert, erklärt diese Entwicklung mit den gewandelten Zielen der kämpfenden Parteien in den neuen Kriegen, die nun darin lägen, die Bevölkerung mittels Furcht und Hass zu kontrollieren und Menschen mit abweichenden Identitäten und Meinungen mit »Mitteln wie Massenmord, Zwangsumsiedlung und eine ganze Reihe politischer, psychologischer und ökonomischer Einschüchterungstechniken«51 zu vertreiben. Münkler betont zudem, dass besonders die sexuelle Gewalt gegen Frauen in den gegenwärtigen Kriegen geplant eingesetzt wird, um die Bevölkerung zu demoralisieren: »In den neuen Kriegen jedoch […] sind Vergewaltigungen oft in höchstem Maße funktional: Sie untergraben die Bereitschaft, trotz widriger Umstände und eines nur unter Lebensgefahr zu bewältigenden Alltags in der angestammten Heimat auszuharren und auf bessere Verhältnisse zu warten. Demgemäß wird die sexuelle Gewalt gegen Frauen hier von der politisch-militärischen Führung auch nicht unterbunden und sanktioniert, sie wird vielmehr angeordnet und organisiert.«52

Chojnacki wendet hier auf der Grundlage soziologischer, ökonomischer und politikwissenschaftlicher Studien allerdings ein, dass gezielte Gewaltausübungen gegen die Zivilbevölkerung auch in zwischenstaatlichen Kriegen, vor allem in den Pazifizierungskriegen der westlichen Demokratien, angewendet wurden. Zudem ließe sich ein Anstieg sexueller Gewalt in kriegerischen Auseinandersetzungen, so wie Münkler ihn attestiert, nicht belegen, vielmehr sei auch hier von einer seit jeher spezifischen Strategie zu sprechen. Allerdings räumt er ein, dass diese Frage ein Forschungsdesiderat darstelle, das nur durch empirische Forschung abschließend geklärt werden könne.53 Im Gegensatz dazu argumentieren Kahl und Teusch nicht mit einer Ähnlichkeit der Gewaltanwendung zwischen Staatenkriegen und den neuen Kriegen, sondern halten fest, dass besonders im Hinblick auf die Zahl der Kriegsopfer generell nicht von einem Anstieg gesprochen werden könne. Ihrer Einschätzung zufolge hat es in innerstaatlichen Konflikten stets mehr Opfer als in zwischenstaatlichen gegeben, weshalb man nicht von etwas ›Neuem‹ sprechen könne.54 Zudem sei auch eine höhere Brutalität nicht evident, sondern diese scheine »eher eine in der medial 49 50 51 52 53 54

Vgl. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 132. Vgl. MÜNKLER, Herfried: Über den Krieg, S. 220f. KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege, S. 18. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 148. Vgl. CHOJNACKI, Sven: Wandel der Kriegsformen?, S. 412f. Vgl. KAHL, Martin/TEUSCH, Ulrich: Sind die »neuen Kriege« wirklich neu?, S. 393.

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vermittelten Dramatik gegenwärtiger Exzesse gründende Annahme zu sein, jedoch keine durch das Zahlenmaterial zu erhärtende wissenschaftliche Aussage.«55 Deutlich wird an diesen Einwänden insgesamt, dass aufgrund der fehlenden empirischen Datenerhebung weder das eine noch das andere Argument gefestigt werden kann. Einen weiteren für die neuen Kriege relevanten Aspekt stellt Hippler heraus. Die Bevölkerung habe nicht immer lediglich den Status des ›Opfers‹ inne, sondern könne auch selbst in Gewaltakte involviert sein: »Wenn aber unterschiedliche Teile einer Gesellschaft, teilweise Nachbarn, aneinander Massaker, Vergewaltigungen und Vertreibungen begehen, hinterlässt dies tiefere emotionale Wunden als die Gewalt zweier staatlicher Armeen gegeneinander.«56 Somit wird eine weitere Kennzeichnung der neuen Kriege deutlich: Die Unterscheidung zwischen Kombattant und Non-Kombattant ist häufig nicht klar ersichtlich.57 Dies gilt vorrangig dann, wenn Söldner und andere militärische Akteure, besonders bei terroristischen oder partisanenhaften Strategien, auf Merkmale wie Uniform und offen getragene Waffen verzichten. Somit kann eine Unterscheidung zwischen Beteiligten und Zivilisten in vielen Fällen nicht eindeutig getroffen werden. Diese ist jedoch nicht nur in militärischer Hinsicht von großer Bedeutung, sondern auch in rechtlicher: Das Völkerrecht, das, wie oben erwähnt, nach wie vor von symmetrischen und ausdrücklich staatlichen Gegnern ausgeht, unterscheidet strikt zwischen Bevölkerung und Soldaten, wobei Letztere als Vertreter des Staates gelten und besonderen Regeln (ius in bello) unterliegen. Grundsätze militärischer Notwendigkeiten ebenso wie verbotene Kriegsmittel basieren auf dieser Unterscheidung.58 1.2.3 Die Entmilitarisierung der Gewalt Das dritte von Münkler benannte Charakteristikum der neuen Kriege besteht in der sukzessiven Automatisierung bzw. Entmilitarisierung der kriegerischen Gewalt. Damit ist gemeint, dass nicht mehr reguläre Armeen die militärischen Auseinandersetzungen kontrollieren, sondern andere Gewaltakteure, wie zum Beispiel Söldner oder Kindersoldaten, an kriegerischen Operationen beteiligt sind. »Das zeigt sich sowohl im Blick auf die kriegführenden Parteien, die immer häufiger aus Kriegern, aber nicht Soldaten bestehen, als auch mit Blick auf die Ziele, bei denen es nur noch selten um genuin militärische Objekte geht, sondern zunehmend Zivilisten und zivile Infrastruktur zum Ziel werden.«59

55 Vgl. ebd., S. 394, Herv. i.O. 56 HIPPLER, Jochen: Wie »Neue Kriege« beenden?, S. 8. 57 Diese Feststellung wirft allerdings die Frage auf, inwiefern, wie zuvor beschrieben, unter anderem mit Münkler und Kaldor von einer deutlich erhöhten Opferzahl unter den Zivilisten gesprochen werden kann, wenn die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Bevölkerung und Kämpfern nicht mehr eindeutig ist. 58 Vgl. HOBE, Stephan: Der asymmetrische Krieg als Herausforderung der internationalen Ordnung und des Völkerrechts, S. 72. 59 MÜNKLER, Herfried: Was ist neu an den neuen Kriegen?, S. 134.

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Besonders der Einsatz von Kindern und Jugendlichen hängt wiederum eng mit dem Wandel der Kriegsökonomie zusammen. Sie erscheinen in den neuen Kriegen als »permanent verfügbare Rekrutierungsreserve«60 für die Warlords. Vor allem für diejenigen Jugendlichen, die aus den Elendsgebieten stammen und vornehmlich unter Hunger, Arbeitslosigkeit und damit auch unter Perspektivlosigkeit leiden, stellt die Arbeit als Kindersoldat zum einen die Möglichkeit des basalen Überlebens dar, zum anderen ändert sich dadurch ihre soziale Stellung und Anerkennung innerhalb der Bevölkerung, was laut Münkler mindestens genauso schwer wiegt.61 Da diese Kinder und Jugendlichen wenig Kosten für die Warlords verursachen, sind sie aus wirtschaftlicher Perspektive ›lukrativer‹ als der Einsatz von ausgebildeten Soldaten. Ein wichtiger Aspekt des Einsatzes dieser privaten, nicht staatlich-militärischen Gruppen ist, dass sich diese Kombattanten weder »dem Ethos der Ritterlichkeit«62 noch dem Kriegsvölkerrecht verpflichtet fühlen. Vielmehr üben sie die Gewaltformen aus, die ihnen zweckmäßig und zielführend erscheinen.63 Auch an dieser Stelle kann eingeräumt werden, dass Söldner, Warlords etc. auch schon vor dem Kalten Krieg Protagonisten von Kriegen waren. Wichtig ist jedoch, dass sich »ihre Autonomie und ihr politisches Gewicht in entstaatlichten Räumen – und damit auch ihr konflikttheoretischer Stellenwert«64 gewandelt hat. 1.2.4 Die neuen Kriege und der Terrorismus Im Zusammenhang mit der Diskussion um die neuen Kriege lässt sich ein weiterer Punkt ausmachen, der unter den Wissenschaftlern höchst umstritten ist, nämlich die Frage, ob der Terrorismus als Kriegsstrategie gewertet und damit allgemein zu der Sphäre des Krieges gezählt werden kann oder ob er, beispielsweise als Strategie krimineller Organisationen definiert, außerhalb dieser angesiedelt ist. Damit kreisen die Argumentationen um den Punkt, ob der Terrorismus bzw. terroristisch motivierte Handlungen gleichzusetzen sind mit Kriegen und Kriegshandlungen oder ob das eine vom anderen zu trennen ist, womit zugleich das Problem der nur äußerst schwer zu differenzierenden Ursache-Wirkung-Verhältnisse angesprochen wird. So kann beispielsweise die Hamburger Arbeitsgemeinschaft AKUF mittels der oben bereits zitierten Kriegsdefinition argumentieren, dass es sich bei Terroranschlägen nicht um Kriege oder Kriegshandlungen handelt, da hier im Wesentlichen der Massencharakter sowie die Kontinuität fehlen. Auf eben dieser Grundlage hält Jutta Bakonyi fest, dass »Terrorismus, im Unterschied zu Krieg, kein eigenständiges Gewaltphänomen bezeichnet, sondern eine bestimmte Methode des Einsatzes von politischer Gewalt«65

60 61 62 63 64 65

MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 137. Vgl. ebd., S. 138f. MÜNKLER, Herfried: Was ist neu an den neuen Kriegen?, S. 141. Vgl. ebd. CHOJNACKI, Sven: Wandel der Kriegsformen?, S. 418. BAKONYI, Jutta: Terrorismus, Krieg und andere Gewaltphänomene der Moderne, in: Dies. (Hrsg.): Terrorismus und Krieg. Bedeutung und Konsequenzen des 11. September 2001. http://edoc.vifapol.de/opus/volltexte/2011/3357/pdf/ap4_01.pdf (= Arbeitspapier 4 (2001)

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sei. Andererseits lässt sich dagegen einwenden, dass Terroranschläge einen Krieg, der eben diese Merkmale aufweist, einleiten können, wie der Afghanistankrieg als militärische Aktion und Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. Die so aufgeworfene Frage lautet, ob die Anschläge als eine Art Kriegserklärung66 gelten können und damit den Beginn eines Krieges markieren oder ob der Krieg erst daraufhin mit einem militärischen Rückschlag beginnt. Weitgehend Einigkeit herrscht zum einen darüber, dass die Einordnung eines Gewaltaktes als Krieg oder als Terrorismus maßgeblich von »moralisch-normativen« wie auch von »politisch-strategischen«67 Momenten abhängig ist. Zum anderen liegt ein gemeinsames Merkmal von Kriegen und Terrorismus »in der geplanten und organisierten Anwendung von politisch motivierter Gewalt gegen einen zum Feind definierten Anderen«68. In diesem Sinne machen Palm und Rötzer darauf aufmerksam, dass eine Unterscheidung zwischen Krieg und Terrorismus für Staaten nur dann Sinn ergebe, »wenn Terroristen als inneres Sicherheitsrisiko begrenzt in Erscheinung«69 treten. Im Kontext internationaler Operationen hingegen werde »Terrorismus als Kriegserklärung und Kriegsführung definiert«, um so »umfassende Ermächtigungsgrundlagen zu seiner Bekämpfung« zu schaffen, die vor allem darauf abzielen würden, die »Souveränität anderer Staaten außer Acht zu lassen, weil innere und äußere Bedrohungen tendenziell ununterscheidbar werden.«70 Neben der Gemeinsamkeit politischer Gewalt besteht eine weitere Übereinstimmung in der Legitimationsgrundlage für das Führen eines Krieges. Sowohl Terroristen als auch andere Gewaltakteure wie Staaten beanspruchen für sich, »im objektiven Interesse eines Dritten zu agieren: für eine soziologisch (Schicht, Klasse), ethnisch, national oder religiös bestimmte Gruppe, für Volk, Vaterland, für Gott oder schlicht für die gesamte Menschheit, deren Freiheit/Fortschritt gewaltsam erkämpft werden soll.«71 An diese »zu interessierenden Dritten«72 werden dann besonders prononciert durch die Medien Botschaften gesendet, die beispielsweise im Bereich der Einstimmung auf bzw. dem Aufruf zum Kampf liegen können. Während auf staatlicher Seite vornehmlich die die Legimitation für Kriegshandlungen betreffenden Interessen im Vorder-

66

67 68 69

70 71 72

Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg), S. 5-20, hier S. 9, Herv. i.O. So zum Beispiel die Reaktion des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder auf die Anschläge vom 11. September 2001 auf New York und Washington, die er als eine »Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt« deklarierte (vgl. u.a. Spiegel Online vom 11.09.2001 http://www.spiegel.de/panorama/sicherheitsstufe-eins-bundesweitschroeder-verurteilt-terror-als-kriegserklaerung-gegen-die-zivilisierte-welt-a-156569.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]). BAKONYI, Jutta: Terrorismus, Krieg und andere Gewaltphänomene der Moderne, S. 10. Ebd., S. 6, Herv. i.O. PALM, Goedart/RÖTZER, Florian: Enduring War – eine Einführung, in: Dies. (Hrsg.): MedienTerrorKrieg. Zum neuen Kriegsparadigma des 21. Jahrhunderts. Hannover: Heinz Heise 2002, S. 9-25, hier S. 14. Ebd. BAKONYI, Jutta: Terrorismus, Krieg und andere Gewaltphänomene der Moderne, S. 6. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 180.

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grund stehen, liegen die Botschaften terroristischer Aktionen häufig darin, dass »Widerstand gegen eine unendlich überlegen erscheinende Macht nicht nur möglich ist, sondern auch erfolgreich sein kann«73. Der ›zu interessierende Dritte‹ soll dementsprechend sowohl von staatlicher als auch von terroristischer Seite hinsichtlich seiner Einstellung beeinflusst und ggf. motiviert werden, selbst aktiv in das Geschehen einzugreifen, da auch seine Interessen tangiert werden. Eine Trennung bzw. Vereinheitlichung der Termini ist vor allem daher problematisch, da sich oftmals beide Seiten – die vermeintlich terroristischen Gruppierungen und die staatliche Seite – gegenseitig des Terrorismus beschuldigen.74 Damit ist einer der entscheidenden Punkte angesprochen, die in diesem Zusammenhang relevant sind: das Defizit einer einheitlichen Definition des Terrorismus. Waldmann nennt als Hauptcharakteristikum des Terrorismus neben der Kommunikationsstrategie, die terroristische Akte innehaben, den Zweck, »allgemeine Unsicherheit und Schrecken, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft [zu] erzeugen«75. In diesem Sinne stellt auch Herfried Münkler heraus: »Terroristische Strategien zielen […] nicht auf die unmittelbaren physischen, sondern auf die psychischen Folgen der Gewaltanwendung; sie sind weniger an den materiellen Schäden – dem Ausmaß der Zerstörung, der Anzahl von Toten, dem Zusammenbruch der Versorgungssysteme – interessiert, die von den Anschlägen verursacht werden, als an dem Schrecken, der dadurch verbreitet wird, und den Erwartungen und Hoffnungen, die mit diesen Anschlägen als Zeichen der Verletzbarkeit eines scheinbar übermächtigen Gegners verbunden werden können.«76

73 Ebd. 74 So formuliert Hoffman zugespitzt: »Der Terrorist wird stets behaupten, die Gesellschaft oder die Regierung oder das sozioökonomische ›System‹ und seine Gesetze seien die wirklichen ›Terroristen‹, und darüber hinaus wird er sagen, gäbe es diese Unterdrückung nicht, dann würde er nicht die Notwendigkeit gespürt haben, sich selbst oder die Bevölkerung, die er zu vertreten in Anspruch nimmt, zu verteidigen.« (HOFFMAN, Bruce: Terrorismus der unerklärte Krieg. Neue Gefahren politischer Gewalt. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 53f.) 75 WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 10. 76 MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 177, Herv. i.O. Kritik an dieser und Waldmanns Definition des Terrorismus findet sich vor allem in Bezug auf die Abgrenzung zwischen physischer und psychischer Gewalt, die, weil eine exakte Unterscheidung unmöglich zu treffen sei, die beiden Theoretiker schuldig blieben. Zudem wird kritisiert, dass die Kommunikationsstrategie des Terrorismus, die vor allem Waldmann proklamiert, auf die sich aber auch Münkler bezieht, kein Abgrenzungsmerkmal zu anderen Gewaltphänomenen darstelle, da nicht nur Terroristen, sondern auch andere Gewaltakteure zwecks der politischen Legitimation massenmediale Inszenierungen anstrebten (vgl. dazu: BAKONYI, Jutta: Terrorismus, Krieg und andere Gewaltphänomene der Moderne, S. 10 und WILKE, Boris: Der »Anti-Terror-Krieg« und die Taliban. Anmerkungen zur Genese eines regionalen Akteurs und zu den möglichen Folgen eines globalen Krieges, in: Bakonyi, Jutta (Hrsg.): Terrorismus und Krieg. Bedeutung und Konsequenzen des 11. September 2001. http:// www.eth.mpg.de/cms/en/people/d/bakonyi/pdf/ap4-01_Terrorismus.pdf (= Arbeitspapier 4

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Um diese »Schockeffekte« zu gewährleisten, wird ein langfristiger Trend zu »immer drastischeren Anschlägen und medialen Inszenierungen« deutlich, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass vermehrt Zivilisten gezielt getötet werden.77 Die neben den Schockeffekten gewünschte Unterstützung und Anwerbung von Sympathisanten sollen hingegen weniger durch die Terrorakte selbst, sondern vielmehr durch das darauffolgende Verhalten der Staatsapparate hervorgerufen werden: »Die Attentate sollen den Gegner zu möglichst brutalen und unverhältnismäßigen Maßnahmen provozieren, die ihn, so das Kalkül der Terroristen, ›entlegitimieren‹ und ›demaskieren‹.«78 Ein grundsätzliches Problem im Umgang mit Terrorismus, das mit dem Fehlen einer einheitlichen Definition einhergeht, liegt darin, dass er kein Staat und damit kein klar definierter ›Gegner‹ ist, sondern zunächst einmal ein Abstraktum.79 Die Unzuordbarkeit manifestiert sich zum einen in der geheimen Organisation der Gruppierungen im Untergrund und zum anderen in der Entwicklung vom nationalen zum transnationalen Terrorismus. Letzterer weist bereits darauf hin, dass einige terroristische Organisationen nicht nur grenzüberschreitend operieren, sondern sich auch untereinander zusammenschließen, was für deren Konstitution weitreichende Folgen hat, wie Schneckener anhand von vier Merkmalen plausibel macht80: 1.) hat sich die Zielsetzung von der Änderung nationaler Gegebenheiten verschoben hin zu einem Umsturz der internationalen Ordnung, was sich beispielsweise an der Aktivierung von Feindbildern wie ›der Westen‹ zeigt; 2.) wird eine transnationale Ideologie eingeführt, die einen großen Personenkreis anspricht, um die heterogen beschaffenen Gruppierungen zu vereinen; 3.) wird die Rekrutierung von Kämpfern stark ausgeweitet, sie beschränkt sich nicht mehr »auf eine ethnische Gruppe, eine Nationalität, eine Sprachgemeinschaft oder eine Weltregion«81; 4.) bauen derartige Terrororganisationen transnationale Netzwerkstrukturen aus, welche die über große Distanzen verstreuten Schaltstellen und Mitglieder miteinander verbinden. Mit dieser Undefinierbarkeit des Gegners, mit dem Verschwimmen der Grenzen zwischen den kriegerischen Akteuren, wird auch ein Hauptmerkmal der neuen Kriege angesprochen.

77 78 79

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(2001) Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung. Universität Hamburg), S. 3766, hier S. 42f.). SCHNECKENER, Ulrich: Transnationaler Terrorismus. Charakter und Hintergründe des »neuen« Terrorismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 15f. Ebd., S. 24. Ulrich Beck macht deutlich, dass die Terroranschläge vom 11. September 2001 ebenso ein Abstraktum waren, bis der amerikanische Präsident verkündete, dass Amerika der Krieg erklärt worden sei. Erst damit »wurde aus der Terrorattacke erstens ein politischer Terrorismus und zweitens ein globaler Terrorismus […]. Mag sein, daß zu Beginn die Rede vom ›Krieg‹ gegen den Terror noch metaphorisch gemeint war […]. Je mehr jedoch der ›Krieg‹ gegen den Terror zum militärischen Krieg, zum Staatenkrieg verengt wurde, wurde der schwer faßbare Terror zum globalen Terrorismus weltpolitisch aufgewertet.« (BECK, Ulrich: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 211, Herv. i.O.) Vgl. im Folgenden: SCHNECKENER, Ulrich: Transnationaler Terrorismus, S. 57-86. Ebd., S. 67.

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Ebenso kommt in diesem Zusammenhang ein weiteres, für die neuen Kriege ausgemachtes Charakteristikum zum Tragen: die Asymmetrie. So stellt auch Waldmann fest: »Terrorismus ist die bevorzugte Kampfstrategie relativ kleiner und ›schwacher‹ Gewaltverbände, er stellt die Extremform dessen dar, was in der neueren Literatur als asymmetrische Konfliktkonstellation bezeichnet wird.«82 Somit kann die asymmetrische Form auf der einen Seite an den beteiligten Akteuren festgemacht werden – terroristische Organisationen sind den Staatsapparaten häufig logistisch und personell unterlegen – und auf der anderen Seite zeigt sich die Asymmetrie in der sich durch Überraschungsmomente auszeichnenden Kampfstrategie, die sich terroristischer Verbände zunutze machen.83 Zudem und damit durchaus zusammenhängend zeigt sich auch im Terrorismus eine dezentrierte, d.h. entstaatlichte Gewalt. Während Staaten beispielsweise die Kontrolle über atomare Massenvernichtungswaffen weitestgehend innehaben, da diese in ihrer Herstellung und Anwendung sehr aufwendig sind, besteht durch waffentechnologische Entwicklungen wie »Nanotechnologien und Gentechnologien sowie deren Verschmelzung« jedoch die Möglichkeit, dass »Praktiker und Nutzer funktional äquivalente ›Bomben‹ und pestähnliche Krankheitsviren erzeugen und in Umlauf setzen oder zumindest damit drohen können.«84 Für Beck folgt daraus: »Jeder, jede kann, wenn er oder sie die Bereitschaft mitbringt, ihre Ziele mit der Waffe des eigenen Lebens zu verfolgen, Staaten den Krieg erklären.«85 Somit sind die neuen Kriege und terroristische Kampfstrategien nicht grundsätzlich gleichzusetzen, sie weisen aber in einigen, vor allem in Bezug auf die Entgrenzungsphänomene bedeutenden Aspekten Übereinstimmungen auf, weshalb beide in dieser Arbeit untersucht werden. 1.2.5 Zwischenfazit zu dem Theorem ›neue Kriege‹ Die Theoretiker der neuen Kriege gehen insgesamt davon aus, dass sich die Form der Kriege seit dem Ende des Kalten Krieges gewandelt hat: vom klassischen Staatenkrieg hin zu Formen von para- und substaatlichen Kriegen. Kritiker wenden sich indes im Allgemeinen vornehmlich gegen das Adjektiv ›neu‹. Sie sehen in den aufgezeigten Charakteristika keine neuen Strukturen, sondern unterstreichen, dass einzelne dieser Merkmale bereits in früheren Kriegsgeschehen zur Anwendung gekommen seien.86 Münkler hingegen macht deutlich, dass nicht die singulären Merkmale das entscheidend ›Neue‹ an der Kriegsform der neuen Kriege sind,87 82 83 84 85 86

WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 13. Vgl. SCHNECKENER, Ulrich: Transnationaler Terrorismus, S. 25. BECK, Ulrich: Der kosmopolitische Blick, S. 226. Ebd., S. 227. Vgl. u.a. SCHLICHTE, Klaus: Neues über den Krieg?, S. 129: »Alle in den vergangenen Jahren als ›neu‹ herausgestellten Merkmale des Kriegsgeschehens haben eine lange Geschichte.« Vgl. auch die schon programmatischen Überschriften: KAHL, Martin/TEUSCH, Ulrich: Sind die »neuen Kriege« wirklich neu?, in: Leviathan 32 (2004), S. 382-401; CHOJNACKI, Sven: Wandel der Kriegsformen?, S. 402-424. 87 »Asymmetrie und die Reaktion der Asymmetrie sind nicht neu: Wahrscheinlich ist kriegsgeschichtlich asymmetrische Kriegsführung sehr viel öfter anzutreffen als symmetrische

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sondern das Zusammenspiel und Ineinandergreifen aller genannten Faktoren. Erst durch das Aufeinandertreffen der drei Charakteristika Privatisierung, Asymmetrisierung und Entmilitarisierung, die einzeln auch schon in früheren kriegerischen Auseinandersetzungen aufgezeigt werden können, ist die Spezifik der neuen Kriege gegeben.88 Ein weiterer Kritikpunkt besonders in Bezug auf die dichotomische Unterscheidung in alte und neue Kriege besteht in der Schematisierung überhaupt: Durch die Strukturierung der Kriegsgeschehnisse in dieses Schema würden nicht einfach objektive Beobachtungen eines Wandels aufgezeigt, sondern die Wahrnehmung selbst sei durch diese Schematisierung beeinflusst, was realpolitische Konsequenzen im Konnex der Sicherheitspolitik nach sich zöge.89 Dieser Kritik können zwei Punkte entgegengestellt werden. Zum einen machen Kaldor, die diese Dichotomie einführte, sowie Münkler deutlich, dass es ihnen vornehmlich darum geht, einen prototypischen ›alten‹ Krieg zu beschreiben, der in der Realität exakt so wahrscheinlich nie stattgefunden hat, um daran gleichsam als Kontrastfolie das ›Neue‹ der gegenwärtigen Kriegsformen aufzuzeigen. Zum anderen kann diese Kritik als Allgemeinplatz bewertet werden, der an jedem beliebigen Schema und jedem Versuch der Kategorisierung angebracht werden kann. Denn sobald eine solche Strukturierung vorgenommen wird, werden Phänomene notwendigerweise in ihrer Komplexität reduziert und zudem homogenisiert, da nur so eine Einteilung überhaupt möglich wird. Das bedeutet, dass jegliche Erklärungsversuche mittels Kategorisierungen das Risiko in sich bergen, zu vereinfachen und die Wahrnehmung zu verändern. Ob die Bezeichnung ›neue Kriege‹ für die gegenwärtigen globalen Konflikte angemessen ist oder nicht, kann an dieser Stelle nicht abschließend diskutiert werden. Es fehlen vor allem valide empirische Untersuchungen,90 worauf Politikwissenschaftler und Soziologen immer wieder hinweisen. Selbst die übergeordnete Bezeichnung ›Krieg‹ ist nicht mehr eindeutig, da hier verschiedene Formen wie »Krieg (üblicherweise als politisch motivierte Gewalt zwischen Staaten oder organisierten politischen Gruppen definiert), organisierte[s] Verbrechen (privat motiviert, normalerweise auf finanziellen Gewinn abzielende Gewalttaten privat organisierter Gruppen) und massive[…] Menschenrechtsverletzungen (von Staaten oder politisch organisierten Gruppen gegen Individuen begangene Gewalttaten)«91

88 89 90

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Kriege. Auch das Auftreten substaatlicher bzw. semiprivater Kriegsakteure ist nicht neu, sondern in der Geschichte des Krieges immer wieder anzutreffen. […] Auch das dritte Merkmal der neuen Kriege, die Entmilitarisierung der Gewaltorganisation und die Konzentration auf nichtmilitärische Ziele bei Anwendung nichtmilitärischer Methoden, ist ebenfalls nicht neu.« (MÜNKLER, Herfried: Was ist neu an den neuen Kriegen?, S. 143.) Vgl. ebd. Vgl. GEIS, Anna: Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse, S. 16. Vgl. dazu auch ebd., S. 17. Das empirische Material, das bereits vorhanden ist, ist zudem allgemein kaum aussagekräftig, da es sowohl von den Befürwortern als Beleg als auch von den Gegnern bzw. Kritikern als Beweis für gegenteilige Aussagen Verwendung findet. KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege, S. 8.

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subsumiert werden können. Die Grenzen zwischen diesen einzelnen Formen verschwimmen in den gegenwärtigen, häufig globalisierten Konflikten. Gerade durch die Einbindung in ein transnationales Geflecht kann laut Kaldor oftmals nicht mehr zwischen außen und innen oder zwischen Aggression, verstanden als ein Angriff eines anderen Staates, und Repression, verstanden als Gewaltanwendung innerhalb eines Staates, unterschieden werden.92 Im Versuch diese Diskussion zu überwinden, bemerkt Ulrich Beck, dass nicht von einer Entscheidung für die eine oder die andere Seite zu sprechen sei, sondern von einem parallelen Nebeneinander: neben die klassischen Staatenkriege sei eine neue Kriegsform getreten. Jedoch macht er auch deutlich, dass für »die Zwecke der historischen Klassifikation […] es allerdings erforderlich [ist], analytisch zwischen alten und neuen Kriegen, Staatenkriegen und postnationalen ›kriegerischen Interventionen‹ für humanitäre Zwecke oder als Prävention gegen terroristische Attacken klar zu unterscheiden.«93 In diesem Sinne wird auch in der vorliegenden Arbeit nicht auf ein Ende der Staatenkriege insistiert, sondern vielmehr der Erkenntnis Rechnung getragen, dass erstens ein prozesshafter Wandel in Bezug auf die kriegerischen Auseinandersetzungen stattgefunden hat bzw. stattfindet, der vor allem die beteiligten Gruppierungen und deren Kampfstrategie tangiert und zweitens, dass die neuen Kriege unterschiedliche und verschieden ausgeprägte Charakteristika und Merkmale aufweisen. Obwohl einzelne davon bereits in früheren Kriegen nachgewiesen werden können, ist für diese Arbeit entscheidend, dass hier ein Zusammenspiel von Entstaatlichung, Asymmetrie und Entmilitarisierung konstatiert wird, die allesamt Formen einer Entgrenzung erkennen lassen. Daneben können noch weitere Entgrenzungsphänomene deutlich gemacht werden: »Die Enthegung des Krieges, die Diffusion der Gewalt bis in die äußersten Enden des gesellschaftlichen Kapillarsystems hat die neuen Kriege über die Unbestimmbarkeit ihres Anfangs wie Endes hinaus konturenlos werden lassen. Weder kennen sie die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nonkombattanten, noch sind in ihnen definierte Ziele und Zwecke auszumachen, um derentwillen der Krieg geführt wird. Und wie in ihnen die Gewaltanwendung nicht zeitlich begrenzt ist, so wird sie auch nicht räumlich eingeschränkt […].«94

Durch diese Enthegung der neuen Kriege lassen sich nun die folgenden Merkmale der Entgrenzung ableiten: Zum einen auf räumlicher Ebene, beispielsweise in Bezug auf das Kampfgeschehen, das nicht länger auf ein festgelegtes Schlachtfeld beschränkt bleibt, sondern durch die vorwiegend eingesetzte Strategie des Partisanenkrieges in oftmals unwegsames Gelände verlagert bzw. durch waffentechnologische Entwicklungen auf größte Distanz auseinandergezogen wird. Zudem büßen die Staatsgrenzen durch ihren nunmehr transnationalen Charakter oftmals starre und klar definierbare Bereiche ein. Zum anderen können Entgrenzungsphänomene auch in Bezug auf die Zeit festgemacht werden, was wiederum mit den geänderten Kampfstrategien in den neuen Kriegen zusammenhängt: Kämpfe finden häufig nicht mehr zu geregelten Zeiten statt, sondern plötzlich und überfallartig. Auch die Dauer eines 92 Vgl. ebd. 93 BECK, Ulrich: Der kosmopolitische Blick, S. 205. 94 MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 31.

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militärischen Konflikts insgesamt kann nicht mehr eindeutig fixiert werden, da, wie oben ausgeführt, auf der einen Seite keine Einigkeit darüber besteht, ob terroristische Anschläge ebenfalls zu den Kriegsgeschehnissen gezählt werden können, und auf der anderen Seite, da diese Auseinandersetzungen aufgrund der kriegsökonomischen Strategien der Warlords oftmals mehr schwelen als offen und kontinuierlich ausgetragen werden. Zudem entziehen sich die Akteure des Kampfes einer eindeutigen Identifizierung, weil eine Unterscheidung zwischen Kombattant und Non-Kombattant häufig nicht direkt ersichtlich ist und in diesem Kontext auch die Differenzierung zwischen Freund und Feind keine eindeutige mehr darstellt. Beck unterstreicht im Kontext der Kennzeichen ›postnationaler Kriege‹ das »Verflüssigen und Verflüchtigen der Basisunterscheidungen, die den nationalen Staatenkrieg konstituieren. An die Stelle des Entweder-Oder tritt ein Sowohl-als-Auch – sowohl Krieg als auch Frieden, sowohl Polizei als auch Militär, sowohl Verbrechen als auch Krieg, sowohl Zivilist als auch Soldat.«95 So wird auf der Basis politologischer und soziologischer Ergebnisse in einem allgemeinen Sinne deutlich, dass es sich bei dem Phänomen der neuen Kriege um eine Kriegsform handelt, die auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Zusammenhängen Entgrenzungen aufweist bzw. dass Grenzen in den neuen Kriegen eine quantitative und im Besonderen eine qualitative Modifikation erfahren und dadurch von den klassischen Staatenkriegen abgegrenzt werden können.

1.3 N EUE K RIEGE

UND

M EDIEN

Die enge Verwobenheit von Medien und Krieg ist freilich nicht neu: Bereits Alexander der Große setzte Schreiber ein, die in der Bevölkerung von seinen Siegeszügen berichten sollten und auch Napoleon nutzte im Zuge der Koalitionskriege die sich entwickelnde Presse für derartige Meldungen.96 Neben diesen zunächst nur in Form der Schrift übermittelten Berichten über das Kriegsgeschehen entwickelten sich durch die Lithographie und den Holzstich im 19. Jahrhundert neue Illustrationstechniken, die vor allem im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 großen Zuspruch fanden. Diese neue Art der Medialisierung wurde dann im Ersten Weltkrieg, dem ersten Krieg, der als totales »Großereignis [gilt], an dem die Menschenmassen Europas ohne Ausnahme entweder direkt beteiligt waren oder via Medien Anteil nahmen«97, mithilfe der Fotografie und in ersten Ansätzen in Form der bewegten Bilder noch gesteigert.98 Mit dem Hörfunk, dem Fernsehen und schließlich dem Internet wurde 95 96 97

98

BECK, Ulrich: Der kosmopolitische Blick, S. 206. Vgl. SCHRADER, Gunther: Zensur und Desinformation in Kriegen, S. 45. WERBER, Niels: Krieg in den Massenmedien, in: Palm, Goedart/Rötzer, Florian (Hrsg.): MedienTerrorKrieg. Zum neuen Kriegsparadigma des 21. Jahrhunderts. Hannover: Heinz Heise 2002, S. 175-189, hier S. 175. Vgl. WILKE, Jürgen: Krieg als Medienereignis. Zur Geschichte seiner Vermittlung in der Neuzeit, in: Preußer, Heinz-Peter (Hrsg.): Krieg in den Medien. Amsterdam/New York 2005 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 57 [2005]), S. 83-104, hier S. 98f.

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der Charakter von Massenmedien endgültig erreicht. Medien nahmen und nehmen so im Zusammenhang mit Kriegen spätestens seit dem 17. Jahrhundert mit der Entstehung der neuzeitlichen Informationsmedien99 eine besondere Stellung ein, da sie durch ihre Berichterstattung stark die öffentliche Meinung beeinflussen und dementsprechend bewusst eingesetzt werden. In diesem Sinne spricht Dominikowski von einer strukturellen Militarisierbarkeit der Medien, die sich anhand von vier Aspekten herausbilde: 1.) die technologische Militarisierbarkeit, d.h., dass sich Medien sowohl in Kriegen weiterentwickeln als auch Kriegsakteure darum bemüht sind, neue Medientechnologien zu nutzen; 2.) die ökonomische Militarisierbarkeit, die den wirtschaftlichen Nutzen der Kriege für die Medien fokussiert; 3.) die politische Militarisierbarkeit, die entgegen der eigenen Ansprüche an eine »unabhängige, ausgewogene, sachliche und objektive Berichterstattung«100, eine Parteilichkeit der Medien hervorhebt und 4.) eine individuelle Militarisierbarkeit, die den Druck auf den einzelnen Journalisten sowohl vor Ort im Kriegsgebiet als auch in der Heimat herausstellt.101 Auch Herfried Münkler gelangt zu der Einschätzung, dass der »Kampf mit Waffen […] zunehmend durch den Kampf mit Bildern konterkariert [wird], und insbesondere terroristische Strategien […] dadurch erheblich an Durchschlagkraft gewonnen [haben].«102 Die Medien werden als ein Mittel des Kampfes genutzt, was vor allem der waffentechnologisch unterlegenen Seite in einem asymmetrischen Geschehen zugutekommt. An den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001, die auch als »Medienereignis«103 bezeichnet wurden und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Konnex von Krieg und Medien neu entfachten104, wird die Reziprozität von Medien und Krieg in doppelter Hinsicht deutlich: Sowohl die (westlichen) Staaten, die den ›Krieg gegen den Terror‹ einleiteten, als auch die Terroristen selbst versuchen, die Medien für ihre Zwecke zu nutzen. So erreicht die Verbindung von Medien und Krieg hier einen (vorläufigen) Höhepunkt: Zuschauer konnten die Kollision des zweiten Flugzeugs mit dem südlichen Turm der ›twin towers‹ im Fernsehen simultan zum Geschehen anschauen. Die unmittelbaren Folgen des Anschlages waren hingegen zweigeteilt: Während der Krieg gegen das Terrorregime Al-Qaida in

99 Vgl. WILKE, Jürgen: Krieg als Medienereignis – Konstanten und Wandel eines endlosen Themas, in: Imhof, Kurt/Schulz, Peter (Hrsg.): Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich: Seismo 1995, S. 21-35, hier S. 23. 100 DOMINIKOWSKI, Thomas: ›Massen‹medien und ›Massen‹krieg. Historische Annäherungen an eine unfriedliche Symbiose, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 33-48, hier S. 48. 101 Vgl. ebd., S. 47f. 102 MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 52. 103 Vgl. z.B. WILKE, Jürgen: Krieg als Medienereignis, S. 103f. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Terminus im Kontext von Kriegen vgl. WILKE, Jürgen: Krieg als Medienereignis – Konstanten und Wandel eines endlosen Themas, S. 21f. 104 Vgl. KIRCHHOFF, Susanne: Krieg mit Metaphern. Mediendiskurse über 9/11 und den »War on Terror«. Bielefeld: transcript 2010, S. 21.

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Afghanistan kaum durch Bilder in den Medien präsent war,105 wurde der Irakkrieg (scheinbar) detailliert, zumeist in bewegten Bildern, im Fernsehen übertragen. Das Besondere daran zeigt sich in der Beschleunigung der Kriseninformation, wie Löffelholz deutlich macht. Dieser bereits für den Zweiten Golfkrieg zu konstatierende Prozess zeichnet sich dadurch aus, dass die aufgenommenen Bilder aus den Kriegsgebieten nicht erst bearbeitet werden müssen, sondern beinahe direkt übertragen werden können. Dies hat auf der einen Seite Auswirkungen für die Medien, die »Schnelligkeit [als] ein zentrales Wettbewerbsargument«106 erachten, auf der anderen Seite ist es so kaum noch möglich, die Informationen auf ihre vermeintliche ›Echtheit‹ zu prüfen, wodurch auch die Möglichkeit eines gewissen Grades an Fiktionalisierung des Krieges eröffnet wird.107 Insbesondere die kommerziell abhängige Berichterstattung und die gegenseitige Orientierung der Reporter aneinander haben den Journalismus im Golfkrieg als selbstreferentielles System enttarnt, der seine eigenen Wirklichkeiten schafft:108 »Entgegen landläufiger Vorstellungen ›transportieren‹ Medien […] keine Informationen, sondern der Journalismus als für die aktuelle Wirklichkeitskonstruktion primär zuständiges System entwirft nach bestimmten Regeln, Routinen und Ritualen Modelle der Wirklichkeit. Diese mediale Wirklichkeit wird durch Medienangebote verkörpert, die Ereignisse zu Nachrichten machen und damit Anlässe zur individuellen wie sozialen Wirklichkeitskonstruktion der Rezipienten liefern.«109

105 Vgl. BECKER, Jörg: Afghanistan: Der Krieg und die Medien, in: Albrecht, Ulrich/Ders. (Hrsg.): Medien zwischen Krieg und Frieden. Baden-Baden: Nomos 2002, S. 142-172, bes. S. 167ff. 106 LÖFFELHOLZ, Martin: Beschleunigung, Fiktionalisierung, Entertainisierung. Krisen (in) der »Informationsgesellschaft«, in: Ders. (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 49-64, hier S. 53. Hier deutet sich bereits an, dass Medien bzw. Kriegsreporter nicht als neutrale Beobachter wahrgenommen werden dürfen, sondern dass Medien bestimmten ökonomischen Bedingungen unterworfen sind und ihre Berichterstattung durch den scharfen Wettbewerb beeinflusst wird: »Modifizierte Auswahl-, Gestaltungs- und Präsentationskriterien wandeln sie zur ›news show‹. Kriege und Krisen werden durch die Kommerzialisierung des Programms auf Ereignisse reduziert, die sich innerhalb des Programmumfeldes und im Wettbewerb mit anderen Sendern verkaufen lassen müssen.« (Ebd., S. 59.) 107 Vgl. ebd., S. 54f. 108 Vgl. WEISCHENBERG, Siegfried: Zwischen Zensur und Verantwortung. Wie Journalisten (Kriege) konstruieren, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 65-80, hier S. 76ff. 109 LÖFFELHOLZ, Martin: Beobachtung ohne Reflexion? Strukturen und Konzepte der Selbstbeobachtung des modernen Krisenjournalismus, in: Imhof, Kurt/Schulz, Peter (Hrsg.): Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Zürich: Seismo 1995, S. 171-191, hier S. 174.

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Die Medienproduzenten sind – ebenso wie die mediennutzenden Terroristen – in einer »Überbietungsspirale« eingebunden, sie müssen »also immer größere und beeindruckendere Spektakel realisieren […], um noch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen.«110 Damit die Rezipienten, die, so Susan Sontag, »aus allen Richtungen mit dramatischen Bildern bombardiert« werden, überhaupt noch bestimmte Konflikte wahrnehmen und in Erinnerung behalten, müssen »Tag für Tag Aufnahmen aus diesem Konflikt gesendet und wiederholt werden. Die Vorstellung, die sich Menschen ohne eigene Kriegserfahrung vom Krieg machen, erwächst heute im wesentlichen aus der Wirkung solcher Bilder.«111 Gerade die omnipräsenten Bilder in der westlichen Medienlandschaft sind es, die eine Durchsichtigkeit und Ordnung des Geschehens suggerieren, »das katastrophisch antizivilisatorische Ereignis des Krieges zu einem zivilisatorischen Akt umzuformen [versuchen], ihm eine Ordnungsstruktur […] verpassen, die dieser per se nicht besitzt«112, aber das Gegenteil hervorbringen: Weder die Endlosschleife der Bilder der einstürzenden Türme noch die Aufnahmen der Kriegshandlungen zeigen die Wirklichkeit, sondern nur einen – interpretierbaren – Ausschnitt einer Wirklichkeit, die die Krisenkommunikation zuallererst nach ihren eigenen Regeln selbst modellhaft hervorbringt.113 Sontag spricht von »neuen Anforderungen« an die Wirklichkeit im »Zeitalter der Kameras«: »Es kann sein, daß das Wirkliche nicht erschreckend genug ist und daher noch betont werden muß; oder es muß nachgestellt werden, damit es überzeugend wirkt.«114 Als Beispiel wird von ihr die Schlacht von San Juan auf Kuba aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 angeführt, die, obwohl der tatsächliche Angriff gefilmt worden war, nachgestellt wurde, da es dem originalen Geschehen »an Dramatik gefehlt«115 habe. Aber nicht nur Mechanismen, die die Dramatik und Überbietung betreffen, determinieren eine vermeintlich wirklichkeitsgetreue Abbildung im Zusammenhang des Krieges, sondern auch die Zensur, der die Kriegsberichterstatter stets unterlagen und immer noch unterliegen. So wurden beispielsweise im Zweiten Golfkrieg keine genauen Angaben über »Standorte, Operationspläne und Methoden, Waffensysteme und Truppenbewegungen«116 gemacht, ebenso wenig über genaue Zahlen von Kriegstoten. Zudem wurde eine Übernahme

110 RÖTZER, Florian: Das terroristische Wettrüsten. Anmerkungen zur Ästhetik des Aufmerksamkeitsterrors, in: Palm, Goedart/Ders. (Hrsg.): MedienTerrorKrieg. Zum neuen Kriegsparadigma des 21. Jahrhunderts. Hannover: Heinz Heise 2002, S. 86-97, hier S. 86. 111 SONTAG, Susan: Das Leiden anderer betrachten. München/Wien: Carl Hanser 2003, S. 28. 112 PAUL, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges. Paderborn: Schöningh 2004, S. 11. 113 Vgl. zur theoretischen Grundlegung: LÖFFELHOLZ, Martin: Krisenkommunikation. Probleme, Konzepte, Perspektiven, in: Ders. (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 11-32, hier S. 13f. 114 SONTAG, Susan: Das Leiden anderer betrachten, S. 76. 115 Ebd. 116 SCHRADER, Gunther: Zensur und Desinformation in Kriegen, S. 51.

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des Sprachgebrauchs der Militärs unter der Leitung der amerikanischen Presseoffiziere deutlich.117 Besonders in der medienwissenschaftlichen Forschung wird der visuelle Symbolcharakter der Kriegsberichterstattung betont. Dieser kommt auf der einen Seite besonders im Hinblick auf die Bilder der brennenden und zerstörten Türme des World Trade Centers zum Ausdruck: Durch das ständige Wiederholen der Aufnahme der einstürzenden Türme habe das Leitmedium Fernsehen gleichsam als Komplize dazu beigetragen, dass ein Ziel der terroristischen Aktion erreicht wurde, »da der 11. September auch als der Krieg der Symbole klassifiziert werden kann.«118 Auf der anderen Seite wird der Symbolcharakter aber auch im Nachklang der Anschläge deutlich, wie zum Beispiel bei den Bildern von Feuerwehrmännern, die am Ground Zero auf den Trümmern die amerikanische Flagge hissen – gleichsam als Symbol der Unbesiegbarkeit.119 Weitere markante Beispiele sind die zu Fall gebrachte Statue Saddam Husseins in Bagdad oder die im Golfkrieg vermehrt verbreiteten Bilder »aus dem Technokrieg: der Himmel über den Sterbenden, erfüllt von den Leuchtspuren der Raketen und Granaten – Bilder, die die absolute militärische Überlegenheit Amerikas gegenüber dem Feind veranschaulichten.«120 Kirchhoff macht zudem darauf aufmerksam, dass den Bildern oftmals spezifische Genderkonstruktionen inhärent sind: »Während die ›Helden‹ des 11. September vor allem Feuerwehrmänner waren […], entfalteten während des Afghanistankriegs Bilder verschleierter Frauen erhebliche Symbolkraft, die sich in den Darstellungsstrategien auffallend ähnelten: aus einer Gruppe von Frauen in Burkas schaut ein – zumeist hübsches – unverschleiertes Gesicht hervor. Die kriegslegitimierende Deutung solcher Bilder liegt nahe: Krieg wird für die Durchsetzung von Frauenrechten in Afghanistan geführt, der unverschleierten Frau sollen bald weitere folgen […].«121

Neben diesen Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit kann besonders im Kontext der medialen Darstellungen des ›War on Terror‹ eine ganz allgemeine Einteilung in stereotype Dichotomien wie »›Abendland‹/›Morgenland‹, christlich/islamisch, säkular/fundamental, modern/rückständig, Terrorismus/Demokratie«122 ausgemacht werden, die ihre Funktion sowohl in der Ausgrenzung des Anderen als auch in der Inklusion und Konstruktion des Eigenen hat. Die militärischen Auseinanderset117 Vgl. ebd. 118 SCHICHA, Christian: »War on America« – Medienberichterstattung und symbolische Politikinszenierung nach den Terroranschlägen in den USA, in: Albrecht, Ulrich/Becker, Jörg (Hrsg.): Medien zwischen Krieg und Frieden. Baden-Baden: Nomos 2002, S. 123133, hier S. 129. 119 Vgl. ebd., S. 130. 120 SONTAG, Susan: Das Leiden anderer betrachten, S. 78. 121 KIRCHHOFF, Susanne: Krieg mit Metaphern, S. 26. 122 MAIER, Tanja/BALZ, Hanno: Orientierungen. Bilder des ›Fremden‹ in medialen Darstellungen von ›Krieg und Terror‹, in: Thiele, Martina/Thomas, Tanja/Virchow, Fabian (Hrsg.): Medien – Krieg – Geschlecht. Affirmationen und Irritationen sozialer Ordnungen. Wiesbaden: VS 2010, S. 81-102, hier S. 81.

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zungen erhalten so im medialen Diskurs durch »hegemoniale (Um-)Deutungen«123 den Charakter von Kultur- und Wertekonflikten, der sich durch die heraufbeschworene allgegenwärtige Gefahr eines ›internationalen Terrorismus‹, der auch auf ein potentielles Bedrohungsszenario für Deutschland verweist, noch potenziert. Damit zusammenhängend kann auch die Etablierung von starren Freund- und Feindbildern, die allerdings oftmals bereits zuvor historisch gewachsen sind, wie ein antiislamisches Bild124, durch die Medien im Zuge von Kriegsberichterstattungen festgestellt werden. So wird beispielsweise Saddam Hussein nicht nur gleichgesetzt mit dem Staatswesen Irak, er personifiziert darüber hinaus gleichsam die arabische Welt: »Und als ›Irrer‹ und ›Psychopath‹ im Zustand der ›Verwirrung‹ wird er derem generellem Image angepaßt.«125 Judith Butler macht an diesen Konstruktionen des Anderen die in derzeitigen Kriegen besonders starke Trennung zwischen solchen Menschen deutlich, zu denen man »nationale Affinität empfinden« kann und solchen, »die eine direkte Bedrohung meines Lebens und Daseins bilden«: »Erscheint eine bestimmte Bevölkerungsgruppe als direkte Bedrohung meines Lebens und Daseins, so erscheinen deren Angehörige nicht als ›Leben‹, sondern vielmehr als Bedrohung des Lebens (als lebendige Figuren der Bedrohung des Lebendigen).«126 Auf der Grundlage dieses Deutungsrahmens werden dann die von Butler aufgezeigten (und kritisierten) affektiven Unterschiede in Bezug auf Kriegstote – es gibt Betrauerbare und Nichtbetrauerbare127 – erklärt: »Diejenigen, die wir töten, sind nicht ganz menschlich und nicht ganz lebendig, und das bedeutet, dass wir beim Verlust ihres Lebens nicht den gleichen Schrecken und Zorn empfinden wie beim Verlust anderer, die uns in nationaler oder religiöser Hinsicht ähnlicher sind.«128 Als gleichsam antagonistisches Gegenbild zu der Darstellungen Saddam Husseins und des Irak werden die alliierten Soldaten medial inszeniert, an deren Spitze George W. Bush mit seiner zugeschriebenen Zuversicht und Konzentriertheit steht.129 Derartige konstruierte Dichotomien stützen selbstverständlich auch die Legitimation von Kriegen. So konnte besonders im Irakkrieg eine Abhängigkeit zwischen der gesellschaftlichen Zustimmung für den Krieg und den Fernsehbildern, die sowohl einen schnellen und reibungslosen als auch Soldaten schonenden Krieg zeigen sollten, ausgemacht werden. »Die Fernsehberichterstattung über die Kriege nach 1989 gleicht einem alltäglichen 123 Ebd. 124 Vgl. BECKER, Jörg: Afghanistan: Der Krieg und die Medien, S. 146. 125 KLENNER, Karsten/LENZEN, Elmar/OHDE, Christina u.a.: Tyrannen, Aggressoren, Psychopathen. Deutsche Tageszeitungen und ihre Feindbilder, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 109-126, hier S. 125. 126 BUTLER, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M./New York: Campus 2010, S. 46. 127 »Kriege teilen Bevölkerungen in Betrauerbare und Nichtbetrauerbare. Ein unbetrauerbares Leben ist ein Leben, um das nicht getrauert werden kann, weil es nie gelebt worden ist, das heißt, weil es überhaupt nie als Leben gezählt hat.« (Ebd., S. 43.) 128 Ebd., S. 47. 129 Vgl. KLENNER, Karsten/LENZEN, Elmar/OHDE, Christina u.a.: Tyrannen, Aggressoren, Psychopathen, S. 126.

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plebiszitären Test, bei dem die moralischen Legitimationen des Krieges, die politischen Begründungen und Zielsetzungen beständig überprüft werden, immer wieder neu zur Disposition stehen.«130 So hat das Fernsehen gleichsam die Funktion eines Kontrollmediums inne.131 Die gezeigten Inszenierungen mit ihrem ordnenden Charakter sollen so einerseits auf die starke Überlegenheit der eigenen Truppen verweisen und andererseits dem Gegner die Sinnlosigkeit einer Weiterführung des Krieges vor Augen führen.132 Die gegenläufige, also eine ablehnende, Wirkung in der Bevölkerung hatten demgegenüber die Bilder von gefesselten und erniedrigten Gefangenen aus Abu Ghraib, wie Judith Butler herausgearbeitet hat. Sie seien der Beweis, dass Amerikaner, die anderen Ländern die Demokratie bringen wollten, gegen geltendes internationales Menschenrecht verstießen, weshalb die Veröffentlichung dieser Bilder als »unamerikanisch« bezeichnet wurde. »Keiner von beiden [Bill O‘Reilly und Donald Rumsfeld] dachte daran, dass das Recht der Öffentlichkeit, über den Krieg in Kenntnis der vollständigen Beweislage zu urteilen, Bestandteil der demokratischen Tradition ist und zum Prozess der demokratischen Teilhabe und Entscheidungsfindung gehört.«133 Damit widerspreche die Unterdrückung der Veröffentlichung derartiger Bilder demokratischen Prozessen in einem Land, das sich selbst die Aufgabe auferlegte, die Staatsform der Demokratie zu verbreiten (Butler macht in diesem Kontext deutlich, dass sobald eine Herrschaftsform einem Volk aufgezwungen wird, diese per definitionem nicht demokratisch sein kann134).135 Sie vermutet hinter dem Versuch der Geheimhaltung dieser Bilder einen anderen, mit der Macht der Medien zusammenhängenden Grund: »Mir scheint, diejenigen, die die Macht des Bildes in diesem Fall beschneiden wollten, beabsichtigen zugleich eine Beschneidung der Macht des Affekts, des Zorns, wohl wissend, dass dieser Affekt die öffentliche Meinung gegen den Irakkrieg wenden könnte, wie es dann auch tatsächlich geschah.«136 Damit macht auch Butler die enge Wechselwirkung von medialer Darstellung und Bildungsprozessen der öffentlichen Meinung über den Krieg und dessen Legitimation deutlich. Somit kann festgehalten werden, dass Medien, die stets in einen bestimmten Kontext eingebunden sind und dementsprechend nicht als objektive Beobachter fungieren, eigene Interessen verfolgen. Mediale Kriegsdarstellungen sind damit keine Abbildungen einer Realität, sondern Ausschnitte einer Wirklichkeit, die sie selbst entwerfen und die bestimmte Intentionen aufweisen, sei es die Fürsprache und Legitimation eines Krieges innerhalb der eigenen Bevölkerung oder eine an die Anderen gerichtete Warnung. Dabei haben sie einen hohen Grad an Symbolkraft, die beson130 PRÜMM, Karl: Die Definitionsmacht der TV-Bilder. Zur Rolle des Fernsehens in den neuen Kriegen nach 1989, in: Daniel, Ute (Hrsg.): Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. zum 21. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 217-229, hier S. 219. 131 Vgl. ebd. 132 Vgl. ebd., S. 224. 133 BUTLER, Judith: Raster des Krieges, S. 45. 134 Vgl. ebd., S. 42. 135 Ebd., S. 45. 136 Ebd.

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ders dazu tendiert, Freund- und Feindbilder zu konstruieren. Neben ihrer »Doppelfunktion als Dispositiv der Wahrnehmung und Agenturen des kulturellen Gedächtnisses«137 werden die Medien so selbst zum Akteur des Krieges.

137 PAUL, Gerhard: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder, S. 15.

2. Theoretische Vorüberlegungen zur Bestimmung der Kategorie Grenze

Neben zahlreichen Begriffen und Redewendungen aus dem Wortfeld ›Grenze‹ versteht man unter einer Grenze im allgemeinen Sprachgebrauch eine Außenlinie eines bestimmten Territoriums, innerhalb derer der Geltungsbereich eines Staates existent ist und deren Hauptfunktion in der Abgrenzung von anderen Territorien besteht, womit sie sogar zur Voraussetzung politischer Gewalt überhaupt wird.1 In diesem Sinne definiert bereits das Grimm’sche Wörterbuch die Grenze als »gedachte linie, die zur scheidung von gebieten der erdoberfläche dient«2. Die Grenze wird hier also als eine Linie ohne räumliche Ausdehnung, als Scheidung zweier geographischer Bereiche verstanden. Dass die Staatsgrenzen diejenigen sind, die die gängige Auffassung von Grenzen, besonders ihre starre Fixierung, am meisten prägen, liegt vor allem daran, dass »Staatsgebiete […] weitgehend definiert [sind]: durch den Namen, durch vereinheitlichend wirkende politische und juristische Institutionen und eben durch ihre Grenzen.«3 Diese Grenzen sind nicht ›natürlich‹, sondern immer konstruiert und von Menschen gesetzt, auch wenn sie sich an geographischen Gegebenheiten wie Flüssen und Bergen orientieren.4 Der Prozess der politisch-geogra-

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BREDOW, Wilfried von: Beiderseitigkeit – Vom Verschwinden und Wiederauftauchen politischer Grenzen, in: Görner, Rüdiger/Kirkbright, Suzanne (Hrsg.): Nachdenken über Grenzen. München: Iudicium 1999, S. 57-72, hier S. 57. GRIMM, Jacob/GRIMM, Wilhelm: »Grenze«, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, I. Abteilung, 6. Teil. Greander-Gymnastik. Bearbeitet von Arthur Hübner und Hans Neumann. Leipzig: Hirzel 1935, Sp. 124-148, hier Sp. 127. BAUSINGER, Hermann: Kulturen – Räume – Grenzen. Festvortrag, in: Frieß-Reimann, Hildegard/Schellack, Fritz (Hrsg.): Kulturen, Räume, Grenzen. Interdisziplinäres Kolloquium zum 60. Geburtstag von Herbert Schwedt. Mainz: Gesellschaft für Volkskunde RheinlandPfalz 1996, S. 7-24, hier S. 9. In diesem Zusammenhang weist Bausinger darauf hin, dass Grenzen zwar vordergründig mit natürlichen oder kulturellen Trennungen begründet werden, morphologische Karten jedoch schnell deutlich machen, dass politisch motivierte Grenzziehungen oftmals natürlich zusammenhängende Räume durchkreuzen (vgl. ebd., S. 11.). Doch nicht nur die Grenzziehungen, gerade auch die Grenzüberschreitung und -neuformierung werden mit natürlichen Gegebenheiten legitimiert, wenn einzelne Staaten Expansionen anstreben und Gebiete mili-

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phischen Grenzziehung ging aus dem Mittelalter hervor und fand seinen Höhepunkt in der Ausbreitung der souveränen Staaten im 17. Jahrhundert.5 Rutz stellt fest, dass sich mit dieser Entwicklung auch die ›Materialität‹ der Grenzen verändert hat: Während es im Mittelalter in erster Linie mit Einritzungen versehene Bäume, hölzerne Grenzpflöcke oder Grenzsteine waren, die die Gebiete voneinander schieden, ist der Einsatz von Grenzposten erst vereinzelt (vor allem in Frankreich) im 18. Jahrhundert belegt. Da die mittelalterlichen Grenzen somit keineswegs unüberwindbar waren, mussten sie durch symbolische Handlungen (zum Beispiel Grenzbegehungen und Inszenierungen von Herrschaft an der Grenze6) und durch schriftliche Fixierungen gestärkt werden. Zudem waren sie nicht einheitlich gesetzt – so konnte beispielsweise ein Zollgebiet von dem der Rechtsprechung abweichen. Außerdem waren diese Institutionen nicht zentralisiert, was einer Vereinheitlichung bzw. klaren Eingrenzung eines Territoriums entgegenwirkte. Das alles führte dazu, dass in dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zahlreiche, sehr heterogene Grenzen wirkten. Erst nach 1800 kam es zu einer »Systemumstellung«7, die mit der Bildung einheitlicher Grenzen und der Zentralisierung der Macht einherging.8 Wichtig ist hier anzumerken, dass die neuere geschichtswissenschaftliche Forschung davon ausgeht, dass nicht zuerst die Territorialisierung und dann die Grenzen, quasi als ihr Ergebnis, entstanden ist, sondern im Gegenteil die Grenzen einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung des Staates geleistet haben.9 Neben der Markierung des Bereiches einer Staatshoheit kommt der Grenze im Zuge der Bildung der Nationalstaaten eine weitere Funktion zu: die der Identitätsbildung. Unter Nation wird hier mit Benedict Anderson eine »vorgestellte politische Gemeinschaft«10 verstanden: Sie ist vorgestellt, weil die Menschen sich, ohne einander tatsächlich zu kennen, die Vorstellung einer Gemeinschaft kreieren; sie ist auf eine bestimmte, wenn auch grundsätzlich variable Zahl begrenzt, die stets die Existenz anderer Nationen einschließt; sie ist souverän im Sinne von frei, wobei »Maßstab und Symbol dieser Freiheit […] der souveräne Staat [ist]«11; und sie wird trotz realer Ungleichheiten als eine Gemeinschaft vorgestellt, die aus grundsätzlich Gleitärisch erobern (vgl. RUTZ, Andreas: Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte Probleme und Perspektiven, in: Geulen, Eva/Kraft, Stephan (Hrsg.): Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur (= Sonderhefte der Zeitschrift für deutsche Philologie, 129 [2010]), S. 7-32, hier S. 12.). 5 Vgl. BREDOW, Wilfried von: Beiderseitigkeit – Vom Verschwinden und Wiederauftauchen politischer Grenzen, S. 58. 6 Unter Herrschaftsinszenierungen an der Grenze versteht Rutz vor allem Verhandlungen und Vertragsabschlüsse, die – vornehmlich von zwei Herrschern – direkt an der territorialen Grenze geführt werden (vgl. RUTZ, Andreas: Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte, S. 13.). 7 Ebd., S. 17. 8 Vgl. ebd., S. 13ff. 9 Vgl. ebd., S. 26. 10 ANDERSON, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. 2., erweiterte Auflage. Frankfurt a.M./New York: Campus 1996, S. 15. 11 Ebd., S. 17.

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chen besteht.12 Mit dem Konzept des Nationalismus gewinnt so die kollektive Identität an Bedeutung, wobei sie sich auf die Inklusions- und Exklusionsmechanismen der Grenzen beruft: »Für die Konstruktion kollektiver Identität und für ihre soziale, kulturelle und politische Prägekraft sind Grenzen von wesentlicher Bedeutung. Denn sie sollen möglichst alle Unsrigen umschließen und alle anderen ausschließen.«13 Diese »Homogenisierungstendenzen«14 des Staates werden durch zwei Entwicklungen gestützt: einerseits durch die sich selbstständig ergebene politische Vereinheitlichung und andererseits durch staatliche Eingriffe, zum Beispiel in Recht, Religion und Erziehung.15 Andersons Konzept benennt zwar die Vorstellung, auf der die Nationenbildung beruht, allerdings kann dieser Aspekt durch den Begriff des Imaginären stärker hervorgehoben werden, der »das ›Künstliche‹ oder ›Phantastische‹ dieser Vorstellungen, die auf Energien des Subjekts zurückgehen«16, betont. Deutlich wird dabei, dass der mit spezifischen Affekten besetzte Nationenbegriff nicht nur das Subjekt formiert, sondern dass »das Imaginäre […] die Vorstellungswelt von Kollektiven bestimmt«17, wodurch auch der enge Zusammenhang von Imaginärem und Macht zum Tragen kommt. Gerade im Zusammenhang mit Kriegen scheinen »nationale Argumentationsmuster«18, die das Konstrukt der Nation als stets anwesende und relevante Bezugsgröße erscheinen lassen, auf kollektiver Ebene aktiviert zu werden, da gerade hier Unterscheidungen zwischen Gruppierungen vorgenommen werden, die auf verschiedenen Kulturen basieren.19 Die Idee einer kollektiven Vorstellung beschäftigte auch den Soziologen Émile Durkheim, unter anderem in seinem Werk Die elementaren Formen des religiösen

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Vgl. ebd., S. 15ff. Ebd., S. 68. BAUSINGER, Hermann: Kulturen – Räume – Grenzen, S. 11. Vgl. ebd. GRABBE, Katharina/KÖHLER, Sigrid G./WAGNER-EGELHAAF, Martina: Das Imaginäre der Nation. Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Das Imaginäre der Nation. Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film. Bielefeld: transcript 2012, S. 7-23, hier S. 10f. 17 Ebd., S. 11. 18 Ebd., S. 7. 19 Nicht zufällig werden Kriegsparteien durch ihre Nationen identifiziert, wie es beispielsweise in dem Satz »›Die Deutschen‹ kämpften im Ersten Weltkrieg gegen ›die Franzosen‹.« deutlich wird. Hier zeigt sich auch das oben bereits beschriebene Problem der Benennung der Akteure im ›Krieg gegen den Terror‹: Da durch die spezifischen terroristischen Strukturbildungen nicht eine Nation als Gegner deklariert werden kann, sondern verschiedene und höchst unterschiedliche substaatliche Gruppierungen agieren, können diese allgemein zunächst lediglich als ein Abstraktum bestimmt werden. Diese Benennungspraktik offenbart jedoch nicht nur die heterogene Struktur dieser Gruppierungen, sondern zugleich auch das asymmetrische Verhältnis der Gegner, das sich in Anerkennungs- und Wahrnehmungspraktiken manifestiert: Wie eben herausgestellt, ist eine Nation ja ebenso ein imaginäres Gebilde, allerdings wird das Eigene – die Vorstellung einer Gemeinschaft als Nation – als das Maßgebende verstanden, was Abwertungsmechanismen bezüglich des Anderen impliziert.

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Lebens20, in dem er sich sowohl mit dem Raum als auch mit der Zeit auseinandersetzt. Ihm geht es in Abgrenzung zu Kant vor allem um den Nachweis, dass diese gesellschaftlich konstruierte Kategorien darstellen, die sich weder durch Homogenität und Absolutheit auszeichnen noch in erster Linie der Wahrnehmung unterliegen. Nach Durkheim konstituiert sich der Raum gerade durch seine künstliche Einteilung: »der Raum [kann] nicht er selbst sein […], wenn er, genauso wie die Zeit, nicht unterteilt und differenziert wäre.«21 Durch seine durchaus streitbare Beobachtung, dass »alle Menschen einer und derselben Zivilisation« gleiche räumliche Vorstellungen und Wahrnehmungsstrategien haben müssten, gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass diese »sozialen Ursprungs«22 sein müssten, Unterscheidungen wie rechts | links, oben | unten etc. also auf kollektiv geteilten Zuschreibungen basierten.23 Wenn also Raum und Zeit gesellschaftliche Konstrukte sind, muss folglich das Gleiche auch für die sie unterteilenden Grenzen gelten. Um die Wichtigkeit dieses Gedankens zu unterstreichen, spricht Durkheim sogar davon, dass ohne eine Unterteilung des Raumes und der Zeit soziales Leben überhaupt nicht stattfinden könnte.24 Auch Georg Simmel führt den Konstruktionsgedanken von Grenzen an, fokussiert aber einen anderen Aspekt: ihre unterschiedliche Beschaffenheit. Er unterteilt dabei geographische Grenzen in Gebiete mit mehr oder weniger starker Ausschließlichkeit und macht daran die verschiedenen Grade ihrer Durchlässigkeit fest. Während eine Stadt Einfluss auf eine andere nehmen kann und damit ihre »lokale Ausschließlichkeit«25 nicht besonders stark ausgeprägt ist, was bedeutet, dass ihre Grenzen durchlässig sind, ist die Staatsgrenze für Simmel eine absolute. Die Konsequenz aus dieser Überlegung ist, so Schroer, dass der Staat nicht nach außen, sondern nur nach innen Wirkung entfalten kann.26 Die Funktion der Grenze liegt in der Abgrenzung zur Umwelt und damit einhergehend in der Konstituierung einer sozialen Gruppe: »So ist eine Gesellschaft dadurch, daß ihr Existenzraum von scharf bewußten Grenzen eingefaßt ist, als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert, und umgekehrt: die wechselwirkende Einheit, die funktionelle Beziehung jedes Elementes zu jedem gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze.«27

Aus der Erkenntnis, dass Grenzen stets konstruierte Gebilde sind, leitet Simmel ab, dass es die politischen Grenzen sind, die ihre identitätsstiftende Funktion entfalten, 20 DURKHEIM, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. 21 Ebd., S. 30. 22 Ebd. 23 Vgl. dazu auch SCHROER, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 49. 24 Vgl. ebd., S. 50. 25 SIMMEL, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Bd. 11. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 692. 26 Vgl. SCHROER, Markus: Räume, Orte, Grenzen, S. 66. 27 SIMMEL, Georg: Soziologie, S. 694.

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wobei die »Grenze […] nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen [ist], sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.«28 Zudem erkennt Simmel an den konstruierten politischen Grenzen die Möglichkeit, dass sich Grenzen erweitern, verschieben, einziehen und verschmelzen.29 Simmels grundlegenden Ausarbeitungen zu der Wandelbarkeit der Grenze beschreiben besonders gut die Veränderungen der Grenzen im 20. Jahrhundert insgesamt. Zum einen kann hier ein deutlicher quantitativer Anstieg der Anzahl der Staaten und damit auch der territorialen Grenzen ausgemacht werden, zum anderen hat sich die Qualität der Grenzen im Zuge der Globalisierungsprozesse stark verändert: Grenzen haben nun weniger einen statischen als vielmehr einen transitorischen Charakter.30 Während diese Beobachtung hauptsächlich in wirtschaftlicher Hinsicht, beispielsweise in Form von Zollerlassen, oftmals zutrifft, kann aber auch die genau gegenläufige Tendenz festgestellt werden, wenn man zum Beispiel die Grenzüberwachungsinitiativen der EU oder die verstärkten Bemühungen der USA, die Grenze zu Mexiko abzusichern, betrachtet.31 Auch im Bereich der Wissenschaft spiegelt sich die vorherrschende Rolle der geographischen Grenzen wider. Im Wesentlichen findet in der Geographie, der Geschichtswissenschaft, der Politik, der Soziologie und der Volkskunde die Grenzthematik ihren Ausdruck und greift auf eine vielgestaltige und lange Tradition zurück. Die verstärkte Fokussierung in den Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte mag zum Teil an dem Postulat der Postmoderne liegen, Kultur und Literatur zu ›verorten‹32 und die gesetzten Grenzen zu überschreiten.33 Ihren deutlichsten Ausdruck findet die Auseinandersetzung mit geographischen Grenzen im Zusammenhang des spatial bzw. topographical turn34 in den Geistes- und Kulturwissenschaften, in denen 28 Ebd., S. 697. 29 Ebd., S. 695. 30 Vgl. BREDOW, Wilfried von: Beiderseitigkeit – Vom Verschwinden und Wiederauftauchen politischer Grenzen, S. 59. 31 Vgl. bspw. zu den EU-Initiativen der Grenzüberwachung die von der Heinrich-BöllStiftung herausgegebene Studie: Grenzwertig: Eine Analyse der neuen Grenzüberwachungsinitiativen der Europäischen Union. Berlin 2012. 32 Vgl. BHABHA, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 2000. 33 Vgl. GÖRNER, Rüdiger: Grenzen, Schwellen, Übergänge. Zur Poetik des Transitorischen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 58. 34 Der Begriff ›spatial turn‹ wurde von dem Geographen Edward Soja eingeführt und wird ausgeprägt in der Sozial- und Kulturgeographie und den Geschichts- und Sozialwissenschaften rezipiert. Hingegen findet der Terminus des ›topographical turn‹, den Sigrid Weigel 2002 als kulturwissenschaftliche Antwort auf die Kritik an dem traditionellen Raumdenken einführte, vorwiegend in der Literatur- und Medienwissenschaft Verwendung. Weigel geht es vor allem darum, die »konzeptionelle Ungleichzeitigkeit zwischen den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften« in Bezug auf die theoretische Behandlung der Kartographie und der Topographie herauszustellen, um zu dem Schluss zu kommen, dass es sich bei den Cultural Studies um eine »ethnographisch beeinflusste[…] Kulturtheorie, deren Texte durch topographische Konzepte dominiert sind«, handelt, während in den Kulturwissenschaften »Orte nicht mehr nur als narrative Figuren oder Topoi, sondern auch als

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Grenzen überwiegend unter räumlichen Aspekten thematisiert werden. Zum einen sind es die Globalisierungstendenzen dieser Zeit, in deren Zuge Grenzen aufgelöst oder neu gesetzt werden oder gänzlich verschwimmen. Diese Prozesse bringen sowohl auf der qualitativen als auch auf der quantitativen Ebene Veränderungen mit sich, nicht nur, wie oben angesprochen, in ökonomischer, sondern vor allem auch in politischer und kultureller Hinsicht. Denn mit geographischen Grenzziehungen sind Konstruktionen von Kultur und kultureller Identität eng verknüpft. Dieser Umstand ist laut Ortrud Gutjahr bereits etymologisch von den lateinischen Wörtern agricultura und colere abzuleiten, was die Bedeutung des Terminus ›Kultur‹ als die »Fähigkeit, aus Grund und Boden die eigene Subsistenz dauerhaft zu sichern«35, umfasst. Jedoch wurde der Begriff bis ins 17. Jahrhundert lediglich für einzelne Tätigkeiten genutzt, erst mit dem Naturrechtslehrer Samuel von Pufendorf findet er seit 1684 als Generalbegriff im Sinne eines alle menschlichen Lebensäußerungen umfassenden Terminus Verwendung. »Bei Pufendorf wurde ›Kultur‹ zu einem autonomen Begriff, zu einem Kollektivsingular, der nun – in einer kühnen Vereinheitlichung – sämtliche Tätigkeiten eines Volkes, einer Gesellschaft oder einer Nation zu umfassen beanspruchte.«36 In der theoriebasierten Debatte um den Komplex Kultur ist grundsätzlich zwischen universalistischen und relativistischen Positionen zu differenzieren. Während dem Kulturuniversalismus mit Rückbezug auf Immanuel Kants Philosophie die Vorstellung innewohnt, dass es universelle Normen und Regeln gibt, die allen Kulturen, mit noch so unterschiedlichen Konstitutionen, gemeinsam sind und durch diese identischen Grundzüge eine Verständigung bzw. Kommunikation zwischen den Kulturen überhaupt erst ermöglicht wird, wählt der Kulturrelativismus, der zum Teil auf Johann Gottfried Herder zurückgeht, die entgegengesetzte Perspektive und rückt die einzelne Kultur mit ihren je spezifischen Eigenarten in den Fokus der Untersuchung. So versucht der Kulturuniversalismus das Verstehen von unterschiedlichen Kulturen mit kulturübergreifenden Normen wie zum Beispiel der angeborenen Vernunft zu erklären, während der Kulturrelativismus die einzelne Kultur in ihrer Individualität analysiert. Das bedeutet im Hinblick auf die Grenzthematik, dass die Universalisten aufgrund der postulierten gleichartigen Basis der Kulturen Grenzen als überwindbar oder sogar als nichtig erachten, die Relativisten hingegen die Grenze als Demarkationslinie der Unterschiede zwischen den Kulturen fokussieren. Sehr häufig werden in dem Forschungsdiskurs mittlerweile jedoch beide Perspektiven als problematisch aufgefasst. So konstatiert beispielsweise Michael Hofmann in diesem Zusammenhang: konkrete, geographisch identifizierbare Orte in den Blick« genommen werden. (WEIGEL, Siegrid: Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2/2 (2002), S. 151-165, hier S. 156ff.) 35 GUTJAHR, Ortrud: Von der Nationalkultur zur Interkulturalität. Zur literarischen Semantisierung und Differenzbestimmung kollektiver Identitätskonstrukte, in: RazbojnikovaFrateva, Maja/Winter, Hans-Gerd (Hrsg.): Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur. Dresden: Thelem 2006, S. 91-122, hier S. 93. 36 WELSCH, Wolfgang: Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 45 (1995), S. 39-44, hier S. 39.

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»Während der Universalismus den relativistischen Positionen vorwerfen konnte, dass sie unfähig seien, Verstehen zwischen völlig differenten Kulturen zu erklären, konnte der Relativismus seinerseits bei dem Universalismus eine Unterordnung der fremden Kulturen unter die Werte und Normen der europäischen Aufklärung und des europäischen Humanismus diagnostizieren.«37

Viele Diskussionen um kulturelle Identität im Allgemeinen und um kulturelle Gleichheit bzw. Differenz im Speziellen basieren vor allem auf den durch die Globalisierungsprozesse verstärkten Migrationsbewegungen. Hierdurch verschieben sich die sozial-räumlichen Gegebenheiten und es treten Interaktionsformen zwischen Partnern auf, die sich »wechselseitig als unterschiedlich kulturell geprägt identifizieren.«38 Somit beschäftigen sich diese Theoriezweige insbesondere mit kulturellen Phänomenen wie Fremdheit, Differenz und Alterität. In diesem Kontext wird insbesondere für die gegenwärtigen Gesellschaften festgestellt, dass sie »in kultureller Hinsicht komplex und pluralistisch und weder in sprachlicher, noch in nationaler oder ethnischer Beziehung homogen [sind]. Differenz ist damit nicht länger Ausnahme oder (vermutete) vorübergehende Erscheinung, sondern zum Normalfall geworden.«39 Diese Stoßrichtung findet sich auch bei Wolfgang Welsch wieder, der zwischen dem ›traditionellen Kulturbegriff‹ und den Theorien ›Interkulturalität‹, ›Multikulturalität‹ und ›Transkulturalität‹ unterscheidet. Der traditionelle Kulturbegriff, ausformuliert bei Johann Gottfried Herder, beinhalte, so Welsch, die Vorstellung der Kulturen als Kugeln oder unabhängige Inseln mit drei Charakteristika: die ethnische Fundierung, die soziale Homogenisierung und die Abgrenzung nach außen.40 Dieses Bild von Kulturen sei jedoch in der heutigen Zeit unhaltbar geworden, da es nicht im Stande sei, die zahlreichen kulturellen Ausdifferenzierungen innerhalb einer Gesellschaft zu erklären und ihnen zu begegnen. Das Ziel der beiden Konzepte Interkulturalität und Multikulturalität, so postuliert Welsch, sei zwar ein besserer Umgang mit der Heterogenität der Kulturen und ihrer Verständigung, jedoch hätten sie den Grundsatz des traditionellen Kulturbegriffs nicht überwunden und tradierten damit das ›Kugelbildnis‹ der Kulturen weiter. Dem gegenüber steht für Welsch das Transkulturalitätskonzept, welches diese Vorstellung grundsätzlich ablehnt. Ausgangspunkt dieses Konzeptes ist die hochgradige Verflechtung und Durchdringung der Kulturen: »Die Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen der Nationalkulturen, sondern überschreiten diese und finden sich ebenso in anderen Kulturen.«41 Die These der Durchlässigkeit und Vermischung der Kulturen bringt auch Konsequenzen in Bezug auf die Konstruktion binärer Oppositionen mit sich: 37 HOFMANN, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn: Fink 2006, S. 40. 38 GUTJAHR, Ortrud: Von der Nationalkultur zur Interkulturalität, S. 91. 39 BÜKER, Petra/KAMMLER, Clemens: Das Fremde und das Andere in der Kinder- und Jugendliteratur, in: Dies. (Hrsg.): Das Fremde und das Andere. Interpretationen und didaktische Analysen zeitgenössischer Kinder- und Jugendbücher. Weinheim: Juventa-Verlag 2003, S. 7-28, hier S. 7. 40 Vgl. WELSCH, Wolfgang: Transkulturalität, S. 39. 41 Ebd., S. 42.

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»Die Austauschprozesse zwischen den Kulturen lassen nicht nur das alte FreundFeind-Schema als überholt erscheinen, sondern auch die scheinbar stabilen Kategorien von Eigenheit und Fremdheit. Es gibt nicht nur kein strikt Eigenes, sondern auch kein strikt Fremdes mehr.«42 Welsch resümiert: »Das Konzept der Transkulturalität zielt auf ein vielmaschiges und inklusives, nicht auf ein separatistisches und exklusives Verständnis von Kultur. Es intendiert eine Kultur, deren pragmatische Leistung nicht in Ausgrenzung, sondern in Integration besteht.«43 In Bezug auf Grenzen hat diese Kulturkonzeption entscheidende Konsequenzen: Wenn Kulturen nämlich schon von vornherein durchlässig und als Mischungen angelegt sind, dann kann es keinen in- und exkludierenden Prozess der Grenzziehungen zwischen einzelnen Kulturen geben. An dieser Stelle setzt ein zentraler Kritikpunkt an Welschs Theorem der Transkulturalität an: In letzter Konsequenz würde dieses Konzept auf die Vorstellung hinauslaufen, dass es keine Differenzen mehr zwischen Kulturen gibt, was wiederum eine Homogenisierung zur Folge hätte.44 Zudem verdeutlicht Aleida Assmann, dass eine »Ablösung kultureller Identitäten durch grenzüberschreitende Lebensformen« zwar die gegenwärtige »westliche postmoderne Situation« beschreiben würde, diese jedoch nicht für andere Teile der Welt postuliert werden könne; Welch impliziere folglich eine eurozentristische Perspektive. Assmann argumentiert, dass »immer mehr Gruppen und Staaten […] im Begriff [sind], in Reaktion auf diese Entwicklung ihre Identität aufzurüsten«45 und beschreibt damit Grenzziehungen zwischen einzelnen Gruppierungen und Staaten als Entgegenwirkung auf zunehmende Grenzüberschreitungstendenzen. Hier wird wohl vor allem das Bedürfnis nach Orientierung und Strukturierung anschaulich, das sich in Prozessen der Grenzsetzungen manifestiert.46 Gerade die Moderne zeichnet sich durch einen steten Wandel aus, in dem Grenzsetzungen und Abweichungen eine zentrale Rolle einnehmen: »Die Intensivierung von Veränderungen, die Zunahme zu regulierender Bereiche und die steigende Komplexität der geregelten Gesellschaft macht die Etablierung und Durchsetzung von Normen zugleich mit ihrer Flexibilisierung zugunsten des auf Dauer gestellten Wandels zu einem integrierenden Hauptthema moderner Vergesellschaftung.«47

42 Ebd. 43 Ebd., S. 43. 44 Neben dem Vorwurf der vermeintlichen Homogenisierung wurde an Welschs Konzept vor allem kritisiert, dass hier nicht auf die sozialen und ökonomischen Unterschiede und den daraus resultierenden unterschiedlichen Zugang zum kulturellen Kapital eingegangen wird (vgl. zu diesen beiden Kritikpunkten BLUMENTRATH, Hendrik/BODENBURG, Julia/HILLMAN, Roger/WAGNER-EGELHAAF, Martina: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film. Münster: Aschendorf 2007, S. 15ff.). 45 ASSMANN, Aleida: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Lindner, Rolf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller Identität. Frankfurt a.M./New York: Campus 1994, S. 13-35, hier S. 31. 46 Vgl. BAUSINGER, Hermann: Kulturen – Räume – Grenzen, S. 8. 47 FRANK, Gustav/LUKAS, Wolfgang: ›Grenzüberschreitungen‹ als Wege der Forschung, S. 19.

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Normen, die durch Grenzziehungen entstehen, können als »›Wegweiser‹ regelhaften Ausdrucksverhaltens und Denkens angenommen«48 werden, die Sozialität stabilisieren. Das bedeutet zugleich auch, dass die Grenzziehung eine »Formen- und Zeichenbildung und somit Sinnverleihung, also Kulturbildung«49 darstellt. Einen Kulturwandel kann man gerade als »Verletzung, Überschreitung, vor allem jedoch in den Formen einer Überschreibung solcher Grenzen in ›Texten‹ dieser Kultur«50 beobachten. Trotz des hier kurz skizzierten vielfältigen Interesses an der Grenze gibt es bisher keine einheitliche Theorie oder auch nur Definition der Grenze,51 was wohl vor allem den unterschiedlichen Schwerpunkten und Erkenntnisinteressen der einzelnen Bereiche und Disziplinen geschuldet ist. Versucht man sich der Grenze auf der Grundlage ihrer Konstitution zu nähern, ergeben sich zwei verschiedene Grenzarten: die Grenze als Linie und die Grenze als Raum. Diese beiden Formen sind natürlich in ihrer Abgrenzung zueinander ebenfalls konstruiert und stellen Prototypen dar; Mischformen sind ebenso möglich wie die Reinform dieser unterschiedlichen Arten. Wenn man von einer Grenze im Sinne einer Linie spricht, geht es zuvörderst um territoriale Grenzen, die ein bestimmtes Gebiet – zumeist einen Staat – umgrenzen. Hier wird die Vorstellung einer Bodenmarkierung (im weiteren Sinne gilt dies auch für das Meer und für den Luftraum) postuliert, die eng mit der Konstitution eines Staates, nämlich dessen politischer Potenz, zusammenhängt.52 Auch im Zusammenhang mit Abgrenzungsmechanismen begegnet man einer Grenzlinie. So hält Waldenfels fest, dass sich durch die »anschauliche Umrißlinie« eine Gestalt vom »grenzenlos Unbestimmten« scheidet.53 Entscheidend an der Konzeption der Grenze als Linie ist, dass sie auf ein Minimum reduziert ist und somit fast keine räumliche Ausdehnung besitzt. Als Linie trennt sie zwei Bereiche voneinander und ermöglicht potentiell ein Hin und Her zwischen diesen Teilen. 48 Ebd. 49 RYMAR, Nikolaj T.: Grenzen und Grenzerfahrungen in den Sprachen der Künste, in: Kemper, Dirk (Hrsg.): Deutsch-russische Germanistik: Ergebnisse, Perspektiven und Desiderate der Zusammenarbeit. Moskau: Stimmen der slawischen Kultur 2008, S. 323-344, hier S. 323. 50 FRANK, Gustav/LUKAS, Wolfgang: ›Grenzüberschreitungen‹ als Wege der Forschung, S. 19f. 51 WOKART, Norbert: Differenzierungen im Begriff »Grenze«, in: Faber, Richard/Naumann, Barbara (Hrsg.): Literatur der Grenze. Theorie der Grenze. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 275-289, hier S. 278. 52 Andererseits hebt Friedrich Ratzel gerade im Zusammenhang politischer Grenzsetzungen, die oftmals als Prototypen der Grenzlinie herangezogen werden, eine Unterscheidung zwischen Linie und Raum hervor. Die Linie, die man in eine Karte eintragen kann, diene lediglich als Gedächtnisstütze, der in der Natur selbst erfahrbare Grenzraum hingegen sei »das Wirkliche, die Grenzlinie die Abstraktion davon.« (RATZEL, Friedrich: Politische Geographie. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage von Eugen Oberhummer. Osnabrück: Otto Zeller 1974, S. 385.) 53 WALDENFELS, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 31998, S. 29.

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Der linearen Grenzart steht diejenige gegenüber, die Grenzen als Räume markiert. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass der Grenzraum als ein eigenständiger Ort mit besonderen, eigenen Regeln gedacht wird, die ihn zu einem »Ort der Differenz«54 machen. Dieser Raum, an dem man sich temporär aufhalten kann,55 ist eine »Begegnungsstätte«56, hier »kommt das Verschiedene und Unterschiedene in einem doppelten Sinn zusammen: Es trifft aufeinander, und es geht ineinander über.«57 Somit teilt die Grenze einen Raum in zwei Bereiche, verbindet diese beiden zugleich miteinander und nimmt eine Vermittlerinstanz ein. Auf diese Weise werden auch Bedeutungen und Sinnsysteme einerseits zunächst erzeugt und stehen sich andererseits an der Grenze gegenüber. »Alle Unterscheidungs- und Differenzierungsmomente sind an den Grenzen zu suchen. Hier entstehen Spannungen, die die Stabilität der Grenze sichern und zugleich an ihrer Stabilität rütteln.«58 Gerade die Kunst mit ihren Möglichkeiten der Darstellung, aber auch der kritischen Reflexion kann hierzu beitragen: »Prozesse des neuen Grenzziehens schaffen eine neue Sichtweise, eine neue Sprache und somit eine neue Wirklichkeit.«59 Arnold van Gennep und in seiner Nachfolge Victor Turner bereichern ihre Theorie der Liminalität indes mit einem dynamischen Faktor: Ausgangspunkt ist eine bestimmte Ordnung, die durch eine Krise (liminale Phase) gestört wird. Diese Krise wird überwunden und führt zur Wiedereingliederung in die Strukturen der ursprünglichen Ordnung.60 Damit wird eine kreisförmige Bewegung aufgezeigt, wobei die liminale Phase lediglich einen Übergang darstellt: »Gegenüber der vorherigen Struktur stellt sie als Ab-Grenzung eine vergleichsweise rigide und zudem irreversible Grenzziehung ohne Umkehrmöglichkeiten dar. Gegenüber der neuen Struktur bildet sie eine zu dieser hin durchlässige, ja geradezu auf sie hinauslaufende Zone des Übergangs, ist Schwelle, Zwischenraum, Passage beim Durchlaufen eines Ritus, an dessen Anfang die ›Aufhebung früherer Statusdifferenzierung‹ und an dessen Ende die ›Bildung einer Gemeinschaft aus anscheinend Gleichen‹ durch Teilhabe an einer neuen Struktur steht.«61

Die liminale Phase des Übergangs wird von van Gennep und Turner sowohl als Schwelle als auch als Passage bezeichnet und wird räumlich gedacht, zum Beispiel in 54 LAMPING, Dieter: Über Grenzen – Eine literarische Topographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 12. 55 Vgl. BENTHIEN, Claudia/KRÜGER-FÜRHOFF, Irmela Marei: Vorwort, in: Dies. (Hrsg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 7-16, hier S. 10. 56 STRECK, Bernhard: Grenzgang Ethnologie, in: Faber, Richard/Naumann, Barbara (Hrsg.): Literatur der Grenze. Theorie der Grenze. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 185-195, hier S. 187. 57 Ebd., S. 13. 58 RYMAR, Nikolaj T.: Grenzen und Grenzerfahrungen in den Sprachen der Künste, S. 324. 59 Ebd., S. 326. 60 GENNEP, Arnold van: Übergangsriten. (Les rites de passage). Frankfurt a.M./New York: Campus 1986, S. 21. 61 PARR, Rolf: Liminalität und andere Übergänge, S. 21.

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Form von Toren, Bodenschwellen oder Tragbalken. Für die Personen, die diese Phase durchlaufen konstatiert van Gennep: »Jeder, der sich von einer Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten.«62 Auch Turner macht auf diesen Zustand, weder hier noch dort zu sein, aufmerksam und stellt fest, dass gerade aufgrund dieser Unbestimmtheit Gesellschaften den ritualisierten Übergang mittels Symbolen markieren und mit anderen Situationen wie dem Tod oder der Unsichtbarkeit gleichsetzten.63 Das Entscheidende an dieser Konzeption ist auf der einen Seite, dass die Phase der Liminalität stets nur kurz, übergangsweise betreten und dann wieder verlassen werden muss, weshalb neben der räumlichen auch eine zeitliche Dimension zum Tragen kommt, und auf der anderen Seite, dass dieser ritualisierte Prozess nur in eine Richtung ausgeführt und nicht rückgängig gemacht werden kann. Trotz der grundlegenden Abkehr der Bestimmung einer Grenze als Linie sind die Konzeptionen der Grenze als Raum nicht einheitlich. So wird in verschiedenen Theorien mit unterschiedlichen Begriffen operiert, wie zum Beispiel mit der Schwelle, der Passage oder der Übergangszone. In diesem Sinne benutzt auch der Philosoph Walter Benjamin, einer der wohl bekanntesten Theoretiker in diesem Zusammenhang, in seinem Werk sowohl den Begriff der Schwelle als auch den der Passage. Anzumerken ist jedoch, dass er diese nicht im Sinne einer einheitlichen Theorie verwendet, vielmehr werden die Termini polyvalent in verschiedenen Zusammenhängen eingeführt. Rolf Parr unterscheidet vier Bereiche, in denen Benjamin Schwellen ausmacht und analysiert. Er beschreibt sie als »Kreuzpunkte nahezu aller Hauptlinien seines Denkens und Schreibens.«64 So stehen Schwellen bei Benjamin im Zusammenhang mit räumlichen (z.B. Tore und Türschwellen) und zeitlichen Aspekten (z.B. Erinnerungen, die das Vergangene und das Gegenwärtige verbinden) ebenso wie mit Bewusstseinserweiterungen und sozialen Markierungen.65 Obwohl diese Bereiche ganz unterschiedlich gelagert sind, ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, dass Benjamin die Schwelle deutlich von der Grenze unterscheidet: »Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ›schwellen‹ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen.«66 Die Differenzierung zwischen Grenze und Schwelle liegt für Benjamin damit in der räumlichen Ausdehnung: Während die Schwelle einen Raum beschreibt, umfasst die Grenze eine raumlose Linie. 62 GENNEP, Arnold van: Übergangsriten, S. 27. 63 Vgl. TURNER, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M.: Campus 1989, S. 95. 64 PARR, Rolf: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft, in: Geisenhanslüke, Achim/Mein, Georg (Hrsg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript 2008, S. 11-64, hier S. 20. 65 Vgl. ebd., S. 17ff. 66 BENJAMIN, Walter: Gesammelte Schriften. Das Passagen-Werk, Bd. 5,1. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 618.

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Ähnlich argumentieren auch Audehm und Velten, wenn sie festhalten, dass die Schwelle einen Raum des Übergangs darstellt, der allerdings eine klare Verortung aufweist: »Im Unterschied zur Grenze ist die Schwelle immer zwischen zwei aneinander grenzenden, separierten Bereichen verortet, ist ein Raum des Übergangs, der Passage […]. Die Schwelle ist somit eine Metapher der Transzendenz und der Identitätsstiftung, denn sie verspricht Neues: einen neuen Raum, einen neuen Lebensabschnitt, neue Erfahrungen.«67 Damit ist die Schwelle durch ihre Funktion eines Übergangs bestimmt, der eine Vermittlung und Verbindung zwischen zwei Bereichen herstellt.68 Erika Fischer-Lichte zeigt unter der gleichen Prämisse auf, dass die Unterscheidung in Grenze oder Schwelle auch von der Wahrnehmung abhängig ist: »Was dem einen als eine – vielleicht gar unüberwindbare – Grenze erscheint, wird von dem anderen als eine Schwelle wahrgenommen, die zum Überschreiten einlädt. Auch werden Grenzen oft erst im Akt der Übertretung – also indem sie als Schwelle genutzt werden – überhaupt als Grenze erfahren.«69 Grenzen (in) der Literaturwissenschaft Die Grenzthematik gewinnt in der Literaturwissenschaft ebenfalls wieder an Bedeutung und auch hier zeichnet sich die Tendenz ab, vor allem real-geographische Grenzen zu untersuchen.70 Dass Grenzen jedoch in ganz verschiedenen Kontexten gezogen werden, Bereiche voneinander separieren und somit definierbar machen, zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Geschichte des Fachs, denn die Thematisierung von Grenzen ist auch in dieser Disziplin kein neuzeitlicher oder gar ›postmoderner‹ Gedanke. Bereits in der Antike beschäftigten sich Dichter wie Ovid und Vergil mit Grenzen71 und spätestens mit der aus der griechischen Mythologie stammenden Figur des Götterboten Hermes, der die Grenze zwischen göttlicher und irdischer Sphäre überschreitet, um Botschaften zu den Menschen zu bringen, ist ein literarischer Grenzgänger geschaffen, der nachhaltig rezipiert wird. Dabei überschreitet er nicht lediglich die Grenze zwischen den Sphären, sondern er stellt sie zuallererst her und markiert und tradiert sie durch die Überschreitung stets aufs Neue. 67 AUDEHM, Kathrin/VELTEN, Rudolf: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Transgression – Hybridisierung – Differenzierung. Zur Performativität von Grenzen in Sprache, Kultur und Gesellschaft. Freiburg i.Br./Berlin/Wien: Rombach 2007, S. 9-40, hier S. 14. 68 Vgl. ebd. 69 FISCHER-LICHTE, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 358. 70 Vgl. WEDER, Christine: Wie gelangt man ins Schlaraffenland? Topologische und poetologische Konsequenzen besonders phantastischer Grenzen, in: Geulen, Eva/Kraft, Stephan (Hrsg.): Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur (= Sonderhefte der Zeitschrift für deutsche Philologie, 129 [2010]), S. 75-92, hier S. 76. 71 Vergil beschreibt in der Aeneis ein Rom ohne zeitliche oder räumliche Grenzen, einen Mythos, den Ovid, wenn auch in veränderter Form, in den Metamorphosen ebenfalls aufgreift (vgl. EHLERS, Widu-Wolfgang: Zwischen Kolosseum und Olymp. Adaption und Transformation griechischer Mythen in Rom, in: Vöhler, Martin/Seidensticker, Bernd (Hrsg.): Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin/New York: De Gruyter 2005, S. 51-67, hier S. 60ff.).

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Auch auf theoretischer Ebene spielen Grenzkonstruktionen eine prononcierte Rolle. In der Aufklärung erlangten Aspekte der Distinktion eine große Bedeutung, beispielsweise differenziert Gotthold Ephraim Lessing allgemein die Künste voneinander. In seinem Traktat Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie72 unterscheidet er, auf die »alten Dichter«73 der Antike Bezug nehmend, so zwischen der bildenden Kunst und der Poesie, wobei die Abgrenzungsmerkmale die Kategorien Raum und Zeit sind: Während sich die Malerei mit Körpern auseinandersetze, die nebeneinander existieren (Raum), liege das Hauptaugenmerk der Poesie auf den Handlungen, die aufeinanderfolgen, weshalb man diese zu den Zeitkünsten zu zählen habe. Diesen Bereichen ordnet Lessing spezifische Mittel und Zeichen zu: der Malerei natürliche Zeichen aus der menschlichen Erfahrungswelt, der Poesie hingegen willkürliche Zeichen, also »auf Konvention beruhende[…] sprachliche[…] Verständigungsmittel[…].«74 Dabei eröffne sich, so Lessing, für Letztere ein »weit größerer Raum der Gestaltung, eine vom Widerstand des Materials entlastete Freiheit der Darstellung«75. Obwohl bereits einige seiner Zeitgenossen, wie Jean-Baptiste Du Bos, Unterschiede zwischen Poesie und Malerei, zwischen »natürlichen und künstlichen Zeichen« vorgenommen hatten, war Lessing der Erste, der eine strenge Grenzziehung zwischen diesen Bereichen »aus der Differenz von Sprach- und Bildzeichen«76 ableitete, was die Bedeutung des Laokoon-Essays verdeutlicht. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung nimmt er dann auch eine Hierarchisierung vor, die der Poesie vor der Malerei den Vorzug gibt, da ihr als »weitere Kunst« unter anderem »Schönheiten zu Gebote stehen, welche die Malerei nicht zu erreichen vermag«77. Auch hier wird versucht, auf der Grundlage bestimmter Kriterien eine Definition eines Bereichs zu schaffen, der in Abgrenzung zu einem anderen steht und dessen Grenze nicht überschritten werden kann.78 Weitere, ebenfalls mit Wertungen einhergehende Grenzziehungen, sowohl zwischen den Kunstformen als auch innerhalb dieser Formen, findet man in den norma-

72 LESSING, Gotthold Ephraim: Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5.2: Werke. 1766-1769, hrsg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 9-321. 73 Ebd., S. 79. 74 VOLLHARDT, Friedrich: Nachwort, in: Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Studienausgabe, hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Stuttgart: Reclam 2012, S. 437-467, hier S. 453. 75 Ebd., S. 461. 76 Ebd., S. 449. 77 LESSING, Gotthold Ephraim: Laokoon, S. 79. 78 Interessanterweise befasst sich der dritte, nicht veröffentlichte Teil von Laokoon nicht mit den unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen Poesie und Malerei, sondern forciert vielmehr die Gemeinsamkeiten. Das Drama habe nämlich, wie Lessing in einem Brief nach der Anfertigung der Abhandlung der Hamburgischen Dramaturgie deutlich macht, »eine grenzüberschreitende Stellung […], da es die konventionellen Zeichen der Sprache vor dem Zuschauer in natürliche Zeichen verwandeln kann.« (VOLLHARDT, Friedrich: Nachwort, S. 445f.)

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tiven Poetiken, zum Beispiel von Martin Opitz79 und Johann Christoph Gottsched80, die, indem sie Regeln aufstellen, die sowohl festlegen, wie Literatur herzustellen sei, als auch anhand dieser Kriterien ›gute‹ von ›schlechter‹ Literatur unterscheiden wollen, ihren Gegenstand fest umgrenzen und dadurch zugleich anderes ausgrenzen. Als Gegenbewegung zu solch strikten Eingrenzungen entstand das Geniebewusstsein, das insbesondere ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem zentralen Reflexionsgegenstand avancierte.81 Hier geht es nicht um Grenzziehungen, sondern um auf schöpferischer Einbildungskraft basierende Grenzüberschreitungen, die zu einem konstitutiven Merkmal des Genies werden, da nur dies dazu überhaupt im Stande sei.82 Werner Jung betont in diesem Zusammenhang für die Epoche des Sturm und Drang: »Das Genie wird in den Vordergrund gerückt, alle Regeln über Bord geworfen. Der Künstler ist als Schöpfer ein zweiter Gott, Prometheus ist Leitfigur, Shakespeare heißt das große Vorbild.«83 Die sukzessive Abkehr von diesem Geniebild, die bei den Autoren der Romantik einhergeht mit dem Rückzug aus der gesellschaftlich-politischen Welt und der Konzentration auf das Gefühl, bildet eine Grenzüberschreitung auf inhaltlicher Ebene, nämlich einer vollkommen differenten, sich abgrenzenden Lebens- und Weltanschauung, in der sich die Schriftsteller selbst als Außenseiter konstruieren und »gegen eine zerrissene, zweckrational eingestellte Gesellschaft [opponieren]«84. Die Schriftsteller, die zu der äußerst heterogenen Gruppe der Jungdeutschen gezählt werden, beschäftigen sich im Gegensatz dazu explizit mit aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen unter dem Diktum, dass »Poesie wieder parteilich und demokratisch engagiert«85 sein müsse, wobei die Revolution von 1848 bzw. deren Scheitern diese recht kurze Phase literarischen Schaffens frühzeitig beendete. Die durch das Scheitern hervorgerufene Ernüchterung brachte wiederum eine neue Grenzüberschreitung auf inhaltlicher Ebene mit sich, die sich in der Epoche des Realismus zeigt und mit den Schlagwörtern Pessimismus und Desengagement umschrieben werden kann.86 Neben den sich im Anschluss daran entwickelnden Stilrichtungen wie dem Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil, deren Gemeinsamkeit in der Hervorhebung der Form gegenüber dem Inhalt liegt, ist hier noch kurz die Avantgarde des 20. Jahrhunderts zu erwähnen, die, von ihrem »antimimetischen und antiillusionistischen Impuls«87 ausgehend, die etablierten literarischen Formen und Gattungen aufzusprengen versuchte. Neuhäuser macht deutlich, dass das

79 Vgl. OPITZ, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe, hrsg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart: Reclam jun. 2002. 80 Vgl. GOTTSCHED, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, in: Ders.: Schriften zur Literatur, hrsg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart: Reclam 1972. 81 JUNG, Werner: Poetik. Eine Einführung. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2014, S. 75. 82 Vgl. GÖRNER, Rüdiger: Grenzen, Schwellen, Übergänge, S. 57. 83 JUNG, Werner: Poetik, S. 89. 84 Ebd., S. 109. 85 Ebd., S. 134. 86 Vgl. ebd. 87 Ebd., S. 191.

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»jugendliche Alter der Avantgardisten und der Zwang, festgefahrene, automatisierte Gestaltungs- und Rezeptionsmechanismen zu durchbrechen, […] zu einer Radikalisierung im Denken, Schreiben und Handeln der Avantgarde [führen]. Der kulturelle und gesellschaftspolitische Bezug der Literatur wird gerade von der Avantgarde besonders intensiv erlebt und in ihren Texten gestaltet.«88

Interessant sind neben den Abgrenzungsversuchen zum Althergebrachten und Etablierten diejenigen Prozesse der Distinktion, die sich unter den Strömungen der Avantgarde selbst vollziehen. Van den Berg und Fähnders stellen in diesem Kontext heraus, dass die einzelnen ›Ismen‹, die der avantgardistischen Strömung zugeordnet werden, wie beispielsweise der Futurismus oder der Surrealismus, sehr darum bemüht waren, die Unterschiede zwischen ihnen deutlich hervortreten zu lassen und sich so voneinander abzugrenzen, bzw. die Abgrenzung dadurch zuallererst herzustellen: »Die Proklamation eines ›Ismus‹ ist ein stets demonstrativer Akt, der die Bedeutung dieses und nur dieses Ismus hervorstreicht, und häufig ist er ein performativer Akt, der die Proklamation selber zur avantgardistisch-künstlerischen Praxis erhebt und Verkündigung und Vollzug, Theorie und Praxis vereinigt.«89

Somit kommen in dieser Epoche ganz explizit zwei Grenzziehungsmechanismen zum Ausdruck: die Abgrenzung zu dem, was zuvor die Norm darstellte, indem mit Gattungs- und Gestaltungstraditionen gebrochen wird, und die Grenzsetzung untereinander, die, anstatt die Gemeinsamkeiten zu fokussieren, auf den Unterschieden der einzelnen Strömungen basiert. Eine Grenzziehung, die primär mit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Literatur zusammenhängt, ist die des fachlichen Untersuchungsgegenstandes. Die zentrale Frage in diesem Kontext lautet, was Literatur von nicht-literarischen Texten unterscheidet. Wie die beiden Kategorien voneinander abgetrennt werden, hängt vor allem von der theoretischen Ausrichtung der Diskutanten ab.90 Verschiedene Kriterien und Bezeichnungen zur Abgrenzung sind im Laufe der Zeit entstanden, wie beispielsweise der Gebrauchstext (z.B. Kochrezepte) als Gegensatz zum literarischen Text, wobei die narrative Struktur und die Sprache oftmals als konzeptionelle Kriterien herangezogen werden. Nikolaj Rymar stellt so als wichtigstes Abgrenzungsmerkmal »die Selbstreferentialität der Sprache […], die eine fiktionale, den Gesetzen 88 NEUHÄUSER, Rudolf: »Avantgarde« und »Avantgardismus«. Zur Problematik von Epochenschwellen und Epochenstrukturen, in: Zima, Peter V./Strutz, Johann (Hrsg.): Europäische Avantgarde. Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris: Peter Lang 1987, S. 21-35, hier S. 24. 89 BERG, Hubert van den/FÄHNDERS, Walter: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Metzler Lexikon Avantgarde. Stuttgart/Weimar: Metzler 2009, S. 1-19, hier S. 1f. 90 Vgl. dazu z.B. EAGLETON, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. 4., erweiterte und aktualisierte Auflage. Aus dem Englischen von Elfi Bettinger und Elke Hentschel. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, bes. S. 1-18.

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der wirklichen Welt nicht gehorchende Wirklichkeit schafft«91 heraus. In diesem Sprachunterschied macht er die Grenze aus, die die Sprache eines Kunstwerks von der Sprache der wirklichen Welt und damit einen literarischen von einem nicht-literarischen Text unterscheidet. Diese Diskussion mit allen Vor- und Nachteilen der einzelnen Konzeptionen soll hier nicht vertieft werden. Wichtig ist jedoch darauf hinzuweisen, dass eine abschließende Grenzziehung zwischen den Textsorten und -arten kaum möglich ist, weshalb die Grenze eine durchlässige oder zumindest verschiebbare bleibt. In letzter Konsequenz muss die Literaturwissenschaft ihren Gegenstand – und damit auch sich selbst – stets neu ausloten und ihren Forschungsbereich eingrenzen. Aber auch innerhalb des Bereiches finden permanente Aushandlungen statt, wie die Diskussion um Gattungsgrenzen, wie sie sich bereits bei Aristoteles abzeichnet. In seiner Poetik scheidet er die Gattungen voneinander, indem er herausstellt, dass das Hauptcharakteristikum der Epik, der Tragödie und der Komödie ebenso wie der Dithyrambendichtung die Nachahmung sei, dass diese jedoch »durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen«92 ganz unterschiedlich konstituiert seien und dadurch voneinander abgegrenzt werden könnten. Grundsätzlich besteht bei der Einteilung literarischer Texte in Gattungen, die Wolfgang Kayser als das »älteste Problem der Literaturwissenschaft«93 bezeichnet hat, die erste Frage darin, ob man ein geschlossenes System der Literaturtrias – Epik, Lyrik, Dramatik – zu Grunde legt oder ein offenes System, das vielfältig und ohne hierarchische Stufungen funktioniert.94 Dabei spielt nicht nur die jeweilige theoretische Ausrichtung eine Rolle, vielmehr sind Gattungsbestimmungen auch »paradigmen-, interessen- und auch zweckabhängig«, weshalb die »Begriffsnamen vielfach semasiologischer Variabilität unterworfen [sind].«95 So werden Gattungen nicht mehr als bloße Merkmalsbündel begriffen, wie es in den normativen Poetiken noch der Fall war, und die Historizität von Literatur tritt nun deutlich zu Tage. »Bloße Klassifikationen wurden in der Gattungspoetik zunehmend durch strukturale Definitionsversuche ersetzt, zugleich Struktur primär als dialektischer Prozeß (von Strukturierung, Destruk-

91 RYMAR, Nikolaj: Grenzen und Grenzerfahrungen in den Sprachen der Künste, in: Kemper, Dirk (Hrsg.): Deutsch-russische Germanistik: Ergebnisse, Perspektiven und Desiderate der Zusammenarbeit. Moskau: Stimmen der slawischen Kultur 2008, S. 323-344, hier S. 327. 92 ARISTOTELES: Poetik. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2003, S. 5. 93 KAYSER, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Bern/München: Francke 61960, S. 332. 94 Vgl. LAMPING, Dieter: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart: Kröner 2009, S. XV-XXVI, hier S. XXII. 95 ZYMNER, Rüdiger: Zur Gattungstheorie des ›Handbuches‹, zur Theorie der Gattungstheorie und zum »Handbuch Gattungstheorie«. Eine Einführung, in: Ders. (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 1-5, hier S. 4. Vgl. zu dem Terminus »Begriffsnamen« auch: ZYMNER, Rüdiger: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn: mentis 2003, S. 66ff.

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turierung und Restrukturierung) begriffen.«96 Dies führt jedoch auch dazu, dass diese Begriffe in verschiedenen Kontexten und mit divergenten Konnotationen Verwendung finden, wodurch derartige Grenzziehungen selbst fragwürdig werden können.97 Ein Primat der Grenze – das Trennende und das Verbindende zugleich auszustellen – wird indes an der Gattungslehre deutlich. Die Grenze teilt demnach nicht nur literarische Texte aufgrund ihrer Unterschiede ein, sondern konstituiert auch den Raum der Gemeinsamkeiten. So haben die Gattungsbegriffe, ähnlich wie die Kategorisierung in Literaturepochen, eine klassifikatorische Funktion, die es erleichtert, über die Texte zu sprechen, indem ihre Zugehörigkeit angezeigt wird98 – Rüdiger Zymner nennt dies die »Gattungsidentität«99. Solche Debatten finden primär in dem Bereich statt, den Pierre Bourdieu das »literarische Feld«100 genannt hat, das sich von anderen Feldern wie der Politik oder der Wirtschaft abgrenzt. Hier werden die Akteure, auf der einen Seite die Produzenten, auf der anderen die Konsumenten von Literatur, im Zusammenspiel mit anderen produktionsrelevanten Institutionen wie Verlagen und Literaturkritik sowie dem »Einfluß kommerzieller Zwänge auf das kulturelle Feld«101 untersucht. Der sogenannte ›Nomos‹ eines jeden Feldes dient dazu, die spezifischen Distinktionsmerkmale zwischen diesen zu eruieren und fungiert dabei zugleich als »spezifische Logik eines Feldes, die sich nicht auf andere Felder reduzieren oder von ihnen herleiten lässt.«102 Die dabei entstehenden Grenzen zwischen den Feldern werden somit von ihnen selbst hergestellt. Aber auch Grenzen innerhalb des Feldes werden besonders im Kontext von unterschiedlich gelagerten Machtpositionen von Schriftstellern, literarischen Schulen und Gattungen sowie Autorengruppen konstituiert.103 Obwohl hier lediglich wenige Schlaglichter gesetzt wurden, sollte bisher bereits deutlich geworden sein, dass die explizite oder implizite Aushandlung von Grenzen sowohl in der Literatur als auch in der poetologischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihr eine lange Tradition aufweist und sich auf verschiedenen Ebenen manifestiert. Eingrenzung der theoretischen Konzeption Um eine theoretische Konzeption für die folgende literaturwissenschaftliche Untersuchung zu entwickeln, wird nun eine der wichtigsten Funktionen der Grenze, die bereits an den oben genannten Beispielen deutlich geworden ist, betrachtet: Grenz96 97

98 99 100 101 102 103

KNÖRRICH, Otto: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.): Formen der Literatur in Einzeldarstellungen. Stuttgart: Kröner 1981, S. 1-13, hier S. 2. Vgl. ENZENSBERGER, Hans Magnus: Vom Nutzen und Nachteil der Gattungen. Frankfurter Poetikvorlesungen 1964/65, in: Ders.: Über Literatur. Scholien und Scharmützel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 64-82. Vgl. LAMPING, Dieter: Einleitung, S. XV. ZYMNER, Rüdiger: Gattungstheorie, S. 132. BOURDIEU, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Ebd., S. 533. BARLÖSIUS, Eva: Pierre Bourdieu. Frankfurt a.M.: Campus 22006, S. 94. Vgl. PARR, Rolf: Liminale und andere Übergänge, S. 29.

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ziehungen sind stets sinnstiftende Akte. Durch Grenzen werden Bereiche voneinander abgetrennt und zugleich verbunden, wodurch sie definierbar und verortbar werden. Dadurch werden vor allem Ordnungssysteme geschaffen, die eine Einteilung in Kategorien erlauben. Von der Prämisse der Sinnstiftung ausgehend, liegt für die literaturwissenschaftliche Untersuchung von Grenzen ein klassisch hermeneutischer Zugang nahe, dessen Ziel neben einer angemessenen und kohärenten Auslegung104 eines literarischen Werkes auch »das Verstehen von Texten«105, also die Erfassung seines Sinns ist. Somit könnte man davon ausgehen, dass besonders die theoretische Ausrichtung der Hermeneutik, die der Literatur ein »wahre[s] Wort«106 zuspricht und einen übergeordneten, fassbaren Sinn postuliert, im Zusammenhang mit einem Thema, das selbst einen Sinn zu produzieren vorgibt, geeignet ist. Im Kontext der Literatur über die neuen Kriege ist dieser Ansatz hingegen aufgrund von zwei Gesichtspunkten als problematisch zu bezeichnen. Zum einen wird vor allem von Hans-Georg Gadamer eine »Horizontverschmelzung«107 von Text und Rezipient im Verstehensprozess attestiert, die im Hinblick auf interkulturelle Konstellationen »die Fremdheit des Fremden zu verkennen droht und eine Vereinnahmung eben dieses Fremden bedeuten kann«108. Gerade in der Literatur über die neuen Kriege werden spezifische interkulturelle Begegnungen (z.B. von ausländischen Soldaten und der einheimischen Bevölkerung) dargestellt, die durch Grenzziehungen oder Grenzüberschreitungen charakterisiert werden. Die Universalisierung der Sprache, wie sie von Gadamer proklamiert wird, verstellt hier also potentiell eine kritische Analyse des Fremden, das durch Grenzsetzungen konstruiert wird. Der zweite gegen eine fokussiert hermeneutische Interpretation sprechende Grund liegt in der explizit erklärten Autororientierung, die speziell außertextuelle Phänomene wenig berücksichtigt, sondern vielmehr versucht, Sinn möglichst ausschließlich aus dem literarischen Text unter Einbeziehung des Autors bzw. unter Einbeziehung dessen, was der Autor vermeintlich mit seinem Werk intendiert hat, zu eruieren. Doch gerade der Bezug zu den gegenwärtigen außerliterarischen Gewaltphänomenen und deren fiktionale Verarbeitung sind in dieser Arbeit von besonderem Interesse. Als alternative, gleichsam anti-hermeneutische Stoßrichtung bieten sich im Bereich der Grenzen mit ihrer Funktion der Kategorienbildung strukturalistische Theorien109 an, die sich vor allem in der Nachfolge des Linguisten Ferdinand de 104 Vgl. KIMMICH, Dorothee: Hermeneutik. Einleitung, in: Dies./Renner, Rolf Günter/ Stiegler, Bernd (Hrsg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2003, S. 17-27, hier S. 17. 105 GADAMER, Hans-Georg: Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 1: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr 61990, S. 389, Herv. i.O. 106 GADAMER, Hans-Georg: Wer bin Ich und wer bist du?, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9: Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug. Tübingen: Mohr 1993, S. 388. 107 GADAMER, Hans-Georg: Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung, S. 392. 108 HOFMANN, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 39. 109 Dass unter dem Begriff ›Strukturalismus‹ verschiedene theoretische Schulen subsumiert werden, die sich in ihren Konzeptionen teilweise stark voneinander unterscheiden, wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Von Bedeutung ist hier vor allem die Abkehr

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Saussure entwickelten und seit den 1960er Jahren auch in Deutschland stark rezipiert wurden. Fokussiert werden hier Regelmäßigkeiten und Ordnungsmuster innerhalb von Zeichensystemen, wobei das Zeichen, anstatt als Abbild einer Realität zu gelten, seinen Sinn erst durch die Abgrenzung zu anderen Zeichen erhält, wodurch binäre Oppositionen mit relativen Bedeutungen entstehen, wie oben | unten, recht | links.110 Genau an dieser Stelle werden Grenzziehungen erkannt, die Einteilungen von klar definierten Bereichen evozieren. Relevant sind in dieser textorientierten Ausrichtung damit besonders die Zeichen eines literarischen Werkes, wodurch, ebenso wie im Zusammenhang der Hermeneutik, außerliterarische Phänomene weitestgehend ausgeblendet werden. Auch die klare Unterteilung innerhalb eines binären Schemas scheint in dem Zusammenhang der neuen Kriege problematisch, da es gerade ein Charakteristikum dieser gegenwärtigen Kriegserscheinungen ist, dass Kategorien wie Freund | Feind hier nicht mehr eindeutig greifen. Trotzdem bieten in diesem Kontext strukturalistische Theorien eine, wenn auch mit Einschränkungen, wichtige Grundlage, um vorhandene Grenzen und deren unterteilende Funktionen in der Literatur zu untersuchen. So kann beispielsweise der formale Charakter der Grenze mit dem breit ausgearbeiteten methodischen Handwerkszeug des Strukturalismus analysiert werden. Für die Erforschung des äußerst heterogenen Motivs der Grenze und der hinter den Grenzziehungsprozessen liegenden Mechanismen bietet sich eine Zusammenführung von strukturalistischen und poststrukturalistischen111 Ansätzen an. Hierzu wird im Folgenden ein Theoriekomplex entworfen, der sich zum einen aus der semiotisch orientierten Ereignistheorie (Lotman), zum anderen aus diskurs- (Foucault) bzw. interdiskurstheoretischen Überlegungen (Link) und darüber hinaus aus praxeologischen Ansätzen (Reckwitz) speist. Die Einbeziehung eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes wie der Praxeologie in die literaturwissenschaftliche Analyse bedarf einer Erklärung, da der Untersuchungsgegenstand der Soziologen primär auf real-existenten Gesellschaften und, wenn es sich um kulturtheoretische Ansätze handelt, auf deren Kulturen liegt. Die Literatur als fiktionales Objekt hingegen gehört eher selten in das zu analysierende Repertoire eines Sozialwissenschaftlers (eine prominente Ausnahme bildet Pierre Bourdieus Reflexion des literarischen Feldes, die mit einer Lektüre von Gustave Flauberts

vom hermeneutischen Gedankengut, das diese unterschiedlichen Ansätze miteinander verbindet. 110 Vgl. DE SAUSSURE, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye. Berlin/New York: De Gruyter 32001. 111 Ähnlich der heterogenen Ansätze, die unter dem Begriff ›Strukturalismus‹ gefasst werden, kann auch unter ›Poststrukturalismus‹ keine einheitliche Theorie verstanden werden, sondern verschiedene theoretische Konzeptionen, die die Gemeinsamkeit aufweisen, zwar auf dem Strukturalismus zu basieren, diesen aber weiterzuentwickeln. Damit bleiben sie nicht in einem starren Kategoriendenken verhaftet, vielmehr wird die Unbestimmtheit, ein unendliches Spiel von Differenzen, wie es z.B. Jacques Derrida mit dem Neologismus der différance herausgearbeitet hat, fokussiert (vgl. DERRIDA, Jacques: Die différance, in: Randgänge der Philosophie, hrsg. v. Peter Engelmann. Wien: Passagen 2 1999, S. 29-52.).

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Erziehung des Herzens beginnt112). Trotzdem sollen in dieser Arbeit aus zwei Gründen in den vorgeschlagenen Theorierahmen Überlegungen der Praxeologie einfließen. Zum einen wird von der Prämisse ausgegangen, dass Literatur nicht losgelöst von einem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext entsteht, sondern im Gegenteil Literatur als ein kulturelles Produkt angesehen werden muss, das auf der einen Seite real-existente Phänomene aufnimmt und verarbeitet, auf der anderen Seite aber auch ihrerseits die Kultur und Gesellschaft durch die Rezeptionsprozesse beeinflusst. Dies wird besonders deutlich an der sogenannten ›politischen Literatur‹113, zu welcher der hier analysierte Textkorpus gezählt werden kann. Damit soll allerdings nicht konstatiert werden, dass die Literatur ihren fiktionalen Charakter eingebüßt hat. Vielmehr besitzt die Literatur das Potential, gesellschaftliche und politische Phänomene mit den ihr inhärenten Mitteln zu verarbeiten. Dabei muss sie sich nicht an den außerliterarischen Geschehnissen orientieren, jedoch kann das Werk durch die individuelle und fiktive Verarbeitung dieser Phänomene Stellung beziehen, Kritik üben, Alternativen vorschlagen, aber auch Entscheidungen und Geschehnisse positiv hervorheben und tradieren. Gemeinsames Merkmal der hier analysierten Textgrundlage ist die literarische Darstellung und Verarbeitung der neuen Kriege, die wiederum Untersuchungsobjekt der Politologen und Soziologen sind, womit der zweite Grund für eine allgemeine Einbeziehung soziologischer Theorien deutlich wird: Es ist für diese Arbeit unerlässlich, auf die Ergebnisse der politikwissenschaftlichen und soziologischen Auseinandersetzung mit den neuen Kriegen Bezug zu nehmen, da besonders hier die Charakteristika der Entgrenzung dieses Gewaltphänomens deutlich gemacht werden. Um zu beschreiben, wie eine Theorie der Grenze konstituiert sein kann, die auf (inter-)diskurstheoretischen, praxeologischen und semiotischen Ansätzen basiert, werden in einem ersten Schritt die einzelnen theoretischen Überlegungen kursorisch beleuchtet. Daran schließt sich eine Zusammenführung dieser an, indem auf die sich für die Grenze relevant darstellenden Aspekte und deren Zusammenhänge eingegangen wird. An dieser Stelle werden dann auch die konkreten Forschungsfragen, die die Grundlage der Textanalyse bilden, ausgearbeitet.

112 Vgl. BOURDIEU, Pierre: Die Regeln der Kunst, S. 19-79. 113 Unter dem Begriff ›politische Literatur‹ werden hier literarische Texte verstanden, die aktuelle Phänomene und Diskurse aus den Bereichen Gesellschaft, Politik und Kultur verarbeiten. Dabei können sie auch explizit Stellung beziehen, weshalb diese Literatur auch als ›engagierte Literatur‹ bezeichnet wird. Die oftmals in Verbindung mit politischer Literatur behauptete antithetische Struktur, entweder ästhetisch wertvoll und dabei politisch unbrauchbar oder zu Ungunsten der Ästhetik politisch relevant zu sein (vgl. STEIN, Peter: Die Theorie der Politischen Dichtung in der bürgerlichen Literaturwissenschaft, in: Ders. (Hrsg.): Theorie der Politischen Dichtung. München: Nymphenburger Verlagsgruppe 1973, S. 7-53, hier S. 8.), ist kritisch zu hinterfragen. So macht beispielsweise Dieter Lamping deutlich, dass die Grenz-Literatur durch ihre Thematik stets politische Literatur ist, wobei sie sich eben nicht einzig auf staatliche Grenzen, sondern auch kulturelle und sprachliche bezieht (vgl. LAMPING, Dieter: Über Grenzen, S. 10.).

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2.1 D IE D ISKURS - UND D ISPOSITIVANALYSE : M ICHEL F OUCAULT Die von Michel Foucault unterschiedlich definierten114 und in verschiedenen Kontexten verwendeten Termini des ›Diskurses‹ bzw. der ›diskursiven Formation‹, die als »das zentrale Etikett, unter dem das foucault’sche Denken Eingang in nahezu das gesamte Wissensspektrum gefunden hat«115, gelten, bilden hier den Ausgangspunkt. Trotz der vielgestaltigen Verwendung116 und Schwerpunktsetzung sind besonders zwei Werke aus Foucaults früher Theoriearbeit hervorzuheben, die in Bezug auf die Bestimmung des Diskursbegriffs Aufschluss geben: Die Archäologie des Wissens und Die Ordnung des Diskurses117. In der Archäologie, dem sog. »Höhepunkt der Diskurstheorie«118, versucht Foucault die »intradiskursiven Formationen«119 der Diskurse zu bestimmen: Der Diskurs wird als »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«120, definiert. Mit dieser lakonisch anmutenden Minimaldefinition des Diskurses werden zwei Begriffe eingeführt, die kurz näher beleuchtet werden müssen: die Aussage und das Formationssystem. Foucault bestimmt Aussagen durch vier Merkmale ihrer Funktionen121: Aussagen sind mit einem »Referential« verbunden, welches »den Ort, die Bedingung, das Feld 114 Selbstkritisch resümiert er eine »schwimmende Bedeutung« des Diskursbegriffes. (FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 162013, S. 116.) 115 PARR, Rolf: Diskurs, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes (Hrsg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 233-237, hier S. 233. 116 Der Diskursbegriff wurde in zahlreichen Publikationen nachzuzeichnen und zu rekonstruieren versucht, daher beschränke ich mich auf eine sehr kurze Übersichtsdarstellung und verweise auf ausführliche Darstellungen (vgl. u.a. KAMMLER, Clemens: Michel Foucault. Eine kritische Analyse seines Werks. Bonn: Bouvier 1986; Ders./PARR, Rolf/SCHNEIDER, Ulrich Johannes (Hrsg.): Foucault Handbuch, bes. S. 233-242; BÜHRMANN, Andrea D./ SCHNEIDER, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript 2008.). 117 FOUCAULT, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt a.M.: Fischer 1991. 118 RUOFF, Michael: Diskurs, in: Ders. (Hrsg.): Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Paderborn: Fink 2013, S. 99-109, hier S. 104. 119 PARR, Rolf: Diskurs, S. 235. 120 FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 156. 121 Aussagen finden bei Foucault zuvor eine dreifache Negativbestimmung: sie sind nicht abhängig von der »Präsenz einer abgegrenzten propositionellen Struktur« (FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 117.), sie sind nicht unmittelbar an die Struktur von grammatikalischen Sätzen gebunden (vgl. ebd., S. 119.) und Aussagen entsprechen nicht einem illokutionären Akt, da es »oft mehr [bedarf] als einer Aussage, um einen ›Sprechakt‹ zu bewirken« (ebd., S. 121.). Er fasst zusammen: »Man findet Aussagen ohne legitime propositionelle Struktur; man findet Aussagen dort, wo man keinen Satz erkennen

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des Auftauchens, die Differenzierungsinstanz der Individuen oder der Gegenstände, der Zustände der Dinge und der Relationen, die durch die Aussage selbst ins Spiel gebracht werden«122, bildet. Das bedeutet, dass eine Aussage nicht zwangsläufig einen Referenten benötigt (denn damit wäre die Aussage auf eine bloße Abbildungsfunktion reduziert), sondern dass sie sich innerhalb eines Korrelationsraums ihren eigenen Referenten schaffen kann123 und so mit einem Relationsgeflecht verbunden ist, welches »die Grenzen und Regeln für die darin erscheinenden Gegenstände und Sachverhalte definiert«124. Das zweite Merkmal kreist um die Bestimmung der Subjektposition. Hier geht es darum, dass »das Subjekt der Aussage« weder substantiell noch funktional mit »dem Autor der Formulierung identisch«125 ist. Die Subjektposition wird vielmehr als »ein determinierter und leerer Platz«126 charakterisiert, der einerseits von verschiedenen Individuen eingenommen werden kann und der andererseits auch dazu in der Lage ist, sich zu ändern.127 Das dritte Merkmal bezieht sich auf das »assoziierte Feld«128, das ein komplexes Raster bildet, ein »komplettes begriffliches und sprachliches System«129, in welches die Aussagen notwendigerweise eintauchen, um »einen determinierten Kontext, einen spezifizierten repräsentativen Inhalt zu haben«130. Das bedeutet, dass eine Aussage erst in und durch den Aussagemechanismus ihre Spezifizität erlangt, indem sie »zu einer Folge oder einer Menge gehört, eine Rolle inmitten der anderen spielt, sich auf sie stützt und sich von ihnen

122 123

124

125 126 127

128 129 130

kann; man findet mehr Aussagen, als man Sprechakte isolieren kann.« (Ebd., S. 122.) An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass Foucault die Definition der Aussage in Abgrenzung zu linguistischen Gesichtspunkten zu entwickeln versucht, wodurch Elementen außerhalb eines linguistisch geschlossenen Systems wie beispielsweise Tabellen und Bildern ebenfalls ein potentieller Aussagewert zugesprochen wird (vgl. dazu auch JÄGER, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. Münster: UNRAST 42004, S. 126.). FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 132. Vgl. RUOFF, Michael: Aussage, in: Ders. (Hrsg.): Foucault-Lexikon. Entwicklung – Kernbegriffe – Zusammenhänge. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Paderborn: Fink 2013, S. 81-84, hier S. 82f. VOGL, Joseph: Aussage, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ulrich Johannes (Hrsg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 226. Damit verweist Foucault auf das Potential einer Aussage, etwas Neues schaffen zu können, wobei dieses Neue stets im Kontext gelesen werden muss, da die gleiche Aussage in unterschiedlichen (historischen, geographischen etc.) Zusammenhängen differente Informationen beinhalten kann (vgl. RUOFF, Michael: Aussage, S. 83.). FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 138. Ebd. Als ein Beispiel hierfür kann ein in einem Text formulierter mathematischer Lehrsatz angeführt werden: Das Subjekt der Aussage ist hier neutral und potentiell jedes Individuum kann diese Aussage treffen (vgl. KAMMLER, Clemens: Michel Foucault, S. 83.). FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 143. GEHRING, Petra: Foucault – Die Philosophie im Archiv. Frankfurt a.M./New York: Campus 2004, S. 57. FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 143.

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unterscheidet«131. Das letzte Merkmal der Aussagefunktion ist ihre »materielle Existenz«132, die weniger durch Raum und Zeit der Aussage in Erscheinung tritt, als vielmehr durch ein »Statut als Sache oder als Objekt«133, womit darauf abgehoben wird, dass eine Aussage nichts Körperloses oder Ideales sein kann, gleichwohl eben etwas Materielles wie die Schrift.134 Auf dieser Grundlage ist dann auch die Wiederholbarkeit einer Aussage, wenn auch nur unter »ganz strengen Bedingungen«135, garantiert.136 So sind Aussagen nach Foucaults Definition insgesamt nicht von einem Wahrheitsgehalt abhängig, sondern werden durch ihre vier Funktionen bestimmt.137 Das Formationssystem, der zweite Teil von Foucaults Minimaldefinition des Diskurses, beschreibt die durch die diskursive Praxis hergestellte Beziehung der Aussagen untereinander, womit der Diskus mehr ist »als die Summe seiner Teile«138. Dabei konstituieren sie sich nicht statisch als Blöcke, sondern sind an der Grenze des Diskurses angesiedelt und definieren die spezifischen Regeln des Diskurses.139 Foucault betont besonders den letzten Punkt des »komplexe[n] Bündel[s] von Beziehungen«: »Es schreibt vor, was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden mußte, damit diese sich auf dieses oder jenes Objekt bezieht, damit sie diese oder jene Äußerung zum Zuge bringt, damit sie diesen oder jenen Begriff benutzt, damit sie diese oder jene Strategie organisiert.«140 D.h., dass in dem Beziehungssystem Hierarchien vorhanden sind, weil die einzelnen Ebenen nicht unabhängig voneinander existieren, es sich aber zugleich auch durch »Mobilität«141 auszeichnet, was 131 132 133 134 135 136

137 138 139 140 141

Ebd., S. 144. Ebd., S. 145. Ebd., S. 149. Vgl. GEHRING, Petra: Foucault, S. 57. FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 153. Damit wird zugleich der Unterschied zwischen einer Äußerung und einer Aussage deutlich, da Ersteres ein Ereignis darstellt, das an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit stattfindet und somit nicht wiederholbar sein kann. Daraus folgt, dass Äußerungen stets einmalige »zeitlich-räumlich spezifische Aussagenereignisse« sind. (BÜHRMANN, Andrea D./SCHNEIDER, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv, S. 26.) Die »Möglichkeiten der Re-Inskription und der Transkription« (FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 150, Herv. i.O.) sind jedoch auch bei Aussagen begrenzt, indem sie auf der einen Seite Institutionen und auf der anderen Seite dem Feld, in das die Aussage eintritt, unterworfen sind. Foucault fasst zusammen: »Statt etwas ein für allemal Gesagtes – und wie die Entscheidung einer Schlacht, eine geologische Katastrophe oder der Tod eines Königs in der Vergangenheit Verlorenes – zu sein, erscheint die Aussage gleichzeitig, wie sie in ihrer Materialität auftaucht, mit einem Statut, tritt in Raster ein, stellt sich in Anwendungsfelder, bietet sich Übertragungen und möglichen Modifikationen an, integriert sich in Operationen und Strategien, in denen ihre Identität aufrechterhalten bleibt oder erlischt.« (Ebd., S. 153.) Vgl. VOGL, Joseph: Aussage, S. 227. GEHRING, Petra: Foucault, S. 61. FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 108. Ebd. Ebd., S. 109.

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sich sowohl in der Variabilität der einzelnen diskursinhärenten Elemente zeigt, die in Beziehung gesetzt werden, ohne dass der Diskurs seine Individualität einbüßt, als auch auf den Gebieten, die durch die diskursiven Praktiken modifiziert werden.142 Ein Diskurs definiert sich weder über bestimmte Objekte, über die er spricht, noch allein über Wertungen oder immanente Logiken. Es müssen vielmehr die oben beschriebenen vier Merkmale betrachtet werden, um aus dem Aussagefeld einen Diskurs in seiner Individualität herauszugreifen. Somit beschreibt Foucault mit dem Begriff des Diskurses bzw. mit der diskursiven Formation eine Fülle von Aussagen, die mit einem Referential verbunden sind und unabhängig eines bestimmten Individuums, sozusagen mit einer Subjektposition in Form eines leeren Platzes, bestehen; sie befinden sich stets in einem Aussagefeld, wo sie ihre Spezifizität erlangen und sind aufgrund ihrer materiellen Existenz potentiell wiederholbar. Zwischen diesen Aussagen besteht ein variables und modifizierbares Beziehungsgeflecht, das die Regeln des jeweiligen Diskurses bestimmt. Während Foucault in der Archäologie die interne Formation des Diskurses forciert, arbeitet er in die Die Ordnung des Diskurses die äußere Formation des Diskurses heraus, die sich durch dessen Begrenzung nach außen konstituiert.143 Die dort entwickelte These bezieht sich vornehmlich auf die gesellschaftliche Eindämmung von Diskursen: Die Produktion des Diskurses werde von der Gesellschaft »zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert«144. In diesem Sinne macht Foucault drei Ausschließungsmechanismen aus, die den Diskurs »gewissermaßen von außen«145 kontrollieren und beschränken: das Verbot, womit die Bestimmung dessen gemeint ist, was bzw. worüber gesprochen werden kann und wer das Recht dazu hat, zu sprechen; die Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn, womit die Ausgrenzung des Wahnsinns in den Blick genommen wird; und den Willen zur Wahrheit, der dazu tendiert, auf andere Diskurse Druck und Zwang auszuüben, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.146 Die Ausschließungssysteme stützten sich einerseits auf eine »institutionelle Basis«, in der sie »zugleich 142 Ebd., S. 110. 143 Die Ordnung des Diskurses ist die Antrittsvorlesung Foucaults aus dem Jahre 1970 im Rahmen der Übernahme eines Lehrstuhls am Collège de France. Es wurde häufig versucht, Foucaults Werk in verschiedene Phasen zu unterteilen, wobei Die Ordnung des Diskurses häufig als Paradigmenwechsel oder sogar Zäsur von der Untersuchung des Diskurses hin zur Untersuchung der Macht interpretiert wird, was auch als Verschiebung von der »Archäologie« hin zur »Genealogie« bezeichnet wird. Gegen eine solche starre Einteilung spricht, dass auf der einen Seite beispielsweise in Der Archäologie des Wissens bereits alle Begriffe und Untersuchungsgegenstände angelegt sind und auf der anderen Seite im Gesamtwerk Begriffe in unterschiedlichen Zusammenhängen genutzt werden und ihre Definitionen bzw. ihr semantischer Gehalt überall variiert (vgl. dazu u.a. KAMMLER, Clemens: Foucaults Werk. Konzeptualisierungen und Rekonstruktionen, in: Ders./Parr, Rolf (Hrsg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Heidelberg: Synchron 2007, S. 11-25.). 144 FOUCAULT, Michel: Die Ordnung des Diskurses, S. 11. 145 Ebd., S. 17. 146 Vgl. ebd., S. 11-16.

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verstärkt und ständig erneuert [werden] von einem ganzen Geflecht von Praktiken«147 und finden andererseits Absicherung durch »die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird«148. Zu diesen Ausschließungssystemen kommen weitere Prinzipien der Verknappung, womit interne Prozeduren im Sinne von »Klassifikations-, Anordnungs-, Verteilungsprinzipien«149 gemeint sind.150 Ein Prinzip der Einschränkung sieht Foucault zudem in der Organisation von Disziplinen, deren Sätze strengen Anforderungen genügen müssen, um als solche innerhalb der Disziplin – Foucault nennt es im Rückgriff auf Georges Canguilhem »im Wahren«151 – zu sein. Zu diesen Kriterien wird allerdings nicht der Wahrheitsgehalt eines Satzes gezählt, denn eine Disziplin kann sowohl wahre als auch falsche Sätze beinhalten, vielmehr geht es um eine bestimmte Gegenstandebene, bestimmte verwendete begriffliche und technische Instrumente und einen bestimmten theoretischen Horizont. Ein Satz kann, wenn er diese Bedingungen erfüllt, »im Wahren« sein, ohne ›die Wahrheit‹ zu beinhalten.152 Somit ist man nur im Wahren, also innerhalb der Disziplin, »wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht«, wodurch die Disziplin zu einem »Kontrollprinzip der Produktion des Diskurses«153 avanciert. Doch auch diese Kontrollprinzipien sind nicht starr, sondern stets im Wandel begriffen. Gehring führt dazu aus: »Mit jedem Ordnungswechsel […] ändert sich weit mehr als der Kenntnisstand eines Fachgebiets. Es ändert sich ein ganzes Wirklichkeitsmuster. Und es ändern sich auch die Art und Weise der Zugriffe, unter denen Wirklichkeiten ihre spezifische Gestalt gewinnen.«154 Hier wird ein, wenn nicht der Forschungsschwerpunkt von Foucaults Werk deutlich: Er beschäftigt sich mit Brüchen und Diskontinuitäten innerhalb und außerhalb der Diskurse und damit auch immer mit Grenzen, weshalb sich dieser Ansatz besonders dafür eignet, die Grenzthematik zu untersuchen. Diese »Brüche im Materi147 148 149 150

151 152

153 154

Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 17. Beispielweise der Kommentar, der eine ständige Wiederholung dessen ist, was bereits (verschwiegen) artikuliert wurde, oder das Autorsubjekt, das eine Einheit und einen Ursprung von Bedeutung suggeriert (vgl. ebd., S. 17-22.). Ebd., S. 24. Mit dieser latent paradox anmutenden Argumentation erklärt Foucault dann auch, warum beispielsweise Gregor Mendels Erforschung des Erbguts in der Disziplin Biologie zu Lebzeiten nicht anerkannt wurde: Mendel hat zwar etwas ›Wahres‹ herausgefunden, allerdings war dieses (noch) nicht Bestandteil der Wissenschaft, des Diskurses ›Biologie‹ des 19. Jahrhunderts. Damit stand Mendel mit seinen Forschungssätzen außerhalb der Disziplin, in Foucaults Worten war er damit ein »wahres Monstrum, weshalb die Wissenschaft nicht über ihn sprechen konnte« (ebd., S. 25.). Dass Mendels Theorie dann zu einem späteren Zeitpunkt doch Eingang in die Disziplin gefunden hat und sogar zu einer Standardtheorie avancierte, liegt in dem Wandel begründet, den die Disziplin durchlaufen hat. Ebd. GEHRING, Petra: Foucault, S. 51.

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al« sollen dementsprechend nicht als bloße Lücken wahrgenommen und übergangen werden, vielmehr sollte die Beschreibung »positiv und je einzeln möglichst eingehend«155 sein.156 Der dritte und letzte Mechanismus der Diskurse beschreibt die »Verknappung […] der sprechenden Subjekte«157. Damit werden bestimmte Bedingungen genannt, die erfüllt werden müssen, um in die Ordnung der Diskurse überhaupt eintreten zu können, die allerdings ebenfalls variieren können: »[N]icht alle Regionen des Diskurses sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind stark abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast allen Winden offenstehen und ohne Einschränkung jedem sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen.«158 Foucault expliziert an dieser Stelle, dass Diskurse nicht gleichermaßen für jeden zugänglich sind, sondern dass Subjekte, die an den Diskursen teilnehmen, beispielsweise bestimmte Rituale durchlaufen oder bestimmte Qualifikationen besitzen müssen.159

155 Ebd., S. 52. 156 Foucault fasst dies an anderer Stelle so zusammen: »[I]ch bemühe mich zu zeigen, dass die Diskontinuität nicht eine monotone und undenkbare Leere zwischen den Ereignissen darstellt, die man eilends durch die trübe Fülle der Ursache oder durch die behende Bewegung des Geistes (zwei völlig symmetrische Lösungen) ausfüllen müsste, sondern dass sie ein Spiel spezifischer, voneinander unterschiedener Transformationen darstellt (von denen jede ihre eigenen Bedingungen, eigenen Regeln und ihr eigenes Niveau besitzt), die untereinander gemäß den Schemata der Abhängigkeit verknüpft sind.« (FOUCAULT, Michel: Antwort auf eine Frage, in: Ders.: Analytik der Macht, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 52013, S. 25-51, hier S. 33f.) Hier wird auch deutlich, dass es Foucault bei der Untersuchung dieser Diskontinuitäten nicht um ein strukturalistisches Arbeiten geht, was er wiederholt vehement von sich weist (vgl. dazu bspw. Gespräch mit Michel Foucault, in: FOUCAULT, Michel: Analytik der Macht, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 52013, S. 85f.). 157 FOUCAULT, Michel: Die Ordnung des Diskurses, S. 26. 158 Ebd. 159 Vgl. ebd., S. 27f. In diesem Zusammenhang entwirft Foucault eine Unterscheidung zwischen einer Diskursgesellschaft und einer Doktrin: Während erstere eine zwar variable, aber in der Tendenz eher begrenzte Anzahl an Individuen aufweise, zeichne sich letztere gerade dadurch aus, dass sie eine weite Verbreitung erfährt. Darüber hinaus könnten Individuen über eine Doktrin, sobald sie sie als für sich verbindlich und wahr anerkennen, ihre Zugehörigkeit definieren. Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu einer Disziplin, die, wie oben beschrieben, vor allem Bedingungen für die Form einer Aussage reguliert. Bei einer Doktrin hingegen sind Form und sprechendes Subjekt von wechselwirkender Bedeutung (vgl. ebd., S. 29.). Auf der einen Seite stellt die Doktrin das Subjekt durch ihre Aussagen in Frage, auf der anderen Seite werden die Aussagen der Subjekte durch die Doktrin, »sofern die Doktrin immer als Zeichen, Manifestation und Instrument einer vorgängigen Zugehörigkeit gilt« (ebd.), in Frage gestellt: »Die Doktrin bindet die Individuen an bestimmte Aussagetypen und verbietet ihnen folglich alle anderen; aber sie bedient sich auch gewisser Aussagetypen, um die Individuen miteinander zu verbinden und sie dadurch von allen anderen abzugrenzen. Die Doktrin führt eine zweifache Unter-

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Foucault räumt indes selbst ein, dass sich die einzelnen Elemente – Rituale des Sprechens, Diskursgesellschaften, Doktrinen und gesellschaftliche Aneignungen – in der Gesellschaft nicht separiert finden lassen (so wie er sie zur Verdeutlichung aufgeführt hat), vielmehr bilden sie ein verwobenes Geflecht, das »die großen Prozeduren der Unterwerfung des Diskurses«160 gewährleistet, also die Zuteilung von Subjekten zu verschiedenen Diskurstypen und die Aneignung der Diskurse wiederum durch bestimmte Subjekte. So kann festgehalten werden, dass Diskurse Formationen sind, die bestimmten inneren Reglementierungen – die spezifisch definierten Aussagen, die in einer bestimmten Beziehung zu einander stehen – und äußeren Regulierungen – Ausschließungsmechanismen, Prinzipien der Verknappung und Regulierung des Zugangs – unterliegen. Rolf Parr fasst zusammen: »Diskurse sind materiell nachweisbare Formen gesellschaftlicher Rede, die stets nach Praxisbereichen spezialisiert und institutionalisiert sind, sodass es Diskurse mit distinkten Formations- und Ausschließungsregeln und jeweils eigener Operativität gibt.«161 Besonders hervorzuheben ist hier zum einen, dass sich die Diskurse ihre eigenen Objekte und Gegenstände schaffen, über die sie sprechen162 und zum anderen, dass der Zugang zu den Diskursen nicht für alle Subjekte gleichermaßen offen steht,163 diese vielmehr durch Grenzziehungen beschränkt sind. An dieser Stelle ist bereits Foucaults schwerpunktmäßiges Forschungsinteresse im weiteren Verlauf seiner Theoriebildung angelegt: der Machtbegriff, den er mit der Einführung des Dispositivs versucht zu beschreiben. Foucault schreibt in der Archäologie des Wissens: »Ein Gut [gemeint ist der Diskurs], das infolgedessen mit seiner Existenz (und nicht nur in seinen ›praktischen Anwendungen‹) die Frage nach der Macht stellt. Ein Gut, das von Natur aus der Gegenstand des Kampfes und eines politischen Kampfes ist.«164 Foucault analysiert in verschiedenen Untersuchungen, wie in seinen Vorlesungen am Collège de France165 und in Überwachen und Strafen166, »Macht/Wissen-Beziehungen«, deren notwendig engen Zusammenhang er wie folgt begründet, »daß die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.«167

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werfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen.« (Ebd.) Ebd., S. 30. PARR, Rolf: Diskurs, S. 235. FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 74. FOUCAULT, Michel: Die Ordnung des Diskurses, S. 26. FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 175. Vgl. FOUCAULT, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. II: 1970-1975, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002. FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Ebd., S. 39.

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Damit wird bereits deutlich, dass Foucault sich dezidiert gegen einen Machtbegriff wendet, der ausschließlich repressiv und unterdrückend gedacht ist168 und so permanent das Wissen einschränkt,169 sondern dass Macht auch eine positive Kraft sein kann, die sowohl Energien freisetzt als auch neue Bereiche erobern kann.170 So geht es Foucault nicht darum aufzuzeigen, wie die Macht das Wissen unterwirft und sich zunutze macht oder die Macht als übergeordnete Ebene über das Wissen zu entlarven. Vielmehr geht es darum, dass Macht und Wissen in einem engen Wechselverhältnis zueinander stehen und miteinander interagieren: Wissen kann sich ohne Formen der Macht wie beispielsweise ein »Kommunikations-, Aufzeichnung-, Akkumulations- und Vernetzungssystem« nicht bilden, ebenso wenig kann Macht ausgeübt werden ohne »Aneignung, Verteilung oder Zurückhaltung«171 des Wissens. Der hier verwendete Systembegriff weist bereits auf zwei weitere zentrale Aspekte von Foucaults Machtbegriff: Macht ist dezentriert und sie wird nicht als etwas dem Individuum Eigenes im Sinne eines Besitzes gedacht: »Die Macht ist nicht als ein Phänomen massiver und homogener Herrschaft zu nehmen – die massive und homogene Herrschaft eines Individuums über die anderen, einer Gruppe über die anderen, einer Klasse über die anderen. […] Die Macht muss […] als etwas analysiert werden, das zirkuliert, oder eher noch als etwas, das nur in einer Kette funktioniert; sie ist niemals lokalisiert hier oder da, sie ist niemals in den Händen einiger, sie ist niemals angeeignet wie ein Reichtum oder ein Gut.«172

Aus dieser Grundlegung, die Macht als eine Netzstruktur zu betrachten, folgt, dass zum einen potentiell jeder Macht innehat und zum anderen, dass Individuen nicht

168 Damit versucht er, laut Frieder Vogelmann, eine psychoanalytische Erklärung für den Lustaspekt einer Unterwerfung zu umgehen (vgl. VOGELMANN, Frieder: Foucaults Praktiken, in: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte 3 (2012), S. 275299, hier S. 277. Vgl. dazu auch DETEL, Wolfgang: Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 27.). 169 Eine in diesem Denken noch verhaftete Definition von Macht sieht er selbstkritisch in seiner Untersuchung Die Ordnung des Diskurses, da er sich hier in der Bestimmung der äußeren Formation der Diskurse vor allem auf deren Verknappung konzentrierte und damit »die Bezüge der Macht zum Diskurs potentiell als negative Mechanismen« aufgearbeitet habe. (FOUCAULT, Michel: Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. III: 1976-1979, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 298-309, hier S. 300.) 170 Vgl. DETEL, Wolfgang: Macht, Moral, Wissen, S. 28. 171 FOUCAULT, Michel: Theorien und Institutionen des Strafvollzugs, in: Ders.: Analytik der Macht, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 52013, S. 64-68, hier S. 64. 172 FOUCAULT, Michel: Vorlesung vom 14. Januar 1976, in: Ders.: Analytik der Macht, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 52013, S. 108-125, hier S. 114.

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lediglich Erdulder der Macht anderer sind, im Gegenteil: »Macht geht durch die Individuen hindurch, sie wird nicht auf sie angewandt.«173 Foucault entwickelt den Dispositivbegriff, um sehr heterogene Aspekte wie Diskurse, Institutionen, architektonische Anordnungen, reglementierende Entscheidungen und so weiter (»kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes«174) gemeinsam analysieren zu können, nämlich als Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft wird. Dabei sind die einzelnen Elemente nicht statisch, stattdessen können sowohl ihre Position als auch in ihrer Bedeutung und Funktion variieren.175 Besonders die Kombination zwischen diskursiven und praktischen Elementen sowie die Kombination von Elementen des Wissens und der Macht176 sind im Kontext des Untersuchungsschwerpunktes dieser Arbeit von Interesse. 2.1.1 Die Interdiskursanalyse: Jürgen Link Foucaults Überlegungen stellen trotz der (in erster Linie in seinem Frühwerk gelegentlich vorkommenden) konkreten Bezüge zur Literatur,177 die dort einen durchaus positiven, grenzüberschreitenden Stellenwert als ›Gegendiskurs‹ einnimmt, keineswegs ein literaturwissenschaftliches Analyseinstrumentarium dar. Im deutschsprachigen Raum haben vor allem Jürgen Link und Ursula Link-Heer seit Anfang der 1980er Jahre mit der theoretischen Konzeption der Interdiskursanalyse, einer »Spielart der Diskursanalyse«178, versucht, Foucaults Theorem für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen. So formuliert Link in dem Zusammenhang der Interdiskurstheorie über den Diskurs: »Diskurse sind im Unterschied zu natürlichen Sprachen historisch-kulturell sehr viel stärker variabel und legen (sprachübergreifend) jeweils spezifische Sagbarkeits- und Wissensräume

173 Ebd. 174 FOUCAULT, Michel: Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Départment de Psychoanalyse der Universität Paris VIII in Vincennes, in: Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978, S. 118-175, hier S. 120. 175 Vgl. ebd. 176 Vgl. dazu auch LINK, Jürgen: Dispositiv und Interdiskurs. Mit Überlegungen zum ›Dreieck‹ Foucault – Bourdieu – Luhmann, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf (Hrsg.): Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Heidelberg: Synchron 2007, S. 219-238, hier S. 223. 177 Vgl. FOUCAULT, Michel: Schriften zur Literatur. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1974. 178 LINK, Jürgen: Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. 3., erweiterte Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 433-458, hier S. 434.

84 | GRENZFALL KRIEG sowie deren Grenzen fest. Es sind institutionalisierte, geregelte Redeweisen als Räume möglicher Aussagen, die an Handlungen gekoppelt sind.«179

Link betont, dass Foucault in seinen theoretischen Ausführungen Diskurse über ihr je sehr spezielles Wissen180 generiert, was ihn dazu veranlasst, Foucaults Diskurse als ›Spezialdiskurse‹ zu bezeichnen (beispielsweise Medizin, Jura etc.).181 Er führt dazu aus, dass der Industrialismus182 eine hochgradige Arbeitsteilung hervorgebracht hat, deren Resultat spezialisierte Wissensbereiche sind, in denen das Wissen nicht nur geregelt, institutionalisiert und an Handlungen gebunden ist, sondern auch nur von »legitimierten sprechern legitim ausgesprochen werden kann«183. Dies gilt auch für bestimmte Wissenschaften, die das Ziel verfolgen, eindeutig zu sein, Begriffe klar zu definieren und Uneindeutigkeiten und Interpretationsspielräume zu negieren (als Idealtypus hierfür benennt er, wie Foucault, die mathematische Formel).184 Im Gegensatz zu solchen spezialisierten Diskursen gibt es jedoch auch Diskurse, die das Wissen zusammenführen, deren »Spezialität sozusagen die Nicht-Spezialität«185 ist: »alle interferierenden, koppelnden, integrierenden usw. Quer-Beziehungen zwischen mehreren Spezialdiskursen« nennt er sodann »›interdiskursiv‹«186. Link erklärt diese gegenläufigen Tendenzen damit, dass moderne Kulturen für ihre Reproduktion neben immer weiter spezialisierten und differenzierten Wissensbereichen eben auch diese reintegrierenden Wissensbereiche »als eine Art Korrelat bzw. Kompensation«187 benötigen. Beispiele für solche, das in den Spezialdiskursen »sektoriell zerstreute[…]«188 Wissen reintegrierende, Interdiskurse sieht er in der Pädagogik, Populärwissenschaft, Mediopolitik und in der Literatur. Dabei geht es nicht um eine »Totalisierung von Spezialwissen« im Sinne Goethes, Schillers, Humboldts oder Hegels, sondern um einen »selektiv-symbolischen, exemplarisch-symbolischen, also immer

179 LINK, Jürgen: Diskursanalyse, S. 436. 180 Vgl. ebd., S. 437. 181 Vgl. LINK, Jürgen: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990), S. 88-99, hier S. 92. 182 An anderer Stelle spricht er von einer fundamentalen Dialektik der Arbeitsteilung in der Moderne (vgl. LINK, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik, in: Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 284-307, hier S. 285.). 183 LINK, Jürgen: Noch einmal: Diskurs. Interdiskurs. Macht, in: kulturRRevolution 11 (1986), S. 4-7, hier S. 4, Kleinschreibung i.O. 184 Vgl. LINK, Jürgen: Diskursanalyse, S. 437. 185 Ebd., S. 438. 186 LINK, Jürgen: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 92. 187 LINK, Jürgen: Warum Diskurse nicht von personalen Subjekten ›ausgehandelt‹ werden, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner u.a. (Hrsg.): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Wissenssoziologie und Diskursforschung. Konstanz: UVK 2005, S. 77-99, hier S. 86. 188 Ebd., S. 93.

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ganz fragmentarischen und stark imaginären Brückenschlag«189 zwischen dem Wissen der Spezialdiskurse: Dieses wird dann – sowohl explizit als auch implizit – aufgenommen und verhandelt.190 Das bedeutet, dass Wissen aus Spezialdiskursen, zum Beispiel aus dem juristischen oder medizinischen Bereich, Eingang in den Interdiskurs Literatur findet und hier unter anderem exemplarisch an Einzelschicksalen vorgeführt, untermauert, hinterfragt, kritisiert etc. oder aber als gegeben vorausgesetzt wird. Hierdurch wird die These, dass Literatur ein Kulturprodukt ist, unterstrichen: Gesagt, kritisiert oder bestätigt werden kann vor allem das, was in einer Gesellschaft zum Gegenstand geworden ist oder werden kann. Indem die Literatur diese gesellschaftlichen Phänomene, die durch die Diskurse bestimmt und erzeugt werden, aufnimmt, fungiert sie als Schnittstelle innerhalb eines Rückkopplungsmechanismus: Sie positioniert sich auf der einen Seite innerhalb des Geflechts diskursiver Formationen und wirkt auf der anderen Seite auf dieses zurück. Im Zusammenhang des Kopplungsverhältnisses zwischen Macht und Wissen, das Link in Foucaults Dispositivbegriff, der »entscheidende[n] Innovation der ›Genealogie‹ gegenüber der ›Archäologie‹«191, bereits angelegt sieht, da Foucault hier die Macht als gleichwertiges Element in seine Analyse einbezieht, stellt Link heraus: »Dabei umfaßt das interdiskursive Kombinat Wissenselemente aus operativen Spezialdiskursen, insbesondere aus natur- und humanwissenschaftlichen einschließlich der spezifischen Techniken, während das ›vertikale‹ Machtverhältnis sich längs einer Polarität von disponierender und disponierter Subjektivität aufbaut.«192

Als Beispiele nennt Link Konstellationen wie Arzt und Patient, Psychiater und Neurotiker, Pädagoge und Zögling oder, allgemeiner gesprochen, Experte und Laie. Er führt weiter aus, dass durch die Entwicklung des Dispositivs drei Elemente berücksichtigt würden, die in der ›reinen‹ Diskursanalyse der Archäologie noch unzureichend geblieben seien: erstens die Macht der Diskurse, die Subjekte zu konstituieren und zu formen, zweitens die Betonung von nicht-diskursiven Praktiken und drittens die Hervorhebung der Machtverteilung.193 Statt eines Dispositivs mit eindeu189 LINK, Jürgen: Diskursanalyse, S. 438. 190 In diesem Sinne funktionieren dann auch die Kollektivsymbole, die Link als »SinnBilder« beschreibt, die »gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt pragmatisch verwendbar sind« (LINK, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 286.). Obwohl ihr Ursprung meistens einem konkreten Spezialdiskurs zugeordnet werden kann, werden diese Bilder interdiskursiv, das bedeutet reintegrierend, in verschiedenen Kontexten und von unterschiedlichen Sprechern verwendet und dies, wie der Name bereits andeutet, verständlich für ganze Kollektive. 191 Ebd. 192 Ebd. 193 Vgl. ebd. So hat exemplarisch ein Lehrer als ›Experte‹ gegenüber den Schülern (Laien) eine bestimmte Position der Sagbarkeit inne, die in gewisser Weise als Wissensmonopol bezeichnet werden kann. Er hat die Möglichkeit, Wissen zu vermitteln oder eben auch zu begrenzen und somit subjektivierend auf die Schüler einzuwirken. Der Lehrer selbst hingegen ist wiederum in anderen Zusammenhängen wie beispielsweise der Bildungspolitik

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tiger Zuschreibung von Subjekten, existiert also ein Geflecht von Dispositiven, das sich ständig entwickelt und in Veränderungsprozessen begriffen ist. Einen weiteren Untersuchungszweig, der mit der Interdiskursanalyse zusammenhängt, stellt Links Versuch über den Normalismus194 dar, in dem er den Entwicklungsprozess nachzeichnet, durch welche Mechanismen es dazu kommt, dass etwas als ›normal‹ gilt und wie diese ›Normalität‹ (re-)produziert wird. Er macht plausibel, dass es Aussagen über Normalität gibt, die dem Elementardiskurs, dem Spezialdiskurs sowie dem dazwischen stehenden und die beiden ersten kombinierenden Interdiskurs zuzuordnen sind195 und untersucht dann die Beziehung zwischen dem Normalen auf diesen drei ›Stufen‹.196 Link stellt fest, dass es sich »bei dem Normalen insgesamt um einen eng vernetzten Komplex aus diskursiven Konzepten und Modellen wie praktischen Verfahren von größter Bedeutung für moderne Gesellschaften westlichen Typs handelt«197. Interessant ist hier vor allem, dass dieser Komplex auf der einen Seite auf diskursiven und auf der anderen Seite auf praktisch-gesellschaftlichen Verfahren »im Sinne des Normal-Machens, der Produktion und Reproduktion von Normalitäten«198 basiert. Damit weist Link nicht nur auf die innerhalb des Diskurses entstehenden Wissensformationen hin, sondern auch auf die Praktiken, deren Zusammenhang er wie folgt beschreibt: »Spezialdiskurse und ihre Praktiken produzieren spezielle, sektorielle Normalitäten (z.B. medizinische, psychologische, soziologische) – die Interdiskurse integrieren diese verschiedenen Normalitäten zu allgemein kulturellen Vorstellungen von Normalität, zu einer Art Querschnittskategorie des Normalen – diese Querschnittskategorie schließlich erweist sich als selbstverständlicher Orientierungsmaßstab moderner okzidentaler Subjekte im Alltag: Sie fragen routinemäßig, ob etwas (noch) normal ist oder nicht und adjustieren danach ihr Verhalten und ihr Handeln.«199

Zudem betont Link, wie bereits Foucaults Prämissen der Diskursanalyse nahelegen, dass Normalität nicht eine statisch gegebene und zeitüberdauernde Entität ist, sondern vielmehr dynamische, prozesshafte soziale Gegenstände umfasst und die Funktion innehat, »Dispositive kompensierender Ver-Sicherung (Sicherheit) gegen die Risiken eines hyperdynamischen, symbolisch exponentiellen Wachstums«200 zur Verfügung zu stellen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle besonders, dass ›Normalität‹ als Feld konstruiert wird, das auf einer spezifischen Menge von ähnlichen, d.h. vergleichbaren, Erscheinungen, den sogenannten ›Normaleinheiten‹, innerhalb der

194 195 196 197 198 199 200

ebenso ein ›disponiertes‹ Subjekt, das spezifischen Sagbarkeits- und Wissensräumen sowie Machtstrategien unterworfen ist. LINK, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 42006. Vgl. ebd., S. 17ff. Vgl. ebd., S. 20. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 39.

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Diskurse basiert. Dieses Feld ist von Normalitätsgrenzen eingerahmt, deren Funktion die In- und Exklusionsmechanismen bilden. Um zu untersuchen, wie das Feld des Normalismus konstituiert ist und dementsprechend auch wann es zur Grenzüberschreitung kommt und welche Eigenschaften die Grenze besitzt, werden von Link zwei von Grund auf verschiedene Strategietypen unterschieden: auf der einen Seite die der maximalen Komprimierung, die »protonormalistische« Strategie, auf der anderen die der maximalen Expandierung der Normalitätszone, die »flexibel-normalistische«201 Strategie. Während sich bei der ersten die Bildung des Feldes durch eine maximale Ausklammerung von Friktionsfaktoren charakterisieren lässt, was einen besonders großen Teil an Exklusionsmechanismen evoziert, basiert die zweite auf dem Gegenteil, einer minimalen Ausklammerung von Friktionsfaktoren, weswegen wesentlich mehr ›Normalitätseinheiten‹ inkludiert werden. Nicht nur die Konstitution des Feldes, auch die Grenzen, die es umschließen, sind innerhalb der Strategien verschieden: Da es bei der protonormalistischen Strategie klar definierte Ein- und Ausschlusskriterien gibt, sind auch die Grenzen fix und stabil und beinhalten folglich eine »›harte‹ semantische und symbolische Markierung der Grenze«202. Die flexibelnormalistische Strategie ist entsprechend ihrer anders gearteten Bildung des Normalfeldes auch in Bezug auf ihre Grenzen different: Die Grenzen zeichnen sich durch ihre Dynamik und Variabilität aus, ihre semantische und symbolische Markierung ist mit ›weich‹ und ›locker‹ zu beschreiben.203 Anstatt von verschiedenen GeistesTypen, von zwei Polen desselben Normalismusfeldes oder sogar voneinander unabhängigen Systemen zu sprechen, betont Link, dass diese beiden Strategien in dem epochal identischen Feld des Normalismus operieren, »das durch die partielle kulturelle Hegemonie spezial- und interdiskursiver Normalitäts-Dispositive konstituiert wird«204. Die Strategien können grundsätzlich sowohl kombiniert als auch partiell eingesetzt werden, zwischen ihnen besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das Link von einer »aporetischen siamesischen Bifurkation« sprechen lässt, »um die Untrennbarkeit von zwei Richtungen einer Gabelung zu suggerieren«205. Somit wird unter Normalismus ein Geflecht von diskursivem Wissen und praktischen Verfahren verstanden, das ein Feld mit einer breiten oder schmalen räumlichen Ausdehnung und mit jeweils stark oder schwach ausgeprägten In- und Exklusionsmechanismen konstituiert. Dem Interdiskurs Literatur fällt in diesem Kontext die Aufgabe zu, die normalistischen Objekte an die Subjekte zu vermitteln, indem sie »Applikations-Vorlagen«206 konstruiert, die dann durch den Prozess der Identifikation, die sowohl positiv als auch negativ sein kann, von den Subjekten in selektiver Weise assimiliert werden können.

201 202 203 204 205 206

Ebd., S. 54. Ebd., S. 57. Ebd. Ebd., S. 55f. Ebd., S. 59, Herv. i.O. Ebd., S. 41.

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2.2 D ER PRAXEOLOGISCHE ANSATZ : ANDREAS R ECKWITZ Obwohl er mehrfach Bezug auf Foucault nimmt,207 beleuchtet Andreas Reckwitz das Verhältnis von Diskursen und Praktiken gleichsam von der anderen Seite – aus der Perspektive der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Praxeologie. Diese Richtung der Soziologie fragt unter Rückgriff auf verschiedene poststrukturalistische Theorieströmungen seit den späten 1960er Jahren danach, aufgrund welcher Gegebenheiten die Akteure die Welt als geordnet wahrnehmen und damit handlungsfähig sind.208 Damit eine solch »basale Ordnungsleistung« gelingt, müssen »symbolisch-sinnhafte Regeln« vorausgesetzt werden, die dazu dienen, »die Zuschreibung von Bedeutungen gegenüber Gegenständen in der Welt und ihr ›Verstehen‹ [zu] regulieren«209. Dadurch können Akteure ihre Welt mittels »kollektiv geteilte[r] Wissensordnungen, Symbolsysteme[n], kulturellen Codes, Sinnhorizonte[n]«210 strukturieren. Ähnlich den von Link ausgearbeiteten Kollektivsymbolen wird dabei nicht das einzelne Individuum fokussiert, sondern Kollektive, die diese Wissensordnungen teilen. An dem Punkt einer genauen Definition von Wissens- bzw. Sinnsystemen, unterscheidet sich die Praxeologie von anderen Sozialtheorien. So insistiert Reckwitz auf eine kollektive Wissensordnung im Sinne eines praktischen Wissens, eines impliziten ›Knowhow-Wissens‹, das sich in einem routinisierten Verhalten äußert,211 womit er zugleich kulturelle Praktiken als kleinste Einheit der Kultur festhält.212 Dadurch wendet sich die Praxeologie explizit gegen eine homogenisierende Vorstellung von Kultur: Kultur wird vielmehr als ein flexibles »alltagspraktisches ›tool kit‹« verstanden, dessen »kulturelle Codes [sich] im beständigen ›interpretative work‹«213 befinden. Dieses Alltagswissen zeichne sich durch seinen ›Werkzeugcharakter‹ und seine Heterogenität aus, die weder einem Kollektiv noch einer einzelnen Person eindeutig zuzuschreiben seien.214 Anstatt das Wissen in einem theoretischen Denken oder in einer Eigenschaft zu verorten, findet es sich in der Praktik selbst verankert. Drei unterschiedliche Formen des Wissens können dabei zum Tragen kommen: ein interpretatives Verstehen, das eine Zuschreibung von Bedeutung von Gegenständen, Personen etc. umfasst; ein methodisches Wissen, also das Wissen darum, wie man 207 Vgl. besonders prominent: RECKWITZ, Andreas: Praktiken und Diskurse. Eine soziologische und methodologische Relation, in: Kalthoff, Herbert/Hirschauer, Stefan/Lindemann, Gesa (Hrsg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 188-209. 208 Vgl. RECKWITZ, Andreas: Auf dem Weg zu einer kultursoziologischen Analytik zwischen Praxeologie und Poststrukturalismus, in: Wohlrab-Sahr, Monika (Hrsg.): Kultursoziologie. Paradigmen – Methoden – Fragestellungen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 179-205, hier S. 183f. 209 RECKWITZ, Andreas: Grundelemente, S. 288. 210 Ebd. 211 Ebd., S. 289. 212 Vgl. RECKWITZ, Andreas: Praktiken und Diskurse, S. 188ff. 213 RECKWITZ, Andreas: Grundelemente, S. 286. 214 Vgl. ebd.

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Handlungen hervorbringt, damit sie ›gelingen‹; und ein motivational-emotionales Wissen, das den impliziten Sinn einer Handlung, die Intention, beschreibt.215 Gemeinsam bilden diese Aspekte des Wissens einen ›kulturellen Code‹, ein »nicht unbedingt systematisch aufgebautes Netz von sinnhaften Unterscheidungen«216. Der Blick richtet sich hierbei in einem poststrukturalistischen Duktus »auf den historischen sowie diskursiven Charakter und vor allem auf die Instabilität, immanente Hybridität, Destabilisierungstendenz und Selbstwidersprüchlichkeit solcher kultureller Codes«217. Es geht der Praxeologie im Sinne Reckwitz‘ nicht darum, ›Sinnwelten‹ auf geistiger Ebene zu ermitteln, sondern im Gegenteil darum, wie diese Wissensordnung »in praxi«218 produziert und angewendet wird: in einem routinisierten Verhalten, dem dieses Know-how-Wissen inhärent ist219 und das sich in einem spezifischen Handeln der Akteure äußert. Diese Definition von Handeln setzt sich wiederum von anderen Sozialtheorien deutlich ab. So spielen in dem praxeologischen Verständnis von Handeln, ebenso wie in anderen theoretischen Strömungen, auch Aspekte wie Intentionalität, normative Kriterien und symbolische Schemata eine Rolle, jedoch wird das Handeln in erster Linie eben als Praktik, als wissensbasierte Tätigkeit, als Aktivität, in der dieses Wissen angewandt wird, aufgefasst. Den Zusammenhang zwischen der Wissensordnung und dem Handeln der Akteure beschreibt Reckwitz wie folgt:

215 216 217 218

Vgl. ebd., S. 292. Ebd., S. 293. RECKWITZ, Andreas: Auf dem Weg, S. 185. Ebd., S. 191, Herv. i.O. Eine ganz ähnliche Argumentation, die auf das Praktizieren von Kultur abhebt, findet sich auch bei Hörning und Reuter: »Der Begriff der Kultur ›in Aktion‹ ist wörtlich zu verstehen, denn es sind die Aktionen im Sinne eingelebter Umgangsweisen und regelmäßiger Praktiken der Gesellschaftsmitglieder, die zu dem zentralen Bezugspunkt von Kulturanalysen avancieren. Auch die theoretische Herangehensweise trägt diesem Umstand Rechnung: Statt Kultur als Mentalität, Text oder Bedeutungsgewebe kognitivistisch zu verengen, oder sie als fragloses Werte- und Normensystem strukturalistisch zu vereinnahmen, wird in anti-mentalistischer und ent-strukturierender Weise von Kultur als Praxis gesprochen.« (HÖRNING, Karl H./REUTER, Julia: Doing Culture: Kultur als Praxis, in: Dies. (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript 2004, S. 9-15, hier S. 9f., Herv. i.O.) 219 Michael Meier kritisiert an Reckwitz‘ Ausführungen, dass zwar auf die Wissensordnungen als Grundlage der Praktiken hingewiesen wird, aber die Bedingungen zur Entstehung von Wissen nicht benannt werden und auch kaum zum Bestandteil der praxeologischen Untersuchung werden (vgl. MEIER, Michael: Bourdieus Theorie der Praxis – eine ›Theorie sozialer Praktiken‹?, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript 2004, S. 55-69, hier S. 57ff.). In der von mir vorgeschlagenen theoretischen Konzeption ist es das verwobene Netz diskursiver Formationen (im Sinne Foucaults), die die Wissensordnungen und damit auch implizite oder explizite Grenzziehungen durch Prozesse intentional oder nicht-intentional hervorbringen, auf denen die kulturellen Praktiken dann basieren.

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Wie bereits oben und auch hier deutlich wird, definiert sich das Handeln durch die spezifische Eigenschaft, ›routinisiert‹ zu sein. Das durch dieses Merkmal implizierte scheinbar starre Verhalten der Akteure, das jegliche Formen des Wandels ausschließen würde, wird von Reckwitz relativiert, indem er der Routinisiertheit die Unberechenbarkeit der Praktiken an die Seite stellt. In diesem Sinne hält er fest, dass sich Praktiken im Spannungsfeld von »einer relativen ›Geschlossenheit‹ der Wiederholung und einer relativen ›Offenheit‹ für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs«221 befänden, was er, in Anlehnung an Bourdieu,222 die zwei Seiten der ›Logik der Praxis‹ nennt. Während also auf der einen Seite aus dem Routinehandeln, im Sinne eines »routinisierte[n] Strom[s] der Reproduktion typisierter Praktiken«, eine »relative Strukturiertheit, Verstehbarkeit und ›Geordnetheit‹ der Sozialwelt«223 entsteht, können Praktiken (nicht Individuen!) auch eine Umdeutung der Praktiken sowie eine innovative ›Anwendung‹ dieser evozieren. Auf diese doppelte Struktur verweisen auch Hörning und Reuter: »Praxis ist zugleich regelmäßig und regelwidrig, sie ist zugleich wiederholend und wiedererzeugend, sie ist zugleich strategisch und illusorisch.«224 Um eine Neuinterpretation anzustoßen, benennt Reckwitz vier Möglichkeiten: Die erste umfasst die Entstehung eines neuen Kontextes, für den in den Praktiken (noch) kein Wissen vorhanden ist. Für die zweite Möglichkeit spielt die Zeitlichkeit eine Rolle, zum einen ist eine sogenannte ›Zukunftsungewissheit‹ bei jeder Praktik gegeben, das bedeutet, dass der Akteur das Gelingen der Praktik nicht mit Sicherheit abschätzen kann, und zum anderen besteht die Möglichkeit einer ›Sinnverschiebung‹, da jede Praktik das Potential zu einer Verschiebung des Bedeutungsgehalts beinhaltet. Der dritte Aspekt fokussiert die Praktiken als Gebilde, als »lose gekoppelte Komplexe«, die sich sowohl als soziale Felder (›der Sache nach‹ zusammenhängende Praktiken) als auch als Lebensformen (Klasse, Milieu etc.) strukturieren können, und damit eine »Quelle von ›Agonalität‹, d.h. der Konkurrenz unterschiedlicher sozialer Logiken in sozialen Feldern, und von interpretativen Mehrdeutigkeiten«225 darstellen. Somit werden hier auch Grenzen und Grenzverschiebungen angesprochen: einmal im Bereich des sozialen Feldes, da die 220 RECKWITZ, Andreas: Grundelemente, S. 292. 221 Ebd., S. 294. 222 Vgl. dazu: BOURDIEU, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, bes. S. 248ff. 223 RECKWITZ, Andreas: Grundelemente, S. 292. 224 HÖRNING, Karl H./REUTER, Julia: Doing Culture: Kultur als Praxis, S. 13, Herv. i.O. Vgl. dazu auch: HÖRNING, Karl H.: Soziale Praxis zwischen Beharrung und Neuschöpfung. Ein Erkenntnis- und Theorieproblem, in: Ders./Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript 2004, S. 19-39. 225 RECKWITZ, Andreas: Grundelemente, S. 295.

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Praktiken zwar miteinander verbunden sind, sich aber auch deutlich voneinander unterscheiden oder sogar in Konkurrenz zueinander stehen. Zum anderen können jedoch auch die gleichen Praktiken durch ihre inhärente Netzstruktur in verschiedenen sozialen Feldern bzw. in unterschiedlichen Lebensformen auftreten. Zu fragen wäre an dieser Stelle, ob sich Homologien bzw. Hierarchien heraus kristallisieren lassen, wobei erstere »Prozesse kultureller Grenzüberschreitung«226 beinhaltet, durch die einzelne Praktiken in verschiedenen Feldern und Lebensformen eingeführt und tradiert werden, Hierarchien hingegen Subjektformen betrachten, die »›quer‹ zur funktionalen Differenzierung von Feldern existieren und erfolgreich den Anspruch auf Allgemeingültigkeit«227 etc. erheben. So kann es keine eindeutige und vor allem zeitüberdauernde Zuteilung der Praktiken geben. Während dieser Aspekt sozusagen die Gruppierungen bzw. das Auftauchen der Praktiken in den Blick nimmt, geht es beim vierten Aspekt der Unberechenbarkeit der Praktiken darum, dass sich auch verschiedene Wissensformen in demselben Akteur überschneiden und hier gegebenenfalls eine Konkurrenz ausbilden können.228 Damit ist ein weiterer Aspekt angesprochen, der konstitutiv für die (poststrukturalistische) Praxeologie ist: der dezentrierte Subjektbegriff.229 Reckwitz betont, dass nicht der Einzelne, das Individuum im Fokus der Betrachtung steht, sondern dass sich das Interesse auf Subjektformen im Sinne von »kulturelle[n] Typisierungen, Anforderungskataloge[n] und zugleich Muster[n] des Erstrebenswerten«230 richtet. Praktiken wiederum haben die Eigenschaft, solch »spezifische Subjektformen [zu] produzieren«231, indem sie sich der Köper bedienen, sich die Körper schaffen, »um damit intersubjektiv sichtbar bestimmte kompetente soziale Verhaltensweisen zu präsentieren«232. Reckwitz formuliert pointiert: »Die Akteure oder Subjekte sind nichts anderes als Bündel dieser praktischen Wissensformen, die sich in sozialen Praktiken aktualisieren. Nichts an ihnen kann vorpraktisch vorausgesetzt werden: weder Reflexivität noch Innerlichkeit, weder Interesse noch Begehren.«233 Dabei kann zwischen drei Arten von Praktiken unterschieden werden: den intersubjektiven (Praktiken im Umgang von Personen, sowohl sprachliche als auch nicht-sprachliche Zeichen), den interobjektiven234 (Praktiken im Umgang mit Objekten, die sich darauf 226 227 228 229 230 231 232 233

RECKWITZ, Andreas: Subjekt. Bielefeld: transcript 2008, S. 143, Herv. i.O. Ebd. Vgl. RECKWITZ, Andreas: Grundelemente, S. 295. Vgl. RECKWITZ, Andreas: Auf dem Weg, S. 185. RECKWITZ, Andreas: Subjekt, S. 140. Ebd., S. 135. RECKWITZ, Andreas: Auf dem Weg, S. 190. RECKWITZ, Andreas: Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler, in: Hörning, Karl H./Reuter, Julia (Hrsg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript 2004, S. 40-54, hier S. 44. 234 Angemerkt sei an dieser Stelle, dass der Begriff ›interobjektiv‹ problematisch ist, da er wörtlich betrachtet impliziert, dass es Praktiken im Umgang zwischen Objekten gebe. Das ist jedoch nicht gemeint, da Objekten zwar ein besonderer Stellenwert in der Praxeologie zugesprochen wird, solange sie an der Schaffung oder Wiederholung der Wissensordnung

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beziehen, dass Praktiken in Artefakten eingeschrieben sind, beispielweise die Sitzordnung im Parlament) und den selbstreferentiellen (Praktiken im Umgang mit sich selbst, Praktiken, in denen das Subjekt einen Bezug zu sich selbst herstellt). Diesen Arten ist gemeinsam, dass sie grundlegend durch kulturelle Codes strukturiert sind.235 Sie beinhalten: die Körperperformanz (Körperbewegungen, wie Motorik, Gestik, Mimik etc.), das praktische Wissen, welches internalisiert und inkorporiert ist, das Deutungswissen (Sinnzuschreibung von Gegenständen) und das Selbstverstehen (implizite oder explizite Definitionen der ›Identität‹). Auswirkungen haben Praktiken in diesem Kontext sowohl auf die »kulturell spezifische Form der Sinnwahrnehmung« als auch auf die »Ausbildung von Affektstrukturen«236, die in Abhängigkeit zu der Wissensordnung stehen. Wie oben schon angedeutet, geht es bei der Beschreibung der Subjektformen nicht darum, eine stabile Entität zu generieren, vielmehr kann es durch die Einbeziehung verschiedener kultureller Codes auch Überlagerungen, Verschmelzungen und Widersprüchlichkeiten geben.237 Neben den Subjekten sind, wie bereits angesprochen, auch Artefakte von Bedeutung – und zwar solche, die »material und kulturell zugleich strukturiert werden, indem sie in soziale Praktiken eingebunden sind«238. Es geht also um Gegenstände und Objekte, die einerseits innerhalb und durch Praktiken eine kulturelle und soziale Bedeutung erhalten und damit nicht nur Fakt, gleichwohl durch ihre Künstlichkeit und ihre Konstruiertheit auch Faktum sind und andererseits auch auf die Praktiken selbst wirken. Daher liegt ein wichtiges Charakteristikum der Artefakte in ihrem auf diesem Doppelstatus basierenden Verhältnis zu den Praktiken: »Sie [die Artefakte] werden gehandhabt und drängen sich auf, sie sind Gegenstand der Verwendung und Benutzung und zugleich beeinflussen sie die Form, die soziale Praktiken überhaupt haben können.«239 Reckwitz führt aus, dass Praktiken damit eben sowohl auf den sozialisierten Köpern basieren als auch auf der Stabilität von Dingen.240 Durch diese Hervorhebung der Gegenstände innerhalb der Praxeologie wird – neben der Definition von Handeln und Wissensordnung – ein weiterer Unterschied zu anderen Sozial-

235 236 237

238 239 240

durch kulturelle Codes beteiligt sind, jedoch haben sie selbstverständlich kein ›Eigenleben‹, das eigene Praktiken beinhalten würde. Vgl. RECKWITZ, Andreas: Subjekt, S. 135f. Vgl. auch Ders.: Auf dem Weg, S. 191. RECKWITZ, Andreas: Subjekt, S. 136f. Um diese sichtbar zu machen, verweist Reckwitz auf drei Aspekte. Wenn erstens von einer Überdetermination die Rede ist, sind damit »Überlagerungen verschiedener Subjektcodes in der gleichen Subjektkultur« (ebd., S. 145.) gemeint, die sich gegenseitig verstärken und/oder Spannungen erzeugen können. Zweitens betreffen Supplementaritäten, in Anlehnung an Jacques Derrida, diejenigen Unterscheidungen, die vornehmlich auf einer asymmetrischen Basis beruhen, zwischen einem Haupt- und einem Nebenelement. Den dritten Aspekt bezeichnet Reckwitz etwas schemenhaft als ›konstitutives Außen‹, das Unterscheidungen zwischen einem ›Eigenen‹ und einem ausgeschlossenen ›Anderen‹ beinhaltet, worüber sich das Eigene konstituiert (vgl. ebd.). RECKWITZ, Andreas: Auf dem Weg, S. 193. Ebd. Vgl. RECKWITZ, Andreas: Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken, S. 45.

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theorien deutlich, nämlich in der grundsätzlichen Definition des ›Sozialen‹. Dieses wird hier weniger als Form einer rein intersubjektiven Ausrichtung definiert, sondern vielmehr auch in Bezug auf den Umgang mit Objekten innerhalb eines routinisierten Verhaltens. So wird das Soziale nicht auf eine wie auch immer geartete Interaktion zwischen Subjekten beschränkt: »Aus Sicht der Praxistheorie besteht das Soziale einer Praktik statt dessen in der – durch ein kollektiv inkorporiertes praktisches Wissen ermöglichten – Repetitivität gleichartiger Aktivitäten über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg, die durch ein praktisches Wissen ermöglicht wird. Ein solcher ›Typus‹ des Verhaltens und Verstehens ist zwar potentiell durch andere Akteure verstehbar und in jedem Einzelfall als Praktik X sozial identifizierbar (und in diesem weiteren Sinne ›intersubjektiv‹ strukturiert), aber das ›accomplishment‹ der wissensbasierten sozialen Praktik selbst braucht nicht die Form einer ›sozialen Interaktion‹ oder von ›sozialem Handeln‹ zu besitzen.«241

Der vierte grundlegende Baustein der praxeologischen Untersuchung ist der Bereich der Diskurse. Diese fügen sich für Reckwitz in das theoretische Geflecht nahtlos ein, da sie selbst zwar eine spezielle Form, aber im Grunde nichts anderes als Praktiken sind, nämlich »Praktiken der Repräsentation«242. Anleihen an Foucaults Diskursbegriff werden an vielen Stellen deutlich, beispielsweise in dem Aspekt, dass die Diskurse (wie alle Praktiken) eine »materiale Verankerung«243 haben müssen, was besonders an die von Foucault definierte Aussagefunktion der materiellen Existenz244 erinnert, oder in der Bestimmung, dass der Diskurs die Ordnung des Denkbaren und Sagbaren beispielsweise in Form eines regulierten Aussagesystems beinhalte245 oder, noch expliziter, in der an Foucault angelehnten Begriffsbestimmung: diskursive Praktik246. Die Argumentation von Reckwitz zielt auf die Entwicklung eines Modells, in dem sich die zunächst als Opposition darstellende Differenz zwischen Praxeologie und Diskursanalyse in Form eines »Praxis/Diskurs-Komplexes«247 zusammenfügt. Als Prämissen hierfür müssten zum einen Praktiken und Diskurse anstatt als sich widersprechender und unabhängiger Gegenstände »als zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen«248 gedacht werden und zum anderen dürften diese Komplexe nicht als homogene Formationen analysiert werden. Gleichwohl sei nach Konkurrenz und Instabilitäten sowohl zwischen diesen Bereichen als auch innerhalb der Praxis/Diskurs-Komplexe zu fragen.249 Neben den oben bereits definierten Praktiken charakterisieren sich die Diskurse in diesem Zusammenhang durch die regulierte und sinnhafte Entitäten produ241 242 243 244 245 246 247 248 249

RECKWITZ, Andreas: Grundelemente, S. 292. RECKWITZ, Andreas: Auf dem Weg, S. 191, Herv. i.O. Ebd. Vgl. FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 145. Vgl. RECKWITZ, Andreas: Auf dem Weg, S. 192. Vgl. RECKWITZ, Andreas: Praktiken und Diskurse, S. 203. Ebd., S. 201. Ebd., S. 202. Vgl. ebd.

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zierende Darstellung von Objekten, Subjekten und Zusammenhängen, wodurch der Diskurs zu einer »spezifische[n] Beobachtungskategorie, welche Zeichen verwendende Praktiken unter dem Aspekt ihrer Produktion von Repräsentationen betrachtet«250, avanciert. Trotz der Betonung, dass sich Praktiken und Diskurse »auf der gleichen ›flachen‹ Ebene«251 bewegen, ist die disziplinlogische Hervorhebung der Praktiken gegenüber den Diskursen, wie auch die Bezeichnung der ›Praxis/Diskurs-Formationen‹ deutlich macht, besonders an dem Punkt nicht zu übersehen, wenn der Diskurs selbst als eine Kategorie der Praktiken bezeichnet wird. Reckwitz fasst die vier Aspekte einer praxeologischen Untersuchung (Praktiken, Diskurse, Artefakte und Subjektivierungen), die wiederum alle sowohl miteinander als auch mit der Wissensordnung verbunden sind, zu einem ›praxeologischen Quadrat‹ zusammen, das er schematisch wie folgt darstellt: Abbildung 1: Das praxeologische Quadrat Diskurse

Praktiken

Wissensordnung Subjektivierungen

Artefakte

Reckwitz, Andreas: Auf dem Weg, S. 195.

Mit diesem Schema werden primär die engen Wechselbeziehungen dieses Geflechts deutlich. Die in der Darstellung prominent mittige Platzierung der Wissensordnung hat vor allem deshalb Berechtigung, da genau die Frage, aufgrund welcher Prozesse und Strukturen die Subjekte ihre Umwelt als sinnhafte wahrnehmen, sodass sie handlungsfähig sind, den Ausgangspunkt der theoretischen Grundlage der Praxeologie bildet. Die Antwort darauf wird hier in den Praktiken gefunden, weshalb das Modell insofern etwas irreführend ist, als dass der Eindruck entstehen könnte, dass die Praktiken als gleichwertiges Element unter den anderen ›Eckelementen‹ existieren. Tatsächlich betont Reckwitz jedoch, wie oben herausgearbeitet, dass die Praktiken in jedem Bereich den Bezugsrahmen bilden, sei es, indem Diskurse als Praktiken bezeichnet werden, sei es, indem sich die Subjekte erst in und durch Praktiken formieren oder sei es hinsichtlich der Artefakte, die nicht unabhängig von Praktiken betrachtet werden. Somit kann für diesen von Reckwitz vorgestellten praxeologischen Ansatz festgehalten werden, dass der Schwerpunkt der Untersuchung auf den Praktiken liegt, die sich als routinisiertes Verhalten auf der Grundlage eines impliziten Know-howWissens darstellen und in denen Subjektformationen mittels inkorporierten Wissens entstehen. Auch Objekte und Dinge werden unter dem Aspekt der Praktik analysiert,

250 Ebd., S. 203, Herv. i.O. 251 Ebd.

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indem diese einerseits innerhalb der Praktiken Bedeutung erlangen, sie aber andererseits auch auf die Praktiken Auswirkungen haben. Die Diskurse nehmen hier sodann den Stellenwert von Praktiken der Repräsentation ein, welche die Wissensordnungen geregelt explizieren.

2.3 D IE SEMIOLOGISCHE E REIGNISTHEORIE : J URIJ M. L OTMAN In seinem Werk Die Struktur literarischer Texte untersucht der russische Semiotiker Jurij M. Lotman unter anderem das »Problem des künstlerischen Raums«252 und stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass die Sprache der räumlichen Relationen ein »grundlegendes Mittel zur Deutung der Wirklichkeit«253 ist, da diese nicht für sich im Sinne einer räumlichen Orientierungshilfe stehen, sondern mit ihnen auf Wertungen basierende Konnotationen verbunden sind wie ›gut | schlecht‹ oder ›eigen | fremd‹. Diese Beobachtung sei bereits in so basalen Modellen wie Himmel | Hölle oder, im Sinne von politischen Ausrichtungen, links | rechts gegeben, weshalb Lotman sie auch als »Material zum Aufbau von Kulturmodellen« bezeichnet: »Historische und national-sprachliche Raummodelle werden zum Organisationsprinzip für den Aufbau eines ›Weltbildes‹«254. Dieses außerliterarische Organisationsprinzip ist insofern für die Literatur interessant, als die dort vorgenommenen Unterscheidungen, die Lotman mit einem strukturalistischen Impetus einem (scheinbar klar zu definierenden) Kulturtyp zuordnet, auch in den räumlichen Modellen der Texte an Bedeutung gewinnen. Literatur erscheint hier also als ein sekundäres, modellbildendes System, das sich einerseits an der gegebenen Welt orientiert, andererseits aber auch eine spezielle Sicht der Welt entwirft.255 Die Grenze, die er als das wichtigste topologische Merkmal des Raums bezeichnet, nimmt in diesem Kontext eine besondere Stellung ein: »Sie teilt den Raum in zwei disjunkte Teilräume. Ihre wichtigste Eigenschaft ist ihre Unüberschreitbarkeit. Die Art, wie ein Text durch eine solche Grenze aufgeteilt wird, ist eines seiner wesentlichsten Charakteristika. Ob es sich dabei um eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere handelt, ist an sich gleich. Wichtig ist etwas anderes: die Grenze, die den Raum teilt, muß unüberwindlich sein und die innere Struktur der beiden Teile verschieden.«256

252 253 254 255

LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 311. Ebd., S. 313. Ebd. Vgl. dazu auch: RENNER, Karl Nikolaus: Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von J. M. Lotman, in: Frank, Gustav/Lukas, Wolfgang (Hrsg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Passau: Karl Stutz 2004, S. 357-382, hier S. 358. 256 LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 327.

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Lotman geht also von zwei differenten Räumen aus, die durch eine Grenze, und zwar in Form einer Linie,257 voneinander getrennt sind. Die beiden Räume sind nicht nur mit bestimmten semantischen Merkmalen ausgestattet, wie ›geschlossen‹ oder ›offen‹, Lotman teilt ihnen auch je einen ›Held‹ zu, der diesem Raum zugehörig ist. Zwar räumt er die Möglichkeit ein, dass ein Held auch mehreren Räumen angehören kann, was er eine »Polyphonie der Räume, ein Spiel mit den verschiedenen Arten ihrer Aufteilung«258 nennt, doch sind die einzelnen Räume für ihn stets fest von Grenzen umschlossen. Auf diesen die Grenze betreffenden Überlegungen nimmt Lotman eine weitere Unterscheidung vor: die Differenz zwischen einem primären, sujetlosen und einem sekundären, sujethaften Text. Im ersten ist eine Grenzüberschreitung nicht möglich, die Figuren bleiben stets in ihrem zugeordneten Raum verhaftet, die Unverletzbarkeit der Grenze wird somit deutlich. Im zweiten, dem sujethaften Text ist eine Grenzüberschreitung der Figuren grundlegend ebenfalls verboten, einzelne Figuren bzw. Gruppen jedoch setzen sich oder werden in die Lage versetzt, dieses Verbot aufzuheben. Die beiden Textformen bilden ein konflikthaltiges Spannungsfeld, weil das, »was die sujetlose Struktur als unmöglich behauptet, […] den Inhalt des Sujets [ausmacht]«259. Diese Grenzüberschreitung verbindet Lotman dann mit seinem Konzept des Ereignisses: »Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.«260 Das bedeutet zum einen, dass die binäre Opposition der semantischen Felder bzw. der Übergang von einem Feld in ein anderes ein Ereignis ausmacht, zum anderen aber auch, dass es Ereignisse nicht losgelöst von bestehenden Ordnungen geben kann, die in dem literarischen Text erst hergestellt oder als gegeben vorausgesetzt sind.261 Daher muss auf der Figurenebene eine weitere Differenzierung zwischen zwei sich konträr gegenüberstehenden Gruppen vorgenommen werden, und zwar die zwischen beweglichen und unbeweglichen Figuren. Während die unbeweglichen demnach dem sujetlosen Text zugehörig sind, Grenzen also nicht überschreiten können, werden die beweglichen, grenzüberschreitenden Figuren dem sujethaften Text zugeordnet: »Die Bewegung des Sujets, das Ereignis ist die Überwindung jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur festgelegt ist. Eine Verschiebung des Helden innerhalb des ihm zugewiese257 258 259 260

Vgl. ebd., S. 337. Ebd., S. 329. Ebd., S. 339. Ebd., S. 332, Herv. i.O. Interessant ist hier, dass Lotman explizit deutlich macht, dass die Überschreitung einer Grenze innerhalb eines Feldes kein Ereignis sein könne. In der folgenden Auseinandersetzung mit Lotmans Theorie wurde dieser Punkt jedoch weiterentwickelt, zum Beispiel von Karl Nikolaus Renner in seiner ›Extrempunktregel‹. Hier heißt es dann, dass Figuren auch innerhalb eines Teilraums Grenzen überschreiten können (vgl. RENNER, Karl Nikolaus: Grenze und Ereignis, S. 375f.; Ders.: Zu den Brennpunkten des Geschehens. Erweiterung der Grenzüberschreitungstheorie: Die Extrempunktregel, in: Bauer, Ludwig/Ledig, Elfriede/Schaudig, Michael (Hrsg.): Strategien der Filmanalyse. Zehn Jahre Münchner Filmphilologie. Prof. Dr. Klaus Kanzog zum 60. Geburtstag. München: diskurs film 1987, S. 115-130.). 261 Vgl. RENNER, Karl Nikolaus: Grenze und Ereignis, S. 370.

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nen Raumes ist kein Ereignis. Daraus erklärt sich die Abhängigkeit des Begriffs ›Ereignis‹ von der im Text gültigen Struktur des Raumes, von ihrem klassifikatorischen Teil. Deshalb kann das Sujet immer auf die Hauptepisode zusammengezogen werden – die Überschreitung der grundlegenden topologischen Grenze in der Raumstruktur.«262

Durch diese Definition wird die Grenze zum »Hindernis«263 für den Helden, der, wenn er eine bewegliche Figur ist, diese überwinden kann und damit in ein anderes semantisches Feld gelangt. In diesem »Gegenfeld«264 schließlich gibt es zwei Möglichkeiten: erstens, der Held fügt sich in dieses Feld ein und wird zu einer unbeweglichen Figur oder zweitens, der Held macht wieder eine Rückwärtsbewegung und kehrt in sein ursprüngliches semantisches Feld zurück, wo er dann zu einer unbeweglichen Figur wird. Ein weiterer Wechsel zwischen den Feldern ist für Lotman dann nicht mehr möglich, da mit der Konstitution des Helden als unbewegliche Figur auch die Entwicklung des Sujets beendet ist.265 Lotman hält in seinen theoretischen Ausarbeitungen zu der Grenze demnach fest, dass diese prinzipiell nicht überwunden werden kann, mit Ausnahme einzelner Figuren bzw. Gruppen, für die dieses Verbot explizit keine Gültigkeit hat bzw. die in der Lage sind, es zu überwinden. Eine Aufhebung der Grenze bzw. Neuformierung oder Verschiebung kann es hier grundsätzlich nicht geben. Die einzelnen Teile, die durch die Grenze entstehen, werden mit festen semantischen Zuschreibungen belegt, sei es ›offener‹ und ›geschlossener‹ Raum oder ›eigene‹ und ›fremde‹ Kultur. Die Möglichkeit eines Dazwischen bzw. eines Weder-Noch wird hier kategorisch ausgeschlossen, was die strukturalistische Prägung Lotmans besonders deutlich macht.

262 263 264 265

LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 338, Herv. i.O. Ebd., S. 342. Ebd. Vgl. ebd., S. 343.

II. Grenzüberschreitung – Theorie der Grenze und Untersuchungsfragen

1. Theoretische Konzeption der Grenze

Im Folgenden wird eine Zusammenführung dieser Theorieansätze versucht, die dazu dienen soll, die literarischen, konstruierten Grenzen des vorliegenden Textkorpus zu untersuchen. Die Inhalte der Diskurs- und Interdiskurstheorie machen zunächst einen zweifachen Bezug zu der Grenzthematik deutlich: Auf der einen Seite können sowohl die Grenzen zwischen den Spezialdiskursen, die von der Literatur integriert werden, untereinander als auch zwischen den Spezialdiskursen und dem Interdiskurs Literatur sichtbar werden. Letzteres ist vor allem dann der Fall, wenn sich die Literatur explizit mit Wissensformationen aus Spezialdiskursen beschäftigt und diese infrage stellt, indem sie beispielsweise andere, alternative Wissensräume eröffnet oder Widersprüche zwischen den einzelnen Spezialdiskursen offenbart. Auf der anderen Seite zeigen besonders die theoretischen Ausarbeitungen Foucaults zu den diskursiven Formationen, dass Grenzen durch Verknappung von außen und durch interne Prozesse sowohl intentional als auch nicht-intentional generiert werden. Diese Grenzen können ganz unterschiedlicher Art sein, beispielsweise die Unterscheidung (und damit Grenzziehung) zwischen normal | unnormal, richtig | falsch, aber auch zwischen dem, was gesagt und dem, was nicht gesagt werden kann bzw. darf. Das bedeutet, dass durch Aushandlungsprozesse, die stets mit Positionen der Macht verbunden sind und sowohl mit maximaler als auch mit minimaler Ausklammerung von Friktionsfaktoren operieren können, Grenzen gezogen werden. Diese sind allerdings nicht starr und homogen. Vielmehr zeichnen sie sich durch ihre (historische) Variabilität und Flexibilität aus, was die Prozessstruktur im Besonderen unterstreicht. Das Ergebnis eines solchen Aushandlungsprozesses in Bezug auf die neuen Kriege wäre zum Beispiel, wer bzw. welche Gruppierung als ›terroristisch‹ bezeichnet wird. Dieser ursprünglich durchaus positiv konnotierte Begriff (erstmalig wurde er während der Französischen Revolution verwendet),1 weist eine prägnante semantische Verschiebung auf, die heute in dem sogenannten ›internationalen Terrorismus‹ mündet, der – besonders für weite Teile der ›westlichen‹ Demokratien wie Europa und Amerika – ausschließlich negative Assoziationen innehat. Hier, bei der Vergabe der Konnotationen, spielen verschiedene Spezialdiskurse zusammen wie die Politik, die Justiz, das Militär, aber auch Diskurse wie die Massenmedien. Gerade an solchen Benennungen, deren Grundlage stets ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Bezeichner und Bezeichne1

Vgl. HOFFMAN, Bruce: Terrorismus – der unerklärte Krieg, S. 23f.

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tem ist,2 wird ein heterogenes Feld deutlich, das durch verschiedene Machtformationen gekennzeichnet ist. Durch die Etikettierung ›Terrorismus‹ im politischen Bereich werden so nicht nur derartige Gruppierungen auf diplomatischer Ebene diskreditiert und sogar aus dieser ausgeschlossen,3 sondern es werden auch juristische Strukturen aktiviert, indem besondere Gesetze erlassen und angewandt werden, die zum Beispiel in einem Staatenkrieg nicht zur Anwendung kommen.4 So implizieren diese Grenzen der Wiss- und Sagbarkeit entscheidende Machteffekte,5 indem sie ihren Inhalt zuallererst formieren und Verstöße dagegen geahndet werden. Die Normalitätsgrenze verläuft in diesem Fall nicht innerhalb einer flexiblen, sondern einer protonormalistischen Strategie, die auf starken Ausgrenzungsmechanismen basiert und die Grenzen fixiert. Damit bilden Diskurse in diesem theoretischen Zusammenhang den Bereich, in dem durch prozesshafte Strukturen und Machtpositionen Grenzen der Sagbarkeitsund Wissensräume gezogen werden, die stets in Bewegung und historisch variabel sind, d.h., dass über sie keine allgemeingültigen, die Zeit überdauernden Aussagen getroffen werden können, jedoch über ihre spezifische Konstellation in bestimmten kulturellen zeitlich-räumlichen Kontexten.6 Dabei können verschiedene Strategien zum Tragen kommen, die die Grenzen durchlässig und variabel oder auch fix und stabil konstituieren. Auf der anderen Seite stehen die kulturellen Praktiken7, die sich vor allem durch ihr routinisiertes Verhalten, dem eine Know-how-Wissensstruktur zugrunde liegt,

2 3

4

5 6

7

Vgl. dazu auch Abschnitt I, Kapitel 1.2.4. Vgl. dazu vor allem die zahlreichen Reden und Statements aus dem Weißen Haus nach den Terroranschlägen vom 11.09.2001, die die Kernaussage »Wir verhandeln nicht mit Terroristen« haben. Das wohl prominenteste Beispiel für eine solch spezielle Gesetzgebung und -ausführung ist unter dem Schlagwort ›Guantánamo‹ bekannt, ein amerikanisches Internierungslager auf Kuba, dessen Insassen beschuldigt werden, in Kontakt mit terroristischen Organisationen zu stehen bzw. ihnen anzugehören. Eins der besonderen Merkmale ist, dass für die Inhaftierung keine Gerichtsverhandlung, die eine etwaige Schuld feststellt, vonnöten ist und dass die Aufenthaltsdauer damit auch nicht nach juristischen Kriterien festgelegt ist (vgl. dazu auch Abschnitt III, Exkurs 2.). Vgl. LINK, Jürgen: Warum Diskurse nicht von personalen Subjekten ›ausgehandelt‹ werden, S. 85. Ein Beispiel für die zeitlich-räumliche Variabilität eines Sagbarkeitsraums ist die Bezeichnung ›Krieg‹ für den Auslandseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Erst im April 2010, nachdem deutsche Bundeswehrsoldaten bereits acht Jahre in Afghanistan stationiert waren, nannte der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg den Einsatz ›kriegsähnliche Zustände‹, dann sprach er von ›Krieg im umgangssprachlichen Sinne‹. (Vgl. Tabu-Bruch: Guttenberg spricht von Krieg in Afghanistan, in: Spiegel Online vom 04.04.2010. http://www.spiegel.de/politik/ausland/tabu-bruch-guttenberg-spricht-von-krieg -in-afghanistan-a-687235.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].). In Foucaults Worten wären dies wohl die nicht-diskursiven Praktiken. Obwohl diese Bezeichnung in Foucaults Werk sehr unbestimmt bleibt, beschreibt sie diejenigen Praktiken, die nicht unmittelbar im Diskurs stehen. Dieser Terminologie wird an dieser Stelle nicht

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auszeichnen. Der Einzelne subjektiviert sich in den Praktiken und wird durch diese subjektiviert. Die Wissensstruktur, die die Basis für die Praktiken bildet, entsteht wiederum in den Diskursen, die damit direkten Einfluss einerseits auf die Subjektivierung und andererseits auf das Handeln der Subjekte nehmen. Somit können Grenzen an dem Verhalten der Subjekte ›abgelesen‹ werden, wobei jedoch anstatt Einzelner stets ›kulturelle Typisierungen‹ im Vordergrund stehen. Dies ist besonders dann interessant, wenn es sich um ›unsichtbare‹8 Grenzen beispielsweise zwischen Figuren bzw. Figurenkollektiven handelt. Damit wird in dem Bereich der kulturellen Praktiken der Raum eröffnet, der die Grenzen der Wissensstrukturen und des Normalfeldes tradiert. Ein weiterer Aspekt in Bezug auf ein solches typisiertes Verhalten besteht in der Untersuchung figuraler Handlungsmuster, die sich explizit oder implizit diametral zu den in den Diskursen formierten Wissensstrukturen verhalten. Die Literatur als Interdiskurs stellt dann die Wissens- und Sagbarkeitsräume auf der einen Seite und das Verhalten der Subjekte auf der anderen Seite gegenüber. Aber auch ein solches Verhalten basiert letztendlich auf dem in den Diskursen ausgehandelten Wissen, da sich die Figuren von diesem lossagen. Trotzdem können gerade diese Praktiken wiederum Einfluss auf die Diskurse nehmen, da die Grenzen, die hier entstehen, keinesfalls starre sind, sondern im Gegenteil die Möglichkeiten der Neuformierung oder Grenzverschiebung in sich bergen. Für die hier entwickelte Theorie der Grenze kann somit festgehalten werden, dass auf der einen Seite Grenzen in den Diskursen entstehen, sei es intentional oder als faktisches, aber unbewusstes Nebenprodukt, indem Wissens- und Sagbarkeitsräume durch machtbasierte Aushandlungsprozesse festgelegt werden. Diese Wissensstrukturen haben dann Einfluss auf die Subjekte, die durch ihr routinisiertes Verhalten diese Grenzen tradieren und aufrechterhalten. Auf der anderen Seite kann jedoch auch das Verhalten der Subjekte auf die Diskurse Einfluss nehmen bzw. auf diese zurückwirken, wodurch Grenzen aufgehoben und neu gezogen oder neu ausgelotet werden können.9 Folglich wird hier von einem reziproken Kopplungsverhältnis zwischen Diskursen und Praktiken ausgegangen, wobei beide Bereiche stets in Wandlung und Fluktuation begriffen sind und somit keine starren Entitäten bilden. In der Literatur bleibt es jedoch häufig nicht bei der Darstellung von Grenzen und deren Tradierung, im Fokus steht stattdessen wiederholt die explizite Grenzüber-

8

9

gefolgt, da die hier vertretene These lautet, dass die Praktiken nicht außerhalb der Diskurse stehen, sondern von diesen beeinflusst werden. Vgl. KOMLOSY, Andrea: Zwischen Sichtbarkeit und Verschleierung. Politische Grenzen in Europa im historischen Wandel, in: Kleinschmidt, Christoph/Hewel, Christine (Hrsg.): Topographien der Grenze. Verortung einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 84-104, hier S. 84; RUTZ, Andreas: Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte, S. 9. So wird beispielsweise in weiten Teilen der Gesellschaft Homosexualität akzeptiert, mit seinem Bekenntnis dazu hat Klaus Wowereit jedoch eine Diskussion innerhalb des Diskurses angestoßen, welche die Grenzen der Normalität – hier die Akzeptanz von homosexuellen Politikern – neuauszuloten im Stande war, was die unabschließbare, prozesshafte Struktur des Diskurses unterstreicht (vgl. dazu LINK, Jürgen: Versuch über den Normalismus, S. 39f.).

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schreitung, die, nach Lotman, eben nicht dem Kollektiv – da es sich sonst nicht um ein grundsätzlich unüberwindbares Hindernis handeln würde – allerdings bestimmten Einzelnen gelingt. Der letzte hier berücksichtigte Theorieansatz bezieht sich in diesem Sinne dann nicht auf die kollektiven Praktiken, gleichwohl aber auf einzelne Figuren und zwar auf diejenigen, die dazu in der Lage sind, Grenzen zu überschreiten.10 Dabei geht es zumeist um den Protagonisten eines Werkes, der in der literarischen Darstellung zum Thema wird und durch die Grenzüberschreitung den Text zu einem ›sujethaften‹ macht. Damit fungieren die die Praktiken ausübenden Subjekte als unbewegliche Figuren, der Protagonist hingegen als eine bewegliche Figur. Graphisch kann dieser Zusammenhang wie folgt dargestellt werden: Abbildung 2: Theoretische Konzeption der Grenze wirken zurück

(Inter-)Diskurse Grenzen werden durch Aushandlungsprozesse intentional oder nicht-intentional generiert

generieren

kulturelle Codes System der binär strukturierten Unterscheidung

strukturieren durch implizites Wissen

Kulturelle Praktiken routinisiertes Verhalten, das Grenzen tradiert oder unterläuft, sie aber stets anerkennt

produzieren

bewegliche Figuren überschreiten Grenzen

Figuren

Subjektformen

bewegliche (zumeist die Protagonisten) und unbewegliche (Figurenkollektive)

Kollektive, die sich in Praktiken subjektivieren und durch Praktiken subjektiviert werden

unbewegliche Figuren

Der hier gewählte Ansatz, der auf der einen Seite die »begriffliche Unbestimmtheit«11 der Grenze, aber auch der neuen Kriege selbst berücksichtigt und auf der anderen Seite sich die daraus resultierende Offenheit zunutze macht, erlaubt die

10 Hier geht es nicht darum, gleichsam durch die ›Hintertür‹ den Fokus doch wieder weg von den Subjekten hin zu dem Einzelnen zu lenken, sondern vielmehr darum, die Vielfalt der Literatur und ihre unterschiedlichen Verfahrensweisen im Umgang mit den Grenzen zu berücksichtigen. Die Frage, wie Figuren mit den Grenzen umgehen, bildet eine Hauptuntersuchungsfrage, der man m. E. nach mit einer relativen Offenheit begegnen muss, anstatt sie von vornherein auf ein bloßes Tradieren zu reduzieren. 11 GEISENHANSLÜKE, Achim: Schriftkultur und Schwellenkunde? Überlegungen zum Zusammenhang von Literalität und Liminalität, in: Ders./Mein, Georg (Hrsg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript 2008, S. 97-120, hier S. 117.

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Einbeziehung verschiedener kulturwissenschaftlich ausgerichteter Theorien aus unterschiedlichen Bereichen, die im Zusammenhang mit Grenzziehungen stehen. In Anlehnung an diese Überlegungen und die vorausgegangene Definition der neuen Kriege nach Münkler ergeben sich grundlegend vier Untersuchungsfragen, die sich wiederum auf die oben vorgestellten Theoriekomplexe beziehen. Im Bereich der (Inter-)Diskurse: Wo bzw. auf welcher Ebene werden Grenzen dargestellt? Wie, in welcher Gestalt werden sie dargestellt (Linie oder Raum/Schwelle)?; im Bereich der kulturellen Praktiken: Wie wird mit den Grenzen umgegangen (werden sie tradiert oder überschritten)? Und daran anschließend die übergeordnete Frage nach der Macht: Wer hat die Macht, Grenzen zu setzen und wer hat die Macht, sie zu überwinden?

2. Grenzebenen

Die beiden ersten im Folgenden beschriebenen Grenzebenen basieren auf den im Zusammenhang mit dem Theorem der neuen Kriege erarbeiteten Entgrenzungsphänomenen Raum, Zeit und Kriegsakteure/Figuren. Die kulturellen Repräsentationsebenen werden hier am stärksten berücksichtigt: bei den Kategorien Raum und Zeit insbesondere ihre kulturelle Codierung und symbolische Aufladung sowie die Darstellung des fremden Raums wie Afghanistan oder Irak. Im Kontext der Figurenkonstellation werden die interkulturellen Begegnungen, die mit Kontakten zwischen dem Eigenen und dem Fremden einhergehen, einen Fokus bilden. Die dritte, formalästhetische Ebene hingegen beschreibt eine literaturinhärente Kategorie, deren Untersuchung gerade im Zusammenhang mit dem Spannungsfeld zwischen dem Duktus der Postmoderne, Grenzen zu überschreiten, und der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Sinnproduktion von symbolischen Ordnungen,1 zwischen dem Phänomen der neuen Kriege, das sich durch Entgrenzungsmechanismen charakterisiert, und der Notwendigkeit im Kriegsgeschehen Grenzen zu ziehen, um zwischen verschiedenen Teilräumen wie zum Beispiel Freund | Feind zu unterscheiden, Ergebnisse verspricht. Diese Ebenen bilden jedoch insgesamt keine starren Analysekategorien, an denen sich die Untersuchung der einzelnen literarischen Texte ›abarbeitet‹. Vielmehr werden an dieser Stelle möglichst allgemeine Bestandteile dieser Ebenen beschrieben, um die Untersuchung vom Werk selbst ausgehend offen zu gestalten, wodurch der Vielgestaltigkeit der Literatur über die neuen Kriege und der heterogenen Aspekte, die sie behandelt, Rechnung getragen werden kann.

2.1 R ÄUMLICHE

UND ZEITLICHE

G RENZEN

Der Ausgangspunkt zahlreicher literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen, die real-politische Grenzen in literarischen Texten untersuchen, liegt darin, dass die Literatur aufgrund ihrer fiktiven Mittel und den damit verbundenen Möglichkeiten der Darstellung sich nicht an den »physischen Raum halten und auch nicht an dessen

1

Vgl. KOCH, Lars: Kriege als Imaginationsraum, in: Ders./Vogel, Marianne (Hrsg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 10-14, hier S. 10.

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geographische[n] und topographische[n] Gesetzmäßigkeiten«2 orientieren muss, genau dies aber oftmals tut. Der Untersuchungsgegenstand der Literaturgeographie ist daher die »heikle Schnittstelle zwischen inner- und außerliterarischer Wirklichkeit, eine Grauzone, in der, vorsichtig formuliert, ein Kontakt zwischen Fiktionen und einer wie auch immer gearteten ›Realität‹ zustande kommt.«3 Genau an dieser ›heiklen Schnittstelle‹, nämlich zwischen Literatur und realer Geographie, liegt auch der größte Kritikpunkt an der Literaturgeographie: Der imaginäre und rein fiktive Charakter der Literatur wird hier zumindest teilweise aufgehoben, wobei der Raum in diesem Gefüge »eine durchlässige Membran zwischen den Welten«4 darstellt. Barbara Piatti macht in ihrer Arbeit deutlich, dass die Referenz eines literarischen Werkes auf die Wirklichkeit nicht als bloß mimetisches Verhältnis im Sinne einer ›identischen Entsprechung‹ zu denken ist.5 Sie unterstellt stattdessen eine Wechselwirkung zwischen den Bereichen des Fiktiven und des Realen, was sie mit der Aussage zu stützen versucht, dass »es nicht unserer Leseerfahrung, nicht unserem Lesebedürfnis entspricht, Fiktionen ohne jeglichen Bezug zur Wirklichkeit zu betrachten.«6 Ungeachtet dessen, dass in dieser Arbeit von eben dieser in Abrede gestellten Trennung von Fiktion und Wirklichkeit ausgegangen wird und damit einhergehend eine hier vertretene Prämisse lautet, dass die Grenzen in der Literatur stets narrativierte (kulturelle) Konstruktionen und keine Abbildungen realer Grenzen sind,7 ist an der theoretischen Konzeption der Literaturgeographie in diesem Kontext doch bemerkenswert, dass die Literatur, die die neuen Kriege beinhaltet, stets die real-historischen Kriegsgebiete wie Afghanistan und den Irak explizit benennt. Es geht aber nicht darum, diese Länder im Sinne einer kartographischen Analyse zu verorten. Vielmehr werden Namen von Ländern und Staaten genutzt, um bestimmte Konnotationen und Vorstellungen im Leser zu aktivieren und in der literarischen Darstellung dann mit diesen Bildern zu brechen oder diese zu unterstützen. Gerade 2 3 4 5 6 7

PIATTI, Barbara: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen: Wallstein 2008, S. 15. Ebd., S. 19. Ebd. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 28, Herv. i.O. In diesem Sinne resümiert auch Reinhard Baumgart 1967 in seiner Theodor W. Adorno gewidmeten Frankfurter Poetikvorlesung: »Doch gerade genau umrissene Lokalitäten täuschen im Roman die Identität der erzählten Welt mit der Welt vor. Da ›Venedig‹ oder ›Davos‹ oder ›Danzig‹ im Buch steht, aber auch auf der Landkarte, scheinen solche Romanorte touristisch erreichbar. Wer dann hinfährt und hat nicht nur den Roman im Kopf, sondern den Ort vor Augen, der sieht auch, wie vermittelt und auswahlhaft, wie zugleich konzentriert und gesteigert ihm schon die bloße Szenerie mitgeteilt worden ist. Das war weder Reportage noch Geographie, sondern die Zweckentfremdung einer Landschaft oder Stadt für die Absichten des Erzählens. In der nie so geschehenen Geschichte steht der Ort, den es doch offenbar gibt, nur als eine Anleihe auf Wirklichkeit, nicht als diese selbst.« (BAUMGART, Reinhard: Was leisten Fiktionen?, in: Ders.: Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? Frankfurter Vorlesungen. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1968, S. 7-33, hier S. 16.)

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bei einem gegenwärtigen Phänomen wie den neuen Kriegen ist es ja entscheidend, auf diese Erscheinung und auf die daran Beteiligten zu verweisen. Das bedeutet aber nicht, dass das ›real-existente‹ Ägypten etc. dargestellt wird, stattdessen schafft die Literatur einen imaginären Raum, bringt ihn erst hervor und besetzt ihn dann unter anderem mit Bildern und Assoziationen, die die Namen von Staaten in diesem Zusammenhang auslösen. Dabei orientiert sich die literarische Kriegsdarstellung häufig an speziellen Handlungsräumen wie Brücken, Flüssen, Grenzgräben usw., was darauf zurückzuführen ist, »dass an einem begrenzten Ort ein erheblicher Konflikt sichtbar gemacht werden kann. Solche Orte werden stets als zum Raum gewordene Flaschenhälse des Kriegsgeschehens inszeniert und die Konflikte werden dadurch darstellbar, dass Orte und Entscheidungssituationen enggeführt werden.«8 Die »Bedingungen medialer Darstellbarkeit« von Konflikten manifestieren sich besonders an den Grenzen: »Sie übersetzen den abstrakten Konflikt in einen konkreten und lassen ihn dadurch übersichtlich erscheinen. Wenn dann diese Grenzen noch hinreichend mit Bedeutung aufgeladen werden, wird auf diesem Wege ein entscheidender und zugleich symbolischer Ort konstituiert.«9 Auch die politische Literatur bildet in diesem Sinne nicht Wirklichkeit ab, vielmehr reflektiert sie die dargestellten Grenzen, übt Kritik an ihnen und narrativiert unter anderem auch das durch diskursive Aushandlungsprozesse etablierte Normalfeld. Da der Raum »nicht nur Ort der Handlung, sondern stets kultureller Bedeutungsträger« ist, der »[k]ulturell vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem«10 zur Anschauung bringt, gilt dies ganz besonders auch für die Grenze, die derartige Verortungen erst konstruiert und erfahrbar macht. Raum und Grenze werden in diesem Sinne durch soziale und symbolische Praktiken auf der einen Seite kulturell produziert, sind auf der anderen Seite aber auch kulturell produktiv und »spiegel[n] demzufolge bestehende Machtverhältnisse wider und verfestig[en] diese.«11 So können Figuren nicht nur über die Räume, in denen sie sich aufhalten und in denen sie agieren, charakterisiert werden, sondern die Verortungen der Figuren sind »selbst bedeutungs- und identitätsstiftende Akte, bei denen die kulturellen Wissensordnungen und gesellschaftlichen Hierarchien, die mit diesen Räumen verbunden sind, ständig neu gesetzt, reflektiert oder transformiert werden.«12 Die Grenze ist neben ihrem Konstruktionscharakter also stets mit kulturellen Bedeutungen aufgeladen, die in der literarischen Darstellung zum Ausdruck kommen. Die in der Literatur auftretenden geographischen Grenzen und im Besonderen die Erfahrung ihrer Überschreitung stellen im Zuge der Thematik der neuen Kriege einen wichtigen Untersuchungsaspekt dar, weil Grenzen und Grenzziehungen mit Kriegen und Kultur auf das Engste verbunden sind. So rücken neben literarischen 8

LESCHKE, Rainer: Krieg als schöne Medienübung, in: Gansel, Carsten/Kaulen, Heinrich (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 339-356, hier S. 343. 9 Ebd. 10 HALLET, Wolfgang/NEUMANN, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur, S. 11. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 25.

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Staatsgrenzen auch andere räumliche Grenzen in den Blick, die stets kulturell aufgeladen sind, wie beispielsweise die von Foucault als »Heterotopien«13 beschriebenen Räume, welche die Praxis spezifischer In- und Exklusionsmechanismen hervorbringen und die die kulturelle Bedeutung des Marginalen, des Ausgeschlossenen aufzeigen. Für die literaturwissenschaftliche Untersuchung ist die Erkenntnis entscheidend, dass nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit sowie die Erfahrung der Zeit keine absoluten und naturgegebenen Einteilungen darstellen. Spätestens im Zuge der Relativitätstheorie von Albert Einstein, welche die physikalischen Errungenschaften Newtons, nach denen sowohl der Raum als auch die Zeit absolute, stets unbewegliche und gleiche Größen darstellen, widerlegte, wurde der vermeintlich objektive Status im Kontext wissenschaftlicher Forschung hinterfragt. Die Uhr als Zeitmesser zerlegt die fließende Zeit in Intervalle und macht sie messbar. Hartmut Rosa stellt in diesem Zusammenhang fest, dass nicht nur die Messung, sondern auch die Wahrnehmung von Zeit »in höchstem Maße kulturabhängig [ist] und […] sich mit der Sozialstruktur von Gesellschaften [ändert].«14 Zudem macht er deutlich, dass Zeitstrukturen innerhalb einer Gesellschaft »einen kognitiv und normativ verbindlichen Charakter und eine tief wurzelnde, den sozialen Habitus der Individuen bestimmende Verankerung in der Persönlichkeitsstruktur [haben].«15 Uhrzeiten, Kalender usw. sind demnach nicht objektiv, sie fungieren als »sozial normierte[…] Geschehensabläufe mit rekurrierenden Ablaufmustern, deren Objektivität in keinem ›absoluten‹ Status begründet ist, sondern nur darauf beruht, dass sich alle Gesellschaftsmitglieder auf sie geeinigt haben.«16 Somit hat Zeit auch eine soziale Dimension, die auf Reflexionsprozesse zurückgeht. Sie hat in der literarischen Inszenierung keinen objektiven Status, vielmehr wird sie durch einen individuellen Rhythmus und subjektives Empfinden bestimmt. Für eine literaturwissenschaftliche Analyse ist die Relation von der lebensweltlichen zu einer fiktional kon- und refigurierten Zeiterfahrung von besonderem Interesse.17 Darüber hinaus kann Literatur auch Zeitkonzepte, Zeitprozesse und Zeitbewusstsein abbilden und reflektieren. Der Politologe Herfried Münkler charakterisiert den Raum und die Zeit im Zusammenhang mit den neuen Kriegen wie bereits ausgeführt als nicht begrenzt, als tendenziell undefinierbar. In Bezug auf den Raum schlägt sich diese Entgrenzung vor allem in der Verschiebung bzw. Aufhebung des Schlachtfeldes nieder. Die entgrenzte Zeit bezieht sich insbesondere auf die Kampfhandlungen, die lediglich sporadisch 13 Vgl. FOUCAULT, Michel: Von anderen Räumen, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980-1988, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 931-942. 14 ROSA, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 102014, S. 26. 15 Ebd., S. 28. 16 MIDDEKE, Martin: Zeit und Roman: Zur Einführung, in: Ders. (Hrsg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 1-20, hier S. 4. 17 Vgl. ebd., S. 1ff.

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und zumeist plötzlich auftreten.18 Wie diese Entgrenzungen in den literarischen Werken umgesetzt werden und welche Strategien der Sinnstiftung und Eingrenzung dem gegenüberstehen, wird auf dieser Ebene untersucht.

2.2 F IGURALE

UND SYMBOLISCHE

G RENZEN

Sowohl aus gesellschaftlicher Perspektive mit dem Schlagwort Globalisierung als auch in theoretischer Hinsicht unter den Leitbegriffen wie Inter-, Multi- und Transkulturalität sind Wandel und Prozesse der Kulturen Charakteristika der Moderne. Sie alle tragen dabei der Tatsache Rechnung, dass kultureller Austausch in ganz unterschiedlichen Kontexten immer dringlicher wird und zugleich Konzepte homogener kultureller Identitäten in der Gegenwart nicht (mehr) greifen können. In der spezifischen Situation des Krieges können jedoch genau diese Konzepte wieder reaktiviert werden. Denn Kriege werden auf der einen Seite auf der Grundlage eines binären Schemas von wir | sie bzw. Freund | Feind geführt, was starke Homogenisierungstendenzen impliziert, und bedrohen auf der anderen Seite auch zugleich stets die (symbolischen) Ordnungen, die potentiell geschützt werden müssen: »Immer wenn eine gesicherte Welt ins Wanken gerät und alte Gewissheiten neuen Ungewissheiten Platz machen müssen, greifen die Menschen nach alten Ordnungen.«19 Hier wird auch der enge Zusammenhang zwischen Kultur und Krieg deutlich, die sich keinesfalls antithetisch gegenüberstehen. In diesem Sinne kann festgehalten werden: »Der Krieg als eine manifest destruktive Form des Konflikts ist vielmehr ein Kind der Kultur, ihr Produkt, ihr Resultat.«20 Diesen Konnex kann man nicht nur an den Reaktionen der amerikanischen Regierung auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 erkennen, auch in der deutschen Politik wird ein solcher Mechanismus deutlich. So formulierte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck einen Tag nach den Anschlägen im Bundestag den programmatischen Satz: »Heute sind wir alle Amerikaner.«21 Hier werden die »kulturalisierenden Deutungen«22, die sowohl von dem Spezialdiskurs Politik als auch oftmals von den Medien unterstützt werden, deutlich. Die Zusammenführung zu einer homogenen Gruppe konstituiert zugleich die Scheidung zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen den Verbündeten und den zum Feind Deklarierten, also ›den Terroristen‹. Die Differenzen zwischen den einzelnen verbündeten Mitgliedern (die UNO, die den Terroranschlag vom 11. September 2001 als 18 Vgl. Abschnitt I, Kapitel 1.2. 19 BERNDT, Christian/PÜTZ, Robert: Kulturelle Geographien nach dem Cultural Turn, in: Dies. (Hrsg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Bielefeld: transcript 2007, S. 7-29, hier S. 20. 20 HUBER, Wolfgang: Konflikt und Versöhnung, in: Assmann, Jan/Harth, Dietrich (Hrsg.): Kultur und Konflikt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 49-71, hier S. 52. 21 Vgl. Erklärung des Vorsitzenden der SPD-Fraktion Dr. Peter Struck zu den Anschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika (12.09.2001), in: documentArchiv.de (Hrsg.): http://www.documentArchiv.de/brd/2001/rede_struck_terror-usa.html [letzter Zugriff: 07. 06.2017]. 22 BERNDT, Christian/PÜTZ, Robert: Kulturelle Geographien nach dem Cultural Turn, S. 20.

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Angriff wertete und unter der Verwendung des 5. Artikels die Verbündeten dazu anhielt, Amerika im Krieg zu unterstützten, hat immerhin 193 Mitgliedstaaten, die sowohl hinsichtlich der politischen als auch der wirtschaftlichen Situation je ganz eigene Interessen vertreten) werden unterminiert, regelrecht ausgeblendet. An ihre Stelle rückt nun der Kampf gegen ›den Terror‹ ins Zentrum. Das bedeutet, dass gerade im Kriegsfall Tendenzen, die die Heterogenität berücksichtigen, zugunsten eines einheitlichen kulturellen Bildes des Eigenen zurückgedrängt werden. Im Anschluss hieran ist zu fragen, was genau das Fremde ist bzw. wer als fremd, als ausgeschlossen aus dem Eigenen, angesehen wird, wobei sich die Definitionen je nach theoretischer Ausrichtung unterscheiden. Konsens besteht jedoch weitestgehend darüber, dass es sich bei dem Wort ›fremd‹ um einen relationalen Begriff handelt, der in einer bestimmten Situation entsteht, um das Eigene vom Anderen abzugrenzen, nicht um eine Eigenschaft, die jemand quasi von Natur aus besitzt. Gutjahr führt dazu aus: »Das Fremde und das Eigene sind demnach heuristisch als operationale Größen einer Bedeutungszuschreibung zu verstehen, die somit auch erst durch die Operationalisierung hervorgebracht werden.«23 Hier wird deutlich, dass durch den Prozess der Zuschreibung sowohl in Bezug auf das Eigene als auch auf das Andere eine Grenze entsteht, die Inklusions- und Exklusionsprozesse mit sich bringt und es sich dementsprechend nicht um feststehende Entitäten handelt. Aus dieser Perspektive betrachtet befinden sich das Eigene und das Andere immer in einem Wechselverhältnis und sind, was ein Hauptmerkmal der Grenze im Allgemeinen darstellt, zugleich voneinander getrennt und miteinander verbunden; das Andere wird in die Definition des Eigenen immer eingeschlossen, indem sich das Eigene erst durch den Ausschluss und die Abgrenzung des Anderen konstruiert. Das Andere wird also auf der einen Seite exkludiert auf der anderen Seite auch immer mitgedacht. Wenn diese Unterscheidung im Kontext von asymmetrischen Bezeichnungspraktiken vorgenommen wird, sticht das prägnante Merkmal heraus, »daß die Bezeichnenden sich selbst nicht als etwas Meßbares und als etwas Relatives – wie die Bezeichneten – in die Rede einbringen, sondern als Maßstab selbst, der dann selbst nichts zu Messendes ist«24. Das bedeutet, dass eine Gruppe, die sich als »neutral, normal und normativ«25 begreift, zumindest implizit den Anspruch erhebt, das Andere durch konstruierte Differenzen markieren zu können. Eine Unterscheidung in einem ähnlichen Kontext liegt auch dann vor, wenn die Bezeichnung ›Terroristen‹ zum politischen Schlagwort wird, um Kampfhandlungen zu legitimieren. Gerade daraus resultiert häufig ein reziprokes Verhältnis, in dem sich beide Seiten terroristischer Absichten beschuldigen.26 Was jedoch auf der einen Seite ausgeschlossen und im gleichen Zuge auf der anderen Seite zum Eigenen deklariert wird, ist ebenfalls keine starre Festschreibung, sondern vielmehr ein diskursiver Aushandlungsprozess: »Identitäten […] sind kontingente, unstabile, flüssige, wandelbare und hybride, oft widersprüchliche For23 GUTJAHR, Ortrud: Fremde als literarische Inszenierung, in: Dies. (Hrsg.): Fremde. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 47-68, hier S. 47. 24 SINGER, Mona: Fremd. Bestimmung. Zur kulturellen Verortung von Identität. Tübingen: Edition diskord 1997, S. 49. 25 Ebd., S. 50. 26 Vgl. Abschnitt I, Kapitel 1.2.4.

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men. Identität ist Verhandlungssache, ein Kampf um Bedeutungen innerhalb von Diskursen, Machtoperationen, sozialen Beziehungen oder Netzen.«27 Das Aushandeln der eigenen Identität in Abgrenzung zum Anderen sowie die Identifizierung von Differenzen zwischen Eigenem und Anderem findet stets in einer konkreten Situation statt, ist »an den jeweiligen kulturellen Kontext gebunden« und muss »innerhalb dieses Kontextes plausibel und anschließbar sein«28. Diese konkrete Situation definiert sich in dem zu untersuchenden Korpus durch die Kriegs- bzw. Kampfsituation innerhalb der neuen Kriege. Um das Fremde in diesem Kontext zu charakterisieren, wird im Folgenden Zygmunt Baumans Theorem vorgestellt. Bauman nähert sich dem Themenfeld Fremdheit in seinem Aufsatz »Moderne und Ambivalenz«29 aus soziologischer Sicht, indem er eine Trias – Freunde, Feinde, Fremde – entwirft. Die ersten beiden stehen in einem starren dichotomischen Verhältnis zueinander und sind damit nicht nur klar voneinander zu unterscheiden und zu verorten, sie stellen sogar die Koordinaten dar, in denen, mit Georg Simmel, Formen der Vergesellschaftung überhaupt möglich werden. Die beiden Pole können durch ihren oppositionellen Charakter definiert werden: »Das Außen ist die Verneinung des Positiven der Innenseite. Das Außen ist, was das Innen nicht ist. Die Feinde sind die Negativität, der gegenüber die Freunde das Positive darstellen.«30 Dabei beruht diese vermeintlich deutliche Trennung zwischen Freund und Feind nicht auf Symmetrie, da es stets nur eine Seite – die der Freunde – ist, die mittels Zuschreibung den Feind definiert. Dieser Konstruktion des Gegensatzes und der Trennung ist dabei immanent, dass »die Welt lesbar und dadurch instruktiv«31 wird, Zweifel zerstreut werden und ein Gefühl der Sicherheit entsteht. Durch die Grenzziehung zwischen diesen beiden Polen werden somit deutlich voneinander getrennte Bereiche abgesteckt, da sie in Opposition zueinander gedacht werden. Der Fremde hingegen als dritte Instanz stört nun genau diese Ordnung, dieses binäre Denkschema, »weil der Fremde weder Freund noch Feind ist; und weil er beides sein könnte. Und weil wir nicht wissen und nicht wissen können, was zutrifft.«32 Damit versteht Bauman in Rückbezug auf Derrida33 den Fremden als einen »Unentscheidbaren«, jemanden, der in der Schwebe ist, der weder der einen noch der anderen Seite zugeordnet werden kann und sich einer derartigen Zuordnung auch verweigert: »Unentscheidbare sind alle ›weder-noch‹, und d. h. gleichzeitig ›dieses und jenes‹. Ihre Unterdeterminiertheit ist ihre Potenz: Weil sie nichts sind, könnten sie alles sein. Sie setzen der ordnenden Macht der Gegensätze ein Ende. […]

27 POTT, Andreas: Identität und Raum. Perspektiven nach dem Cultural Turn, in: Berndt, Christian/Pütz, Robert (Hrsg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. Bielefeld: transcript 2007, S. 27-52, hier S. 28. 28 GUTJAHR, Ortrud: Von der Nationalkultur zur Interkulturalität, S. 111. 29 BAUMAN, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, in: Bielefeld, Uli (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg: Junius 1991, S. 23-49. 30 Ebd., S. 23. 31 Ebd., S. 24. 32 Ebd., S. 25. 33 Vgl. DERRIDA, Jacques: Dissemination, hrsg. v. Peter Engelmann, übersetzt von HansDieter Goneck. Wien: Passagen 1995.

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Sie decken brutal die Fragilität höchst sicherer Trennungen auf.«34 In diesem Sinne beschreibt das Fremde nicht eine eigene Kategorie, gleichsam etwas Drittes, vielmehr kann es überhaupt nicht zugeordnet werden, was die Vergesellschaftung, die auf solchen Kategorisierungen aufbaut und sie für ihre Konstruktion explizit benötigt, und damit das soziale Leben insgesamt gefährdet.35 Diese elementare Bedrohung durch den Fremden ist es, die Bauman den Schluss ziehen lässt: »Die vorrangige Aufgabe des Nationalstaates besteht darin, das Problem des Fremden, nicht das der Feinde anzugehen.«36 An dieser Stelle zeigt sich, dass die Theorie, die die »Rolle und Funktion des Fremden in der Gesellschaft als ganzer«37 in dem Kontext eines Krieges nicht vollkommen greifen kann, da es eben der vermeintliche Feind ist, der das Ziel hat, die (staatliche) Ordnung zu stören. Mona Singer kritisiert Baumans Theorie vor allem dahingehend, dass einerseits ihr entworfenes Freund-Feind-Schema zu pauschal sei und sie andererseits implizieren würde, dass die Angst vor Fremden gleichsam eine anthropologische Konstante darstelle, wodurch Baumans »Zug zum Kulturpessimismus« deutlich würde.38 Jedoch kann gerade der Schwebezustand, die Unzuordbarkeit einer Gruppierung mit dem Theorem der neuen Kriege verbunden werden. Hier sind es in erster Linie die Feinde, die nicht geortet, nicht klar eingegrenzt werden können, weshalb (zunächst) Abstrakta wie ›der Terrorismus‹ als Platzhalter für eine genaue Bezeichnung eingesetzt werden. Genau diese Unzuordbarkeit stört das binäre Koordinatensystem, das Bauman beschreibt. Besonders hervorzuheben ist, dass der Feind im Gegensatz zu der Situation in Staatenkriegen nicht an Nationen gebunden ist und die aktiv Kämpfenden nicht offen als solche durch Uniformen etc. gekennzeichnet sind. Auch an dieser Stelle wird die Unbestimmtheit deutlich. Soldaten, die nun in einem anderen Land stationiert sind, stehen dem Fremden – der Bevölkerung – gegenüber, die Menschen können potentiell sowohl Freunde als auch Feinde sein, sie befinden sich in einem Zustand der Unbestimmtheit. In diesem Zusammenhang ist auch die Asymmetrie, ein weiteres Charakteristikum der neuen Kriege, entscheidend: Die Überlegenheit der Armee, die in Personenstärke und waffentechnologischer Hinsicht zum Ausdruck kommt, wird durch den ›Schutz‹ der Bevölkerung nichtig. So entsteht die Möglichkeit für die schwächeren Gruppen, kurze und gezielte Angriffe auszuführen und sich direkt wieder zurückzuziehen. Genau hier liegt dann auch der zweite Unterschied zwischen Baumans soziologisch-gesellschaftlich ausgerichteter Theorie der Gegenwart und der Situation in den neuen Kriegen: In der konkreten Kampfsituation, spätestens mit dem Angriff auf die Soldaten, wird der Fremde aus seinem Schwebezustand herausgehoben und offenbart sich als Feind. Mit dieser Enttarnung geht gleichzeitig eine Grenzziehung einher, die eben diese Kategorien von Freund und Feind, gegen die sich der Fremde zuvor gestellt hat, doch wiederherstellt. Daher geht diese Arbeit nicht von einem fest zugeschriebenen Freund-Feind-Schema aus, stattdessen von einem Schwebezustand 34 35 36 37

BAUMAN, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, S. 26. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 33, Herv. i.O. OBENDIEK, Edzard: Der lange Schatten des babylonischen Turmes. Das Fremde und der Fremde in der Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 21, Herv. i.O. 38 SINGER, Mona: Fremd. Bestimmung, S. 40f.

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insgesamt, der erst in der konkreten Situation aufgehoben wird. Erst dann werden feste Grenzen gezogen, die das Eigene vom Anderen trennen und Freunde in- sowie Feinde exkludieren. Deutlich geworden ist, dass die Trennung zwischen dem Eigenem und dem Anderen einhergeht mit Strukturen von diskursiven Machtmechanismen, die diese Differenzierung vornehmen oder negieren. Die dadurch entstehenden Grenzen sind oftmals nicht greifbar, sie sind »unsichtbar«39 und werden implizit – vor allem durch die kulturellen Praktiken – dargestellt.

2.3 F ORMAL - ÄSTHETISCHE G RENZEN Während Transgression und Entgrenzung häufig in Form eines Etiketts benutzt werden, um Werke zu bezeichnen, die etablierte Grenzen ihrer Entstehungszeit überschreiten,40 beschäftigt sich diese Ebene mit den konkreten formalen Grenzziehungen in den einzelnen literarischen Texten. Die Frage, der hier nachgegangen wird, kreist also darum, ob die einzelnen Werke Grenzziehungen oder Entgrenzungen in formaler Hinsicht darstellen. Dies könnte sich zum Beispiel in der Gliederung des Werkes in mehrere Teile manifestieren. Ebenso kommt die literaturwissenschaftliche ParatextTheorie von Gérard Genette41 auf dieser Ebene zum Tragen. Unter Paratexten versteht Genette ein ›Beiwerk‹ des literarischen Werkes und subsumiert darunter unterschiedliche Textarten wie beispielsweise Anmerkungen, die nicht vom Autor, sondern vom Verlag stammen, sowie Widmungen, Motti, aber auch das Vor- bzw. Nachwort eines Werkes. »Der Paratext ist also jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt. Dabei handelt es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle oder […] um ein ›Vestibül‹, das jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet; um eine ›unbestimmte Zone‹ zwischen innen und außen, die selbst wieder keine festen Grenzen nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist;«42

Genette verwendet also in Bezug auf den Beitext die Begriffe ›Schwelle‹ und ›Zone‹. Das bedeutet, dass dieser Textart, die zwar dem Haupttext zugehörig, aber eben doch nicht dieser selbst ist, eine räumliche Ausdehnung bescheinigt wird – sie selbst ist die Schwelle. Diese fungiert als durchlässiger Übergang zu dem eigentlichen literarischen Werk. Aber mehr noch: Die Paratexte

39 RUTZ, Andreas: Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte, S. 9. 40 Vgl. ZAPPE, Florian: Das Zwischen schreiben: Transgression und avantgardistisches Erbe bei Kathy Acker. Bielefeld: transcript 2013, S. 25. 41 GENETTE, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M./New York: Campus 1992. 42 Ebd., S. 10, Herv. i.O.

116 | GRENZFALL KRIEG »bilden zwischen Text und Nicht-Text nicht bloß eine Zone des Übergangs, sondern der Transaktion: den geeigneten Schauplatz für eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre […].«43

Genette spricht den vielfältig gearteten Paratexten, den Schwellen des literarischen Werkes, die dieses durch ihren ambivalenten Status der gleichzeitigen Grenzziehung und Grenzaufhebung zuallererst als abgeschlossene Entitäten konstruieren,44 also die Funktion einer Steuerung des Lesers zu. Eine zentrale Frage, die sich aus der Untersuchung von formalen Grenzziehungen bzw. Entgrenzungen ableitet, ist, ob und inwiefern diese Phänomene auf formaler Ebene die inhaltlich dargestellten Grenzen unterstützen oder dazu im Widerspruch stehen. Zentral auf dieser Ebene ist also die Form-Inhalt-Korrespondenz. Astrid Erll und Simone Roggendorf konstatieren in diesem Zusammenhang mit Rückgriff auf Ansgar Nünning, dass »[l]iterarische Texte […] Wirkung nicht allein aufgrund dessen, was sie erzählen [entfalten], sondern auch und v.a. dadurch, wie sie erzählen« und betonen, dass »Formen nicht nur in literarischen Texten als Bedeutungsträger fungieren, sondern zur narrativen Sinnbildung selbst gehören […].«45 Dabei sind Romane durch ihre Form besonders prädestiniert, Grenzen zu markieren und sichtbar zu machen, beispielsweise durch vielgestaltige Perspektiv- und Raumwechsel. Daher kommt der Untersuchung der Grenzen auf der formalen Ebene ebenfalls eine große Bedeutung zu.

43 Ebd. 44 Vgl. PARR, Rolf: Liminale und andere Übergänge, S. 25. 45 ERLL, Astrid/ROGGENDORF, Simone: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT 2002 (= WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium. Bd. 4, hrsg. v. Ansgar Nünning), S. 73-114, hier S. 83, Herv. i.O.

3. Umgang mit den Grenzen

Entscheidend ist neben der Frage, welche Grenzarten (Linie oder Raum) zur Anschauung gebracht werden und auf welchen Ebenen Grenzen überhaupt inszeniert werden, wie die Literatur den Umgang mit ihnen darstellt. Auch hier gibt es verschiedenen Möglichkeiten: Begrenzung, Grenzüberschreitung und Entgrenzung, die sich besonders auf figuraler Ebene an den kulturellen Praktiken bzw. den beweglichen Figuren offenbaren.

3.1 B EGRENZUNG Die Begrenzungsmechanismen konstituieren sich dadurch, dass die Grenze nicht überschritten werden kann, sie ist unüberwindbar. In diesem Sinne, wie bereits oben ausgeführt, definiert Lotman die Grenze: sie teilt und begrenzt damit zugleich zwei voneinander unterschiedene disjunkte Teilräume, wobei eine Grenzüberschreitung für die mehrheitlich unbeweglichen Figuren grundsätzlich nicht möglich ist,1 ebenso wie eine Aufhebung der Grenze bzw. ihre Neuformierung oder Verschiebung. Durch die Funktion der Begrenzung finden Grenzen in zweifacher Hinsicht ihre Negativbestimmung: als strukturelle Hindernisse und als normative »Verhinderungsinstanzen von i. w. S. Wünscheswertem«2. Dabei ist die Funktion der Begrenzung jedoch nicht notwendigerweise gleichzusetzen mit Repressionen. Im Gegenteil, durch die Begrenzung kann ein Innen und Außen zuallererst produziert werden: »Für jede Gruppenbildung sind die Grenzziehungen von Belang, ohne Abgrenzung nach außen könnte sie nicht funktionieren.«3 Indes sind nicht nur für Gruppen, sondern auch für die Identität des Subjekts eben diese Grenzziehungsmechanismen, die eine In- und damit zugleich eine Exklusion des Anderen implizieren, bedeutsam. Dies gilt auch dann, 1 2

3

Vgl. LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 327. VASILACHE, Andreas: Grenzen in der Transnationalisierung, in: Kleinschmidt, Christoph/ Hewel, Christine (Hrsg.): Topographien der Grenze. Verortung einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 65-86, hier S. 65. ANSELM, Sigrun: Grenzen trennen, Grenzen verbinden, in: Faber, Richard/Naumann, Barbara (Hrsg.): Literatur der Grenze. Theorie der Grenze. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 197-209, hier S. 199.

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wenn die Grenze in ihrer Funktion der Begrenzung nicht dauerhaft spürbar ist, denn sie geht immer »in das Denken und Handeln der Subjekte ein.«4 Dadurch offenbaren sich in der Begrenzung auch zum Teil unsichtbare Machtstrukturen: die Macht, Grenzen zu setzen und sie zu tradieren ebenso wie sich ihr zu widersetzen. Insgesamt ist hervorzuheben, dass Grenzziehungen, die stets mit Definitionen oder Kategorisierungen verbunden sind, mit Sinnproduktion einhergehen, weshalb die Grenze als ein »universelles Medium des Verstehens und der Ordnungsbildung gelten kann.«5 Die sich daran anschließende Frage lautet, ob die Romane über die neuen Kriege, die verschiedene Entgrenzungsebenen aufweisen, eine durch Grenzen unterteilte, starre Zuordnung ausstellen, die mit markanten Zuschreibungen einhergeht und damit potentiell auch dem Krieg in irgendeiner Weise Sinn verleihen bzw. ihn verstehbar erscheinen lassen, oder ob sich die Romane einer solchen binären Opposition widersetzen.

3.2 G RENZÜBERSCHREITUNG In der Forschung wird oftmals auf eine wesentliche Besonderheit der Grenze hingewiesen, nämlich ihre inhärent binäre Struktur: eine Grenze ist ohne ihre Überschreitung nicht denkbar. Michel Foucault drückte diesen Zusammenhang folgendermaßen aus: »Grenze und Übertretung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Inexistenz einer Grenze, die absolut nicht überschritten werden kann; umgekehrt Sinnlosigkeit einer Übertretung, die nur eine illusorische, schattenhafte Grenze überschritte«6. So wird deutlich, dass Grenzen und Grenzüberschreitungen untrennbar miteinander verbunden sind. Achim Geisenhanslüke erkennt hierin eine paradoxe Struktur, nämlich auf der einen Seite die Grenze als eine »fundamentale Ordnungskategorie« und auf der anderen Seite die »transitorische Zone des Übergangs«7. Es geht in der literarischen Darstellung oftmals darum, dass Grenzen überschritten bzw. nicht überschritten werden können. Hierfür sind die Termini ›Grenzüberschreitung‹ und ›Grenzsituation‹ relevant. Lamping führt dazu aus, dass der erste einerseits die konkrete Überschreitung einer Grenze umfasst, andererseits jedoch auch »oft zu Modellen oder Metaphern […] [wird], sei es existenzieller, sozialer oder kultureller, stets aber empathisch verstandener Grenzüberschreitungen.«8 Die Grenzsituationen hingegen beschreiben eine Erfahrung der Begrenzung. Grenzen können demnach nicht überschritten werden. Karl Jaspers definiert in seiner Existenzphilosophie Grenzsituationen als nicht wandelbar, als endgültig und unüberschaubar. Die Grenze in diesem Zusammenhang meine, dass es ein Anderes gebe, aber sich zu-

4 5 6 7

8

Ebd., S. 202. VASILACHE, Andreas: Grenzen in der Transnationalisierung, S. 65. FOUCAULT, Michel: Schriften zur Literatur, S. 73. GEISENHANSLÜKE, Achim: Einleitung, in: Ders./Mein, Georg (Hrsg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript 2008, S. 7-10, hier S. 8. Hier ist anzumerken, dass Geisenhanslüke nicht von Grenzen, sondern von ›Liminalität‹ spricht. LAMPING, Dieter: Über Grenzen, S. 14.

U MGANG

MIT DEN

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gleich nicht im Bewusstsein des Daseins befinden könne.9 Als Beispiele für Grenzsituationen nennt er den Tod, den Zufall, den Kampf, das Leiden und die Schuld.10 In Anlehnung an die Anthropologie Georg Simmels hält Lamping fest, dass erst in dem Zusammenspiel von eben diesen Grenzsituationen und von Grenzerfahrungen der Mensch in seiner Widersprüchlichkeit, nämlich »den Bedürfnissen nach Trennung und Verbindung, nach Abgrenzung und Entgrenzung«11, seinen Ausdruck findet.

3.3 E NTGRENZUNG Im Gegensatz zur Begrenzung und der Grenzüberschreitung, die beide das Bestehen der Grenze voraussetzen, beschreibt der Begriff der Entgrenzung die Auflösung von Grenzen. Damit einhergehend löst die Entgrenzung stets eine Wandlung, eine Transformation aus. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass Grenzen die Form dessen bestimmen, das sie eingrenzen: Wenn die Grenze aufgelöst wird, verändert sich somit stets auch die Form.12 Noch bedeutsamer ist der Schluss, der aus dieser Überlegung, hier in Bezug auf die Künste, gezogen werden kann: »Eine Auflösung von Grenzen mündet also zwangsläufig in einer Neukonstitution von Grenzen. Dementsprechend kann es auch keine völlig entgrenzten Künste geben, sondern nur Künste, die konventionelle Grenzziehungen überwinden, um diese durch neue zu ersetzen.«13 Das bedeutet in einem allgemeinen Sinne, dass es eine völlige Auflösung von Grenzen nicht geben, ein vollständig grenzfreier Raum nicht existieren kann. Es geht vielmehr darum, Grenzen zu tilgen, um sie an anderer Stelle wieder neu zu ziehen. Die besondere Konsequenz eines Entgrenzungsprozesses liegt in dem Resultat: eine Mischform. Durch das Entfallen der Grenze treffen die Bereiche, die vorher getrennt waren, zusammen und vermischen sich. Dieser neue, hybride Raum muss aber wieder durch Grenzen von anderen abgetrennt werden.14 Mit diesem Ansatz werden im Folgenden sowohl die durch diskursive Formationen des Sagbarkeits- und Wissensraums als auch die durch Praktiken der Figurenkollektive (innerhalb des Normalfeldes) konstruierten Grenzen auf verschiedenen Ebenen aufgezeigt. Die Präferenz zahlreicher literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzungen, vornehmlich geographische Grenzen zu untersuchen, findet in dieser Arbeit eine deutliche Erweiterung, indem sie auch die Grenzen auf figuraler und formalästhetischer Ebene in den Blick nimmt. Dabei werden ferner ihre Konstitutionen 9 10 11 12

13 14

Vgl. JASPERS, Karl: Philosophie. Bd. 2: Existenzerhellung. Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1956, S. 203. Vgl. ebd., S. 220-249. LAMPING, Dieter: Über Grenzen, S. 15. Vgl. REICHE, Ruth/ROMANOS, Iris/SZYMANSKI, Berenika: Transformationen, Grenzen und Entgrenzung, in: Dies./Romanos, Iris/Szymanski, Berenika u.a. (Hrsg.) Transformationen in den Künsten. Grenzen und Entgrenzung in bildender Kunst, Film, Theater und Musik. Bielefeld: transcript 2011, S. 13-32, hier S. 16. Ebd. Vgl. ebd., S. 17.

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beschrieben, die sowohl starr und fixiert als auch dynamisch und wandelbar sein können. Gerade hier wird eine wesentliche Besonderheit der Literatur, dynamische Prozesse und durch Reflexionen angestoßene Wandlungen aufzuzeigen, offenbar. Damit zusammenhängend bezieht sich die Untersuchung zudem auf den literarischen Umgang mit diesen Grenzen, der beispielsweise in der Darstellung von beweglichen oder unbeweglichen Figuren illustriert wird. Diese innovative Zusammenführung der theoretischen und methodischen Grundlagen erweist sich als äußerst produktiv und zielführend. Sie bietet auf der einen Seite ein kulturwissenschaftlich ausgerichtetes analytisches Instrumentarium, belässt aber auf der anderen Seite sowohl die Grenze in ihren zahlreichen Facetten als auch die literarischen Texte in ihren spezifischen Wesensarten. Die bisher nur in geringem Maße untersuchten Romane, die die neuen Kriege thematisieren, werden so zum Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses. Durch den interdisziplinären Impetus dieser Arbeit soll dem gegenwärtigen Phänomen der neuen Kriege entsprochen und der Ansicht, dass Literatur stets ein reflexives, kulturelles Produkt ist, das sich innerhalb des öffentlichen Diskurses positioniert, Rechnung getragen werden. Gerade aufgrund dieser dialektischen Verklammerung von Literatur und öffentlichem Diskurs kreisen die Fragen stets auch darum, wie die analysierten Werke die Gleichzeitigkeit von Be- und Entgrenzung aushandeln und wie sie für die Kriege, implizit oder explizit, Bewertungsmechanismen etablieren.

III. Untersuchung des Textkorpus

1. Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten – Figuren aus der Sphäre des Eigenen

Die literarische Darstellung von Soldaten hat eine lange Tradition und fand in Deutschland vor allem in quantitativer Hinsicht ihren Höhepunkt im Zusammenhang der beiden Weltkriege, deren Verarbeitung zwischen den beiden Polen einer in heroischem Duktus verfassten Propagandaliteratur und einer häufig in der Figur des desillusionierten Kriegsheimkehrers repräsentierten literarischen Kritik am Krieg verläuft. Mit dem gewandelten Soldatenbild, das durch die Erfahrungen der Kriege und die Verhandlung des Schulddiskurses angestoßen wurde und seinen deutlichsten Ausdruck in dem auch Implikationen hinsichtlich des soldatischen Berufstandes aufweisenden Ausspruch »Nie wieder Krieg!« findet, ändert sich auch die literarische Beschreibung der Bundeswehrsoldaten. Bereits in dem Umstand, dass in der literarischen Verarbeitung gegenwärtiger Kriege auch Soldatinnen im Mittelpunkt der Erzählungen stehen, liegt ein Unterschied zu den vorherigen literarischen Erzeugnissen. Durch das gewandelte Bild der Bundeswehr, die ihren Aufgabenbereich weniger dem aktiven Kampf als der Verteidigung und humanitären Hilfe besonders auch in Auslandseinsätzen zuordnet, generiert sich auch in der Literatur ein spezifisches Bild, in dem sich häufig implizit oder explizit Kritik ausmachen lässt. Die im Folgenden untersuchten Romane spiegeln genau dieses gewandelte Soldatenbild wider. Die Sprache der Vögel von Norbert Scheuer stellt einen Soldaten dar, der das Beobachten von Vögeln, eine generationsübergreifende Leidenschaft der männlichen Familienmitglieder, als eskapistische Strategie nutzt, um dem Kriegsgeschehen kurzfristig zu entkommen, und dafür sogar gegen militärische Vorschriften verstößt. Die Praktiken des Figurenkollektivs der Soldaten spannen dabei ein restriktives Geflecht von Grenzsetzungen auf, dem der Protagonist, dessen Sprachpessimismus eine Unvermittelbarkeit des Krieges erkennen lässt, entflieht. Während Scheuers Roman ausschließlich männliche Soldaten darstellt, steht in Dirk Kurbjuweits Werk Kriegsbraut eine Protagonistin im Mittelpunkt. Die Grenzen, die in diesem Zusammenhang untersucht werden, sind dementsprechend anders gelagert: Hier wird vorrangig eine geschlechtsspezifische Grenze zwischen den deutschen Soldatinnen und Soldaten aufgezeigt, die sich auf alle Bereiche des Einsatzes auswirkt, sowie die Abgrenzung der Mitglieder der Bundeswehr von den anderen internationalen Streitkräften verdeutlicht, die sich besonders an den unterschiedlichen Aufgaben und Praktiken offenbart. Nicht nur durch die Darstellung einer Grenze zwischen im Krieg agierenden Frauen und Männern setzt sich dieser Roman von den

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übrigen ab, sondern auch mit dem Handlungsstrang einer Liebesgeschichte zwischen der Protagonistin und einem afghanischen Schuldirektor, die in einer solchen Ausprägung in keinem anderen Kriegsroman zu finden ist. Jenseits von Deutschland von George Tenner zeichnet sich nachdrücklich durch die zahlreichen außerliterarischen Referenzen aus, die im Sinne einer Zitatmontage arrangiert werden. Sie dienen sowohl der Generierung als auch als Beleg für zwei jeweils homogenisierende Bilder von Bundeswehrsoldaten und Terroristen, die sich antithetisch gegenüberstehen und die mit Zuschreibungen von Gut und Böse belegt sind. Die sich so konstituierende Grenze zwischen den Figurenkollektiven ist statisch und kann von keiner Figur überschritten werden. An die Untersuchungen dieser Werke schließt sich ein Exkurs an, der zwei sehr unterschiedliche Romane fokussiert. Sie stellen nicht das Kriegsgeschehen selbst, sondern je einen ehemaligen Soldaten dar, weshalb sie hier unter dem Terminus ›Heimkehrerliteratur‹ analysiert werden. Die Kriegserlebnisse – in Ingo Niermanns und Alexander Wallaschs Roman Deutscher Sohn handelt es sich um den Afghanistankrieg, in Michael Kleebergs Werk Das amerikanische Hospital um den Zweiten Golfkrieg – liegen vor der jeweiligen Romanhandlung, allerdings sind die Auswirkungen des Krieges für die Protagonisten stets präsent: einerseits als nicht heilende, offene Wunde an einem Bein, andererseits als psychisches Trauma, das jegliche Wiedereingliederung in gesellschaftliche oder berufliche Strukturen unmöglich macht. Damit stehen hier vor allem die Auswirkungen der neuen Kriege auf die Soldaten im Vordergrund.

B UNDESWEHRSOLDATINNEN UND - SOLDATEN

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1.1 S PRACHPESSIMISTISCHE T AGEBÜCHER EINES S OLDATEN . N ORBERT S CHEUERS D IE S PRACHE DER V ÖGEL 1.1.1 Inhalt Die Sprache der Vögel1 von Norbert Scheuer stellt den an Ornithologie interessierten Paul Arimond in den Mittelpunkt der Erzählung, die in einem ungleichmäßigen Rhythmus abwechselnd in den Räumen Deutschland und Afghanistan lokalisiert ist. Der Handlung vorgelagert ist ein Autounfall Pauls mit seinem Freund Jan, der in der Folge körperlich schwer beeinträchtigt ist, woraufhin sich der Protagonist bei der Bundeswehr verpflichtet, eine Ausbildung zum Sanitäter macht und sich für einen Auslandseinsatz in Afghanistan meldet. An dieser Stelle setzt der Roman ein. In Afghanistan geht er nicht nur seiner Tätigkeit als Sanitäter, die zum einen die medizinische Versorgung der verwundeten Soldaten und Einheimischen und zum anderen das Begleiten von Patrouillen umfasst, sondern auch seiner Leidenschaft der Vogelkunde nach, die den männlichen Familienzweig von seinem Urahn Ambrosius, der Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts lebte, über seinen Vater bis zu Paul verbindet. Um an einem nahe dem Camp gelegenen See Vögel zu beobachten, verstößt der Protagonist immer wieder gegen die explizit ausgesprochenen militärischen Vorschriften, das Lager nicht zu verlassen. Nachdem einer seiner Ausflüge entdeckt wird, muss er im Camp ausharren und handelt dem Verbot erst dann nochmals zuwider, als er von dem Tod seines Freundes Jan erfährt. Vor Schmerz beinahe außer sich, flieht er aus dem Camp an den See, findet dort die Leiche eines befreundeten Afghanen und läuft ziellos weiter durch Afghanistan, wo er schließlich von amerikanischen Soldaten, die ihn zunächst für einen Überläufer halten, festgesetzt wird. Auf dem Weg zum Flugzeug, das ihn wieder nach Deutschland bringen soll, detoniert die Bombe eines Attentäters neben dem Bus, in dem sich Paul befindet. Der Roman Die Sprache der Vögel spannt nicht nur auf der zeitlichen Achse eine generationsüberschreitende Leidenschaft für die Vogelkunde auf, sondern verbindet diese auch mit dem Krieg und den Möglichkeiten seiner Darstellung. So wird eine vermeintliche artenübergreifende Sprache der Vögel der Unfähigkeit, die Erlebnisse des Krieges und der Gewalt in (menschliche) Sprache zu fassen, gegenübergestellt. 1.1.2 Formale Grenzen Das Werk besteht aus 120 kurzen Kapiteln, die, ohne eine weitere übergeordnete Strukturierung, nacheinander geschaltet sind. Dabei wird in unregelmäßigen Abständen immer wieder ein Wechsel von Erzählperspektiven und Handlungsräumen inszeniert: Neben den in Ich-Form abgefassten, reiseberichtartigen Schriften des Urahns Ambrosius und den Nebenhandlungen um Pauls Partnerin Theresa und seinen Freund

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Die folgende Ausgabe wird hier verwendet: SCHEUER, Norbert: Die Sprache der Vögel. München: Beck 2015. Die Zitation erfolgt im Fließtext mit der Sigle SV und der jeweiligen Seitenzahl.

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Jan, von denen ein nullfokalisierter Erzähler berichtet, nimmt der Erzählstrang über den Protagonisten Paul den größten Teil des Romans ein. Er beinhaltet überwiegend seine eigenen Tagebucheinträge, die er vom 14. April 2003 bis zum 23. Mai 2004 in Afghanistan niederschreibt und die jeweils mit einem Datum versehen sind, wodurch eine chronologische Reihenfolge nachvollziehbar wird. Zudem wird die Erzählung durch Analepsen unterbrochen, die, ebenfalls aus der Ich-Perspektive, die Zeit vor der Bundeswehr umfassen und den Fokus sowohl auf das Familienleben als auch auf Theresa und Jan legen. Besonders interessant in Bezug auf den multiperspektivischen Aufbau des Romans ist, dass die Figur Helena, deren Erzählung einen weiteren Handlungsstrang bildet, die auf einzelnen Seiten verfassten Tagebucheinträge während eines zufälligen Treffens mit dem Bundeswehrsoldaten Julian, der ebenfalls in Afghanistan stationiert war und sich dort mit Paul ein Zimmer teilte, erhalten hat. Als Julian Helena, die Pauls Lehrerin war und somit eine persönliche Beziehung zu dem Protagonisten hat, die Blättersammlung gibt, kommen sie mit Regen in Berührung, wodurch die Schrift und die Daten2 zum Teil unlesbar werden (vgl. SV 71, 181). Helena trocknet die Unterlagen und ordnet sie, bringt die einzelnen Erzählebenen also in die Grobstruktur, die der literarische Text selbst aufweist, was auch in dem Roman aufgegriffen wird: »Paul hatte seine Vogelbeobachtungen in tagebuchähnlichen Notizen festgehalten. Auf manchen Blättern war das Datum nicht mehr lesbar. Sie entdeckte Geschichten aus Kall und Berichte von einem gewissen Ambrosius, einem Vorfahren, der Ende des 18. Jahrhunderts wohl Persien bereist hatte. Während Helena die feuchten Seiten sorgfältig auf dem Boden auslegte, kamen ihr Bedenken, das Zimmer könnte zu klein sein und nicht für alle Blätter reichen. Diese Vorstellung versetzte sie beinahe in Panik, sie meinte, wenn nicht alle Platz fänden, würde etwas auseinandergerissen werden, unentdeckte Beziehungen zwischen den Dingen und den Vorstellungen.« (SV 48f.)

Die ursprünglich strukturierende Reihenfolge der Blätter, die »Architektur der Textträger«3, die der Tagebuchschreiber vorgesehen hatte und so eventuell auch »LebensKohärenzen wie Inkohärenzen«4 zum Ausdruck brachte, spiegeln sich in dem Roman durch die Neusortierung nun dementsprechend, trotz des von Helena artikulierten Versuchs, nicht wider. Die auf einzelnen Blättern beruhende Struktur wird neben der Beschreibung des Ordnens zusätzlich in Die Sprache der Vögel optisch markiert, da jedes Kapitel auf einer neuen Seite beginnt. Auch durch die Transformation von Pauls Handschrift, auf die Helena explizit eingeht, ihren ehemaligen Schüler daran

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Bemerkenswert ist die Erwähnung, dass einige Daten nicht mehr zu lesen sind, der Roman jedoch jedem Tagebucheintrag ein bestimmtes Datum zuschreibt. An dieser Stelle wird der Konstruktionscharakter des Romans, der durch die Tätigkeit der Figur Helena versinnbildlicht wird, explizit ausgestellt. DUSINI, Arno: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Fink 2005, S. 50. Ebd.

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geradezu identifiziert,5 in gedruckte Schriftzeichen wird auf optischer Ebene auf den Konstruktionscharakter des Romantextes verwiesen.6 Zudem befinden sich die zahlreichen abgebildeten Zeichnungen von Vögeln, die Paul in Afghanistan beobachtet und mittels einer besonderen Technik mit »Aquarellkaffee« (SV 44) angefertigt hat, gleichermaßen auf separaten Seiten und sind in dem Roman passend zu den jeweiligen Texten eingeordnet.7 Mit den Abbildungen der Vögel wird zugleich noch eine weitere Grenzziehung inszeniert: die Divergenz zwischen Bild und Text. Die Trennung manifestiert sich in den unterschiedlichen Möglichkeiten – sprachlich und visuell –, die von dem Protagonisten beobachteten Vögel darzustellen. Doch vor allem der verbindende Charakter der Grenze gelangt durch die Bilder auf mehreren Ebenen zur Anschauung. Dies bezieht sich zum einen auf die darstellende Funktion der Bilder, die in einem allgemeinen Sinn dazu in der Lage sind, die Inhalte von Texten zu veranschaulichen, eine zusätzliche Aufnahmemöglichkeit bieten8 und damit eine Text-Bild-Korrespondenz evozieren. So werden auch dem Rezipienten mit nur geringer oder gänzlich ohne Kenntnis der Vogelkunde die zahlreichen beschriebenen Vögel im wörtlichen Sinn vor Augen geführt. Neben diese rein illustrierende Funktion tritt zum anderen aber auch das besondere Merkmal der Maltechnik: die bräunlich eingefärbten Abbildungen veranschaulichen das sich wiederholende Verhalten des Protagonisten, mittels Aquarellkaffee zu malen. Hierdurch wird der Rezipient beim Betrachten der Bilder immer wieder unmittelbar in den Kontext der erzählten Welt einbezogen. Zudem sind die abgebildeten Vögel nicht in statischer Position eingefangen, sondern suggerieren Bewegung und Dynamik beispielsweise im Flug. So wird der Rezipient selbst kurzfristig zum Beobachter, durch die Transformation der Schrift in Bilder erhält der Leser einen Einblick in die Faszination des Protagonisten für die Ornithologie. Somit gehen die Bilder mit dem Text eine Verbindung ein, die 5

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»Als sie die aneinander klebenden Seiten genauer betrachtete, fühlte sie sich bestätigt, sie waren von Paul. Sie hatte damals einige Zeit gebraucht, bis sie seine krakelige Schrift hatte entziffern können.« (SV 47) Dusini stellt im Kontext der handgeschriebenen Tagebücher heraus, dass es sich gerade hier um einen »unendlich differenzierte[n] Spielraum« handele, »der gerade aus Unregelmäßigkeiten seine Bedeutung gewinnt«. Durch die »normierte Gleichförmigkeit« der gedruckten Buchstaben würden »alle Stockungen, alle Geläufigkeiten und Zögerlichkeiten, alle Flüchtigkeiten, Anstrengungen, aber auch Leichtigkeiten verschwinden. Was der Ökonomie der Lektüre zum Vorteil gereicht, unterschlägt die Dynamik handschriftlicher Aufzeichnungen.« (DUSINI, Arno: Tagebuch, S. 51f.) Damit grenzt sich der Roman von den übrigen in dieser Arbeit untersuchten Werken nicht nur durch seine den größten Teil der Erzählung bestimmende Tagebuchform ab, sondern auch darin, dass er der einzige ist, der selbst mit Visualisierungstechniken und deren Funktionen arbeitet. Andere Romane wie zum Beispiel Das Handwerk des Tötens greifen zwar den Themenkomplex von Bildern, Fotografien und deren Herstellung sowie den Konstruktionscharakter auf, verbleiben dabei jedoch im Medium der Schrift (vgl. Abschnitt III, Kapitel 2.2.). Vgl. zur theoretischen Grundlegung von Text-Bild-Kombinationen: STRAßNER, Erich: Text-Bild-Kommunikation – Bild-Text-Kommunikation. Tübingen: Niemeyer 2002, bes. S. 13-21.

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dem besseren Verständnis dient und neue, evtl. tiefere Interpretationsräume eröffnet, zugleich aber auch auf die Grenze zwischen Visuellem, Imaginiertem und Schrift verweist, indem sie sie selbst ausstellt. Darüber hinaus schaffen diese Zeichnungen auch einen Gegenpol zu Bildern des Krieges, die, verbreitet in den Massenmedien, jeweils politische und symbolische Implikationen haben. Die Zeichnungen der Vögel unterminieren (und kritisieren) so zum einen die einseitigen medialen Darstellungen und zum anderen die damit verbundene Erwartungshaltung des Rezipienten von Bildern des Krieges. Durch diesen Bruch werden die Sehgewohnheiten nicht nur aufgezeigt, sondern zugleich wird auch ein Reflexionsprozess angestoßen: An die Stelle von Bildern des Angriffs, Kampfes und Sterbens treten Bilder der Vögel und verdeutlicht so, dass im Kontext eines Krieges mehr existiert als Zerstörung und Tod. Zudem ist der Vogel in diesem Kontext als Symbol der Grenzüberschreitung schlechthin zu lesen, sowohl in Bezug auf die geographischen Grenzen als auch auf die artenübergreifende Sprache, sodass hier potentielle Möglichkeitsräume einer Überwindung des Krieges ausgestellt werden. Die Figur Helena wird, indem sie die einzelnen Tagebucheinträge sortiert und ihnen die entsprechenden Vogelzeichnungen zuordnet, in die Position einer Konstrukteurin und ordnenden Instanz des Romans gehoben und innerhalb des Figurenkollektivs damit auf einer Metaebene lokalisiert. Diese nimmt Helena auch dann ein, wenn sie die unleserlichen Stellen oder sinnlos erscheinenden Einträge nicht nur herausstellt, sondern deren Inhalte auch in eine zusammenhängende Erzählung bringt, die sie aus den Aufzeichnungen, einem »Mosaik aus Worten« (SV 48), eruiert. So werden aufgrund der Anlage des Werkes mit seinen zahlreichen Perspektiv- und Raumwechseln auf der einen Seite Grenzen vorgeführt, auf der anderen Seite wird auch der Konstruktionscharakter hervorgehoben, der aufzeigt, dass hier eben nicht eine alles umfassende Abbildung einer ›Wirklichkeit‹ erzeugt wird, sondern die erzählten Ereignisse perspektivisch und zum Teil mehrfach gebrochen sind, vor allem dann, wenn Figuren nicht selbst berichten, sondern über sie von anderen gesprochen wird.9 Durch den ständigen, Grenzen aufzeigenden Perspektivwechsel und den daraus resultierenden Informationsvorsprung hat der Rezipient dann beispielsweise darüber Kenntnis, dass für Theresa, die sich während Pauls Afghanistanein-

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Beispielsweise werden im Romanverlauf mehrfach Rückblenden eingebaut, die Gespräche zwischen dem Protagonisten im Kindes- und Jugendalter und seinem Vater in Form der indirekten Rede wiedergeben, in denen berichtet wird, was Paul von seinem Vater über den Urahn Ambrosius erfährt, wie zum Beispiel folgende Stelle, die dem 13. Kapitel entnommen ist: »Ambrosius soll 1789 aus Afghanistan, dem damaligen Paschtunenreich, in die Eifel zurückgekehrt sein, wieder in unserem Dorf gelebt und an seiner Schrift über die Vogelsprache gearbeitet haben. […] Vater sagte, Ambrosius sei ein kluger Mann gewesen, er habe als Kind die Lateinschule im Steinfelder Kloster besucht und dort lesen und schreiben gelernt.« (SV 42) Die Informationen, die der Rezipient über die Figur Ambrosius erhält, stammen dementsprechend nicht von einem nullfokalisierten Erzähler oder ihm selbst, sondern werden mehrfach gebrochen vermittelt: Der Protagonist gibt eine Erinnerung an ein Gespräch mit dem Vater wieder, dem diese Informationen wahrscheinlich ebenfalls von einer anderen Figur vermittelt wurden.

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satzes mit einem Tierarzt liiert, die Liebesbeziehung mit Paul beendet ist, während Paul offenbar noch daran festhält. Wie oben bereits erwähnt, umfasst der multiperspektivische Aufbau des Romans auch versatzstückhafte, aus dem Jahre 1781 stammende Reiseberichte des Urahns Ambrosius, die an vier Stellen in die Erzählung eingegliedert sind. Beschrieben wird bereits in dem ersten Kapitel durch die Perspektive des Protagonisten, dass Ambrosius 1776 eine mehrjährige Reise bis nach Afghanistan unternahm und daran arbeitete, die »gemeinsame Sprache« (SV 9) aller Vögel niederzuschreiben. Wahrscheinlich, jedoch nicht expliziert, handelt es sich um die gleiche Reise, aus der die im Roman angeführten Aufzeichnungen stammen. Unklar bleibt indes, wie sie in den Besitz des Protagonisten und dann über Julian in die Hände von Helena, die diese im Roman vorherrschende Ordnung generiert, gelangten, da bereits im ersten Kapitel erzählt wird, dass der Großteil der Berichte »in den napoleonischen Kriegen verloren gegangen« (SV 9) sei. Dies wird an anderer Stelle mittels einer mythisch anmutenden Erzählung weiter spezifiziert, in der es heißt, dass Ambrosius, der sich mit der napoleonischen Armee in Russland befand, also um 1812, in Angst zu erfrieren sein Pferd getötet, die Innereien gegessen habe und anschließend »mit seinem Tornister, in dem sich seine Aufzeichnungen, Briefe und sein Tagebuch befanden, in die Wärme des Pferdeleibes gekrochen sei.« (SV 43) Bemerkenswert ist daran vor allem der explizite Hinweis darauf, dass der Tornister bei seiner darauffolgenden Festnahme im Pferdeleib zurückblieb: »Auf diese Weise seien seine Notizen über die Vogelsprache verloren gegangen.« (Ebd.) Die kurzen, in den Roman eingegliederten Berichte von Ambrosius, deren Herkunft damit unklar bleibt, unterscheiden sich von den übrigen Kapiteln im Schriftbild ebenso wie in der Sprache und der Orthographie, die eine frühneuzeitliche Schriftsprache imitiert. Da es sich lediglich um Versatzstücke handelt, ist überdies nicht eindeutig, ob es sich um private Aufzeichnungen von Ambrosius handelt oder ob sie verfasst wurden, um sie in Form einer Publikation der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen,10 wie es im 18. Jahrhundert durchaus üblich war, was in erster Linie die Quantität der damals gedruckten Reiseberichte belegt, die »zu den beliebtesten Lesestoffen der Epoche [der Aufklärung]«11 avancierten. Nicht nur durch die familiäre Abstammung sind Ambrosius und Paul verbunden, auch die beiden Textsorten – das Tagebuch und der Reisebericht – weisen Gemeinsamkeiten auf. So sind beide in der Ich-Form verfasst und beschreiben perspektivisch den wahrgenommenen Raum Afghanistan. Zudem verwenden beide das Erzähltempus Präsens, was die Abschnitte jedoch nicht in eine Zeitachse zusammenfließen, sondern vor allem durch die ausgestellte frühneuzeitliche Stilistik der Reiseberichte die zeitliche Grenze zwischen Ambrosius und Paul noch deutlicher hervortreten lässt. Im Hinblick auf die Gesamtanlage des Romans werden noch weitere Zeitgrenzen aufgezeigt. Das Verfassen der Tagebucheinträge von Paul muss 10 Auf eine derartige Differenzierung im Kontext real-historischer Reisebeschreibungen macht Grosser aufmerksam: GROSSER, Thomas: Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bürgerliche Bildungsreise, in: Maurer, Michael (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin: Akademie 1999, S. 135-176, hier S. 137. 11 DAPRILE, Iwan-Michelangelo/SIEBERS, Winfried: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung. Berlin: Akademie 2008, S. 117.

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vor dem Erzählstrang mit Helena liegen, da diese die Texte im Nachhinein erst sortiert. Während die Tagebucheinträge jedoch im Präsens verfasst sind und damit Gleichzeitigkeit und Unmittelbarkeit des Geschehens suggerieren, ist das Tempus der anderen Kapitel das Präteritum. Damit wird die kulturell normierte Ordnung, die durch Erzähltempora hergestellt wird, unterlaufen und zugleich wirkt die mit dem Krieg verbundene Handlung, die zudem in der Fremde stattfindet, unmittelbarer und damit näher, gestützt zusätzlich durch die Ich-Form, als der Handlungsverlauf in Deutschland. Neben den 120 Kapiteln des Romans lassen sich in dem Werk auch verschiedene Arten von Paratexten finden. Das Motto, das im Sinne eines Beiwerks nach Genette keine starre Grenze, sondern eine Schwelle darstellt,12 beinhaltet einen Auszug des englischsprachigen Gedichts Lying von Richard Wilbur. Bemerkenswert ist, dass es, ohne eine derartige Kennzeichnung, in abgewandelter Form abgedruckt ist: So ist zum einen die syntaktische Konstruktion des Originals verkürzt worden und zum anderen wurden die Enjambements an anderer Stelle gesetzt.13 Es nährt die großen Lügen, die mit halb geschlossenen Augen erzählt werden, so der Inhalt des Gedichtausschnitts, dass sie die Wahrheit im Blick haben.14 Sowohl die Form des Ausschnitts als auch die inhaltliche Verkürzung des Gedichts stellen bereits in dem Motto heraus, dass in dem Roman keine vollständige Erzählung über den Krieg erfolgt, sondern lediglich ein Teilbereich literarisch verarbeitet wird. Besonders aber der Verweis auf die ›großen Lügen‹, die sich wahrscheinlich auf das über den Krieg Berichtete beziehen und damit schon an dieser Stelle auf die im Diskurs über den Afghanistankrieg generierten Grenzen aufmerksam machen, ermöglicht dem Rezipienten im Vorfeld eine kritische Haltung auch gegenüber dem folgenden Inhalt und initiiert so ein »Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre«15. Zwar wird eine irgendwie geartete ›Wahrheit‹ in dem Gedicht als 12 Vgl. GENETTE, Gérard: Paratexte, S. 10. 13 Richard Wilbur ist vor allem im Hinblick auf sein lyrisches Schaffen dezidiert als Formalist gekennzeichnet worden. Das Enjambement, so Wilbur über seine eigenen Texte, diene nicht nur dazu, den Inhalt zu unterstützen, sondern sei auch abhängig von diesem (vgl. ALBERS, Carsten: Die Ordnung der Form im Chaos der Dinge. Die formale Lyrik von Elizabeth Bishop und Richard Wilbur. Essen: Die Blaue Eule 2002, S. 215.). Die Veränderung der Form-Inhalt-Korrespondenz, die dadurch erreicht wird, dass der Inhalt verkürzt und die Versgrenzen neugesetzt werden, spielt demnach eine besondere Rolle. Wilbur, der als Soldat während des Zweiten Weltkrieges in Europa stationiert war, weist selbst eine spezifische Verbindung zum Thema Krieg auf. Albers macht deutlich, dass sich Wilburs Lyrik besonders durch »das Bestreben, durch ordnungs- und strukturgebende Versprachlichung komplexe Inhalte auf eine Weise geistig zu durchdringen« auszeichne, »die einen Erkenntnisprozeß ermöglicht oder fördert« (ebd., S. 332.). 14 »It is tributary to the great lies told with the eyes half-shut that have the truth in view Richard Wilbur« (SV 7, Herv. i.O.) 15 GENETTE, Gérard: Paratexte, S. 10.

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Möglichkeit in den Raum gestellt, indem darauf verwiesen wird, dass die personifizierten Lügen diese im Blick haben und somit einen Teil der Wahrheit beinhalten, allerdings kann zwischen den beiden Bereichen nicht unterschieden werden, die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit wird so aufgehoben. Eine eindeutig vernehmbare ›Wahrheit‹ erfährt der Leser, zumindest in dieser literarischen Reflexion des Krieges, somit gerade nicht. Außer dem Motto befinden sich weitere Arten von Paratexten am Ende des Werkes. Der erste ist eine Danksagung, die den Namen des Autors am Ende ausstellt ebenso wie den Ort Kall, in dem auch die Romanhandlung in Deutschland spielt,16 und ein Datum, was die Instanz des Autors deutlich sichtbar macht und damit zugleich die Figur Helena in ihrer Funktion als Konstrukteurin des Romans lediglich als fiktive Figur ausweist. In der Danksagung werden dem Roman verschiedene außertextuelle Bezüge zugesprochen, wie beispielsweise ein reales Vorbild seines Protagonisten: Der Autor berichtet von einer Begegnung mit einem Mann, der wahrscheinlich Soldat war, von Tieren sprach und diese stets mit lateinischem Namen benannte (vgl. SV 231), so wie auch der Protagonist Paul die Bezeichnungen der Vögel nicht nur in deutscher, sondern auch in lateinischer Sprache wiedergibt. In diesem Zusammenhang geht Scheuer auf die Verbindung ein zwischen einer Geschichte, die vielleicht »das Einzige [ist], was wirklich von uns bleibt« und der »Wirklichkeit, die diese [Geschichte] beeinflusst und in ihr wirkt.« (Ebd.) So wird in diesem Zusammenhang auf der einen Seite zwischen Fakt (›Wirklichkeit‹) und Fiktion (›Geschichte‹) unterschieden, auf der anderen Seite werden die beiden Bereiche aber auch zusammengeführt, da in der Erzählung eben immer ein Teil der Wirklichkeit enthalten ist. Ebenso wie in dem Motto des Romans wird auch hier eine strikte Grenzziehung dieser Teilräume obsolet. Damit wird im weitesten Sinne auch die Wechselwirkung zwischen Literatur und öffentlichem Diskurs aufgegriffen: Die Literatur befindet sich an der Schnittstelle von der Geschichte des Einzelnen und dem Kollektiv, das die Erzählung potentiell rezipiert, damit wird sie auf der einen Seite vom öffentlichen Diskurs beeinflusst und nimmt auf der anderen Seite selbst Einfluss auf die Einstellung des Leserkreises. Neben dem real-historischen Vorbild des Protagonisten werden in der Danksagung auch ein Wissenschaftler, Prof. Dr. Gunther Nogge, der in dem Roman als Figur in Erscheinung tritt (vgl. SV 35), und dessen Monographie namentlich erwähnt. Dieses, wie der Autor selbst angibt, als Grundlage des Romans genutzte Werk suggeriert Wissenschaftlichkeit ebenso wie das daran anschließende Glossar, das hauptsächlich militärische Fachbegriffe erläutert, und das Literaturverzeichnis, das laut Danksagung »die Bücher, Aufsätze und Internetseiten, die ich [Scheuer] in diesem Zusammenhang gelesen habe« (SV 232), aufführt. Diese ausgestellte Wissenschaftlichkeit, die suggeriert, dass der Roman auf Fakten basiert, stützt zugleich der 16 Nicht nur der Roman Die Sprache der Vögel kann mit dem literarischen Raum ›Kall‹ in Verbindung gebracht werden, auch die vorherigen Romane von Norbert Scheuer spielen, zumindest in einem Handlungsstrang, dort, ebenso stellt die Familie Arimond ein zentrales Motiv seines Schreibens dar. Dadurch wird eine intertextuelle Struktur, die die einzelnen Romane des Schriftstellers miteinander verbindet und damit eine grenzüberschreitende Funktion besitzt, initiiert.

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Paratext »Anmerkung«, der sich zwischen dem Glossar und dem Literaturverzeichnis befindet. An dieser Stelle wird darauf eingegangen, dass der Autor bei einem Detail – einer bestimmten Vogelart – sich nicht an der Wissenschaft orientiert habe: »Die im Buch beschriebenen Vögel sind entweder in Afghanistan heimisch oder auf ihrem Vogelzug vor Ort zu beobachten. Prof. Dr. Nogge und Frank Joisten machten mich darauf aufmerksam, dass der Moabsperling im Norden Afghanistans noch nicht beobachtet wurde.« (SV 235) Dieser Hinweis, der einen einzigen Bestandteil des Romans umfasst, lässt die vermeintlich wissenschaftliche Basis des Textes nur umso stärker hervortreten – demonstriert durch die genannte, offenbar vor der Veröffentlichung durchgeführte Prüfung auf Korrektheit durch Wissenschaftler. Die Begründung, warum Scheuer trotz anderer wissenschaftlicher Belege diese Vogelart erwähnt, findet sich direkt im Anschluss: »Da das im Text beschriebene Feldlager ein literarischer Ort ist, der über Afghanistan hinaus auch auf andere Kriegsgebiete übertragbar ist, habe ich mich in diesem einen Fall aus rein literarischen Gründen über die wissenschaftlichen Fakten hinweggesetzt.« (Ebd.) Nicht die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern die Literatur wird fokussiert, was die Fiktion, besonders in dem Ausdruck ›literarischer Ort‹, hervorhebt. Die Grenzen zwischen Fakt | Fiktion, Wissenschaft | literarischem Text werden an dieser Stelle nicht nur sichtbar, sondern zugleich, wie in den anderen Paratexten auch, mit einem transgressiven Charakter bestimmt. Die Gattungsbezeichnung ›Roman‹, die Die Sprache der Vögel trägt, wird der Wissenschaftlichkeit nicht entgegengesetzt, sondern in verbindender Weise an die Seite gestellt – dafür scheinen sowohl der Name des Autors als auch die zahlreichen Verweise auf wissenschaftliche Literatur bürgen zu sollen. 1.1.3 Raumgrenzen Die beiden dargestellten Räume – Kall in Deutschland und das Bundeswehrcamp in Afghanistan – stehen nicht separiert nebeneinander, sondern werden zugleich zweifach miteinander verbunden: zum einen durch den Urahn Ambrosius und zum anderen durch den Protagonisten Paul, wobei Letzterer durch den Kontakt zu seiner Mutter und seinen Freunden eine weitere Verbindung herstellt. Besonders interessant im Hinblick auf die Raumgrenzen sind das Camp der Bundeswehrsoldaten sowie die darin agierenden Figuren. Zwei gegensätzliche Momente lassen sich hier ausmachen: die das Innen vor dem Außen schützenden Grenzziehungsstrategien, die die Lagerordnung vorsieht, und der Wille des Protagonisten, diese Grenze von innen nach außen zu überwinden. Das Lager wird bereits zu Anfang des Romans als besonders gesicherter und dadurch zugleich als eng begrenzter Raum dargestellt: »Vom Turm aus blicke ich über das Camp hinweg […], über den schützenden Wall aus aufeinandergestapelten quaderförmigen Steinkörben. Rings um den Festungswall erstreckt sich ein Geländestreifen, begrenzt von einem Zaun samt Stacheldrahtkrone.« (SV 25) Zudem gibt es eine elektronische Sicherheitsanlage, die Alarm auslöst, wenn die Lichtschranke durch jemanden oder etwas unterbrochen wird (vgl. SV 87). Die Exklusionsmechanismen der Campgrenze werden nicht nur an diesen dem Schutz dienenden Gegenständen, sondern auch an den routinierten Verhaltensweisen der Soldaten sichtbar, beispielsweise durch ihre Kontrolle aller Fahrzeuge vor dem Einlass auf Sprengsätze (vgl. SV 140). Markanter Weise sind es gerade die afghanischen Soldaten, deren Tätigkeitsfeld den Schutz des

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Camps umfasst, die eine Überwindung der Grenze tatsächlich unmöglich zu machen scheinen, da sie »auf alles schießen […], was sich bewegt.« (SV 126) Somit gehen die Gegenstände und soldatischen Verhaltensweisen eine Verbindung ein, deren Ziel die Abwehr des Feindes und der Schutz des Eigenen ist. Diese Schutzmechanismen spannen aber zugleich eine Atmosphäre der Beengung und Begrenzung auf, der heterotopische Raum des Lagers gleicht einer Festung. Neben der binären Struktur der Grenzziehung und -überschreitung wird auch die Bedrohung des Lagers von zwei Seiten anschaulich: Zum einen von außen durch die bereits bei der Anreise des Protagonisten artikulierte Gefahr des zwar unregelmäßigen, aber steten Beschusses durch Raketen (vgl. SV 15), zum anderen zeigt eine Episode unter den Soldaten eine Gefahr, die vom Inneren ausgeht: Ein Soldat wird so schwer verletzt im Feldlager aufgefunden, dass nur noch sein Tod festgestellt werden kann. »Nach den ersten Ermittlungen geht man von Selbsttötung aus. Seltsamerweise wurde die Dienstpistole, mit der er sich die tödliche Kopfverletzung zugefügt haben soll, noch nicht gefunden.« (SV 101) Obwohl angedeutet wird, dass der Soldat getötet wurde – und, da er im Lager aufgefunden wurde, als Täter nur jemand aus diesem in Frage kommen kann – wird von offizieller Seite von Suizid gesprochen, was einerseits die Lagerordnung und andererseits die (verantwortlichen) Soldaten und damit im weiteren Sinne auch den Auslandseinsatz im Ganzen unter Schutz stellt. Damit wird eine dichotome Atmosphäre der Gefahr aufgespannt, die von beiden Seiten aus nicht eingehegt werden kann. Trotz dieser ständigen und uneinschätzbaren Gefahr wird das Lager von dem Protagonisten mit nahezu idyllischen Konnotationen versehen. Durch die zahlreichen zivilen Einrichtungen wie Lagershops, einer Bibliothek, einer Kapelle etc. wirkt das Camp auf Paul wie ein »Lagerdorf« (SV 117), das sogar mit der Heimat verglichen wird: »Im Lager ist es ruhig, wie zu Hause in unserem Dorf, wenn ich früh morgens in den Schulferien Zeitungen ausgetragen habe« (SV 69). Die Heimat, der krieglose Raum, bildet damit nicht die Kontrastfolie, auf der die Beschreibung des Lagers vorgenommen wird, sondern dient im Gegenteil als vergleichbare Basis, was einerseits die Abgeschlossenheit und den Sicherheit suggerierenden Charakter des Lagers und andererseits Pauls verzerrte Wahrnehmung seiner Umwelt hervorhebt. Diese wiegt besonders schwer, da er durch seine Tätigkeit als Sanitäter zumindest ausschnittsweise besser über die Gefahr und die Konsequenzen des Kampfes informiert ist als die anderen Bundeswehrsoldaten, und wird zusätzlich durch Pauls Ziel unterstrichen, die Grenze des Lagers zu überwinden, um seine Vogelstudien weiterzuführen. Die Begrenzung und Enge des Lagers, die durch Pauls Beobachtungen weit entfernter Vögel durch ein Fernglas besonders prononciert wird, stellt der Protagonist dabei immer wieder der Freiheit der Vögel entgegen, für die weder »Zäune oder Absperrungen« (SV 12) noch Ländergrenzen (vgl. SV 44) relevant sind. Pauls Wunsch, seine Vogelstudien an dem nahegelegenen See durchzuführen, wird von der Lagerleitung dreimal »aus Gründen der militärischen Sicherheit« (SV 57) abgelehnt. Da er seinem eskapistischen Drang, der sich darin zeigt, in der Beobachtung der freien Vögel selbst eine Art Freiheit zu erlangen, nicht nachgeben kann, beobachtet der Protagonist stattdessen die Grenze des Lagers und erkennt dabei deren Lücken: Die vornehmlich unüberwindbare Grenze weist sowohl in den der Sicherheit dienenden Gegenständen als auch in den Verhaltensweisen der Soldaten Mängel auf, die sie überschreitbar machen. Die defekte elektronische Sicherheitsanlage erkennt er durch seine Vorliebe der Tierbeobachtung; er sieht einen Afghan-

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fuchs, der sich im Sperrgebiet aufhält: »Die elektronische Sperre hätte auf jeden Fall Alarm auslösen müssen. Vielleicht ist sie defekt, und niemand im Kommandostand ist das bislang aufgefallen. Ich weiß nicht, in welchen Abständen die Technik überprüft wird.« (SV 108) Und auch die Wachsoldaten, die sich scheinbar auf ihr Funktionieren verlassen, ermöglichen eine Überwindung der Campgrenze: »Die Wachen auf den Walltürmen wirken trotz der erhöhten Alarmstufe unaufmerksam. Sie spielen meist Karten oder dösen« (SV 87). Dies wird noch potenziert mit der Aussage, dass die (deutschen) Wachsoldaten während ihres Dienstes Alkohol und Drogen konsumieren (vgl. SV 147).17 Durch die Lücken der Grenze wird deren Schutzfunktion unterlaufen, was die idyllischen Konnotationen, mit denen der Protagonist das Lager beschreibt, nur noch fragwürdiger, zugleich aber das Ziel der Grenzüberschreitung realisierbar erscheinen lässt. So kann Paul die Grenze dann auch mehrfach überwinden und zu dem See gelangen, ohne dass die Sicherungsanlage Alarm schlägt oder dass die Wachsoldaten ihn entdecken. Spätestens hier und in Hinblick darauf, dass Paul die Grenze über einen längeren Zeitraum mehrfach überschreitet, zeigt sich, dass die Sicherungsmechanismen nicht greifen, dass der Schutz durch Artefakte und Praktiken als illusionär entlarvt wird. Das grenzüberschreitende Verhalten von Paul lässt sich als zirkuläre Bewegung beschreiben: Der Ausgangsraum ist das Camp, dessen räumliche Enge auf der einen Seite und die Tätigkeit als Sanitäter, auf die unten noch näher eingegangen wird, auf der anderen Seite den Protagonisten dazu veranlassen, diesen Raum temporär zu verlassen. Dieser von van Gennep und Turner als ›liminale Phase‹ bezeichnete Übergang bildet hier aber keine Zone eines Zwischenraums oder einer Schwelle, die mit einem Ritus verbunden ist und dadurch die Wiedereingliederung in den Ursprungsraum mit einem neuen Status hervorbringt,18 sondern sie bildet vielmehr ein raumzeitliches Fluchtgefüge aus dem Alltag des Soldaten in einem Kriegsgebiet. Paradoxerweise bringt der scheinbare Ausweg, die Kriegsgeschehnisse zu verarbeiten, dem Inneren zu entfliehen und damit den Krieg zu verdrängen, auf räumlicher Ebene genau das Gegenteil hervor: Paul begibt sich durch seine Flucht erst in die Gefahr des völlig ungeschützten Kriegsgebiets hinein. Seine vermeintliche Freiheit ist so unmittelbar an eine akute (Lebens-)Gefahr geknüpft. Damit wird durch die Grenzüberschreitung ein weiteres Moment seiner verzerrten Wahrnehmung während seines Auslandseinsatzes anschaulich, was auch auf Paul als unsicheren Erzähler hindeutet, eine Erzählstrategie, die bereits durch die verschiedenen Paratexte eingeleitet wurde. 17 Die hervorgehobene Divergenz zwischen dem Verhalten der deutschen und der afghanischen Wachsoldaten markiert zugleich eine interkulturelle Grenze. Obwohl es sich um eine in ihren Tätigkeiten verbundene Gruppe handelt, werden kulturspezifische Unterschiede deutlich – und dies ganz offensichtlich im Sinne einer nachteiligen Darstellung der deutschen Soldaten, die ihren Pflichten nicht vorschriftsgemäß nachkommen, während die einheimischen Soldaten die Vorschriften (zu) genau nehmen. Eine mit bewertenden Konnotationen verbundene Dichotomie von Eigenem und Fremdem wird durch diese Nebenfiguren zumindest teilweise aufgehoben. 18 Vgl. GENNEP, Arnold van: Übergangsriten. (Les rites de passage). Frankfurt a.M./New York: Campus 1986. Vgl. auch TURNER, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M.: Campus 1989.

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Die liminale Phase, die der Protagonist durchläuft, wird stets durch die zweifache, in gleichbleibender Bewegung ablaufende Grenzüberschreitung des Schutzwalls begonnen und beendet. So bildet die Grenze für die bewegliche Figur kein unüberwindbares Hindernis, sondern wird für Paul zu einer steten Abfolge der Überschreitung, die er, an spezifische strikte Voraussetzungen gekoppelt, wie beispielsweise bestimmte Wachposten, bis zu seiner Ergreifung routinisiert durchführt. Im Ausgangsraum angekommen, gliedert sich der Protagonist wieder in diesen ein, ohne eine sichtbare Veränderung seiner Person oder seiner Stellung, um sie dann ein weiteres Mal zu überschreiten.19 Diese kreisförmige Bewegung – Camp, See, Camp – wird in unregelmäßigen Abständen, aber merklich häufig wiederholt und bildet damit ein ebenso gleichförmiges Verhalten wie die Praktiken im Alltag des Soldaten. Dass und in welcher Art Pauls Grenzüberschreitung letzteren entgegenläuft, zeigt sich indes, als Paul bei der Rückkehr von einem seiner Ausflüge zum See festgesetzt wird. »Ich stehe plötzlich im Scheinwerferlicht, ich komme mir vor wie ein aufgebrachtes gefährliches Tier, das ganze Sperrgebiet ist grell erleuchtet, Sirenen heulen, die Lichtschranke ist offensichtlich in den letzten Tagen repariert worden. Die Wachen sind alarmiert, haben mich entdeckt, richten ihre Gewehre auf mich.« (SV 170)

Das Schutzinstrumentarium der Gegenstände und Verhaltensweisen funktioniert nun im Zusammenspiel wieder im Sinne der Überwachungsmaschinerie, wird durch die plötzliche Sichtbarkeit symbolisiert20 und leitet Pauls Bestrafung ein. In einem Gespräch mit dem Kommandanten versucht Paul sein Verhalten zu erklären: »Ich sei über den Schutzwall geklettert, weil ich vom Turm aus einen Ziegenmelker gesehen hätte, erkläre ich. Das klingt so verrückt, dass der Kommandant sich interessiert zeigt und mich zumindest ausreden lässt. […] Der Kommandant hört aufmerksam zu, aber ich sehe ihm an, dass er mich nicht ernst nimmt. Er lächelt und sagt, ich solle mich besser um die Gesundheit meiner Kameraden bemühen.« (SV 170f.)

Die für den Protagonisten sinnvolle Erklärung für sein Verhalten wird nicht nur für den Rezipienten, sondern auch für das Soldatenkollektiv, an dieser Stelle repräsen19 Hier zeigt sich einer der grundlegendsten Unterschiede zwischen dem von van Gennep und Turner beobachteten und beschriebenen Verhalten und der literarischen Figur Paul: Die liminale Phase dient nämlich, so die beiden Soziologen, einer rituellen Wandlung, die bei der Wiedereingliederung in die Ursprungsgesellschaft eine Statusverschiebung mit sich bringt. Die Rückkehr Pauls indes hat nicht derlei Auswirkungen. Konsequenterweise können die liminale Phase und die damit verbundenen Riten laut van Gennep und Turner nur ein einziges Mal durchlaufen werden, der Protagonist hingegen wiederholt die Grenzüberschreitung mehrfach, weshalb sie zu einem stabilen Verhaltensmuster dieser Figur wird. 20 Foucault stellt in seinem Aufsatz »Der Panoptismus« fest, dass in einer panoptischen Anlage zwei Funktionen des Kerkers – das Verdunkeln und das Verbergen – umgekehrt werden. »Das volle Licht und der Blick des Aufsehers erfassen besser als das Dunkel, das auch schützte. Die Sichtbarkeit ist eine Falle.« (FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen, S. 257.)

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tiert vom Kommandanten, als schwer nachvollziehbar dargestellt, was Paul, der das Gespräch in seinem Tagebuch so abbildet, durchaus bewusst zu sein scheint. Pauls Verhalten wird in einer diskursiven Maschinerie eines binären Unterscheidungsschemas als Normabweichung, als ›anormal‹ bewertet und identifiziert.21 Neben zusätzlichem Dienst sowie einer Arrest- und Geldstrafe soll der Protagonist einen »Bericht über Gehorsam und Befehl« (ebd.) schreiben. Der Aufsatz dient offenbar als Mittel, Pauls abweichendes Verhalten zu modifizieren, durch das Aufrufen des Wissens- und Sagbarkeitsraums des Diskurses sein Verhalten wieder an das durch Regeln determinierte Verhalten des Kollektivs anzugleichen, damit er in der Gruppe seine Aufgabe erfüllen kann.22 Gezeigt wird so eine asymmetrische Disziplinarprozedur, die als Technik das Ziel verfolgt, »nutzbringende Individuen [zu] fabrizieren«23. Diese Disziplinierungsmaßnahme wird durch die offenbar rhetorisch gemeinte Frage des Kommandanten, warum die Bundeswehr Pauls Meinung nach in Afghanistan stationiert sei, unterstrichen. Seine Antwort ist ebenfalls aufschlussreich im Hinblick auf die vom Diskurs generierten Grenzen: »Ich antwortete genau das, was man uns erzählt hat: Wir verteidigen die Freiheit dieses Landes und die Freiheit der westlichen Welt.« (SV 171) Die Antwort mit dem in dem Tagebuch artikulierten Hinweis, dass es sich nicht um seine persönliche Meinung – nach der er ja vordergründig gefragt wurde – handelt, sondern um das von höherer Stelle auferlegte Wissen, zeigt zum einen die protonormalistische Strategie der Bildung des Normalfeldes im militärischen Diskurs. Als Antwort akzeptiert wird lediglich das, was von diesem Diskurs als sagbar markiert wurde. Zum anderen stellt es auch Pauls Wissen um die Grenzen des Sagbarkeitsraums und die damit einhergehende maximale Ausklammerung von Friktionsfaktoren sowie um die entsprechenden Erwartungen, die er erfüllen muss, heraus. In diesem Sinne kennt er nicht nur die Zwangsmittel, sondern wendet sie auch gegen sich an, wodurch er sie zugleich tradiert; er wird zum »Prinzip seiner eigenen Unterwerfung«24. So wird Paul als disponiertes Subjekt dargestellt, das sich im Diskurs dessen Regeln und Grenzen (wissentlich) unterwirft. Die mit dem Verstoß gegen die Lagerordnung verbundene Sanktionierung jedoch beschränkt sich nicht lediglich auf die vom Kommandanten auferlegte Strafe, sondern zeigt sich zugleich in den Praktiken der anderen Soldaten: Sie grenzen den Grenzgänger aus: »Die Kameraden meiden mich, tuscheln hinter meinem Rücken, in meiner Gegen21 Vgl. dazu ebd., S. 256: »Die hartnäckige Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Anormalen, der jedes Individuum unterworfen ist, verewigt und verallgemeinert die zweiteilende Stigmatisierung und die Aussetzung des Aussätzigen.« 22 Foucault hält im Zusammenhang der Funktionsumkehr der Disziplinen fest: »Die militärische Disziplin ist nicht mehr einfach ein Mittel, mit dem das Plündern, die Desertion und die Befehlsverweigerung verhindert werden sollen; sie wird zu einer technischen Voraussetzung dafür, daß die Armee nicht mehr als ein zusammengelesener Haufen existiert, sondern als eine Einheit, die gerade aus ihrer Einheit eine Steigerung ihrer Kräfte schöpft; die Disziplin vergrößert die Geschicklichkeit, beschleunigt die Bewegung, vervielfacht die Feuerkraft, erweitert die Angriffsfronten, ohne die Angriffskraft zu schwächen, stärkt die Widerstandskraft usw.« (Ebd., S. 270.) 23 Ebd., S. 271. 24 Ebd., S. 260.

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wart reden sie demonstrativ an mir vorbei, als sei ich nicht anwesend.« (SV 207) An diesem exkludierenden Verhalten offenbaren sich zwei Mechanismen. Zum einen wirken die Soldaten aktiv an der Formierung und den Strukturen dieses Disziplinarapparats mit; sie halten nicht nur das Verbot, das Lager nicht zu verlassen, ein, sondern strafen auch die Figur, die dagegen verstoßen hat, wodurch sie Paul nicht nur als das Andere stigmatisierend ausgrenzen, sondern auch das Eigene als Gruppenformation stärken. Zum anderen wird eine Hierarchisierung der Verstöße gegen die Lagerordnung aufgezeigt: Während der ebenso verbotene Alkoholkonsum der Bundeswehrsoldaten scheinbar keiner strafenden Regulierung bedarf, wird Paul vom Figurenkollektiv der Bundeswehrsoldaten gemaßregelt. So erscheint die Überschreitung der Grenze vom vermeintlich gesicherten Raum des Eigenen in das unsichere Fremde ein größerer Verstoß zu sein, der einer Sanktionierung bedarf, als das Trinken von Alkohol oder auch seiner Aufgabe als Wache nicht nachzukommen. Der Grund könnte darin liegen, dass in letzterem Fall mehrere Bundeswehrsoldaten beteiligt sind, bei der Grenzüberschreitung hingegen lediglich Paul als bewegliche Figur auftritt. Noch wichtiger scheint jedoch zu sein, dass Paul als Grenzgänger die Grenze nicht nur markiert und sichtbar macht, sondern auch die Ordnung der Bundeswehrsoldaten stört. Das Überschreiten der Grenze bezieht sich so nicht lediglich auf die geographische Grenze des Camps, sondern verletzt zugleich die restriktive Ordnung des Kollektivs. Das strafende Korrektiv kommt besonders in dem Verhalten von Julian, der sich mit Paul eine Stube teilt und später dessen Aufzeichnungen Helena gibt, zum Ausdruck: »Ich kann seinen Blick und sein Verhalten mir gegenüber kaum noch ertragen. Er sagt, er wolle nicht mit einem Deserteur, der ihm seine Karriere verderben könnte, das Zimmer teilen, droht mir, mich notfalls nachts am Bett festzubinden.« (SV 214) An dieser Stelle zeigt sich, dass Julians strafende Haltung, ebenso wie die des Kommandanten, auf ein bestimmtes Ziel, nämlich die Verhinderung von Pauls Grenzüberschreitung, ausgerichtet ist. Die Begründung lässt allerdings darauf schließen, dass es ihm dabei weder primär um Pauls Sicherheit noch um die des Lagers geht, sondern vor allem darum, seine eigene Karriere nicht zu gefährden. Während der Kommandant die Modifikation des Verhaltens durch das tradierende Wiederholen des diskursiv Sagbaren zu erreichen versucht, wird von Julian die zwischenmenschliche bzw. freundschaftliche Ebene angesprochen. Die Bezeichnung als ›Deserteur‹ hingegen zeigt deutlich, dass Julian nicht begreift, was Paul mit der Grenzüberschreitung bezweckt25 und steht darüber hinaus auch im Kontrast zu dessen Rückkehr, bei der seine zu dem Zeitpunkt bereits routinisierte Grenzüberschreitung ja überhaupt erst enttarnt wurde. Die stigmatisierende Bezeichnung macht jedoch zugleich deutlich, warum das Kollektiv Paul so hart bestraft und bildet die Negation des im Normalfeld generierten Soldatenbildes.

25 Julians Nicht-Verstehen in Bezug auf die stete, eskapistische Grenzüberschreitung von Paul wird auch direkt zu Beginn des Romans ersichtlich, als er mit Helena über Paul und seine Aufzeichnungen spricht. Er erläutert Helena in diesem Zusammenhang: »›Mein Kamerad wollte in Afghanistan immer zu einem See, der ein paar Kilometer von unserem Lager entfernt war, um dort Vögel zu beobachten. Das war eine fixe Idee von ihm, als gäbe es dort etwas Besonderes zu entdecken‹, meinte Julian.« (SV 34)

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Eine weitere in Pauls Tagebuch festgehaltene Szene verstärkt den Eindruck der Überwachungs- und Disziplinarmechanismen in dem Camp der Bundeswehrsoldaten. Paul, der sich mit dem in einem der Lagershops arbeitenden Afghanen Nassim angefreundet hat, zieht an verschiedenen Stellen Erkundigungen über dessen Verbleib ein, nachdem dieser einige Zeit nicht zur Arbeit erschienen ist. Der Protagonist beschreibt die Situation, die mit den einleitenden Worten: »Endlich kein Sonderdienst mehr« (SV 178) zeitlich unmittelbar mit seiner Strafe wegen des unerlaubten Grenzübertritts in Verbindung gebracht wird und damit zugleich das sanktionierende Korrektiv der Gruppierung der Bundeswehrsoldaten in Erinnerung ruft, wie folgt: »Ich habe mich zu oft nach Nassim erkundigt. Das ist wohl der Grund, weshalb ich zum Kompaniechef bestellt werde, der mich zu Nassim und meiner sexuellen Orientierung befragt. Er hat meine und Nassims Akte vor sich auf dem Tisch liegen.« (Ebd.) An dem, wenn auch unausgesprochenen, Verdacht der Homosexualität und der Befragung darüber können verschiedene Strukturen des Lagers, aber auch des Militärs insgesamt und des reproduzierten Soldatenbildes abgelesen werden. Einerseits wird eine lückenlose, dezentrierte Überwachungsmaschinerie inszeniert, da sich Paul nach eigenen Angaben nicht explizit bei dem Kompaniechef, sondern bei verschiedenen Personen über Nassims Verbleib informiert hat, dieser jedoch offenbar Kenntnis darüber besitzt. Andererseits – und damit durchaus zusammenhängend – zeigt sich hier die enge Verbindung zwischen Wissen und Macht. Das Wissen bezieht sich so nicht nur auf die Quellen von außen, die über Pauls Suche nach Nassim berichten, die Disziplinarmacht versucht auch, Pauls Verhalten zu registrieren und zu kategorisieren, indem sie Wissen von Paul selbst generiert. Mehr noch, von Paul wird verlangt, Rechenschaft über sich selbst abzulegen. Und gerade durch diese Forderung, die Wahrheit zu sagen, manifestiert sich die Macht: »Wenn ich über mich selbst wahr-sage, […], so konstituiere ich mich zu einem Teil durch eine gewisse Anzahl von Machtbeziehungen, die an mir ausgeübt werden und die ich an anderen ausübe, als Subjekt.«26 Die Vergegenständlichung dieses zusammengetragenen Wissens findet sich in dem Artefakt der Akten von Paul und Nassim. Die asymmetrische Machtbeziehung zeichnet sich demnach zwar durch das zunächst von Paul unbemerkte Formieren von Wissen über das unterworfene Subjekt27 aus, allerdings bleibt es nicht dabei: Die Wissensgrundlage, auf der die Macht basiert, wird demonstriert – in der übermittelten Kenntnis von Pauls Interesse an dem Verbleib von Nassim und objektiviert in der Akte –, obgleich sie unbestimmt bleibt und damit ihre eigentliche Machtentfaltung noch potenziert. Gezeigt wird damit eine dichotomische Lagerstruktur, die eine lückenlose Überwachung auf der einen Seite und das Sammeln von Wissen über die disponierten Subjekte auf der anderen Seite aufweist und so ihre hierarchische Macht-Wissen-Basis ausbaut. In diesem Konntext ist besonders prägnant, dass es bei der Unterredung zwischen dem Kommandanten, der den 26 FOUCAULT, Michel: Strukturalismus und Poststrukturalismus, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV. 1980-1988, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 521-555, hier S. 547. Vgl. dazu auch BUTLER, Judith: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 165f. 27 Vgl. FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen, S. 283.

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Protagonisten zu einem Gespräch ›einbestellt‹ hat und damit bereits das grenzdurchzogene asymmetrische Verhältnis zum Ausdruck bringt, und Paul um keine dienstliche, sondern eine private Angelegenheit geht – seine sexuelle Orientierung. Dies zeigt zum einen, dass das zu sammelnde Wissen auch den Bereich außerhalb des beruflichen Soldaten-Daseins tangiert und damit das Subjekt zumindest während seines Auslandsaufenthalts komplett durchleuchtet wird, was die Grenze zwischen beruflichem und privatem Bereich aufhebt. Zum anderen verweist die Frage nach seiner sexuellen Orientierung auf die von Judith Butler auf theoretischer Ebene mit Blick auf Foucaults Sexualitätsdispositiv28 und in dessen Weiterführung herausgearbeitete »Zwangsheterosexualität«29. In dem Versuch, Geschlecht30 als performativen Akt zu definieren, stellt Butler heraus: »Das ›Geschlecht‹ wird immer als eine unentwegte Wiederholung vorherrschender Normen hergestellt. Diese produktive Wiederholung kann als eine Art Performativität gedeutet werden. Die diskursive Performativität produziert offenbar das, was sie benennt, um ihren eigenen Referenten zu inszenieren, um zu benennen und zu tun, zu benennen und zu tun. […] Kein ›Akt‹ kann unabhängig von einer geregelten und sanktionierten Praxis die Macht ausüben, das zu produzieren, was er deklariert.«31

Relevant für diesen Kontext ist, dass die wiederholende Struktur der Praktiken hervorgehoben wird, die dann das produzieren, was sie eigentlich aussagen. Das Geschlecht dient so als durch Praktiken hergestellte Projektionsfläche für bestimmte Konnotationen und Zuschreibungen, die mit der Heterosexualität als dem Normzustand einhergehen: »Die Instituierung einer naturalisierten Zwangsheterosexualität erfordert und reguliert die Geschlechtsidentität als binäre Beziehung, in der sich der männliche Term vom weiblichen unterscheidet.«32 Diese von ›vorherrschenden Normen‹ – in diesem Fall die Aussagen der diskursiven Formation des Militärs – determinierten Praktiken zeigen, wie die Geschlechteridentität sein soll, was eine klar umgrenzte Entscheidung, Mann oder Frau zu sein, ein- und andere, uneindeutige Positionen ausschließt. Die (Gender-)Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ werden so als 28 Vgl. FOUCAULT, Michel: Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zur Wahrheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 77ff. 29 BUTLER, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 137. 30 An dieser Stelle soll die Diskussion, ob es eine (natürliche) Differenzierung zwischen den Geschlechtern gibt oder diese Kategorien auch lediglich kulturell hervorgebracht werden, wie Butler in ihrer Monographie Das Unbehagen der Geschlechter postuliert, nicht weiter verfolgt werden. Verwiesen wird in diesem Kontext lediglich auf: BENHABIB, Seyla/ BUTLER, Judith/CORNELL, Drucilla/FRASER, Nancy (Hrsg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Fischer 1993; DUDEN, Barbara: Die Frau ohne Unterleib. Zu Judith Butlers Entkörperung, in: Feministische Studien 11 (1993), S. 24-33; LINDEMANN, Gesa: Wider die Verdrängung des Leibes aus der Geschlechtskonstruktion, in: Feministische Studien 11 (1993), S. 44-54. 31 BUTLER, Judith: Körper von Gewicht, S. 154f. 32 BUTLER, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 46.

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Konstrukte enttarnt, die nicht gleichsam natürlich und homogen sind, sondern sich zuallererst durch performative Wiederholungen konstituieren.33 Auch wenn Butler keine Beispiele für ›Mann-Sein‹ bzw. ›Frau-Sein‹ anführt, ist doch entscheidend, dass es hier um eine Hervorbringung stereotyper Bilder geht, deren Charakteristika das jeweilige Geschlecht vermeintlich auszeichnen.34 Dies scheint besonders für das militärische Männlichkeitsideal zu gelten, das sich im 18. Jahrhundert in Preußen herausbildete und »mehr oder weniger ungebrochen bis Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts im Zentrum der kulturellen Genese männlicher Geschlechtsidentität [stand].«35 Obwohl soldatische Eigenschaften wie ›Kühnheit‹, ›Mut‹ und ›furchtloses Verhalten‹36 im Zuge der 68-Bewegung und der damit einhergehenden Kritik am Vietnamkrieg in den Hintergrund traten, können und werden diese Soldatenattribute scheinbar unmittelbar wieder abgerufen37 und konstituieren somit ein einheitliches Idealbild des männlichen Soldaten. Wenn der Protagonist Paul nun nach seiner sexuellen Orientierung befragt wird, kommt genau diese prozesshafte Hervorbringung von Geschlechtsidentität zum Ausdruck, die zugleich die vorherrschenden Normen aufdeckt. Die Akten als Wissens- und Informationsspeicher auf der einen und als implizite Drohgebärde auf der anderen Seite signalisieren somit nicht nur den Druck, unter dem Paul seine Antwort, die er selbst als Lüge bezeichnet, da er von einer auf ihn wartenden Theresa berichtet (vgl. SV 178), gibt, sondern verweisen auch auf die Techniken der Disziplinierung, denen das Subjekt innerhalb des Camps unterworfen ist und die das rigide Normalfeld in Bezug auf das Soldatenbild als heterosexueller Mann umgrenzen.

33 Vgl. VILLA, Paula-Irene: Judith Butler. Frankfurt a.M./New York: Campus 2003, S. 69ff. 34 Hirschauer stellt fest, dass »das Geschlecht eine der grundlegenden Kategorien ist, mit deren Hilfe sich Gesellschaften eine Ordnung geben. Diese These wird zumeist so verstanden, daß Gesellschaften den biologischen Geschlechtsunterschied auf je spezifische Weise so interpretieren und ausgestalten, daß er für Männer und Frauen zu einer sehr folgenreichen sozialen Wirklichkeit wird. Durch Zuschreibung von Tätigkeiten, Eigenschaften und Positionen an Frauen und Männern werden Handlungsspielräume, Machtressourcen und Verhaltensmöglichkeiten je nach Geschlechtszugehörigkeit abgesteckt.« (HIRSCHAUER, Stefan: Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem, in: Eifert, Christiane/Epple, Angelika/Kessel, Martin u.a. (Hrsg.): Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechtskonstruktionen im historischen Wandel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 240-256, hier S. 240.) 35 BERGMANN, Anna: Gewalt und Männlichkeit: Wahrnehmungsmuster des ›Fremden‹ und des ›Eigenen‹ in der deutschen Berichterstattung über den Afghanistankrieg, in: Thiele, Martina/Thomas, Tanja/Virchow, Fabian (Hrsg.): Medien – Krieg – Geschlecht. Affirmationen und Irritationen sozialer Ordnungen. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 153-172, hier S. 154. 36 Vgl. ebd., S. 161. 37 Vgl. ebd., S. 155.

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1.1.4 Der Afghanistankrieg – »ein lauerndes Tier mit tausend Fratzen« Die Darstellung des Einsatzes der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan in dem Roman Die Sprache der Vögel ist durch zwei Spezifika gekennzeichnet: Zum einen wird beinahe ausschließlich durch die Tagebucheinträge des Protagonisten von Kriegshandlungen berichtet, was bedeutet, dass es sich nicht nur um eine stark perspektivische Darstellung handelt, sondern diese zusätzlich Selektionsmechanismen unterworfen ist, deren Kriterien nicht deutlich werden, und die Ereignisse durch Strategien der Versprachlichung sowie der narrativen Glättung durch Paul vermittelt werden. Zum anderen ist die Figur dort als Sanitäter im Einsatz, wodurch weniger konkrete Kampfeinsätze und -strategien als vielmehr Verletzungen und Tod den Fokus seiner Wahrnehmung bilden. In diesem Sinne werden vornehmlich Angriffe auf Bundeswehrsoldaten beschrieben, deren Verletzungen er behandelt. Eine Besonderheit in der Beschreibung liegt in der Beiläufigkeit bzw. Alltäglichkeit, mit der diese in die Tagebucheinträge integriert werden. So schreibt Paul am 19. Mai 2003 beispielsweise, dass sein Antrag, das Camp verlassen zu dürfen, um an dem See an seinen Vogelstudien zu arbeiten, abgelehnt wurde. Direkt im Anschluss fährt der Protagonist fort: »Zwölf Kilometer vom Stützpunkt entfernt sind Kameraden mit Handwaffen und Panzerfäusten aus einem Hinterhalt beschossen und ein Polizeihauptquartier angegriffen worden. / Vielleicht werde ich niemals zum See kommen.« (SV 87) Neben dem Merkmal der Entgrenzung des Raums, die sich in der plötzlichen, überfallartigen Kampfstrategie der Angreifer zeigt, ist dieser Eintrag charakteristisch für Pauls Verarbeitung der Kriegsrealität insgesamt. Die Darstellung des Kampfes wird zum einen nur indirekt wiedergegeben – er selbst war ja nicht involviert – und zum anderen ist sie eingerahmt von dem Hauptmotiv der Vögel bzw. der Vogelbeobachtung, das jeweils den größten Teil der Tagebucheinträge einnimmt. In ähnlichem Ton, stets eingebettet in Natur- bzw. Vogelbeobachtungen oder, seltener, zwischen Gedanken seine Mutter oder Theresa betreffend, werden über den kompletten im Roman abgebildeten Zeitraum von Pauls Einsatz verschiedene Angriffe auf Konvois und Gefechte zwischen Soldaten und Taliban beschrieben, deren Konsequenzen stets Verletzte und/oder Tote sind.38 So erscheint der Kriegsalltag für den Protagonisten erträglicher, wenn er integriert ist in seine an Obsession grenzende Leidenschaft für Vogelkunde, wodurch diese als Flucht- oder Rückzugsstrategie lesbar wird. Mittels dieser beiläufigen, beinahe marginalisierenden Darstellung im Konnex mit dem oben bereits erwähnten Erzähltempus Präsens tritt der Effekt ein, dass das Kriegsgeschehen in seiner Besonderheit noch verstärkt wird. Potenziert wird dies dadurch, dass vor allem das in die Tagebucheinträge Eingang findet, was im Zusammenhang mit den Auswirkungen von Gefechten, also vornehmlich den Verletzungen, steht. So lässt sich in einem weiteren Eintrag nach einem kurzen Referat über Echsen die folgende Darstellung finden: »Sprengstoffanschlag in der Stadt. […] Ich springe aus dem Dingo, haste zu einem Bündel auf dem Gehsteig, ein Mann, vom Staub bedeckt. Die Explosion hat ihm die Kleider vom Leib 38 Vgl. bspw. SV 76, 87, 98, 145, 165, 192, 204.

142 | GRENZFALL KRIEG gerissen, ihn in zwei Hälften zerfetzt, seine Eingeweide verteilen sich um ihn, ein Bein hängt über seiner Schulter. Als ich mich neben ihn hocke, hebt und senkt sich sein Brustkorb; dann ist er mit einem Mal völlig reglos. Ich streife Latexhandschuhe über, sammle seine Körperteile auf, lege sie in eine Decke und trage sie zum Krankenwagen.« (SV 102f.)

Die verwendete Syntax und die Kürze der Sätze bzw. die Abtrennung durch Kommata weisen nicht nur auf den militärischen Habitus hin, sondern auch auf die Wahrnehmung der Geschehnisse und das seiner Tätigkeit als Sanitäter geschuldete schnelle Handeln. Anschaulich wird an dieser Passage, dass die geschilderte Grausamkeit nicht ausgeschmückt oder verschleiert wird, sondern ganz in medizinisch-sachlichem Ton gehalten ist. Dieser äußerst konzentrierte Stil ist damit vollkommen gegenläufig zu den Erläuterungen hinsichtlich der Tierwelt. Auch daran zeigt sich, wie unten näher erläutert wird, die vollkommene Differenz zwischen den Bereichen des Soldatenberufs und des laienhaften Naturforschers. Wiederholt deutlich wird in Pauls Beschreibungen der Auftrag der Bundeswehr, humanitäre Hilfe und Wiederaufbau in den Auslandseinsätzen zu leisten. So wird davon berichtet, dass die Soldaten die Arbeiten an einer Brücke sichern sollen (vgl. SV 190), dass sie Winterkleidung an die Bevölkerung verteilen und eine mobile Sprechstunde für Zivilisten einrichten (vgl. SV 196) oder dass sie eine Funkstation reparieren (vgl. SV 208). Neben diesen klar definierten Tätigkeitsfeldern wird indes an verschiedenen Stellen deutlich, dass die in Afghanistan stationierten Soldaten über viele Dinge nicht informiert werden. So schreibt Paul, dass fünf NATO-Soldaten getötet wurden, sie jedoch noch nicht wissen, »welcher Nationalitäten die Soldaten angehört haben, ein Zug unserer Einheit ist zu dieser Zeit dort auf Patrouille gewesen.« (SV 98) An anderer Stelle wird im Kontext eines Talibanangriffs auf Armeelastwagen vermerkt: »Wir erfahren nichts über Tote und Verletzte oder die Identität der Angreifer.« (SV 192) Während es dort um Kampfsituationen geht, in die Paul nicht direkt involviert ist, zeigt sich das ausgestellte Nicht-Wissen verstärkt, wenn das Ziel oder der Zweck von Einsätzen, an denen Paul selbst teilnimmt, dem Protagonisten nicht bekannt sind. Wenn er in einem Eintrag darüber berichtet, dass er mit einem Konvoi an die pakistanische Grenze fährt und in diesem Zusammenhang erwähnt, dass diese Gegend sehr gefährlich sei, da dort erst vor Kurzem eine Patrouille angegriffen worden sei (vgl. SV 131), jedoch nichts über den Grund für ihren Aufenthalt an der Grenze berichtet, kann dies der Tagebuchform geschuldet sein, da sich der Verfasser durchaus darüber bewusst sein kann, dies nur nicht verschriftlicht. Jedoch spätestens mit dem Tagebucheintrag vom 24. September 2003 wird die Wissenslücke dezidiert benannt: »Wir stehen im Morgengrauen auf, packen unsere Ausrüstung, gehen zu unseren Fahrzeugen. Ich bin froh, wieder aus dem Lager herauszukommen, auch wenn ich weder Ziel noch Zweck des Einsatzes kenne.« (SV 186) Diese Unkenntnis, in der sich Paul bedingt durch das Hierarchiegefüge befindet und die signifikanter Weise der Freude, aus dem Lager zu entkommen, nicht entgegensteht, wodurch das Fluchtmotiv aus dem routinisierten Alltag deutlich hervortritt, wird in dem gleichen Eintrag sogar noch gesteigert: »Wir machen uns auf den Rückweg ins Lager, ohne dass wir einen für mich erkennbaren Auftrag erfüllt hätten.« (SV 188) Die so ausgestellte potentielle Sinnlosigkeit dieser Fahrt in das umliegende Gelände wäre nicht nur aufgrund der unnötigen Gefahr, der sich die Bundeswehrsoldaten ausgesetzt haben, markant, sie wird überdies an verschiedenen

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Stellen in Bezug auf den Einsatz in Afghanistan insgesamt angedeutet. So wird vermehrt auf die mangelnden medizinischen Versorgungsmöglichkeiten der afghanischen Krankenhäuser hingewiesen (vgl. SV 76) und der Protagonist fasst nach einer Überschwemmung resignierend zusammen: »Es ist unmöglich, allen hier zu helfen.« (SV 213) Die Diskrepanz zwischen der benötigten Hilfe und dem, was die Soldaten leisten können, wird an dieser Stelle besonders anschaulich inszeniert und unterstreicht damit Pauls Zweifel an dem Ziel des Einsatzes und einer erfolgreichen Hilfestellung im Allgemeinen. Pauls Unwissenheit über die Planung der Einsätze, seine Resignation bezüglich des Einsatzes und die strafende Meidung des Figurenkollektivs der Soldaten fügen sich zu einem einheitlich negativen Bild zusammen. Zudem tritt vermehrt die Wahrnehmung von Gefahr in den Vordergrund. Dies manifestiert sich beispielsweise in der mit der Beschreibung der Routine und des Alltags, dessen Hauptmerkmal das Warten ist, verbundenen Überlegung Pauls, »was mich in dieses Land, in diesen Krieg geführt hat. Er kommt mir vor wie ein lauerndes Tier mit tausend Fratzen.« (SV 133) Besonders die ›tausend Fratzen‹ illustrieren die durch ständigen Wandel der Kriegsform und der Kampfstrategien hervorgebrachte Uneindeutigkeit des Krieges und des Gegners sowie die damit verbundene uneinschätzbare Gefahr für die am Krieg beteiligten Soldaten. Die Gebärde des ›Lauerns‹ des metaphorischen Tieres veranschaulicht zudem die Kampfstrategie der Taliban, die, wie an mehreren Stellen im Roman explizit beschrieben, plötzlich, aus dem Hinterhalt heraus angreifen und damit einen geordneten, vorausgeplanten Kampf für die Soldaten erschweren. Die so aufgespannte Atmosphäre der Bedrohung mündet in dem drittletzten Tagebucheintrag, in dem Paul festhält: »Es wird immer gefährlicher hier. Jeden Tag erreichen uns neue Schreckensmeldungen von Angriffen in der Region – meist sind jedoch einheimische Milizen oder Zivilisten betroffen.« (SV 222) Neben Pauls niedergeschriebener Wahrnehmung der Gefahr wird besonders an dem Zusatz des zweiten Satzes deutlich, dass er trotz des Auftrags, Unterstützung und humanitäre Hilfe zu leisten, die Grenze zwischen den Einheimischen und den internationalen Soldaten wahrnimmt. So wird sein binäres Denkschema, das die Menschen in zwei Gruppen einteilt – in das Kollektiv der Einheimischen und das der (internationalen) Streitkräfte – anschaulich. Zu der Darstellung des Krieges tragen neben den Tagebucheinträgen auch die Figuren, die sich in Deutschland befinden bzw. die durch sie vermittelte mediale Berichterstattung bei. So werden beispielsweise aus Helenas Perspektive Nachrichtenmeldungen erwähnt, die feststellen, dass der Krieg in Afghanistan immer gefährlicher wird (vgl. SV 181). Diese Aussage befindet sich im letzten Drittel des Romans und fügt sich so im Rezeptionsakt in Pauls gesteigerte Wahrnehmung von Gefahren ein. Durch die Anlage des Romans jedoch, die die Erzählebene von Pauls Tagebucheinträgen zeitlich deutlich vor Helenas einordnet, ist die medial fokussierte Gefahr nicht Pauls Gegenwart zugeschrieben, sondern der Zeit nach dessem Einsatz.39 Die gefahrenvolle Situation, die von dem Protagonisten beschrieben wird, wird demnach 39 Somit könnte es sich hier auch um eine Kritik an den medialen Darstellungen handeln, die im Gegensatz zu dem Protagonisten, der vor Ort ist, über die gefährliche Lage in Afghanistan erst viel zu spät berichten.

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noch gesteigert, was die vermeintliche Sinnlosigkeit des Einsatzes nur noch stärker fokussiert. Ein weiteres Beispiel für die im Roman angeführte mediale Berichterstattung zeigt sich in der Szene, in der Helena die losen Tagebucheinträge von Paul sortiert. Beim Betrachten der Vogelzeichnungen ist sie darüber erstaunt, »wie viele derart schöne Vögel es in Afghanistan gab. In den Nachrichten zeigten sie nur zerstörte Städte, Ruinen, staubige Straßen, auf denen hupende, klapprige Autos neben überfüllten Bussen fuhren, laute Musik aus Radios, dazwischen der an- und abschwellende Ruf des Muezzins.« (SV 71) Deutlich wird die Grenze zwischen dem, was Helena in Deutschland durch die Medien vermittelt wird, und der Wahrnehmung Pauls, der selbst in Afghanistan war. Pauls Perspektive zeigt auch die ›schönen‹ Seiten der Fremde, neben den zahlreichen Vögeln auch die bunten Gewänder der Frauen, die »im Wind flattern«, oder die spielenden Kinder (ebd.). Diese Beschreibung, die sich nicht in den vom Roman ausgestellten Tagebucheinträgen befindet, sondern durch Helena rezipierend angeführt wird, weist darauf hin, dass nicht nur eine Seite der Wahrnehmung existiert, sondern der Raum aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann. Damit wird zugleich eine kritische Haltung zur perspektivischen und selektierten Darstellung Afghanistans in den (deutschen) Medien, die sich besonders auf den Krieg und die damit verbundene Zerstörung konzentrieren, erkennbar. In der Fluchtlinie des so inszenierten binären Denkschemas kippt signifikanter Weise genau an dieser Stelle die Beschreibung des vornehmlich Schönen dann auch plötzlich in das Gegenteil um: »Sie roch orientalische Gewürze, modrige Viehställe, Angstschweiß, hörte Verwundete schreien, sah zerfetzte Menschenkörper auf der Straße liegen, Soldaten, ihre Waffen im Anschlag, durch Dörfer patrouillieren.« (SV 71) Damit werden von Helena eben diese beiden Seiten, vermittelt durch Pauls Tagebucheinträge, im Kontrast zueinander erzählt. Die so suggerierte ganzheitliche Perspektive auf den Kriegsraum stellt sich jedoch ebenfalls als ein schematisches Zwei-Seiten-Denken – das Friedvolle, Alltägliche auf der einen, das Grauenvolle, Kriegerische auf der anderen Seite – heraus. Die dadurch ausgestellten Räume des Normalen und des Nicht-Normalen werden durch eine Grenzlinie voneinander getrennt – möglich erscheint nur das eine oder das andere, wodurch eine Unbestimmtheit, ein Dazwischen ausgeschlossen wird, was zugleich die Funktion der Grenze, Teilräume definieren und verorten zu können, hervorhebt. Dem unübersichtlichen Kriegsgeschehen, das das Gefahrenpotential besonders stark erhöht, wird ein dichotomisches Denken entgegengesetzt, das ordnend kategorisiert. In diesem Sinne wird nicht nur die Grenze zwischen den daheimgebliebenen Deutschen und den in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten in Bezug auf ihre Perspektive und Erfahrung mit dem Krieg aufgezeigt, es offenbart sich hier auch ein Denken, das die Wahrnehmung lediglich in zwei Seiten einteilen kann. 1.1.5 Die (un-)begrenzte Sprache Die obsessiv betriebene Vogelbeobachtung kann als übergeordnetes Strukturmerkmal des Romans verstanden werden, das nicht nur Pauls Tagebucheinträge mit den Erzählungen über seinen Urahn Ambrosius Arimond bzw. dessen eigenen Schriften verbindet, sondern auch den Erzählstrang mit seinem Vater und peripher auch die Erzählung über seine Freunde Jan und Theresa. Die Reiseberichte von Ambrosius beinhalten dementsprechend vornehmlich die Beschreibung der Natur, die in überaus

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positiven Bildern ausgeschmückt wird, wie beispielsweise in Analogie zum Paradies, das in drei der vier Berichte genannt wird (vgl. SV 79, 99, 158). Außer diesem religiösen Terminus und dem Hinweis, dass Ambrosius sich auf einer Pilgerreise befindet (vgl. SV 80), wird (der christliche) Gott auch selbst erwähnt: »All das schlägt sich in mir mit den größten Entzückungen nieder und ich weiß Gott, dem Allmächtigen, nicht genug dafür zu dancken.« (SV 79) Die Eingliederung der Welt, auch des Fremdartigen, in »den Gedanken einer einheitlichen Ordnung des Schöpferganzen«40 ist ein typisches Gedankenkonstrukt für das 18. Jahrhundert, auch wenn teilweise der religiöse Absolutheitsanspruch verloren ging.41 Während das Christentum also als eigene praktizierte Religion Erwähnung findet, die die Wahrnehmung der Welt bestimmt, werden noch zwei weitere Religionen – der Buddhismus und der Islam – in den Reiseberichten erwähnt. Diese scheinen jedoch für Ambrosius nicht den gleichen Stellenwert wie das Christentum zu besitzen: Ersterer wird in seinen Notizen über eine Staue erwähnt, vor der er »staunend« (SV 79) verweilt, Letzterer, wenn er im Zusammenhang mit der Beschreibung Kabuls von Minaretten und dem »anschwellenden Rufe des Muezzins« (SV 136) berichtet. Die beiden anderen Weltreligionen werden so eher am Rande als zu dem Land zugehörige Artefakte (Statue, Minarette) oder Praktiken (Aufruf zum Gebet) beschrieben, die sich in die Darstellung des Fremden eingliedern. Die einheimische Bevölkerung wird mit einem forschend-überhöhenden Impetus als größtenteils arm, aber äußerst gastfreundlich charakterisiert, die Kinder als fröhlich (vgl. SV 99), die »reizvollen« (SV 136), »wunderhübschen dunkelhäutigen« Frauen als »Meisterinnen der Liebeskunst« (SV 137). Besonders mit der Schilderung der weiblichen Einheimischen schreibt sich Ambrosius Reisebericht in den (männlichen) Diskurs einer »Vorstellung des Orients als einer Welt von Sinnlichkeit, Geheimnis, Pracht und Exzess«42 ein. Auch das Verhalten der Einheimischen wird in dem gleichen überhöhend-positiven Bild gezeichnet: »Wundervolle Gärten, in denen sich die Bevölkerung einfindet, dort lustwandelt, sich um die Mittagszeit im Schatten der Akazienhaine zum Mahle niederläßt und in den Abendstunden Reiterspielen beiwohnet oder farbige Liebesund Glücksdrachen aufsteigen läßt.« (SV 136) So erinnern die Beschreibungen an die Konstruktion der Figur des ›edlen Wilden‹, die sich als Antagonist zum ›Barbaren‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildete, wenn an dieser Stelle auch

40 BITTERLI, Urs: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. 2., durchgesehene und um einen biographischen Nachtrag erweiterte Auflage. München: Beck 1991, S. 28. 41 Vgl. ebd. 42 STAMM, Ulrike: Die hässliche Orientalin. Zu einem Stereotyp in Reiseberichten des 19. Jahrhunderts, in: Bogdal, Klaus-Michael (Hrsg.): Orientdiskurse in der deutschen Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2007, S. 141-162, hier S. 141. In ihrem Aufsatz macht Stamm die interessante Feststellung, dass männliche und weibliche VerfasserInnen von Reiseberichten zu konträren Einschätzungen der orientalischen Frauen gelangen, wodurch »[d]as Bild der Orientalin […] zu einem umstrittenen Feld [wird], auf dem die Frage des Geschlechterverhältnisses und der normativen Weiblichkeitskonzeptionen auf der Folie der Alterität verhandelt werden.« (Ebd., S. 143.)

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nicht von einem ›Naturvolk‹ im Sinne Rousseaus43 berichtet wird. Bitterli beschreibt das Verhältnis der beiden Konstruktionen, die gleichermaßen auf einem ethnozentrischen Kulturbewusstsein fußen44, wie folgt: »Eine große Zahl der lobenden Attribute, welche das Bild des ›edlen Wilden‹ bestimmen sollten, gehen unmittelbar aus dem hervor, was man zuzeiten als Wesensmerkmale des Barbarentums zu erkennen glaubte: Einfachheit und Anspruchslosigkeit stehen in diesem Sinne komplementär zur Primitivität; Unschuld und Unvoreingenommenheit treten an die Stelle kindischer Unvernunft und Dumpfheit; Faulheit wird durch ruhiges Behagen, Gesetzlosigkeit durch natürliche Daseinsharmonie, Triebhaftigkeit durch unbesorgte Lebensfreude ersetzt.« 45

In diesem Sinne werden die Lebensweisen der Einheimischen beispielsweise nicht durch das Attribut der Faulheit charakterisiert, sondern im Gegenteil mit der positiven Eigenschaft eines genussvollen Lebens umschrieben. Das Fremde erscheint so freilich als äußerst verzerrt, allerdings doch als spiegelbildliche Darstellung des Eigenen.46 Zudem scheint es keine Verständigungsprobleme oder Sprachbarrieren zu geben, alle Handlungen der Einheimischen werden durch Beobachtung und Interpretation in die Beschreibung integriert.47 Zwar erwähnt Ambrosius mehrfach, dass er das Essen und die Verhaltensweisen nicht kennt, er kann sie allerdings stets nahtlos in seine Beschreibung eingliedern und so zu einem Ganzen sinnvoll zusammenfügen. Das Andere wird so mit den Kategorien des Eigenen beschrieben, wodurch der

43 Vgl. ROUSSEAU, Jean-Jacques: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Stuttgart: Reclam 2010. 44 Vgl. BITTERLI, Urs: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 374. 45 Ebd., S. 373. 46 In diesem Sinne stellt auch Peter Horn fest: »Das ›Fremde‹, das ›Exotische‹, ja das ›Barbarische‹ ist so nichts anderes als das auf andere Völker projizierte Eigene, dessen Existenz mit der Stringenz der Logik des Diskurses selbst aus dem Diskurs verdrängt und von ihm verleugnet wird.« (HORN, Peter: Die Erzeugung der Fremde in der Stringenz der Logik, in: Iwasaki, Eijir (Hrsg.): Begegnung mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Bd. 2. München: iudicium 1991, S. 21-28, hier S. 25.) 47 Jürgen Osterhammel macht im Zusammenhang der frühneuzeitlichen Reiseliteratur darauf aufmerksam, dass Reisende häufig »über Äußerungen von Einheimischen [berichten], die sie mangels Sprachkenntnisse und ohne Hilfe eines Dolmetschers nicht verstanden haben können. Sie setzen dann nicht selten Handlungen und Gebärden in berichtete Rede um, fügen dabei aber zwangsläufig eine eigene vereindeutigende Interpretation hinzu. Und fast überall dort, wo Europäer tatsächlich zuschauen, nehmen sie in der Regel auch als identifizierbar Fremde an der Situation teil und verzerren den natürlichen Kommunikationszusammenhang.« (OSTERHAMMEL, Jürgen: Von Kolumbus bis Cook: Aspekte einer Literatur- und Erfahrungsgeschichte des überseeischen Reisens, in: Maurer, Michael (Hrsg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin: Akademie 1999, S. 97-131, hier S. 127, Herv. i.O.)

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Identifikationsprozess mit dem Anderen gleichsam ›natürlich‹ erscheint.48 Die landschaftlichen Beschreibungen und die Charakterisierung der Bevölkerung malen so insgesamt einen einheitlichen, semantisch dominant positiv aufgeladenen Raum und erinnern an das in der Exotismusforschung für Reiseberichte aus dem 18. Jahrhundert ausgemachte Verhältnis zwischen Eigenem und Fremden, in dem entweder das Eigene oder, wie in diesem Fall, das Fremde in überhöht positiver Art und Weise beschrieben wird. In diesem Zusammenhang dienten die fremden Kulturen als »Projektionsfläche nicht nur der Ängste, sondern mehr und mehr auch der Wünsche und Sehnsüchte der Europäer.«49 Ambrosius Reise steht neben seinen eskapistischen Zügen (»er habe es nie an einem Ort lange ausgehalten« [SV 42]) in engem Zusammenhang mit seinen Vogelstudien, die er auf den Reisen anfertigt. Das bereits im ersten Romankapitel von dem Protagonisten Paul vermittelte Ziel seines Urahns sei die Niederschrift eines Alphabets aus Vogelgesang gewesen: »Jede Vogelart und ihr individueller Gesang waren für Ambrosius Buchstaben eines kryptischen Alphabets. Die Vogelgesänge soll er in einer selbst erdachten Schrift aufgezeichnet haben.« (SV 9) Die dahinterstehende und zugleich romantitelgebende Idee umfasst so eine einheitliche Sprache aller Vögel. Diese entgrenzende Vorstellung, die eben nicht die Unterschiede der einzelnen Arten fokussiert, sondern den Gesang als deren Gemeinsamkeit in den Mittelpunkt stellt, ist besonders bemerkenswert, da es der »Lieblingsbeschäftigung aufgeklärter Naturforscher« im 18. Jahrhundert, der Klassifikation,50 die ja gerade die Grenzen der einzelnen Arten abzustecken versucht, entgegenläuft. In seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache51 macht Johann Gottfried Herder jedoch deutlich, dass die »Sprache der Natur eine Völkersprache für jede Gattung unter sich [ist], und so hat auch der Mensch die Seinige.«52 Eine ähnliche Analogie auf Romanebene, die die Grenzen zwischen Menschen und Vögeln teilweise nivelliert und damit die beiden vergleichbar zu machen scheint, wird an anderer Stelle aufgegriffen: Die Vögel hätten nicht nur ebenso wie die Menschen am Boden eigene ausgebildete Straßen und Wege in der Luft, sondern darüber hinaus habe der Mensch seine Fähigkeit zu fliegen und zu singen lediglich verlernt: »Er [Ambrosius] behauptete, der Mensch sei ein Vogel, der nicht mehr fliegen könne, denn ein Vogel ohne Federn hätte eine Gestalt, die einem nackten, nach vorne gebeugten Menschen gleiche, unsere Haare bestünden ebenso wie Vogelfedern aus Kreatin und unsere Sprache hätte nur das Singen verlernt.« (SV 183)

48 Vgl. zur theoretischen Grundlegung: POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter 2005, S. 41. 49 PICKERODT, Gerhart: Exotismus, in: Weimar, Klaus (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin: De Gruyter 1997, S. 544-546, hier S. 544. 50 BITTERLI, Urs: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 214. 51 HERDER, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. V, hrsg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim: Olms 1967, S. 1-154. 52 Ebd., S. 8.

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Damit wird auf der Basis naturwissenschaftlicher Beobachtungen ein Zusammenhang zwischen Menschen und Vögeln hergestellt, der den Vogel als eine Art ›Urzustand‹ und den Menschen als dessen Weiterentwicklung entwirft. Ein derartiges Stufenmodell der Evolution, das durchaus auch mit der Sprache zusammenhängt, entwickelte auch Herder, der den Menschen an dessen oberer Spitze ansiedelt, wenn er auch nicht der Schöpfung »krönender Abschluß«, sondern vielmehr das »›verbindende Mittelglied‹ zu einer unsichtbaren Welt höherer Geisteskräfte [darstellt], in der sich die eigentliche Bestimmung des Menschen zur Humanität erfüllt.«53 Der Unterschied zum Tier liegt laut Herder nicht nur im aufrechten Gang des Menschen, sondern auch in der Sprache, die als das »Steuerruder unsrer Vernunft« und als »Himmelsfunken«54 charakterisiert werden. Zum stufenartigen Modell der Sprache der Tiere fährt Herder fort: »Unendlich schön ists, den Stufengang zu bemerken, auf dem die Natur vom stummen Fisch, Wurm und Insekt das Geschöpf allmälich zum Schall und zur Stimme hinauffördert. Der Vogel freuet sich seines Gesanges als des künstlichsten Geschäfts und zugleich des herrlichsten Vorzugs, den ihm der Schöpfer gegeben; das Thier, das Stimme hat, ruft sie zu Hülfe, sobald es Meinungen fühlet und der innere Zustand seines Wesens freudig oder leidend hinaus will.«55

Der Mensch hingegen habe zum einen die Fähigkeit, »alle Schälle und Töne« nachzuahmen, und zum anderen, Ideen und Gedanken in der Sprache zum Ausdruck zu bringen, was Herder zu dem Schluss bringt, dass die Sprache der erforderliche Ausgangspunkt für »Vernunft und Cultur«56 des Menschen ist. Neben der Differenzierung zwischen Tier und Mensch wird eine weitere Grenzziehung in dieses Gedankenkonstrukt integriert, nämlich dass die Menschen bzw. die Kulturen trotz dieses gemeinsamen Ursprungs untereinander ebenso nicht auf einer einheitlichen Entwicklungsstufe stünden, sondern gemäß den Umständen ihrer natürlichen Umgebung und ihrer geschichtlichen Entwicklung57 sich in verschiedenen Geschwindigkeiten auf die je nächst höhere Stufe begeben würden. So avanciert die Stufenpyramide im 18. Jahrhundert zu einem »Sinnbild einer vermeintlich natürlichen Hierarchie, die im (europäischen) Menschen gipfelt.«58 Aber im Gegensatz zu diesem Gedanken einer fortschreitenden Entwicklung, die bei Herder durchaus positiv konnotiert ist, scheint 53 BITTERLI, Urs: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 326. 54 HERDER, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. XIII, hrsg. v. Bernhard Suphan. Hildesheim: Olms 1967, S. 139. 55 Ebd., S. 140. 56 Ebd. 57 Vgl. HOFMANN, Michael: Humanitäts-Diskurs und Orient-Diskurs um 1780: Herder, Lessing, Wieland, in: Goer, Charis/Ders. (Hrsg.): Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850. München: Fink 2008, S. 3755, hier S. 46. 58 WEBER, Mirjam: Der »wahre Poesie-Orient«. Eine Untersuchung zur OrientalismusTheorie Edward Saids am Beispiel von Goethes »West-östlichem Divan« und der Lyrik Heines. Wiesbaden: Harrassowitz 2001, S. 41.

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Ambrosius, der eine Verbindung zwischen Vogel und Mensch konstruiert, diese nicht als erstrebenswert anzusehen. Vielmehr versucht er die vermeintlich verloren gegangenen Fähigkeiten der Vögel wiederzuerlangen, indem er nicht lediglich den Gesang der Vögel zu entschlüsseln, sondern auch mittels eines »Ornithopters« (SV 183) ihren Flug nachzuahmen versucht.59 Damit wird das Bestreben, die ursprünglichen Eigenschaften zurückzuerlangen, deutlich. Dass gerade im konstruierten Kulturraum des ›Orients‹60 die Vogelstudien betrieben wurden, mag zum einen daran liegen, dass, wie Pauls Vater konstatiert, hinter dem Hindukusch »das Land der Vögel« (SV 10) liege, bringt zum anderen aber auch die im 18. und 19. Jahrhundert etablierte Vorstellung zum Ausdruck, dass der Orient ein Ort des Ursprungs sei, und zwar in Bezug sowohl auf das Menschengeschlecht als auch auf die Sprache.61 So geht nicht nur Herder, wie oben bereits beschrieben, von Differenzierungen aus, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, auch Kant und Voltaire vertreten die Theorie der Monogenese. Ebenso wie der Mensch einen Ursprung hat, wird auch die Vorstellung einer ›Ursprache‹, die unmittelbar von Gott stammt, vertreten.62 Diese Denktradition eines einheitlichen Ursprungs kongruiert ebenso mit Ambrosius Idee, dass der Mensch die Gesangs-Sprache lediglich verlernt habe, wie mit der Annahme, dieses Alphabet auf seiner Überseereise vervollständigen zu können. Den Akt des Übersetzens, der bereits per definitionem eine Grenzüberschreitung, die mit Prozessen der Transformation einhergeht, darstellt, versuchte Ambrosius ebenso in einem anderen Kontext. Erwähnt wird im Zusammenhang eines Gesprächs mit seinem Vater von dem Protagonisten Paul, dass der Urahn im Zuge seiner Forschungsreisen auch mit der napoleonischen Armee reiste und gemeinsam mit dem Wissenschaftler Jean-François Champollion, wiederum eine Figur mit einer außerliterarischen Referenz, angeblich »das Geheimnis der ägyptischen Hieroglyphen entschlüsselt« (SV 42f.) habe. Damit werden auf der einen Seite der real-historische Hintergrund des Feldzugs Napoleon Bonapartes, der 1798 nach Ägypten führte, und auf der anderen Seite die damit verbundenen wissenschaftlichen Errungenschaften 59 Die Vorgehensweise, auf der Grundlage der Vogelbeobachtung und der Studie des Vogelflugs ein derartiges Fluggerät zu entwerfen, erinnert an Leonardo da Vinci, aus dessen Aufzeichnungen der erste überlieferte Ornithopter stammt (vgl. MOON, Francis C.: The Machines of Leonardo Da Vinci and Franz Reuleaux. Kinematics of Machines from the Renaissance to the 20th Century. Dordrecht: Springer 2007, S. 255f.). 60 Dieser Begriff wird unter der Kenntnis seines Konstruktionscharakters und der damit einhergehenden Konnotationen, die sich auf einem »Feld zwischen den Größen Alterität, Imagination, Repräsentation und Macht« (POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus, S. 39.) bewegen, verwendet und meint in diesem Zusammenhang vornehmlich einen konstruierten geographischen Raum, der in Verbindung mit kulturellen Grenzziehungsmechanismen ein relational Anderes hervorbringt. 61 Vgl. WEBER, Mirjam: Der »wahre Poesie-Orient«, S. 41. 62 Eine solche Ursprache wurde häufig im Hebräischen vermutet, »eine Annahme, in der sich Wissenschaft und Mythologie trafen: Die historische Erforschung von Sprache und Sprachfähigkeit der Menschen waren verquickt mit religiösen Ansprüchen und Interessen.« (Ebd., S. 44.)

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aufgerufen, die von einer die französische Armee begleitenden Gruppe von Wissenschaftlern zusammengetragen wurden.63 Hölz stellt heraus, dass die militärische Besitznahme der wissenschaftlichen Vereinnahmung entspreche und sich so in die Beobachtung Edward W. Saids, die er in seinem innerhalb der Postcolonial Studies zum Standardwerk avancierten Werk Orientalism beschreibt, einfüge, dass der Orientalismus als »westlicher Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient«64 fungiere.65 Durch diese zweifach geprägte Anspielung auf außerliterarische Referenzen wird damit nicht nur die Grenze zwischen den als Projektionsflächen dienenden Konstrukten ›Orient‹ und ›Okzident‹ aufgegriffen, sondern zugleich wird durch die Notwendigkeit einer Übersetzung der Hieroglyphen eine zeitliche Grenze markiert, die diese Schriftzeichen in den Teilraum des Vergangenen und sogar des Vergessenen verweist. Durch das Entschlüsseln der Schrift werden so die beiden Grenzen – zwischen den Kulturkonstruktionen und den Zeiträumen – zugleich überschritten, das Vergangene und Fremde wird zum Zweck eines forschenden Verstehens in das Eigene transformiert. Während es hier jedoch um die Aneignung bzw. wissenschaftliche Vereinnahmung einer anderen (menschlichen) Sprache und damit zugleich einer anderen Kultur geht, wird mit der ›Übersetzung‹ des Vogelgesangs eine andere Grenze, nämlich die zwischen Tier und Mensch, überschritten, was auf den Impetus vieler Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts hindeutet, dass mit rationalen (natur-)wissenschaftlichen Methoden, die vor allem auf »disziplinierte[r] Beobachtung und systematische[r] Beschreibung«66 basieren, die Schöpfung ergründbar sei: »Auf den Wissensgebieten von Physik, Botanik und Zoologie machte es vollends den Anschein, als böte jede eben gewonnene Einsicht den Ansatzpunkt zur nächsten – es war, als enthülle die Natur in jeder ihrer Erscheinungen eine innere Gesetzmäßigkeit, so daß sich demjenigen Betrachter, der aus bekannten Fakten logisch zu folgern wußte, der allgemeine Zusammenhang zuletzt verdeutlichen mußte.«67

Eine Annäherung an das Fremde oder sogar sein Verstehen und damit die Grenzüberschreitung zwischen den disjunkten Teilräumen ist nach dieser Auffassung allein 63 Vgl. HÖLZ, Karl: Verschleierte Welt und schweifender Blick. Der ästhetische Orientalismus bei Théophile Gautier, in: Böhm, Alexandra/Sproll, Monika (Hrsg.): Fremde Figuren. Alterisierungen in Kunst, Wissenschaft und Anthropologie um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 67-82, hier S. 67. 64 SAID, Edward W.: Orientalismus. Frankfurt a.M. u.a.: Ullstein 1981, S. 10. Auf die langlebige international geführte Diskussion, die sich an Saids Theorie des Orientalismus entzündete, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Lediglich verwiesen sei in diesem Kontext auf: POLASCHEGG, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter 2005; CASTRO VARELA, María do Mar/DHAWAN, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld: transcript 2015. 65 Vgl. HÖLZ, Karl: Verschleierte Welt und schweifender Blick, S. 67f. 66 OSTERHAMMEL, Jürgen: Von Kolumbus bis Cook, S. 122. 67 BITTERLI, Urs: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹, S. 212.

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aufgrund rationaler Überlegungen möglich, da dem Fremden eine ›Gesetzmäßigkeit‹ und damit eine spezifische Form des Sinns zugeschrieben wird. Auch wenn diese anders geartet sein sollte als die bekannte, ist sie doch mit dem Raster und Kategorienschema des Eigenen erklärbar. Signifikanter Weise wird einerseits nur von der Figur Paul über die Aufzeichnungen des Vogelalphabets, das Ambrosius angefertigt haben soll, gesprochen – sie werden in den vier kurzen Reiseberichten des Urahns selbst nicht erwähnt – und andererseits sind diese Manuskripte nicht überliefert worden, sodass durch den Lauf der Zeit nur noch in mündlicher Familientradition davon berichtet werden kann. So entfällt die Möglichkeit, die vermeintliche Vogelsprache zu ›übersetzen‹, sie fällt damit wieder in den Status des (unverständlichen) Gesangs zurück. Die durch Sprache ausgedrückten Gedanken der Vögel, die Ambrosius durch die Idee einer Kommunikation mittels eines einheitlichen Alphabets ja deutlich unterstellt, und generell die Sinnverleihung des Gesangs sind somit nichtig, der Versuch der sprachlichen Grenzüberschreitung ist gescheitert. Zudem weisen die Erzählungen über Ambrosius stets einen mythisch anmutenden Charakter auf, was sich nicht nur in den fehlenden Beweisen für die Aufzeichnungen zu der Sprache der Vögel, sondern auch in einer deutlich vernehmbar kritischen Haltung des Protagonisten, die sich zum Beispiel in dem Wort »angeblich« (SV 42) oder auch in der Randbemerkung »[i]ch weiß nicht, was an diesen Geschichten wahr ist, ob Vater selbst daran geglaubt hat« (SV 10) manifestiert, und zusätzlich in der Erzählung über sein Verschwinden – Ambrosius stirbt nicht, sondern baut sich im hohen Alter einen scheinbar funktionstüchtigen Ornithopter und entschwindet wie ein fliegender Vogel: »Als die Dörfler in den Himmel blickten, glaubten sie, ihn dort schweben zu sehen, von den Aufwinden getragen, sich höher und höher schraubend, bis er im Himmel verschwunden war.« (SV 184f.) Durch die hervorstechend positive Beschreibung Afghanistans und der afghanischen Bevölkerung sowie der vermeintlichen Erforschung der Sprache der Vögel entwerfen die Reiseberichte von Ambrosius nicht nur einen literarischen Raum des Wunderbaren, sondern bilden zugleich auch eine Kontrastfolie zu den Tagebucheinträgen des Bundeswehrsoldaten Paul über seinen Auslandseinsatz. Denn obwohl Ambrosius und Paul sich in dem gleichen Raum befinden und ein stark ausgeprägtes Interesse an der Beobachtung von Vögeln haben, stehen sich die Darstellungen diametral gegenüber. In Bezug auf den Aspekt der Sprache zeigt sich diese Diskrepanz besonders deutlich. Während Ambrosius nicht nur die Sprache einer fremden, längst vergangenen Kultur angeblich entschlüsselte, sondern auch die von Tieren, und damit versuchte, durch Sprache Sinn auszumachen und letztlich auch zu verstehen, ist der Bundeswehreinsatz gerade von einer Sprachlosigkeit, einem Sprachverlust geprägt. Ähnlich wie Ambrosius vermutet auch Paul in dem Gesang eine Art Sprache der Vögel, die sich dadurch auszeichnet, dass sie »umfassend und bleibend« (SV 131) ist, beschreibt aber an anderer Stelle, das der Sumpfrohrsänger auf seiner »Wanderschaft viele andere Vogelsprachen lernt, alle Sprachen jener Länder, durch die er zieht – ein polyglotter kleiner Gesangskünstler.« (SV 117) Damit wird deutlich, dass Paul in dem Gesang durchaus eine Sinnvermittlung ausmacht, jedoch nicht wie Ambrosius an der Vorstellung einer Universalsprache festhält, sondern vielmehr die durch die Vogelart hervorgebrachten Grenzen fokussiert, die sich dann auch in ihrer ›Sprache‹ offenbaren. Zudem stellt Paul einen Vergleich zwischen der ›Sprech-

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praxis‹ der Vögel und der der Menschen an: »Unser Leben ist nicht wie das der Vögel, wir können uns nie so sicher sein wie sie. Unsere Sprache vergeht, wir treffen nie die richtige Melodie, weil unsere Gedanken und Gewohnheiten sich zu schnell ändern.« (SV 117f.) Während Ambrosius also daran festhielt, dass die Menschen das Fliegen und Singen lediglich verlernt hätten und damit impliziert, dass diese Fähigkeiten wiedererlangt werden könnten, wird in Pauls kontrastivem Vergleich von Vogel und Mensch deutlich, dass der Mensch im Gegensatz zum Vogel mit seiner Sprache eben nicht seine Gedanken äußern könne. Eine Sinnübermittlung scheint damit nicht gewährleistet zu sein. In diesem Zusammenhang stellt sich auch der Tagebucheintrag vom 22. Mai 2003 dar. Paul, der im Handlungsverlauf bereits seit über einem Monat in Afghanistan stationiert ist, hält fest: »Irgendjemand redet immer, wir können nicht schweigend in unseren Betten liegen, vielleicht weil wir so weit von zu Hause entfernt sind, weil sich unsere Gerüche durch die Klimaanalage zu einem einzigen Brei vermischen und wir in der Dunkelheit nicht mehr wissen, wer wir sind, als müssten wir uns durch ständiges Reden vergewissern, dass wir leben und nicht viele verschiedene, im Grunde ichlose Wesen sind, die in einem riesigen Vogelschwarm durch die Dunkelheit fliegen.« (SV 92)

Die Sprache wird hier nicht in der Funktion einer Sinnvermittlung beschrieben, es geht nicht darum, Gedanken und Ideen in gesprochene Sprache zu transformieren, um sie so einem anderen Menschen zu transportieren, sondern die Sprache wird als Instrument der Selbstwahrnehmung, der Selbstvergewisserung eingesetzt. Zugleich bringt die Praktik des Sprechens eine identitätsstiftende Grenze zwischen den einzelnen Soldaten hervor, die die Erkenntnis, ein ›ichloses‹ Wesen zu sein, verhindern soll. Gerade im Zusammenhang mit den Gefahren des Krieges und speziell mit dem Soldatenberuf, in dem die Soldaten zu einer uniformen Masse zusammenwachsen sollen, scheint eine Grenzziehung des Subjekts besonders wichtig zu sein, wofür die Sprache gleichsam als Schutzwall für den Einzelnen genutzt wird. Paul indes stellt hier noch eine weitere Überlegung an: »Ich darf ihnen nicht alles erzählen, denke ich, denn wenn ich alles erzähle, verschwindet es hinter den Worten.« (SV 92) Diese Aussage bzw. Befürchtung Pauls kann man, wie bereits der Vergleich der ›Sprachen‹ von Vögeln und Menschen verdeutlichte, als eine Art Sprach-Pessimismus deuten: Durch die Sprache konstituiert sich nur bis zu einem gewissen Grad eine umgrenzte Ich-Identität, wenn jedoch ›alles‹ durch Sprache offenbart wird, es damit keine Grenze mehr zwischen Gesagtem und Ungesagtem gibt, löst sich das Subjekt auf. Dies kongruiert mit der scheinbar grenzenlosen Überwachungsmaschinerie, die alle Soldaten innerhalb des Camps zu disponierten Subjekten macht, indem eine MachtWissen-Basis aufgrund von Informationen (die sprachlich vermittelt werden) über die Soldaten ausgebaut wird. Entscheidend ist hier, eben nicht alles zu offenbaren, um einen gewissen Schutz aufrechtzuerhalten. Damit ist ein vollständiges SichMitteilen durch Sprache nicht möglich. Ebenfalls im Zusammenhang mit Sprache bzw. Sprachlosigkeit und Krieg stehen diejenigen Soldaten, von deren einsatzbedingten Veränderungen Paul in seinen Tagebüchern berichtet. Julian beispielsweise erzählt Paul von der Natur und den Tieren, die er während einer Mission gesehen hat, sowie von einem Jungen, der als »lebende Vogelscheuche« (SV 194) den ganzen Tag damit verbrachte, Krähen zu

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vertreiben. »Julian weint fast, als er das erzählt. Irgendetwas muss passiert sein, Julians Hände zittern.« (Ebd.) Deutlich wird hier, dass Julians Erzählungen eben nicht das ausdrücken, was ihn bewegt, er hat oder findet keine Sprache für das, was er erlebt hat und erzählt stattdessen Belanglosigkeiten. Er kann das Erlebte jedoch außerhalb der Sprache anscheinend nicht verarbeiten, Paul hält in seinem Tagebuch fest, dass er ihn nachts schluchzen hört. Julians Sprachlosigkeit schlägt dann in Gewalt um: Im darauffolgenden Tagebucheintrag berichtet Paul, dass Julian, nachdem er von seinem »unerlaubten Ausflug« (SV 195) gehört hat, ihn brutal zusammenschlägt. Ein anderer Soldat, der ebenfalls eine signifikante Wesensveränderung durchläuft, ist Oliver Levier, ein Informationsoffizier: »Sergej hat mir gesagt, Leviers Einheit sei für den Einsatz der Drohnen zuständig und arbeite mit den Amerikanern zusammen. Die meisten seien Piloten oder Informatiker, deren Aufgabe darin bestünde, die Flugrouten zu programmieren oder Drohnen zu steuern.« (SV 70) Der Container der Informationseinheit selbst ist innerhalb des durch Grenzen umschlossenen Raums des Camps noch zusätzlich durch »Schanzwälle und Rolldraht« (SV 109) separiert und nur Stabsoffiziere haben hier Zugang, wodurch die spezifischen Ausschließungsmechanismen sowohl in den Gegenständen als auch in dem Verhalten deutlich zu Tage treten. Das Motto dieser Einheit steht gleich an der Mauer des Areals: »scientia potestas est« (ebd., Herv. i.O.). Die Schrift als Grenzsymbol verweist nicht nur auf die Grenze innerhalb des Soldatenkollektivs, die sich in der Aufgabe der Informationsbeschaffung offenbart, sondern zugleich auch auf die Verbindung zwischen Wissen und der mit der Kampfstrategie verbundenen Technik. Bedeutend und zugleich ironisch in diesem Zusammenhang ist, dass gerade Levier, dessen Auftrag in der Informationsbeschaffung und damit Wissens- und Machtvermehrung liegt, den Verstand verliert. Sein gewandeltes Verhalten zeigt sich unter anderem an den Selbstgesprächen, die der Protagonist beschreibt: »Ich höre, wie Levier Selbstgespräche führt, manchmal leise flüsternd, dann laut schreiend, als würde er sich selbst beschimpfen.« (SV 203) Auch an dieser Figur, über die gegen Ende des Romans berichtet wird, dass sie »eines Morgens heimlich weggebracht worden [sei]« (SV 208), wird deutlich, dass die Sprache die Funktion einer Sinnvermittlung nicht mehr besitzt. Es werden zwar noch Worte artikuliert, jedoch können diese nicht mehr transportieren, was ausgedrückt werden soll. Bezeichnenderweise fehlt Levier zudem der Gesprächspartner. Besonders die mit den neuen Kriegen verbundene Kampfstrategie des raumentgrenzenden Drohnenangriffs mit der dazugehörigen Informationsbeschaffung soll einen ›sauberen‹ Krieg, d.h. eine militärische Situation mit möglichst wenig zivilen Opfern, gewährleisten.68 Der Roman jedoch 68 So hält Herfried Münkler in Bezug auf den Einsatz von Kampfdrohnen fest: »Sie [die Kampfdrohne] ist die Waffe, die den Starken ihre verlorene Stärke zurückbringen soll, und sie tut das, indem sie ihnen Zeit verschafft. […] Die Attacke erfolgt überfallartig, und der Attackierte hat keine Chance zur Gegenwehr. Es ist kein Kampf zwischen Kriegern, sondern das Ausschalten eines als gefährlich eingestuften Feindes, nach dem man über lange Zeit Ausschau gehalten und den man nunmehr gestellt hat.« (MÜNKLER, Herfried: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt 2015, S. 197.)

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zeigt mit dieser Figur die andere Seite dieser Strategie auf: Die Soldaten können durch diese Art der Kriegsführung ebenso psychische Schäden davontragen, wie diejenigen, die sich physisch in ein Krisengebiet begeben, wie beispielsweise Julian. Die Unfähigkeit sich zu artikulieren, sich durch Sprache auszudrücken, verbindet damit alle Soldaten des Romans. So verliert auch der Protagonist selbst seine Fähigkeit zur Sprache, als er die Nachricht über den Tod seines Freundes Jan erhält und aus Kummer abermals die Grenze des Camps überschreitet und daraufhin den toten Afghanen Nassim in dem See findet (vgl. SV 227). Während dieser Zeit, in der Paul »scheinbar ziellos durch Afghanistan geirrt« (ebd.) war, schrieb er weiter Tagebucheinträge, die jedoch nicht in dem Roman enthalten sind, sondern auf die lediglich durch Helena verwiesen wird: »Aufzeichnungen, die sie [Helena] nicht verstand, die Paul offensichtlich im verwirrten Zustand geschrieben hatte, nachdem er das Lager verlassen hatte.« (Ebd.) Somit gelangt trotz des Versuchs der Transformation der eigenen Gedanken in Worte die Sprache an ihre Grenzen, sie transportiert keinen intersubjektiven Sinn mehr. Dies findet in dem vorletzten Kapitel noch seine Potenzierung, denn über den Anschlag, dessen Opfer Paul geworden ist, gibt es keinen Tagebucheintrag mehr, er kann nicht über das ihn selbst betreffende Geschehen schreiben, es scheint, als versage im Angesicht des Todes die Sprache vollkommen. Diese Funktion übernimmt die Deutsche Presse-Agentur, deren Bericht von der Detonation der Autobombe das vorletzte Kapitel des Romans bildet. So kann Paul in der Opferrolle nicht mehr für sich/über sich selbst schreiben, das Attentat wird durch die außenstehende Instanz der Medien vermittelt, deren perspektivische Sicht in dem Roman zuvor bereits implizit kritisch beleuchtet wurde. Neben diese Figuren, die durch ihren militärischen Einsatz ihre Sprache verlieren bzw. in ihr nicht mehr das Wesentliche auszudrücken vermögen, tritt eine ganz allgemeine Erkenntnis, die im Roman bereits zu Anfang von Julian artikuliert wird, durch die verschiedene Zeitebenen integrierende Anlage jedoch eine Aussage ist, die Julian erst nach seinem Auslandeinsatz formuliert und daher aus dieser Erfahrung resultiert. Auf Helenas Frage, ob Julian ihr etwas über Afghanistan berichten würde, antwortet er: »›Es hat nicht viel Sinn, jemandem, der nicht dort gewesen ist, davon zu erzählen.‹« (SV 32) Diese pessimistische Haltung gegenüber der Funktion der Sprache als Sinnvermittler fokussiert deutlich die Grenzen der Sprache im Kontext des Krieges im Allgemeinen. Der Krieg erscheint so als nicht vermittelbar, er kann nur erlebt werden, und wer ihn erlebt hat, kann Außenstehenden nicht darüber berichten. Damit wird zugleich eine weitere gruppenkonstituierende Grenze zwischen Soldaten, die den Krieg erlebt haben, und allen anderen gezogen. Eine Grenzüberschreitung, so offenbar Julians Einschätzung, kann durch Sprache nicht zustande kommen. Die Grenze ist eine Linie, die nur durch das eigene Erleben überwunden werden kann. Dass eine Figur eine solche Aussage zu Beginn eines Romans, der den Bundeswehreinsatz in Afghanistan thematisiert, artikuliert, verweist auch auf die Grenzen der Möglichkeiten literarischer Reflexion und Verarbeitung eines solchen gegenwärtigen Phänomens. Und so wird an zahlreichen Stellen nicht nur der Sinn des (Afghanistan-) Krieges kritisch hinterfragt, sondern auch eine Sinnvermittlung durch Sprache überhaupt. Einer postulierten allgemeingültigen Sprache aller Vögel steht das Unvermögen gegenüber, das Kriegsgeschehen in Sprache zu fassen. Ein Ausweg aus dieser scheinbar unüberbrückbaren Divergenz, so machen die verschiedenen Arten der

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Paratexte des Romans deutlich, findet sich in der Aufhebung der Grenzen zwischen Fakt und Fiktion sowie in der Innenansicht, die durch die Tagebucheinträge als »Mittel zur Kommunikation mit sich selbst«69 zum Ausdruck kommt. Beides macht ein Erzählen vom Krieg überhaupt erst möglich. Aber auch hier sind es gerade die Lücken und Brüche, die sich nicht zuletzt darin zeigen, dass Helena als Figur, die den Krieg nicht selbst erlebt hat, einige Stellen aus Pauls Tagebuch zusammenfassend erzählt oder auch diese Einträge erst in einer bestimmten Reihenfolge arrangiert, die einer einheitlichen und sinnhaften Narration entgegenstehen. Ebenso kann in diesem Zusammenhang der häufige Perspektivwechsel gelesen werden, der darauf aufmerksam macht, dass es eben nicht nur einen Blickwinkel auf das Kriegsgeschehen gibt. Damit schreibt sich der Roman insgesamt in die Diskussion um die Möglichkeiten einer originalgetreuen Abbildung der Wirklichkeit ein und negiert eine solche Vorstellung sowohl auf formal-ästhetischer als auch auf figuraler Ebene. So erweist sich das Erzählen über den Krieg wie die Einstellung eines Fernglases, in der es »eine winzige Spanne [gibt] zwischen absoluter Schärfeneinstellung und dem Verwischen der Konturen – ein Moment, vergleichbar dem zwischen Wirklichkeit und Traum, Erinnern und Vergessen.« (SV 96)

69 GÖRNER, Rüdiger: Das Tagebuch. Eine Einführung. München/Zürich: Artemis 1986, S. 11.

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1.2 »S OLANGE

ES AFGHANISTAN GIBT , IST NIEMAND UNSCHULDIG .« D IRK K URBJUWEITS K RIEGSBRAUT

1.2.1 Inhalt Kriegsbaut70 von Dirk Kurbjuweits ist der erste deutschsprachige Roman, der seit der Öffnung aller Bereiche der Bundeswehr für Frauen 2001 eine deutsche Soldatin in den Mittelpunkt der Handlung stellt. Nach ihrem Studium und einigen beruflichen Umwegen und gescheiterten Beziehungen entscheidet sich die Protagonistin des Romans, Esther Dieffenbach, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten, wo sie als Fernmelderin arbeitet. Zu diesem beruflichen Wechsel der gelernten Informatikerin hat auch die Aussicht beigetragen, während ihrer Bundeswehrlaufbahn nach Afghanistan geschickt zu werden. Eben hier spielt auch der Hauptteil des Romans. Neben dem Erzählstrang, der ihr Leben innerhalb des Lagers und das in diesem Zusammenhang maßgebliche Verhältnis zwischen den männlichen Bundeswehrsoldaten und ihren Stubenkameradinnen auf der einen Seite, aber auch das zwischen den deutschen Soldaten und Soldatinnen und den kämpfenden internationalen Streitkräften auf der anderen Seite beinhaltet, wird parallel die sich außerhalb des Lagers ereignende Liebesgeschichte zu dem Schuldirektor Mehsud, dessen Schule die Bundeswehr schützt, damit auch Mädchen am Unterricht teilnehmen können, gezeichnet. Diese Komposition der Erzählung verweist bereits auf eine Grenze, die Esthers Leben während ihres Auslandsaufenthaltes in zwei Bereiche teilt: den Soldatenalltag innerhalb der Kaserne und die Liebe außerhalb. Auf einem der Rückwege von der Schule zum Bundeswehrstützpunkt wird der Konvoi angegriffen und Esther, die bei dem Angriff als einzige unverletzt bleibt, kämpft gegen die den Anschlag verübten Taliban. Nachdem durch amerikanische Hilfe das Gehöft, in dem sich die Terroristen verschanzt hatten, beschossen wurde und die Taliban getötet wurden, ist ersichtlich, dass auch Zivilisten – eine Frau und zwei Kinder – umgekommen sind, was einen Aushandlungsprozess der Schuld in der Protagonistin auslöst. Zusätzlich scheitert am Ende des Romans ihre Liebesbeziehung zu Mehsud, als Esther herausfindet, dass er verheiratet ist. So zeigt der Roman Kriegsbraut in verschiedenen Zusammenhängen Grenzen auf, die ein komplexes, ineinander verwobenes Grenzgefüge entstehen lassen: Die einzelnen Grenzen werden oftmals nicht auf einen Bereich beschränkt, sondern verweisen stets auch auf andere Kontexte. In diesem Sinne stellt die Grenze zwischen Streitkräften und Einheimischen beispielsweise nicht nur die Differenz zwischen Kombattanten und Non-Kombattanten aus, sondern zugleich auch die zwischen verschiedenen kulturellen Konventionen. Trotz vordergründiger Annäherungen kann die Grenze nicht überschritten werden, sie bleibt stets bestehen und trennt die Figurenkollektive voneinander. Die Vorstellung eines Dazwischen, eines

70 Die folgende Ausgabe wird mit der Sigle KB und der entsprechenden Seitenzahl im Fließtext zitiert: KURBJUWEIT, Dirk: Kriegsbraut. Roman. Berlin: Rowohlt 2011.

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dritten Ortes, eines Umschlagplatzes und einer Zirkulationsstätte der Kulturen71 wird hier negiert. Auch Esthers und Mehsuds Liebesbeziehung, die im Volksmund alle Grenzen überwinden kann, veranschaulicht die Differenz der Kulturen explizit und vermag diese nicht zu übertreten, vielmehr wird ihr Scheitern inszeniert. 1.2.2 Formale Grenzen Der Autor des Romans, Dirk Kurbjuweit, ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch seit Jahrzehnten als Journalist unter anderem für die Wochenzeitungen Die Zeit und Der Spiegel tätig. In diesem Zusammenhang hat er ein Jahr vor Erscheinen des Romans Kriegsbraut den Essay Die Zähmung der Bestie72 über den auch den Hintergrund des Romans umfassenden Afghanistankrieg veröffentlicht. Hierin entwickelt er eine Argumentationslinie, die das Verhältnis von der Staatsform der Demokratie zum Krieg auch unter Berücksichtigung der historischen Perspektive beleuchtet und zu dem Schluss kommt, dass sowohl der Krieg in Afghanistan im Allgemeinen als auch die deutsche Beteiligung daran im Speziellen gerechtfertigt seien. Zudem dürfe die NATO und damit auch die Bundeswehr trotz der Anzahl der gefallenen deutschen Soldaten, die, wie Kurbjuweit betont, im Vergleich zu anderen Kriegen recht gering ausfällt, Afghanistan noch nicht verlassen: »Wenn die Nato jetzt abzieht, ohne für eine halbwegs gute Ordnung gesorgt zu haben, hat sie die erste Runde eines grundlegenden Konflikts verloren. […] Es gibt gute Gründe, diesen Krieg noch nicht zu beenden.«73 Durch diesen Essay bezieht er öffentlich eine starke politische Position. Dies ist hinsichtlich seines poetologischen Konzeptes besonders beachtenswert, da Kurbjuweit hier erläutert, dass »[s]chriftliche Erzählungen […] immer in einem komplexen Verhältnis zur Wirklichkeit [stehen], ob es nun Reportagen sind, Sachbücher, Romane oder Notizen auf Facebook.«74 Damit entsteht laut Kurbjuweit durch das Medium der Schrift eine diese ganz unterschiedlichen Textformen verbindende spezifische Grenzüberschreitung. Ihnen gemeinsam ist zudem, so der Autor weiter, dass sie »eine Version der Realität [darstellen], die einen Anspruch auf Gültigkeit erhebt, ohne letztlich gültig sein zu können, gültig im Sinne von wahr.«75 Der Aspekt der Fiktionalität wird somit nicht nur der Literatur, sondern auch anderen Schriften zugesprochen, wodurch seine Arbeiten als Journalist und als Romancier miteinander verbunden werden. Durch die zahlreichen Referenzpunkte, die unter anderem aus eigener Anschauung entstanden sind – Kurbjuweit war mehrere Male selbst in Afghanistan – entwickelt sich der das literarische Werk prägende realistische Schreib-

71 Vgl. HOHNSTRÄTER, Dirk: Im Zwischenraum. Ein Lob des Grenzgängers, in: Benthien, Claudia/Krüger-Fürhoff, Irmela Marei (Hrsg.): Über Grenzen. Limitation und Transgression in Literatur und Ästhetik. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 231-244, hier S. 232. 72 KURBJUWEIT, Dirk: Die Zähmung der Bestie. Über das schwierige Verhältnis von Demokratie und Krieg, in: Spiegel 27 (2010), S. 30-33. 73 Ebd., S. 33. 74 KURBJUWEIT, Dirk: Einer von mir, in: Spiegel Online vom 18.02.2013. http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-91056788.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 75 Ebd.

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stil,76 der ein dichtes Geflecht konstituiert und scheinbar den Aspekt der Fiktionalität auszublenden versucht. Zu der Frage der Authentizität eines Romans schreibt er: »Dabei schafft der Schriftsteller im besten Fall eine Erzählung, die wirklicher sein kann als ein Bericht aus dem wahren Leben. […] Das ist auch ein Paradox: Die Fiktion soll wirklich wirken, während die Wirklichkeit unwirklich wirken darf, solange sie gut belegt ist.«77 Eine solche plausible Erzählung soll auch die Grundlage des in fünf Kapitel unterteilten Romans Kriegsbraut bilden. Zwischen den Erzählungen, die in Afghanistan stattfinden (Kapitel eins, drei und fünf), sind zwei Kapitel eingeschoben, deren Handlungsort Deutschland ist – das eine ist als eine Art nachträgliche Exposition zu lesen, die Esthers Motivation, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten, vorführt, das andere handelt von ihrem Zwangsurlaub während ihres Einsatzes. Einerseits wird allein durch die Konstruktion des wechselnden Handlungsortes eine Verbindung zwischen den beiden Ländern Deutschland und Afghanistan hergestellt, andererseits ist das jeweils andere Land stets indirekt anwesend – in Afghanistan mittels Post und Telefongesprächen aus der Heimat, aber auch durch analeptische Einschübe. In Deutschland zeigt sich die Präsenz Afghanistans zunächst in Form von medialen Darstellungen und als Esthers Wunschort in ihrer Bundeswehrlaufbahn, dann in der Form eines Traumas, über das sie aufgrund der Verschwiegenheitspflicht als Soldatin, die vor allem darauf abzielt, ein möglichst positives Bild sowohl von der Bundeswehr als auch von dem Kampfeinsatz in Afghanistan im öffentlichen Diskurs herzustellen und zu wahren, nicht sprechen darf und das sie, trotz der psychischen Belastung, zudem entschieden leugnet. Die Grenzen der Räume verschwimmen auf diese Weise geradezu, der andere Raum, verbunden mit den Konnotationen von Krieg und Nicht-Krieg, wird stets miteingebunden und präsent gehalten. 1.2.3 Die Grenze zwischen Selbst- und Fremdbild: Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten Die Stellung der Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen im Zusammenhang der neuen Kriege ist ein ebenso wichtiger wie umstrittener Punkt im real-politischen und gesellschaftlichen Diskurs und hat zu dem Selbstverständnis der Bundeswehr sowohl im nationalen als auch im internationalen Geschehen beigetragen. Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege, insbesondere des Zweiten, versteht sich die Bundeswehr selbst als ›Friedensmacht‹, deren Einsatz »nur über humanitäre Gründe gerechtfertigt

76 Vgl. dazu auch BASSLER, Moritz: Ah, es ist Ladies Day, in: Die Tageszeitung vom 17.03.2011. http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=li&dig=2011%2F03%2F17 %2Fa0003&cHash=d125ae8b19 [letzter Zugriff: 07.06.2017]. Der Unterschied zwischen »hollywoodesken Treatments«, wie sie auch in dem Roman vorkommen, und der Kriegsbraut sei der »hemingwaysche[…] Realismus der Darstellung« sowie die »Konzentration auf die weibliche Perspektive«. In kritischer Auseinandersetzung damit fährt Baßler fort: »Der Realismus aber, das ist seine Natur, reproduziert Bekanntes.« (Ebd.) 77 KURBJUWEIT, Dirk: Einer von mir.

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werden [kann]«78, mit der Konsequenz, dass sich auch das mit dem Soldatenberuf verknüpfte Männlichkeitsbild des Kämpfers wandelte, was unter anderem Auswirkungen auf die internationale Zusammenarbeit hat: »Mit Ende des Kalten Krieges und der verstärkten internationalen Zusammenarbeit in immer komplexer werdenden Auslandseinsätzen gerät dieses zivil ausgerichtete Soldatenbild unter Druck. Zum einen da internationale Streitkräfte verstärkt das defensive Verhalten Deutschlands in den Auslandseinsätzen kritisieren, zum anderen aber auch durch Erfahrungen in den Einsätzen selbst, in denen – neben Deeskalation, Diplomatie und sozialem Engagement – verstärkt auch traditionelle militärische Werte und Fähigkeiten gefordert sind.«79

Die deutschen Soldatinnen und Soldaten werden in dem Werk Kriegsbraut von verschiedenen Seiten beleuchtet und aus unterschiedlicher Perspektive beschrieben. Neben dieser literarisch geformten Eigendarstellung werden auch von ›außen‹ spezifische Fremdbilder gezeichnet, die sich nicht nur durch ihre Heterogenität auszeichnen – während ein Amerikaner mit den Bundeswehrsoldaten die Europa zerstörende Wehrmacht assoziiert, meint der Filmemacher Thilo, die »Bundeswehrflaschen« (KB 71) seien zu harmlos –, sondern auch dadurch, dass sie mit dem Selbstverständnis der Bundeswehrsoldaten, wie es zum Beispiel ihren Aussagen entnommen werden kann, nicht übereinstimmen. In diesem Kapitel soll zunächst das Selbstbild des Figurenkollektivs der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten im Besonderen unter dem Aspekt der impliziten und expliziten Geschlechterdifferenz untersucht werden. Im Anschluss daran werden die Fremdbilder auf ihren kulturellen Konnex und ihre mediale und künstlerische Verarbeitung hin analysiert. 1.2.3.1 Grenzen der Geschlechter – Die Kriegsbraut Zentral in dem Roman Kriegsbraut ist das Verhältnis der Geschlechter zueinander, das sich auf verschiedenen Ebenen widerspiegelt. Zunächst soll betrachtet werden, wie sich der Begriff ›Geschlecht‹ in der spezifischen Beziehung zwischen den Soldaten und den Soldatinnen konstituiert. Frauen spielen in der militärischen Sphäre und im Kriegsgeschehen seit jeher eine Rolle, sei es in Form von Non-Kombattantinnen, als Geiseln bzw. Beute, oder als aktive Teilnehmerinnen – primär in der Funktion der Krankenschwester, aber auch der Spionin oder seit den 1990er Jahren auch immer häufiger als Soldatin, vor allem in den Bereichen Kampf und Bodenkampf als Pilotin, Waffensystemoffizierin, Panzersoldatin oder Infanteristin.80 Obwohl die Bundeswehr seit 2001 für Frauen in allen Bereichen geöffnet wurde, ist anzumerken, dass dies 78 DITTMER, Cordula: Gender Trouble in der Bundeswehr. Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen. Bielefeld: transcript 2009, S. 9. 79 Ebd. 80 Vgl. KÜMMEL, Gerhard: Frauen im Militär, in: Gareis, Sven Bernhard/Klein, Paul: Handbuch Militär und Sozialwissenschaften. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 51-60, hier S. 51f.

160 | GRENZFALL KRIEG »weder von der deutschen Politik noch der Bundeswehr in die Wege geleitet, sondern der Bundeswehr bekanntlich durch ein Urteil des EuGH aufgezwungen [wurde] – und zwar gegen den erklärten Willen fast aller deutscher Parteien (mit Ausnahme der FDP) und wohl auch gegen den Willen vieler Soldaten.«81

Maja Apelt stellt in diesem Zusammenhang fest, dass Bundesregierung und Bundeswehr die Entscheidung über die Integration von Frauen in den Militärdienst aufgrund der weitgehenden Ablehnung in Politik und Militär bewusst dem Europäischen Gerichtshof überlassen haben, »[d]amit aber haben sie die Legitimation dazu nach außen verlagert.«82 Trotz des inneren Widerstandes wurden bereits innerhalb eines Jahres die »rechtlichen, organisatorischen und infrastrukturellen Voraussetzungen für die Aufnahme von Soldatinnen in den bewaffneten Dienst der Bundeswehr geschaffen, sowie Artikel 12a des Grundgesetzes geändert, der den Waffendienst für Frauen generell ausschloss.«83 Gerade die spezifische Änderung des Grundgesetzes zeigt jedoch, beispielsweise in Bezug auf einerseits die Entbindung der Frauen vom obligatorischen Dienst mit der Waffe im Verteidigungsfall, andererseits aber die Verpflichtung im Bereich des zivilen Sanitäts- und Heilwesens, dass »[d]er Geschlechterdualismus des waffenfähigen Mannes und der helfenden Frau […] im Grundgesetz verankert [bleibt]«84. Die Diskussion um die Rolle der Frau im Militär wird sowohl im wissenschaftlichen als auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich äußerst kontrovers geführt – und dies durchaus auch innerhalb einzelner Strömungen, was sich unter anderem an den in mehrere Gruppen aufgespaltenen Feministinnen zeigt, die in der einen Richtung nicht nur im Speziellen die Mitwirkung von Frauen im Militär, sondern Kriege im Allgemeinen grundsätzlich ablehnen, und in der anderen Richtung argumentieren, dass »[g]erade hegemoniales Wissen in den Metropolen des globalen Westens […] mitunter auch unter dem Paradigma der Befreiung ›anderer‹ Frauen zur Legitimation von staatlicher Gewalt eingesetzt«85 werden müsse. Die Spannbreite der Diskussion erstreckt sich zwischen den beiden Polen von einerseits 81 Frauen in der Bundeswehr. Ein Interview mit der Militärsoziologin Ruth Seifert, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Frauen in Deutschland 2009. http://www.bpb.de/ gesellschaft/gender/frauen-in-deutschland/49414/frauen-in-der-bundeswehr [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 82 APELT, Maja: »Die Integration der Frauen in die Bundeswehr ist abgeschlossen.«, in: Soziale Welt 53 (2002), S. 325-344, hier S. 330. 83 DITTMER, Cordula: Gender Trouble in der Bundeswehr, S. 42. Maja Apelt macht allerdings darauf aufmerksam, dass aus soziologischer Sicht die strukturellen Voraussetzungen zwar den Anfang des Integrationsprozesses von Frauen in die Bundeswehr bilden, dieser jedoch dadurch nicht abgeschlossen ist. Ziel sei nicht die Gleichstellung der Soldatinnen, sondern »bestenfalls die Gleichbehandlung unter Beibehaltung der männlich geprägten Organisationskultur.« (APELT, Maja: »Die Integration der Frauen in die Bundeswehr ist abgeschlossen.«, S. 325.) 84 APELT, Maja: »Die Integration der Frauen in die Bundeswehr ist abgeschlossen.«, S. 330. 85 BRUNNER, Claudia/EICHLER, Maya/PURKARTHOFER, Petra: Feministische Perspektiven zu Anti/Terror/Kriegen. Eine Einführung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 37 (2008), S. 135-146, hier S. 136.

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der Position der militärischen Traditionalisten und der pazifistischen Feministen, die der Meinung sind, dass Frauen überhaupt kein Amt im Militär bekleiden sollten, bis andererseits hin zu der Forderung der vor allem den theoretischen Prämissen der Dekonstruktion anhängenden Feministinnen, dass Frauen uneingeschränkten Zugang zu allen Bereichen des Militärs haben sollten.86 Gerhard Kümmel macht in diesem Zusammenhang die interessante Feststellung, dass die Traditionalisten und die pazifistischen Feministen – zwei Gruppen, die kontroverser kaum sein könnten – ihre Begründung für den Ausschluss der Frauen aus dem Militär aus der gleichen essentialistischen Position heraus ableiten, diese aber ganz unterschiedlich auslegen: Die Traditionalisten führen aus der Biologie die »physischen und psychischen Stärken des Mannes wie Aggressivität, körperliche Kraft, Ausdauer, Tötungsbereitschaft und den Willen, körperliche Gefahren durchzustehen«87, an. Einer der offensivsten Vertreter dieser Position ist wohl der israelische Politologe und Militärhistoriker Martin van Creveld, der dazu wie folgt Stellung bezieht: »So abscheulich die Tatsache auch sein mag, der wahre Grund, weshalb wir Krieg führen, ist der, dass Männer gern kämpfen und dass Frauen Männer gefallen, die bereit sind, für ihre Sache zu kämpfen. Ein Mann kann Genuss, Freiheit, Glück, ja Delirium und Ekstase auf eine Art und Weise erfahren, die nicht darin besteht, zu Hause bei Frau und Familie zu bleiben, sondern, wie so oft geschehen, darin, nur allzu froh die Nächsten und Liebsten zu verlassen mit dem einen Ziel – Krieg!«88

Dagegen leiten die pazifistischen Feministinnen ebenfalls aus der vermeintlichen ›Natur‹ der Frau das »sorgende, mütterliche Element« sowie das »friedfertige Geschlecht schlechthin« ab, das es zu schützen gilt, da Frauen »in der Männerdomäne Militär […] unausweichlich dem gewalttätigen Verhalten von Männern auch und vor allem in Form sexueller Gewalt ausgesetzt [seien].«89 Eine solche Diskussion basiert im Wesentlichen auf den im öffentlichen Diskurs ausgehandelten sowie konstruierten Frauen- und Männerbildern, die ein Normalfeld etablieren.90 Während für Frauen in dieser Dichotomie das ihnen angeblich innewohnende Fürsorgliche und Schützende hervorgehoben wird, fokussieren sich die Eigenschaften des Mannes in den Bereichen der Stärke und der (potentiellen) Gewalt. Damit liegt hier in der Debatte um Frauen im Militär eine Spiegelung der Stereoty86 Vgl. KÜMMEL, Gerhard: Frauen im Militär, S. 52f. 87 Ebd., S. 52. 88 CREVELD, Martin von: Die Zukunft des Krieges. München: Gerling Akademie Verlag 1998, S. 322. 89 KÜMMEL, Gerhard: Frauen im Militär, S. 53. 90 Dazu Kümmel: »So zeigt die gegenwärtig vor allem in den USA heftig geführte Debatte über Frauen in Kampftruppen und insbesondere Boden-Kampftruppen, die mit dem 11. September und dem Krieg gegen den Terror noch einen weiteren Schub erhalten hat, dass die Erfahrung des Krieges und des Kampfes in dem Verständnis sehr vieler den Kern des Militärischen ausmacht, dies in einen engen Konnex mit Maskulinität gestellt wird und der Krieger nach wie vor ein Schlüsselsymbol, eine Chiffre für Maskulinität ist.« (KÜMMEL, Gerhard: Frauen im Militär, S. 58.)

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penbildung des Normalfeldes vor, das eine klare Grenze zwischen den Geschlechtern zieht, die jegliche Überschreitung negiert. Dies gilt jedoch nicht nur für die Rolle der Frau innerhalb des Militärs, sondern auch für Legitimationsstrategien des Krieges überhaupt, wie Cilja Harders verdeutlicht: »Krieg und Frieden sind zutiefst vergeschlechtlichte dynamische soziale Prozesse der Eskalation bzw. Deeskalation von Gewalt. Kriege brechen nicht einfach aus, sondern sind Produkt sozialer und politischer Dynamiken auf der nationalen und internationalen Ebene. Geschlechterverhältnisse und -bilder spielen für die Ausgestaltung der sozialen Prozesse von Gewaltausübung und für die Legitimierung dieser Gewalt eine zentrale Rolle.«91

Das im öffentlichen Diskurs generierte Meinungsbild über die Integration von Frauen in das Militär wird jedoch nicht nur von wissenschaftlichen Untersuchungen und traditionellen Geschlechterkonstruktionen determiniert, sondern auch, wie unter anderem Saskia Stachowitsch festgestellt hat, von weiteren Faktoren, wie dem Personalbedarf des Militärs: Bei hohem Bedarf an Rekruten sei die Darstellung der Soldatinnen in der Presse weitaus positiver als in Zeiten der Reduzierung und des Stellenabbaus innerhalb des Militärs, in denen in der Presse auffällig gehäuft mit traditionellen Wertvorstellungen gegen den Dienst der Frauen argumentiert wird.92 Zudem habe die zunehmende Technologisierung und der damit einhergehende Wandel der Anforderungen für einige Positionen positiven Einfluss auf die Integration von Frauen, so zum Beispiel Bereiche wie der Logistik und der Verwaltung.93 Im Zuge des Wandels der Technik und weiterer Faktoren, wie dem Prestigeverlust des Krieges und damit auch des Berufsstandes des Soldaten im öffentlichen Diskurs, hat sich nicht nur die Anerkennung im bzw. Eingliederung der Frauen in das Militär verbessert, sondern – und damit durchaus zusammenhängend – es hat sich auch das Bild des Soldaten generell vom Kämpfer zum »technisch versierten Spezialisten« und »Manager-Soldaten«94 gewandelt. Festzuhalten bleibt insgesamt, dass das Militär eingegliedert ist in das soziale und gesellschaftliche Gefüge, gleichzeitig aber auch auf dieses zurückwirkt, vor allem als Institution mit »symbolische[r] Bedeutung für das Geschlechtersystem, indem es verbindliche Maßstäbe von Männlichkeit und Weiblichkeit herstellt oder zumindest verstärkt.«95 Somit ist in Bezug auf die Grenzthematik die Stellung der Frau in der Bundeswehr besonders relevant, da das Militär, das »eingebettet [ist] in eine symbo91 HARDERS, Cilja: Geschlecht und Gewalt in der Neuen Weltordnung, in: Künzel, Christine/ Temme, Gaby (Hrsg.): Täterinnen und/oder Opfer? Frauen in Gewaltstrukturen. Hamburg: Lit 2007 (= Gender-Diskussionen Bd. 4), S. 217-231, hier S. 217. 92 Vgl. STACHOWITSCH, Saskia: Fighting Women. Der Einfluss von Entwicklungen am militärischen Arbeitsmarkt auf Geschlechterideologien am Beispiel der USA, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 37 (2008), S. 165-180, hier S. 171ff. 93 Vgl. ebd., S. 169. 94 KÜHNE, Thomas: Der Soldat, in: Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./New York: Campus 1999, S. 344-372, hier S. 370. 95 HEINS, Volker/WARENBURG, Jens: Kampf der Zivilisten. Militär und Gesellschaft im Wandel. Bielefeld: transcript 2004, S. 108.

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lische Ordnung von Gegensatzpaaren wie ›Freund/Feind‹, ›stark/schwach‹, ›militärisch/zivil‹ oder ›Leben/Tod‹«96, auch die Differenz der Geschlechter und die damit verbundenen hierarchisch strukturierten Konstruktionen ausstellt. Die so zwischen den Geschlechtern konstruierte Grenze spiegelt sich auch in dem Roman Kriegsbraut wider und wird dort nicht nur von verschiedenen Seiten beleuchtet, sondern auch stets neu gezogen bzw. tradiert. So ist das Figurenkollektiv der Mitglieder der Bundeswehr in zwei geschlechtsspezifische Bereiche geteilt, deren Grenze sich auch darin offenbart, dass die Praktik einer Gleichbehandlung negiert wird. Vielmehr wird eine hierarchische Struktur dieser disjunkten Teilräume illustriert, die ihren Ausgang bereits in Esthers Rekrutierungsgespräch nimmt: »›Was stellen Sie sich vor?‹ / ›Kämpfen.‹ / ›Infanterie?‹ / ›Ja.‹ / ›Schwierig für Frauen.‹ / ›Warum schwierig?‹ / ›Man muss sehr fit sein.‹ / ›Ich bin sehr fit.‹ / ›Muskeln, man braucht Muskeln.‹ Er schlug ihr vor, Fernmelder zu werden, das sei eine gute Sache.« (KB 57) Abgesehen von der naiv anmutenden Antwort Esthers bezüglich ihres künftigen Aufgabenbereichs ist unverkennbar, dass ihr hier nicht bloß von der Position des Infanteristen abgeraten wird, sondern sie ihr schlichtweg verwehrt wird, obwohl sie das Kriterium der körperlichen Fitness nach eigenen Angaben erfüllt. Gerade dieser Bereich des militärischen Dienstes, der Bodenkampf, der direkten Kontakt mit dem Feind – etwas, dass die Protagonistin sich ja ganz explizit wünscht97 – und damit zusammenhängend auch die Bereitschaft zu töten beinhaltet, ist derjenige, der im gesellschaftlichen und politischen Diskurs um den Einsatz von Soldatinnen am stärksten umstritten ist.98 Die Lösung für dieses von verschiedenen Interessenlagen 96 Ebd. 97 Stefan Hermes stellt im Zusammenhang mit Esthers Motivation, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten, heraus, dass sie hauptsächlich darauf beruhe, der Ziellosigkeit ihres Lebens zu entkommen und »in einem klar definierten Kollektiv aufzugehen«. Der Entschluss, ihren Dienst in Afghanistan abzuleisten, sieht Hermes lediglich darin begründet, ihre militärische Pflicht zu erfüllen – im Gegensatz zu der Mehrheit männlicher Orientreisender aus vergangenen Epochen, die davon geträumt hätten, »den Zwängen der europäischen ›Zivilisation‹ zu entkommen und sich als heroisches Individuum in einem Raum des Abenteuers zu bewähren« (HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!« Der Bundeswehreinsatz am Hindukusch als literarisches Sujet, in: Dunker, Axel/Hofmann, Michael (Hrsg.): Morgenland und Moderne. Orient-Diskurse in der deutschsprachigen Literatur von 1890 bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2014, S. 221-241, hier S. 234.). Dies passt jedoch nicht mit den mehrfach ausgedrückten Befürchtungen Esthers zusammen, dass der Afghanistaneinsatz zu langweilig oder zu wenig abenteuerlich sein könnte (vgl. KB 67). Der festgefahrenen Situation in Deutschland, auf die auch Hermes verweist, begegnet Esther mit eskapistischem Verhalten. Ihr expliziter Wunsch, in der Bundeswehr zu kämpfen, zeigt zudem, dass sie sich von dem Auslandsaufenthalt sehr wohl »exzeptionelle Erfahrungen« (ebd.) erhofft. 98 Maja Apelt stützt ihre These, dass die enge Verbindung von Militär und Männlichkeit weder historisch noch kulturell universal sei, unter anderem darauf, dass in verschiedenen nationalen Armeen Frauen mit dem Argument der Ungeeignetheit zu unterschiedlichen Bereichen keinen Zugang haben. Daraus schließt Apelt, dass Frauen, wenn sie »aufgrund der sozialen Praxis in ganz spezifische Verwendungen gelenkt werden, […] sie mit diesem Be-

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verursachte ›Problem‹ ist für den anwerbenden Soldaten eindeutig: Der Anwärterin wird mit dem Hinweis, dass man für die Infanterie Muskeln bräuchte – was hier eindeutig mit männlichen Soldaten in Verbindung gebracht wird, da zuvor ausdrücklich darauf verwiesen wurde, dass diese Position für Frauen schwierig zu erlangen sei – direkt die Anstellung in einer anderen Funktion und zwar einer mit technischem Schwerpunkt, wo Kraft und Fitness, die »wichtigsten Attribute[…] primordialer Männlichkeit«99, keine Rolle spielen, angeboten. Der Vorschlag, als Fernmelderin zu arbeiten, kann natürlich zunächst einmal auf das Informatikstudium der Protagonistin zurückgeführt werden – ein Berufszweig, den sie, wie der Rezipient bereits zu Beginn des Romans erfährt, nicht ausüben möchte –, weswegen sie wahrscheinlich sowohl über fachliche Kompetenzen als auch über eine gewisse Affinität zum Technischen verfügt. Aber gerade diese Arbeit im Militär steht programmatisch für eine ›saubere‹ Schreibtischtätigkeit, ohne Feindkontakt und ist damit genau das Gegenteil von dem, was sich Esther Dieffenbach vorgestellt hat. Somit konzentriert sich, exemplarisch an dieser Figur vorgeführt, bereits vor Esthers Dienstantritt die Differenz von Frauen und Männern in der Bundeswehr in den ihnen jeweils zugeordneten spezifischen Positionen, was ein diametrales, mit klaren Zuschreibungen verbundenes Verhältnis veranschaulicht: Der Kampf liegt in der Sphäre des Männlichen, Frauen verrichten Schreibtischtätigkeiten. Allerdings muss hier auch erwähnt werden, dass der Rekrutierer Esther zwar die ursprünglich ungewollte Stelle als Fernmelderin anbietet, sie diese aber auch sofort annimmt, obwohl sie nicht ihren Wünschen entspricht, und zwar, weil ihr bereits in dem Vorgespräch zugesichert wird, dass sie in dieser Position nach Afghanistan versetzt werden könnte. Diese Aussicht, die ihrem eskapistischen Verhalten entgegenkommt, fokussiert sie somit mehr als die ursprünglich gewünschte Anstellung als Infanteristin. Auch im Dienst selbst lässt sich ein literarisch gezeichnetes ungleiches Verhältnis von Männern und Frauen in der Bundeswehr ausmachen, welches an verschiedenen Stellen auch direkt thematisiert wird. So zum Beispiel in Esthers Grundausbildung: »Sie erschrak immer noch beim Schuss, das musste sie bei den ersten Übungen auf der Schießbahn feststellen. Aber den Männern ging es nicht anders, und das war der Maßstab für sie und die anderen Soldatinnen: Wie steht unser Können zum Können der Männer? Gleichstand war das Ziel, doch sie gaben sich selbst einen kleinen Rabatt, sodass ›fast so gut wie die Jungs‹ eigentlich hieß: ›so gut wie die Jungs‹.« (KB 60)

Die Grenze zwischen den Figurenkollektiven der männlichen und weiblichen Soldaten wird hier prägnant gezeigt, wenn die Fähig- und Fertigkeiten miteinander verglichen werden. Ziel der Soldatinnen ist demnach nicht eine Grenzüberschreitung hin zum Raum der Soldaten, sondern eine Annäherung an die Grenze, die die Männer von den Frauen trennt. Besonders auffällig ist der ›Rabatt‹, den sich die Soldatinnen gegenüber den Soldaten einräumen. Dieser legt Zeugnis von der Ungleichbehandlung seitens der Soldaten ab, aber auch von derjenigen, die sich die Soldatinnen gleichsam rufsbild des Soldaten [sui generis] zugleich sozial abgewertet [werden].« (APELT, Maja: »Die Integration der Frauen in die Bundeswehr ist abgeschlossen«, S. 337.) 99 HEINS, Volker/WARBURG, Jens: Kampf der Zivilisten, S. 113.

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selbst auferlegen, indem sie sich unterordnen. Diese selbst erzeugte Diskrepanz wird auch an folgender Stelle deutlich: »Sie putzte es [das Gewehr] gründlich, aber nicht zu gründlich, weil es auch Dinge gab, in denen die Soldatinnen nicht besser sein wollten als die Soldaten, vor allem natürlich beim Putzen.« (Ebd.) Auch in dieser vermeintlich weiblichen Tätigkeit – dem Reinigen (und sei es das Saubermachen einer Waffe) – manifestiert sich wiederum die Grenze, die von dem Figurenkollektiv der Soldatinnen gezogen wird. Das erklärte Ziel ist somit nicht, hierarchische Strukturen des Militärs in Bezug auf die Geschlechter und die konstruierte Geschlechterdifferenz aufzubrechen, sondern eine ›annähernd‹ gleiche Behandlung zu erreichen. Die Grenze wird sowohl von den Soldaten als auch von den Soldatinnen forciert, wodurch eine wirkliche Gleichbehandlung gleichsam utopisch anmutet.100 Damit organisiert sich der vermeintlich homogene disjunkte Teilraum der Frauen vornehmlich durch »den Modus der Grenzziehung«101 zu den Männern. Die Soldatinnen halten die Grenze zwischen sich und den männlichen Kollegen auch durch andere Momente aufrecht, beispielsweise, wenn sie behaupten, dass sich ›Jungs‹ mehr für Uniformen interessieren als sie und daher eher Filme wie »Triumph des Willens« sehen würden (vgl. KB 184f.) oder wenn es um die Kenntnis über historische Schlachten geht, das sie als »Männerwissen« (KB 177) bezeichnen. Auch gleich zu Beginn des Auslandseinsatzes in Afghanistan, dem eigentlichen Ziel Esthers, wird der Unterschied zwischen Soldaten und Soldatinnen fortgeführt: »Sie wusste genau, welche Blicke in ihrem Rücken getauscht wurden. Sie kannte dieses erleichterte Männergrinsen. Also doch, sagte das Grinsen, es gibt also doch einen Unterschied, Krieg können die Mädels nicht. Krieg können die Fotzen nicht.« (KB 77f.) Die hier eröffnete Differenz zwischen Soldaten und Soldatinnen basiert weniger auf der Tätigkeit des Figurenkollektivs in Friedenszeiten, auf Übungen und Hilfstätigkeiten, sondern ganz explizit auf dem Einsatz in einem Kriegsgebiet, also dem Kämpfen, dem Feindkontakt, was von den männlichen Soldaten scheinbar als eigene Domäne ausgemacht und als solche tradiert wird. Frauen werden somit zwar zur Bundeswehr zugelassen, der Krieg hingegen wird weiterhin der männlichen Sphäre zugeschrieben. Dies zeigt sich beispielsweise auch daran, dass die Soldaten für das kleinkalibrige Gewehr, das unter anderem Esther benutzt, eine bestimmte Bezeichnung haben: »›Die Jungs nennen es manchmal Mädelsgewehr‹« (KB 218). Interessanterweise werden dann, wenn die Geschlechter in dieser Art voneinander abgegrenzt werden, oft die verniedlichenden Ausdrücke ›Jungs‹ und ›Mädels‹ genutzt. Dieser Wortgebrauch mit abwertender Semantik scheint Verwendung zu finden, um die häufig damit verbundenen Diskriminierungen abzuschwächen.

100 Das vom Zentrum Innere Führung erstellte Konzept »Frauen in den Streitkräften« zeigt unter anderem, dass sich Frauen aufgrund ihrer Minorität in der männerdominierten Bundeswehr einem besonderen Beweis- und Leistungsdruck ausgesetzt sehen und damit in eine spezifische Sonderrolle verfallen, die sie selbst initiieren und darauf mit besonderen Verhaltensweisen reagieren (vgl. APELT, Maja: »Die Integration der Frauen in die Bundeswehr ist abgeschlossen«, S. 333.). 101 ANSELM, Sigrun: Grenzen trennen, Grenzen verbinden, S. 207.

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Aufschlussreich im Zusammenhang mit der im Roman inszenierten Gendergrenze ist auch der Körper als Projektionsfläche der Sexualität. Der individuelle Körper weist laut Christina von Braun bereits auf die symbolische Geschlechterordnung hin: »Schon seit der griechischen Antike galt der männliche Körper als Norm, er stand für den ›ordentlichen‹, berechenbaren Körper, während der weibliche Körper (in der Theologie, der Philosophie, in den Medizinbüchern sowie den bildenden Künsten) das Fremde, Unberechenbare und ›Nicht-Ganz-Dazugehörige‹ symbolisiert.«102

Die Flecktarnuniform, die alle Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen tragen, scheint auf den ersten Blick keinen Unterschied zwischen ›Norm‹ und ›Anomalie‹, zwischen männlichen und weiblichen Körpern zuzulassen. Gerade die Uniform ist es jedoch, die das äußere Zeichen für den Stand des Soldaten ist und damit traditionell als Symbol für Männlichkeit fungiert. Die Frauen, die in einer Armee dienen, tragen die Kleidung, die die Männer bereits seit Jahrzehnten tragen, sie müssen sich demnach den Gewohnheiten und dem Äußeren der Männer anpassen. Diese erst bei der Unterwäscheregelung abgeschwächte (Unter-)Ordnung wird auch im Roman aufgegriffen: »Die Frauen konnten sich die Männershorts zuteilen lassen oder ›Schlüpfergeld‹ kassieren, so nannte man das.« (KB 203) Besonders das Wort ›Schlüpfer‹ beinhaltet hier einen pejorativen Sinngehalt, was eine Gleichbehandlung unterminiert. Eine explizit inszenierte Weiblichkeit scheint somit unmöglich zu sein. Doch das Aussehen spielt durchaus eine Rolle für den Habitus der Soldaten. Von Braun weist im Zusammenhang der neu entwickelten Visualisierungstechniken im 19. Jahrhundert darauf hin, dass umso mehr die Konturen des geschlechtlichen Körpers verschwimmen und dadurch die Unterscheidung und Zuordnung der Geschlechter erschwert wird, das Bedürfnis wächst, »dem geschlechtlichen Körper spezifische, sichtbare, biologisch bedingte Eigenschaften zuzuschreiben.«103 An mehreren Stellen wird auch in dem Roman erwähnt, dass die Soldaten, trotz der vordergründig homogenen Einheitlichkeit der Uniform, nach geschlechtstypischen Merkmalen bei den Soldatinnen suchen, zum Beispiel in folgender Passage: »Es gab einen Blick im Lager, der selbst unter einer Schutzweste nach den Konturen von Brüsten suchte.« (KB 202) Daraus resultiert für Esther die Erkenntnis, dass das Gleichmachen der Uniform, das ein ›Geschlechterspiel‹ negieren würde, »Unsinn« (KB 61) ist, viel mehr bleibt weiterhin die Konstruktion einer deutlich hierarchischen Struktur der Geschlechterverhältnisse bestehen. An Esthers selbstreferentiellen Praktiken kann man besonders gut ablesen, wie der eigene Körper als Spiegelfläche genutzt wird. So schlägt beispielsweise der Soldat Tauber Esther vor, zum Schutz vor dem allgegenwärtigen Staub ein Tuch vor Mund und Nase zu legen. Esther versucht daraufhin ein Tuch zu kaufen, das mit der Uniform »harmoniert[…]« (KB 110). Dies gelingt ihr nicht sofort, was eine Reaktion der Männer hervorruft, die die Grenzen der Kulturen überschreitet: »Tauber und der Verkäufer tauschten Blicke und verständigten sich 102 BRAUN, Christina von: Gender, Geschlecht und Geschichte, in: Dies./Stephan, Inge (Hrsg.): Gender-Studien. Eine Einführung. 2., aktualisierte Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 2006, S. 10-51, hier S. 19. 103 Ebd., S. 40.

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darauf, dass sie eine komplizierte Frau sei.« (Ebd.) Die beiden Männer berufen sich in dieser Situation nicht auf die Dichotomie von Kombattant und Non-Kombattant oder Deutscher und Afghane, sondern auf ihre Gemeinsamkeit des männlichen Geschlechts. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass Esther ihrer Meinung nach nicht eine komplizierte Soldatin, sondern eine komplizierte Frau sei. Die Männer ordnen sich somit in den gleichen Raum ein, indem sie eine geschlechtsspezifische Grenzziehung vornehmen. Das Charakteristikum der Gruppe, die von der Grenze umschlossen wird, ist demnach die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht. Hier zeigt sich, dass Grenzen eben dann fallen gelassen werden können, wenn zugleich eine neue gezogen wird und dass die Inklusion in eine Gruppe zum einen kontextbezogen und zum anderen stets konstruiert ist. Zudem sind es die beiden männlichen Figuren, die über den Preis des Kopftuchs verhandeln, während Esther in dieser Szene rein passiv dargestellt wird. Tauber scheint den kulturellen Code, der sich durch die Praktiken des Verhandelns konstituiert – nach einigem Hin und Her besteht der Verkäufer auf seinen Preis, woraufhin Tauber und Esther das Geschäft verlassen, um dann von dem Verkäufer zurückgerufen zu werden – zu kennen, wodurch auch hier die Grenze zwischen den Geschlechtern markant inszeniert wird. Bemerkenswert ist an dieser Begebenheit noch, wie Esther mit dem Tragen des Tuchs verfährt: »Tatsächlich war sie nun gut vor dem Staub geschützt, aber sie sah auch sehr nach Frau aus, wenig nach Soldatin, und benutzte das Tuch auf den nächsten Fahrten nicht mehr.« (KB 111) Das soldatische Aussehen, vor allem die Wirkung, die dadurch erzielt werden soll, wird über die Funktionalität gestellt: Da das Tuch Esthers eigener Anschauung nach ihre Weiblichkeit mehr hervorhebt, nutzt sie es nicht mehr, obwohl sie zuvor so großen Wert darauf gelegt hat, dass es farblich zur Uniform passt. Fokussiert wird von der Figur demnach ein militärisches Aussehen und Auftreten. Das vermeintlich weiblich konnotierte Aussehen Esthers durch das Tragen des Tuchs verweist darüber hinaus selbstverständlich auch direkt auf die religiöse Praktik muslimischer Frauen, sich mit Kopftuch oder Burka zu verhüllen. Demnach wird hier nicht nur die Grenze zwischen Beruf und Geschlecht, sondern auch zwischen den Kulturen anschaulich. Geradezu gegenteilig verhält sich die Protagonistin hingegen in Bezug auf ihr Äußeres, wenn sie auf den Schuldirektor Mehsud trifft, indem sie ihre Vorstellung eines weiblichen Aussehens forciert. Sie achtet beispielsweise darauf, dass nach der Fahrt zu der Schule kein Staub in ihren Haaren und auf ihrem Gesicht zu sehen ist, was die männlichen Soldaten mit »spöttischen Blicken« (KB 105) zur Kenntnis nehmen. Als sich Esther und Mehsud näherkommen, schenkt sie ihrem Äußeren noch mehr Beachtung: »Auf der Stube zog sie eine weiße Unterhose mit einer kleinen Schleife an und einen weißen BH. Sie betrachtete sich noch einmal in einem Handspiegel, weil sie die Frau sehen wollte, die sie war.« (KB 192) Hier wird eine Weiblichkeit inszeniert, die nur dann vernehmbar wird, wenn Esther Damenunterwäsche trägt, die (männliche) Uniform hingegen macht sie zur Soldatin, sie negiert vermeintlich das Weibliche. Auf diese Weise wird also eine starre Dichotomie durch das Tragen von Kleidung beschrieben, Esther kann nicht beides – Frau und Soldatin – zugleich sein, sie muss sich für eine Seite entscheiden.104 Die Kleidung ist somit Ausgangspunkt für 104 Aus soziologischer Sicht stellen auch Heins und Warenburg fest, dass sich Frauen in der Bundeswehr besonders in Bezug auf ihre Kleidung und ihren Habitus in einem Konflikt

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eine inszenierte Weiblichkeit bzw. deren Negation. Damit wird ein grenzsetzendes Denkschema entworfen, das jeweils nur einen Teilbereich inkludiert. Besonders deutlich tritt die hierarchische Geschlechterkonstruktion in den Situationen des Kontakts zwischen Esther und Soldaten, die ihr unter- oder übergeordnet sind, hervor. So wird in dem Roman beispielsweise von einer Episode berichtet, in der Esther mit zwei ihr unbekannten Infanteristen zu der Schule fährt, die sie beschützen sollen. »Sie merkte den beiden an, dass sie es nicht gewohnt waren, einer Frau unterstellt zu sein. Sie merkte das immer. Ein Vorhang vor dem Gesicht, kein Augenkontakt, ein Hauch von Ironie in der Miene, als sei dies nicht die Realität, sondern eine Komödie, der man sich großzügigerweise nicht verschließen will, Herablassung. Wenn Esther diese Gesichter sah, dachte sie immer, wenn sie Mut hätten, würden sie jetzt Schätzchen zu ihr sagen. Aber den Mut hatten sie nicht.« (KB 193)

Dieser Reaktion auf ihr Soldatinnendasein bringt Esther eine Machtdemonstration entgegen, indem sie einen der Infanteristen seine Waffe vom Staub befreien lässt und auf die vorschriftsmäßige und ihren höheren Status markierende Anrede »Leutnant Dieffenbach« (KB 194) besteht. So macht sich Esther die hierarchische Ordnung des Militärs zu Eigen und nutzt ihre autoritäre Macht dazu, eine klare Grenze zwischen sich und dem im Rang unter ihr stehenden Hauptfeldwebel zu ziehen. Im gleichen Maße wie sie hier ihre Position mit Hilfe der Dienstvorschrift durchsetzt und somit das militärische Disziplinarsystem nutzen kann, um die eigene Stellung zu stärken, ist die Hierarchie der Grund, warum sie dem Verhalten der höherrangigen Soldaten, das eher in Richtung des Wohlwollenden, Fürsorglichen, beinahe Väterlichen tendiert, nichts entgegenbringen kann. In einem Gespräch mit dem Kommandeur, in dem sie ihn überzeugen möchte, mit den temporär ausgesetzten Fahrten zu der Schule, deren Direktor Mehsud ist, fortzufahren, hat sie schnell den Verdacht, »dass sie Teil eines Spiels geworden war, bei dem es ihm darum ging, ein bisschen Gutmütigkeit an den Tag zu legen, eine scheinbare Liberalität. Aber am Ende würde er nicht nachgeben. Der Kommandeur kannte das Resultat des Gesprächs von Anfang an, sie nicht.« (KB 277) Im Grunde liegt hier nichts Ungewöhnliches vor, wenn man bedenkt, dass der Soldat mit dem höheren Rang der Soldatin niederen Rangs einen Wunsch abschlägt. Die Begründung für das Verbot weiterer Schutzfahrten für die Schule hingegen wird von dem Kommandeur mit der Frage des Geschlechts verbunden: »›Ich bin vor allem für meine Männer verantwortlich‹, sagte der Kommandeur und ergänzte nach einer kurzen Pause: ›Und für meine Frauen natürlich, für die Frauen hier im Lager.‹ Er wurde rot.« (KB 276)

bewegen: »Diese Situation treibt die Soldatinnen häufig in schwer lösbare Verhaltensdilemma: einerseits neigen sie zur Überanpassung an ›männliche‹ Rollenerwartungen, andererseits üben sie sich, schon um den stets präsenten Homosexualitätsverdacht zu zerstreuen, in der strategischen Inszenierung von Weiblichkeit, was wiederum als unmilitärisch und ›schwach‹ wahrgenommen werden kann.« (HEINS, Volker/WARENBURG, Jens: Kampf der Zivilisten, S. 112.)

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Somit wird hier explizit die Differenz von Männern und Frauen im militärischen Dienst an den Verhaltensweisen der Figuren literarisch vorgeführt, die sich von der Rekrutierung über die Grundausbildung bis hin zum Auslandsaufenthalt in Afghanistan durchzieht. In diesem Zusammenhang stehen auch die im Roman angeführten Regelungen, wie beispielsweise, dass Männer die Stuben der Soldatinnen stets zu zweit betreten müssen (vgl. KB 61). Solche, im Regelkanon der Bundeswehr tatsächlich existente, Vorschriften zeigen deutlich eine aufrechterhaltene Geschlechterdifferenz: »Diese Maßnahmen zum militärischen Alltag stellen also […] Sondermaßnahmen für Frauen dar. Damit bewirkt das Konzept [des Zentrums Innere Führung], dass Frauen als Abweichung von der Norm herausgestellt werden.«105 Somit bleibt die vorherige, männliche Organisationsstruktur der Bundeswehr bestehen und wird von den Regelungen, die die Soldatinnen betreffen, abgegrenzt, wodurch »Gleichstellungsfassaden«106 entstehen. An der Darstellung des Verhältnisses von Esther zu Soldaten höheren und niederen Rangs zeigt sich die Machtstruktur, die in Judith Butlers mit Rückbezug auf Foucault entwickelter Terminologie zur »Subjektivation«107 Esthers führt. Butler konstatiert: »Die Macht wirkt auf mindestens zweierlei Weise auf das Subjekt ein: erstens als das, was das Subjekt ermöglicht, als Bedingung seiner Möglichkeit und Gelegenheit seiner Formung, und zweitens als das, was vom Subjekt aufgenommen und im ›eigenen‹ Handeln des Subjekts wiederholt wird.«108

Genau diese doppelte Struktur der Macht wird in dem Roman aufgezeigt: Zum einen Esthers Unterwerfung unter die hierarchische Ordnung des Militärs – also die Macht von außen, die die Protagonistin in ihrer Position als Soldatin erst konstituiert – und zum anderen die Übernahme, die Tradierung eben dieser Ordnung, die sie dann selbst anwendet, um ihre eigene Position zu behaupten. Diese beiden Seiten wirken nicht getrennt voneinander, sondern sind als Mechanismus in sich verzahnt und bedingen sich gegenseitig, was dazu führt, dass eine »unauflösbare Zweideutigkeit entsteht«109, in der »das Subjekt seine eigenen Entscheidungsbedingungen [verdunkelt]« und es »Macht mit Macht [verschleiert]«110. Ein Hauptbestandteil der Grenzthematik des Romans ist somit die vorgeführte dichotomische Struktur von Soldaten und Soldatinnen. Sie impliziert zunächst die Unterordnung der Frauen in einer männerdominierten Hierarchie. Auf den zweiten Blick jedoch wird deutlich, dass die Grenze von den Figuren beider disjunkten Teilräume tradiert wird, indem der jeweils anderen Gruppe bestimmte Beschreibungsmerkmale zugeordnet werden. Die Grenze, die sich als Linie ohne Zwischenraum der Begegnung konstituiert, wird durch die Reziprozität aufrechterhalten. Durch diese 105 APELT, Maja: »Die Integration der Frauen in die Bundeswehr ist abgeschlossen«, S. 334. 106 Ebd., S. 340. 107 BUTLER, Judith: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 7. 108 Ebd., S. 18. 109 Ebd., S. 19. 110 Ebd., S. 18.

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Grenzziehung wird in dem Werk das Scheitern einer Gleichstellung der Geschlechter in der Bundeswehr ausgewiesen: Die Grenzen, die in diesem Kontext gezeigt werden, sind starr und unüberschreitbar. 1.2.3.2 Die Soldatin Maxi als Störung der binären Ordnung Der Roman bietet einen näheren Blick auf zwei weitere Soldatinnen, auf die Stabsärztin Ina und auf den Feldwebel111 Maxi, die bei der Einheit für Kampfmittelbeseitigung tätig ist. Damit sind Esther und Ina in Bereichen der Bundeswehr angesiedelt, die eng mit Frauen assoziiert werden. Maxi hingegen, deren Motivation für eine Anstellung in der Bundeswehr sich bereits deutlich von denen der beiden anderen Frauen unterscheidet – »›[s]ie wollte immer das machen, was Männer machen‹« (KB 309) – arbeitet dezidiert in einer Männerdomäne innerhalb des Militärs. Doch selbst hier wird eine Grenze zwischen den Geschlechtern gezogen, indem Maxis Mutter erklärt, dass sie nicht glaubt, »›dass sie jemanden hätte erschießen können. Sie war weich, empfindlich, sie wollte nicht schießen, sondern Minen wegräumen. Das ist ein großer Unterschied.‹« (KB 310) Damit geht es auch in Maxis Fall nicht um den Kampf, also auch um das potentielle Töten und Zerstören, sondern um das Schützen und Wahren des Lebens, womit die Mutter Maxi deutlich in die Sphäre der zugeschriebenen Weiblichkeit einordnet. Trotzdem hebt sie sich von den anderen Soldatinnen ab, was sich primär in ihrem Äußeren manifestiert: »Sie war groß, breit und hatte einen dicken Hintern. Ihr Haar trug sie an den Seiten extrem kurz rasiert, über die Mitte lief vom Hinterkopf bis zur Stirn ein breiter Streifen in halber Streichholzlänge. Maxi hatte ein Gesicht, in das sich auch eine Frau hätte verlieben können, dachte Esther, und das war die freundlichste Art, wie sie es beschreiben konnte. Herb und bullig war es, jedenfalls für eine Frau, aber diese Wörter trafen es nicht richtig. Das Seltsame war, dachte Esther nach dem zweiten oder dritten Blick, dass Maxis Gesicht dazu einlud, sie als Mann zu betrachten, und dann wäre man auf Wörter gekommen wie weich, lieblich.« (KB 81f.)

Die Beschreibung Maxis macht deutlich, dass sie äußerlich zwischen den Männern und Frauen steht und somit – in Esthers Worten – etwas »Eigenes« (KB 82) bildet, einen Standpunkt innerhalb eines dritten Raums einnimmt, der jedoch nicht losgelöst von Männern und Frauen ist, sondern sich durch seine Hybridität auszeichnet. Dieses Dritte, das sich einer klaren Zuordnung widersetzt, stört die binäre Ordnung, die mit bestimmten geschlechtsspezifischen Konnotationen verbunden ist. Wie substantiell die Grenze zwischen männlichem und weiblichem Bereich für die Konstitution und das Selbstverständnis der dargestellten Soldaten ist, kann man unter anderem daran ablesen, wie dieser ›Störfaktor‹, der die Grenze dieser zweigeteilten Struktur unterläuft, böswillig genannt wird: »Kampfzwitter« (KB 137). Maxis Sonderstellung zeigt sich auch in einer Begebenheit, in der sie einen Hauptgefreiten niederschlägt, nachdem er Ina angesprochen hat. Während eine Reaktion auf diese Gewaltausübung ausbleibt, wird beispielsweise Esther, nachdem sie verbal ihren Unmut deutlich macht, 111 Für die einzelnen Dienstgrade gibt es in der Bundeswehr keine weibliche Bezeichnung, was, ebenso wie die Kleidung, wiederum darauf hindeutet, dass sich die in der Bundeswehr tätigen Frauen in ein festgeschriebenes, männliches System eingliedern müssen.

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als ein Obergefreiter ruft: »›Das war aber um Fotzenhaaresbreite!‹« (KB 125), von einem ranghöheren Soldaten gemaßregelt und über »Angemessenheit« (ebd.) belehrt. Durch die Unzuordbarkeit der Figur Maxi wird die binäre Ordnung gestört, was die Grenze zwischen den Figurenkollektiven der männlichen und weiblichen Kriegsteilnehmer nicht nur explizit hervorhebt, sondern sie auch in den kulturellen Bereich überführt. So wird geschildert, dass Maxi an einem Abend eine Burka mit auf die Stube bringt, woraufhin die drei Soldatinnen diese nacheinander anziehen. Dieser Akt des An- bzw. Überziehens des traditionellen Gewandes der muslimischen Frauen ist eine Art Versuch der Annahme, des Transfers einer fremden Kultur, einer Überschreitung der Grenzen zwischen den Kulturen. Allerdings gelingt diese nicht: Während Esther Beklemmungen, beinahe Panik vor allem durch das vergitterte Gesichtsfeld des Gewandes verspürt und es direkt wieder ablegt, zieht Ina das Tragen der Burka ins Lächerliche: »Sie machte Schritte wie auf dem Laufsteg und wackelte mit den Hüften. Esther haute ihr auf den Hintern. Sie lachten.« (KB 136) Während Esther also das Fremde in Form der Burka abstößt und sich dem einengenden Gefühl direkt widersetzt, versucht Ina das Fremde durch seine vordergründige Integration in das Eigene zu überwinden. Mit der Darstellung eines Modellaufs bildet sie nicht ihr eigenes Selbst ab, doch ist ihr dieser Habitus sehr viel vertrauter, er ist in ihrem Kulturraum verankert. Somit entsteht hier ein Spiel im Spiel: Sie verhält sich wie ein – westliches – Model und ist als Muslimin ›verkleidet‹. Durch diese zwei Ebenen setzt sie sich nicht selbst als Person mit dem Fremden auseinander, sondern erprobt es als jemand anderes, wodurch einerseits der »›Kern‹ des ersten Sinns des Transferierten«112 gänzlich verschwindet und daher andererseits der ›Gefahr‹ einer Verletzung oder Neuformierung der eigenen Grenzen entgegengewirkt wird – das Fremde wird damit ausprobiert, ohne das Eigene zu gefährden. Maxi hingegen geht mit dem Gewand gänzlich anders um: In den darauffolgenden Wochen bestickt sie die Burka mit Garn und Perlen. Auch hier wird ihre Zwischenposition deutlich, diesmal in der Differenz ihres männlich konnotierten Aussehens mit einer Handarbeit, die vornehmlich Frauen zugeschrieben wird: »Esther fand es seltsam, die große, starke Frau mit der feinen Nadel hantieren zu sehen.« (KB 137) Indem sie die Burka bearbeitet, schlägt Maxi wiederum eine Brücke – diesmal zwischen den Kulturen. Sie verändert nicht die Form des Gewandes, aber indem sie es verziert, macht sie es sich auf eine ganz spezifische Weise zu eigen. Sie wählt dabei einerseits ein florales persisches Motiv (Fremdes) und andererseits Kreise, die wie Zielscheiben aussehen (Eigenes). Letztere befinden sich symbolisch bedeutungsträchtig an der Stelle der Burka, die die Brüste verdeckt. Diese forcierte Weiblichkeit, unterstrichen durch Maxis stark geschminktes Gesicht bei der Präsentation der umgearbeiteten Burka (vgl. KB 159), wird noch potenziert durch ein Muster im Bereich des Bauches, das Esther direkt mit der Darstellung eines Fötus assoziiert (vgl. KB 160). Die Burka wird durch die Stickerei zu einer Projektionsfläche dargestellter Weiblichkeit und sexueller Lust, genau das, was sie im traditionellen, ursprünglichen Sinn eigentlich verhindern soll. 112 KELLER, Thomas: Kulturtransferforschung: Grenzgänge zwischen den Kulturen, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2011, S. 106119, hier S. 109.

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Sie wird zweckentfremdet und dies im doppelten Sinn: Die Burka wird nämlich vornehmlich nicht von Maxi selbst getragen, sondern von einer Schaufensterpuppe, die Maxi den Stubenkameradinnen als »Fatima« vorstellt und ihnen eröffnet, dass sie von nun an »mit uns leben« (KB 161) wird. Die Puppe wird von Maxi explizit an mehreren Stellen als etwas Lebendiges charakterisiert, eine zugesprochene Eigenschaft, die sie selbstverständlich nicht besitzt, genauso wie die bestickte Burka Weiblichkeit ausstellt, anstatt sie zu verbergen. Fatima ist ein geläufiger Name für muslimische Frauen, zusammen mit dem spezifischen religiös konnotierten Artefakt der Kleidung bringt Maxi also einen Teil der fremden Kultur in das deutsche Militärlager. Dieses Fremde entstammt aber nicht der Roman-Realität, denn die Puppe stellt bloß etwas aus bzw. steht stellvertretend für etwas anderes, wodurch auch an dieser Stelle kein direkter, sondern bloß ein indirekter Kontakt mit einer anderen Kultur entsteht; die Grenze zwischen den Soldatinnen und der afghanischen Kultur, aber auch die Grenzen zwischen christlichen und muslimischen Frauen werden nicht aufgehoben oder überschritten, sie bleiben bestehen, woran auch die von den Soldatinnen ausgedachte Lebensgeschichte Fatimas, die »mangels echter Begegnungen selbst für die Soldatinnen vor Ort reines Phantasma bleib[t]«113, nichts ändert. Afghanische Frauen bleiben in dem Roman eine Leerstelle,114 sie kommen nicht selbst zu Wort, wodurch eine derartige Projektion auf die Schaufensterpuppe überhaupt erst möglich wird. Die Figur Maxi grenzt sich jedoch noch durch ein weiteres Merkmal von den anderen zwei dargestellten Soldatinnen ab: Sie ist die einzige, die in Afghanistan durch ihre Anstellung in der Kampfmittelbeseitigung mehrfach ihr eigenes Leben riskiert und damit immer wieder einer Grenzsituation115 ausgesetzt ist. Sie bewegt sich während ihrer Einsätze ganz bewusst auf der Grenze zwischen Leben und Tod: »›Hilft der Anzug wirklich?‹, fragte Esther. ›Er macht mich zu einer schöneren Leiche. Wenn der Topf hochgeht, werde ich sterben, aber ich werde nicht zerfetzt sein. Das ist doch was, oder?‹ ›Ja, das ist was.‹ ›Sie wollen, dass wir immer gut aussehen.‹« (KB 129)

Diese Grenze wird aber nicht während einer Kampfmittelbeseitigung überschritten, sondern durch den von Maxi gewählten Freitod – »jenen dicken, blutigen Bedeutsamkeitsmarker«116 des Romans – und zwar auf eine ganz spezifische Weise: Sie inszeniert mit Leuchtraketen ein »kleines, schönes Feuerwerk« (KB 279), ein ästhetischer Akt, den sie zuvor bereits Esther mit den zu beseitigenden Kampfmitteln vorgeführt hat (vgl. KB 138), und stellt sich zwischen die Lichter. Dabei trägt sie nicht ihre Uniform, sondern die von ihr bestickte Burka. Da sie sich zunächst nicht bewegt, glauben Ina und Esther, es handele sich um die Schaufensterpuppe Fatima. 113 BASSLER, Moritz: Ah, es ist Ladies Day. 114 Vgl. dazu auch ebd. 115 Vgl. JASPERS, Karl: Philosophie. Bd. 2: Existenzerhellung. Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1956. 116 BASSLER, Moritz: Ah, es ist Ladies Day.

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Die einzige von ihr durchgeführte Bewegung besteht darin, die Waffe in ihrer Hand anzuheben und sich damit in den Kopf zu schießen. Die Burka, die, wie oben festgestellt wurde, Weiblichkeit ausstellt (wobei das Besticken eine kulturelle Aneignung widerspiegelt und die Zwischenposition, die Maxi einnimmt, in ein Objekt überführt) fungiert hier als eine Art Totengewand, das die Soldatin dezidiert für ihren Suizid – sie trägt die Burka in bestickter Form zum ersten Mal – auswählt. Die Selbsttötung weist darauf hin, dass Maxi die Position des Anderen, des in das binäre Schema nicht einzuordnenden Fremden nicht (mehr) einnehmen bzw. ausfüllen kann und statt die Grenze zur männlichen oder weiblichen Sphäre zu überschreiten, diejenige übertritt, die für alle Menschen gleichermaßen gilt.117 1.2.3.3 Kulturelles Fremdbild der Bundeswehr Aber nicht nur die Geschlechterkonstruktionen im Kontext des Figurenkollektivs der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten werden in dem Roman dargestellt, sondern es wird auch ein spezifisches Bild dieser Gruppe im Allgemeinen entworfen, und zwar in der Form eines Fremdbildes, das zugleich bestimmte kulturelle Rückschlüsse zulässt. In einem Gespräch mit der Figur Jordan, einem amerikanischen Soldaten, mit dem Esther, während er sich im deutschen Lager in Afghanistan aufhält, eine sexuelle Affäre hat, wird dieses Fremdbild der Soldaten deutlich: »›Ihr sorgt mit tausend Soldaten dafür, dass ihr in Ruhe essen könnt? Ihr seid doch die Truppe, die ganz Europa in Schutt und Asche gelegt hat.‹ ›Das war die Wehrmacht.‹ ›Und wer seid ihr?‹ ›Die Bundeswehr.‹ ›Aber ihr seid Deutsche?‹ ›Andere Deutsche.‹« (KB 92)

Anschaulich wird hier, dass der Versuch der Grenzziehung der Bundeswehr zwischen sich und der Wehrmacht zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, der auf eine Distanzierung vor allem von den Gräueltaten der Nationalsozialisten abzielt und der auch für die deutsche Politik bestimmend ist sowie gemeinsam mit anderen Interdiskursen in dem öffentlichen Diskurs wirkt, offensichtlich keine interkulturelle Allgemeingültigkeit besitzt. So geht der Amerikaner davon aus, dass aufgrund der gleichen Nationalität Wehrmacht und Bundeswehr dasselbe ist, was dem Selbstverständnis der Bundeswehr als Verteidigungsarmee und Hilfsorganisation zutiefst widerspricht. Dies veranschaulicht auch der Ausspruch Esthers, sie seien ›andere‹ Deutsche. Das 117 Interessant an dem Selbstmord ist neben der auffälligen Inszenierung, dass Maxi sich an anderer Stelle dezidiert gegen einen Freitod ausspricht. In einem Gespräch zwischen Ina, Esther und Maxi entschließen sich die ersten beiden sich selbst zu töten, um einer Gefangenschaft durch den Feind und etwaigen Vergewaltigungen zu entgehen. »Maxi hingegen sagte, dass der Tod schlimmer sei als eine Vergewaltigung. […] ›Wenn das Leben vorher etwas wert war, ist es auch danach etwas wert‹, sagte Maxi.« (KB 240) Durch den von ihr gewählten Suizid liegt der Rückschluss nah, dass Maxi ihr eigenes Leben als wertlos erachtet hat.

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Selbstbild wird damit von dem Versuch bestimmt, sich von einem Teil des Eigenen – der eigenen Geschichte bzw. Vergangenheit, der vorherigen Generation – zu separieren. Diese betonte Grenzziehung und bewusste Trennung, die für die deutschen Soldaten und Soldatinnen und ihr militärisches Selbstverständnis elementar sind, sind für den Amerikaner nicht verständlich, zumal er ein positiv besetztes Bild der Wehrmachtssoldaten zeichnet, das er mit einer mystisch anmutenden Geschichte eines Soldaten, der sich selbst opferte, um seine Kameraden vor einem Angriff der Russen zu schützen, untermauert. Seine Erzählung schließt er mit dem Satz »So waren die Deutschen« (KB 93). Das, was im Kontext eines Gesprächs mit einer Deutschen im ersten Augenblick merkwürdig anmutet, ist bei genauerer Betrachtung ein interessantes Phänomen: Das Fremdbild des Amerikaners in Bezug auf die Wehrmachtsoldaten übt eine so große Faszination aus, dass er sich damit mehr identifizieren kann als Esther und es sich gleichermaßen selbst aneignet. Der von dieser Geschichte transportierte Mut und die heroische Tapferkeit des Soldaten werden in den Fokus gestellt, was für Jordan eine Art idealisierte Vorbildfunktion zu haben scheint. Die Protagonistin, die offensichtlich, so wie die meisten Deutschen, mit der Wehrmacht vor allem die Schuld assoziiert, die Deutschland durch den Zweiten Weltkrieg und die Massenvernichtung der Juden auf sich lud, hat somit einen ganz anderen Blickwinkel auf diese Armee als der Amerikaner: Während Esther die gesamte Geschichte und deren immer noch andauernde Aufarbeitung fokussiert, ist Jordans Blick auf die zugeschriebenen soldatischen Fähigkeiten gelenkt, weshalb die Bilder so divergieren. Das bedeutet, dass hier im internationalen militärischen Kontext ein Fremdbild entworfen wird, das mit einem spezifischen Bild aus der Vergangenheit deckungsgleich ist und auf zeitlicher Ebene grenzüberschreitend in die Gegenwart transportiert wird. Neben diesem von einem Verbündeten artikulierten Fremdbild äußert sich auch der afghanische Schuldirektor zu den deutschen Bundeswehrsoldaten: »Die Deutschen haben so viel Schuld auf sich geladen, dass sie schon ein bisschen Schuld mehr nicht aushalten können. Ich habe viele Soldaten gesehen, Russen, Amerikaner, Afghanen, Pakistani. Niemand ist so wie die Deutschen, die Deutschen sind die nettesten Soldaten der Welt, sie schießen nicht, sie winken. Weil sie denken, dass sie unschuldig bleiben, wenn sie winken. Das ist Unsinn.« (KB 175)

Wenn Mehsud über die aufgeladene Schuld der Deutschen spricht, rekurriert er ebenfalls auf die nationalsozialistische Vergangenheit. Das bedeutet, er formt das Fremdbild aus der gleichen geschichtlichen Sphäre wie Jordan, zieht daraus jedoch einen geradezu diametralen Schluss: Während der amerikanische Soldat die Vergangenheit mit der Gegenwart vermischt und in den Bundeswehrsoldaten die Wehrmacht auszumachen glaubt, bezieht Mehsud die zur Schau gestellte Freundlichkeit der Deutschen darauf, dass Vergangenheit und Gegenwart eben nicht das Gleiche sind, sondern sich voneinander unterscheiden, was gegensätzliche Praktiken hervorbringt. Die mit der Wehrmacht verbundenen Assoziationen werden in der Bundeswehr so vollkommen aufgehoben und negiert. Durch die Charakterisierung als ›netteste Soldaten der Welt‹ wird zugleich deutlich, dass sie dem stereotypen Bild eines kämpfenden Soldaten nicht entsprechen. Jens Warburg zeigt aus soziologischer Sicht auf, dass die Anforde-

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rungen an die Soldaten in den gegenwärtigen Krisengebieten geradezu paradoxe Züge aufweisen: »Mit dem Ende der Blockkonfrontation wurden die Streitkräfte der westlichen Industriestaaten zunehmend zu neuartigen Aufgaben herangezogen. Soldaten sollen nicht mehr ausschließlich einen Gegner unter Einsatz von Gewaltmitteln bekämpfen, sie sollen auch für ein Ende von Gewalttätigkeiten sorgen, ohne dabei selber die Situation eskalieren zu lassen. […] Vieles spricht dafür, dass sich ein ›postmodernes‹ Militär, deren Angehörige sowohl in klassische Kriegseinsätze geschickt als auch mit polizeiähnlichen Operationen beauftragt werden, auf schwerwiegende Paradoxien einstellen muss. Denn für die Soldaten bedeutet die Funktionsausweitung, dass sie nun über zuvor nicht oder nur in geringem Umfang abverlangte soziale Kompetenzen verfügen müssen. Da die Soldaten gleichzeitig weiterhin dazu in der Lage sein sollen, Gegner militärisch zu bekämpfen, sehen sie sich durch die zusätzlichen Funktionen mit paradoxen Verhaltensanforderungen konfrontiert.«118

Die hier für gegenwärtige Konflikt- und Kriegssituationen geforderten sozialen Kompetenzen von Soldatinnen und Soldaten finden sich auch in dem Werk wieder. So wurde Esther beispielsweise darauf hingewiesen, dass sie neben dem ständigen Winken, das Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft bei den Einheimischen suggerieren soll – übrigens ohne einen sichtbaren Erfolg, mehrfach wird darauf hingewiesen, dass die Einheimischen keine Reaktion auf das Winken zeigen –, auf kulturelle Unterschiede Acht geben soll, zum Beispiel darauf, dass ein afghanischer Mann sich unwohl fühlen könnte, ihr die Hand zur Begrüßung oder zum Abschied zu reichen (vgl. KB 107). Damit werden hier zwei Fremdbilder des Figurenkollektivs der Bundeswehr inszeniert, die trotz der Kenntnis des historischen Zusammenhangs unterschiedlicher kaum sein könnten. Interessant daran ist vor allem, dass sie jeweils von Figuren artikuliert werden, die aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten stammen. Während der Amerikaner Jordan, der in einem binär konstruierten Denkschema von Morgenland | Abendland oder Westen | Osten in der gleichen Sphäre verortet ist wie die deutschen Bundeswehr und darüber hinaus ein Verbündeter im Afghanistankrieg ist, bleibt an dem historischen Bild der Wehrmachtsoldaten, also dem ehemaligen Feind, haften, von dem sich die Bundeswehr deutlich abzugrenzen versucht. Der Afghane hingegen bezieht in sein Fremdbild die Praktiken des Figurenkollektivs ein und gelangt, trotz kultureller Fremde, zu einem Fremdbild, das dem Eigenkonzept der Bundeswehr näher zu stehen scheint. Trotzdem weisen beide Fremdbilder problematische Momente auf – während das Bild der Wehrmacht nicht mit der im öffentlichen Diskurs ausgehandelten Distanzierung übereinstimmt, wird das der freundlichen Soldatinnen und Soldaten zumindest indirekt als ineffektiv innerhalb eines Kriegsgeschehens umschrieben. Deutlich wird trotz der Divergenz der Fremdbilder, dass sich die Deutschen überwiegend aufgrund ihres Aufgabenfeldes und ihren Praktiken von anderen Streitkräften abgrenzen. Sie bleiben im Kontext des Krieges bewusst in der

118 WARBURG, Jens: Das Militär und seine Subjekte. Zur Soziologie des Krieges. Bielefeld: transcript 2008, S. 345f.

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Außenseiterposition verhaftet, versuchen diese zu schützen und wahren so das Bild eines vermeintlich ›sauberen‹ Krieges. 1.2.3.4 Mediales und filmisch inszeniertes Fremdbild der Bundeswehr Ein besonders bemerkenswerter Aspekt des Romans Kriegsbraut ist die literarische Verarbeitung des über die Medien und die Kunst transportierten Bildes von den Soldatinnen und Soldaten und ihrem Auslandseinsatz. Wichtig sind diese beiden Bereiche, da sie ein komplexes Geflecht und gleichsam eine Schnittstelle darstellen zwischen der gesellschaftlichen Meinung, die sie in Form von »Interessensgegensätze[n] verschiedener sozialer Gruppen auf kultureller Ebene«119 abbilden, und dem öffentlichen Diskurs, auf den sie mittels Normen, Werten und bestimmten Vorstellungen120 meinungsbildend wirken. Somit sind sie nicht neutrale Instanzen, die unabhängig berichten und darstellen, sondern stets determiniert von zahlreichen Faktoren, die teilweise sehr stark divergieren können. Indem der Roman andere Interdiskurse aufnimmt und verarbeitet, wird eine Metaebene eröffnet, die ein von den Medien gezeichnetes mehrdimensionales Bild entstehen lässt und zugleich der Literatur durch Gegendarstellungen die Möglichkeit eröffnet, sich zu distanzieren, hier besonders von dem Film sowie den journalistischen Nachrichten. In Form von Nachrichten wird in Kriegsbraut häufig die durch die Medien transportierte Meinung wiedergegeben, dass es sich bei dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan nicht um einen Kriegseinsatz handelt,121 exemplarisch dafür: »[S]ie hatte so hart trainiert und sich geistig auf einen Krieg in Afghanistan vorbereitet, obwohl von dort keine Nachrichten kamen, die auf einen Krieg hindeuteten« (KB 77) oder: »Als sie einmal auf ihn [Thilo] wartete, blieb sie beim Zappen an einem Film über deutsche Soldaten in Afghanistan hängen. Sie fand die Herausforderung interessant, bei vierzig Grad anstrengende Dinge zu tun.« (KB 37) Besonders die Konnotation des Auslandseinsatzes als ›Herausforderung‹ macht deutlich, dass Esther zum einen die von dem Interdiskurs Medien transportierte Einstellung, dass es sich nicht um einen Krieg handele, übernimmt und zum anderen ihre Motivation scheinbar primär auf der Vorstellung eines Abenteuers basiert. Eine hervorgehoben positive Haltung hinsichtlich der Unterstützung beim Wiederaufbau Afghanistans oder der Verteidigung verschiedener Werte, für die die Bundeswehr einsteht, werden von der Figur genauso wenig geäußert, wie eine potentiell zu erwartende Grenzerfahrungen des Leidens, des Kampfes und des Todes.122 Diese offensichtlich durch den Medienbericht gestärkte Einstellung kommt ihrem eskapistischen Verhalten, das sie nach der 119 STACHOWITSCH, Saskia: Fighting Women, S. 166. 120 Vgl. ebd. 121 Dieser Punkt findet sich auch in Tenners Roman Jenseits von Deutschland wieder, der dort an zahlreichen Stellen Anstoß zu massiver Kritik gibt (vgl. Abschnitt III, Kapitel 1.3.). 122 Auch Inas Motivation in Bezug auf eine Anstellung in der Bundeswehr ist im Übrigen nicht geprägt durch Kampferfahrung etc., sondern besteht darin, schneller an einen Studienplatz für Medizin zu gelangen, was auch deutlich macht, dass die Bundeswehr für die Figuren nicht in erster Linie mit den Konnotationen wie Krieg und Kampf verbunden ist.

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Trennung von Thilo auslebt, entgegen. Dass Esther sich ein sehr einseitiges Bild des Einsatzes macht und sogar auf Gefahren hofft, wird an mehreren Stellen deutlich, beispielsweise: »Die Nachrichten von dort [Afghanistan] waren nicht beunruhigend. Es passierte wenig, bislang war kein deutscher Soldat im Kampf getötet worden. Ihre Sorge war eher, dass es zu langweilig sein könnte, zu wenig abenteuerlich, die Fortsetzung des Kasernenlebens mit mehr Staub.« (KB 67) »Die Anschläge vom 11. September lagen nun zweieinhalb Jahre zurück. […] Es war ein Horror, sie dachte, die Welt würde nun immer so sein, aber dann war bald alles wieder normal, und in Wahrheit hatten die Anschläge ihr Leben kein bisschen verändert. In Greifswald passierte nichts. In Afghanistan waren deutsche Soldaten, aber denen passierte auch nichts.« (KB 45)

Der Inhalt der Nachrichten bzw. deren Rezeption durch Esther besteht vor allem in der Information, dass von den in Afghanistan stationierten Deutschen niemand verletzt oder getötet wurde. Dies ist insofern markant, da der häufig auf reale Gegebenheiten referierende Roman sich von den historischen Ereignissen an dieser Stelle distanziert: Esthers Aussagen sind innerhalb des Handlungsverlaufs deutlich auf das Jahr 2003 fixiert, einem Zeitpunkt also, zu dem im Afghanistankrieg bereits 35 deutsche Soldaten und Soldatinnen verletzt und 16 gefallen oder verunglückt waren.123 Gerade aufgrund der zahlreichen real-historischen Referenzen des Romans, stellt sich die Frage, ob hier Kritik an der interdiskursiven Darstellung der Medien, die dies nicht genug thematisieren oder gar verfälscht haben, geübt wird oder ob diese Differenz zur Charakterzeichnung der Figur Esther beitragen soll, die in ihrer Rezeption die verletzten und getöteten Soldaten nicht wahrzunehmen scheint. Eine andere Lesart besteht darin, dass hier, im Gegensatz zu dem vermeintlich realistischen Schreibstil des Romans, deutlich die Fiktion des Textes markiert werden soll. Festzuhalten bleibt jedoch, dass für die Figur Esther das von den Medien transportierte Bild über den Krieg in Afghanistan ein homogenes und vermeintlich friedliches ist. Ein weiterer Aspekt, der die Wichtigkeit der Medien im Allgemeinen und in Esthers Denken im Speziellen unterstreicht, ist die Furcht vor dem medialen Echo, das das Aufdecken der Liebesbeziehung von Esther und Mehsud nach sich ziehen würde: »Aber schlimmer war die Vorstellung, dass jemand die Sache einer Zeitung stecken würde. Sie steigerte sich ins Irrationale, sah die Schlagzeilen und erfand Wörter, die sie verletzten würden. Verräterin, Kriegsbraut, Kriegshure, fielen ihr als Erstes ein, doch damit würden sie sich nicht begnügen. Talibanliebchen. Talibanhure. Terrorbraut.« (KB 210f.)

Die Konsequenzen einer unehrenhaften Entlassung, die das Ende ihrer Karriere in der Bundeswehr zur Folge hätte, werden einer Bloßstellung ihrer Person und ihrer Beziehung zu Mehsud in den Medien untergeordnet. Interessant ist, dass eine dieser Bezeichnungen, die Esther als verletzend charakterisiert, nicht nur die reißerische 123 Angaben laut Tagesschau vom 06.10.2013. afghanistan2270.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].

http://www.tagesschau.de/ausland/

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Überschrift eines (fiktiven) Artikels, sondern eben auch den Titel des Romans darstellt. Neben einer kritischen Reflexion der medialen Darstellung des Krieges wird der Rezipient des Werkes an dieser Stelle besonders dazu angestoßen, sowohl die vorliegende literarische Verarbeitung des Krieges als auch seine eigene Wahrnehmung zu hinterfragen. Im Bereich der Kunst ist besonders das von dem ehemaligen Liebhaber Esthers und erfolglosen Filmemacher Thilo gezeichnete Bild der Soldatinnen und Soldaten maßgebend. Dieses Fremdbild wird explizit deutlich, wenn er Plotideen für zwei neue Filme ausführt, deren Handlungen den Auslandseinsatz in Afghanistan umfassen sollen. Der erste soll in Afghanistan in der Zukunft, im Jahre 2022 spielen. Signifikant ist, dass Thilo, der selbst nie in Afghanistan gewesen ist, die beiden Figurenkollektive der deutschen Soldaten und der afghanischen Bevölkerung mit ganz bestimmten Vorstellungen und Zuschreibungen, die sowohl die Praktiken der Kultur als auch das Aussehen betreffen, belegt. An der Auswahl der Statisten und Schauspieler kommen diese Zuschreibungen prägnant zum Ausdruck: »Die Einheimischen sind kein Problem, da finden wir in Marokko genug Leute mit den richtigen Gesichtern. Das Problem sind die deutschen Soldaten, mit unseren verwöhnten Bengels aus Gütersloh und Baden-Baden kann man das nicht machen, die sehen ja mehr aus wie Mädchen als wie Männer. Wir müssen auf dem Balkan suchen oder in der Ukraine, vielleicht auch Weißrussland. Da gibts noch Gesichter, die Entbehrung zeigen und Verrohung, wir nehmen am besten weißrussische Bauern, die spielen dann unsere Soldaten, Killer, das müssen richtige Killer sein, einerseits abgestumpft vom Leben in der grauenhaften Stadt, von den dreckigen Huren, den Krankheiten, den Raketen und Selbstmordattentätern, aber sobald sie einen Taliban riechen, sind das selbstverständlich Mordmaschinen.« (KB 69f.)

Auffällig gehäuft wird hier die Vorstellung des Eigenen auf eine spezifische Art und Weise ausgestellt: Das Eigene soll durch Schauspieler anderer Kulturen (Ukrainer, Weißrussen etc.) inszeniert werden, damit ein bestimmtes Bild des Eigenen entsteht, welches das Eigene paradoxerweise angeblich nicht darstellen kann. Damit wird eindringlich ein Bild der Soldaten entworfen, das mit dem Wort ›Killer‹ beschrieben wird und so nicht nur im Kontrast zu dem steht, was die Politik und die Medien – sowohl außerliterarische als auch in dem Roman – zeichnen, sondern auch mit den in Kriegsbraut dargestellten Praktiken des Figurenkollektivs der Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen, die primär durch Alltagsroutine und Langeweile charakterisiert werden, sehr viel weniger mit Kampfeinsätzen. Das Problem der angeblich verweichlichten Männer spiegelt ein bestimmtes Männlichkeitsbild des Soldaten wider, das bereits 1922 von Kurt Hesse, dem ehemaligen Oberstleutnant, ›Militärpädagogen‹ und Militärschriftsteller124 konstatiert worden ist, indem er einen »erschreckenden Mangel an Männern im heutigen Deutschland – an Männern im wahren Sinne des Wortes«125 diagnostiziert. Heins und Warenburg erkennen in dieser Art Aussagen 124 Vgl. MÖNCH, Winfried: Entscheidungsschlacht »Invasion« 1944?: Prognosen und Diagnosen. Stuttgart: Franz Steiner 2001 (= HMRG Beihefte, Bd. 41), S. 48. 125 HESSE, Kurt: Der Feldherr Psychologos. Ein Suchen nach dem Führer der deutschen Zukunft. Berlin: Mittler & Sohn 1922, S. 80.

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»die Orientierung an einer Norm von Männlichkeit, der ebenso klare Normen von Weiblichkeit entsprachen. Die Klage über den Mangel an wahren Männern war stets ein sicheres Indiz für den Überfluss an unverrückbaren Männlichkeitsbildern, als deren Hüter militärische Institutionen gesehen wurden.«126

Hier wird von dem Filmemacher Thilo also auf einen bestimmten ›Sollkörper‹ Bezug genommen, der aus historischer Perspektive vor allem durch seine zugeschriebene Männlichkeit gekennzeichnet ist, wobei oftmals nicht nur im biologischen Sinn darauf referiert wird, sondern auch im normativen.127 Somit scheint hier ein exakt festgelegtes, mit bestimmten Männlichkeitsbildern verbundenes Selbstbild zu existieren, das unbedingt eingehalten und zugleich tradiert werden muss, auch um den Preis, dass das Eigene nicht in der Lage ist, sich selbst zu inszenieren. Das bedeutet, dass es nicht darauf ankommt, wer das Eigene darstellt, sondern darauf, dass das ›richtige‹ Ergebnis, das ideale Bild, erzeugt wird. Die Grenzen haben hier also einen ambivalenten Charakter: Sie sind durchlässig (in Bezug auf die Personen) und starr (in Bezug auf das Ergebnis) zugleich. Aber nicht nur das Aussehen der Soldaten erfährt in dem Gedankenspiel über das Filmprojekt eine gründliche Transformation, sondern auch eine geschlechtsspezifische Differenzierung wird hier explizit vorgenommen: »›Wenn die Amerikaner überhaupt irgendwas interessiert an Deutschland, dann sind es deutsche Soldaten, aber nicht die Bundeswehrflaschen, die wir jetzt haben, sondern richtige deutsche Soldaten.‹ Er hielt inne. ›Entschuldige, Esther, ich meine die Männer.‹« (KB 71)

Die ausdrückliche Unterscheidung zwischen Männern und Frauen wird damit nicht nur von den Soldaten und Soldatinnen, also den Involvierten selbst, vorgenommen, sondern ebenso von außen – hier in der Form eines Films – oktroyiert. Während die Bundeswehrsoldatinnen gedanklich aus dem Filmprojekt gestrichen werden, da sie nicht dem zu konstruierenden Soldatenbild des Eigenen entsprechen, wird diese Differenzierung auch in den kulturellen Bereich übertragen, indem in Bezug auf das Fremde die Frauen fokussiert werden: Thilo entwickelt die Idee, dass die Burka der Hauptdarstellerin von einem Designer hergestellt werden soll, Gucci oder Stella McCartney, Designer also, die an dieser Stelle nicht nur als außerliterarische Referenz fungieren, sondern die zudem auch besonders für ihre luxuriösen Kleidungsstücke bekannt sind, was im klaren Kontrast zu der Burka einer Frau in einem Kriegsgebiet bzw. zum Krieg insgesamt steht. Zudem beschreibt Thilo die Burka, die für den Film angefertigt werden soll als »richtig sexy […], eng anliegend, schöne Taille und so.« (Ebd.) Neben der geschlechtsspezifischen Zuschreibung der Figurenkollektive (das Eigene als männlich und das Fremde vornehmlich als weiblich), tritt hier deutlich zutage, dass die ursprüngliche Funktion der Burka – zu verhindern, dass die Frauen »zu Opfern der sexuellen Gier der Männer werden« (KB 200), wie Mehsud 126 HEINS, Volker/WARENBURG, Jens: Kampf der Zivilisten, S. 107. 127 Vgl. ebd.

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Esther später erklärt – aus dieser Perspektive völlig ignoriert wird und damit auch die religiösen und traditionellen Paradigmen gänzlich ausgehebelt werden. Die Überlagerung der afghanischen Kultur durch die ›westliche‹, verdinglicht in dem Artefakt der modifizierten Burka, schafft so für den Rezipienten ein Identifikationsangebot, ein scheinbares Wiedererkennen des Eigenen im Fremden und bietet einen distanzschaffenden ›Schutz‹ vor einer Auseinandersetzung mit dem kriegerischen Geschehen der Gegenwart. Die Kultur Afghanistans wird so zur Kulisse für einen Film degradiert, der die vermeintliche Idealvorstellung von Männern aus der Sphäre des Eigenen in den Mittelpunkt stellt, wodurch das Fremde, das Andere nur genutzt wird, um das Eigene zu inszenieren. Damit geht es hier nicht darum, eine möglichst ›wirklichkeitsgetreue‹ Darstellung des Krieges und der vom Krieg betroffenen Bevölkerung zu produzieren, sondern darum, dem vermeintlich westlichen Bild zu entsprechen. Der Inhalt des Filmprojekts ist so nicht der Krieg in Afghanistan, sondern dessen Interpretation, zusätzlich forciert durch den Plot einer kitschigen Liebesgeschichte á la Hollywood, eine Liebesgeschichte, die im weiteren Handlungsverlauf des Romans selbst zum Bestandteil der literarischen Erzählung wird – die Beziehung zwischen Esther und Mehsud. Dabei werden nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch das Scheitern der kulturellen Grenzüberschreitung vorgeführt, wodurch eine romantische Verklärung des Krieges, wie der Filmemacher sie vornehmen will, auch auf der Ebene der Romanhandlung unterlaufen wird. Hier scheint die westzentrische Perspektive des medialen Interdiskurses, die der Roman explizit fokussiert, zugleich auch kritisiert zu werden. Besonders pointiert wird diese Sicht im Zusammenhang mit der kurz zuvor erläuterten, philosophisch anmutenden Aussage des Regisseurs dargestellt: »Versteht ihr, der Krieg wirkt zurück. Wir denken jetzt noch, dass wir aus Afghanistan eine kleine Bundesrepublik machen, mit schönen Wahlen und Menschenrechten und Frauenquote und alldem, aber in Wahrheit, das zeigt der Film, kommt Afghanistan zu uns. Wir werden ein Land der Obristen.« (KB 70) Dass, was Thilo in seinem Film über Afghanistan inszenieren will, nämlich seine Idealvorstellung der eigenen Kultur in dem Kontext eines existierenden Krieges im Ausland, ist bereits das, was er prophetisch vorausdeutet: Der Krieg wirkt zurück. Seine Aussage bezieht sich dabei selbstverständlich nicht auf seinen Film, sondern auf einen Umsturz der hiesigen Verhältnisse in eine Militärdiktatur. Sein Filmprojekt zeigt jedoch genau das Gegenteil auf: Das Eigene wird einer anderen Kultur aufgezwungen, das Andere wird den Werten der eigenen Kultur unterworfen. Die geäußerte Gefahr spiegelt die Angst wider, die ein solches Unterfangen mit sich bringt – die Befürchtung, dass das Fremde die Macht, die Oberhand gewinnt und das gleiche tut, wie man selbst. Während die Handlung des ersten Filmprojekts in der Zukunft spielt, soll die zweite Filmidee eine in der Antike stattgefundene Schlacht aufgreifen und »einen Ansatz [bieten], wie wir Geschichte heute erzählen können« (KB 302): die ›Schlacht im Teutoburger Wald‹ von 9 n. Chr. zwischen einigen Stämmen, die unter dem Begriff ›Germanen‹ subsumiert werden, unter der Führung des Arminius, und drei Legionen des römischen Heers, die unter dem Befehl von Varus standen. Die kulturellen Zuschreibungen, die durch diese Filmidee entstehen, sind noch signifikanter als die des ersten Filmprojekts. Varus, der römische Feldherr, soll Georg W. Bush repräsentieren, die ›Germanen‹ stellen die Afghanen dar. An dieser Stelle wird bereits der erste Unterschied zwischen der vermeintlich historischen Gegebenheit und dem

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Filmprojekt deutlich: Obwohl von Thilo dezidiert Varus und Arminius angesprochen werden, gibt es für die Figur des Varus-Bushs keinen Gegenspieler, die Afghanen haben keinen Anführer, der Arminius repräsentiert; sie werden lediglich durch die Masse, nämlich die Germanen, dargestellt. Zudem ist das Identifikationsangebot auch hier bedeutend: Erst seit dem Humanismus, in dem in besonderer Weise antike Texte rezipiert wurden, wurden die antiken Stämme, die sich rechts des Rheins angesiedelt hatten und die von Caesar als ›Germanen‹ bezeichnet wurden – ein Name, den sie als Selbstbezeichnung offenbar niemals benutzten128 – zu ›Deutschen‹ erklärt.129 D.h., dass die Volksstämme erst durch die verschiedenen, sehr viel später erfolgten Rezeptionsakte und durch ein verzerrtes Bild auf der Grundlage der ohnehin lückenhaften historischen Quellenlage und einer breiten literarischen Verarbeitung des antiken Stoffes, besonders prominent Die Hermannsschlacht von Heinrich von Kleist, in den deutschen Kulturraum eingeführt wurden. Jan Assmann führt im Kontext seiner theoretischen Ausarbeitung zum kulturellen Gedächtnis aus, dass die Schrift eine bedeutende Rolle bei der Erschließung der Erinnerungsräume innehat:130 »Als Gedächtnis, d.h. als System von Merkzeichen im Rahmen zerdehnter Situationen, erschließt die Kultur einen weit in die Vergangenheit zurückreichenden Raum von Erinnerungen und Wissensbeständen, den eine Gruppe sich als die eigene Vergangenheit zurechnet.«131 Anzumerken ist, dass die schriftlichen Quellen, im Gegensatz zu einigen archäologischen Funden, nicht von den Volksstämmen selbst stammen, sondern von griechischen und römischen Autoren und somit kein Selbst-, sondern ein Fremdbild beinhalten. Da diese Autoren oftmals keinen Kontakt mit den Stämmen hatten, sind »[d]ie darin geschilderten Sachverhalte […] nur im Bewusstsein dieser begrenzten Möglichkeit des Sehens, Verstehens und Ausdrückens der nicht-eigenen Kultur zu interpretieren.«132 Dies ist in Bezug auf die im Roman aufgegriffene Filmidee ein sehr entscheidender Punkt: Die ›Germanen-Stämme‹, im Film also die Afghanen, sind stets nur mittelbar repräsentiert. Sie legen kein Zeugnis von sich selbst ab, sondern werden, hier durch die Filmidee eines deutschen Regisseurs, durch Medien dargestellt, die von Menschen produziert werden, die selbst keinen Kontakt zu der Bevölkerung bzw. zu dem Krieg haben. Genau diese ›Germanen‹ also, die ursprünglich keine Deutschen, aber in diesem kulturellen Gedächtnis verhaftet sind, werden in Thilos Filmidee zur afghanischen Bevölkerung. Zudem werden die Afghanen hier – ebenso wie das historische Vorbild der Germanen – einfach unter einem Oberbegriff subsumiert: Der Krieg in Afghanistan richtet sich schließlich nicht gegen einen Staat bzw. ein Land und seine Bevölkerung, sondern gegen eine bestimmte terroristische Gruppierung – die Taliban –, die sich in Afgha128 Vgl. WOLTERS, Reinhard: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Varus, Arminius und das römische Germanien, in: Baltrusch, Ernst/Hegewisch, Morten/Meyer, Michael u.a. (Hrsg.): 2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden. Berlin/Bosten: De Gruyter 2012, S. 3-21, hier S. 7. 129 Vgl. ebd., S. 4. 130 Vgl. ASSMANN, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, in: Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Kolloquien des Max Weber-Kollegs. XV-XXIII. Erfurt 2001, S. 9-28, hier S. 14. 131 Vgl. ebd., S. 15. 132 WOLTERS, Reinhard: Die Schlacht im Teutoburger Wald, S. 7.

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nistan aufhalten. Mit dieser Übertragung der gegnerischen Seiten auf den antiken Konflikt wird keine Differenzierung zwischen Afghanen und Terroristen vorgenommen, was eine entgrenzende Gleichsetzung implizit. Auch hier zeichnet sich, ebenso wie in der ersten Filmidee, eine deutliche Verschiebung der Grenze zwischen Eigenem und Fremdem ab. Dass, was mit dem Eigenen konnotiert wird – die ›GermanenStämme‹ – wird zum Anderen. Wenn man den Vergleich des Afghanistankrieges mit der Varusschlacht zu Ende führt, gehen die Afghanen als ›Sieger‹ aus diesem Krieg hervor. Eben diesen Gedanken äußert auch der Schuldirektor, dem Esther später von dieser Filmidee berichtet, und geht noch darüber hinaus: »›Die deutschen Soldaten enden also auch wie Varus und die Römer?‹ ›So glauben sie, und so ist es in dem Film gedacht.‹ ›Er hat einen Film entwickelt, in dem du sterben musst? Er ist dein Freund, dachte ich.‹ ›Er hat dabei nicht an mich gedacht.‹ […] ›Er [Thilo] findet es falsch, dass die Amerikaner Afghanistan überfallen haben, und er will zeigen, dass sich überlegen fühlen nicht heißt, dass man überlegen ist.‹« (KB 324f.)

Nicht nur der schlechte Ausgang des Afghanistankrieges für die Mitglieder der Bundeswehr wird hier deutlich, sondern auch Thilos persönliche politische Anschauung, die seine Plotidee determiniert und die in dem Film zum Ausdruck kommen soll, auch wenn das bedeutet, dass Esther im übertragenen Sinne somit auf der Seite der Verlierer stehen würde. Der einzige Punkt, der eventuell eine Vergleichbarkeit zulassen könnte – auf den im Roman jedoch nicht eingegangen wird – ist die Kampfstrategie. Besonders der Name ›Varusschlacht‹ ist diesbezüglich irreführend, da er impliziert, dass sich, wie in einem klassischen Staatenkrieg, 9 n. Chr. zwei Heere gegenüberstanden und gegeneinander gekämpft haben. Dies war nach geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen aber höchstwahrscheinlich nicht der Fall. Die sowohl zahlenmäßig als auch waffentechnisch überlegenen Römer zogen durch unwegsames Gelände (angeblich den Teutoburger Wald) und wurden hier mehrfach und plötzlich aus dem Hinterhalt angegriffen.133 Demnach scheint die Gruppe der Angreifer unter Arminius Führung eine partisanenhafte Kampfstrategie verfolgt zu haben – ebenso wie es in Kriegsbraut für die islamistischen Terroristen beschrieben wird.134 133 Vgl. ebd., S. 11f. 134 Diese Guerilla-Taktik wird im Übrigen auch in Kleists Hermannsschlacht beschrieben, ebenso wie Kleists persönliche politische, antifranzösische Haltung darin zum Ausdruck kommt. Stamm-Kuhlmann hält in diesem Zusammenhang fest: »Solche Anfälle von Opportunismus waren freilich bei Kleist gepaart mit der unabhängig von der Aussicht auf Gratifikationen gewonnenen Einsicht, dass die napoleonische Hegemonie nicht nur seine persönlichen Lebenspläne mehrfach durchkreuzt hatte, sondern generell mit dem Gedeihen Europas nicht vereinbar war. Die Hinwendung zur Thematik des nationalen Verteidigungskriegs, die sich während Kleists Dresdner Aufenthalt im Jahr 1808 anbahnte, ist nur zu verstehen, wenn man annimmt, dass Kleist mit der im Herbst 1808 noch in Dresden geschriebenen ›Hermannsschlacht‹ einen Appell an die zaudernden Eliten in Preußen und Österreich, mit ihren Monarchen Friedrich Wilhelm III. und Franz I. an der Spitze, rich-

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Die beiden narrativierten Filmprojekte Thilos machen deutlich, dass zum einen großes Interesse daran besteht, den Konflikt in Afghanistan zu inszenieren und zum anderen, dass es dabei nicht darum geht, eine möglichst ›realistische‹ Darstellung zu produzieren. Es sollen zwei verschiedene Zeitebenen genutzt werden – die Zukunft und die Vergangenheit –, um den gegenwärtigen Konflikt filmisch darzustellen. Diese Auslagerung in eine andere Zeit verhindert die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Konflikt und entbindet den Film einer realitätsgetreuen Produktion.135 Vor allem aber der kulturelle Aspekt, der in den beiden Filmprojekten zum Ausdruck kommt, ist signifikant. Beide Inszenierungen des Afghanistankrieges, bei der ersten eher implizit, bei der zweiten äußerst deutlich, werden mit der deutschen Kultur vermischt, so dass aus verschiedenen Perspektiven ein kulturell überformtes Bild des Krieges zustande kommt. Das Identifikationsangebot ist damit in beiden Fällen besonders hoch. Das Fremde der Kultur und des Krieges wird so von dem bekannten Eigenen überlagert. Wie viel Einfluss der Interdiskurs Medien in Bezug auf den Krieg sowohl hinsichtlich der in den öffentlichen Diskurs einwirkenden Nachrichten als auch der filmischen Inszenierung nicht nur auf die Zivilbevölkerung, sondern auch auf die Soldaten selbst hat, wird ebenfalls an mehreren Stellen der Kriegsbraut deutlich. »Nun wurde ihr [Esther] mulmig, dies war der perfekte Ort für einen Hinterhalt, sie hatte das in vielen Filmen gesehen, jeder hatte das gesehen. Manchmal ärgerte es sie fast, dass die Flut der Kriegsfilme jeden zum Experten machte und sie als Soldatin dem keine eigenen Erfahrungen entgegenhalten konnte, nur Theorie, die bei einem gemütlichen Abendessen in Deutschland weniger zählte als eine Episode aus einem Kriegsfilm.« (KB 104) ten wollte, jede bedachtsame Klugheit abzuwerfen und stattdessen einen Verzweiflungskampf gegen die bedrückende napoleonische Vorherrschaft in Europa zu wagen.« (STAMM-KUHLMANN, Thomas: Zwischen Menschheitspathos und papierenem Blutrausch. Intellektuelle wecken den Widerstandsgeist der deutschen Nation, in: Veltzke, Veit (Hrsg.): Für die Freiheit – gegen Napoleon. Ferdinand von Schill, Preußen und die deutsche Nation. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 219-232, hier S. 228.) Neben der prägnanten Asymmetrie zwischen den kämpfenden Parteien, die hier deutlich wird, wird in dem Stück der sich entwickelnde Hass auf die raubenden und verwüstenden Römer dazu genutzt, dass die Germanen sich erheben und kämpfen. In Kleists Rezeption dieses historischen Ereignisses sollen sich im übertragenen Sinn die Deutschen also gegen die französischen, von Napoleon angeführten Besatzer erheben, während in Thilos Filmprojekt die genau andere Seite, die Seite der Afghanen gegen die Deutschen und ihre Verbündeten kämpfen und gewinnen wird. Gemeinsam ist den beiden Verarbeitungen hingegen, dass ein spezifisches historisches Ereignis dazu genutzt wird, um bestimmte, gegenwärtige Anschauungen darzulegen und das aktuelle politische Geschehen zu beeinflussen. 135 Kurbjuweit selbst erörtert in Bezug auf seine poetologische Konzeption: »Film und Roman sind klassische Erweiterungsräume für die Wirklichkeit. Der Rückgriff auf fiktionale Welten verknüpft das Unvorstellbare mit dem Gesehenen oder Gelesenen. Damit wird es paradoxerweise realer, also wieder vorstellbar und weniger unheimlich.« (KURBJUWEIT, Dirk: Einer von mir.)

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Neben der markant inszenierten medialen Beeinflussung von Esthers Verhalten in einem tatsächlichen Kriegsgebiet werden hier zwei zentrale Punkte angesprochen: Erstens wird die unterlassene Differenzierung in dem kriegslosen Ausgangsraum zwischen dem aus dem eigenen Erfahrungsraum stammenden Wissen und dem aus der medialen Vermittlung resultierenden, kritisiert. Hinsichtlich eines vermeintlichen ›Expertenwissens‹ scheint es demnach keinen Unterschied zu geben, ob die Wirklichkeit des Krieges als Soldatin selbst erlebt wurde oder lediglich als Konsument eines Films – die unterschiedlichen Praktiken, einerseits die des Soldaten/der Soldatin und andererseits die des Zivilisten/der Zivilistin werden somit einer vergleichbaren Sphäre zugeordnet. Angedeutet wird die Ursache dafür in dieser Aussage ebenfalls: Durch die hohe Quantität der Kriegsfilme – wohlbemerkt ist hier die Rede von Spielfilmen, nicht von Dokumentationen – scheint das Figurenkollektiv der zivilen Zuschauer ebenso viel über den Einsatz zu wissen, wie die Kriegsteilnehmer selbst. Durch den Vergleich – und der daraus resultierenden positiven Bewertung des Films – wird die Grenze zwischen Fiktion und Romanrealität gleichsam aufgehoben, auch aus der Sicht einer Soldatin, die sich in einem solchen Kriegsgebiet befindet. Damit wird offenkundig, dass die Rezeption von Kriegsspielfilmen der Zivilistin Esther das Verhalten der Soldatin (Wachsamkeit, Einschätzung der Gefahrenlage) beeinflusst, was den normierenden und starken Einfluss des Interdiskurses besonders hervorhebt. Gerade diese Entgrenzung ist indes signifikant in dem Zusammenhang der Filmprojekte von Thilo, die deutlich ausstellen, dass die Filme spezifischen Rezeptions- bzw. Interpretationsmechanismen des Krieges unterliegen und darüber hinaus auch von der persönlichen politischen Meinung des Regisseurs geprägt sind. Zweitens wird an dieser Stelle der Gegensatz von Theorie und Erfahrung hervorgehoben, wobei Letzteres höher bewertet wird. Die Theorie, die Esther im Vorfeld über den Einsatz erlernen musste, zählt weniger als der Film. Allein Erfahrung, und damit ist eindeutig Kampferfahrung gemeint, so resümiert Esther, könnte eine Filmepisode übertrumpfen. Ihr Einsatz, ihre Erfahrungen in Afghanistan und vor allem das von der Bundeswehr erklärte Hauptziel des Wiederaufbaus und der Hilfe für die zivile Bevölkerung werden innerhalb eines hierarchischen Bewertungsgefüges der deutschen Gesellschaft niedriger bewertet als Gewalt und Schrecken – die Vorstellung des Kriegsalltags, die in den meisten Kriegsfilmen inszeniert wird. Diese von Esther aufgegriffenen Bewertungspraktiken des zivilen Figurenkollektivs stehen im Widerspruch zu einer Gesellschaft, die ausdrücklich den Frieden forciert. Dass Esther selbst dieser medial inszenierten Vorstellung des Krieges vor ihrer Rekrutierung unterlag, wird ebenso in dem geäußerten Wunsch, in Afghanistan zu kämpfen, deutlich wie an der naiv-verklärten Vorstellung, ein solcher Auslandseinsatz sei eine (bloße) sportliche Herausforderung und man könne dort etwas Abenteuerliches erleben. Somit gelangt in dem Roman Kriegsbraut ein spezifisches über die Medien und die Kunst, wesentlich den Film, transportiertes Bild des Krieges und der (männlichen) Soldaten zur Anschauung. Der Roman als Interdiskurs greift Vorstellungen, Meinungen und Normative anderer Medien auf und zeigt zugleich selbst eine ganz andere ›Wirklichkeit‹ des Krieges, wodurch Distanz zu anderen Medien geschaffen wird. Besonders in Bezug auf die filmische Verarbeitung der neuen Kriege kann eine Kritik herausgelesen werden, die den Rezipienten sensibilisieren soll, um auf der einen Seite die Grenze zwischen Fakt und Fiktion kritisch auszuloten und auf der

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anderen Seite auch die besonders für Kriege relevanten Selbst- und Fremdbilder zu hinterfragen. 1.2.4 Die grenzenlose Langeweile des Krieges Drei der insgesamt fünf Kapitel, wovon eins das mit Abstand umfangreichste des Romans Kriegsbraut ist, stellen den Handlungsraum Afghanistan dar. Auffällig an der Beschreibung ist hier vor allem die einförmigen, stets gleichbleibenden Praktiken, aus Esthers Sicht die maßlose Langeweile, der die Soldatinnen und Soldaten ausgesetzt sind und die das Leben des Figurenkollektivs in Afghanistan determiniert.136 Die im Voraus verbalisierte größte Befürchtung eines »zu wenig abenteuerlich[en]« (KB 67) Auslandsaufenthaltes erweist sich schnell als sich erfüllende Vorahnung: »Mahlzeiten ordneten auch hier den Tag, die Zeit nach dem Frühstück war die Zeit, die auf das Mittagessen zulief. […] Sie starb fast vor Langeweile, hörte aber zu und tat sogar interessiert. Der Unterschied zu Munster war, dass sie hier eine Flecktarnuniform trug. Der andere Unterschied war die Hitze, mit der sie leidlich zurechtkam.« (KB 83)

Wie an dieser Stelle bereits deutlich wird, spielen besonders die beiden Kategorien Raum und Zeit in ihrer Funktion als Segmentierungseinheiten eine wichtige Rolle, wie die Unterteilung des Tages in Essenszeiten. Diese herrschte bereits während des Dienstes in Deutschland vor, doch wird sie in Afghanistan noch potenziert. Gerade der Umstand, dass der Nahrungsaufnahme innerhalb des Normalfeldes des Figurenkollektivs eine so bedeutende Position eingeräumt wird, ist relevant im Kontext der Kriegsdarstellung. Die Fokussierung auf die symbolisch für das Leben stehende Nahrung steht in direktem Kontrast zu den Begleiterscheinungen des Krieges, dem Leiden, der Entbehrung und dem Tod. Dies lässt wiederum Rückschlüsse auf die Position der Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen innerhalb des Kriegsgeschehens zu: Sie positionieren sich als Außenseiter, was innerhalb des internationalen militärischen Gefüges auch mit dem Auftrag der Hilfeleistung und dem gleichzeitigen Verbot, initiativ auf den Feind zu schießen, korrespondiert. In diesem Zusammenhang ist zudem die ungläubige Frage des amerikanischen, am Kampfgeschehen unmittelbar beteiligten Soldaten Jordan zu lesen: »›Ihr sorgt mit tausend Soldaten dafür, dass ihr in Ruhe essen könnt?‹« (KB 92) Indes wird nicht nur die grenzsetzende Funktion der Zeit als Distinktionsmarker in Bezug auf festgesetzte Essenszeiten thematisiert, sondern auch das gegenteilig entgrenzte subjektive Zeitempfinden der Figur Esther: Die scheinbar endlose Langeweile manifestiert sich in dem Versuch, 136 Diese mit dem Alltagsgeschehen verbundene Routine wertet Kurbjuweit als Journalist durchweg positiv, ja sogar als Erfolg der Bundeswehr: »Die Bundeswehr hat die Verantwortung übernommen für die Menschen im Norden [Afghanistans]. Es geht ihnen insgesamt recht gut damit. In Kunduz, Masar-i-Scharif und anderswo gibt es einen normalen, nichtkriegerischen Alltag. […] Die Nachrichten von getöteten Soldaten verdecken, dass es diesen Alltag gibt. Er ist auch ein Erfolg der Bundeswehr.« (KURBJUWEIT, Dirk: Die Zähmung der Bestie, S. 32f.)

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nicht zu häufig auf die Uhr zu schauen, da das subjektive Empfinden stark von der objektiv messbaren Uhrzeit abweicht: »So zerhackte sie die Stunden und brachte eine nervöse Unruhe in diese Tage der Ruhe.« (KB 86) Beachtenswert ist die in diesem Kontext erörterte Differenzierung zwischen kindlicher Langeweile, die dadurch charakterisiert ist, dass »einem die Souveränität über die Zeit fehlt[…]« (ebd.), und der ab der Adoleszenz verorteten Muße, die zwar ebenfalls Untätigkeit, aber »frei von Zwang und manchmal erstrebenswert« (KB 87) ist. Die an den Praktiken des Figurenkollektivs der Soldatinnen und Soldaten ausgerichteten Alltagsabläufe der Protagonistin haben indes eine Verschiebung der Empfindung der Zeitstruktur zur Folge: Die seit der Jugend gepflegte Muße wird wieder zur Langeweile, was sie in »den Zustand kindlichen Missvergnügens« (ebd.) versetzt. Damit werden zum einen Esthers Fremdbestimmung in der rigiden Struktur des Militärs und zum anderen die praktizierte Untätigkeit, die im Kontrast zu den Assoziationen eines Krieges und Kampfes steht, unterstrichen. Die von der Protagonistin subjektiv empfundene Zeitlosigkeit wird jedoch nicht nur auf das Gefühl, wieder ein fremdbestimmtes Kind zu sein137 bezogen, sondern zugleich auch auf ihre Vorstellung von ihrem eigenen Greisenalter, das sich, hervorgerufen durch ihre Untätigkeit, sogar körperlich in Form eines schwachen Pulses äußert, der von Esther als eine »Aufforderung, sich nicht mehr um dieses Leben zu bemühen« (ebd.) interpretiert wird. So wird der eigene Tod nicht mit Verletzung und Kampf verbunden, sondern mit dem Gegenteil, der Passivität. Die Grenze zwischen dem Anfang und dem Ende des Lebens ist hier keine Kennzeichnung zweier Gegensätze, die sich antithetisch gegenüberstehen. Vielmehr wird diese Grenze aufgelöst, die beiden Pole verschmelzen zu einer untrennbaren Einheit der untätigen Langeweile, die die Kriegsdarstellung in Kriegsbraut auszeichnet. Damit wird auch der die neuen Kriege bestimmende gewandelte Zeitrhythmus exemplarisch an der Protagonistin vorgeführt. Während die Kriege der letzten Jahrhunderte generell eine Tendenz zur Beschleunigung aufwiesen138, zeichnen sich die neuen 137 Das Gefühl, kindlich oder kindisch zu sein, das mit Dummheit und Unerfahrenheit gleichgesetzt wird, hat Esther auch in anderen Zusammenhängen, wie zum Beispiel bei der an den amerikanischen Soldaten Jordan gerichteten Frage, was er tun würde, wenn er Mullah Omar, einen bekannten Terroristen, finden würde (vgl. KB 92) oder bei den Nachfragen aus dem medizinischen Bereich im Kontext der Erzählung Inas über einen Verwundeten während eines vermeintlichen Angriffs, der sich als Unfall herausstellte (vgl. KB 119f.). Sie führt ihre Unwissenheit nicht auf die speziellen Bereiche zurück, sondern auf ihre Passivität, die mit ihrer Kampfunerfahrenheit einhergeht. 138 Münkler hält dazu fest: »Die Militärgeschichte der letzten Jahrhunderte weist […] insgesamt eine beständige Tendenz zur Beschleunigung militärischer Geschehensabläufe auf: von der systematischen Anlegung baumbestandener Chausseen unter Napoleon, auf denen die Truppen mit hoher Marschgeschwindigkeit bewegt werden konnten, über die Nutzung des Eisenbahnnetzes für den Aufmarsch der Truppen unter dem älteren Moltke bis schließlich zur Motorisierung ganzer Divisionen in den 1930er und 1940er Jahren, was eine größere Beweglichkeit der Truppen für die Gefechtsführung zur Folge hatte.« (MÜNKLER, Herfried: Der Wandel des Krieges, S. 178f.) Zudem haben zu dem veränderten Zeitrhythmus im Sinne der Beschleunigung technische Errungenschaften in der Seefahrt sowie in der Luft- und Raumfahrt beigetragen (vgl. ebd., S. 179f.).

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Kriege gerade durch ihre Mechanismen der Entschleunigung aus. Münkler führt dazu aus, dass man diese Entschleunigung auch »als eine systematische Asymmetrierung in Reaktion auf eine asymmetrische waffentechnische und militärorganisatorische Überlegenheit des Gegners dechiffrieren [kann].«139 Der als Tod, dem absoluten (zeitlichen) Stillstand, empfundene Zustand Esthers versinnbildlicht so die Kampfstrategie der neuen Kriege und verweist zugleich auf die Asymmetrie zwischen einer Seite, die waffentechnologisch überlegen ist, aber lediglich ein begrenztes Zeitbudget hat und der anderen Seite, die zwar über nur »geringe Beschleunigungsreserven« verfügt, dafür aber ein »tendenziell unerschöpfliches Zeitbudget«140 besitzt. Während sich die Kategorie der zumindest subjektiv empfundenen Zeit als entgrenzte darstellt, zeichnet sich der Raum des Lagers in Kunduz durch seine starke Begrenzung aus: »Nach zehn Minuten sah sie die Mauer des Lagers, dahinter hohe Lichtmasten, oben Stacheldraht, Türme an den Ecken. Ein Gefängnis sah nicht anders aus. Am Tor standen große, mit Steinen und Sand gefüllte Tonnen, um Selbstmordattentäter aufzuhalten.« (KB 79) Die Sicherheitshinweise scheinen im Kontext eines Krieges nicht sonderlich auffällig zu sein, aber insbesondere die Assoziation mit dem Äußeren eines Gefängnisses weist zum einen auf die räumliche Trennung der Deutschen innerhalb des afghanischen Gebiets hin, gleich einer Heterotopie, die sich zwar räumlich innerhalb einer Gesellschaft befindet, jedoch gänzlich von dieser abgeschottet ist und in der besondere und vor allem von den der Gesellschaft unterschiedene Regelungen und Bestimmungen gelten,141 was die Außenseiterposition der Bundeswehr auch geographisch fixiert. Zum anderen verdeutlicht die Gefängnisassoziation wiederum Esthers im Vorfeld gebildete, zur Kriegserfahrung konträre Abenteuervorstellung vom Krieg in Afghanistan. An anderer Stelle wird das Lager als »Kleinstadt« (KB 154)142 bezeichnet, die zum einen immer weiter ausgebaut wird und sogar über einen Swimmingpool verfügt und zum anderen eine eigene Lagerordnung strikt durchführt und Verstöße dagegen streng ahndet. Gerade weil das Lager einer Festung gleicht, die unberührt von ihrer Umwelt autonom besteht und jeden Feindkontakt unterbindet, ist die Ankunft einiger amerikanischer Soldaten für die Deutschen beunruhigend. Dies liegt weniger daran, dass das zwar verbündete aber immer noch Fremde in den geschlossenen Bereich des Eigenen eindringt, sondern vielmehr daran, was die Amerikaner symbolisieren, nämlich den Krieg, den aktiven Kampf gegen Terroristen: »›Wenn Amerikaner hier sind, dann sind auch Taliban da. Die Amerikaner kommen nur, um Taliban zu jagen.‹« (KB 88) Damit konstituiert sich die Grenze nicht nur zwischen dem ›Innen‹ des Lagers und dem ›Außen‹ des Krieges, sondern verläuft auch zwischen den in Afghanistan stationierten Deutschen im internationalen Kontext. Die pauschalisierenden Aussagen über 139 Ebd., S. 181. 140 Ebd., S. 185. 141 Vgl. FOUCAULT, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 12ff. 142 Derartige Assoziationen werden auch in Die Sprache der Vögel von Norbert Scheuer aufgegriffen, wenn der Protagonist Paul das Lager beispielsweise »Lagerdorf« (SV 117) nennt (vgl. Abschnitt III, Kapitel 1.1.).

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›die Amerikaner‹ eröffnen ein binäres Denkschema in wir | ihr. Diese Dichotomie beruht zwar auch auf der jeweiligen nationalen Zugehörigkeit der Figurenkollektive, aber in diesem Zusammenhang wohl zuerst auf den Tätigkeiten innerhalb des Krieges: aktiv-kämpfen | nicht-kämpfen. So grenzen sich die Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen auf eigentümliche Art und Weise von dem Krieg in Afghanistan ab: Mit der auf das Essen konzentrierten Routine des Alltags auf der einen Seite und der abgeschotteten räumlichen Verortung auf der anderen Seite verschmelzen Raum und Zeit zu einer chronotopischen143 Einheit. Die Tätigkeiten scheinen sich kaum von denen in Deutschland zu unterscheiden, sie befinden sich lediglich in einem anderen Land, zu dem sie jedoch kaum Kontakt haben. Sie scheinen daher keine Teilnehmer des Krieges zu sein, sondern eher Außenstehende, Beobachter, Untätige, die von den anderen UN-Soldaten klar durch eine Grenze, die nicht überwindbar ist, getrennt sind. Sowohl Esthers Eskapismus, der ihr Antrieb war, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten, als auch ihre verklärte Abenteuervorstellung vom Krieg legen nahe, dass diese »Fortsetzung des Kasernenalltags bei Hitze« (KB 83) eine entsprechende Enttäuschung bei der Protagonistin hervorruft. Die Handlung des Romans bleibt jedoch nicht bei der Darstellung der Alltagsroutine stehen. Zunächst werden kleinere Zwischenfälle, wie beispielsweise die Entdeckung eines Schnellkochtopfes am Straßenrand, von dem fälschlicherweise vermutet wird, dass er Sprengstoff beinhalte, beschrieben. In diesem Zusammenhang macht sich Esther das erste Mal Gedanken über den Krieg und die mögliche Konsequenz ihres Todes, was mit Euphorie und dann mit Scham darüber einhergeht. Auch ein Raketenangriff auf das deutsche Lager144, bei dem ein Obergefreiter verletzt wird, gehört zu diesen Zwischenfällen, die eine andere – Esthers Meinung nach bessere – Stimmung innerhalb des Figurenkollektivs hervorrufen (vgl. KB 180): »Alles hatte einen neuen Sinn, weil sich der Feind gezeigt hatte. Ein Feind machte jeden Handgriff zur Wehrtat.« (KB 181) Dieses verklärte Hochgefühl legt sich aber durch das Verbot, zu der Schule zu fahren, sofort wieder und die auf den Angriff folgende noch größere Passivität der Deutschen, die sich nun völlig abkapseln und nicht einmal mehr Konvois ein- und auslassen, sorgt für die schwermütig anmutende Zusammenfassung: »Am Nachmittag gab es fast kein Leben mehr, ein Gefühl, als sei der Krieg gegen die Hitze verloren worden.« (Ebd.) Am Anfang des letzten Drittels kommt es zu der einzigen direkten Kampfdarstellung des Romans. Auf dem Rückweg von der Schule in das Lager geraten die beiden Fahrzeuge in einen Hinterhalt, bei dem der vordere mit zwei Infanteristen besetzte Wolf in eine Sprengfalle fährt, durch deren Detonation die beiden Soldaten getötet werden, und der Wagen, in dem Esther und Tauber sitzen, beschossen wird. Nachdem Tauber durch eine Verletzung am Bein kampfunfähig wird, ist Esther die einzi143 Vgl. BACHTIN, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 1986, S. 8ff. 144 Ein Motiv, das sich ebenfalls in Scheuers Roman Die Sprache der Vögel wiederfinden lässt. Im Gegensatz zu der Protagonistin Esther, die den Beschuss als an- und aufregende Bedrohung empfindet, ändern die steten Raketeneinschläge nicht Pauls idyllische Wahrnehmung des Lagers (vgl. Abschnitt III, Kapitel 1.1.).

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ge Soldatin, die dazu in der Lage ist, das Gegenfeuer zu eröffnen. Wie sich später herausstellt, kämpft sie allein gegen sechs Taliban. Zum Zeitpunkt des Kampfes sieht sie signifikanter Weise niemanden – der Feind ist unsichtbar, verschanzt, sie kämpft gegen eine unsichtbare Wand, verdinglicht in der Mauer, die das Gehöft umschließt, aus dem die Schüsse kommen. Esther, die sich, wie betont wird, vorschriftsmäßig verhält, kontaktiert das Lager via Satellitentelefon und erfährt dort, dass kein einsatzfähiger Hubschrauber verfügbar sei, der sie unterstützen könne und ein Konvoi in zwei Stunden eintreffen würde – die implizite Kritik an dieser Art Kriegsführung und Ausrüstung der deutschen Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen, die sich selbst in einer Notsituation kaum verteidigen können, ist kaum zu überlesen und wird später auch in Form von Aussagen einiger Soldaten explizit thematisiert. Interessant ist, was und vor allem auf welche Weise der Kommandeur nach einem Schusswechsel mit Esther kommuniziert: »›Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen nichts geschieht‹, sagte der Kommandeur, und Esther fand, dass seine Stimme fürsorglich klang, fast mütterlich. Sie fragte sich kurz, ob das bei einem Mann auch so sein würde, aber dann fielen wieder Schüsse, und sie verlor den Gedanken.« (KB 238f.) Dieses Versprechen des Kommandeurs, dass er objektiv nicht einhalten kann und das insbesondere in Bezug auf die Hiobsbotschaft, über keine sofortige Unterstützung zu verfügen, unglaubwürdig ist, soll wohl dazu dienen, Esther zu beruhigen, was durch den ›mütterlichen‹ Klang seiner Stimme unterstützt wird. Gerade diese der Stimme des Kommandeurs zugeschriebene Eigenschaft des ›Mütterlichen‹ – nicht des ›Väterlichen‹ – verweist in diesem Zusammenhang wiederum auf die binäre Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit, deren Grenze literarisch vorgeführt wird und nicht überschritten werden kann. Esthers Zweifel, dass er diesen Ton auch bei einem männlichen Kollegen gewählt hätte, unterstreichen die Ungleichbehandlung der Soldatinnen und Soldaten, die im gesamten Roman immer wieder thematisiert und auch in dieser konkreten Kampfsituation aufgegriffen wird. Durch die intern fokalisierte Erzählperspektive wird dem Leser das Kampfgeschehen aus Esthers Sicht geschildert. Auch hier spielen die Kategorien von Raum und Zeit eine bedeutsame Rolle. Zwei Stunden auf einen deutschen Konvoi warten zu müssen, hätte die Folge, dass Esther aufgrund der geringen Menge an verbleibender Munition sich und Tauber nicht die vollständige Zeit verteidigen könnte. Der vom Kommandeur mitgeteilte Ausweg aus ihrer Notsituation sind zwei amerikanische Apache, die in der Nähe seien und in sieben Minuten bei ihnen eintreffen würden. In dieser Zeit denkt Esther über mögliche Strategien der Angreifer nach und darüber, dass sie sich im richtigen Moment erschießen müsste, damit sie nicht gefangen genommen und vergewaltigt würde. Dies hatte sie – vermittelt durch Inas Erzählungen aus dem Krieg in Bosnien (vgl. KB 240) – bereits im Vorfeld beschlossen. Aufschlussreich ist, dass sich Esther weder Gedanken über eine mögliche Folter mit dem Ziel, Informationen über die Bundeswehr und deren Strategien von ihr zu erhalten, noch um Kriegsgefangenschaft macht, sondern ganz spezifisch über Vergewaltigung – ein Aspekt, der, wie Herfried Münkler für die neuen Kriege herausgestellt hat, gerade in den gegenwärtigen Kriegsgeschehen in besonders großem Umfang auftritt und vor allem gegen Frauen, allerdings Frauen aus der Bevölkerung, gerichtet ist.145 Auch Inas Erzählungen, an 145 MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 148.

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die sich Esther in dem Moment erinnert, handeln von zivilen Frauen und Mädchen. Somit fokussiert sie sich hier in erster Linie auf ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht als ihren Berufsstand der Soldatin. Bedeutungsträchtig ist es dann ausgerechnet eine amerikanische Pilotin, die auf das Gehöft eine Rakete abschießt146 und damit Esther und Tauber aus ihrer Situation befreit, wodurch ein narratives Konstrukt zweier kämpfender Frauen geschaffen wird, das im Kontrast zu den kampfunfähigen Männern steht. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Esther überrascht ist, dass sich über Funk eine Frau meldet (vgl. KB 242).147 Die Selbstverständlichkeit, dass Frauen Militärdienst leisten, die Esther auch später gegenüber ihren Vorgesetzten vehement vertritt, wird damit gleichsam obsolet. Besonders die sie noch längere Zeit verfolgende Unsicherheit, ob sie Schuld auf sich geladen hat oder nicht, steht im Kontrast zu dem Gespräch, dass sie nach ihrer Ankunft im Lager mit einigen ranghohen Soldaten, unter anderem dem Lagerkommandeur, mit dem sie während des Gefechts Funkkontakt hatte, führt. In dieser Situation wird sowohl die Grenze zwischen Esther und den Vorgesetzten als auch die zwischen ihr und den männlichen Soldaten deutlich, die hier in eigentümlicher Weise miteinander verschmelzen. Die Furcht, sich falsch entschieden zu haben, als sie sagte, keine Zivilisten gesehen zu haben, potenziert sich in dem Gespräch noch, denn »[t]ote Zivilisten waren das Schlimmste für diese Leute« (KB 252) – die Abgrenzung zu den Vorgesetzten durch die Bezeichnung ›diese Leute‹ wird hier besonders deutlich – und diese Annahme wird dann auch bestätigt: »Es wäre eine Katastrophe, wenn die Öffentlichkeit erführe, dass wir für den Tod einer Frau und zweier Kinder verantwortlich sind.« (KB 256) 146 Die Episode des Kampfes scheint in abgewandelter Form ein historisches Vorbild zu haben, das Kurbjuweit selbst in mehreren Berichten als Journalist erwähnt. Oberst Georg Klein, der in Afghanistan stationiert war, gab 2009 den Befehl, zwei entführte Tanklaster zu bombardieren, wobei zahlreiche Zivilisten starben. Parallelen finden sich zum einen darin, dass sowohl in der real-historischen Begebenheit wie auch in dem Roman nicht Deutsche, sondern Amerikaner aus der Luft angriffen und zum anderen, dass scheinbar verschwiegen oder zumindest nicht überprüft wurde, ob sich Zivilisten in der Nähe aufhalten oder nicht. Während Oberst Kleins Befehl gesellschaftlich stark kontrovers diskutiert wurde – von den einen wurde er zum Kriegshelden von den anderen zum Kriegsverbrecher erklärt – soll eine solche Debatte in dem Roman eben verhindert werden durch absolute Geheimhaltung. Kurbjuweit konstatiert als Journalist in Kleins Fall, dass er »ein Geschöpf des Krieges« (KURBJUWEIT, Dirk: Belohnte Bomben, in: Spiegel 33 (2012), S. 23.) sei, »ein Mensch, der in Deutschland wahrscheinlich niemandem etwas zuleide getan hätte. Aber er war im Krieg, und der Krieg hat ihn dazu gebracht, diesen fatalen Befehl zu geben.« (KURBJUWEIT, Dirk: Die Zähmung der Bestie, S. 31.) Anders ist die beschriebene Situation in Kriegsbraut insofern, als dass das real-historische Vorbild den Beschuss als Präventivschlag angefordert hatte, Esther hingegen sich in einer unmittelbaren Kampfsituation befindet. Gemeinsam ist den beiden Fällen, dass Zivilisten ums Leben kamen. 147 Baßler fragt in diesem Zusammenhang pointiert nach dem Neuigkeitswert dieses Romans, der sich dem realistischen Erzählen verschrieben hat: »Und was ändert es schließlich am Kriegseinsatz, bei dem Frauen und Kinder umkommen, ob Soldaten und Piloten weiblich sind?« (BASSLER, Moritz: Ah, es ist Ladies Day.)

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Eindeutig steht hier die im öffentlichen Diskurs generierte Meinung, der Schein, im Fokus des Interesses, nicht der Tod der Zivilisten an sich. Wichtig sind demnach, wie schon an anderen Stellen deutlich wurde, die Außenwirkung eines ›sauberen‹ Krieges und der gesellschaftliche Diskurs, in dem der Bundeswehreinsatz verhandelt wird, nicht die vermeintliche ›Wahrheit‹ oder die ›Realität‹. Dies wird auch in der mehrfachen Belehrung über die Geheimhaltung des Gesprächs deutlich. Die Angst davor, dass das Gefecht und dessen Folgen »aufgebauscht oder verfälscht« (KB 258) werden könnte, könne nur mit »strengste[m] Stillschweigen« (ebd.) bezwungen werden. Aufschlussreich ist an dieser Stelle die Andeutung des Kommandeurs, dass die Öffentlichkeit zu einer »eigenen Einschätzung« komme, die von bestimmten »Interessen« (ebd.) gelenkt werde. Wessen Interessen an dieser Stelle gemeint sind, wird nicht weiter ausgeführt, sondern sie bleiben mit dem Verweis »Sie wissen alle, wovon ich rede« (ebd.) in Form einer Leerstelle im Unbestimmten haften. Die Gendergrenze wird an einer Stelle dieses Gesprächs besonders deutlich: »›Sie als Frau müssten das doch in besonderer Weise verstehen‹, sagte der Major.« (KB 256) Die Fürsorge, das Leben Schützende und Bewahrende, das dem weiblichen Geschlecht unterstellt und zur Ablehnung von Soldatinnen instrumentalisiert wird, wird auch Esther zugeschrieben, obwohl sie sich gerade in einem Gefecht ›bewährt‹ hat. Dieses Paradox scheint ihr bewusst zu sein, weshalb sie sich gegen diese Art der Zuschreibung behauptet: »›Weil es ganz normal ist, dass ich als Frau Soldat bin, also im Krieg töten kann. Warum soll es dann nicht normal sein, dass eine Frau getötet wird – ich meine, so normal, wie wenn ein Mann getötet wird?‹« (KB 257) Esther versucht hier also die zwischen den Geschlechtern gezogene Grenze zu unterlaufen, indem sie sich selbst nicht nur mit der männlichen Variante ihres Berufstandes (Soldat) bezeichnet, sondern sich auch darauf beruft, dass es im Krieg keine Sonderbehandlung für Frauen gebe und dass sie als Frau durchaus eine Frau töten könne (was allerdings in der konkret beschriebenen Kampfhandlung fraglich ist, da grundsätzlich ungeklärt bleibt, ob Esther überhaupt jemanden getötet hat). Auch die einlenkende Bemerkung, dass es sich bei der Getöteten um eine Zivilistin handelt, vermag Esther nicht gelten zu lassen, da auch hier eine Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Zivilisten vorgenommen wird, die die Protagonisten ebenso wie die zwischen Soldaten und Soldatinnen negiert. Es scheint auf den ersten Blick so, als ob Esther als bewegliche, grenzüberschreitende Figur agieren würde, allerdings sind auch nach diesem Gespräch die aus genau den zugeschriebenen, vermeintlich weiblichen Eigenschaften resultierenden Selbstzweifel, gegen die sie sich zuvor noch ausgesprochen hat, weiterhin präsent: »Und ob die Frau nun freiwillig auf dem Hof war oder nicht – hätte nicht sie, Esther, dafür sorgen müssen, dass ihr und den Kindern nichts geschieht? Also doch eine andere Behandlung für Frauen? Für Kinder jedenfalls.« (KB 265) Indem sie sich weiterhin Vorwürfe macht, wird die Dichotomie, die Ungleichheit von Frauen und Männer, gegen die sie sich bei ihrem Bericht über das Gefecht vehement ausgesprochen hatte und die dazu benutzt wird, gegen die Integration von Frauen in die Bundeswehr zu argumentieren, von ihr selbst tradiert. »Bei der Rede vom Schutz geht es um die Abgrenzung zu den kämpfenden, starken Männern. […] Zu schützende Weiblichkeit wird zum höchsten Gut der bedrohten Gruppe.«148 148 HARDERS, Cilja: Geschlecht und Gewalt in der Neuen Weltordnung, S. 223.

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Neben den Selbstzweifeln erlangt Esther jedoch auch ein spezifisches, sich auf ihre Kampferfahrung stützendes Selbstvertrauen, was sie auch von ihren Vorgesetzten abgrenzt, die ein solches nicht besitzen: »Sie […] wollte nichts mehr verbergen, sie wollte ihnen erzählen, dass sie sich bewährt hatte im Kampf, und das hatte sie doch auch. […] Sie hatte gekämpft, und an der Art, wie ihr diese Männer an den Lippen hingen, erkannte sie, dass damit etwas ganz Neues für sie begann.« (KB 254) Dieses ›Neue‹ offenbart sich nicht nur in dem Bericht für ihre Vorgesetzten, von dem sie sogar glaubt, dass sich »die Hierarchie […] gedreht hatte« (ebd.), sondern auch in den Reaktionen der männlichen Soldaten: »›Endlich haben wir es denen mal gezeigt‹, das war ein Satz, den Esther häufiger hörte. ›Glückwunsch‹, das auch.« (KB 270) Die Anerkennung, die sie von den Soldaten erfährt, ist insofern von Bedeutung, weil Esther nun scheinbar die Grenze zwischen den kämpfenden Soldaten und den nicht-kämpfenden Soldatinnen überschritten hat – ihr Kampf wird in der Sphäre des Krieges als ›wir‹ gegen ›sie‹ gedeutet, wodurch Esther eine neue Position einnimmt. Allerdings gelten trotz differenter Zuschreibungen die zuvor beschriebenen, vor allem passiven Praktiken für das gesamte Figurenkollektiv, eine grenzüberschreitende Einordnung in die Sphäre der männlichen Soldaten durch einen Kampfeinsatz kann es dementsprechend nicht geben, da das Kämpfen nicht zu der Konstitution des Normalfeldes des Eigenen zählt. Deutlich wird mithin, dass die männlichen Soldaten das Kämpfen scheinbar trotz gegenläufiger Praktiken ihrem disjunkten Teilbereich zuordnen, Esthers Alterität als Frau wird so für einige Zeit zurückgestellt, im Vordergrund stehen Faszination und Gemeinschaftsgefühl. Dies ändert sich jedoch, nachdem Esther aufhört, von den Ereignissen zu berichten, da ihr »die euphorische Art« (ebd.) der zuhörenden Soldaten mißfällt. »Manchen galt sie nun als eingebildete Ziege, anderen als traumatisiert.« (Ebd.) Esthers vorgebliche Integration in die männliche Domäne aufgrund ihrer Kampferfahrung erweist sich als temporär, sie wird wieder zurückgenommen und die Grenze zwischen den (männlichen) Soldaten wird von ihr erneut gezogen. Und wiederum sind beide Seiten an der Grenzziehung und Aufrechterhaltung beteiligt. 1.2.4.1 Das Bild der Taliban Gemäß der Außenseiterposition der deutschen Soldatinnen und Soldaten wird von den Kämpfern der Taliban in Kriegsbraut auf spezifische Weise ein Bild gezeichnet, das sich ausschließlich durch die Sicht von außen bildet, vornehmlich vermittelt sowohl durch die Kampfberichte des Amerikaners Jordan als auch durch den Einheimischen Mehsud. Letzterer äußert sich in einem Gespräch mit Esther auf deren Frage, ob es hier Taliban gebe, über die Terroristen folgendermaßen: »›Wer ist ein Taliban? Sie tragen keine Uniform, sie haben keinen Parteiausweis, es ist schwer sie zu erkennen.‹ ›Sie sind bewaffnet.‹ ›Bewaffnet ist hier jeder.‹« (KB 149)

Mehsud spricht an dieser Stelle eins der wichtigsten Merkmale der neuen Kriege an: die Schwierigkeit, Kombattanten von Non-Kombattanten abzugrenzen, was die gezielte Kriegsführung gegen einen definierbaren Feind besonders erschwert. Das auch aus seiner Sicht Fremde wird so prägnant als ein schwer einzugrenzendes Figuren-

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kollektiv dargestellt, das man von außen eben nicht als Feind definieren kann. Damit stört das Fremde die gesellschaftliche Ordnung, weil sie nicht greifbar sind.149 Esthers Einwand, dass man Terroristen an ihren Waffen erkennen könne, wirkt einerseits im Hinblick auf ihren Status als ausgebildete und mit der Problematik der sich im Schutz der Zivilbevölkerung versteckenden Taliban vertraute Soldatin recht unwissend, sogar naiv, und verweist andererseits auf ihr kulturell codiertes Denkschema, das eine klare Zuordnung von Waffen mit Kämpfern evoziert. Zudem scheint sie, wie auch Mehsud bemerkt, die Möglichkeiten der Taliban zu unterschätzen, was besonders in der Frage, wie ein mit einer Drohung versehener Zettel Verbreitung finden konnte, zum Ausdruck kommt. Mehsuds ironische Antwort darauf, die zugleich auf die Gefahr, das islamistische Denken mit überholten, unzeitgemäßen Praktiken gleichzusetzen aufmerksam macht, lautet: »›Die Verfasser haben offensichtlich Zugang zu einem Kopierer. So modern sind sie dann doch.‹« (KB 148) In diesem Zusammenhang wird von Mehsud auch Kritik am deutschen Schutzauftrag der Schule geübt: »›Gut, jetzt beschützen Sie uns, aber um zwei Uhr verschwinden Sie wieder, weil Sie an jedem Tag um zwei Uhr verschwinden. Es gibt eine große Staubfahne, und Sie sind weg, ganz und gar weg, und dann kommt die Nacht, und die Nacht gehört denen, die sich am Tag nicht zeigen. Die haben dann die ganze Macht.‹« (KB 150)

Gerade das Merkmal der Routine, durch das sich die militärischen Praktiken der Mitglieder der Bundeswehr auszeichnen, steht einer effizienten Bekämpfung der unberechenbaren Terroristen entgegen, was dem Schutzauftrag der Schule, aber auch den Handlungen in dem Kriegsgeschehen insgesamt einen tendenziell sinnlosen Charakter zuspricht. Auch die Begrenzung der Hilfsleistung auf einige Stunden erfährt in diesem Zusammenhang Kritik, die sich an anderer Stelle durch das Fernbleiben der zu schützenden Schülerinnen noch potenziert. Wenn die Akteure der Taliban im Besitz der ›ganzen Macht‹ sind, sind die Soldaten und Soldatinnen nicht anwesend, weshalb ein solcher Auftrag von Grund auf wirkungslos ist: Der Feind kann durch eine solche, zeitlich limitierte Strategie nicht bekämpft werden. Die angesprochene Grenze zwischen Tag und Nacht, die sich an eben jenen unterschiedlichen Machthabern manifestiert, verbindet die jeweiligen Figurenkollektive mit spezifischen Konnotationen – Helligkeit | Dunkelheit, Berechenbarkeit | Unberechenbarkeit – und impliziert zugleich eine Machtlosigkeit der Bevölkerung, die scheinbar passiv die jeweiligen Machthaber ertragen muss. Während Mehsud die Taliban durch ihre Unberechenbarkeit und ihre Undefinierbarkeit charakterisiert, fokussiert der amerikanische Soldat hingegen vornehmlich die Situation des Kampfes gegen die Taliban: »›Sie sind unglaublich dünn, wenn du sie da liegen siehst, sie sehen aus, als würden sie sterben, sobald du sie anspuckst. Aber sie sterben nicht einmal, wenn du ihnen ein Dutzend Kugeln in den Leib jagst. Um sicherzugehen, dass sie tot sind, müsstest du ihnen das Herz rausschneiden.‹« (KB 93f.) Ebenso wie an dem von ihm gezeichneten Bild über die Wehrmacht lässt sich 149 Vgl. BAUMAN, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, S. 23-49 und in dieser Arbeit Abschnitt II, Kapitel 1.2.

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hier eine verklärte, fast märchenhafte Darstellung von den Terroristen, die nicht sterben wollen oder können, erkennen; es scheint sich kaum noch um Menschen zu handeln. Durch diese Art der Mystifizierung werden sie zum völlig Anderen, mit dem man sich nicht mehr identifizieren kann, wodurch Distanz geschaffen wird. Judith Butler führt im Kontext der neuen Kriege aus: »Diejenigen, die wir töten sind nicht ganz menschlich und nicht ganz lebendig, und das bedeutet, dass wir beim Verlust ihres Lebens nicht den gleichen Schrecken und Zorn empfinden wie beim Verlust anderer, die uns in nationaler oder religiöser Hinsicht ähnlicher sind.«150 Die Grenzziehungsmechanismen treten hier deutlich hervor, negieren die Möglichkeit der Übertretung und schaffen eine Distanz zum Feind, die das Töten rechtfertigt – sie sind das vollkommen Andere. Für die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten spielt vor allem ein Terrorist eine Rolle, von dem die Amerikaner berichten: Mullah Omar, der sich in einer Höhle in der Nähe des deutschen Lagers aufhält. Er spaltet die in Afghanistan Stationierten in zwei Gruppen: die eine hat sich das Ziel gesetzt, den Terroristen für das Kopfgeld von zwanzig Millionen Dollar zu töten. Das zunächst paradox wirkende Bestreben der anderen Gruppe, der »Mullah-Omar-Gruppe« (KB 158), ist der Schutz dieses Mannes. Der Hintergrund dafür ist spezifisch für die Praktiken der Deutschen in Afghanistan insgesamt: »›Wenn die Jagd auf Mullah Omar machen, herrscht hier bald Krieg, und das kann doch keiner wollen.‹« (KB 159) Die Zielsetzung der forcierten Praktiken liegt also in der Wahrung der Ruhe und der Vermeidung von Kampfhandlungen. Hier zeichnet sich eine deutliche Grenze zwischen den beiden Figurenkollektiven ab, die, weil die Ziele sich konträr gegenüberstehen, nicht überwunden werden kann. In Bezug auf das restriktive, gleichförmige Praktiken einschließende Normalfeld des Figurenkollektivs insgesamt kann die Gruppe mit der Zielsetzung Mullah Omar zu töten, als Abweichung von der diskursiven Norm bezeichnet werden, da diese die strenge Reglementierung des Verbots des initiativen Waffengebrauchs der Bundeswehr umfasst. Wenn einige Soldaten den Terroristen »liquidieren« (KB 158) wollen, verstoßen sie direkt gegen diese Vorschrift. Um der Verletzung der Norm entgegenzuwirken und ihr eigenes Ziel zu verfolgen, scheint die andere Gruppe sogar bereit zu sein, die Kopfgeldjäger-Gruppe mittels Gewalt aufzuhalten. Da diese Thematik in dem Roman nicht wieder aufgegriffen wird, bleibt die Auflösung dieses Konflikts zwischen den Figurenkollektiven eine Leerstelle. Gerade deshalb scheint diese Differenzierung relevant zu sein, sie stützt das Bild der Bundeswehr als Figur des Außenstehenden: Ein aus dem Tod des Terroristen resultierender Konflikt würde direktes Einwirken, eine aktive Integration in den Krieg beinhalten, was sowohl eine Änderung der diskursiv ausgehandelten Position zum Krieg als auch eine Wandlung der sich an erster Stelle durch ihren passiven Charakter auszeichnenden Praktiken mit sich bringen würde. Eine weitere Spezifik des von den Deutschen gezeichneten Fremdbildes der Taliban ist die eindeutig männliche Konnotation: »Der Major lachte laut auf. ›Aufständische Frauen, das wäre ja noch schöner‹, sagte er.« (KB 257) Die hier deutlich werdende pauschale Negierung der Existenz von Terroristinnen ist verwunderlich, da 150 BUTLER, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M./New York: Campus 2010, S. 47.

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Frauen bereits in den klassischen Staatenkriegen beispielsweise als Spione eingesetzt wurden und auch (islamistische) Attentäterinnen keine Seltenheit sind, ebenso wie auch in den Führungspositionen der RAF – der im kollektiven Gedächtnis der deutschen Gesellschaft fest verankerten Terrororganisation – einige Frauen vertreten waren. So scheint es hier deutlich weniger um die Aussagekraft bzw. den Wahrheitsanspruch zu gehen, sondern vielmehr um das Bild des Majors in Bezug auf Frauen im Kriegsgeschehen. Die durch das traditionelle Rollenverständnis entstehende Dichotomie zwischen der Frau als sorgender, das Leben schützender und dem Mann als kämpfender, das Leben nehmender Instanz kommt deutlich zum Ausdruck und wird im Anschluss wie folgt kommentiert: »Da war sie, die Wahrheit. So dachten sie hier.« (Ebd.) So wird nicht nur eine deutliche Grenze zwischen den Soldaten und den Soldatinnen gezogen, sondern auch auf der zu bekämpfenden Seite der Terroristen: Talibananhänger sind demnach ausschließlich Männer. Die männliche Konnotation in Bezug auf die am Krieg Beteiligten erweist sich hier als grenzüberschreitendes Merkmal. 1.2.5 Die Schuldfrage Die Frage nach der Grenzsituation Schuld151 speziell im Afghanistankrieg, aber auch in Kriegsgeschehen allgemein, wird im Roman Kriegsbraut an unterschiedlichen Stellen und unter Bezugnahme verschiedener Figuren aufgegriffen, weshalb sie an dieser Stelle separat kursorisch beleuchtet wird. Im Zusammenhang der in Afghanistan stationierten deutschen Soldaten und Soldatinnen werden in einem Gespräch zwischen Mehsud und Esther zwei Verweise auf Schuld anschaulich: Zum einen wird die durch die nationalsozialistische Vergangenheit aufgeladene Schuld der Deutschen thematisiert, die als moralische Erbschuld auch für die gerade aktiven Soldaten präsent ist. Demnach hat der Umgang mit der Vergangenheit einen entscheidenden, nämlich determinierenden Einfluss auf das konstruierte Selbstverständnis der Bundeswehr. Zum anderen spielt die durch vermeidendes Verhalten hervorgehende Schuld eine Rolle, wenn die Deutschen beispielsweise den Anbau von Drogen in Afghanistan nicht unterbinden, trotz des Wissens darum, dass diese Drogen auch nach Deutschland gelangen (vgl. KB 175). Beide Aspekte der Schuld, die hier angesprochen werden, beruhen nicht auf aktivem Handeln, sondern vielmehr auf der passiven Haltung der Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen. Für Esther, die als bewegliche Figur durch die Kampfsituation die Grenze von der passiven Soldatin hin zur aktiven überschritten hat, kommt noch ein weiterer Aspekt der Schuld hinzu: die Verantwortung für die Tötung von Zivilisten. Obwohl der deutsche Konvoi in einen Hinterhalt geraten ist – auch hier spielt die Passivität wieder eine große Rolle, denn die Deutschen haben nicht initiativ angegriffen, sondern wurden zuerst von einigen Kämpfern der Taliban beschossen –, setzt nach dem Kampfgeschehen ein Aushandlungsprozess von Schuld und Unschuld bei Esther ein. Dieser beruht darauf, dass sie in der Umgebung des Gehöfts jede Woche eine Frau und zwei Kinder gesehen hatte, die Frage der Pilotin, ob sie Zivilisten gesehen habe, 151 Vgl. JASPERS, Karl: Philosophie. Bd. 2: Existenzerhellung, Berlin/Göttingen/Heidelberg: Springer 1956.

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jedoch verneint hat. Die vermeintliche Schuld, die Esther damit auf sich geladen hat, wird zwischen den Polen des Schuldeingeständnisses »[s]ie hätte das sagen müssen« (KB 244) und der Unschuld »[s]ie musste das nichts sagen« (ebd.) verhandelt. Der Aushandlungsprozess findet aber nicht mithilfe der von Thomas Kühne ausgearbeiteten zwei prototypischen Rechtfertigungsmuster statt – einerseits der von der eigenen Verantwortung entbindenden »Berufung auf das vertikale Prinzip von Befehl und Gehorsam« und andererseits der auf existenzieller Notwehr beruhenden »Berufung auf die gleichsam horizontale Er-oder-ich-Situation«152. Vielmehr sammelt Esther Argumente, die »für sie« (KB 266) sprechen: dass sie gekämpft hat, dass sie nicht wusste, dass sich Zivilisten auf dem Gehöft befinden und »[d]ass eben Krieg war« (ebd.). Es gibt also keine Rechtfertigungsstrategie, die sie von der Schuld befreit, sondern die Protagonistin bindet die vermeintliche Schuld am Tod der Frau und der beiden Kinder emotional an sich, die Toten werden als stete Begleiter, sogar als Familie bezeichnet: »Die Frau und die beiden Kinder würden zu ihr gehören wie die Mitglieder einer Familie, sie würde mit ihnen leben müssen, ob sie wollte oder nicht, aber das war ja allgemein so in Familien.« (KB 268) Besonders markant an dieser Stelle ist, dass Esther die »konkrete[…] Schuld« (KB 266) auf sich nimmt, obwohl sie nicht direkt ihren Tod verursacht hat – gestorben sind sie durch die von der amerikanischen Pilotin abgeschossene Rakete auf das Gehöft. Trotzdem ist auch hier die Unterlassung der ausschlaggebende Punkt für die Schuld: Die Soldatin hat ihr Wissen, zumindest aber ihre Vermutung, dass die Frau und die Kinder in dem Gehöft leben, nicht weitergegeben. Also geht es auch bei dieser Schuldfrage nicht darum, was getan wurde, sondern darum, was nicht getan wurde. Interessanterweise wird im Kontext des einzigen im Roman beschriebenen Figurenkollektivs von aktiv Handelnden (was sowohl das Kämpfen als auch das Töten einschließt), den amerikanischen Soldaten, die Schuldfrage nur indirekt thematisiert. Bei den Kampfbeschreibungen des Soldaten Jordan wird zwar explizit davon gesprochen, dass amerikanische Soldaten die »Scheißtaliban« (KB 94) töten – ebenso wie auch amerikanische Soldaten ums Leben kommen –, jedoch gehen in seinen Berichten die Kampfhandlungen immer von der feindlichen Seite aus – das Töten erscheint demnach als notwendige Verteidigungsstrategie. Während eine Schuld in diesen Kontext nicht konstitutiv für das Selbstbild Jordans zu sein scheint, wird die Schuldfrage bezüglich der Amerikaner von deutscher Seite aufgegriffen, allerdings nicht direkt, sondern nur mittelbar: »Tote Zivilisten waren das Schlimmste für diese Leute [ranghohe deutsche Soldaten]. Dann konnten sie sich nicht mehr gut fühlen, dann konnten sie den Amerikanern nicht mehr vorhalten, wie brutal deren Kriegsführung sei, ein Krieg gegen die Bevölkerung, während die Deutschen alles täten, um die Bevölkerung zu gewinnen, weil nur so dem Land langfristig zu helfen sei und so weiter.« (KB 252)

Aktiv zu handeln und dabei den Tod von Zivilisten in Kauf zu nehmen weist die vermeintliche Schuld der Amerikaner aus. Die Grenze, die zwischen den deutschen und den amerikanischen Soldaten verläuft, basiert damit – aus deutscher Sicht – nicht 152 KÜHNE, Thomas: Der Soldat, S. 361.

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nur auf aktivem und passivem Handeln, sondern auch auf Schuld und Unschuld. Diese Vorstellung impliziert eine Unüberwindbarkeit der Grenze, da sie auf dem Verhalten und den unterschiedlichen Zielsetzungen der beiden Figurenkollektive beruht. Neben der Thematisierung der Schuld im Zusammenhang militärischer Operationen und Praktiken wird auch eine Aushandlung auf ziviler Seite vorgeführt. Der Schuldirektor berichtet Esther, dass er aufgrund der Repressionen der Taliban und den damit verbundenen Einschränkungen hauptsächlich für seine Ehefrau und Tochter beschloss, mit seiner Familie nach Pakistan zu fliehen. Diese geographische Grenzüberschreitung ist zwar mit Gefahren verbunden, stellt jedoch vor allem einen Ausweg dar, um den Lebensumständen in Afghanistan zu entkommen. Während der Flucht wird Mehsud von seiner Frau und seiner Tochter getrennt. »›Natürlich bin ich schuldig. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass wir getrennt werden. Das ist die eine Schuld. Ich hätte zurückkehren müssen, als klar war, dass die beiden nicht kommen würden. Das ist die zweite Schuld. Die zweite Schuld ist größer. Der Trennung hat meine Frau zugestimmt. Ich hätte mich natürlich durchsetzen müssen als Mann, insofern ist das kein großer Trost. Im zweiten Fall gibt es überhaupt keinen Trost. Ich hätte sofort nach Dschalalabad zurückkehren müssen, um die Suche aufzunehmen.‹« (KB 173)

Auch die hier beschriebene Schuld basiert ebenso wie in Bezug auf das Figurenkollektiv der deutschen Soldaten auf Passivität: Es war zwar nicht Mehsuds Entscheidung, aber er hat die Trennung von seiner Frau und seiner Tochter hingenommen und er ist aus Angst vor den Taliban nicht zurückgekehrt, sondern hat einige Zeit im Flüchtlingslager auf sie gewartet und Leute engagiert, die Informationen sammeln sollten. Bei den im Roman verhandelten Fragen nach Schuld geht es also um ganz verschiedene Situationen und Figuren. Somit wird ein scheinbar unlösbares Dilemma ausgestellt: Sowohl die aktiv kämpfenden Amerikaner als auch die deutschen Soldaten und Soldatinnen, die zwar nicht töten, sondern ihrem Auftrag getreu winken, »[w]eil sie denken, dass sie unschuldig bleiben, wenn sie winken« (KB 175), machen sich gleichermaßen schuldig – Handeln oder Nicht-Handeln führt in Bezug auf die Schuldfrage zum gleichen Ergebnis. Damit konstituiert sich die Grenze zwischen Schuld und Unschuld nicht über die Entscheidung zwischen Aktivität oder Passivität oder über die beteiligten Personen. Der Schuldirektor fasst lakonisch zusammen: »Solange es Afghanistan gibt, ist niemand unschuldig.« (Ebd.) Genau hier liegt der Kernpunkt der Verhandlung der Schuldfrage in den neuen Kriegen: Es ist nicht das Land Afghanistan, das Schuld auslöst, sondern es ist der Krieg an sich. Die verschiedenen beteiligten Akteure, die aus unterschiedlichen historischen, kulturellen, religiösen und nationalen Kontexten heraus agieren (oder eben nicht agieren), machen sich gleichermaßen schuldig: die Terroristen, die Soldaten, die Soldatinnen, die Einheimischen. Schuld kann damit nicht klar umgrenzt werden, sie kann nicht einer bestimmten Gruppe, wie dem ›Feind‹, der ohnehin in den neuen Kriegen schwer zu greifen ist, oder den aktiv kämpfenden und auch tötenden Amerikanern zugeschrieben werden, um sich selbst davon freizusprechen. Auch die innerhalb des Kriegsgeschehens

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eingenommene Außenseiterposition der Deutschen, die Passivität, das Nicht-Handeln beinhalten Schuld und entheben sie nicht der Verantwortung.153 Damit findet sich im Roman Kriegsbraut in diesem Moment eine Aufhebung der Grenze: Schuld, so wird hier deutlich, kann nicht lediglich einem Bereich zugeordnet werden, in einem Krieg macht sich jede Seite auf irgendeine Weise schuldig, die Schuld erscheint hier somit als ein grenzüberschreitendes moralisches Phänomen. 1.2.6 Die begrenzte Liebe Die Grenze, die zwischen den Einheimischen und den deutschen Soldatinnen und Soldaten dargestellt wird, findet auch ihren Ausdruck in der Liebesgeschichte154 zwischen Mehsud und Esther, die allerdings eine »ganz andere Qualität«155 des interkulturellen Kontakts hat. Sie beginnt mit der von Esther übernommenen Aufgabe, zwei Mal in der Woche zu einer Schule zu fahren, um sicherzustellen, dass, gegen den Willen der Taliban, auch Mädchen am Unterricht teilnehmen können. Sie wird damit betraut, da sie des Russischen mächtig ist – die erste Fremdsprache, die sie in der Schule zur Zeit der DDR lernte – und sich so mit dem Schuldirektor verständigen kann. Hier finden Mehsud und Esther dann auch ihre erste Gemeinsamkeit: Sie lebten beide in Gebieten, die von der UdSSR besetzt waren, wodurch auf der einen Seite der Zweite Weltkrieg und die im Nachklang damit verbundene Teilung Deutschlands und auf der anderen Seite die zehn Jahre dauernde Intervention der Sowjetunion in Afghanistan zwischen 1979 und 1989 in Erinnerung gerufen werden. Die russische Sprache, in der sie sich verständigen, die aber für beide nicht die Muttersprache, sondern eine durch Besatzung erlernte ist, wirkt damit historisch, kulturell und geographisch grenzüberschreitend. Anfänglich bestehen die Gespräche aus Esthers Erzählungen über Erlebnisse aus ihrer Kindheit, über einen Marderhund, einen Wal, ein Schloss usw. Die Erzählstruktur ist somit unterteilt in eine Rahmenhandlung (die Schulbesuche) und eine Binnenstruktur (Geschichten aus der DDR). 153 Gerade für den Aspekt der Schuldfrage erhält der Roman in einigen Rezensionen positive Kritik, da nicht eine bestimmte Partei zur Verantwortung gezogen wird. Beispielsweise heißt es bei Gustav Seibt: »Mit moralischer Feinwaage justiert Kurbjuweit das Dilemma einer lebensrettenden Selbstverteidigung, die gar nicht umhin kann, Unschuldige mitzutreffen.« (SEIBT, Gustav: Die Frau, die sich traut, in: Süddeutsche Zeitung vom 10.03.2011. http://www.sueddeutsche.de/kultur/roman-kriegsbraut-die-frau-die-sich-traut -1.1069865 [letzter Zugriff: 07.06.2017].) Oder bei Sibylle Saxer: »Ohne den moralischen Zeigefinger zu heben, zeigt der Roman plastisch auf, wie schnell man im Krieg Schuld auf sich lädt.« (SAXER, Sibylle: Soldatin am Hindukusch. Dirk Kurbjuweits Afghanistan-Roman »Kriegsbraut«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 23.07.2011. http://www.nzz.ch/soldatin-am-hindukusch-1.11575809 [letzter Zugriff: 07.06.2017].) 154 Eine interessante Beobachtung macht Stefan Hermes in diesem Zusammenhang: »Kurbjuweit unterläuft also den Topos vom Krieger, der sich fernab des Vaterlandes in eine fremde Frau verliebt – zu denken wäre an die Beziehung zwischen Achill und Briseis in Homers Ilias (8. Jh. v. Chr.) –, indem er die Positionen der Geschlechter invertiert.« (HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!«, S. 235.) 155 Ebd.

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Da sich diese Handlung wiederholt, kann man von einem »Rahmenzyklus«156 sprechen. Besonders interessant sind an dieser Stelle zwei von Mielkes Thesen zur zyklisch-seriellen Narration. Zum einen konstatiert sie, dass die Rahmenerzählung eine besondere Funktion aufweise: »Die für Literatur grundlegende Thematik der Funktion des Erzählens innerhalb einer (realen) Gesellschaft und darüber hinaus des Erzählens als einer anthropologischen Konstante, wie sie z.B. in der Psychologie anerkannt wird, tut sich hier im (fiktionalen) Mikrokosmos der zyklischen Rahmung auf: Erzählen als Selbstvergewisserung und Stabilisierung der personalen wie sozial-kollektiven Identität einer Gruppe, als Tradierung der für diesen Zweck notwendigen Daten und Kontexte – allgemein gesprochen dient das Erzählen der gemeinschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit.«157

Eine derartige Konstruktion von Wirklichkeit wird zwischen Esther und Mehsud geschaffen, indem auf eine vermeintlich gemeinsame Erfahrung mit den sowjetischen Besatzern referiert wird. So wird versucht, die die Gegenwart determinierende kulturelle Differenz durch eine scheinbare Parallele des Eigenen in der Vergangenheit zu überwinden. Das anfängliche Scheitern der konstruierten gemeinschaftlichen Erfahrung konzentriert sich vor allem in Mehsuds Verhalten: Er reagiert gar nicht bzw. nur, wenn Esther direkt eine Frage an ihn richtet. Die sozial-kollektive Identität kann durch die Erzählungen nicht hergestellt werden. Warum dieser Versuch scheitern musste wird besonders dann deutlich, wenn man die einzige Erzählung Mehsuds – der unter Lebensgefahr durchgeführte Fluchtversuch seiner Familie aus Afghanistan – mit den erzählten Kindererlebnissen von Esther vergleicht. Die Differenz zwischen einer offenbar recht behüteten Kindheit in der DDR und den Repressionen und Ängsten der Familie Mehsuds tritt hier deutlich hervor. Mielkes zweite These, die sie unter anderem im Rückgriff auf Wulf Segebrecht entwickelt, beinhaltet die spezifische Verbindung von Erzählung und Tod. Das Erzählen ist ein Erzählen gegen den Tod, ein Schutz vor ihm, eine Einhegung des Todes: »Erzählend beweist man sich, daß man noch am Leben ist, trotz allem. Man redet und erzählt also für oder um etwas ebenso wie gegen etwas. Geschichten werden gegen das Gefährdende anerzählt.«158 Auch in der Kriegsbraut ist die Rahmenhandlung durch Krieg und damit auch durch Tod geprägt. Die von Esther vorgebrachten Geschichten zeigen demgegenüber einen friedlichen Raum und eine friedliche Zeit auf. Das referierte Vergangene, das für Esther losgelöst vom Krieg ist, kann man als eine Art Schutz vor der gegenwärtigen Gefahr des Todes lesen. Mehsuds erste an die Protagonistin gerichtete Frage ist, ebenso wie Esthers Antwort darauf, spezifisch für die kulturellen Differenzen zwischen der deutschen 156 MIELKE, Christine: Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie. Berlin/New York: De Gruyter 2006 (= spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature. Komparatistische Studien/Comparative Studies. Hrsg. v. Angelika Corbineau-Hoffmann und Werner Frick), S. 9. 157 Ebd., S. 14f. 158 SEGEBRECHT, Wulf: Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen, in: GRM. N.F. 25 (1975), S. 306-322, hier S. 308.

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Soldatin und dem afghanischen Schuldirektor, die in ihren Gesprächen verhandelt werden: »›Was sagt Ihr Vater dazu, dass Sie Soldatin sind?‹ / Die erste Frage. Sie versuchte nicht zu lächeln. ›Mein Vater ist nicht begeistert‹, sagte sie, ›aber er findet es in Ordnung.‹ Das war nicht die Wahrheit, doch etwas anderes konnte sie hier nicht sagen, fand Esther.« (KB 134) Bereits hier deutet sich an, was im Verlauf des Romans noch weiter ausgeführt wird: die kulturellen Unterschiede und die Verteidigung des jeweils eigenen Kulturraums, auch wenn dabei nicht der Wahrheit entsprochen wird. Fragen, die im Wesentlichen die unterschiedlichen Verhaltensweisen in romantischen Beziehungen betreffen, bestimmen nun viele Gedanken Esthers, zum Beispiel denkt sie darüber nach, »ob Afghanen so küssen wie Europäer oder Amerikaner« (KB 195). Da sie diese (recht merkwürdig anmutende) Frage nicht aus der ihr bekannten Kultur heraus beantworten kann, sucht sie Antworten in Naturgesetzmäßigkeiten: »Muss also der Mann die Initiative ergreifen, gleichsam naturgesetzlich? […] Dass Mehsud sie mochte, daran hatte Esther keinen Zweifel, und vom Mögen zum Begehren ist es kein so großer Schritt bei Männern, ob Afghanen oder nicht. Das war nun wirklich ein Naturgesetz.« (Ebd.) Die vermeintliche kulturelle Fremdheit zwischen ihr und Mehsud wird also zu überwinden versucht, indem sie auf das Ursprüngliche, den eigenen Resonanzboden rekurriert, die Natur, die ihnen gemeinsam ist.159 Kultur und Natur werden hier dialektisch gegenübergestellt und Esther versucht, weil sie Ersteres nicht versteht bzw. kennt, Antworten in Letzterem zu finden. Die Grenze zwischen diesen beiden Aspekten wird noch an einer anderen Stelle aufgegriffen. Mehsud erklärt Esther, was ein Bacha Posh ist – ein Kind, dessen biologisches Geschlecht (sex) weiblich ist, jedoch als Junge aufgezogen wird (gender) (vgl. KB 220f.). In diesem Zusammenhang entsteht die Diskussion, was kulturell und was naturgegeben ist: »›Aber jeder weiß doch, dass dies kein Junge ist.‹ ›Es wird akzeptiert. Bei manchen Menschen auf dem Land gibt es noch die Vorstellung, dass die Mutter über das Geschlecht entscheidet.‹ ›Die Natur entscheidet das.‹ ›Ach wirklich? Hier denken eine Menge Leute, dass die Natur nicht entschieden hat, dass Frauen Soldaten werden sollen.‹« (KB 221)

Das Argument gegen den Einsatz von Soldatinnen wird hier also klassischerweise aus der Natur bzw. dem Wesen der Frau abgeleitet, nicht aus kulturellen Konventionen oder rationalen Begründungen, ähnlich der im außerliterarischen Diskurs verfolgten Argumentationsstruktur der militärischen Traditionalisten und der pazifistischen Feministinnen. Während Esther also in Hinblick auf das romantische Verhalten des Afghanen das verbindende Naturhafte suchte, wird in Bezug auf den Einsatz der Soldatinnen unter Rekurrenz auf die Natur die kulturelle Differenz deutlich, was zeigt, dass auch die Natur stets ein kulturelles Konstrukt ist, das bestimmten Interpre-

159 Vgl. SCHÄFFTER, Otfried: Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: Ders. (Hrsg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 11-44, hier S. 16ff.

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tationsmechanismen unterliegt. Eine universalistische, der Natur zugeordnete Basis wird somit negiert. Die durch eine Grenze markierten Unterschiede zwischen den Kulturen treten vor allem in dem Streitgespräch zutage, das unter dem Motto ›High Heels vs. Burka‹ subsumiert werden kann, in dem Mehsud und Esther ihre jeweiligen kulturellen Kontexte verteidigen. Neben floskelhaften Aussagen wie beispielsweise: »›Das Kopftuch verhindert, dass Frauen zu Opfern der sexuellen Gier der Männer werden, die hohen Schuhe machen die Frauen zu Opfern der sexuellen Gier der Männer‹« (KB 200) und Esthers Beharren auf dem Aspekt der freien Entscheidung, den sie im Gegensatz zu Afghanistan in westlichen Gesellschaften gegeben sieht, ist die binäre Opposition, die immer wieder mit den Personalpronomen wir | ihr verbunden wird, das Hauptmerkmal dieses Gesprächs. Gerade diese stereotype Dichotomie zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹160 legt die Vermutung nahe, dass Mehsud eher als Gegenspieler, der das Andere repräsentiert, denn als gleichberechtigter Partner für die Inszenierung gebraucht wird.161 Auffällig ist zudem, dass Esther, aus deren Perspektive die Handlung beschrieben wird, sich mehrfach dazu genötigt fühlt, zu leugnen und sogar zu lügen (vgl. KB 201f.) – sie entschuldigt sich sogar in Gedanken bei Maxi und Ina, da ihr bewusst ist, dass sie zur Verteidigung ihrer Position das Unrecht der Ungleichbehandlung bewusst unterminiert –, um ihre eigene Kultursphäre zu stützen und positiv darzustellen. Die ungleiche Ebene der Gesprächspartner tritt auch hier in Erscheinung: Selbst, wenn Mehsud, den gleichen Praktiken folgend, die Wahrheit ebenfalls verkehren würde, könnte der Rezipient dies aufgrund der Fokussierung auf die Figur Esther und ihre Innenansicht nicht nachvollziehen. So entsteht der Eindruck, dass Esther das Eigene nur verteidigen kann, indem sie ihre eigene Meinung gegen die stereotypen Argumente des Fremden leugnet. In diesem Zusammenhang wird auch die Situation der Frauen in der Bundeswehr thematisiert, die Esther, trotz besseren Wissens, positiv darstellt. Die Grenze zwischen den beiden Kulturen wird also von beiden Seiten aufrechterhalten, was das Scheitern ihrer Liebesbeziehung bereits andeutet. Ungeachtet der kulturellen Differenzen, die Esther spürt, und ungeachtet des Krieges, der in Afghanistan herrscht, malt sie sich eine Zukunft mit Mehsud aus. Sie fragt sich, was er in ihr sieht, welches Bild er von ihr hat: »Er wollte das auch, hoffentlich, und konnte es ja auch bekommen von ihr, aber er wollte mehr, eine Welt, die moderne Welt. Sie, Esther, war eine ganze Welt für ihn. […] Sie wollte und konnte diese Welt sein, sie war bereit, ihm diese Welt in Afghanistan zu bescheren, als Enklave gewissermaßen.« (KB 224f.) Die durch die beiden Figuren symbolisierte binäre Struktur wird auch hier in Form geographischer Metaphern deutlich: Esther steht für eine ›moderne Welt‹, er für das Gegenteil. Mehr noch, er begehrt sie, Esthers Interpretation ihrer Beziehung zufolge, vor allem, weil sie anders ist. Eine 160 Vgl. HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!«, S. 237. 161 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt auch Sibylle Saxer in ihrer Rezension des Romans: »Mehsud, dessen Geschichte ›stolze Züge‹ trägt, erscheint in erster Linie als Gegenüber für den kulturkritischen Austausch. Er hält zwar Deutschland einen recht differenzierten kritischen Spiegel vor, stellt sich aber letztlich doch als Macho heraus.« (SAXER, Sibylle: Soldatin am Hindukusch.)

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Überwindung dieser Differenz, die sie wörtlich als »Fremdheit« (KB 213) bezeichnet, sieht die Protagonistin in der Vorstellung einer Enklave, also einem umschlossenen Raum, der von einem anderen – Afghanistan – umgrenzt ist, sodass sie das Eigene, das Begehrenswerte nicht aufgeben muss. Sie zieht Mehsud in diesen Raum hinein, wobei sie sich zugleich von dem Anderen Afghanistans abschottet. Esther bleibt somit im Eigenen verhaftet, Mehsud überwindet in ihrer Vorstellung als bewegliche Figur die Grenze und lebt mit ihr zusammen auf ihrer gemeinsamen »Insel der Ungestörtheit« (KB 226). An diesem möglichen Ausweg hält Esther fest, trotz der Angst vor den Konsequenzen, die die Entdeckung ihrer Liebesbeziehung sowohl in der Bundeswehr (unehrenhafte Entlassung) als auch in der afghanischen Bevölkerung (ihre Steinigung) mit sich bringen würde. So scheint es in diesem Roman eine Möglichkeit zu geben, die Grenzen der Kulturen und die im Krieg tradierten Differenzen zu überwinden, nämlich die kitschig verklärte, grenzüberschreitende Liebe. Das Ende der Kriegsbraut beweist jedoch das Gegenteil: Esther findet heraus, dass Mehsud wieder verheiratet ist, was das Ende ihrer Liebesbeziehung besiegelt. Die Grenze zum Anderen, die Esther anfänglich an dem Schuldirektor fasziniert hat und die ihrem Wunsch nach Einzigartigkeit in Beziehungen entgegenkam, weil sie »sehnsüchtig über den Grenzzaun nach Neuem, Erhellendem und Befreiendem Ausschau halten«162 konnte, und die später in zahlreichen Gedankenspielen überwunden werden sollte, war auch für Mehsud ausschlaggebend, nur auf eine andere Weise: »›Du hast bekommen, was du wolltest. Die Burka zu Hause, ein bisschen Westen in der Schule. War es so?‹ / ›Ich will nicht nein sagen.‹« (KB 332) Nicht nur die kulturellen Unterschiede, auch die Ziele der beiden Figuren scheinen also stark zu divergieren – während Esther, wenn auch recht naiv anmutende, aber langfristige Lösungen für eine gemeinsame Zukunft suchte, verband Mehsud während der Affäre beide Seiten, das Eigene und das Andere. Die Hoffnung, dass Liebe stark genug ist, trotz des Krieges alle Grenzen zu überwinden, wird hier negiert.

162 STRECK, Bernhard: Grenzgang Ethnologie, S. 187.

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1.3 »D IE D IFFERENZ ZWISCHEN O RIENT UND O KZIDENT IST ZU GROSS «. G EORG T ENNERS J ENSEITS VON D EUTSCHLAND 1.3.1 Inhalt Der Roman Jenseits von Deutschland163 von Georg Tenner umfasst mehrere Handlungsstränge: Zum einen beschreibt er die Erlebnisse von fünf deutschen Soldaten, die sich nach ihrer Ausbildung freiwillig für den Auslandseinsatz in Afghanistan gemeldet haben und dort innerhalb des Kriegsgeschehens in unterschiedlichen Funktionen agieren. Zum anderen werden Terroristen beschrieben, die verschiedene Attentate und Angriffe planen und durchführen. Weitere Erzählstränge finden nicht in Afghanistan, sondern in Deutschland statt und fokussieren die im Krieg verwundeten Soldaten, die körperlich und psychisch versehrt sind und versuchen, sich wieder in die Zivilbevölkerung zu integrieren, wobei bei allen dargestellten Soldaten das Scheitern im Vordergrund steht. Besonders häufig wird von den Figuren und dem Erzähler explizit Kritik an der Politik geübt, die den Auslandseinsatz nicht als Krieg, sondern als Einsatz mit dem Ziel eines Wiederaufbaus bezeichnet. Die im Romantitel vorgenommene Verortung, die eine grenzmarkierende Differenz zwischen Deutschland und dem Raum, der sich jenseits davon befindet, ausstellt, kann in diesem Sinne bereits einen Hinweis auf diese Kritik geben. Die Unterscheidung bezieht sich dabei nicht nur auf den geographischen Raum, sondern eben auch auf die diametrale Perspektive auf das Kriegsgeschehen: Während deutsche Politiker lediglich von Wiederaufbaumaßnahmen sprechen, zeichnen sich die Erfahrungen der Soldaten, die jenseits von Deutschland, konkret in Afghanistan, agieren, gerade durch die Spezifik des Krieges und des Kampfes aus. So wird nicht nur eine Grenze zwischen Eigenem und Fremdem gezogen, sondern auch hinsichtlich der Bewertung eines Phänomens, das außerhalb des konkreten Erfahrungsraums des Eigenen liegt. Darüber hinaus ist der Begriff ›jenseits‹, ebenso wie ›fremd‹, ein relationaler Begriff, der gerade vom jeweiligen Standpunkt der Betrachtung abhängig ist. Deutlich wird also bereits in dem Romantitel, dass zum einen sich das Beschriebene eben nicht (ausschließlich) auf den Raum Deutschland bezieht, sondern der Fokus auf einen anderen Raum gerichtet ist und zum andern, dass Deutschland die Bezugsgröße und die normgebende Instanz jeglicher Vergleiche darstellt. Diese Normsetzung offenbart sich unter anderem in zahlreichen Referenzen, sowohl literarisch verarbeitete als auch in Form der Paratexte, wodurch ein Gefüge entsteht, das die Beschreibung eines auf einem binären Denkschema von Gut und Böse basierenden, ›authentischen‹ Wirklichkeitsraums suggeriert und damit die Grenze zwischen Fakt und Fiktion für den Rezipienten aufhebt.

163 Im Fließtext wird die folgende Ausgabe mit der Sigle JD und der entsprechenden Seitenzahl zitiert: TENNER, George: Jenseits von Deutschland. Oldenburg: Schardt 2011.

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1.3.2 Formale Grenzen Das Werk wird auf mehreren Ebenen von formalen Grenzen durchzogen. Durch die erste Grenze wird der Haupttext von Prolog und Epilog geschieden, was dem gesamten Text eine fixe Struktur verleiht, die Anfang und Ende miteinander verbindet und den Handlungsverlauf damit einschließt. Diese Trennung wird durch den Inhalt der beiden Teile zusätzlich unterstützt: Der ehemalige Soldat Christoph Senz wird im Prolog davon unterrichtet, dass sein Kamerad Jerôme Mohr im Einsatz gefallen ist und sein Leichnam nach Deutschland überführt wird (vgl. JD 6f.). Der Epilog beschreibt die Trauerfeier für sieben in Afghanistan gefallene Soldaten auf dem Bundeswehrgelände in Köln-Wahn (vgl. DJ 227ff.) und verstärkt die im Haupttext äußerst häufig angeführte Kritik an der politischen Praxis, den Auslandseinsatz in Afghanistan nicht als Krieg zu bezeichnen. So wird während der Trauerfeier für die toten Soldaten eine Rede des Außenministers wiedergegeben, die deutlich macht, dass es sich lediglich um einen Einsatz handele, »der nicht ungefährlich sei, und der von Aufständischen brutal und nicht vorhersehbar sabotiert worden war.« (JD 228) Dass diese Aussage nicht der Romanwahrheit entspricht, weiß der Rezipient durch die zuvor geschilderten militärischen Aktionen, die deutlich den Kriegscharakter betonen, und durch die inszenierten Reaktionen der Zuhörer dieser Rede: »Samuel Mohr hätte am liebsten die Ausführungen des Ministers unterbrochen und ihn mit unflätigen Worten bedacht.« (Ebd.) Die Spezifik der dadurch konstituierten Grenze bezieht sich zum einen auf die Abgrenzung zwischen der im Roman dargestellten Lebenswelt der Soldaten im Krieg und den verantwortlichen und dafür verantwortlich gemachten Politikern, die innerhalb des vermeintlich friedlichen Raums Deutschland agieren. Zum anderen und zugleich damit verbunden manifestiert sich die Grenze in der Unterscheidung von Leben und Tod, die eben nur einmal überschritten werden kann, wodurch sie absolut wird. Damit wird eine doppelte Grenzziehung initiiert: eine formale und eine inhaltliche, welche die Handlung und damit die Erzählung über das Leben der Soldaten einkreist mit dem Motiv des Todes, was bereits an dieser Stelle die explizierte Aussage des Romans – ein Anti-Kriegsroman zu sein – verdeutlicht. Zudem zeichnet sich das in zwanzig Kapitel gegliederte Werk durch eine Parallelmontage aus: Der Beginn fast jeden Kapitels markiert eine neue Perspektive verschiedener Soldaten, aber auch die Perspektive von Terroristen, oder berichtet von Figuren aus dem Heimatraum Deutschland, beispielsweise von Beamten der Terrorismusbekämpfung des Verfassungsschutzes oder bereits heimgekehrten Soldaten. So entsteht der Eindruck einer Multiperspektivität, die nicht nur die beiden gegensätzlichen Positionen der Kriegsakteure – Soldaten und Islamisten – miteinbezieht, sondern auch die Auswirkungen des Krieges in der Zivilgesellschaft beleuchtet. Dazu trägt vor allem auch die hohe Personenzahl bei, die zudem die Vorstellung unterstreicht, dass alle Soldaten gleichermaßen den Krieg und seine Auswirkungen erleben und es sich eben nicht um die Darstellung exemplarischer Einzelfälle handelt. Neben dieser formalen Einteilung des Haupttextes sind noch zwei Paratexte von Bedeutung: eine Liste der verwendeten Literatur sowie ein Glossar, das verschiedene Begriffe, unter anderem militärische Termini und arabische Wörter, erläutert bzw. übersetzt. Im Abgleich zwischen dem Roman und den aufgeführten Literaturhinweisen wird schnell deutlich, dass die außerliterarischen Texte im Sinne einer Zitatmon-

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tage – allerdings ohne eine derartige Kennzeichnung – teilweise wörtlich übernommen wurden. Die Rede Osama bin Ladens nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist eine der wenigen Passagen, die sowohl durch Anführungszeichen als auch durch das Kursivsetzen deutlich als Zitat gekennzeichnet ist, allerdings wird die Übersetzung der Rede nicht in der Literaturliste aufgeführt.164 Umgekehrt verhält es sich bei der Darstellung einer Widerstandsbewegung afghanischer Frauen, die durch verstecktes Filmen versuchen, gegen das Taliban-Regime zu kämpfen und deren Gräueltaten öffentlich zu machen. Die Beschreibung dieser Gruppe, inklusive der Passage über die heimlich aufgezeichnete Exekution einer Frau in einem Fußballstation (vgl. JD 108f.), findet sich ohne eine Kennzeichnung fast wörtlich auf einer in der Liste der verwendeten Literatur angegebenen Homepage wieder.165 An anderer Stelle wird ein Gespräch zwischen Jerôme Mohr und Sophia Hönke166 inszeniert, in dem die Soldatin nicht nur Ergebnisse statistischer Erhebungen über den Anteil ostdeutscher Soldaten in der Bundeswehr auflistet, sondern auch die Kosten für jeden gefallenen Soldaten beziffert: »›Der Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan ist dreimal so teuer wie bislang bekannt. Pro toten Deutschen veranschlagt die Studie 2,3 Millionen Euro.‹« (JD 86)167 Die offensichtlich referierte, in der Literaturliste auch ange164 Es handelt sich um eine inoffizielle Übersetzung der Nachrichtenagentur AP, die beispielsweise auf Spiegel Online veröffentlicht wurde (vgl. Bin-Laden-Erklärung: »Der Sturm des Glaubens ist gekommen«, in: Spiegel Online vom 07.10.2001. http://www. spiegel.de/politik/ausland/bin-laden-erklaerung-der-sturm-des-glaubens-ist-gekommen-a161277.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]). 165 Vgl. BROWN, Janelle: Die tapfersten Gegnerinnen der Taliban. http://www.rawa.org/ salon_de.htm [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 166 Sehr interessant ist, dass in diesem Roman zwar weibliche Soldatinnen am Rande vorkommen, wobei Sophia die einzige ist, der die Teilnahme an einem Dialog zugestanden wird, allerdings sind zwei Aspekte an der Beschreibung auffällig. Zum einen werden die Soldatinnen mehrfach mit den Worten ›Mädchen‹ oder ›Mädels‹ bezeichnet (»Später gingen die Männer in die Cafeteria. Auch ein Teil der Mädels der Sanitätseinheit war dort« [JD 83]), was besonders im unmittelbaren Vergleich zu den ›Männern‹ abwertende Implikationen birgt. Zum anderen wird diese Gruppe ausschließlich dem Bereich des medizinisch Pflegenden zugewiesen, nicht einem kämpfenden, wie die männlichen Protagonisten. So sind hier bereits in Bezug auf die Bezeichnung spezifische Bewertungsmechanismen bedeutsam, die durch die Sprachlosigkeit der weiblichen Perspektive auch nicht korrigiert werden. Den Höhepunkt, der so aus dem Zusammenhang gerissen zugleich eine männerdominierende Allmachtsphantasie offenbart, bildet Sophias völlig unmotivierte Rezitation einer Textzeile aus der Oper Arabella von Richard Strauss: »›Nur du sollst mein Gebieter sein und ich dir untertan. Dein Haus wird mein Haus sein…‹« (JD 87) Vgl. zu dem Dualismus der Geschlechter innerhalb der Bundeswehr auch den Roman Kriegsbraut in Abschnitt III, Kapitel 1.2. 167 Das Auflisten der einzelnen Zahlen wirkt in einem Gespräch, das das erste zwischen einem Mann und einer Frau darstellt, die sich offensichtlich sympathisch finden, unglaubwürdig. Potenziert wird dies allerdings noch dadurch, dass die beiden im Anschluss daran beschließen, ihr Leben nach dem Einsatz zusammen zu verbringen. Es scheint hier der Versuch vorzuliegen, möglichst viele Daten und Zahlen in den Text zu integrieren, um

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gebene Studie der Ökonomen Tilman Brück und Olaf de Groot, die unter anderem in der Zeitschrift Der Spiegel 2010 veröffentlicht wurde, behauptet eben diese Zahl von 2,3 Millionen.168 Die Differenz ihrer errechneten Höhe der Einsatzkosten insgesamt auf drei Milliarden Euro – im Gegensatz zu der Einschätzung der Bundesregierung von einer Milliarde Euro – wird in dem Spiegel-Artikel dezidiert von den Statistikern erläutert und mit verschiedenen Berechnungsmethoden und der Einbeziehung unterschiedlicher Posten erklärt.169 Die in dem Roman als Fakt postulierte Zahl ist somit nicht falsch, der Kontext der verschiedenen Berechnungsvarianten wird jedoch weggelassen, so dass der Rezipient lediglich eine Seite mit spezifischen Implikationen vorgeführt bekommt. Dies unterstreicht zum einen die Aufhebung von faktualen und fiktionalen Texten – immer wieder werden Texte herangezogen und ohne Kennzeichnung zitiert – und zum anderen wird dadurch die kohärente Kritik an der Politik hervorgehoben. Auch der andere Paratext des Glossars suggeriert mehr, etwaige Wahrheiten anzuführen, als die Darstellung einer fiktionalen Konstruktion des Afghanistankrieges. Indem die Fiktion derart in den Hintergrund zu rücken scheint und die faktualen Texte einen so großen Stellenwert einnehmen, kann der Roman in den Kontext der dokumentarischen Literatur eingeordnet werden. Ziel ist hier dezidiert, außerliterarisches Material zu arrangieren (was natürlich stets mit Selektions- und Bewertungsmechanismen einhergeht, die einer rein ›faktischen‹ Erzählung im Ansatz entgegensteht) und in eine literarische Form zu bringen, die die Wahrnehmung des Rezipienten reflektieren und durch eine neue Perspektive kritisch befragen soll.170 1.3.3 Die Unterscheidung von Gut und Böse: Die Kriegsakteure Die formalen Grenzen verweisen bereits auf die Grenzauflösung zwischen Fakt und Fiktion. Besonders interessant ist diese Aufhebung im Kontext der Darstellung zweier Figurenkollektive – der deutschen Bundeswehrsoldaten und der Taliban. Die grundlegende Suggestion eines ›authentischen‹ Wahrheitsraums ist bedeutungsträchtig, da sie Erdachtes – besonders im Bereich des Erzählstrangs um die Talibankämpfer – als Fakt ausgibt und so nicht Möglichkeitsräume der Wirklichkeit entwirft, sondie These, dass es sich trotz gegenteiliger Bezeichnung seitens der Politik um einen Krieg handele, zu unterstreichen. Die Figurenzeichnung bleibt (auch aufgrund des zahlreichen Personals) dabei häufig undeutlich, die Handlungen und Ereignisse unmotiviert. 168 Vgl. RICKENS, Christian: Neue Afghanistan-Studie: Wie viel ein gefallener Deutscher wirklich kostet. Interview mit Tilman Brück und Olaf de Groot, in: Spiegel Online vom 20.05.2010. http://www.spiegel.de/politik/ausland/neue-afghanistan-studie-wie-viel-eingefallener-deutscher-wirklich-kostet-a-695824.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 169 Vgl. ebd. 170 Peter Weiss gilt als Pate, sein Stück Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen als prototypisch für das dokumentarische Theater. In einer poetologischen Reflexion macht er 14 Kriterien für das dokumentarische Theater aus, darunter das Diktum der Berichterstattung, das jegliche Form der Erfindung negiert. Durch die literarische Verarbeitung sollen Verschleierung, Wirklichkeitsverfälschung und Lügen aufgedeckt werden, wodurch die Literatur dann zu einem Instrument politischer Meinungsbildung avanciert (vgl. WEISS, Peter: Rapporte 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 91-104.).

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dern vermeintlich gegenwärtige Situationen beschreibt. Zudem wird eine Divergenz zwischen einem durchaus mit moralischen Implikationen verbundenen Belehren und der Darstellung der Terroristen beispielsweise dort augenfällig, wo Konversationen Sachverhalte aufgreifen und erläutern, die den Kommunikationspartnern durchaus bewusst sein müssten. So finden sich in einem Gespräch zwischen Mitgliedern einer terroristischen Organisation beispielsweise folgende Aussagen: »›Die Tötung der Amerikaner und ihrer Verbündeten ist persönliche Pflicht jedes Moslems, heißt es in unserem Manifest, das wir Anfang 1998 im afghanischen Khost veröffentlicht haben.‹« (JD 65) Etwas später werden die als Feinde deklarierten Staaten aufgelistet: »›Damit ist die Stoßrichtung der Organisation offiziell gegeben: Die muslimische Welt wird im Dschihad gegen Juden und Kreuzritter mobilisiert werden. Unser Feind Nummer eins sind also die USA, ein Land, das wir als direkte Bedrohung für den Islam betrachten. Aber auch Israel, Russland, Indien und europäische Staaten stehen auf der schwarzen Liste unserer Organisation.‹« (Ebd.)

Auch hier scheint im Vordergrund die Darlegung spezifischer ›Fakten‹ zur Information des Rezipienten zu stehen, denn die Veröffentlichung und der Inhalt des Manifests ebenso wie die zu bekämpfenden Staaten sollten innerhalb des Wissensraums der am Gespräch Beteiligten liegen. Besonders im Kontext der Position der Figuren, es handelt sich um ranghohe Taliban, die einem anderen einen Auftrag erteilen, wirken diese Aussagen affektiert. Während hier noch eine vermeintliche Faktenlage in den Roman aufgenommen wird, ist der wahrheitssuggerierende Stil in einem anderen Kontext noch problematischer. Ein sich über zwei Kapitel erstreckender Handlungsstrang berichtet von zwei Beamten, die in der Abteilung der Terrorismusbekämpfung beim Verfassungsschutz arbeiten. Hauptkommissar Rudolf Franz wird von einer alarmierten Mutter eines Mitschülers seines Sohnes darüber informiert, dass ihr Sohn Ronny Stein »von heute auf Morgen sein Interesse an der Schule verloren und explizit vom Christentum auf den Islam gelenkt hat. Gegen den Willen seiner Mutter ist er konvertiert und nennt sich nun Yussiv Ben Ali.« (JD 110) Ein am Telefon geführtes Gespräch, in dem es um »Militanz« (ebd.) ging, habe sie dann veranlasst, Rudolf Franz zu kontaktieren. Der Hauptkommissar geht diesem Hinweis der Mutter nach und trifft sich nach einem Gespräch mit ihr, in dem er ohne weiteren Kontext eine »totale Überwachung« (JD 113) für Ronny Stein anordnet, mit dem jungen Konvertiten. Auf die ersten Fragen von Franz antwortet Stein in Plattitüden, beispielsweise: »›Vielleicht hat die Religion Allahs mehr Antworten zu unserer überzivilisierten Welt als die so genannten Christen.‹« (JD 115)171 Der weitere Verlauf des Gesprächs zeichnet sich durch zwei Besonderheiten aus. Zum einen wird eine anti-islamische Haltung des Hauptkommissars deutlich, der nach einem Referat über historische Zusammenhänge in Bezug auf den Umgang von Christen und Moslems zu dem Schluss kommt:

171 Solche Aussagen finden sich zum Beispiel auch in Christoph Peters Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges wieder, allerdings werden sie von dem Protagonisten Sawatzky völlig anders vertreten (vgl. Abschnitt III, Kapitel 3.1.).

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Die hier aufgezeigte Grenze zwischen Deutschen und Türken, die als pars pro toto scheinbar für das Figurenkollektiv der Moslems stehen, wird einerseits als historisch begründete ausgewiesen und andererseits werden Moslems mit Islamisten gleichgesetzt. Ziel aller Moslems, auch derjenigen, die in Deutschland leben, so wird hier offenkundig, sei die Unterwerfung der deutschen Christen, was durch das Wort ›Knute‹ überaus deutlich wird. Damit wird nicht nur eine Grenze zwischen dem Konvertiten und dem Hauptkommissar inszeniert, sondern es werden auch pauschalisierende und rassistische Aussagen einem Beamten in den Mund gelegt, der aufgrund seiner beruflichen Position im Verfassungsschutz eigentlich eine wesentlich differenziertere Sicht aufbringen müsste. Diese anti-islamische Haltung von Franz ist mit der zweiten Besonderheit des Gesprächs verknüpft. Um seine Meinung zu unterstreichen, zitiert der Beamte einen mitgebrachten Stern-Artikel, in dem angeblich ein Gespräch zwischen dem Historiker Ekkehart Rotter und dem Islamwissenschaftler Gernot Rotter abgedruckt ist. Dieser Artikel, der auch in der paratextuellen Literaturliste angeführt ist, wird trotz des 1,5 Seiten umfassenden Zitats in dem Roman extrem verkürzt und dadurch völlig aus dem Zusammenhang gerissen, ähnlich wie die Statistiken über die Kosten des Afghanistaneinsatzes. In dem Stern-Artikel vertreten die beiden Brüder gänzlich unterschiedliche Ansichten und argumentieren aus verschiedenen Perspektiven. Während der Historiker Ekkehart Rotter den Islam als per se gewalttätig definiert, der Europa unterjochen wird, argumentiert der Islamwissenschaftler Gernot Rotter, dass es nicht Moslems im Allgemeinen, sondern eben die Extremisten seien, vor denen man sich schützen müsse, dass die Mehrheit der 3,2 Millionen in Deutschland lebenden Muslime säkular eingestellt sei und sich zur Verfassung bekennen würde und unterstreicht als Antwort auf den Einwurf seines Bruders, dass sich jegliche Gewalt gegen Andersgläubige islamisch rechtfertigen lasse, dass alle Monotheismen die Verehrung eben nur eines Gottes verlangen und damit den Willen zur Vernichtung der anderen Götter in sich tragen würden. Seiner Meinung nach ist vor allem der Staat in der Pflicht, Ghettoisierungen zu verhindern und Muslime so in die Gesellschaft zu integrieren.172 Die literarische Variante dieses Artikels umfasst, bis auf vier Wörter von Gernot Rotter, ausschließlich die Meinung des Historikers Ekkehart Rotter. Trotzdem wird suggeriert, dass das durch die Kürzung entstehende, einheitlich negative, anti-islamische Bild von zwei Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachbereiche geteilt und durch deren Expertise belegt 172 Vgl. ELENDT, Gerd/METZGER, Albrecht/SENYURT, Ahmet: »Die rüsten für die Islamisierung!« – »Unsinn!«. Interview mit Gernot und Ekkehart Rotter, in: Stern vom 19.6.2007. http://www.stern.de/politik/deutschland/islam--die-ruesten-fuer-die-islamisierung-----unsinn---3269692.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].

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wird. Sie werden nicht nur am Anfang, sondern auch am Ende des Vortrags des Artikels von dem Hauptkommissar als Referenz herangezogen: »›So die Brüder Rotter untereinander. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.‹« (JD 118) Die extreme Verkürzung des Artikels mit tendenziösen Implikationen wird nur an einigen Stellen mit Auslassungszeichen markiert, andere werden erst gar nicht angezeigt. So beruft sich der Roman auch an dieser Stelle auf vermeintliche Fakten und Wissenschaftler, verarbeitet diese jedoch derart, dass sie zum dargelegten Meinungsbild passen. Selbstverständlich steht es der Literatur frei, Mittel der Überarbeitung oder auch Überformung zu benutzen, allerdings erscheint es hier und an zahlreichen anderen Stellen fragwürdig, dass die Grenze zwischen Fakt und Fiktion für den Rezipienten aufgehoben wird und er nicht erkennen kann, dass hier eine solche Überformung überhaupt stattgefunden hat. Potenziert wird der äußerst problematische Umgang mit vermeintlichen Fakten in dem Gespräch zwischen dem Hauptkommissar und dem Konvertiten, der einen Anschlag, der ihn das eigene Leben kosten würde, geplant hat, wenn Ersterer nach dem Vortragen des verkürzten Artikels bereits »ein Nachdenken« (JD 119) bei dem jungen Mann ausgelöst haben will. Neben dem ausgestellten Nicht-Wissen Steins, besonders pointiert in dem Wort Salafismus, das er nicht kennt (vgl. ebd.), wirkt es nicht nur unplausibel, dass es nur einiger weniger Nachfragen des Beamten bedarf, um den Konvertiten in seiner Meinung umzukehren und ihn sogar zu einem Spitzel zu machen, sondern ist auch höchst zweifelhaft. Es erweckt den Eindruck, dass von dem Phänomen des ›homegrown terrorist‹173 keine wirkliche Gefahr ausgeht, sondern dass es sich lediglich um naive, fehlgeleitete junge Menschen handelt, die, mit vermeintlichen Fakten konfrontiert, wieder auf den ›richtigen‹ Weg gelangen können. Der Themenkomplex deutscher Islamisten wird zudem am Ende des Romans noch einmal aufgegriffen. Sie überfallen in Afghanistan einen Konvoi von Bundeswehrsoldaten: »Neben einer größeren Gruppe von Gotteskriegern, die im Norden standen, war die deutsche Gruppe der Konvertiten unter der Führung Erich Bräunlingers an dem Kampf beteiligt. […] Über einen Lautsprecher wurden die Bundeswehrsoldaten in deutscher Sprache aufgefordert, ihren Kampf zu beenden und sich zu ergeben. Darüber hinaus wurde denjenigen, die bereit waren zu konvertieren und sich den Taliban anzuschließen, zugesichert, dass man sie am Leben ließe.« (JD 209f.)

Nicht nur die beschriebene Tapferkeit der Bundeswehrsoldaten, die sich trotz der Übermacht der Taliban verteidigen und nicht desertieren, ist markant, sondern auch, dass, sobald die angeforderte militärische Hilfe eintrifft, sich die afghanischen Taliban zurückziehen und die deutschen Konvertiten im Stich lassen. Auch als Bräunlinger um Hilfe bei einem ranghohen Taliban bittet, werden ihm zwar »Entlastungsangriffe« (JD 212) zugesichert, diese bleiben aber mit der Begründung aus, dass ihre Taten im Jenseits von Allah gewürdigt würden (vgl. JD 213). Am Ende des Kapitels wird von dem Erzähler resümiert, dass es ein »schwarzer Tag für die deutsche Truppe« (ebd.) gewesen sei und die deutschen »Konvertiten-Taliban« (ebd.) vernichten173 Vgl. dazu auch Abschnitt III, Kapitel 3.1.

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den geschlagen worden seien. Ein einziger hatte überlebt: »Später fände man ihn sicher in einem der Black-Holds oder im Lager Guantánamo wieder.« (Ebd.) Trotz der schlechten Ausrüstung der deutschen Soldaten, auf die mehrfach hingewiesen wird, konnten sie doch dieses Gefecht gewinnen und zumindest die deutschen Konvertiten töten. Neben dem binären Denkschema von Gut | Böse, wobei das zugeschriebene Gute, die deutschen Soldaten, trotz großer Verluste siegreich ist, wird auch veranschaulicht, dass es keinen Mehrwert hat, in den Dschihad zu ziehen, da die Glaubensbrüder nicht nationenübergreifend einander zur Seite stehen, sondern, im Gegensatz zu den Bundeswehrsoldaten, im Falle einer ausweglosen Situation die Flucht ergreifen. Durch diese Erzählung wird ein alter christlicher Topos verkehrt. Seit Kaiser Konstantin gibt es in der christlichen Tradition ein Erzählschema, das das Anrufen Gottes vor einer Schlacht umfasst sowie das Versprechen, im Falle eines Sieges zum christlichen Gott zu konvertieren.174 Dieser literarische Topos findet sich in verschiedenen Varianten immer wieder, beispielsweise bei Chlodwig, der nicht vor, sondern auf dem Höhepunkt der Schlacht gegen die Alemannen Gott um Hilfe anrief und sich »durch den von Gott gewährten Schlachtensieg«175 zum Christentum bekehrte. Das »in der mittelalterlichen Christianisierung so oft bezeugte Bekehrungsmotiv des ›stärkeren Gottes‹«176, das als Legitimationsgrundlage viele Jahrhunderte lang für Gewalt bei der Missionierung diente, kommt hier zum Tragen. Das in der christlichen Tradition derart verankerte Erzählmuster, dessen Schluss immer in dem Sieg und der damit einhergehenden Bekehrung zum christlichen Gott oder zumindest der Stärkung des Christentums mündet, wird in dem Roman Jenseits von Deutschland gleichsam spiegelverkehrt: Der Abkehr vom Christentum und dem Konvertieren zum Islam folgt eine Kriegshandlung, die entweder zuvor scheitert, wie bei Stein, oder mit dem Tod der Islamisten einhergeht, wie bei den anderen dargestellten deutschen Konvertiten. So erscheint der Übertritt zum muslimischen Glauben mit dem Eintritt in den Raum des Dschihad nicht nur unmittelbar verbunden, da alle dargestellten Konvertiten sich direkt an terroristischen Aktionen beteiligen oder es zumindest geplant haben, sondern er ist auch in allen verschiedenen Variationen mit gleichsam zwangsläufigem Scheitern verbunden.

174 Vgl. MANN, Christian: Antike. Einführung in die Altertumswissenschaften. Berlin: Akademie 2008, S. 187ff. Es geht hier nicht darum, ob Konstantin wirklich einer nächtlichen Erscheinung hatte und daraufhin das Versprechen abgab, sich im Falle eines Sieges zum christlichen Glauben zu bekennen. Vielmehr geht es in diesem Kontext um das spezifische, sich wiederholende Erzählschema. 175 PLASSMANN, Alheydis: Origo Gentis: Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. Berlin: Akademie 2006, S. 133. Das Aufgreifen dieses Topos mit seinem Ursprung bei Konstantin, hat natürlich spezifische Konnotationen inne: »Daß die Darstellung Chlodwigs nach dem Vorbild des christlichen Kaisers gestaltet wird, erhöht zum einen seinen Heldenstatus und seine Bedeutung als erster fränkischer christlicher König, zum anderen stärkt sie seine Legitimität, da er als quasirömischer Herrscher an das römische Gallien anknüpft.« (Ebd.) 176 ANGENENDT, Arnold: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. 2., durchgesehene Auflage. München: Oldenbourg 2004, S. 7.

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Das andere Figurenkollektiv im Geflecht der kriegerischen Auseinandersetzung in Afghanistan umfasst die deutschen Soldaten. Bereits vor der Beschreibung des Auslandseinsatzes der Protagonisten wird durch das einzige Auftreten der Figur Wolfgang ein spezifisches Bild entworfen, das sich im weiteren Handlungsverlauf noch potenziert. »›Keiner kann sich vorstellen, der noch niemals in solchen Gegenden gewesen ist, was es bedeutet, Tag für Tag an so einem verfluchten Platz, dem Arsch der Welt, zu vegetieren […]. Schuld daran sind alle Politiker, die unsere Jungs nicht in ein Land, sondern in eine Hölle geschickt haben.‹« (JD 19) Der zweifache, im weiteren Verlauf immer wieder aufgegriffene Verweis, dass der Krieg die Hölle sei und die Kritik an den Politikern, die den Einsatz der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan bewilligt haben, kommt hier deutlich zum Ausdruck. Im Folgenden wird dann auf ein ebenfalls mehrfach thematisiertes Gedankenkonstrukt eingegangen: den gerechten Krieg. An verschiedenen Stellen diskutieren die Soldaten dieses aus christlicher und europäischer Tradition erwachsene Konstrukt, das auf der Grundlage einer juristischen Einhegung des Krieges basiert, indem spezifische Kriterien festgelegt werden, die das ius ad bello (Recht zum Krieg), das ius in bello (Recht im Krieg) und das ius post bellum (Recht nach dem Krieg) umfassen.177 Diese in erster Linie juristische Einteilung wird in dem Roman jedoch vielmehr zu einer moralischen Kategorie, die ein Kriegsgeschehen in gerecht und ungerecht einteilt. Der Soldat Wolfgang, der gerade aus Afghanistan nach Deutschland heimgekehrt ist und demnach den Krieg aus seiner eigenen Anschauung bewertet, postuliert, dass es sich im Falle Afghanistans um keinen gerechten Krieg handle, »›[d]enn dort verteidigen wir unser Land nicht, verstehst du? Dort können wir nur die Schnauze voll bekommen.‹« (Ebd.) Damit ist Wolfgangs Argumentationsstruktur klar daran orientiert, ob ein Krieg erstens der Verteidigung Deutschlands dient und zweitens, ob er siegreich sein kann. Das erste Kriterium erinnert deutlich an die Erklärung des damaligen Bundesministers für Verteidigung Peter Struck vom 11. März 2004, in der er ausführt, dass die Sicherheit Deutschlands zwar nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt werden müsse.178 In Wolfgangs Variante und in Abgrenzung zu der Politik wird diese Aussage negiert, was zu dem ersten Teil der Einschätzung, es handele sich um einen ungerechten Krieg, beiträgt. Besonders interessant ist der zweite Aspekt, der den Ausgang eines Krieges zumindest indirekt mit einschließt. Wenn der Ausgang bzw. die Zahl des Verlustes entscheidend für eine moralische Beurteilung des Krieges sind, müsste jegliches militärische Eingreifen als ungerecht beurteilt werden, weil es zu den unvermeidlichen Aspekten eines Krieges gehört, dass er Opfer mit sich bringt. Damit ist der zweite Aspekt als Äußerung eines Soldaten besonders schwerwiegend. Ein Gespräch, das in ganz ähnlicher Weise verläuft, findet zwischen dem Hauptfeldwebel Wolfgang Stange und dem Leutnant Max Franzke, also Soldaten höheren Ranges, statt. Der Aufhänger für diese Unterhaltung ist eine Rede des Außenministers – angespielt wird hier auf den Politiker Frank-Walter Steinmeier (vgl. JD 70) –, 177 Vgl. ISER, Mattias: Paradoxien des (un)gerechten Krieges, in: Geis, Anna (Hrsg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden: Nomos 2006, S. 179-202. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Abschnitt III, Kapitel 2.1. 178 Vgl. JAHN, Egbert: Politische Streitfragen. Bd. 2: Deutsche Innen- und Außenpolitik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 178.

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der betont, dass die Bundeswehr einen »Friedensauftrag« (ebd.) erfüllen soll und es sich im Rahmen der ISAF in Afghanistan um eine »Stabilisierungsmission« (JD 71) handelt. Die im Anschluss daran geäußerte Meinung der Soldaten wird schnell deutlich: »›Ich habe leider nicht selten eine so gequirlte Scheiße gehört wie heute‹« (JD 72). Die Massenvernichtungswaffen, die man im Irak179 vermutet habe, seien lediglich ein Scheinargument für den Krieg gewesen, »[s]tattdessen locken die verdammten Ölquellen.« (JD 73)180 Neben einem weiteren Grund diesen Krieg zu führen – das Werk von »George Walker[s]« (JD 75) Vater aus dem Golfkrieg 1991 zu vollenden – wird die Figur Franzke kurz näher beleuchtet. Weil er von seinen Vorgesetzten dazu genötigt wurde, »sich freiwillig für diesen Einsatz zu melden« (JD 74, Herv. i.O.), hadert er und zieht für sich den Schluss, dass »der Hindukusch das sinnlose Grab vieler junger Männer werden könnte, die er mit ausgebildet hatte. […] Das eigene Land zu verteidigen, wenn ein Aggressor eindringen würde, wäre für ihn die einzige selbstverständliche Option. In ein fremdes Land zu gehen, das eine eigene Kultur hatte und weit entfernt lag, schloss sein Verständnis für einen gerechten Krieg gänzlich aus.« (Ebd.)

Da kurz zuvor im Kontext des Themas der »meinungsbildenden Desinformation« (JD 73) der Nationalsozialismus genannt wurde, muss der Logik Franzkes folgend auch das Eingreifen Amerikas und anderer Länder gegen die deutschen Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg als ungerechter Krieg bewertet werden, weil auch hier Deutschland weit entfernt war und über eine eigene Kultur verfügte, sogar über eine demokratisch gewählte Partei. Die Logik Franzkes ist somit eindeutig auf ein binäres, moralisierendes Denkschema zurückzuführen, das nur gut oder schlecht kennt und diese Bereiche durch eine fixe Grenze markiert. Darüber hinaus scheint das Gedankenkonstrukt eines gerechten Krieges mit einem gerechtfertigten Krieg zumindest gleichgesetzt zu werden. Im Falle eines Angriffs, so die hier dargelegte Einstellung, dürfe man kämpfen, nämlich sich verteidigen. Dies stellt auch im Völkerrecht die einzige legitime Ausnahme dar, Krieg zu führen. Was von Franzke jedoch nicht 179 An dieser Stelle wird irritierenderweise nicht der Irak, sondern der Iran genannt, jedoch wird Saddam Hussein angeführt (vgl. JD 73, ebenso JD 70). Auch in einer späteren Passage heißt es: »Die Frage stellt sich nur, ist das, was die Länder der westlichen Welt in Iran und Afghanistan anrichten, nicht auch Faschismus? […] Nehmen wir Saddam Hussein. Er war ein Despot, ein Verbrecher wohl wahr. Aber das Land war in sich stabil. Die Amerikaner kamen, zerschlugen diese Strukturen und Mord und Plünderung waren an der Tagesordnung.« (JD 75) Auch hier wird an keiner Stelle vom Irak gesprochen, hingegen als Konsequenz auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 ein militärisches Vorgehen in Afghanistan und im Iran konstatiert, was eindeutig nicht mit den so häufig angeführten real-politischen Vorgängen übereinstimmt. 180 In dem Gespräch werden auch die beiden deutschen Schriftsteller »Thomas Mann« (JD 73) und »Bertold [sic!] Brecht« (JD 74) als Referenzen für ihre Meinung herangezogen. Neben der fehlerhaften Orthografie von Brechts Vornamen wirken die Zitate innerhalb eines Gesprächs zweier Soldaten, die sich über den Krieg unterhalten, recht unglaubwürdig.

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erkannt oder zumindest nicht geäußert wird, ist, dass ja gerade hier die Argumentation für das Führen des Krieges nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Afghanistan lag: Von den USA wurde der Einsatz als Verteidigungskrieg bezeichnet, der im Sinne der UN-Charta (Art. 51) das NATO-Bündnis nach sich zog.181 Damit wird auch an dieser Stelle eine Abkehr von dem Spezialdiskurs Politik dargestellt, die von einer Figur aus der Sphäre der Bundeswehrsoldaten vertreten wird. In dieser Einstellung, die als »pazifistische Grundhaltung« (JD 74) charakterisiert wird, liegt der Grund für Franzkes Suizid, den er als vermeintlich einzigen Ausweg aus diesen in Konkurrenz zueinanderstehenden Interessen erkennt. Neben den zahlreichen Diskussionen, die sich explizit mit moralischen Fragen in Bezug auf den Afghanistankrieg beschäftigen, wird diese Thematik auch indirekt aufgegriffen, beispielsweise im Kontext der verletzten Kriegsheimkehrer, die sowohl physische als auch psychische Erkrankungen aufweisen.182 Die Behandlung der körperlichen Gebrechen wird zwar stets vorgenommen, soweit es möglich ist – immer wieder wird von Amputationen gesprochen, Verletzungen also, die generell keine Herstellung der Ausgangssituation zulassen –, allerdings ist die Behandlung der durch den Krieg verursachten Traumata sehr viel schwieriger. Hier wird an verschiedenen Beispielen vorgeführt, dass es zwar Therapien gibt, ihre Dauer aber kaum ausreicht, um die Kriegsheimkehrer effektiv zu behandeln. Die Figur Tom Graber beispielsweise verliert aufgrund einer Verwundung, die er sich bei einem überfallartigen Angriff der Taliban auf einen deutschen Konvoi zuzog (vgl. JD 149ff.), einen Arm und seine Sehkraft. Zwar wurde er in einem Militärkrankenhaus behandelt,183 181 Vgl. MÜLLER, Harald/WOLFF, Jonas: Demokratischer Krieg am Hindukusch? Eine kritische Analyse der Bundestagsdebatte zur deutschen Afghanistanpolitik 2001-2011, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik. Sonderheft 3 (2011): Zehn Jahre Deutschland in Afghanistan, hrsg. v. Klaus Brummer und Stefan Fröhlich, S. 197-222, hier S. 199. 182 Vgl. zu der Thematik des Heimkehrers auch die Romane Deutscher Sohn von Ingo Niermann und Alexander Wallasch sowie Das amerikanische Hospital von Michael Kleeberg in Abschnitt III, Kapitel 1.4. 183 In diesen Kontext ist ein achtseitiger Brief installiert, der an den Zimmernachbarn adressiert ist. Referiert wird hier die schlechte Absicherung der Soldaten in Bezug auf Versicherungen, besonders im Falle von Posttraumatischen Belastungsstörungen. Der Absender berichtet zunächst von körperlichen Verwundungen, die er sich zugezogen hat. Hier lässt sich einer der zahlreichen inhaltlichen Fehler des Romans finden, denn er schreibt explizit, dass seine »Trommelfelle durch die Druckwelle komplett zerstört waren« (JD 165) und er dementsprechend nichts mehr hören konnte, im Lazarett einige Stunden später jedoch telefoniert er mit seinen Eltern (vgl. JD 166). Nach der Behandlung seiner körperlichen Gebrechen litt er jedoch an einer psychischen Störung. Da diese nicht erkannt wurde, so berichtet der Absender des Briefs, musste er »gegen die Wehrbereichsverwaltung über drei Jahre klagen, bis man uns eine Wehrdienstbeschädigung zuerkannte. Wir waren dabei weitgehend auf uns alleine gestellt.« (JD 169) Zudem würden die Versicherungen nur aus Kulanz heraus Zahlungen leisten, sie seien dazu nicht verpflichtet (vgl. JD 171). Auch dieses Referat scheint vor allem die Funktion zu haben, auf einen außerliterarischen Missstand hinzuweisen. Durch den Brief einer Figur, die ansonsten an

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allerdings kann er sich nicht wieder in den zivilen Ausgangsraum eingliedern. Das Familienunternehmen, das sich auf das Angeln mit Touristen spezialisiert hat (vgl. JD 155), sollte er nach seiner Rückkehr aus dem Einsatz übernehmen,184 wozu er durch seine körperliche Versehrtheit nun nicht mehr in der Lage ist. Die psychischen Folgen sind zudem so gravierend, dass er versucht, sich das Leben zu nehmen und nur durch Zufall davon abgehalten werden kann (vgl. JD 208). Anders hingegen Heiner Müller185, der ebenfalls versucht, sich nach dem Tod von Jerôme Mohr das Leben zu nehmen und ebenso daran gehindert wird. Während der daran anschließenden dreimonatigen Psychotherapie äußert Müller, dass es ein »sinnlose[r] Krieg in Afghanistan [ist], der alle Menschen, die darin involviert sind, beschädigt. Militärangehörige ebenso, [sic] wie die Zivilbevölkerung, die unsagbarem Leid ausgesetzt sind.« (JD 221) Nach der Entlassung wird er als psychisch höchst gestörter Mann gezeigt, der einen Passanten mit einer nicht funktionstüchtigen Gaspistole bedroht und die herbeigerufenen Polizeibeamten so sehr provoziert, dass sie ihn erschießen (vgl. JD 226). Damit entsteht in Bezug auf die Konsequenzen für das Figurenkollektiv der Bundeswehrsoldaten ein einheitliches Bild – entweder sie fallen im Kriegsgeschehen oder werden derart verwundet, dass sie ihr Leben lang Beeinträchtigungen haben oder den Freitod wählen. So fasst auch Christoph Senz im Epilog die Situation, die zugleich mit der geläufigen Kritik an der Politik verbunden wird, zusammen: »›Bisher haben nur zwei von den sechs Leuten die Prozedur Afghanistan unbeschadet überstanden […]. Ich, weil ich ausgemustert wurde. Und du, Adam, weil du Glück hattest.‹« (JD 232) Die beiden Figurenkollektive der am Krieg Beteiligten stehen sich so insgesamt diametral gegenüber: Auf der einen Seite die Taliban, die klare Ziele verfolgen und ihre Gegner in Form von Staaten klar benennen können; auf der anderen Seite die Bundeswehrsoldaten, die oftmals mit dem Kriegseinsatz in Afghanistan hadern, moralische Bedenken äußern und sich von der Politik im Stich gelassen fühlen. Nicht nur die Einstellung zum Krieg, auch die Vorbereitung unterscheidet sich stark: Die deutschen Soldaten lernen vor dem Kriegseinsatz neben den Kompanie- und Kasernenliedern vor allem, wie sie ihre Ausrüstung ordnen und ihre Spinde einräumen sollen, was in offensichtlich ironischem Ton von dem Erzähler als »wichtige[…] Dinge« (JD 69) bezeichnet wird. Den deutschen Islamisten wird in einem Ausbildungslager hingegen beigebracht, »›wie man Minen legt, Raketen abfeuert, sie werden im Umgang mit Maschinengewehren geschult und man zeigt ihnen, wie man aus Sprengstoff Bomben baut, um Gebäude in die Luft zu jagen.‹« (JD 96) Damit stellt der Text eine Differenz aus, die nicht nur extrem überspitzt ist (denn natürlich erlerkeiner Stelle des Romans vorkommt, wird auch in diesem Kontext suggeriert, dass es ein weit verbreitetes Problem darstellt, das grundsätzlich alle verwundeten Soldaten betrifft. 184 Dieses familiengeschichtliche Motiv wird auch an einer anderen Figur, Jerôme Mohr, vorgeführt, der die Schokoladenmanufaktur der Familie leiten sollte und im Krieg getötet wurde. 185 Ob es Zufall ist, dass in dem Roman Jenseits von Deutschland eine Figur den gleichen Namen trägt wie der bekannte Schriftsteller Heiner Müller, kann nicht eruiert werden, zumindest lassen sich in dem Roman keinerlei Hinweise auf ein derartiges historisches Vorbild der Figur finden.

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nen auch die Bundeswehrsoldaten in ihrer Ausbildung den Umgang mit Waffen), sondern auch deutlich die Lenkungsabsicht des Rezeptionsaktes zeigt: Verwiesen wird in dem Roman so nicht nur auf die vermeintlich unterschiedlichen Ausbildungen, sondern auch zum einen auf die Divergenz zwischen dem, was im Vorfeld als wichtig, nämlich nützlich in dem Kriegsgeschehen angesehen wird und zum anderen durch die Darstellung des stets mit Verlusten auf der Seite der Bundeswehr einhergehenden Kampfes auch darauf, was tatsächlich effektiv und nützlich ist. Zudem unterscheiden sich die Gruppen hinsichtlich ihrer Kampfstrategie: Während die Angriffe der Terroristen überfallartig und durchaus gut geplant sind, können die Bundeswehrsoldaten lediglich auf diese Angriffe reagieren und werden dabei sowohl durch ihre strengen Vorschriften als auch durch ihre schlechte Ausrüstung daran gehindert, sich gut verteidigen zu können. Dass sie die Angriffe erfolgreich abwehren können, wie immer wieder betont wird, liegt an der Tapferkeit und dem Mut der Soldaten. Durch die Gegenüberstellung der beiden Figurenkollektive wird insgesamt ein dichotomisches Gefüge konstruiert, dessen Basis die grundsätzliche Unterscheidung in Gut und Böse ist. Keine Figur überschreitet die Grenze zwischen diesen Bereichen, alle Figuren bleiben in den ihnen zugewiesenen disjunkten Teilräumen unbeweglich. Dieses so entworfene, stark homogenisierende Bild wird mit dem literarischen Mittel der dokumentarischen Literatur vermeintlich gestärkt. Davon zeugen die historischen, wissenschaftlichen und statistischen Referenzen sowie die zahlreichen offensichtlichen Anspielungen auf verschiedene Politiker und die paratextuelle Literaturliste. Ziel scheint jedoch nicht zu sein, außertextuelles Material neu zu arrangieren und dadurch eine andere, neue Perspektive zu entwerfen, die durchaus auch Kritik beinhaltet. Das Material wird vielmehr herangezogen, um vermeintliche Fakten aufzuzählen, die jedoch derartig ausgeprägten Selektions- und Bewertungsmechanismen unterworfen sind, dass sie lediglich diesem spezifischen Bild vom Afghanistaneinsatz dienen. Der nullfokalisierte Erzähler resümiert an einer Stelle in diesem Sinne: »Zehn Jahre lang, zwischen 1979 und 1989 holten sich die Sowjets mehr als nur eine blutige Nase und die Amerikaner, die nach den Attentaten vom 11. September 2001 den Verteidigungsfall der NATO geltend machten und damit auch die Europäer involvierten, sorgen nun dafür, dass auch wir Deutschen mit den grausamen Folgen dieses asymmetrischen, ungewinnbaren Krieges konfrontiert werden.« (JD 176, Herv. S.W.)

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E XKURS 1: D IE K RIEGSHEIMKEHRER . I NGO N IERMANNS UND ALEXANDER W ALLASCHS D EUTSCHER S OHN UND M ICHAEL K LEEBERGS D AS AMERIKANISCHE H OSPITAL Die Romane Deutscher Sohn von Ingo Niermann und Alexander Wallasch sowie Das amerikanische Hospital von Michael Kleeberg beleuchten eine weitere Facette des Themenkomplexes der neuen Kriege: die Auswirkungen des Krieges auf heimgekehrte Soldaten. Da sie somit nicht, wie die anderen in dieser Arbeit analysierten literarischen Texte, das Kriegsgeschehen selbst in den Vordergrund rücken, werden die beiden Romane an dieser Stelle in Form eines Exkurses untersucht. Die Werke Deutscher Sohn und Das amerikanische Hospital stellen jeweils einen im Auslandseinsatz verwundeten Soldaten in den Mittelpunkt der Erzählung, ersteres einen deutschen Heimkehrer aus dem Afghanistankrieg mit einer Verwundung am Bein, letzteres einen amerikanischen Soldaten aus dem Zweiten Golfkrieg, der unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Damit liegt der Fokus dieser Texte auf der zivilen Welt, die ebenfalls beeinflusst ist von der Welt des Krieges: im Mittelpunkt steht jeweils ein Heimkehrer, der sich nach seinem Aufenthalt in dem Raum des Krieges wieder in die »organisierten Routinemuster«186 der Heimat einzugliedern versucht, dies jedoch durch die erlebnisbedingte Wandlung während des Krieges oftmals nicht vermag. Mit dem Heimkehrermotiv stellen sich der aus dem Gemeinschaftsprojekt von Niermann und Wallasch hervorgegangene Roman Deutscher Sohn187 von 2010 und der im gleichen Jahr erschienene Roman Das amerikanische Hospital188 von Kleeberg in eine lange literarische Tradition, die bereits bei Homers Odysseus, der bekanntlich nach einer langen Zeit in die Heimat zurückkehrt, ansetzt. Im deutschsprachigen Raum ist jeweils nach den beiden Weltkriegen eine ganze gattungsübergreifende Flut an Literatur entstanden, die die Heimkehr aus dem Krieg thematisiert. Dabei gilt als Prototyp des »heimatlosen Heimkehrers«189 Franz Tunda, der Protagonist von Joseph Roths Die Flucht ohne Ende (1927). Charakteristisch für den Heimkehrer, der ein zentrales Motiv nach dem Ersten Weltkrieg darstellte, ist die Situation, »ortlos und glaubenslos, hoffnungslos, skeptisch einer feindlichen Welt

186 SCHÜTZ, Alfred: Der Heimkehrer, in: Merz-Benz, Peter-Ulrich/Wagner, Gerhard (Hrsg.): Der Fremde als sozialer Typus. Konstanz: UVK 2002, S. 93-110, hier S. 96. 187 NIERMANN, Ingo/WALLASCH, Alexander: Deutscher Sohn. Berlin: Blumenbar 2010. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle S und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. 188 KLEEBERG, Michael: Das amerikanische Hospital. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2010. Im Folgenden werden die Sigle AH und die jeweilige Seitenzahl für die Zitation des Werkes verwendet. 189 MÜLLER, Hans-Harald: Krieg im Frieden – zur metafiktionalen Genremischung in Leo Perutz Roman Wohin rollst Du, Äpfelchen, in: Koch, Lars/Vogel, Marianne (Hrsg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur sei 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 46-57, hier S. 48.

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bürgerlicher Saturiertheit«190 gegenüberzustehen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Thema vermehrt in der Literatur aufgegriffen, auch hier ist die Figur des Rückkehrers, im Gegensatz zu dem Helden Odysseus, der die ›Freier‹ seiner Ehefrau Penelope nach seiner Rückkehr verjagen kann, eher an die biblische Figur des verlorenen Sohns angelehnt, der »Anklage gegen die Vätergeneration erhob, als deren Opfer er sich sah – doppelt: Sie hatte ihn ins Unglück hinausgeschickt und hielt nun auch noch Ort und Platz der Rückkehr besetzt.«191 Wolfgang Borchert, dessen Heimkehrerstück Draußen vor der Tür (Uraufführung 21.11.1947) in diesem Zusammenhang besonders stark rezipiert und von der »Jungen Generation mit an Identifikation grenzender Aufmerksamkeit gelesen«192 wurde, beschrieb dieses Gefühl in dem Text mit dem bedeutungsträchtigen Titel Generation ohne Abschied folgendermaßen: »Wir sind eine Generation ohne Abschied, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten, und wir haben keinen, bei dem unser Herz aufgehoben wäre – so sind wir eine Generation ohne Abschied und ohne Heimkehr.«193 Aber auch andere junge Schriftsteller, die an der Front gekämpft hatten, wie beispielsweise Heinrich Böll, dessen ab 1947 verfassten Kurzgeschichten sich ebenfalls mit der Thematik des Heimkehrens beschäftigen,194 fühlten sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen geeignet, über »diese Gegenwart der Deterritorialisierung und Deplatziertheit zu schreiben.«195 Relevant überwiegend für die Dramen, so Trinks, sei ihr Beitrag zur Gegenwartsdeutung gewesen, die auf einer schlüssigen Interpretation des Vergangenen, des Krieges beruht und zudem mögliche Antworträume auf die Frage nach der Schuld eröffnet.196 Darüber hinaus trugen auch andere narrative (zum Beispiel Erlebnisberichte) und mediale (vor allem der Film) Darstellungen zu dem Bild des Heimkehrers bei. Schütz stellt in diesem Zusammenhang fest, dass ab 1955 eine »signifikante Umcodierung der Heimkehrer« ersichtlich sei, da die erfolgreichen Filme, deren Buchvorlagen ebenso stark rezipiert wurden, nun nicht mehr wie zuvor »schwer traumatisierte Märtyrer« zeigen würden, sondern die Heimkehrer vielmehr als »zähe und findige Überlebenswillige [darstellen], gewissermaßen als einstweilen noch expatriierte Wiederaufbauer, kulminierend in der erfolgreichen Flucht, oder aber als tapfere Mediziner, die unbeirrt von Terror und unangefochten von Verführungen ihren humanitären Dienst am gefangenen deutschen Soldaten 190 Ebd. 191 SCHÜTZ, Erhard: Gefangenschaft und Heimkehr. Einleitung, in: Agazzi, Elena/Ders. (Hrsg.): Handbuch Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945-1962). Berlin: De Gruyter 2013, S. 197-209, hier S. 199. 192 WEHDEKING, Volker/BLAMBERGER, Günter: Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945-1952). München: Beck 1990, S. 55. 193 BORCHERT, Wolfgang: Generation ohne Abschied, in: Ders.: Das Gesamtwerk. Mit einem biographischen Nachwort von Bernhard Meyer-Marwitz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1959, S. 59-61, hier S. 60. 194 Vgl. KURZ, Paul Konrad: Über Moderne Literatur III. Standorte und Deutungen. Frankfurt a.M.: Knecht 1971, S. 18. 195 SCHÜTZ, Erhard: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 199. 196 Vgl. TRINKS, Ralf: Zwischen Ende und Anfang. Die Heimkehrerdramatik der ersten Nachkriegsjahre (1945-1949). Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 40.

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tun.«197 Das Thema der Heimkehrer ist indes besonders in der filmischen Adaption ungebrochen, wie Stefan Hermes nachweist und in diesem Kontext feststellt: »Gemeinsam ist all diesen Narrativen, dass ihre körperlich und/oder psychisch versehrten (Anti-)Helden die Rückkehr in die Heimat als eine Ankunft in der Fremde erfahren: Das ehemals Eigene ist ihnen infolge ihrer Kriegserlebnisse völlig unverständlich geworden […].«198 Gemessen an der bisher eher marginalen thematischen Verarbeitung der neuen Kriege, speziell des Afghanistankrieges,199 in der deutschsprachigen Literatur ist es nicht verwunderlich, dass Deutscher Sohn der einzige Prosatext ist, der die Kriegsheimkehr eines deutschen Bundeswehrsoldaten hauptsächlich thematisiert. Durch die spezifische Struktur der neuen Kriege ist dieses Thema bereits grundlegend anders gelagert, da sich die Soldaten während des Kriegseinsatzes nicht nur mit der ständigen Angst, getötet zu werden, auseinandersetzen müssen, sondern im Gegensatz zu den Soldaten der beiden Weltkriege, bei denen weite Teile der Gesellschaft zumindest temporär den Krieg guthießen, auch die Erfahrung machen, »daß sie Dinge tun müssen, sie sich gegen alle Normen richten, die im zivilen Leben eine selbstverständliche Geltung beanspruchen«200. So verarbeiten Ingo Niermann und Alexander Wallasch dieses Thema auch gänzlich anders als die Autoren nach den beiden Weltkriegen. Der literarische Text schwankt, so die sich streitenden, teilweise offenbar von dem Sprachgebrauch des Romans beeinflussten Rezensenten, zwischen einem »Porno-Roman«, der »[j]unge[n] NPD-Wähler[n]« ebenso wie »unbelehrbare[n] Popliteratur-Dandys«201 gefallen könne, und einer Satire sowie Groteske202, einer »redundante[n] Wichsvorlage«203 und einer Erzählung, deren »unerschütterliche[…] Sachlichkeit« eine »anthropologische Expedition in das Innere der Republik«204 darstellt. Christopher Schmidt, der den Roman als »erste[n] große[n] Roman über 197 SCHÜTZ, Erhard: Gefangenschaft und Heimkehr, S. 208. 198 HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!«, S. 227. 199 Beim Erscheinen des Romans wurde der Afghanistankrieg von dem Spezialdiskurs der Politik in Deutschland noch nicht als ›Krieg‹ bezeichnet. Der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat erst Anfang April 2010 zum ersten Mal von ›Krieg‹ gesprochen – nachdem drei Bundeswehrsoldaten getötet worden waren. 200 DREWERMANN, Eugen: Heimkehrer aus der Hölle. Märchen von Kriegsverletzungen und ihrer Heilung. Ostfildern: Patmos 2010, S. 12. 201 SÜSELBECK, Jan: Wäsungenblut, deutschreligiös. Ingo Niermann und Alexander Wallasch proben mit ihrem Porno-Roman »Deutscher Sohn« die ultimative Provokation, in: literaturkritik 11 (2010). http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=14907# biblio [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 202 Vgl. HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!«, S. 231. 203 DIEZ, Georg: Wunden der Sehnsucht. Nähe und Erfahrung statt Distanz und Metaphorik: Wie unterschiedlich amerikanische und deutsche Autoren über den Krieg schreiben, in: Der Spiegel 45 (2010), S. 148-150, hier S. 150. 204 HARMS, Ingeborg: Ist Deutschland ein hormonell weiblich gesteuertes Land? Der Afghanistan-Roman »Deutscher Sohn« von Ingo Niermann und Alexander Wallasch sondiert kühl die Lage zwischen den Fronten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.10. 2010, S. 28.

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deutsche Afghanistan-Heimkehrer« bezeichnet, erklärt in Anbetracht des Themas in auffällig metaphorischem Gestus: »[W]enn es nicht einschlägt wie eine Bombe, dann hat es damit zu tun, dass wir noch nicht reif sind für die kalte Wahrheit unseres Krieges«205. Einigkeit herrscht indes bei der Einordnung des Werkes in die Pop-Literatur, die Kurz allgemein zeitlich erst den jüngeren Autoren, den Nachfolgern der Gruppe 47, zuordnet. Der Umgang mit den je spezifischen Themen eint jedoch die beide Schriftstellergenerationen, denn die nachfolgende Autorengeneration gehe »mit Pop ähnlich selbstverständlich um wie die erste Generation der Gruppe 47 mit dem Motiv der Vergangenheits-›Bewältigung‹, mit der Fetischwelt der Wohlstandsgesellschaft wie die einstigen Heimkehrer mit den ›Trümmern‹.«206 Niermann und Wallasch lassen in ihrem Roman Deutscher Sohn die Hauptthemen dieser beiden Autorengenerationen – den Krieg und die kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft – zusammenfließen. So wird nicht nur der verletzte und traumatisierte Kriegsheimkehrer in den Mittelpunkt gerückt, sondern auch der Umgang der Gesellschaft mit ihm thematisiert. Der Bundeswehrsoldat Harald Heinemann, den man nach seinem Vorbild, dem National-Torhüter Harald ›Toni‹ Schumacher, nur Toni nennt, war als Stabsunteroffizier in Afghanistan stationiert, wo er während einer Patrouille Opfer eines Attentats wurde. Bei dieser »Feindberührung« wurde sein Oberschenkel von einem Metallsplitter »bis auf den Knochen aufgerissen« (S 13). Der Handlungsverlauf der aus der Ich-Perspektive geschilderten Erzählung setzt »264 Tage und 17 Stunden« (S 7) nach dem Attentat in Deutschland ein und beginnt mit einer Dialogizität simulierenden Passage, in der der autodiegetische Erzähler rhetorische Fragen stellt, die er zugleich selbst beantwortet und so einen Einblick in den Alltag des ehemaligen Soldaten gewährt, der bestimmt ist von den Besuchen seines äthiopischen Pflegers Kanell,207 der Einnahme von Schmerztabletten, Nikotin- und Alkoholkonsum und seinen sich stetig steigernden Phantasien und auch Ausübungen verschiedener Sexpraktiken. Der Krieg bildet die Hintergrundfolie für den Heimkehrer, dessen Spuren in Form der offenen Wunde am Oberschenkel stets anwesend sind und seinen Alltag 205 SCHMIDT, Christopher: Unsere Schlachten. Ingo Niermann und Alexander Wallasch haben den großen Pop-Roman über die Kriegs-Heimkehrer unserer Tage geschrieben. Ihre Botschaft: Wir Deutschen haben in Afghanistan nichts verloren, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.08.2010. http://www.genios.de/presse-archiv/artikel/SZ/20100828/unsere-schlachten/ A47927603.html [letzter Zugriff: 06.06.2016]. 206 KURZ, Paul Konrad: Über Moderne Literatur III, S. 249. 207 Der Pfleger ebenso wie Tonis Geliebte, die Praktikantin Helen, sind Figuren aus Charlotte Roches Roman Feuchtgebiete, weshalb Richard Kämmerlings den Roman Deutscher Sohn im Zusammenhang mit den stets wiederkehrenden Beschreibungen verschiedener Sexpraktiken als das »männliche Gegenstück« zu diesem bezeichnet. (KÄMMERLINGS, Richard: Deutschland sucht das Superpflaster. Weggetreten in fernen Feuchtgebieten: Das Autorenduo Ingo Niermann und Alexander Wallasch hat das Trauma des Afghanistankrieges für die Literatur entdeckt und leider gleich wieder vergessen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.09.2010. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ rezensionen/belletristik/ingo-niermann-und-alexander-wallasch-deutscher-sohn-deutschland sucht-das-superpflaster-11007087.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].)

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stark beeinträchtigen, wodurch der Krieg stets präsent und gegenwärtig gehalten wird. Davon zeugt auch der Metallsplitter, der ihn verwundet hat und den der Protagonist in einer »einfachen, wieder verschließbaren A4-Polypropylen-Klarsichttüte« (S 13) aufbewahrt. Die Erzählung ist von zwei Momenten geprägt, die unmittelbar miteinander verbunden sind: auf der einen Seite vom traumatischen Erlebnis des Anschlags, das Toni versucht zu bewältigen, und auf der anderen Seite von der Schwierigkeit, sich in der Heimat wieder einzugliedern. Letztere basiert zuvörderst auf dem Erlebnis der liminalen Phase des Auslandsaufenthalts, die einer Wiedereingliederung in den Ausgangsraum der Heimat entgegensteht. Wie präsent das Attentat, dessen Opfer der Protagonist wurde, auch in den heimatlichen Strukturen ist und welchen Einfluss es auf Toni ausübt, zeigt sich beispielsweise an der folgenden Passage: »Ich kann dieses Unwohlsein außerhalb der eigenen vier Wände nachvollziehen, aber im Gegensatz zum Biersozi [seinem Nachbarn] auch einwandfrei begründen: Feindfahrt. Konvoi. Einer musste immer hoch ins Loch. Und einer war dann meistens ich. Jeder scheiß afghanische Esel, überhaupt alles, was sich bewegte, und schon blähten sich meine Nasenlöcher in Erwartung einer Feindberührung.« (S 25)

Nicht nur die eingeschränkte Bewegungsfreiheit aufgrund seiner Psyche – referiert wird auf die Angst, die der Protagonist seit dem Anschlag selbst in dem vermeintlich friedlichen Raum Deutschland empfindet –, sondern auch die Grenzziehungsmechanismen, die von dem Protagonisten selbst ausgehen, werden hier deutlich: Er erkennt nur sein Kriegstrauma als legitimen Grund für derartige Angststörungen an. Diese Grenzen, die von Toni selbst ausgehen – »Schmerzen machen ungesellig. Ich wollte allein sein.« (S 185) – und seine Isolation so weit begünstigen, dass er sich in seiner Heimat als Fremder fühlt, sich aber auch selbst fremd geworden ist – »Meine Stimme klingt komisch. Wie von Band abgespielt.« (S 19) –, werden auch an anderen Stellen im Verhalten des ehemaligen Soldaten deutlich. So wird davon berichtet, dass Toni seinen ehemaligen Kameraden besonders gerne schreibt, sein Wunsch besteht darin, »mit den Kameraden einfach mal fünf gerade sein zu lassen.« (S 32) Der Kontakt mit denjenigen, die das Gleiche erleben, scheint besonders wichtig zu sein. Schon in Remarques Antikriegsroman Im Westen nichts Neues sehnt sich der Protagonist Paul Bäumer während seines Heimaturlaubs nach seinen Kameraden, da er diese, im Gegensatz zu seiner Familie, nicht über den Krieg belügen muss. »Ein Zivilist«, konstatiert Toni in Deutscher Sohn an verschiedenen Stellen, kann ›das‹ – das Leben als Soldat, die Kameradschaft, nach der er sich sehnt, die Ordnung, die ein Soldat einhalten muss etc., kurzum: die Sphäre des Militärischen – »nicht nachvollziehen.« (S 33) Diese differenzierende Grenzziehung zwischen Zivilisten und Soldaten wird ebenso in Tonis sprachlichem Habitus deutlich, der sogar in alltäglichen Belangen von militärischen Begriffen geprägt ist: »Die Erfüllung ihrer [Bessys] Wünsche hatte ich mir zur ständigen Hausaufgabe gemacht. Wunsch erkennen. Lage sondieren. Ziel in Angriff nehmen.« (S 187) Ein Zugehörigkeitsgefühl zu

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der Sphäre der Bundeswehrsoldaten, seiner »ideelle[n] Heimat«208, zu der er aufgrund seiner Verwundung nicht zurückkehren kann, wird so prägnant inszeniert. In dem Heimatraum, der nach Tonis Rückkehr vor allem mit Assoziationen der Fremde belegt ist, agiert auch ein Figurenkollektiv aus der Politik, das nicht nur eine Referenz des literarischen Textes darstellt, sondern diese Figuren in der Funktion der Instrumentalisierung des Kriegsheimkehrers zeigt. Um ihre Politik der Anti-KriegsHaltung zu bestätigen, lädt die Partei ›Die Linke‹ Toni ein, einen Vortrag anlässlich einer Mitgliederversammlung zu halten. Der Grund für die Zusage des Protagonisten indes ist klar ersichtlich: Er erhält 200 Euro »Aufwandsentschädigung« (S 33). Dass er sich jedoch keinesfalls gegen den Krieg wendet und überdies auch nicht derartige Intentionen verfolgt, zeigt nicht nur sein oben bereits deutlich gemachtes Zugehörigkeitsgefühl zu den Kameraden, sondern auch seine Antwort auf die auf seine Verwundung abzielende Frage, ob über etwas Bestimmtes nicht gesprochen werden soll: »›Ist mir prinzipiell egal, aber vielleicht nicht so viel politisches Zeug, da bin ich nicht so gut drin.‹« (S 38) Um das Ziel, »das politische System in Deutschland grundlegend zu verändern« (ebd.), umzusetzen, wird der Kriegsheimkehrer mit seiner offenkundigen Verwundung am Bein benutzt, die Schrecken und Folgen des Krieges sichtbar zu machen. Dass es nicht um Toni als Individuum geht, zeigt sich auch darin, dass sein Vortrag als »bewegend und aufwühlend« wahrgenommen und seine »Hilflosigkeit« (S 41) ohne Umschweife und in übergeneralisierender Haltung festgestellt wird, »ohne zu wissen, ob man jemals wieder wird laufen können« (S 42). Im gleichen Moment wird dann die auch einer zentralen Forderung der Partei entsprechende politische Parole skandiert: »Dem Frieden eine Chance – Truppen raus aus Afghanistan!« (Ebd.) Die aus unterdrücktem Lachen resultierenden Tränen in Tonis Augen werden dann auch fälschlicherweise als »emotionale Äußerung« (S 43) missverstanden. Der Versuch, das Erlebte zu überwinden, zeigt sich nachdrücklich in der Traumatherapie, die im Hamburger Bundeswehrkrankenhaus stattfindet, allerdings nicht freiwillig, sondern auf Anordnung erfolgt: »[E]ine Verweigerung medizinisch für notwendig erachteter Maßnahmen hätte möglicherweise nicht nur Auswirkungen auf meine laufenden Versorgungsbezüge, sondern auch auf die Anwendbarkeit des ›Weiterverwendungsgesetzes für im Einsatz verwundete Soldaten.‹« (S 50) Die militärische Einrichtung erweckt für Toni reflexartig ein Gefühl der Heimat, »fast wie nach Hause zu kommen« (S 51). Die Ordnung des Krankenhauses, die nach militärischen Maßgaben aufgebaut ist – »Uniformen. Rangordnungen. Gelernte Bewegungen. Begrüßungen. Sicherheitsgefühl. Feinberührung: null« (S 51) – markiert wiederum die Grenze zwischen der militärischen und der zivilen Sphäre und suggeriert eine Unüberwindbarkeit. Die Behandlungsmethode, mit der versucht wird, Tonis Trauma zu behandeln, ist die Methode »Eye Movement Desensitization and Reprocessing, kurz EMDR« (S 56). Interessant ist zum einen, dass Toni sich auf diese Therapie mit den Worten einlässt: »Für mich klingt das erst einmal nach Gehirnwäsche, aber ich bin zu entspannt, um mir größere Sorgen zu machen. Ich bin unter Kameraden, ich bin zu Hause, was soll mir schon passieren?« (S 56) und damit eine antithetische Haltung zu dem Heimatraum entwirft, in dem er sich kaum traut, das (Eltern-)Haus 208 HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!«, S. 229.

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zu verlassen. Zum anderen wird durch die Benennung dieser Behandlungsmethode und unterstützt durch Tonis immer wieder hervorgehobene Verbindung zu seinem Großvater der historische Horizont der Psychotherapie für die Behandlung von Kriegsheimkehrern aufgegriffen. Eine Posttraumatische Belastungsstörung als Folge der Kriegserlebnisse wurde beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht diagnostiziert, die Heimkehrer wurden vielmehr als ›Kriegszitterer‹ nicht ernstgenommen, sogar als »Simulanten und Drückeberger«209 stigmatisiert. Auch für die ehemaligen Soldaten des Zweiten Weltkrieges wurde eine lang andauernde psychische Störung als Konsequenz des Krieges nicht diagnostiziert, was daran lag, dass die Psychiatrie – die bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts davon ausging, dass eine »normale Persönlichkeit« selbst eine große »Menge und Art von kriegsbedingtem Streß«210 problemlos verarbeiten könne – »zwischen Heilung durch Willenskraft und anlagebedingten Dauerbeeinträchtigungen wenig Deutungsoptionen bot«211. Zudem duldete der »Erneuerungs- und Wiederaufbauauftrag an die wiedergekehrten Männer« kaum »Schwäche und Apathie, die, so ist gerade im Zusammenhang mit zeitgenössischen Debatten über das Geschlechterverhältnis mehrfach dokumentiert, Besorgnis, wenn nicht gar Verachtung auslösten.«212 Neben den im öffentlichen Diskurs deutlich erkennbaren »Vorbehalte[n] und Ressentiments gegenüber psychisch Kranken«213 sind mit dieser Gruppe natürlich auch moralische Fragen verbunden, im Gegensatz zu den NS-Verfolgten, deren andauerndes Leid man nun mit der Etablierung eines Deutungsmusters, das Persönlichkeitsveränderungen durch traumatische Erlebnisse annahm, erklärte: »Damit verschoben sich auch die Grenzen des Sagbaren im Rahmen der allgemeinen Erinnerungskultur. Partiell verwandelte sich die öffentliche Erinnerung an die Gewalthaftigkeit des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges, ohne jedoch dem privaten Wissen der ehemaligen Soldaten von den zerstörerischen Folgen der Kriegsgewalt unbedingt und unmittelbar Ausdruck verleihen zu können. Vielmehr entstand ein sekundärer Rückkopplungseffekt, in dem das private Wissen über die psychischen Kriegsfolgen vom professionellen Diskurs überformt und in der öffentlichen Erinnerungskultur nur in dessen Grenzen verfügbar war.«214

Erst Jahre nach dem Vietnamkrieg wurde in den USA versucht, die Symptome der Heimkehrer wie Schlafstörungen, Flashbacks und Übererregbarkeit zu kategorisieren 209 LIEBERMANN, Peter/WÖLLER, Wolfgang/SIOL, Torsten: Quellentext zur Leitlinie Posttraumatischer Belastungsstörung. Historische Entwicklung, in: Flatten, Guido/Hofmann, Arne/Liebermann, Peter u.a. (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörung. Leitlinie und Quellentext. Stuttgart: Schattauer 2001, S. 13-15, hier S. 14. 210 SHAPIRO, Francine/SILK FORREST, Margot: EMDR in Aktion. Die neue Kurzzeittherapie in der Praxis. Paderborn: Junfermann 1998, S. 54. 211 GOLTERMANN, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2009, S. 363. 212 Ebd. 213 Ebd. 214 Ebd., S. 346.

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und darauf zu reagieren.215 Die in dem Roman angeführte Methode des EMDR wurde 1989 von Francine Shapiro216 als neue Behandlungstechnik für Traumapatienten etabliert. »Basierend auf der Erfahrung, dass belastende (traumatische) Erinnerungen mit Unterstützung von sakkadischen Augenbewegungen […] einem entlastenden Veränderungsprozess unterliegen, entstand die Hypothese einer durch bilaterale Reize anzuregenden Informationsverarbeitung.«217 Genau so wird auch Tonis Therapie in Deutscher Sohn beschrieben: Nachdem er aufgefordert wird, sich zu entspannen, erhält er die Anweisung, den Fingern des Therapeuten, die sich vor seinem Gesicht langsam hin und her bewegen, zu folgen (vgl. S 57). Inszeniert wird die Therapie durch die sich anschließende Anachronie, die Tonis Zeit in Afghanistan kurz beschreibt und das im Folgenden Beschriebene in Frage stellt, beispielsweise den Erzählstrang um das Figurenkollektiv der bizarr anmutenden Sekte, die sich die »Deutschreligiösen« nennt und Toni titelgebend als »Deutsche[n] Sohn« (S 299) bezeichnet, wodurch ihm eine Art Erlöserrolle zugesprochen wird.218 Neben der familieninhärenten Verbindung zu dieser Gruppe ist vor allem das Pflegen und Lobpreisen vermeintlich ›germanischer‹ Eigenschaften relevant. So wird auch festgestellt, dass alle Mitglieder »nichts weniger [verbindet] als die deutsche Herkunft.« (S 81) Der Erzählstrang um diese Gruppe mündet während der Aufführung des Parsifal, zu deren Zweck eine Bühne auf einem aufgeschütteten Müllberg errichtet wurde, in der »altbekannten Geste«219 des Protagonisten: »Instinktiv, in absoluter Klarheit, streckte ich meinen rechten Arm in Richtung Bühne aus.« (S 297f.) Während Süselbeck hier rechtspolitisches Gedankengut ausmacht, argumentiert Hermes, dass man den satirischen Gestus des Romans am »Bramarbasieren über angebliche ›germanische Tugenden‹« ablesen könne, was »ebenso verstiegen wie lächerlich«220 anmute. Eichhorn hingegen argumentiert, dass durch die zuvor inszenierte EMDR-Therapie alle im Roman beschriebenen Gegebenheiten auch lediglich ein Teil dieser sein könnten, worauf beispielsweise die zyklische Struktur des Romans verweise, denn am Ende wird nicht nur auf die rhythmische Bewegung der Finger eingegangen, diesmal von der Figur Helen ausgeführt, sondern der Roman schließt mit dem Satz, mit dem er auch begonnen hat: »Mein Name ist Harald Heinemann, Freunde nennen mich Toni.« (S 316) »Dass Toni nun wieder die kreisenden Finger wahrnimmt und 215 Vgl. LIEBERMANN, Peter/WÖLLER, Wolfgang/SIOL, Torsten: Quellentext zur Leitlinie Posttraumatischer Belastungsstörung, S. 13. 216 Vgl. SHAPIRO, Francine: EMDR. Grundlagen und Praxis. Handbuch zur Behandlung traumatisierter Menschen. Paderborn: Junfermann 1998. 217 FLATTEN, Guido/WÖLLER, Wolfgang/HOFMANN, Arne: Therapie der Posttraumatischen Belastungsstörung, in: Flatten, Guido/Hofmann, Arne/Liebermann, Peter u.a. (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörung. Leitlinie und Quellentext. Stuttgart: Schattauer 2001, S. 85-122, hier S. 89. 218 Vgl. EICHHORN, Kristin: Das Fremde ins Eigene verpflanzen. Deutscher Sohn von Ingo Niermann und Alexander Wallasch (2010), in: Dies. (Hrsg.): Neuer Ernst in der Literatur? Schreibpraktiken in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2014, S. 151-162, hier S. 158. 219 SÜSELBECK, Jan: Wäsungenblut, deutschreligiös. 220 HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!«, S. 232.

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somit aus seiner Gedankenwelt in die Realität zurückkehrt, deutet auf ein Ende der Traumabehandlung hin« und auch die Heilung der Wunde am Oberschenkel, die während der Parsifal-Aufführung durch einen Lichtstrahl, der aus Helens Händen kommt (vgl. S 300), ausgelöst wird, »kann man […] lesen als Bild für die Heilung der seelischen Wunden«221. Interessant ist vor allem die Verbindung des Protagonisten in einer Art Traditionslinie über den Großvater und Vater zu den Deutschreligiösen, die in einer verbogenen Irminsul ein »Symbol des Kampfes« (S 81) ausmachen. Während der Großvater im Zweiten Weltkrieg verwundet wurde und danach ebenso wie Toni sein Leben in einem Kippsessel in der Heimat fristete, was Toni zu der homogenisierenden Aussage führt: »Wir sind Deutsche. Kriegsverletzungen sind bei diesem streitbaren Völkchen scheinbar vorprogrammiert« (S 12), verweigerte der Vater den Dienst bei der Bundeswehr. Seine Begründung ist dabei recht erstaunlich: Es geht dabei nämlich nicht um pazifistisches Gedankengut, sondern vielmehr um die Struktur der Bundeswehr, die »keine souveräne deutsche Streitmacht« darstelle, sondern lediglich »ein sklavisches Anhängsel der amerikanischen NATO-Allmacht sei« (S 80), weshalb er sich weigerte, in ihren Dienst zu treten und weswegen sich der Protagonist mit seiner achtjährigen Verpflichtung seinen Zorn zuzog. Somit wird auch auf der Ebene der Familie eine spezifische, generationsübergreifende Verbindung zum Krieg hergestellt: Der Zusammenhang mit dem Großvater impliziert eine Grenzüberschreitung im Sinne einer Vergleichbarkeit des Zweiten Weltkrieges mit dem Afghanistankrieg, die Aussage des Vaters auf die amerikanische Vorherrschaft verweist auf ein hierarchisches Weltgefüge, das auch den Afghanistankrieg, in dem die USA die größte Streitmacht darstellt, bestimmt.222 Mit der Figur des Vaters wird im letzten Kapitel ein weiteres Motiv in Verbindung gebracht, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Attentat auf den Protagonisten und so mit seiner Erfahrung des Afghanistankrieges steht und das während des Romans immer wieder aufgegriffen wird: das Motiv der Zitrone. Der als Zivilist getarnte Attentäter, ein strategisches Vorgehen, das sowohl für die außerliterarischen als literarischen Terroristen immer wieder beschrieben wird, versteckte die später detonierende Bombe in einer Satteltasche seines Fahrrades unter den Zitrusfrüchten: »Durch die Seitenscheibe blicke ich in ein starres dunkles Gesicht mit weit aufgerissenen Augen. Der Mund in dem Gesicht bewegt sich auf einmal ganz schnell, und dann fährt eine Hand tief hinein in die Zitronen.« (S 64) Daraus resultiert nicht nur die Bezeichnung des Attentäters als der »Zitronenmann« (S 129), die Toni vornimmt, um, so scheint es, durch das Benennen das ihm Widerfahrende und nur bedingt Fassbare greifbarer zu machen. Hier 221 EICHHORN, Kristin: Das Fremde ins Eigene verpflanzen, S. 155. 222 In Bezug auf die ›Vorherrschaft‹ der USA hält beispielsweise Herfried Münkler fest: »Die […] Revolution in Military Affairs, aus der sich die militärische Überlegenheit der USA auch und gerade im Bereich der konventionellen Kriegsführung entwickelt hat, setzt den Prozess der Einschränkung kriegsführungsfähiger Akteure durch Verteuerung des Kriegsgeräts fort. Tatsächlich sind die USA die einzige Macht, die im globalen Rahmen noch kriegsführungsfähig sind.« (MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, in: Frech, Siegfried/Trummer, Peter I. (Hrsg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach: Wochenschau 2005, S. 13-32, hier S. 19.)

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liegt auch die Ursache für seine Abneigung gegenüber der Farbe Gelb, die nun einer Signalfarbe gleichkommt, die Toni immer wieder an das Attentat erinnert, gleichgültig, ob er sie tatsächlich wahrnimmt oder sie, beeinflusst von den starken Medikamenten, herbeiphantasiert, wenn er beispielsweise von seiner ehemaligen Freundin Bessy, die ihn nach seiner Verwundung verlassen hat, träumt, dass sie völlig gelb eingefärbt vor ihm steht und ihn fragt, warum er sie nicht mehr lieb habe (vgl. S 192). Der Titel des letzten Kapitels »Oh Vater, lass uns ziehn!« macht zum einen, überaus sichtbar durch die Anführungszeichen, die Collagen- und Zitiertechnik als Charakteristikum des gesamten Romans deutlich – dieser von der Figur Mignon gesprochene Satz stammt aus dem Anfang des dritten Buches von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre – und verweist damit auf einer intertextuellen Ebene zum anderen selbst auf das Zitronen-Motiv, da der erste Vers dort lautet: »Kennst du das Land, wo die Citronen blühn«223, ein Zitat, das in dem Kapitel noch einmal wörtlich aufgegriffen wird (vgl. S 310). Nach Hermes Interpretation des Werks als Satire bzw. Groteske handelt es sich hier um eine durch das Zitat hervorgerufene Anbindung des erzählten Geschehens »an den Kanon der deutschen Höhenkammliteratur«, was zur Folge hat, dass es »noch skurriler erscheint.«224 Gerade das Motiv der Zitronen indes legt auch eine andere Lesart nahe, die Eichhorn plausibel macht. In dem Kapitel wird nicht nur die Aussöhnung zwischen Vater und Sohn inszeniert, sondern es geht inhaltlich vor allem um das Anbauen von Zitronenbäumen am Brocken. Damit wird nicht nur Tonis Trauma bzw. dessen Bewältigung und damit zugleich der Erfolg der Therapie gezeigt, sondern auch die experimentelle Verbindung von Eigenem und Fremdem: »Was Toni und sein Vater am Ende des Romans tun, ist der Versuch, das Fremde in die Heimat zu integrieren und zwar so, dass jenes nicht als Fremdkörper erscheint, sondern beide eine harmonische Einheit bilden.«225 So resümiert auch der Erzähler: »Die Pflanzen gehen eine Symbiose mit ihrer Umgebung ein. Sie verdrängen nicht, sie bereichern.« (S 313) Eichhorn macht hier das zentrale Moment des Romans aus: die »Auseinandersetzung mit dem Leben in einer interkulturellen Gesellschaft«226. Die intertextuellen Anspielungen auf Goethes Wilhelm Meister seien der Beleg, dass das Fremde immer schon ein Bestandteil des Eigenen gewesen ist.227 Diesen Gedanken kann man noch dahingehend ausweiten, dass nicht nur allgemein das Fremde, sondern ganz speziell auch der Krieg ein integrativer Bestandteil des Eigenen ist und immer schon war. Dafür spricht zum einen das wiederum aufgegriffene Zitronen-Motiv, das unmittelbar auf den Anschlag und damit auf den Afghanistankrieg referiert, und zum anderen, dass der Protagonist eine der äußerst seltenen Reflexionen seines Auslandseinsatzes genau in diesem Kapitel ausführt, in Verbindung mit dem Thema der Fremde:

223 GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Goethes Werke, hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abtheilung. Bd. 21. Weimar 1898, S. 233. 224 HERMES, Stefan: »Guten Morgen, Afghanistan!«, S. 232. 225 EICHHORN, Kristin: Das Fremde ins Eigene verpflanzen, S. 161. 226 Ebd. 227 Vgl. ebd., S. 162.

226 | GRENZFALL KRIEG »Ich habe mich in Afghanistan jeden einzelnen Tag fremd gefühlt. Nicht unangenehm, einfach eine Tatsache, die ich zu akzeptieren hatte. […] War Afghanistan fremd für mich, wird es allen meinen Nachfahren vertraut sein. Durch mich. Ich weiß heute, dass man gerade deshalb immer distanziert und respektvoll gegenüber allem Fremden sein muss. Ist man erst einmal eingedrungen, wird es unweigerlich Teil von einem selbst und allen, die nach einem kommen.« (S 312f.)

Das bedeutet, dass nicht allein eine positive Zukunftsdeutung hinsichtlich des Umgangs mit dem Fremden von dem Protagonisten artikuliert wird, sondern auch, dass die deutsche Gesellschaft in direkter Verbindung zu den neuen Kriegen steht. Auch wenn diese nicht in dem eigenen Land ihren Ausgang nehmen und ausgetragen werden und ihre Art, Strategie und ihr Verlauf sich gänzlich von den im kulturellen Gedächtnis fest verankerten vergangenen klassischen Staatenkriegen unterscheiden, sind sie doch ein Bestandteil der Gesellschaft. Das Fremde dieser Kriege muss in das Eigene integriert werden, um sie so handhabbar zu machen und eine Abwehrreaktion, die eine vermeintliche Untätigkeit mit sich bringen würde, abzulegen. Denn, so könnte man hier herauslesen, die Kriege und die Folgen, personifiziert beispielsweise in den Kriegsheimkehrern, sind integrativer Bestandteil Deutschlands. Der Roman Das amerikanische Hospital von Michael Kleeberg greift ähnliche inhaltliche Aspekte wie Deutscher Sohn auf, verarbeitet sie aber gänzlich anders.228 Der erste direkt ersichtliche Unterschied besteht in dem differenten Setting und der unterschiedlichen Figurenkonstellation: Im Mittelpunkt stehen hier der amerikanischer Soldat David Cote und die Französin Hélène,229 die sich in dem titelgebenden Pariser Krankenhaus begegnen – er, um das Kriegstrauma aus dem Zweiten Golfkrieg zu verarbeiten, sie, um durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden. Eine weitere augenfällige Divergenz der Romane manifestiert sich auf formaler Seite in dem hier verschachtelten Aufbau mit drei Erzählebenen: Es gibt zum einen eine Rahmenerzählung, deren Erzähler, wie erst im letzten Kapitel des Romans ersichtlich wird, der Ehemann der Protagonistin Hélène ist, zum anderen die von einem nullfokalisierten Erzähler berichtete intradiegetische Erzählung, welche die Treffen der beiden Figuren Hélène und Cote in dem Hospital beinhaltet, und zusätzlich die Ebene 228 Der Feuilletonautor des Spiegels beschreibt das so: »Mal geht es um Flaschenbier, mal um Lyrik. Mal um Sex, Sex, Sex, mal um Reden, Reden, Reden. Mal um einen Porno, mal um Melodram, die bürgerliche Antwort auf Porno.« (DIEZ, Georg: Wunden der Sehnsucht, S. 150.) 229 Der Nachname der Protagonistin wird signifikanter Weise nicht genannt, was die markante Namensnennung, die den gesamten Roman determiniert, unterstreicht: Hélène wird ausschließlich beim Vornamen genannt, der Soldat mit seinem Nachnamen oder seiner Nationalität: der Amerikaner. Letzteres führt Bahners darauf zurück, dass an den Figuren »das Typische« betont wird: »Hauptmann Cote firmiert meistens als der Amerikaner, und Hélènes Meinungskostüme kommen von der Stange französischer Nationalvorteile« (BAHNERS, Patrick: Gottes Werk und Doktors Beitrag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.08.2010. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/ belletristik/michael-kleeberg-das-amerikanische-hospital-gottes-werk-und-doktors-beitrag11014521.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].)

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der metadiegetischen Erzählung, die vornehmlich die von Cote analeptisch berichteten Ereignisse des Krieges umfasst. Interessanterweise gibt es auf der intradiegetischen Erzählebene ein gleichsam theoriegeleitetes poetologisches Konzept für die metadiegetisch erzählten Ereignisse des Krieges. Cote führt bei einem Treffen mit Hélène sein Dilemma aus, »einerseits eine kohärente Geschichte erzählen zu wollen […] [a]ndererseits […] habe er eben nur Einzelheiten, Fetzen, Eindrücke zu bieten, Erinnerungssplitter, dazu noch aus der Maulwurfsperspektive gesehen, die sich zu nichts Logischem zusammenfügten.« (AH 73) Hier wird ausgeführt, was in den kulturwissenschaftlich orientierten Erinnerungstheorien mittlerweile als Gemeingut gilt: Die Erinnerungen des individuellen Gedächtnisses sind nicht nur subjektiv geprägt, sondern auch selektiv und gerade im Fall von Traumata können häufig lediglich Bruchstücke erinnert werden, die sich kaum zu einer kohärenten Erzählung zusammenfügen lassen.230 Als Gegenstück zu diesen Erinnerungssplittern werden von Cote die Dokumente angeführt, die »diesen Krieg zu einem Aktenstück machten« (ebd.), also im Gegensatz zu seiner subjektiven Sichtweise den Krieg objektivieren. Schließlich gelangt er dann zu der Erkenntnis, dass der Krieg ein grenzüberschreitendes Hybrid darstellt: »Das Problem, erklärte er, sei, dass der wahre Krieg eben nicht das eine oder das andere sei, sondern beides, sodass eine Erzählung vom Krieg unmöglich von einem Einzelnen zu leisten sei.« (Ebd.) Signifikant ist diese Aussage in einem Roman, der eben (lediglich) einen Soldaten und dessen Erlebnisse aus dem Krieg in den Mittelunkt rückt und durch die monophone Anlage genau das ausstellt, was zuvor von eben dieser Figur als nicht durchführbar erklärt wurde, zugleich auf mehreren Ebenen. Man könnte hier im Kontext der dargelegten poetologischen Überlegungen die Negation eines Anspruchs auf Allgemeingültigkeit des Romans herauslesen. In dieser Lesart müsste vielmehr beides, Objektives und Subjektives, rezipiert werden, wodurch auch indirekt das Konzept des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses aufgegriffen wird, das eben nicht einzelne Erinnerungen fokussiert, sondern, neben anderen Informationen, die einer ganzen Generation bzw. das, was generationsübergreifend archiviert wird.231 Prämisse dafür ist selbstverständlich Cotes Hinweis, dass es einen wahren Krieg überhaupt gibt, was diesen zum einen eben aus seinem rein subjektiven, erlebnisbedingten Charakter herauslöst und zum anderen die generelle Möglichkeit eröffnet, etwas ›Wahres‹ über den Krieg zu erfahren. Zugleich wird mit dieser Aussage in dem Zusammenhang der Erinnerung implizit auf die besondere Austauschfunktion der Literatur als Schnittstelle zwischen indi-

230 So beispielsweis Tilmann Habermas: »In einer […] Variante wird der traumatische Charakter eines Erlebnisses daran festgemacht, dass es nicht als integrale Geschichte, sondern nur fragmentarisch erzählbar sei.« (HABERMAS, Tilmann: Psychoanalyse als Erinnerungsforschung, in: Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 64-74, hier S. 70.) 231 Vgl. ASSMANN, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 62007.

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viduellem, kollektivem und kulturellem Gedächtnis verwiesen.232 Neben dem Hinweis auf die metaphorische Kriegssprache, in der diese theoretischen Ausführungen »moderne[r] Erzählskepsis« vorgetragen werden, wie ›Splitter‹ und ›Fetzen‹, kritisiert Kämmerlings, dass der Protagonist am Ende eben doch dazu in der Lage sei, eine »einigermaßen chronologische Geschichte seines Einsatzes«233 zu erzählen. Diese ist zwar in einzelne Episoden aufgeteilt, was vor allem an der über fünf Jahre verstreuten, sporadischen Gesprächssituation der beiden Protagonisten liegt, die einzelnen Erzählungen sind indes kohärent. Somit werden in grenzüberschreitendem Gestus die beiden Erzählebenen untereinander und mit verschiedenen Theoriediskursen verbunden, die metadiegetische grenzt sich jedoch von der intradiegetischen ab, indem sie das Gegenteil der poetologischen Ausführungen hervorbringt und macht damit nicht einen singulären Status des Romans stark, sondern ordnet ihn in ein ganzes Geflecht medialer und faktischer Darstellungen über den Krieg ein. Spezifisch für Das amerikanische Hospital ist des Weiteren die kulturellräumliche Verlagerung der Themen des Krieges und des traumatisierten Kriegsheimkehrers, da der Roman der einzige des hier untersuchten Korpus ist, der Figuren darstellt, die nicht aus dem deutschen Kulturraum stammen bzw. in diesem agieren.234 Zugleich zeichnet sich die Figurenkonstellation durch ihre antithetische Struktur aus – der Soldat kann den in der Vergangenheit gesehenen und mitverschuldeten Tod nicht überwinden, Hélène will zukünftiges Leben zeugen. Durch diese Figurenanordnung werden zwei Räume deutlich, denen jeweils eine Figur angehört und die durch eine klare Grenze voneinander geschieden sind.235 In den Gesprächen zwischen den Figuren kommt diese gegensätzliche Struktur sehr deutlich zum Tragen. Obwohl beide einen familiären Bezug zum Krieg und zum Soldatendasein aufweisen, sind ihre Einstellungen dazu vollkommen unterschiedlich: Hélènes Vater diente im Krieg gegen Algerien (1954-1962) – Hélène bemerkt sarkastisch, die politische Propaganda imitierend: »Das war ja kein Krieg, wohlbemerkt, sondern eine Befriedungsmaßnahme« (AH 53) – wurde nach der Heimkehr zum Alkoholiker und schwieg über das Erlebte und auch zu dem Geliebten, ebenfalls ein Soldat, mit dem sich ihre Mutter 232 Vgl. ASSMANN, Aleida: Zur Metaphorik der Erinnerung, in: Dies./Harth, Dietrich (Hrsg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 13-35. 233 KÄMMERLINGS, Richard: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit ’89. Stuttgart: Klett-Cotta 2011, S. 78. 234 Praschl führt zu dieser »bewundernswert intelligente[n] Versuchsanordnung« aus, dass dies »dem Denken« die Möglichkeit eröffnet habe, losgelöst von der deutschen Vergangenheit und damit auch tendenziell unbelasteter über das Thema Krieg zu schreiben. (PRASCHL, Peter: Deutsche Schriftsteller entdecken den neuen Krieg, in: Die Welt vom 15.09.2010. http://www.welt.de/kultur/article9651436/Deutsche-Schriftsteller-entdeckenden-neuen-Krieg.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].) Obwohl dieser Beobachtung auf der Figurenebene sicherlich zuzustimmen ist, stehen die beiden Figuren doch auf der ›Siegerseite‹ des Zweiten Weltkrieges, kann dies auf der Ebene der aus dem deutschen Kulturraum stammenden Rezipienten weniger gelten. 235 Vgl. zu den theoretischen Prämissen: LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte und Abschnitt I, Kapitel 2.3.

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bereits während seiner Abwesenheit auf eine Affäre eingelassen hatte. Auch David Cote stammt aus einer Soldatenfamilie: Im militärischen Dienst war sein Großvater, der als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg verwundet wurde und aufgrund dessen als Kriegsheld verehrt wird (vgl. AH 58), und sein Vater hat im Koreakrieg und später in Vietnam gekämpft, was Cote resümierend zusammenfasst mit: »Familientradition. Bei uns wird man Soldat vom Vater zum Sohn.« (AH 42) So werden zum einen durch die Benennungen der Väter bzw. des Großvaters verschiedene Kriege ins Gedächtnis des Rezipienten gerufen, die den Zweiten Golfkrieg, um den es hauptsächlich geht, nicht separiert erscheinen lassen, sondern in einen historischen Zusammenhang stellen. Zum anderen wird auf den gleichen Ursprung der beiden so differenten Soldatenbilder aus der Familienhistorie der jeweiligen Figur verwiesen, deren Grenze, die Cote sarkastisch mit der Analogie eines Aussätzigen (Soldat) im Gegensatz zu »anständigen Menschen« (AH 41) (Zivilisten) markiert, unüberbrückbar zu sein scheint, genauso wie die Konnotationen dieser Soldatenbilder – auf der einen Seite Hélènes Vater als gebrochener, schweigsamer Mann mit »abgekauten Fingernägel[n]« (AH 56), auf der anderen Seite der Heroismus und Wunsch Cotes, die Freiheit zu verteidigen – »Ich tue das für ein höheres Ziel.« (AH 62) Damit ist bereits ein weiterer Aspekt angesprochen, um den die Gespräche zwischen Hélène und Cote kreisen: die Legitimation für einen Krieg: »Was haben Sie gegen Soldaten? Ich habe nichts gegen Soldaten, aber alles gegen Krieg. Und vielleicht auch gegen das, was er aus den Soldaten macht. Und ohne Soldaten kein Krieg. Ohne Soldaten auch kein Frieden, sagte er.« (AH 41)

Während der Soldat von einer historisch gewachsenen Aufgabe der USA spricht, die Freiheit zu verteidigen (vgl. AH 43), sowie von einer »moralischen Verpflichtung«, da Amerika »die Mittel hat, die Kenntnisse und die Macht« (AH 44), hält Hélène Cote die wirtschaftlichen Vorteile besonders hinsichtlich des Zweiten Golfkriegs entgegen: die Kontrolle über das dort geförderte Öl und den durch einen Krieg entstehenden Gewinn für die Waffenindustrie (vgl. AH 46). Damit argumentieren die beiden Figuren auf zwei verschiedenen Ebenen: Cote auf einer global-moralischen, Hélène auf einer national-ökonomischen. Hélènes Pazifismus, der in der einem Glaubensbekenntnis gleichkommenden Aussage mündet: »[I]ch glaube nicht an den Krieg. Ich glaube nicht an den Tod, ich glaube ans Leben« (ebd.), setzt Cote wiederum entgegen, dass er genau für solche Leute wie sie kämpfe: »Damit Leute wie Sie weiter ans Leben glauben können.« (Ebd.) Somit scheint auch hinsichtlich der vermeintlichen Ziele eines Krieges die Grenze, die die beiden disjunkten Teilbereiche voneinander abgrenzt, unüberwindbar zu sein, was hier noch einmal ganz deutlich aufgegriffen wird: »Sie meinen den Kuwait-Krieg? Desert Storm? Mit diesem Schwarzkopf? Diese total undurchsichtige, total abgeschottete, total verlogene Intervention fürs kuwaitische Öl? / Und für die Freiheit Kuwaits und seine Selbstbestimmung, jawohl.« (AH 43)236 Damit benennt Hélène zum einen auch für diesen Krieg 236 In der explizit benannten und als außerliterarische Referenz fungierenden Person Herbert Norman Schwarzkopf manifestiert sich eine grenzüberschreitende Verbindung verschie-

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ihren Hauptkritikpunkt der vermeintlich ökonomischen Interessen Amerikas und zum anderen die damit zusammenhängende Undurchschaubarkeit des Krieges. Diese Außenperspektive Hélènes als Figur, die nicht aus dem Figurenkollektiv der Kriegsakteure stammt, wird durch Cotes innenperspektivische Sicht im Zusammenhang eines spezifischen Charakteristikums der neuen Kriege – der Asymmetrie – im Roman ergänzt, die Münkler, speziell auf die Ausrüstung bezogen, auch für den real-historischen Zweiten Golfkrieg ausmacht: »Dass die europäische Erfahrung nur für symmetrische Kriege gilt, während asymmetrische Konflikte grundlegend anderen Regeln der Kosten- und Lastenverteilung unterliegen, zeigte dann der Zweite Golfkrieg, in dem eine amerikanisch geführte Militärkoalition bei geringen eigenen Verlusten den Irak binnen eineinhalb Monaten in die Knie zwang. In fast jeder Hinsicht war der Zweite Golfkrieg das Gegenteil des Ersten Golfkrieges: Es war ein überaus kurzer Krieg, der vom ersten Tag an nicht als ein Kampf von Gleichen geführt wurde, sondern in dem die irakischen Soldaten der amerikanischen Militärmaschinerie nahezu hilflos ausgeliefert waren.«237

Cote, der nicht am ersten Teil des Zweiten Golfkrieges, dem Luftkrieg, beteiligt war, sondern an der darauffolgenden Bodenoffensive, die am 24. Februar 1991 begann (vgl. AH 86), gibt an verschiedenen Stellen Hinweise auf eben diese asymmetrische Kriegsform, beispielsweise, wenn er von der Ansprache des Kommandanten berichtet: »Wenn Sie durch ein Dorf fahren, und jemand wirft einen Stein auf Sie, erschießen Sie ihn. Wenn jemand auf Sie schießt, halten Sie mit dem Panzerrohr drauf. Wenn die Kerle irgendein größeres Kaliber benutzen, fordern Sie Artillerieunterstützung an.« (AH 87) Neben dem geläufigen Witz der amerikanischen Soldaten über den Irak, dass dieser ein sehr patriotisches Land sei, denn jeder würde andauernd mit einer Landesflagge herumwedeln, die ganz in Weiß gehalten sei (vgl. ebd.), zeigt auch Cotes Aussage »die Toten, die ich gesehen habe, waren die anderen« (AH 122), die militärische Überlegenheit der amerikanischen Streitkräfte. Die sowohl außertextuell festgestellte als auch literarisch inszenierte Asymmetrie fungiert jedoch nicht als Schutz vor den traumatischen Auswirkungen des Krieges auf Cote, im Gegenteil: Gerade aufgrund dieser eindeutig vorteilhaften Position der Amerikaner heben zwei Berichte der metadiegetischen Erzählungen Cotes die Grausamkeit des Krieges hervor:238 Zum einen die Bombardierung eines kleinen Dorfes, das von Zivilisten dener Nationalitäten und unterschiedlicher Kriege, da er nicht nur deutscher Herkunft war und als amerikanischer General die Leitung der Operation ›Desert Storm‹ trug, sondern zudem auch noch ein Ehrenmitglied der französischen Fremdenlegion war, die wiederum eine bedeutende Rolle im Algerienkrieg spielte, in dem auch Hélènes Vater kämpfte. 237 MÜNKLER, Herfried: Der neue Golfkrieg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, S. 16. 238 Cote berichtet auch über andere Ereignisse aus dem Krieg, beispielsweise die in Öl verendenden Vögel (vgl. AH 75ff.) oder die als Kindersoldaten missbrauchten und mit ein paar Karabinern ausgestatteten Jungen, denen man die Achillesfersen durchgeschnitten hatte, damit sie nicht fliehen können (vgl. AH 92f.). Während ersteres die allererste Geschichte ist, die Cote Hélène über den Krieg erzählt und damit gleichsam einen Einstieg findet, über die Grausamkeiten des Krieges zu sprechen, verweist der zweite Bericht über

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(signifikanter Weise wird nur von alten Männern und Kindern berichtet) bewohnt war, bei dem die Non-Kombattanten getötet wurden (vgl. AH 163ff.), und zum anderen der Beschuss einer Fernstraße, Tage nach dem vereinbarten Waffenstillstand, auf der sich zahlreiche Fahrzeuge, darunter auch nicht kampfbereite militärische, befanden. Bezeichnend ist, dass Cote in diesem Zusammenhang die Wörter »chaotisch« (AH 140), »überraschend, unerwartet und schockierend« (AH 141) verwendet, um das Geschehen zu charakterisieren und damit verdeutlicht, dass selbst dieser im Ganzen strategisch durchgeplante Einsatz eben doch die Merkmale der Unüberschaubarkeit trägt und zwar für den aktiv beteiligten Soldaten. So wird der Zweite Golfkrieg in dem Roman hauptsächlich durch zwei Merkmale charakterisiert: die Gewalt, auch gegen die Zivilbevölkerung – und dies nicht von terroristischer oder substaatlicher Seite, sondern von den staatlichen Koalitionsstreitkräften ausgehend – und die für den Protagonisten ebenso bedeutsame Unüberschaubarkeit der militärischen Aktionen. Wie der Roman Deutscher Sohn behandelt auch Das amerikanische Hospital das Thema der Traumatherapie der zurückgekehrten Soldaten.239 Auch in diesem Kontext wird erwähnt, dass es nicht nur Schwierigkeiten mit sich bringt, das Erlebte zu verarbeiten, sondern auch, dass Gesprächspartner außerhalb des militärischen Raums fehlen: »Man kann sie [die Geschichten des Krieges] eigentlich überhaupt niemandem erzählen. Außer denen, die dabei waren, und denen auch nicht, denn sie kennen sie selbst. Das erklärt, warum Soldaten einsame Menschen sind und ihr Leben lang nicht mehr loskommen von der Armee.« (AH 94)240 Im Gegensatz zu dem Protagonisten Toni, der sein Zugehörigkeitsgefühl und damit verbunden sein Heimatgefühl in die Sphäre der Bundeswehrsoldaten einordnet, da sie das gleiche erleben wie er,241 beschreibt Cote eine Grenze mit isolierender Funktion, die auch durch das Figurenkollektiv der Soldaten selbst verläuft, was in der Konsequenz mündet, dass jeder grundsätzlich allein ist und in diesem Zustand das Erlebte bewältigen muss. Der beschriebene Umgang der Institution des Militärs bzw. der Bundeswehr mit dem Kriegstrauma ist ebenfalls unterschiedlich: Die Bundeswehr zwingt Toni regelrecht dazu, sich behandeln zu lassen und führt als Konsequenz eine mögliche Einschrändie Jungen auf ein strategisches Merkmal der neuen Kriege: die Kindersoldaten, die häufig von Warlords, die deren prekäre Lebenssituation ausnutzen, als besonders kostengünstige Kämpfer für ihre Zwecke eingesetzt werden. 239 Kämmerlings schreibt dazu: »Kleebergs Geschichte geht also perfekt auf – wie in einem Lehrbuch für Therapeuten.« (KÄMMERLINGS, Richard: Das kurze Glück der Gegenwart, S. 78.) 240 Ähnlich äußert sich auch die Figur Julian in Die Sprache der Vögel, wenn er Helena erklärt: »›Es hat nicht viel Sinn, jemandem, der nicht dort gewesen ist, davon zu erzählen.‹« (SV 32) Vgl. zur sprachpessimistischen Haltung des Romans Abschnitt III, Kapitel 1.1. 241 Übrigens ein Gefühl, das auch der Kriegsreporter Martens in dem Roman Das Leuchten in der Ferne von Linus Reichlin beschreibt, wenn er davon berichtet, dass die Journalisten in den Kriegsgebieten an der Hotelbar sitzen und sich über das Gesehene austauschen – diese Praktik hat allerdings das primäre Ziel, sich von den Kriegsakteuren zu distanzieren (vgl. Abschnitt III, Kapitel 2.1.).

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kung der Zahlungen auf, die amerikanische Armee hingegen trägt zwar die Kosten für die Behandlung Cotes, »[a]ber es ist nicht so, dass die Armee das an die große Glocke hängt und einen Aufruf an alle ihre Veteranen richtet, sich doch bitte zu melden, wenn sie Alpträume haben.« (AH 96f.) Allerdings, das wird an anderer Stelle deutlich, ist dem Militär sehr daran gelegen, dass die Soldaten wieder gesunden und zwar aus Gründen, die das öffentliche Außenbild des Krieges betreffen: Es will sich bestätigt fühlen, »dass es so schlimm nicht gewesen sein kann.« (AH 117) Auch die dargestellten Therapieformen sind different: Während es in Niermanns und Wallaschs Romanprojekt allein um die Methode EMDR geht, die wahrscheinlich den Plot des Großteils der Erzählung determiniert, werden bei Cotes Therapie zwei verschiedene Methoden angewandt. Die erste versucht, frühkindliche Traumata zu eruieren, die Cotes Angstzustände erklären können, was zur Folge hat, dass der Krieg selbst in der Therapie ausgeschlossen wird. So sagt Cote über seinen Analytiker: »[D]en interessiert mehr meine Jugend in Worcester. Krieg kenne ich selbst, Captain Cote, hat er mir gesagt. Der Krieg ist immer entsetzlich, darüber müssen Sie mir nichts erzählen.« (AH 94) Die Ursache des Traumas wird dementsprechend nicht im Kriegsgeschehen, sondern in der Familienhistorie gesucht, Cote habe die Erwartungshaltung seiner Familie nicht erfüllen können – »fehlende Katharsis nach all der Angst und Anspannung.« (AH 88) Das Trauma wird also interessanterweise an den zu den zwischenstaatlichen Kriegen diamentalen Merkmalen der neuen Kriege festgemacht: »Es hatte keine wirkliche Schlacht, keinen echten Kampf gegeben, um sie zu lösen« (ebd.), der Krieg sei ohne »Höhe« gewesen, »ohne Glorie« (AH 89). Im Rückschluss würde das bedeuten, dass zwischenstaatliche Kriege, denen eine solche ›wirkliche‹ Schlacht inhärent sind, keine Traumata auslösen. Nachdem die Behandlung zunächst erfolgreich zu sein scheint, erleidet der Protagonist einen Rückfall, in dessen Zusammenhang auch die zuvor angewandte analytische Methode von dem Cote nun behandelnden Arzt kritisiert wird (vgl. AH 112), der nicht nur offen von einer Posttraumatischen Belastungsstörung spricht, sondern auch Medikamente verabreicht und eine kognitive Verhaltenstherapie anstrebt (vgl. AH 15), die, ähnlich wie EMDR, versucht, das Geschehene unter anderem mit Zuhilfenahme von zusätzlichem Bild- und Filmmaterial durchzuspielen (vgl. AH 138). Somit wird auch in diesem Roman der Spezialdiskurs der Psychotherapie aufgegriffen und zugleich die Heterogenität der Methoden und Ansätze ausgestellt. Die durch den Raum des Hospitals, das an einer Stelle von Hélène aufgrund der »Wechsel der Aggregatzustände« als »Zwischenreich« (AH 64) bezeichnet wird, verbundenen Protagonisten weisen so auch Parallelen durch den Verlauf ihrer Behandlung242 auf, denn auch Hélènes künstliche Befruchtung scheint zunächst das gewünschte Ergebnis zu bringen, aber sie erleidet immer wieder Fehlgeburten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Hélènes Behandlung, die in der Figurenkonstellation die pazifistische, 242 Auch Hélènes Behandlungen werden recht ausführlich beschrieben, weshalb der Roman neben dem Interdiskurs der Psychiatrie auch den der In-Vitro-Fertilisation aufgreift und diese miteinander verschränkt. Bahners macht in diesem Zusammenhang die interessante Feststellung, dass der Hélène behandelnde Arzt den gleichen Namen trägt, »wie der berühmte Historiker des Fegefeuers« und mit der Behandlung beginnt für Hélène dann eben auch »eine Höllenfahrt« (BAHNERS, Patrick: Gottes Werk und Doktors Beitrag.).

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Anti-Kriegshaltung einnimmt, mit Worten aus dem Semantikfeld des Krieges beschrieben wird, beispielsweise: »Es war Pech gewesen, aber kein Grund zu Defätismus, eine verlorene Schlacht, aber kein verlorener Krieg.« (AH 37) Während Hélènes Leben also eine zyklische Form durch die Behandlung annimmt – »DownRegulierung, Stimulation, Auslösung, Follikelpunktion, Transfer, Wartezeit, Enttäuschung, Erholung und Neubeginn« (AH 38), muss auch Cote zweimal von Neuem beginnen, allerdings endet seine Therapie mit einer ›Heilung‹, die den selbstmordgefährdeten Soldaten wörtlich wieder ins Leben zurückführt, während Hélène sich gegen eine weitere Behandlung entscheidet. Doch noch eine Veränderung ist in der Figurenkonstellation festzuhalten: Am Anfang standen sich die disjunkten Teilräume, die mit den beiden Figuren verbunden waren, unversöhnlich gegenüber, eine Grenzüberschreitung schien nicht möglich. Hélène bleibt zwar im Handlungsverlauf grundsätzlich bei ihrer Haltung, allerdings verteidigt sie am Ende des Romans indirekt die Amerikaner gegenüber dem Vorwurf eines Franzosen. Dieser macht die Amerikaner sowohl dafür verantwortlich, dass Saddam Hussein befohlen habe, die Ma’dan zu ermorden, als auch die Marschen trockenzulegen, Dämme zu bauen und die Ölquellen in den Hammarsee umzuleiten, was die »größte ökologische Katastrophe des Jahrhunderts« (AH 205) darstelle, da die Amerikaner die Ma’dan zur Rebellion gegen Saddam Hussein angestiftet und sie dann »schmählich im Stich gelassen« (AH 206) hätten. Sie erwidert darauf, dass nicht die Amerikaner, sondern in erster Linie Hussein als Urheber dieser Taten dafür verantwortlich sei (vgl. ebd.). Auch Cote nähert sich der Grenze zwischen sich und Hélène an, er wandelt sich vom radikalen Kriegsverteidiger, der einen höheren, moralischen Sinn in dem Krieg sieht, zu einem Kriegsverweigerer: »Nie mehr. Das will ich nicht mehr. Das kann ich nicht mehr« (AH 187), der sogar »einen Groll gegen meine Armee, gegen mein Land« (AH 197) hegt. Seine persönliche Schuld begreift er jedoch lediglich in der Beteiligung am Krieg, sein Verhalten im Krieg hingegen sei »richtig« gewesen, »und was ich falsch gemacht habe, liegt nicht in meiner Verantwortung.« (Ebd.) Damit wird von der Figur jedoch nicht der Krieg an sich delegitimiert, denn die Folge eines Kriegsverzichts hätte noch »Schlimmeres« (ebd.) bedeuten können, allerdings wird die Verhandlung einer persönlichen Schuld, die in dem Roman Deutscher Sohn nicht einmal indirekt geführt wird, auf eine höhere, nämlich staatlich-politische Ebene verschoben.243 Somit gibt es von dem Kriegsakteur keine Absage an den Krieg an sich, sondern eine Kritik an dem Umgang des Staates mit den Veteranen, da es keinen »Abnehmer« (AH 198) für die Konsequenzen, die der Krieg auf persönlicher Ebene mit sich bringt, gebe.

243 Ähnlich argumentieren auch die Soldaten in Jenseits von Deutschland: Die Politiker seien schuld an der Situation der Soldaten in Afghanistan, sie würden sie dort schlecht ausgerüstet im Stich lassen und das Geschehen nicht einmal als Krieg bezeichnen (vgl. Abschnitt III, Kapitel 1.3.).

2. Kriegsreporter – Vermittler-Figuren

Die Figuren der Kriegsreporter nehmen in dem Geflecht von Krieg und seiner Darstellung1 eine grenzüberschreitende Mittlerposition ein, was durch die Positionierung in dieser Arbeit zwischen den Bereichen des Eigenen – den Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen – und des Anderen – den Terroristen – zum Ausdruck kommen soll. Durch ihre Tätigkeit treten Grenzen auf verschiedenen Ebenen in Erscheinung, nicht allein die geographischen werden überschritten, auch die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem, zwischen Beobachter und Akteur verschwimmen. Die Kriegsreporter positionieren sich somit nicht in einem klar umgrenzten Bereich, sondern sind bewegliche Figuren, deren Tätigkeitsfeld ein potentielles Hin- und Herspringen ermöglicht, wobei sie den Krieg bei der Rückkehr zumindest indirekt mit in den Raum des Eigenen bringen. Die Kriegsberichterstattung als liminale und temporäre Phase scheint demnach eine Wiedereingliederung in die Ursprungsgesellschaft zu erschweren, es bleiben zumeist nicht sichtbare Spuren des Krieges an den Reportern haften. Im Folgenden werden zwei Romane untersucht: Das Leuchten in der Ferne von Linus Reichlin, dessen Protagonist Moritz Martens genau aufgrund dieser Spuren des Krieges, die auch im vermeintlich friedvollen Deutschland präsent sind, nicht dazu in der Lage ist, sich in die Gesellschaft wieder zu integrieren, weil ihm alles ›Normale‹ wie eine Banalität vorkommt, und Das Handwerk des Tötens von Norbert Gstrein, der anhand des Versuchs, das Leben des Kriegsreporters Christian Allmayer zu (re-) konstruieren, eine allumfassende Medienkritik entfaltet, die sowohl journalistische als auch literarische Erzeugnisse kritisch reflektiert. Beide Romane basieren, wenn auch gänzlich unterschiedlich gelagert, auf Stereotypen. Während Moritz Martens diese benutzt, um das Fremde für sich (und in seinen Reportagen) zu definieren und es so greifbar zu machen, damit zugleich aber einem wertenden System Vorschub 1

Im Anschluss an die Überlegungen von Christa Karpenstein-Eßbach in Bezug auf Repräsentationen im medialen Kontext wird im Folgenden von medialer bzw. literarischer Darstellung gesprochen. Karpenstein-Eßbach führt aus: »Von einer Repräsentation des Krieges zu sprechen, würde den Blick auf diese Gemengelage von Darstellungs- und Medienkonkurrenzen verstellen und zugleich unterstellen, daß ein ›Wesen‹ des Krieges in seiner Repräsentation zur Erscheinung gebracht werden könnte.« (KARPENSTEIN-ESSBACH, Christa: Zur Präsenz von Neuen Kriegen in der Literatur und ihren Gattungen, S. 5-29, hier S. 6, Herv. i.O.)

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leistet, werden in Gstreins Roman auf einer Metaebene stereotype narrative Muster kritisch hinterfragt. Ein binäres Denkschema ist damit die Grundlage von beiden Texten: bei Reichlin in ihrer Tradierung, bei Gstrein in der alternativlosen Verwerfung.

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2.1 »E S

GAB KEINEN UNBETEILIGTEN B EOBACHTER , ES HATTE NIE EINEN GEGEBEN «. L INUS R EICHLINS D AS L EUCHTEN IN DER F ERNE

2.1.1 Inhalt 2013 erschien der vierte Roman des in Zürich geborenen Schriftstellers Linus Reichlin Das Leuchten in der Ferne,2 der den alternden Kriegsreporter Moritz Martens in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt. Dieser den Printmedien verschriebene Reporter war während seiner Karriere in verschiedenen Krisen- und Kriegsgebieten, darunter auch Afghanistan, versucht sich zu Beginn des Handlungsverlaufs aber in den Alltag in Deutschland zu integrieren. Der Titel, der eine Sehnsucht nach der Fremde impliziert, deutet bereits darauf hin, dass ihm dies nicht gelingt, er bleibt in seinem Verhalten mit eskapistischen Zügen gefangen. Der Roman berichtet so auch von einer weiteren Reise nach Afghanistan, da Martens hier, auf der Grundlage eines Versprechens der Figur Miriam Khalili, eine Geschichte über eine Bacha Posh, die sich mit dreizehn Jahren nicht wieder in die Sphäre der afghanischen Frauen eingliedern wollte und sich stattdessen einer Talibangruppe anschloss, recherchieren will. Obwohl Martens bereits in Deutschland Zweifel an der Echtheit dieser Geschichte hegt, findet er erst in Afghanistan heraus, dass der wahre Grund für die Reise darin besteht, den ehemaligen Ehemann von Miriam, der von der bereits erwähnten terroristischen Gruppe entführt wurde, mit einer hohen Geldsumme auszulösen. Der Protagonist wird aufgrund eines kurz nach der Ankunft von Martens und Miriam erfolgenden Luftangriffs der Amerikaner auf das Terroristencamp der Spionage bezichtigt und muss ebenfalls freigekauft werden. Während das Lösegeld von Miriam in Deutschland organisiert wird, verbringt Martens insgesamt vier Monate bei den Terroristen und gelangt erst nach der Übergabe des Geldes wieder nach Deutschland. Im Zentrum des Romans Das Leuchten in der Ferne stehen sich augenfällig die Praktiken verschiedener Figurenkollektive gegenüber, die eine dichotomische Struktur zwischen Figuren des Krieges und Figuren des Friedens bilden, die jeweils durch unterschiedliche, geradezu antithetische Eigenschaften charakterisiert werden und von einer Grenzlinie geschieden sind. Durch die Fokussierung auf Martens, vor allem in Bezug auf sein Fremdbild, wird seinen Aussagen kaum eine andere Figurenperspektive entgegengesetzt, was, gestützt durch den Erzähler, häufig zu pauschalisierenden und homogenisierenden Aussagen führt. 2.1.2 Formale Grenzen Nach einem kurzen, proleptischen, mit dem Titel »Rückkehr« überschriebenen Kapitel, das die Ankunft Miriams in Afghanistan beinhaltet und damit Martens’ Auslösung aus der Gewalt der Taliban sowie den glücklichen Ausgang der gesamten Erzählung vorwegnimmt, gliedert sich das Werk in fünf Teile. Deren Überschriften

2

REICHLIN, Linus: Das Leuchten in der Ferne. Berlin: Galiani 2013. Im Folgenden wird diese Ausgabe mit der Sigle LF und der entsprechenden Seitenzahl zitiert.

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stellen je geographische Verortungen aus und erinnern an eine Bergwanderung – Flachland, Basiscamp, Aufstieg, Hochebene, Abstieg. Die einzelnen Abschnitte bilden in ihrer Summe eine chronologisch gestaltete Erzählung, die eine kreisförmige Bewegung, Deutschland – Afghanistan – Deutschland, inszeniert, auch wenn die geographischen Grenzüberschreitungen innerhalb der Teile stattfinden und ein prägnanter Schwerpunkt auf der Darstellung des Aufenthalts in Afghanistan liegt. Trotz der grundsätzlichen Chronologie unterbrechen Anachronien immer wieder die Romangegenwart, meistens in Form von Erinnerungen, die häufig aus einer Assoziationskette resultieren oder Erinnerungen werden selbst durch die Schilderung vorhergehender Ereignisse unterbrochen. So erinnert sich Martens zum Beispiel, während er in der Romangegenwart bereits in Afghanistan ist, dass er vor vielen Jahren, als seine Tochter noch ein kleines Kind war, die schrecklichen Erlebnisse, die er zuvor auf seinen beruflichen Reisen gemacht hat, nicht vergessen konnte: »Das Baby war etwas Entzückendes gewesen […] und ein Blick in die kristallreine Tiefe seiner Augen hatte die Schatten vertrieben, die Martens, wenn er von seinen Reisen zurückgekehrt war, mit ins Kinderzimmer gebracht hatte wie die Pest. Das Dunkle hatte er mitgebracht, die Knochen im Kamin in Tuzla, die Erinnerung an die Hutu-Burschen, die es anstrengend fanden, jeden Tag mit der Machete so viele Menschen töten zu müssen.« (LF 94)

Die einfließenden Anachronien spiegeln fast ausschließlich Erfahrungen, die Martens mit Kindern oder Jugendlichen in den Krisengebieten gemacht hat und heben so zum einen deren Verstrickungen in die Gewaltausübungen der Kriege hervor und zum anderen zeigen sie besonders die Grausamkeit der Gewalt in Form der traumatischen, zwangsweise reproduzierten Erinnerungen. Die dargestellten Brüche und Grenzziehungen des Romans liegen somit weniger auf der Ebene der Erzählung, sondern vielmehr in der stets inszenierten Gegenüberstellung von Figurenkollektiven oder Figuren, die als pars pro toto bestimmte Gruppen repräsentieren, beispielsweise die in Afghanistan stationierten deutschen Soldaten im Gegensatz zu den deutschen Zivilisten, im Gegensatz zu den einheimischen Afghanen, die sich wiederum von der Gruppe der Taliban unterscheiden. Diese Divergenzen sind vor allem an den diskursiven Aushandlungen und den Praktiken der Figuren(kollektive) zu erkennen, die im kontrastiven Vergleich nach der im Roman verhandelten medialen Darstellung der Kämpfe untersucht werden. 2.1.3 Die mediale Darstellung der neuen Kriege Bereits die Hauptfigur des Romans weist durch ihren Beruf auf den engen Konnex zwischen Kriegen und deren medialer Darstellung hin und gibt zugleich verschiedene Hinweise darauf, welchen Standpunkt Martens als Kriegsreporter zu den Kriegen einnimmt und wie die Kriege in den Medien illustriert werden. Schon zu Beginn des Werkes wird konstatiert, dass sich die Printmedien in einer Krise befinden, da sich die Menschen viel eher über das Fernsehen und das Internet die gewünschten Informationen beschaffen. Somit wird im Interdiskurs Literatur an dieser Stelle auf den Wettbewerb um die ›Informationsvorherrschaft‹ Bezug genommen, in dem sich die verschiedenen Medienformen befinden. Die Begründung für die Krise der Printmedien liegt Martens zufolge in der Spezifik der Texte: Die Menschen »trauten

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Bildern mehr als Texten, sie hielten Fotos und Filme für neutraler, während die deutlich gekennzeichnete Autorschaft eines Textes in ihnen den Verdacht der Subjektivität weckte.« (LF 10) Wenn die weniger starke Rezeption der geschriebenen Texte mit einer subjektiven Position des Verfassers begründet wird, muss im Rückschluss dieser Argumentationsstruktur dem Produzenten des Bildes bzw. des Filmes ein objektiver Status zugeschrieben werden, was aus medientheoretischer Sicht selbstverständlich nicht bestätigt werden kann. Auch ein Bild bildet nicht die Realität ab – und dies scheint suggeriert zu sein –, sondern einen Ausschnitt eines Moments, der ebenfalls interpretierbar ist.3 Die hinter den Bildern liegenden Machtprozesse, beispielsweise die selektierende Bildauswahl betreffend, werden von den Rezipienten aber offensichtlich nicht wahrgenommen, im Vordergrund scheint bei der Betrachtung von Bildern vielmehr der imaginäre ›Besitz‹ einer Umwelt zu stehen, in der sich die Menschen unsicher fühlen oder die sie nicht verstehen.4 Die Unüberschaubarkeit gegenwärtiger kriegerischer Auseinandersetzungen auf der einen Seite und die kulturelle Fremde, in der diese Kriege stattfinden, auf der anderen Seite, werden gleichsam durch die Fotografie zu einem Wirklichkeitsformat komprimiert, das Überschaubarkeit vorgibt. Zudem sind Fotografien »Beweismaterial«5 und »Mittel zur Beglaubigung von Erfahrung«6, einer Erfahrung, die die in Deutschland lebenden Zivilisten nicht gemacht haben. So scheint ein Foto eine Vorstellung der realen Geschehnisse vermitteln zu können, die nicht aus dem unmittelbaren Erfahrungsraum stammt.7 In Martens’ Argumentation hingegen liegt die Schwierigkeit des Textes gegenüber der Fotografie oder des Films nicht darin, vom Text zu einer Imagination der Wirklichkeit zu abstrahieren, sondern in der explizit ausgezeichneten Perspektive eines Artikels auf das Geschehen. Interessant hierbei ist, dass Martens diese gewandelten Praktiken des Informierens mittels Fernsehen und Internet wahrnimmt und ausschließlich auf die Autorschaft bezieht – und damit auf sich selbst, denn er personifiziert als Artikelschreiber ja die Subjektivität der Texte. Andere Aspekte, wie 3

4 5 6 7

Susan Sontag stellt in diesem Zusammenhang beispielsweise fest: »Während ein Gemälde oder eine Prosaschilderung nie etwas anderes sein kann als eine engbegrenzte Interpretation, kann man eine Fotografie als engbezogenes Spiegelbild begreifen. […] Bei der Entscheidung, wie ein Bild aussehen sollte, bei der Bevorzugung einer von mehreren Aufnahmen zwingen die Fotografen ihrem Gegenstand stets bestimmte Maßstäbe auf. Auch wenn es in gewisser Hinsicht zutrifft, daß die Kamera die Realität einfängt und nicht nur interpretiert, sind Fotos doch genauso eine Interpretation der Welt wie Gemälde oder Zeichnungen.« (SONTAG, Susan: In Platos Höhle, in: Dies: Über Fotografie. Frankfurt a.M.: Fischer 21 2013, S. 9-30, hier S. 12.) Vgl. ebd., S. 15. Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Damit eine derartige Vorstellung bei den Konsumenten, die tagtäglich »mit dramatischen Bildern bombardiert« werden, jedoch überhaupt erst aufkomme, »müssen Tag für Tag Aufnahmen aus diesem Konflikt gesendet und wiederholt werden. Die Vorstellung, die sich Menschen ohne eigene Kriegserfahrung vom Krieg machen, erwächst heute im wesentlichen aus der Wirkung solcher Bilder.« (SONTAG, Susan: Das Leiden anderer betrachten, S. 28.)

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beispielsweise finanzielle Vorteile oder solche, die die Schnelligkeit der Informationsbeschaffung betreffen, führt er in seiner Argumentation nicht auf. So wird nicht das allen Medien Gemeinsame – ihre Subjektivität – fokussiert, sondern im Gegenteil werden die Reportagen gegen die anderen Interdiskurse aufgewertet: »durch die Subjektivität gelangte man in eine Tiefe, in die der Film [gemeint ist der Dokumentarfilm] nie hinabreichen konnte.« (LF 10) So geht es Martens nicht darum, dass die bei dem einen Medium kritisierte perspektivische Darstellung auch bei dem anderen zum Tragen kommt, sondern um die Frage, wie ein Geschehen am besten vermittelt, wie die Grenze zwischen dem Raum des Krieges und dem kriegslosen Raum überschritten werden kann. Der bestmögliche Weg für diese Grenzüberschreitung scheint für Martens der perspektivische, subjektiv gefärbte Text zu sein.8 Als Kriegsreporter hat der Protagonist einen spezifischen Blickwinkel auf die Praktiken des Informierens, weil sie nicht mit seinem aus eigener Erfahrung resultierenden Wissensraum vereinbar sind: »Wider besseres Wissen glaubte er nach wie vor an die Kriegsreportage, er glaubte an den Text. Er glaubte, dass der subjektive Bericht eines Einzelnen das Wesen eines Krieges und die mit ihm zusammenhängenden Vorgänge besser erschließen konnte als ein Dokumentarfilm.« (Ebd.) So wendet er sich, wie in vielen weiteren Aspekten auch, gegen die alltäglichen Verhaltensweisen der im Roman dargestellten deutschen Gesellschaft. Dass Martens selbst jedoch ebenfalls ein disponiertes Subjekt ist, das sich in den machtbasierten Strukturen der Sagbarkeits- und Wissensräume befindet, wird beispielsweise dann ersichtlich, wenn er das jugendliche Alter und die damit zusammenhängende geringe Lebenserfahrung, die »in eine Streichholzschachtel passt« (LF 11), der Redakteure moniert. Trotz dieses vermeintlichen Defizits entscheiden sie darüber, welche Artikel in die Zeitung aufgenommen und welche abgelehnt werden und bestimmen damit zugleich, wer innerhalb des Diskurses eine Sprecherposition erhält, die Martens, trotz seiner bisherigen Leistungen, gelegentlich auch verwehrt wird (vgl. LF 17). Zudem spielen die Reaktionen der Leserschaft in dem Interdiskurs Medien eine Rolle, was zum Beispiel dadurch unterstrichen wird, dass Martens’ Artikel über einen Bundeswehrsoldaten auf viel Widerstand stößt und in einem Leserbrief mündet, der »die Reportage geistig in der Nazizeit« (LF 62) verortet. Nicht die – unpassende – Analogie zum Nationalsozialismus ist hier das entscheidende Moment, sondern dass das primäre Ziel darin besteht, die Rezipienten zufriedenzustellen, damit die Zeitung innerhalb der Medienkonkurrenz ihre Stellung wahren kann und damit entscheidenden Einfluss auf Martens’ Tätigkeit ausübt. Bemerkenswert ist auch die Charakterisierung der Figurengruppe der Kriegsreporter (die Martens miteinschließt) innerhalb der Sphäre des Krieges. Der Protagonist betont immer wieder, dass diese Reporter auf freiwilliger Basis in den Kriegsgebieten sind: »Ich war überall, wo keiner hingeht, der nicht muss, außer mir und ein paar 8

Interessanterweise findet sich in diesem Kontext weder in Form von Paratexten wie beispielsweise bei Scheuers Roman Die Sprache der Vögel (vgl. Abschnitt III, Kapitel 1.1.) noch innerhalb des literarischen Textes wie bei Gstreins Das Handwerk des Tötens (vgl. Abschnitt III, Kapitel 2.2.) eine metareflexive Ebene, die auch den Roman als Medium und damit, in der Argumentationsstruktur von Martens, seine subjektive Einfärbung reflektiert oder Distanz dazu einnimmt.

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anderen Journalisten. Wir waren freiwillig dort, uns hat niemand gezwungen. Wir waren nicht beruflich dort, das kann mir keiner erzählen […]. Wir waren dort […], weil wir es wollten.« (LF 35) Die postulierte Freiwilligkeit, die Martens mit dem Wunsch nach der Abkehr vom Alltag begründet, steht im Kontrast zu den anderen Reportern, die ausschließlich über Gegebenheiten in Deutschland berichten. Als Beispiele führt er dafür die »Keimverseuchung von Eiern« oder die »verheerende Wirkung des Fluglärms auf Datschenbesitzer am Müggelsee« (LF 20) an, Themen, die Martens nicht ernst nehmen kann (vgl. LF 21). Durch diesen kontrastiven Vergleich werden nicht nur Krieg und Alltag einander gegenübergestellt, sondern die Berichterstattung sowie die Journalisten selbst werden unmittelbar mit Wertigkeiten verbunden: eine Ampel, ein Altersheim etc., also Artefakte des Alltags, sind für den Protagonisten unbedeutend im Angesicht des Krieges, über den eine Reportage zu schreiben wichtig ist. Martens stellt zwar heraus, dass auch die anderen Themen Relevanz besitzen, dies ist aber offensichtlich seinem Versuch geschuldet, sich nach seiner letzten, bereits ein Jahr zurückliegenden Rückkehr aus Afghanistan wieder in den Alltag in Deutschland zu integrieren. Konterkariert wird seine Behauptung dann auch von Aussagen wie: »Das Schreckliche veränderte den Maßstab für die Bedeutung der Dinge« (LF 22) oder dem ironischen Kommentar: »Die gewöhnlichen Dinge, Gott segne sie« (LF 23). Die aus Martens’ Perspektive dargestellte Differenz zwischen dem Gewöhnlichen und dem Außergewöhnlichen, dem Alltag und dem Krieg, den Journalisten, die über Gegebenheiten in Deutschland berichten, und denjenigen, die über Kriegsgeschehen schreiben, manifestiert sich in einer Grenzlinie, die zwei grundsätzlich unvereinbare Seiten voneinander trennt. Ein zeitlicher Fluchtpunkt wird bei dieser Differenzierung nicht deutlich: Die Tätigkeit von Kriegsberichterstattern ist grundsätzlich auf ein Thema und damit zeitlich auf das Kriegsgeschehen begrenzt.9 Diese zeitliche Grenzziehung scheint für Martens jedoch nicht zu existieren, die zeitliche Grenzmarkierung wird aufgehoben, indem auch im krieglosen Raum der Berichterstattung über den Krieg der Vorzug gegeben wird. Eine Grenze trennt jedoch nicht nur die Kriegsreporter von anderen Journalisten, sondern verläuft auch zwischen den am Krieg Beteiligten und denjenigen, die über den Krieg berichten. Verdinglicht wird diese Grenze in dem Artefakt der Hotelbar: »Ohne die Aussicht auf eine Hotelbar war man wie sie, wie die, über die man berichtete. Die Schlägertrupps, die Milizen, die Folterknechte, die Banden, die mordend herumzogen: Von ihnen unterschied man sich dadurch, dass man abends an der Hotelbar über sie redete. Die Hotelbar war die Grenzlinie zwischen denen, die jederzeit nach Hause zurückkehren konnten, und jenen, die aus dem, was geschah, nicht herauskamen.« (LF 274, Herv. i.O.)

Die Hotelbar fungiert nicht nur als räumliche Trennung zwischen den Orten des Kampfes und einem Schutz- und Rückzugsort für die Reporter, sondern auf dieser Grenze wird auch das Eigene, die gemeinsame Basis dieser Gruppe konstituiert: Die Journalisten tauschen sich über das Erlebte aus, Martens resümiert, dass die anderen Reporter »mit denselben Erlebnissen nicht fertigwerden wie man selbst.« (LF 273) 9

Vgl. RICHTER, Simone: Journalisten zwischen den Fronten. Kriegsberichterstattung am Beispiel Jugoslawien. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 33.

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Die mithilfe der Grenzen konstruierte Homogenität dieser Gruppe liegt also darin, dass durch interne Kommunikation eine Distanz zu dem Kriegsgeschehen, aber auch zu den Kriegsakteuren geschaffen wird, die jedoch zugleich durch den Vermerk, dass einer Verarbeitung unmöglich ist, zumindest teilweise wieder zurückgenommen wird. Gerade durch das Aufzählen der Gruppen, die mit extrem negativen Konnotationen belegt sind, wie ›Schlägertrupps‹ oder ›Folterknechte‹ zusammen mit dem wertenden Signalwort ›Mord‹, wird eine Sphäre der Illegalität und Unrechtmäßigkeit aufgespannt. Von dieser bemühen sich die Reporter, die an diesem Geschehen ja unmittelbar teilnehmen, sich zu distanzieren. In diesem Zusammenhang ist auch die bereits zuvor getroffene Aussage von Martens: »Es gab keinen unbeteiligten Beobachter, es hatte nie einen gegeben, nicht in Liberia, nicht im Sudan, nicht in Ruanda, Tuzla, nirgends« (LF 259f., Herv. i.O.) bedeutsam. Die Nennung der verschiedenen Kriegsgebiete demonstriert, dass unabhängig von Raum, Kriegsursache, -art und -verlauf diese Aussage universalistische Züge trägt und damit die Journalisten das intendierte Ziel der Abgrenzung nicht erreichen können – eine Distanz durch Kommunikation wird als Illusion vorgeführt. Das Verhältnis zwischen Involvierung und Distanznahme von Fotografien in Bezug auf das von ihnen dokumentierte Geschehen wird auch von Susan Sontag beleuchtet. Das Fotografieren sei »seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung«: »Wer sich einmischt, kann nicht berichten; und wer berichtet, kann nicht eingreifen.«10 Trotzdem handele es sich dabei um mehr als ein passives Beobachten: »Ähnlich dem sexuellen Voyeurismus ist er [der Akt des Fotografierens] eine Form der Zustimmung, des manchmal schweigenden, häufig aber deutlich geäußerten Einverständnisses damit, daß alles, was gerade geschieht, weiter gehen soll. Fotografieren bedeutet an den Dingen, wie sie nun einmal sind, interessiert zu sein, daran, daß ihr status quo unverändert bleibt […]. Es bedeutet, im Komplott mit allem zu sein, was ein Objekt interessant, fotografierenswert macht, auch – wenn das gerade von Interesse ist – mit dem Leid und Unglück eines anderen Menschen.«11

Martens, der zwar an der Kommunikation über das Erlebte innerhalb des Figurenkollektivs der Kriegsreporter teilnimmt, aber offensichtlich nicht an der dadurch entstehenden distanzschaffenden Grenzziehung festhält, merkt zu diesem Thema an, dass er, weil er freiwillig dort ist – und das gilt laut Martens für alle Kriegsreporter – eine grundsätzliche Mitschuld trägt (vgl. LF 259). Aber nicht nur die Gründe für den Aufenthalt in einem Kriegsgebiet, auch die zweite Begebenheit, deren Erinnerung er in Deutschland gleichsam zwanghaft reproduziert, widerspricht einem Status des unbeteiligten Beobachters: Martens dokumentiert ein Massengrab, das gerade von Soldaten zugeschüttet werden soll und entdeckt dabei ein lebendes Mädchen, das versucht, sich aus dem Erdloch zu befreien. Unfähig einzugreifen, handelt der ihn begleitende Fotograf Carlsen und rettet das Mädchen. Martens »dachte, wenn Carlsen nicht reagiert hätte, wäre das Mädchen gestorben. Ich hätte auch reagiert, aber zu spät, ich war … ich weiß nicht … Er hatte sich einfach nicht rühren können.« (LF 10 SONTAG, Susan: In Platos Höhle, S. 17f. 11 Ebd., S. 18.

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21) Diese eingestandene Passivität Martens’ zeigt eine mögliche Mitschuld auf, die zwar nicht das aktive Töten der Kriegsakteure beinhaltet, jedoch durch Unterlassung beinahe zu dem gleichen Ergebnis geführt hätte. Noch deutlicher wird dieses Spannungsfeld zwischen den Polen Beobachter und Beteiligtem in einer weiteren Erinnerung an ein Ereignis in Afghanistan in Richtung Mitschuld verschoben. Martens befindet sich dort, um über Hundekämpfe zu berichten (vgl. LF 28), also nicht über das Kriegsgeschehen, das er immer wieder anderen Themen hierarchisierend entgegenstellt. Er gerät mit einer Patrouille deutscher Soldaten in einen überfallartigen Angriff: »Ein Hinterhalt, Schüsse von überall her, alle springen aus dem Wagen aus Angst vor den Panzerfäusten und werfen sich auf den Boden. Geschrei, Granateneinschläge, Staubfontänen, kristallines Glitzern im Sonnenlicht, Staubwolken, darin Schatten. Plötzlich ein Gewehr in der Hand, der behelmte Kopf von Kessler, der schreit, ich hoffe, Sie können damit umgehen, wir können Sie nicht schützen, das müssen Sie jetzt selbst tun.« (LF 28)

In dieser gefährlichen Situation, schießt Martens gemeinsam mit einem nun ebenfalls bewaffneten Arzt in eine Staubwolke und erschießt, ohne es sehen zu können, eine Zivilistin. Obwohl er lediglich einen einzigen, ungezielten Schuss abgegeben hat und daraus ableitet, dass wahrscheinlich der Arzt die Frau erschossen hat, ist er im Gegensatz zu der Rettungsszene des Mädchens hier ein aktiv Involvierter, der den Bundeswehrsoldaten gleich sich verteidigt und so vermeintlich tötet. Durch diese erinnerten Szenen wird Martens’ These, dass es keinen unbeteiligten Beobachter gibt, nicht nur unterstützt, sondern zugleich mit einem Beispiel vermeintlich belegt: Sie resultiert aus dem eigenen Erfahrungsraum des Protagonisten und wird seiner gängigen Argumentationsstruktur nach auf alle anderen Kriegsreporter übertragen. Durch diese potentielle Mitschuld verschwimmt die Grenze zwischen den Journalisten im Krisengebiet und den aktiven Kämpfern. Weil die Reporter die Kriegsakteure freiwillig begleiten und Martens sowohl passiv als auch aktiv in das Geschehen involviert ist, wird einer strikten Grenzziehung zwischen Kriegsreporter und -akteur letztendlich aufgehoben. Dadurch gelangen die Journalisten in Bezug auf den Krieg zu einer subjektiven Perspektive, die laut Martens ja gerade den Vorteil der Texte gegenüber Fernsehen und Internet ausmacht. Ein weiteres von Martens postuliertes, die Gruppe der Kriegsreporter vereinendes Inklusionsmoment liegt in dem Schutz, den sie trotz des hohen Gefahrenpotentials ihrer Tätigkeit besäßen, da die Kriegsparteien »an der Berichterstattung über sie meistens außerordentlich interessiert« (LF 66f.) seien. Durch die vermittelnde Instanz des Reporters kann die Sicht einer Kriegspartei dargestellt und befürwortet oder abgelehnt werden. Dieser vermeintliche Schutz allerdings ist kein allgemeingültiger, wie auch der Protagonist feststellt: »Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass es ihnen, nachdem sie ihre Taten ins Mikrofon geprahlt hatten, nicht doch einfiel, dem Journalisten mit einem Messer Fingerglieder abzutrennen.« (LF 67) Nicht nur die ständige Gefahr, in der sich die Kriegsreporter befinden, kommt hier zur Anschauung, auch die vor Ort nur schwer einzuschätzende Situation und das Ablehnen des besonders Zivilisten unter Schutz stellenden internationalen Völkerrechts von vielen

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privaten bzw. substaatlichen Kriegsakteuren im Zuge der Entmilitarisierung der Gewalt12 wird hier deutlich. Dass der Schutz durch die Tätigkeit als Reporter eher illusionär ist, zeigt sich auch daran, dass der Anführer der näher beschriebenen Talibangruppe vor dem Beginn der Romanhandlung zwei entführten englischen Journalisten den Kopf abschlägt und diesen Akt der Gewalt via Internet verbreiten ließ (vgl. LF 157). Neben der Botschaft an die anderen Talibananführer, dass er, Dilawar Barozai – er nennt signifikanter Weise seinen Namen in dem Video – im Gegensatz zu anderen Taliban, sich nicht von der Regierung in Kabul kaufen lässt und nicht für amerikanische Dollar um Frieden winselt (vgl. LF 158), ist auch die implizite Botschaft an den »zu interessierenden Dritten«13 bedeutsam, die Bestechung verurteilt und zur Weiterführung des Krieges aufruft. Außerdem ist hier entscheidend, dass das Mittel der Kommunikation, das Video, selbst gedreht wurde14 und daher die zu übermittelnde Botschaften durch die technischen Errungenschaften wie das Internet auch ohne Hilfe von Reportern weite Verbreitung finden können. Damit wird die dezentrale Machtstruktur der Massenmedien, vor allem des Internets, offenkundig, die sich besonders in Martens’ erkenntnisreichen Aussagen über Dilawar zeigen: »Und er war ein lokaler Führer, seine Bekanntheit basierte nicht auf tatsächlicher Macht. Sie war virtuell und beruhte einzig auf den Videos, die Dilawar vor zwei oder drei Jahren ins Internet gestellt hatte […]. […] Seine Prahlsucht hatte ihn berühmt gemacht, aber sein großer Name war eine Luftblase, er war ein bekannter, aber kein einflussreicher Kommandant, militärisch nur der Anführer einer unbedeutenden Horde.« (LF 177, Herv. i.O.)

Erkennbar wird hier, dass nicht die tatsächlichen Gegebenheiten entscheidend sind, sondern die Wahrnehmung einer Person durch ihre Selbstdarstellung. Das Internet als Medium weist im Kontext der neuen Kriege somit zwei zentrale Merkmale auf: Es ist zeitlos – die eingestellten Videos sind schon einige Jahre alt, was freilich nicht deren Grausamkeit mildert, aber zeigt, dass sie nicht aktuell sein müssen, um meinungsbildend zu sein – und die dahinterstehenden Informationen können nicht ohne Weiteres überprüft werden. Der Eindruck, dass es sich bei Dilawars Gruppe um eine große, international operierende terroristische Organisation handelt, kann von Martens erst dann als falsch entlarvt werden, als er sich selbst innerhalb der Gruppe aufhält und lediglich siebzehn Kämpfer zählt (vgl. LF 220). Neben dem Potential, mittels Videos Botschaften selbst zu überbringen und einem weltweiten Publikum zugänglich zu machen, eröffnen diese Massenmedien also auch Raum für Positionen, die durch die Kriegsreporter derart wahrscheinlich nicht transportiert würden und teilen den Terroristen so eine Sprecherposition zu. Sag- und denkbar ist im Grunde nun alles für jeden, der einen Internetzugang besitzt.

12 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Was ist neu an den neuen Kriegen?, S. 141. 13 MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 180. 14 Die Herstellung von Videomaterial über terroristische Aktionen wird beispielsweise auch in dem Roman Das dunkle Schiff von Sherko Fatah beschrieben (vgl. Abschnitt III, Kapitel 3.2.).

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So hat der Kriegsreporter seinen Status als notwendiges Sprachrohr bzw. als Vermittler der eigenen Anschauung eingebüßt und damit auch seine mutmaßliche Schutzposition. Fraglich scheint es daher, warum Martens sich trotzdem in diesem Schutzraum wähnt, da er aus seiner Erfahrung heraus dieses Wissen eigentlich generiert haben müsste. Allerdings, das ist hier entscheidend, sind Wissen und eine daraus resultierende Angst für den Protagonisten ohnehin nicht unmittelbar miteinander verknüpft. Die Frage, ob er keine Angst vor Entführung, Selbstmordanschlägen, Erschießung oder Bombenexplosionen in Afghanistan habe, beantwortet der Erzähler mit: »Vor alldem hatte Martens keine Angst. / Natürlich habe ich Angst, sagte er, weil es die einfachere Antwort war.« (LF 47) Deutlich wird hier die Divergenz zwischen Sagbarem und Nicht-Sagbarem ausgestellt: Obwohl Martens um all die aufgezählten Gefahren weiß (übrigens von einer Figur, die selbst nie dort war und damit lediglich über medial vermitteltes Wissen über die Kriegsgebiete verfügt), empfindet er keine Angst, was er allerdings nicht explizieren kann, da dies in den Bereich des Nicht-Sagbaren des Diskurses innerhalb Deutschlands fällt. Während sich die Terroristen also ihren Sagbarkeitsraum und ihre Sprecherposition selbst durch das Internet schaffen können, muss Martens die diskursiv ausgehandelten Positionen einhalten. Seine ehrliche Meinung und Empfindung verschweigt er. Dass ihm die Einhaltung der diskursiven Grenzen jedoch oftmals nicht gelingt, zeigt sich besonders an einer Reportage, die er über den jungen, in Afghanistan stationierten Bundeswehrsoldaten Kampe schreibt. Da hier die deutschen Soldaten im Kontrast zu der Zivilbevölkerung – im Medium eines Zeitungsartikels – dargestellt werden, wird dieser Aspekt im folgenden Abschnitt analysiert. 2.1.4 Die Grenzen zwischen den Figurenkollektiven In dem Kapitel »Kampe« wird darüber berichtet, dass Martens einen Bundeswehrsoldaten fünf Wochen während seines Afghanistaneinsatzes begleitet und ein Porträt über ihn anfertigt. Die Grenze zwischen den im Ausland stationierten Soldaten und den deutschen Zivilsten wird besonders anschaulich, wenn Kampe mit seiner zu Hause verbliebenen Frau spricht. Nachdem beschrieben wird, dass der Soldat in Afghanistan unter Schlafstörungen leidet, innerhalb von zwei Monaten fünf »Feindberührung[en]« (LF 59) hatte, und einmal durch einen Bombensplitter verletzt wurde, berichtet seine Frau aus und von der Heimat: Die Waschmaschine sei nicht mehr funktionstüchtig, die gemeinsame Tochter habe ein neues Wort gelernt, eine Nachbarin habe sie zum Kaffee eingeladen (vgl. ebd.). Somit wird in einem scharfen Kontrast die Alltäglichkeit des Lebens in Deutschland dem Leben in Afghanistan als deutscher Soldat entgegengestellt, wobei ersteres durch Routine und Gleichförmigkeit gekennzeichnet sind, letzteres hingegen durch Unsicherheit und Gefahr, womit die beiden Seiten der Praktiken – Routine und Unberechenbarkeit – in Erscheinung treten.15 Allerdings, das wird direkt deutlich, gefällt Kampe dieses Leben, die »Ein15 Im Zusammenhang mit Briefen, die Soldaten im Auslandseinsatz von Menschen aus der Heimat bekommen, macht Alfred Schütz auf die Verwunderung der Soldaten angesichts des fehlenden Verständnisses der in der Heimat Verbliebenen für die Kriegsrealität aufmerksam und konstatiert seitens der Soldaten einen Wechsel des Relevanzsystems: »Diese

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fachheit der Kriegswelt«, deren »klare[…] Strukturen« (LF 60) ihm laut Martens entsprechen. Das Fremde, das Nicht-Alltägliche wird im Gegensatz zu dem Eigenen als das Erstrebenswerte beschrieben. Dass sich der zurückgekehrte Kampe nicht wieder in die Ordnung der Heimat eingliedern kann, zeigt, dass die Grenze hin zu dem disjunkten Teilbereich des Krieges von dem Soldaten nur einmal überschritten werden kann, eine weitere Übertretung zurück in den Ursprungsraum ist nicht möglich. So ist Kampe eine bewegliche Figur, die sich nach dem Grenzübertritt in eine unbewegliche gewandelt hat, die sich in den neuen Teilraum integriert. Der Grund für die Unfähigkeit einer erneuten Transgression und der damit einhergehenden Wesensveränderung wird von einem Truppenpsychologen auf eine Posttraumatische Belastungsstörung zurückgeführt. In Martens’ Interpretation innerhalb seiner Reportage jedoch wird das modifizierte Verhalten genau gegenteilig erklärt: »Kampes Trauma war nicht der Krieg, sondern das Häuschen in Rankwitz, die Rückkehr zu Frau und Kind. Sein Trauma war das gewöhnliche Leben, das so schwierig zu führen war, weil es aus lauter Belanglosigkeiten bestand, zu deren Bewältigung dennoch eine große Anstrengung nötig war.« (LF 61)16 Martens schafft hier eine Analogie zwischen seinem eigenen Verhalten und dem des Soldaten: Beide begeben sich auf freiwilliger Basis in Gefahr, wollen und genießen sie sogar. Die Alltäglichkeit hingegen lehnen beide ab. Damit wird ein Vergleich angeregt, der auf übereinstimmenden Wesenszügen basiert, ohne dass Martens sich selbst in diesem Kontext erwähnt, was die Grenze zwischen ihm als Reporter und dem Soldaten, also zwischen Beobachter und Akteur, noch weiter verschwimmen lässt. Die oben bereits angesprochene Subjektivität der Reportagen über die Kriegsgebiete, der von den Lesern angeblich Misstrauen entgegengebracht wird, gelangt so zur Anschauung – Martens interpretiert das Verhalten von Kampe konträr zu der Diagnose eines Psychologen, indes in Übereinstimmung zu seinem eigenen. Entscheidend ist hier nicht, welche Interpretation bzw. Diagnose korrekt ist, sondern vielmehr, dass im Kontext der Soldaten ebenso wie bei der Beschreibung anderer Kriegsreporter generalisierende Aussagen getroffen werden, die in Martens’ konstruiertem Bild auf alle Mitglieder dieser Gruppe grundsätzlich zutreffen, wie beispielsweise in dem Satz »Soldaten gründeten früh Familien« (LF 58) deutlich wird. Die Gegensätzlichkeit zwischen den Praktiken der Zivilisten und denjenigen der Soldaten wird auch in der Passage sichtbar, in welcher der Romanerzähler berichtet, dass Martens’ Reportage von der Leserschaft schlecht bewertet wurde, »weil es vielen schwerfiel zu akzeptieren, dass Kampes Trauma der Alltag in Rankwitz war. Die Leser hatten dies als Herabminderung ihres Briefe überbewerten die Relevanz von Dingen, die für den Soldaten in seiner aktuellen Situation von keinerlei Wichtigkeit sind, obwohl sie Gegenstand mannigfacher Überlegungen wären, wenn er zu Hause wäre und sich mit ihnen beschäftigen müsste.« (SCHÜTZ, Alfred: Der Heimkehrer, S. 102.) 16 Martens’ Erklärungsansatz erinnert stark an die Aussagen des Traditionalisten und Militärhistorikers Martin van Creveld, der meint, dass ein Mann »Genuss, Freiheit, Glück, ja Delirium und Ekstase auf eine Art und Weise erfahren [kann], die nicht darin besteht, zu Hause bei Frau und Familie zu bleiben, sondern, wie so oft geschehen, darin, nur allzu froh die Nächsten und Liebsten zu verlassen mit dem einen Ziel – Krieg!« (CREVELD, Martin von: Die Zukunft des Krieges, S. 322. Vgl. dazu auch Abschnitt III, Kapitel 1.2.3.1.)

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eigenen Alltags empfunden.« (LF 62) Hier zeigt sich also die gleiche Argumentationsstruktur wie in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Journalisten und Kriegsreportern: Es handelt sich wieder um eine mit Bewertungen verbundene Differenzierung, die das Handeln – sei es als Soldat oder als Reporter – im Krieg hervorhebt und das Alltägliche der zivilen Gesellschaft herabstuft. Aber nicht nur die Zivilisten der Heimatgesellschaft, auch ein Offizier (also eine Person aus der Gruppe, die von dem Protagonisten hierarchisierend höher bewertet wird) kritisiert Martens’ Reportage. Als dieser sich mit seiner Begleiterin Miriam im Handlungsverlauf im Camp der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan befindet, führen sie ein Gespräch mit Seegemann, der als »aufgeklärter, gebildeter und selbstironischer Offizier« (LF 90) eingeführt wird. Martens’ Reportage wird in diesem Gespräch zum Gegenstand: »Ich habe übrigens eine Ihrer Reportagen gelesen, sagte Seegemann und füllte die Gläser. Das Trauma des Uwe Kampe. […] Der Text war sehr gut geschrieben. Aber ich fand Ihren Ansatz, nun ja, wenig hilfreich, was unseren Einsatz hier betrifft. Es konnte der Eindruck entstehen, als wäre Afghanistan ein Eldorado für Männer, die nicht gern zu Hause bei ihren Familien sind. […] Ich kann selbstverständlich nicht für alle Soldaten hier sprechen. Aber aus vielen auch sehr persönlichen Gesprächen weiß ich, dass die meisten von ihnen ihre Familien sehr vermissen und unter der Trennung von ihren Frauen und Kindern leiden.« (LF 91)

Zum einen aus persönlicher Erfahrung und zum anderen als ein Vertreter dieser vermeintlich homogenen Gruppe, kritisiert der Offizier die perspektivische Darstellung der Reportage, die, das wird insgesamt deutlich, seiner Meinung nach nicht die Realität seines Erfahrungsraums widerspiegelt und Martens als Kriegsreporter so, entgegen seiner Selbstwahrnehmung, außerhalb des Erlebens des Krieges verortet. Besonders interessant ist nicht nur Seegemanns Einbeziehung der eigenen Erfahrung, sondern auch, dass sich seine Kritik vor allem auf die dargestellten Gründe für einen Auslandeinsatz bezieht, die seiner Meinung nach nicht in der temporären Abkehr von der Familie, sondern in der »Pflichterfüllung« (ebd.) liegen. Hier wird nicht nur die kontroverse Argumentationsstruktur von Martens, der private und charaktertypische Gründe fokussiert, und von Seegemann, der rein berufliche Aspekte anführt, inszeniert, sondern auch die durch diskursive Grenzen entstandene Diskrepanz zwischen dem, was gesagt werden kann und was nicht: »Ich habe mit vielen Soldaten gesprochen, sagte Martens, und die meisten sagen dasselbe wie Sie. Pflichterfüllung. Seinem Land dienen. Den Afghanen helfen. Den Frieden sichern. Das mag ja alles auch stimmen. Aber es ist nur der Teil der Wahrheit, den man aussprechen darf. Was sie verschweigen, ist, dass sie hier sind, weil sie etwas Einzigartiges erleben wollen. […] Alle, die hier sind, sind lieber hier als bei ihren Familien. Wenn es nicht so wäre, wäre dieses Camp leer.« (LF 92)

Neben dem Versuch, den Beleg für Seegemanns Meinung – zahlreiche Gespräche mit anderen Soldaten – auszuhebeln, indem Martens ihn für sich ebenfalls in Anspruch nimmt, hält der Protagonist an seiner homogenisierenden Meinung fest, diese liegt lediglich außerhalb dessen, was gesagt werden kann bzw. darf, da diese Einstellung nicht zu dem vom öffentlichen Diskurs zum Thema Krieg generierten Meinungsbild der Gesellschaft passt. Demonstriert wird also mithin, dass in Deutsch-

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land nicht alles zu diesem Thema gesagt werden kann. Das Normalfeld in diesem Kontext bildet sich mittels einer tendenziell protonormalistischen Strategie, die eine starke Tendenz zur maximalen Ausklammerung von Fiktionsfaktoren aufweist und das Eigene auf dieser homogenisierenden Grundlage bildet. Gerade als Soldat – so scheint Martens’ Erklärung zu belegen – ist man in dem durch den Diskurs gesellschaftlich geformten Berufsbild an genau festgelegte Grenzen des Sagbarkeitsraums gebunden. Hieran, ebenso wie an Martens’ nicht wahrheitsgemäßer Aussage, dass er Angst empfinde, wenn er in Afghanistan sei, zeigt sich somit ein Gesellschaftsbild, das durch starre Grenzen charakterisiert ist. Der Tabubruch, der den Grenzübertritt in Form der Reportage markiert, ist dann auch unmittelbar starker Kritik von den disponierten Subjekten ausgesetzt. Die öffentliche Meinung der deutschen Gesellschaft hat zudem auch unmittelbare Auswirkungen auf die Arbeit der Soldaten in Afghanistan selbst, wie Martens für sich resümiert, denn die Offiziere müssen »ihren Beruf mit verbundenen Händen« (LF 91) ausführen, was er mittels eines bildlichen Vergleichs verdeutlicht: »Es wurde von ihnen verlangt, dass sie Krieg mit äußerster Milde führten. Das war, als versuche man einen Apfel zu essen, ohne reinzubeißen.« (Ebd.) Die Unmöglichkeit, die Gegensätze Krieg und Milde zu überbrücken, wird somit angeführt: Ein Krieg geht dieser Anschauung nach immer einher mit Gewalt und schließlich auch damit, Menschen zu töten. Dass aber genau dies gesellschaftlich nicht akzeptiert wird, wird auch an anderer Stelle ausgeführt: »Die Taliban wären zwar kaum in der Lage gewesen, einen Airbus abzuschießen, aber die Bundeswehr durfte kein Risiko eingehen. Das Problem der Taliban war der Mangel an schweren Waffen und das der Bundeswehr die enorme Bedeutung eines einzelnen Soldatenlebens. Das mochte zynisch klingen, aber eine Armee, in der das Leben eines Soldaten einen so hohen Wert hatte, war ziemlich gehandicapt.« (LF 62)

Der hier gezeigte, auch für die außerliterarischen neuen Kriegsformen postulierte Asymmetrie der Gewalt, die vor allem auf der ungleichen Verteilung der Waffen zwischen staatlichen Armeen und substaatlich organisierten Gruppierungen beruht, wird eine andere Art der Asymmetrie, die die Einstellung zum Leben und zum Tod betrifft, entgegengestellt. Nicht die für die Armeen vorteilhafte waffentechnologische Überlegenheit, der die Taliban mit partisanenhaften oder terroristischen Kampfstrategien entgegenzuwirken versuchen, wird angeführt, sondern die gesellschaftlichen Diskurse innerhalb Deutschlands machen den Unterschied dieser Gruppen aus und ver- oder zumindest behindern die Soldaten in ihrer Kriegsführung. Das bedeutet, dass die Soldaten nicht nur durch den begrenzten Sagbarkeitsraum determiniert werden, sondern auch in ihrem Verhalten, das sich an dem vom Diskurs generierten Wissen orientiert. Die Soldaten, das wird an Martens’ Aufzählung der sagbaren Gründe für den Auslandseinsatz offenkundig, sollen nicht aktiv kämpfen oder sogar töten, zudem wird auch nicht akzeptiert, dass sie im Einsatz fallen, sondern sie fungieren als humanitäre Hilfsorgane (»Den Afghanen helfen«) und Bewahrer des Friedens (»Den Frieden sichern« [LF 92]) – ebenso wie es das tradierte Soldatenbild in der Bundesrepublik vorgibt –, was aber mit der Situation des Krieges im Grunde nicht vereinbar ist, wie der Protagonist herausstellt. Durch diese kontrastive Gegenüberstellung wird die Differenz zwischen dem, was gesellschaftlich erwartet wird

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und dem, was vermeintlich nötig ist, um einen Krieg zu führen, überaus deutlich und als unvereinbarer Gegensatz inszeniert. Im Verhalten der Bundeswehrsoldaten spiegelt sich dieser scheinbar unüberwindbare Dualismus wider. Sie lassen sich während ihres Aufenthalts in Afghanistan beispielsweise Bärte wachsen, »weil Afghanen Männer ohne Bärte nicht ernst nahmen.« (LF 128) Die Intention dieses Anpassungsversuchs ist somit eine Annäherung im interkulturellen Kontakt zwischen den deutschen Soldaten und den Einheimischen, impliziert jedoch zugleich ein bestimmtes und verallgemeinerndes Fremdbild, nämlich, dass die afghanischen Männer nur ähnlich aussehende Männer akzeptieren würden. Dass dieser Versuch jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, erläutert Martens folgendermaßen: »[A]ber in der Konsequenz hätten Tremmels Männer auch zum Islam konvertieren müssen, denn die Afghanen nahmen Ungläubige auch dann nicht ernst, wenn sie einen Bart trugen.« (LF 128) Dies zeigt nicht nur die Sinnlosigkeit des Anpassungsversuchs der Soldaten auf, der lediglich auf eine Angleichung des Äußeren bezogen ist und kulturelle bzw. religiöse Aspekte außer Acht lässt, sondern auch, dass Martens’ Bild der Einheimischen ebenso pauschalisierend ist, da er die religiösen Unterschiede hervorhebt und daraus scheinbar allgemeingültige Aussagen ableitet. Die Gegenüberstellung der beiden Weltreligionen scheint damit ein entscheidender und zwar kulturell bedingter Aspekt für die Unüberwindbarkeit der Grenze zwischen den Deutschen und den Afghanen zu sein. D.h., dass die auf die Religion bezogene Äußerung letztlich genauso eindimensionalen Erklärungsmechanismen unterliegt wie der von Martens als obsolet vorgeführte Versuch einer Annäherung durch die Soldaten, der sich lediglich auf das Äußere bezieht. Neben der Anpassung des Erscheinungsbildes deuten auch die Vorschriften im Umgang mit den Einheimischen – es soll besonders auf Höflichkeit geachtet werden (vgl. LF 128)17 – auf ein Soldatenbild hin, das sich von dem eines Kämpfers absetzt: bestimmt von dem gesellschaftlichen Diskurs werden nicht Kampf und Krieg integriert, sondern ein friedvolles Verhalten. In der Konsequenz können die Soldaten, laut Martens, lediglich eingeschränkt agieren. Die Praktiken der deutschen Bundeswehrsoldaten werden denjenigen zweier Figurenkollektive entgegengesetzt, die sich ebenfalls voneinander unterscheiden: der afghanischen Zivilbevölkerung und der Taliban. Neben die bereits erwähnten Aussagen über die afghanischen Männer treten weitere, die nicht weniger allgemein sind 17 Interessanterweise stehen die Vorschriften im Widerspruch zu dem privaten Verhalten des Soldaten Kampe, der »für die Einheimischen derbe Ausdrücke [benutzte], nur die Frauen taten ihm leid, er hätte sie gerne von der Burka befreit.« (LF 59) Damit wird nicht nur eine Differenz zwischen den offiziellen Anweisungen und der Meinung dieser Figur aufgezeigt, sondern darüber hinaus wird auch eine geschlechtsspezifische Unterscheidung, die das Fremdbild Kampes beinhaltet, offenbart. Durch die nachgetragene explizite Benennung der Frauen wird zum einen deutlich, dass er unter dem Begriff der ›Einheimischen‹ ausschließlich Männer versteht, die somit das Maßgebliche darstellen, was Abwertungsmechanismen impliziert, zum anderen wird die ›fremde‹ Frau ausschließlich als schutz- bzw. rettungsbedürftig gezeichnet. Dieser Aspekt des Fremdbildes ist demnach deutlich durch das Merkmal der vermeintlichen Unterdrückung der Frauen determiniert, die sich in der Burka vergegenständlicht.

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und ebenfalls das Aussehen betreffen. So wird beispielsweise die Statur der Afghanen als »klein und schmächtig« (LF 135) beschrieben, was vor allem im Vergleich zu den westlichen Soldaten auffalle. Die afghanischen Soldaten, deren Tätigkeitsfeld primär das Bewachen der Camps ausländischer Soldaten umfasst, werden im Kontext der Beschreibung ihrer Uniformen mehrfach als eitel bezeichnet (vgl. LF 79f.). Diese Aussage über die zugeschriebene Charaktereigenschaft wird daran festgemacht, dass die einheimischen Männer auf saubere Kleidung achten und sich kämmen. Der Stellenwert, der ihr zugesprochen wird, zeigt sich an Martens’ Unmut über die zu großen Uniformen, die die afghanischen Soldaten gezwungen sind zu tragen. Mit seiner artikulierten Verärgerung, versucht Martens nicht ihren vermeintlichen Eigenschaften zu entsprechen, sondern sie beruht auf seiner Befürchtung, dass die Soldaten die Camps in dieser Kleidung schlechter bewachen: »Millionen wurden für die Bewaffnung und Ausbildung der afghanischen Polizei und des Militärs ausgegeben, aber bei der Uniformierung dieser eitlen Geschöpfe wurde gespart, wie konnte man nur so ignorant sein? Hätte man endlich die Eitelkeit ins Sicherheitskonzept miteinbezogen, hätte Martens sich in der Gegenwart der afghanischen Wachsoldaten auch wirklich bewacht gefühlt.« (LF 80)

Der Vorwurf der Ignoranz der anderen Kultur gegenüber lässt Martens vordergründig so wirken, als kenne und verstehe er das vermeintlich Andere dieser Kultur, was ihm den Anschein eines Grenzgängers oder Vermittlers zwischen den beiden Kulturen gibt. Doch seine verallgemeinernden Aussagen zeigen prägnant, dass er sich ein klares Bild von den Afghanen gemacht hat, das starre und fixe Grenzen aufweist. Dem stereotypen Fremdbild wird dann so viel Bedeutung von der Figur beigemessen, dass diese fürchtet, die afghanischen Soldaten würden ihre berufliche Aufgabe nicht erfüllen. Diese Vorstellungen Martens’ beschränken sich nicht lediglich auf die einheimischen Männer, sondern weisen auch ein ebenso vermeintlich unzweifelhaftes Bild von den Kindern in Afghanistan auf. So kommt er beispielsweise zu der Aussage: »Es war nicht der Krieg, der ihnen [den Kindern] am meisten zusetzte, es war die Härte der Erziehung und der Arbeit, die sie schon früh verrichten mussten.« (LF 76) Die Ursache für den von ihm diagnostizierten schlechten Zustand der Kinder liegt damit in der Art, wie sie von den Eltern aufgezogen werden. Auch die Schulbildung für Mädchen wird thematisiert: »Viele von ihnen waren gegen den Willen ihrer Väter hier, nicht wenige bezahlten jedes Wort, das sie zu schreiben lernten, mit einer Ohrfeige.« (LF 133) Auch hier werden nicht in erster Linie der Krieg oder die Vorschriften der Islamisten aufgegriffen, die die schulische Bildung der Kinder erschweren bzw. im Falle der Mädchen sogar verbieten, sondern die Eltern und damit schließlich die afghanische Gesellschaft werden von Martens als die Ursache für die Situation der Kinder angeführt. So wird insgesamt von der afghanischen Bevölkerung ein Bild gezeichnet, dass zum einen stark auf Homogenisierungstendenzen beruht – es werden verallgemeinernde Aussagen von Martens getroffen und es gibt kaum eine Figur, die eine andere Meinung vertritt – und zum anderen wird eine Atmosphäre der Unterdrückung aufgespannt, die sich pyramidenartig durch die afghanische Gesellschaft zieht: An unterster Stelle stehen die Kinder, die geprägt sind von dem repressiven Verhal-

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ten ihrer Eltern, die wiederum von den Terroristen unterdrückt werden, die im Verborgenen scheinbar ständig an neuen Operationen arbeiten: »In den Häusern der nahen Stadt verdrahteten manche im Schein einer Glühbirne Zünder mit den Sprengsätzen, es lagen Klebestreifen auf dem Teppich, Zangen, zerknüllte Coladosen, und es wurde geprahlt, wie viele man morgen töten werde, es wurde gelacht, wenn einem Mudschahid die brennende Zigarette aus dem Mund fiel, direkt neben die Schale mit dem Sprengstoff.« (LF 88, Herv. i.O.)

Die literarische Inszenierung, vorrangig in Bezug auf den Modus und die Detailtreue, ist hier signifikant: Der Erzähler formuliert die Handlungen der ›Mudschahid‹18 nicht als Möglichkeit, vielmehr stellt er sie als faktische Gegebenheit dar. Die Bedrohung wird zudem nicht in unverortbarer Ferne lokalisiert, sondern in unmittelbarer Nähe, was sie noch potenziert. Der Fremde wird damit nicht als eine die Vergesellschaftung störende Instanz eines binären Denkschemas von Freund und Feind dargestellt,19 sondern direkt als potentieller Feind inszeniert, der, in ständiger Anwesenheit, jedoch nicht direkt erkennbar und von der übrigen Bevölkerung abgrenzbar, im Verborgenen agiert. Neben dieser unbestimmten Gruppe der Mudschahidin wird auch eine konkrete Gruppierung der Taliban dargestellt, deren Anführer der oben bereits erwähnte Dilawar ist. Bei der Darstellung dieser Islamisten gibt es, ebenso wie in Bezug auf ihre mediale Präsenz, eine Diskrepanz zwischen dem, was allgemein, besonders hinsichtlich ihrer Taten von ihnen berichtet wird und dem, was Martens während seines Aufenthalts direkt bei ihnen erlebt. Zu Ersterem gehört die Beschreibung des Lehrers, der Mädchen unterrichtete und dem daraufhin von einer Gruppe Taliban auf der Straße die Ohren abgeschnitten wurden. Er musste dann solange dort knien, bis er verblutete (vgl. LF 83). Nicht nur die Brutalität, mit der der Verstoß gegen die Ordnung der Taliban geahndet wird, ist signifikant, sondern auch der öffentliche Raum, in dem dies geschieht. Deutlich wird in dieser Szene auf der einen Seite die symbolische Wirkung, die diese öffentliche Hinrichtung entfaltet und auf der anderen Seite die uneingeschränkte Macht, die die Taliban offenbar besitzen. Ziel dieses Gewaltaktes ist somit augenscheinlich die Durchsetzung der rigiden Einhaltung der von den Terroristen aufgestellten Ordnung. Derartiges gewalttätiges Verhalten findet sich in verschiedenen Varianten immer wieder in dem Roman. Ein weiterer Beleg für die Machtposition, die vor allem auf der Grundlage von Angst basiert, ist die Situation, in der Martens von mehreren Einheimischen bedroht wird und Chargul, der Kontaktmann von Miriam, ihm zu Hilfe kommt und die Männer alleine und ohne viel Mühe vertreiben kann:

18 Der Begriff wird an dieser Stelle das erste Mal im Roman genannt und bedeutet übersetzt in etwa »die den Jihâd ausüben« (ELGER, Ralf: Mudschahidin, in: Ders. (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – Alltag – Kultur. München: Beck 22001, S. 207.). 19 Vgl. BAUMAN, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, S. 23-49 und Abschnitt II, Kapitel 1.2.

252 | GRENZFALL KRIEG »Der junge Bursche nahm sie sich einen nach dem anderen vor. Jedem blickte er in die Augen, dich merken wir uns, und dich auch. Darum ging es: Der Bursche mochte allein hier sein, aber die Männer fürchteten sich vor ihm, weil sie die Gruppe fürchteten, zu der er gehörte und als deren Abgesandter er hier vor ihnen stand.« (LF 139)

Die Reaktion auf diese Drohgebärde umfasst hier ein unterwürfiges Nachgeben. An anderen Stellen wird mehrfach davon gesprochen, dass die Gruppe der Islamisten Geschenke von den Einheimischen erhält.20 Hier wird aber nicht die Unterstützung und Solidarität aus der Bevölkerung dargestellt,21 sondern es ist offensichtlich ein Agieren auf der Grundlage von Angst. Die Gruppe wird so nicht als Teil der Bevölkerung gezeigt, der sich lediglich in einigen Punkten von den Einheimischen unterscheidet, sondern sie grenzt sich vollkommen von ihr ab. Dies zeigt auch die Szene, in der die Islamisten in ein nahegelegenes Dorf gehen, um dort der Vollstreckung des Todesurteils einer vermeintlichen Ehebrecherin beizuwohnen und daran mitzuwirken. Bedeutsam ist, dass sich die Kämpfer zuvor »fein« (LF 256) machen, sich und ihre Kleidung säubern und sämtliche Waffen, die sie besitzen, mitnehmen, um »im Dorf alles [zu] zeigen, was sie hatten, auch die vier Munitionsgürtel.« (LF 257) An dieser Stelle wird eine differente Wahrnehmung provoziert zwischen der des Rezipienten, der hinsichtlich der Waffen erkennt, dass die Ausrüstung der Gruppe nicht besonders umfangreich ist, und der Wahrnehmung der Dorfgemeinschaft, die die Waffengewalt der Taliban als Machtinstrumentarium anerkennt: »Nach einer Weile traten zwischen den Bäumen am Fluss drei Männer hervor, umsäumt von Kindern. Einer der Männer hob von Weitem die Hand. Dilawar lud sein Gewehr durch, das war das Zeichen für Omar und die anderen, es auch zu tun – dem metallischen Ratschen folgte eine merkwürdige Stille. In der Ferne bei den Bäumen warteten die Männer, die Blätter funkelten im Wind.« (LF 258)

Die Grenze zwischen den Zivilisten und den Taliban manifestiert sich an dieser Stelle durch den Unterschied von Bewaffneten und Unbewaffneten, was von Ersteren durch das Durchladen der Waffen markant inszeniert wird. Interessant ist darüber hinaus noch, dass der Talibankämpfer Omar als Richter im Namen Gottes fungiert, ohne dieses Amt eigentlich zu bekleiden: »Es gab keinen Richter, auch Omar war 20 Beispielsweise wird der Gruppe in einem Dorf neben Lebensmitteln auch ein Esel geschenkt (vgl. LF 248). In einer anderen Szene wird beschrieben, dass ein ranghoher Terrorist einen Lastwagen mitten auf der Straße anhält: »Der Fahrer streckte den Kopf aus dem Fenster, in der Angst zuckte ihm ein Augenlid. Omar sprach mit ihm, und der Fahrer stieg aus und schlug beflissen das Verdeck der Ladefläche hoch. […] Der Fahrer wuchtete zwei der Säcke aus dem Wagen und legte sie an den Straßenrand. Omar schüttelte den Kopf, und der Fahrer legte noch zwei Säcke dazu. Nun entließ Omar ihn, und er stieg wieder in seinen Wagen und fuhr mit aufheulendem Motor weiter, er konnte nicht schnell genug von hier wegkommen. Ehsanullah band die geschenkten Säcke auf einen der Esel, dem zwei lieber gewesen wären als vier.« (LF 268) 21 Eine derartige Unterstützung aus der Bevölkerung wird häufig für die außertextuellen terroristischen Gruppierungen festgestellt (vgl. z.B. WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 10.).

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keiner, er war kein Qadi, kein Mullah, seine Autorität beruhte darauf, dass keiner sie ihm streitig zu machen wagte.« (LF 260) Ein Einschub des Erzählers unterstreicht dies ohnehin Offensichtliche: »Sie kommen in ein Dorf. Sie sind bewaffnet, und die Dorfbewohner haben Angst. Sie sagen: Seid willkommen! Esst nehmt euch alles, was ihr braucht, wir sind alle in Gottes Hand! Wir sind alle gute Muslime, wir halten die Gebete ein, es gibt sogar einen Koran, wollt ihr ihn sehen?« (LF 260, Herv. i.O.) Das Verhalten der Einheimischen kann von außen als Zustimmung und Unterstützung des Handelns der Terroristen gewertet werden, der Roman bringt hier jedoch eine andere Perspektive hervor: Es basiert auf der Angst, bei diesen Gruppierungen in Ungnade zu fallen, die Macht der Kämpfer beruht auf gewaltsamer Unterdrückung. So wird ihre Autorität, auch als Richter und Henker zugleich, anerkannt. Die Dorfbewohner passen sich diesen Umständen in ihrem Verhalten an. Neben der Darstellung der Grenze zwischen den Dorfbewohnern und den Terroristen wird in diese Szene der Steinigung der afghanischen Frau eine weitere eingebunden: Die Grenze zwischen Afghanen und Deutschen. Martens behauptet, dass er sich auch in Deutschland via Internet, genannt wird wie auch einige Male zuvor das Videoportal YouTube, eine Steinigung hätte anschauen können. Der Gegensatz zwischen diesen Szenen könnte kaum größer sein: Während hier eine Frau mit Steinen getötet wird, schauen sich dort die Zuschauer eines Videos diese Grausamkeit in der heimatlichen Atmosphäre an, »gemütlich am Schreibtisch mit Blick auf den Garten« und »abends sagten sie zu ihren Freunden, die sie zum Essen eingeladen hatten, heute hab ich im Internet eine Steinigung gesehen, es war schrecklich, und die Spaghetti dampften in der Schüssel.« (LF 259) Die Antithese zwischen Leben und Tod, zwischen Eigenem und Fremden wird auf die Spitze getrieben: Während die Steinigung der Frau die Romanrealität darstellt, wird sie durch die mediale Vermittlung und die vermeintlich friedvolle Umgebung in Deutschland lediglich zu einem Gesprächsanlass, zu dem Distanz aufgebaut werden kann und der die Menschen kaum zu tangieren scheint. Das gemeinsame Essen mit Gästen, das in diesem Kontext als Praxis innerhalb des Normalfeldes inszeniert wird, findet sich demgegenüber auch in der Szene der Steinigung in Afghanistan: »Es roch nach Gebackenem, nach Fladenbrot, keine andere Frau war zu sehen, kein Kind, hinter den Mauern der Häuser wurde das Essen für die Gäste gekocht.« (LF 261) Die Steinigung ist demnach auch hier ein integrativer Teil des Alltags, auch hier wird die Hinrichtung mit einem Essen verbunden. So zeigt sich eine spezifische Verbindung zwischen den beiden Sphären, die sich in der universellen Tätigkeit des Essens ausdrückt, was durch die antithetische Bedeutung und Wahrnehmung der Steinigung die Grenze noch deutlicher hervortreten lässt. Auch in der Darstellung der von den Taliban verteidigten Ordnung gibt es Differenzen zwischen allgemeinen Beschreibungen und denjenigen, die unmittelbar die terroristische Gruppierung um Dilawar betreffen. In dem Kapitel »Layha« werden die Inhalte der »Sammlung von Verhaltensregeln« (LF 171), die sowohl den Kampf als auch den Umgang mit Gefangenen betreffen, referiert. Der »Imam, der obsterste Führer der Taliban« (ebd., Herv. i.O.) legt diese Regeln fest und hat damit in der diskursiven Formation die herausgehobene Sprecherposition. Signifikant ist, dass die Layha als »ein jus in bello, bindend für alle untergeordneten Kommandanten« (ebd., Herv. i.O.) bezeichnet wird und die dort festgelegten Regeln so das Verhalten aller anderen bestimmen. Besonders der Hinweis auf das Regelwerk für das Verhalten während eines Krieges erinnert an den völkerrechtlichen Vertrag, der reguliert, was

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im Kriegsfall als legitim gilt und was nicht. Das ius in bello (Recht im Krieg) hingegen wird als Kriterium gemeinsam mit dem ius ad bello (Recht zum Krieg) und dem ius post bellum (Recht nach dem Krieg) in dem diskursiven Bereich eines ›gerechten Krieges‹ diskutiert und kritisch hinterfragt, hier geht es also um die Legitimität, militärische Gewalt überhaupt auszuüben22: »Ein wirklich gerechter Krieg liegt der gängigen Auffassung zufolge erst dann vor, wenn der Krieg in allen drei Dimensionen gerecht ist.«23 An verschiedenen Punkten kann festgemacht werden, dass eine Übertragung des Völkerrechts oder des Gedankenkonstrukts vom ius in bello auf die Layha, wie sie hier vorgeführt wird, äußerst problematisch ist. Denn diese Art der Verrechtlichung des Krieges weist eine lange Tradition auf, die ihren Ursprung einerseits in christlichem Gedankengut24 und andererseits in verschiedenen internationalen, vor allem aber europäischen Abkommen und Verträgen wie dem Westfälischen Frieden von 1648 hat.25 Grundlegung hierfür ist die monopolisierende Souveränitätsdoktrin, die einen Staat in der Funktion des Kriegsberechtigten annimmt, wobei Souveränität als eine »Eigenschaft des Staates, die unabhängig von ihrem jeweiligen innerstaatlichen Träger (Fürsten- oder Volkssouveränität) als Funktionsprinzip der zwischenstaatlichen Beziehung eine entscheidende Rolle spielt«26, verstanden wird. Mit dem Abschluss des Westfälischen Friedens wurde die Periode des sogenannten ›klassischen Völkerrechts‹, die bis 1918 anhielt, eingeleitet.27 Obwohl der Krieg hier nicht grundsätzlich geächtet wurde, das klassische Völkerrecht damit keine »Friedensmacht«28 war, war neben dem ius ad bellum das ius in bello wirksam, das die Zivilbevölkerung unter Schutz stellte. Besonders die zweite Haager Friedenskonferenz von 1907 fixierte in Form der Landkriegsordnung die Bestimmungen des ius in bello.29 Auch wenn mit dem gegenwärtigen Völkerrecht die Lehre vom gerechten Krieg als überwunden gilt, dies zeigt sich besonders in dem Vertrag

22 Vgl. PETERS, Anne/PETER, Simone: Lehren vom »gerechten Krieg« aus völkerrechtlicher Sicht, in: Kreis, Georg (Hrsg.): Der »gerechte Krieg«. Zur Geschichte einer aktuellen Denkfigur. Basel: Schwabe 2006, S. 43-96, hier S. 43. 23 ISER, Mattias: Paradoxien des (un)gerechten Krieges, S. 181. 24 »Die Lehre vom ›gerechten Krieg‹ ist ein Produkt der christlichen Moralphilosophie. Erste Ansätze finden sich bei Augustin. Entfaltet wurde die Lehre erst anlässlich der militärischen Konflikte mit nichtchristlichen Mächten, die weder die Autorität des Kaisers noch des Papstes anerkannten. (Dies waren zunächst die Kreuzzüge; später die Kolonialisierungskriege der Portugiesen und Spanier gegen die heidnischen Völker in Südamerika.)« (PETERS, Anne/PETER, Simone: Lehren vom »gerechten Krieg« aus völkerrechtlicher Sicht, S. 44f. Vgl. auch: KIMMICH, Otto: Der gerechte Krieg im Spiegel des Völkerrechts, in: Steinweg, Reiner (Redaktion): Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 206-223.) 25 Vgl. PETERS, Anne/PETER, Simone: Lehren vom »gerechten Krieg« aus völkerrechtlicher Sicht, S. 47. 26 Ebd. 27 KIMMICH, Otto: Der gerechte Krieg im Spiegel des Völkerrechts, S. 209. 28 Ebd., S. 211. 29 Vgl. ebd., S. 214.

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über die Ächtung des Krieges von 1928, dem sogenannten ›Briand-Kellogg-Pakt‹,30 ist das ius in bello, auf das in dem Roman verwiesen wird, auch hier wirksam und rechtlich fixiert. Eine der wichtigsten Unterscheidungen des normativen Regelwerks betrifft die zwischen Kombattant und Non-Kombattant und spricht Letzterem Immunität zu.31 Auch das Verhalten der und der Umgang mit Soldaten wird, wie bereits in Ansätzen auch im ›klassischen Völkerrecht‹, rechtlich geregelt. Dies betrifft zum einen den gegen die feindlichen Kombattanten eingesetzten Waffengebrauch, der durch die Regel der Verhältnismäßigkeit, die sogenannte »Mikroproportionalität«32, bestimmt wird und zum anderen den Umgang mit gefangengenommenen Soldaten. Zudem werden Terroranschläge nicht nur nach Art. 51 der UN-Charta als Angriffskriege begriffen, sondern auch, wenn sie sich in willkürlicher Weise gegen die Zivilbevölkerung wenden, als Kriegsverbrechen gewertet.33 Die hier lediglich kursorisch beleuchteten Unterscheidungen und Regelungen, die für das Völkerrecht konstitutiv sind, werden in der Layha unterlaufen, geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Kämpfer werden beispielsweise angewiesen, Zivilkleidung zu tragen, um die Unterscheidung von Non-Kombattanten zu erschweren.34 Im Roman werden einige weitere Aspekte genannt, wie beispielsweise die Regeln, an die sich die »Selbstmordattentäter« (LF 171) halten sollen.35 Bereits hier wird gezeigt, dass der Schutz der Zivilisten in diesem Regelwerk zwar nicht ausdrücklich negiert wird, aber doch eher fragwürdig ist. Dies wird noch in der Festlegung gesteigert, dass 30 Vgl. PETERS, Anne/PETER, Simone: Lehren vom »gerechten Krieg« aus völkerrechtlicher Sicht, S. 49. 31 Immunität ist das »erste Hauptziel des ius in bello« und beinhaltet das Verbot, Zivilisten mit Absicht zu töten. (GRUBER, Stefan: Die Lehre vom gerechten Krieg. Eine Einführung am Beispiel der NATO-Intervention im Kosovo. Marburg: Tectum 2008, S. 98.) Obwohl die zivile Bevölkerung durch diese Regelung geschützt werden soll, gilt diese nicht uneingeschränkt, da zivile Opfer, im Rahmen der Erlangung eines notwendigen Ziels, in Kauf genommen werden können. »Das Prinzip des Doppeleffekts stellt eigene Proportionalitätserwägungen an und wägt zwischen dem notwendigen Übel von toten Unschuldigen und dem Erreichen von militärischen Zielen ab.« (Ebd., S. 102.) 32 ISER, Mattias: Paradoxien des (un)gerechten Krieges, S. 182. 33 Vgl. ebd., S. 192. 34 Vgl. GERMUND, Willi: Verhaltenscodex für Taliban-Kämpfer, in: Kölner-Stadt-Anzeiger vom 25.08.2009. Vgl. auch: Ders.: Der Knigge für den Taliban, in: Badische Zeitung vom 26.08.2009. 35 Der Begriff ›Selbstmordattentäter‹ ist grundsätzlich problematisch, da er eine auf den Handlungen der Täter basierende Zuschreibung von außen ist. Ein Islamist würde sich selbst wohl kaum weder als Terrorist noch als Selbstmordattentäter bezeichnen, da der Selbstmord, ebenso wie Christen, Moslems untersagt ist (vgl. ESS, Josef van: Dschihad gestern und heute. Berlin u.a.: De Gruyter 2012, S. 24.). Vielmehr ziehen sie Bezeichnungen wie ›Märtyrer‹ oder ›Kämpfer im Dienste Gottes‹ vor. Dass dieser problematische Begriff im Kontext der Beschreibung der Layher, also einem Dokument, das aus der Sphäre der Terroristen stammt, verwendet wird, macht, trotz des vordergründigen Versuchs, das Andere darzustellen, die eingenommene Fremdperspektive überaus deutlich und hebt zugleich die den Roman determinierenden konstruierten Kategorien hervor.

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Hinrichtungen von Ehebrecherinnen und Spionen – also Zivilisten – nicht mehr gefilmt werden dürfen. D.h., dass es nicht darum geht, die Hinrichtungen zu verhindern, sondern darum, die mediale Verbreitung dieser (erlaubten) Praxis einzuschränken. Der Grund dafür liegt in dem »Wunsch des Imams nach einem besseren Image in den Medien.« (LF 171, Herv. i.O.) So wird die völkerrechtliche Immunität der Zivilisten konterkariert, wichtig erscheint vielmehr die Außenwirkung zu sein, die einer Regulierung bedarf. Auch einige Verhaltensnormen der Talibankämpfer werden angeführt, wie beispielsweise, dass sie nicht rauchen dürfen da es »unislamisch« sei sowie das Verbot der »Geiselnahme zur Erzwingung eines Lösegeldes.« (LF 172)36 Zudem dürfen Gefangene nicht gefoltert werden, was von der Aussage begleitet wird, dass gerade diese Regelung Martens »dem Imam nähergebracht« (ebd., Herv. i.O.) habe. Der Protagonist, der durch seinen Beruf und den damit verbundenen Auslandsaufenthalten sowie durch die Einsicht, es könne keinen unbeteiligten Beobachter geben, ohnehin die Grenze zwischen Kriegsreporter und -akteur als aufgehobene wahrnimmt, verortet sich auch an dieser Stelle in der Sphäre des Krieges. Das vermeintlich humane Verbot der Folterung Gefangener lässt Martens gedanklich den Raum der Terroristen in den des Eigenen integrieren. Das Gedankenkonstrukt einer Differenzierung zwischen gerechtem und ungerechtem Krieg ist neben der im europäischen und christlichen Raum verhafteten Traditionslinie indes im Zusammenhang der spezifischen terroristischen Auslegung des Dschihad per se obsolet, da er sich ja gerade auf der Grundlage des Willens Gottes konstituiert und durch diese unbegrenzte Legitimation in dieser Lesart grundsätzlich nicht ungerecht sein kann – unabhängig jedes von Menschen verfassten Regelwerks. So werden in dem Roman auch in diesem Zusammenhang durch den Vergleich zwei Sphären bzw. Traditionslinien gegenübergestellt. Auf den ersten Blick scheint die Analogie durch die normative Grundlage beider Texte gerechtfertigt zu sein, da sie beide für das Kriegsgeschehen verbindliche Regeln aufstellen. Allerdings stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass sie geradezu konträre Zielsetzungen verfolgen. Das grundsätzliche Ziel der UN-Charta, eine Einhegung des Krieges herbeizuführen, wird bereits durch die terroristische Seite unterminiert, weshalb das »Kriegsvölkerrecht als Staatenrecht keine Anwendung«37 finden kann. Möglicherweise soll diese Gegensätzlichkeit durch die graphematische Variation von »jus« bereits angezeigt werden. Das dem Eigenen Entnommene wird so einerseits orthographisch verfremdet und andererseits auf das Fremde, die Sphäre der Terroristen, übertragen, indem das dort geltende Regelwerk durch den feststehenden Begriff des ius in bello charakterisiert wird. Eine derartige Übertragung ist indes vor allem dann problematisch, wenn sie mit Prozessen der Nivellierung und Bewertung des Fremden eingehen. Wenn trotzdem vordergründig auf diese Weise eine gemeinsame Ebene geschaffen werden soll, um das Fremde zu vermitteln oder gar verstehen zu können, wird diese für den kundigen Rezipienten direkt negiert. Selbst der kleinste 36 Diese Normen werden ebenso wie der grüne Einband, auf den im Roman verwiesen wird (vgl. LF 172), auch für die außertextuelle Lahya festgehalten (vgl. ebd.). 37 STEIN, Tine: Islamistischer Terror und die Theorie des Kleinen Krieges, in: Geis, Anna (Hrsg.): Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse. Baden-Baden: Nomos 2006, S. 167-177, hier S. 169.

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gemeinsame Nenner – ein Regelwerk für am Krieg Beteiligte – kann als Vergleichsmoment dann nicht mehr fungieren, wenn Martens feststellt, dass sich die Talibankämpfer nicht an die Regeln der Layha halten, da nicht nur das Video mit der Hinrichtung der britischen Journalisten, sondern auch das Rauchen sowie die Entführung und das Einfordern des Lösegeldes gegen die Vorschriften der Layha verstoßen. Das Verhalten der von Dilawar angeführten Gruppierung widerspricht damit direkt einer Rechtsnorm, die sich durch Definierbarkeit und Eingrenzung auszeichnet. Die von den Taliban etablierte Sphäre der Rechtlosigkeit erfährt besonders dann noch einmal eine Steigerung, als der Protagonist feststellt, dass sich die Terroristen auch nicht an ein anderes, grundsätzlich bindendes Recht halten: Das »Paschtunwali, das Stammesgesetz der Paschtunen, das ihnen neben dem Koran das Heiligste war.« (LF 172, Herv. i.O.) Auch hier wird also eine intertextuelle, auf eine außerliterarische Referenz bezugnehmende Anspielung deutlich. Interessanterweise wird auch in diesem Kontext ein lateinischer Ausdruck verwendet – »de jure« (LF 172) – der im westlichen Kulturraum nicht nur auf die Ordnung einer Staatlichkeit hinweist und somit eine Gleichwertigkeit für das hier angeführte Stammesrecht impliziert, sondern auch dieselbe orthographische Varietät aufweist. Als Miriam mit genau diesem Stammesrecht argumentiert, um mit Dilawar die Freilassung ihres Ex-Mannes auszuhandeln, widerlegt er ihre Argumente, indem er sie darauf aufmerksam macht, dass auch sie gegen das Paschtunwali verstoßen habe, da sie sich gegen den Willen ihres Mannes von ihm scheiden ließ. Zudem wird in diesem Kontext ein Vergleich zu dem Spezialdiskurs des deutschen Rechts gezogen, der die Unterschiede der kulturellen Praktiken in diesem Bereich deutlich hervortreten lässt: »Dein Mann hat dir die Scheidung nicht erlaubt, er wollte, dass du seine Frau bleibst. Aber du bist zu einem Richter gegangen, und der Richter hat dir recht gegeben. Was sind das für Gesetze, die einer Frau erlauben, ihren Mann gegen seinen Willen zu verlassen! Sind das etwa die Gesetze Gottes und der Paschtunen, an die du dich angeblich hältst? Also erzähl mir nichts von Gesetzen, in deinem Mund werden sie zu Schmutz.« (LF 187)

Insbesondere die letzte Äußerung Dilawars lässt, gegenläufig zu seinem Verhalten, darauf schließen, dass die Gesetze, gegen die er verstößt, für ihn einen gewissen Wert besitzen, allerdings bleibt offen, ob dies nur in Hinblick auf die Stellung der Frau zutrifft, deren rechtliche Grundlage in Deutschland er kritisiert. Durch den zweifachen Normbruch – die Widersetzung sowohl gegen das Regelwerk des obersten Talibananführers als auch gegen das Stammesrecht – befindet sich die Gruppierung in rechtlicher Hinsicht in einem nicht verortbaren Raum, der eine Eingrenzung unmöglich macht. Neben diesen Hinweisen auf die undefinierbaren rechtlichen Grundlagen der Islamisten werden noch weitere für sie signifikante Merkmale angeführt, wie beispielsweise der Umstand, dass sich bei den Terroristen »alles ums Geld drehte« (LF 176). Bis auf den Verweis, dass die Kämpfer die täglichen Gebete38 praktizieren 38 In dem Zusammenhang des Gebets wird gezeigt, dass Martens’ Verhalten divergent wahrgenommen wird, was wiederum den Unterschied zwischen dem Eigenen und dem Fremden unterstützt. »Anfangs hatte sich Martens, wenn die Männer beteten, aus Respekt vor ihrer

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– in diesem Kontext wird auf die Hierarchisierung innerhalb der Gruppe eingegangen, da es neben dem Anführer Dilawar, dessen Funkgerät als »Zepter seiner Führerschaft« (LF 254) fungiert, auch den religiösen Anführer Omar gibt, der gegen den Willen Dilawars auf die Einhaltung der fünf Gebetszeiten am Tag achtet (vgl. LF 245) – scheint der finanzielle Gewinn eine höhere Wertigkeit für die Taliban zu haben als die religiösen Hintergründe für den Kampf. Damit wird auch an dieser Stelle eine verallgemeinernde Aussage des Erzählers in den Vordergrund gestellt, die überdies gerade ein gegenteiliges Bild zeichnet als das des medial vermittelten Fundamentalisten, der aufgrund einer spezifischen Auslegung des Koran in den Krieg zieht. Dieses Bild wird auch in der Szene untermauert, in der die Amerikaner das Camp der Terroristen angreifen: »Die Männer flohen in wilder Hast zu dem türlosen Durchgang in der Umfriedungsmauer, dem einzigen Ausweg aus dem Gehöft. In ihrer Todesangst behinderten sie sich gegenseitig, alle wollten gleichzeitig durch das Mauerloch, durch das aber immer nur einer schlüpfen konnte. Einige versuchten über die Mauer zu klettern, andere sprangen vom Dach des Turmzimmers ins Freie.« (LF 217)

Überrumpelt vom Überraschungsmoment des Angriffs – eigentlich ein zentrales Merkmal der Kampfstrategie der Terroristen – setzt sich die Gruppe nicht koordiniert zur Wehr, vielmehr wird das Figurenkollektiv durch ihre Angst und den Versuch, das eigene Leben zu retten, bestimmt. Auch dies steht geradezu konträr zu der Vorstellung von Männern, die ihr eigenes Leben für Gott opfern wollen und daher vermeintlich mit diesem bereits abgeschlossen haben. Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf die Darstellung der Terroristen als äußerst ungebildete Männer. Dies zeigt sich nicht nur an der Beschreibung der mangelnden Hygiene bei der Zubereitung des Essens, die zu einer Magen-Darm-Erkrankung der Kämpfer führt (vgl. LF 273f.), sondern tritt auch in dem Umstand besonders deutlich hervor, dass die Taliban nicht in der Lage sind, das Geld zusammenzuzählen, das Miriam und Martens für die Auslösung Evrens bezahlen: »Der Mann zählte, die Anstrengung stand ihm im Gesicht. […] Er sagt, hier sei es zu dunkel, er will das Geld im anderen Zimmer zählen, sagte Miriam, weil es dort Fenster gibt. Aber ich glaube, er kann einfach nicht rechnen.« (LF 209) Dass Dilawar schließlich zu der Meinung gelangt, dass die Summe mit ihrer Vereinbarung übereinstimmt, liegt nicht daran, dass er selbst nachzählt, sondern dass er Miriams Wort Vertrauen schenkt (vgl. LF 210). Neben den offensichtlich fehlenden Grundkenntnissen der Mathematik, trägt zu dieser Charakterisierung der Männer auch ihr unzureichendes techniGläubigkeit auch hingekniet, ohne sich aber zu verneigen, er wollte es mit dem Respekt nicht übertreiben. Seine Gebetshaltung hatte die Männer aber nur verwirrt: Äfft er uns nach, oder betet der Kafir zu seinem Christengott, während wir hier den einzig waren Gott loben? Omar hatte Martens mit einem Fußtritt zu verstehen gegeben, dass er gefälligst im Gebüsch zu seinem falschen Gott beten soll.« (LF 246) Das Verhalten von Martens wird also von den Taliban anders interpretiert als von ihm intendiert. Eine interkulturelle Kommunikation kann so auch nicht durch diese intentionale Geste des Respekts zustande kommen.

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sches Wissen bei. Zwar wissen die Taliban um die technische Überlegenheit der Amerikaner – eins der wichigsten Merkmale des asymmetrischen Krieges – allerdings wird dieses Wissen weniger über Kenntnisse der Technik generiert, sondern vielmehr durch Erfahrung. Die Kämpfer verstehen nicht, wie die Technik der Amerikaner genau funktioniert, haben jedoch ihr Verhalten mit dieser Überlegenheit abgestimmt: »In den Dörfern war man gezwungen zu schleichen, zu flüstern wie ein Dieb, ständig musste man den Himmel im Auge behalten, und selbst tief im Gebirge konnte man sich nicht erhobenen Hauptes bewegen, denn die Amerikaner konnten aus dem Weltall sehen, auf welchem Pfad die Mudschaheddin unterwegs waren.« (LF 236, Herv. i.O.)

So hat sich dieses Wissen gleichsam inkorporiert und nimmt Einfluss auf die Körperbewegungen der Terroristen, entbehrt jedoch der Grundlage eines technischen Wissens. Dies scheint allerding auch nicht notwendig zu sein, um sich der Situation anzupassen. Wie eingeschränkt der Einblick in diesen Bereich ist, wird auch darin deutlich, dass Martens den Taliban nach dem Angriff der Amerikaner auf das Camp vermitteln kann, dass diese in der Lage sind, die ausgeschalteten Handys von ihm und Miriam zu orten und daher die genaue Position des Camps ermitteln konnten. »Martens wusste nicht, ob es tatsächlich möglich war, ein ausgeschaltetes Handy zu orten, aber die Männer zweifelten nicht daran.« (LF 237) Ein letzter Punkt, der hier in Bezug auf die Darstellung der Terroristen als ungebildete Männer aufgegriffen wird, bezieht sich auf die Beschreibung des Baus einer Bombe. Da die Talibankämpfer demoralisiert sind, weil sie seit längerer Zeit »nicht gekämpft, keinen Feind getötet, nicht einmal einen gesehen« (LF 272) haben und damit auch Dilawars Führerschaft zur Disposition steht, wird beschlossen, mit einer Bombe, die mittels einer Fernbedienung gezündet werden soll, einen Militärwagen der afghanischen Polizei zu sprengen (vgl. LF 274ff.). Die in der Nacht gebaute Bombe – hier zeigt sich die Unorganisiertheit der Gruppe, da der Sprengkörper eigentlich bei ausreichendem Tageslicht konstruiert werden muss, was lakonisch mit dem Satz »Ihr Leben war oft sehr umständlich.« (LF 274) kommentiert wird – zündet jedoch nicht, was Dilawar Omar, der den Sprengsatz gebaut hat, zum Vorwurf macht: Er habe, nach Omars Anweisungen, die Taste mit der Nummer vier gedrückt, was die Explosion jedoch nicht ausgelöst habe: »Dilawar riss Omar die Fernbedienung aus der Hand und drückte auf eine Taste, da, siehst du, es funktioniert nicht! Schau her, ich drücke die 4, und es funktioniert nicht, die 5 funktioniert nicht, die 6 auch nicht, glaubst du es jetzt endlich! Er drückte die 7. Ein dumpfer Knall. Dann Stille. Omar und Dilawar blickten in die Richtung der Explosion. Sie hatten keine Ahnung, wen oder was sie gerade in die Luft gesprengt hatten, vielleicht einen Bus mit Kindern, der zufällig vorbeigefahren war, vielleicht einen Lastwagen mit Schuhen aus Pakistan, vielleicht gar nichts.« (LF 277f.)

Neben der generellen Möglichkeit einer Fehlzündung, wird hier gezeigt, dass die Technik nicht so funktioniert, wie sie sollte, offenbar war von Omar eine andere

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Taste mit der Zündung verbunden worden. Darüber hinaus wird veranschaulicht, dass Dilawar in der Situation des Anschlags augenscheinlich nicht die anderen Tasten ausprobierte, sondern erst im Zorn über das fehlgeschlagene Attentat, dessen Erfolg seine Machtposition stärken sollte. Neben der für terroristische Anschläge prototypischen Vorgehensweise, einen Sprengsatz an der Straße zu platzieren, um ein Ziel zu treffen und zugleich die personale und waffentechnologische Überlegenheit der Gegenseite zu umgehen, zeigt sich das mangelnde praktische Wissen. Die daraus resultierende Zufälligkeit auf der Seite der Opfer verweist darüber hinaus auf ein Bild, das dem eines geplanten und gezielten Anschlags entgegensteht und bildet so eine Kontrastfolie zu den Bundeswehrsoldaten, die für jeden Schritt eine Risikodiagnose durchführen und ihr Handeln daraufhin abwägen. Das Ziel in diesem Fall war nicht, unter der Zivilbevölkerung Angst und Schrecken zu verbreiten, wie es häufig für die Anschläge terroristischer Organisationen postuliert wird.39 Die Grenze zwischen Polizisten, der geplanten Zielgruppe, und Zivilisten wird durch die zufällige Detonation aufgehoben: Opfer eines Anschlages, so wird hier demonstriert, kann – ungewollt – potentiell jeder werden. Auch dies steht im Kontrast zu der oftmals westlich-medial vermittelten Vorstellung, dass terroristische Organisationen grundsätzlich jedes Ziel anvisieren, auch die eigene Zivilbevölkerung. Die Beschreibung eines derartigen Zufalls kann daher insbesondere dem Medium Literatur zufallen, weil sie das Hintergrundwissen vermitteln kann und sich dieser Fehlschlag so als logische Konsequenz in das Erzählte eingliedert.40 Neben den Fremdzuschreibungen der Geldgier und des mangenden Wissens wird im Roman ein weiteres Charakteristikum der Terroristen aufgestellt. Während die bisher angeführten Aspekte den Praktiken und diskursiven Wissensräumen der afghanischen Bevölkerung und den Soldaten gegenübergestellt wurden, findet sich nun ein vergleichendes Moment: der Grund dafür, sich einer terroristischen Gruppe anzuschließen. »Für diesen jungen Buschen [gemeint ist ein Taliban] spielte hier die Musik. Er war der Feldarbeit entronnen, dem mühseligen und eintönigen Anbau von Melonen, Reis und Safran, dem Jäten von Unkraut, dem Ziehen der Ackerfurchen, dem Trott der Esel, dem matten Bellen der Hunde in der Abenddämmerung. In den ersten Strahlen der Sonne auf dem Feld stehen zu müssen, nichts Ehrenvolles zu tun, nur die Pflicht zu erfüllen, zu hacken, zu jäten […].« (LF 177f.)

Überaus anschaulich wird hier die Atmosphäre eines eintönigen Lebens aufgespannt, die sich durch immer wiederkehrende, routinisierte Handlungen im Bereich der Landwirtschaft auszeichnet. Nach dieser Beschreibung, die die Sicht des jungen Bauern in Er-Form erläutert, wird nun direkt ein lyrisches Du angesprochen: »Und dann bleiben deine Knochen zurück auf dem Feld, und was willst du deinen Enkeln 39 Vgl. WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 10. 40 Problematisch ist jedoch, dass hier die Möglichkeit für bestimmte Mechanismen von Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsstrategien eröffnet wird, die das Verhalten der Terroristen betreffen. So ist der mögliche Angriff auf Zivilisten ja nicht geplant gewesen und kam vor allem deshalb zustande, da sie so schlecht ausgebildet wurden, was sie der Verantwortlichkeit entziehen könnte.

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erzählen?« (LF 178) Durch diesen Wechsel, der möglicherweise eine Ansprache an den Rezipienten simuliert, wird eine Identifikationsebene geschaffen, die die Frage provoziert, wie dieser sich verhalten würde. Als Ausweg für den jungen Bauern aus dieser Einöde werden die Taliban inszeniert, die zur Teilnahme an ihrem Kampf auffordern: »Ihre Gesichter glänzen, so lebendige Gesichter hast du schon lange nicht mehr gesehen, Gesichter wie bei einer Hochzeit, die Männer scheinen zu tanzen, und sie sagen: Gib die Hacke deinem jüngeren Bruder, es ist Sommer und wir ziehen in den Kampf. Komm mit uns, in zwei Jahren, so Gott will, sind wir in Kabul!« (Ebd.) Die antithetische Gegenüberstellung des immer gleichbleibenden Alltagsgeschehens zu den Terroristen wird besonders durch die Worte ›glänzen‹ und ›lebendig‹ anschaulich. Das Neuartige und damit implizit auch Bessere, das die Zukunft in der terroristischen Gruppe verspricht, ist der Grund für den jungen Bauern, sich den Taliban anzuschließen: So kann er seinem vermeintlich eintönigen Leben regelrecht entfliehen. Dieses grenzüberschreitende eskapistische Verhalten wurde zuvor bereits für Martens und das Figurenkollektiv der Kriegsjournalisten ebenso wie für die Bundeswehrsoldaten festgestellt. Der vornehmlich absolut Fremde, der afghanische Bauer, der sich den Taliban anschließt, scheint so im Grunde die gleichen Bedürfnisse zu haben, wie die Menschen aus dem eigenen Kulturraum. Damit wird in diesem Roman ein kulturuniversalistisches Konstrukt initiiert, das als entscheidende kulturübergreifende Norm den Eskapismus aus der Routine herausstellt. Die kulturelle Grenze zwischen diesen Räumen ist in diesem Kontext kein Distinktionsmarker, sondern kann aufgrund der Gleichartigkeit der Wünsche und dem daraus resultierenden Verhalten überwunden werden. Eine kulturuniversalistische Perspektive wird ebenfalls an anderer Stelle gezeigt. Martens erinnert sich an ein Interview mit ein paar »junge[n] Hutu-Burschen« (LF 16) in Ruanda und stellt fest: »Die Gewöhnlichkeit war das Prinzip, es hatte sogar in Ruanda gewirkt« (LF 16). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die vom Roman aufgerufene Erinnerung an die deutsche Kolonialmacht, indem die deutsche, später belgische Kolonie Ostafrika Erwähnung findet. Einige Strukturen, die sich in dieser Zeit herausgebildet haben, waren maßgeblich mitverantwortlich für den Genozid in Ruanda, auf den Martens hier anspielt. So wurde die Bevölkerung beispielsweise von den Kolonialherren in ethnische Gruppen41 eingeteilt, die nicht nur in den Ausweispapieren festgehalten wurden, sondern auch Einfluss auf Positionen innerhalb der kolonialen Verwaltungs- und Ausbildungsstrukturen hatten, die fast aus-

41 Schaller stellt fest, dass die Bezeichnungen ›Hutu‹ und ›Tutsi‹ in ihrer ursprünglichen Bedeutung keine Abstammungsverbände bezeichneten, sondern sich diese Semantik erst entwickelte. Vielmehr hätten sich die Einheimischen des vorkolonialen Ruanda durch verschiedene Identitäten ausgezeichnet: »Man gehörte unter anderem einer Abstammungsgruppe, einem Clan, einem Dorf, einer Stadt, einer Berufs- oder einer Sprachengruppe beziehungsweise einer Kombination dieser Elemente an. Die jeweils relevante Identität wurde durch die Situation bestimmt.« (SCHALLER, Dominik J.: »Die einzig plausible Lösung ist die Eliminierung der Tutsi«. Der Völkermord in Ruanda, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Vorurteil und Genozid. Ideologische Prämissen des Völkermords. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2010, S. 217-240, hier S. 221.)

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schließlich Tutsi zugesprochen wurden.42 Die Grundlage für diese Einteilungen stellte primär die Berufsgruppe dar: Während die Tutsi vornehmlich Viehzüchter waren, war die Mehrheit der Bevölkerung (über 80%) Hutu, die häufig Ackerbau betrieben.43 Die massenhafte Tötung der Tutsi durch die Hutu von April bis Juni 1994, bei der ungefähr 800.000 Tutsi und moderate Hutu starben,44 basiert damit vornehmlich auf einem von außen aufoktroyierten Konstrukt der Kolonialmächte, was die hohe Beteiligung der Bevölkerung (Schätzungen zufolge zwischen 40% und 60%)45 besonders signifikant erscheinen lässt. Nach verschiedenen Etappen von Rebellionen, Aufständen und Sanktionen, begannen, nach dem bis heute ungeklärten Absturz des Flugzeugs des Präsidenten Habyarimana, die Kämpfe, die in den Genozid mündeten. Neben dem maßgeblichen Einfluss einheimischen Medien auf die Hutu durch Propaganda, die Verbreitung von stereotypen Bildern als auch durch das Schüren von Angst,46 ist interessant, wie die westlichen Medien mit dem Genozid umgingen: »Medienschaffende […] reagierten kaum überrascht, bestätigte das Blutbad in Ruanda doch ihr stereotypes Bild vom afrikanischen Krisenkontinent, der unablässig vom Hunger, Bürgerkriegen und Flüchtlingskatastrophen heimgesucht wurde.«47 Auch Heintze und Nannen stellen für diese Berichterstattung fest, dass nur sehr selten eine differenzierte Hintergrundberichterstattung stattgefunden habe, sich die Redakteure jedoch »mitunter zu sprachlichen Entgleisungen und blutrünstigen Tatsachenberichten angesichts der extremen Ausmaße des Mordens hinreißen [ließen].«48 Für den Leser habe diese Berichterstattung zu einem »verzerrten, unübersichtlichen und historisch unvollständigen Bild vom Bürgerkrieg in Ruanda«49 ge42 Vgl. KRÜGER, Karen: Programmierter Genozid? Das Radio und die mediale Erzeugung von Angst in Rwanda 1994, in: Bösch, Frank/Borutta, Manuel (Hrsg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne. Frankfurt a.M.: Campus 2006, S. 387-406, hier S. 388. 43 Vgl. RULOFF, Dieter: Wie Kriege beginnen. Ursachen und Formen. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. München: Beck 2004, S. 55. 44 Ebd., S. 56. 45 KRÜGER, Karen: Programmierter Genozid?, S. 387. 46 Krüger analysiert hinsichtlich des Einflusses der Medien auf die Hutu vor und während des Genozids vor allem den Radiosender RTLM und stellt fest: »Mittels eines spezifischen Framings und einer subtilen Technik der Berichterstattung, die den Rückgriff auf in der oralen Kultur Rwandas sehr wirksame rhetorische Mittel und gemeinsame kulturelle Symboliken beinhaltete, reaktivierte der Radiosender ethnische Stereotype und Fragmente der kollektiven Erinnerung, die in einer imaginären Konfliktkonstellation zwischen Hutu und Tutsi mündeten. […] Angst war die prägende Emotion der dadurch erzeugten Wirklichkeit: Die Menschen hatten Angst vor den angeblich dämonischen Kräften der Tutsi und davor, umgebracht zu werden.« (KRÜGER, Karen: Programmierter Genozid?, S. 387f.) 47 SCHALLER, Dominik J.: »Die einzig plausible Lösung ist die Eliminierung der Tutsi«, S. 218. 48 HEINTZE, Roland/NANNEN, Stefanie: Rwanda 1994. Aspekte der Presseberichterstattung in Deutschland, in: Harding, Leonhard (Hrsg.): Ruanda – der Weg zum Völkermord. Vorgeschichte – Verlauf – Deutung. Hamburg: Lit 1998, S. 197-205, hier S. 204. 49 Ebd., S. 205.

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führt. So wird in dem Roman nicht nur ein weiteres Kriegsgeschehen neben dem Afghanistankrieg angeführt, sondern auch eine weitere spezifische Berichterstattung, die durch die Figur Martens, die durch die Funktion des Kriegsreporters eine Sprecherposition in diesem normbildenden Mediendiskurs hat, repräsentiert wird. Die aus Martens’ Perspektive auf das Dargestellte resultierende Subjektivität wurde oben bereits diskutiert. An dieser Stelle geht es jedoch nicht um die Einschätzung des Protagonisten hinsichtlich der Lage in Ruanda, die überdies nicht in Das Leuchten in der Ferne aufgegriffen wird, sondern vielmehr um das von Martens postulierte übergreifende Strukturmerkmal der Alltäglichkeit, das er im Gespräch mit den drei jungen Hutu50 selbst in dem absoluten Ausnahmezustand auszumachen meint: »Sie schilderten ihm mit unbewegten Stimmen, wie sie morgens aufstanden, die Macheten und Beile wetzten und dann die Gegend nach Tutsi durchsuchten, die sich in Erdlöchern oder Kellern versteckten. Wenn sie sie fanden, brachten sie ihnen je nach Tagesform Verletzungen bei, an denen die Opfer später erst starben, oder sie töteten sie gleich, was aber anstrengender war. Wenn du einen tötest, sagte einer der Burschen, musst du drei- oder viermal zuschlagen, aber verwunden kannst du ihn mit einem einzigen Hieb, und er stirbt dann von selbst. Die anderen pflichteten ihm bei, es war einfach zu mühsam, sie totzumachen. […] Martens sah in ihren Gesichtern keinen Hass, keine Freude am Töten, keine Begeisterung, sondern nur die Anstrengungen des Alltags.« (LF 16)

Die Selbstverständlichkeit und Gefühllosigkeit, mit der die Taten beschrieben werden, deuten ebenso wie die makaber anmutende ökonomische Denkweise auf die Gefühlskälte evozierende Routine hin, die das Töten für die Figuren bedeutet. So können auch Praktiken im Ausnahmezustand eines Genozids in eine Alltäglichkeit münden. Der meinungsbildende und wissensgenerierende Diskurs, an dem der Interdiskurs Medien teilnimmt, wird indes nicht erwähnt, dargestellt werden allein die inkorporierten Praktiken. Die Grenzkonstruktion, die damit aufgespannt wird, beinhaltet zwei Aspekte: Während sich die Grenze, die sich zwischen Hutu und Tutsi erstreckt, als klar definierte und unüberwindbare Linie beschrieben wird, hebt der Verweis auf die Alltäglichkeit die Grenze zwischen den Hutu und den anderen im Roman dargestellten Figurenkollektiven teilweise auf. Das überschreitende Merkmal der Alltäglichkeit greift auch in diesem Zusammenhang, obwohl sie hier völlig anders gelagert ist – während sie in diesem Kontext das routinisierte Töten umfasst, beschreibt sie im Leben der Bundeswehrsoldaten, Kriegsreporter und auch der afghanischen Männer ein vordergründig friedvolles Leben, das sich vor allem durch die Sphäre der Familie und der Arbeit auszeichnet – und schafft damit eine vergleichende Basis.

50 Ruloff macht darauf aufmerksam, dass sich besonders Jugendmilizen an den real-historischen massenhaften Tötungen beteiligten (vgl. RULOFF, Dieter: Wie Kriege beginnen, S. 56.).

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2.1.5 Die Grenze zwischen dem inneren und dem äußeren Kreis Zwar wird immer wieder auf das vergleichende Moment der Routine eingegangen, wodurch ganz unterschiedliche kulturelle Gruppierungen scheinbar in Zusammenhang gebracht werden, jedoch werden auch die Unterschiede zwischen dem Eigenen und dem Fremden immer wieder betont, was besonders prononciert im letzten Teil des Romans zum Ausdruck kommt. Das dort referierte Verhalten von Schimpansen, die sich geschlechtsspezifisch entweder in einem inneren oder einem äußeren Ring befinden, wird in Analogie zu der deutschen Gesellschaft gesetzt. Der Vergleich zwischen Affen und Menschen hat einen hohen Symbolwert,51 der auf verschiedenen Ebenen zum Tragen kommen kann. So macht Roland Borgards vier allgemeine, zumeist zusammenhängende symbolische Grundbedeutungen – die Mimikry, den Teufel/das Böse, den Sexualtrieb und die Verantwortungslosigkeit – aus, die vor allem auf der biologisch bedingten Ähnlichkeit zwischen Menschen und Affen basieren.52 Die Bedeutungsebene der Mimikry, also der Nachahmung der Affen von menschlichem Verhalten, wird häufig mit einer moralischen Disqualifizierung verbunden, dass der äußere Schein (Nachahmung) höher bewertet wird als der innere Wert des Menschen.53 Eine aus der Sicht der Terroristen vorherrschende Nachahmung, die einen tieferen, nämlich religiösen Sinn verstellt, wurde bereits an einer vorherigen Romanpassage offenkundig. Martens, der meint sich respektvoll zu verhalten, indem er sich während des Gebets zu den Islamisten kniet, allerdings »ohne sich aber zu verneigen, er wollte es mit dem Respekt nicht übertreiben« (LF 246), wird von der Gruppe ausgeschlossen: »Äfft er uns nach, oder betet der Kafir zu seinem Christengott, während wir hier den einzig wahren Gott loben? […] Seither schaute Martens ihnen beim Beten nur noch zu, wie es einem Affen gebührte. In religiöser Hinsicht hielten sie ihn für einen Affen, in ökonomischer für etwas Ähnliches wie eine kostbare Vase.« (Ebd., Herv. i.O.)54 Das Verhalten von Martens in diesem 51 Unter Symbol wird hier nach Günter Butzer und Joachim Jacob »die sprachliche Referenz auf ein konkretes Ding, Phänomen oder auch eine Tätigkeit verstanden, die mit einem über die lexikalische Bedeutung hinausweisenden Sinn verknüpft ist.« (BUTZER, Günter/JACOB, Joachim: Vorwort, in: Dies. (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2008, S. V-VII, hier S. V.) Entscheidend ist hier besonders in Abgrenzung zur Metapher, dass ein Symbol auf der »pragmatischen, also der Sach- und Handlungsebene« (ebd.) funktioniert und damit nicht unerlässlich für die Erfassung des Sinns eines literarischen Textes ist. 52 Vgl. BORGARDS, Roland: Artikel Affe, in: Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 8-9, hier S. 8. 53 Vgl. ebd. 54 Die angeführte Analogie zwischen Affen und Menschen im Kontext der religiösen Praktiken wird aus der Perspektive der Terroristen angeführt, die in Martens Verhalten eine affenähnliche Nachahmung ausmachen. Der sich für die Rezipienten potentiell eröffnende symbolische Gehalt dieser Analogie, wird dadurch einem Figurenkollektiv zugeschrieben, das mit der Symbolik des Affen unter Umständen ganz andere Implikationen verbindet. Hier kommt also wieder der zuvor bereits an anderen Stellen wie der rechtlichen Auslegung der Layha und des Paschtunwali ausgeführte Übertragungscharakter zum Vorschein,

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Kontext wird also von den Terroristen als affenartige Nachahmung negativ bewertet, da er die gläubigen Moslems, entweder versucht ins Lächerliche zu ziehen oder ihre religiösen Praktiken, die ihrer Kultur entspringen, entfremdet und dazu nutzt, den aus ihrer Perspektive falschen Gott anzubeten. Der am Ende des Romans angeführte Vergleich zwischen Menschen und Affen, der nicht wie zuvor auf einen Einzelnen angewandt, sondern auf ganze Figurenkollektive übertragen wird, betrifft indes primär die Symbolebene der Verantwortungslosigkeit, die sich zum einen in verantwortungslosem Handeln und zum anderen in einem anarchistischen Potential manifestiert.55 Der innere Ring – bei den Schimpansen bilden diesen die Weibchen, die einander zugewandt sind und so ausschließlich einander anschauen – wird mit dem Leben in Deutschland verglichen. Die hier fokussierten Wünsche werden mit »Sicherheit, Nahrung, Wärme und Kommunikation« (LF 299) benannt, Anliegen also, die antithetisch zu dem eskapistischen Verhalten von Martens stehen. Der äußere Ring hingegen ist bei den Schimpansen von den Männchen besetzt, die den inneren verteidigen, indem sie »an den Grenzen des Territoriums« »patrouillieren« (LF 296f., Herv. i.O.) und Tiere, die sie nicht kennen, töten. Die Blicke der männlichen Affen sind daher nicht, wie im inneren Kreis, einander zugewandt, sondern nach außen gerichtet, um Gefahren direkt zu erfassen. Dieser Schutzgedanke, der den Fortbestand der Art sichern soll, wird im Akt der Übertragung auf die menschliche Gesellschaft in das Gegenteil verkehrt: Der äußere Kreis stellt hier eine »Bedrohung« dar, Omar und Dilawar, als pars pro toto für terroristische Gruppierungen, patrouillieren demnach im äußeren Kreis: »Dieser äußere Kreis mochte weit entfernt vom inneren Kreis sein, so entfernt, dass die Menschen im inneren Kreis sich seiner Existenz nicht mehr bewusst waren. Aber es gab ihn. Er umschloss den inneren Kreis, und er versuchte, zu ihm vorzudringen.« (LF 300, Herv. i.O.) Die Bedrohung durch den äußeren Kreis ist demnach zwar entfernt, jedoch stets anwesend. Potenziert wird diese Gefahr durch den Hinweis, dass der innere Kreis von dem äußeren komplett umschlossen ist, dass es also keine Fluchtmöglichkeit, keinen Ausweg für den inneren Kreis gibt. Durch den nach innen gerichteten Blick der Gesellschaft kann die Gefahr zudem nicht erkannt werden, was ein verantwortungsloses, da die Menschen gefährdendes Handeln suggeriert. Martens, als Teil der Gesellschaft, macht die Gefahr auch nur deshalb aus, da er selbst »lange zum äußeren Kreis gehört [hatte]« (ebd., Herv. i.O.), wodurch seine Funktion als Grenzgänger, durch die er vermeintlich beide Perspektiven kennengelernt hat, vernehmbar wird. Das System der Schimpansen funktioniert, da die Männchen das Territorium verteidigen und die Weibchen sich so gefahrenlos anschauen können. Die Gefahr durch andere Tiere, die potentiell den Tod bedeuten würden, müssen Letztere nicht wahrnehmen. In dem Konstrukt dieses Vergleichs bedeutet das, dass sich die Gesellschaft zwar wie eine der beiden Seiten, wie der innere Kreis, verhält und den Blick nach innen auf sich selbst richtet, um ihre Wünsche zu realisieren, jedoch die andere Seite, den Schutz der Gruppe, der bestimmte eigene kulturelle Sachverhalte auf die zu beschreibende Fremdheit überträgt und damit Vergleichbarkeiten schafft, die zum einen eine vereinnahmende Perspektive auf das Fremde evozieren und zum anderen eine vermeintliche Homogenisierung des Fremden suggerieren. 55 Vgl. BORGARDS, Roland: Artikel Affe, S. 9.

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nicht ausbildet und damit die Bedrohung nicht sehen kann. Das in der Verhaltensbiologie als ›natürlich‹ gekennzeichnete Konzept wird in der Gesellschaft – und damit im Bereich der Kultur – nicht umgesetzt, was die Differenz und die Grenze zwischen diesen Bereichen anschaulich macht. Das Ziel der terroristischen Organisation ist Martens zufolge die Grenzüberschreitung zum inneren Kreis und damit übrigens grundsätzlich das vornehmlich gleiche wie sein eigenes, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Damit werden nicht nur zwei disjunkte Teilräume, die Taliban und die deutsche Gesellschaft, eröffnet, die einander gegenüberstehen, sondern auch die Grenze als eine durch Gewalt überwindbare dargestellt. Der Vergleich mit der Verhaltensweise von Affen belegt die beiden Teilräume und damit zugleich die sich in ihnen befindlichen Figurenkollektive zudem mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen: Die Weibchen, der innere Kreis und damit die Menschen innerhalb der deutschen Gesellschaft, suchen die Liebe und das Glück und benötigen das Beständige (vgl. LF 300), die Männchen, der äußere Kreis und die Terroristen hingegen sind Kämpfer, die zum einen keiner (staatlichen) Ordnung verpflichtet sind, was ihr anarchistisches Potential unterstreicht, und die sich zum anderen stets in Bewegung befinden und töten. Die damit verbundenen Konnotationen stehen nicht nur im Widerspruch zu der Hierarchisierung der Bereiche, die Martens zuvor vorgenommen hatte – immer wieder wurde ja das Unbeständige von dem Protagonisten als das Erstrebenswerte hervorgehoben –, sondern tragen auch zur kulturellen Konstruktion bei, die den Roman im Ganzen determiniert. Die geschlechtliche Semantisierung zeigt das Andere als gewalttätig und aktiv, das Eigene hingegen als friedvoll, aber zugleich auch als schutzbedürftig und nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Auch die deutschen Soldaten geben in diesem Sinne keine Sicherheit, sondern erweisen sich als disponierte Subjekte, deren Handlungen sich nicht auf den Kampf und die Verteidigung beziehen. Ziel des Auslandseinsatzes in Afghanistan ist es, eine spezifische Ordnung, letztlich die Ordnung des Eigenen, herzustellen. Damit eng verbunden ist die implizite Kritik an dem im öffentlichen Diskurs generierten Meinungsbild über den Krieg, das durch den Verweis auf verschiedene Kriege in grenzüberschreitender Weise gilt und durch seine festgesetzten und starren Grenzen des Sagbarkeitsraums sowohl die Handlungen der Soldaten determiniert als auch die Medien bzw. die mediale Darstellung der Kriege beeinflusst. Die Konsequenz der diskursiv ausgehandelten Grenzen und dem damit verbundenen Blick auf ausschließlich das Eigene, so die Metapher des inneren Kreises, konzentriert sich darin, dass die deutsche Gesellschaft die allgegenwärtige Gefahr des als archaisch dargestellten Fremden, dessen Ziel die Zerstörung dieses vermeintlichen Friedens ist, nicht erkennt. Damit wird zum einen eine Atmosphäre der unsichtbaren und unbegrenzten Bedrohung inszeniert und zum anderen stellt das Romanende eine pessimistische Zukunftsversion aus, was den Einsatz der Bundeswehrsoldaten in Afghanistan letztlich als nicht konfliktlösend und damit als sinnlos bewertet.

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2.2 M EDIENKRITIK IN DER T OTALE . N ORBERT G STREINS D AS H ANDWERK

DES

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T ÖTENS

2.2.1 Inhalt Der 2003 erschienene Roman Das Handwerk des Tötens56 des österreichischen Schriftstellers Norbert Gstrein beschreibt aus der Perspektive eines namenlosen IchErzählers den Versuch der Figur Paul, einen Roman über den Kriegsreporter Christian Allmayer zu verfassen. Dieser hatte vornehmlich über die Kriege im Balkan berichtet und wurde dort, als der Krieg bereits offiziell als beendet galt und er eine Art Abschlussreportage verfassen wollte, erschossen. Neben den Recherchen Pauls, zu denen auch die Reisen in die Gebiete, aus denen Allmayer berichtet hatte, ebenso wie die Gespräche mit den von dem Journalisten interviewten Kriegsakteuren gehören, kommen verschiedene Figuren zu Wort, die Allmayer persönlich kannten, und durch ihre Beschreibungen verschiedene Seiten des Kriegsreporters hervorbringen. Das Ziel des Romanschreibers Paul besteht darin, aus diesen Informationen einen Plot zu formen. Er vermischt dabei aber immer wieder Fakt mit Fiktion, was in dem Höhepunkt mündet, dass er den Drehort der Todesszene von Karl Mays Winnetou statt der Stelle, an der der Kriegsreporter erschossen wurde, besichtigt. Im Anschluss daran löst sich das im Verlauf des Romans bereits angekündigte Scheitern Pauls in seinem Suizid auf. Sein Tod bildet, ebenso wie zuvor Allmayers Tod für Paul, den Schreibanlass des Ich-Erzählers, die Geschichte über Allmayer und über Pauls Romanprojekt niederzuschreiben. Der Roman Das Handwerk des Tötens stellt sich damit als der Roman dar, den der Ich-Erzähler als fiktiver Autor verfasst hat und betrachtet zugleich die verschiedenen Formen der Darstellung des Krieges – mediale, vor allem journalistische Texte und Bilder, sowie literarische –, um sie zugleich kritisch zu reflektieren. Die Kritik an einer einheitlichen, stringenten Erzählung wird dadurch hervorgehoben, dass sich die Aussagen des polyphonen Romans zum Teil widersprechen, aber jede Figur von dem Wahrheitsgehalt ihrer Meinung überzeugt ist. Der immer wieder ins Detail vorgeführte und sezierte Konstruktionscharakter, der sowohl die literarischen Mechanismen als auch die bildliche Darstellung betrifft, negiert jegliche Vorstellung einer homogenen Wahrheit und schließlich auch die Möglichkeit einer angemessenen Darstellungsform des Krieges. 2.2.2 Formale Grenzen Der Roman gliedert sich in fünf Kapitel, die mit einer auf den Inhalt des jeweiligen Kapitels hindeutenden Überschrift versehenen sind. Vorangestellt befindet sich ein Paratext in Form einer zweifachen Widmung zum einen in kroatischer Sprache »i za Suzanu« (»auch für Suzana«57) und zum anderen »zur Erinnerung an / Gabriel 56 Die folgende Ausgabe wird in diesem Kapitel unter Verwendung der Sigle HT und der entsprechenden Seitenzahl zitiert: GSTREIN, Norbert: Das Handwerk des Tötens. München: dtv 2010. 57 LOVRI , Goran: Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens. Zeichen der Unsicherheit oder geteilte Erzählerpersönlichkeit?, in: Bobinac, Maijan/

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Grüner / (1963-1999) / über dessen Leben und dessen Tod / ich zu wenig weiß / als daß ich / davon erzählen könnte« (HT 8). Während die Fremdsprache bereits auf spezifische Kenntnisse des Autors hindeutet, der Name Suzana aber unbeleuchtet bleibt, könnte die Nennung des Kriegsreporters Gabriel Grüner, der ebenso wie die Figur Allmayer auf dem Balkan erschossen wurde, ein Hinweis auf das historische Vorbild der Romanfigur sein. Durch den Namen des Stern-Reporters wird ein großer medialer Echoraum des gesellschaftlichen Diskurses aufgerufen, eine Verbindung zwischen ihm und der Figur wird jedoch durch den Zusatz zugleich dementiert. Ungeachtet dessen setzt die Kritik nach dem Erscheinen des Romans an genau dieser Stelle an: Zahlreiche Rezensenten und andere Akteure des literarischen Betriebs folgen den vom Roman gelegten »biographische[n] Lebensspuren«58 des Kriegsreporters, monieren eine vermeintlich verfälschte und sogar rufschädigende Darstellung und gelangen zu dem moralischen Urteil einer »posthumen Verunglimpfung der realen Person Gabriel Grüners«59. Derartige Reaktionen sieht Müller-Funk darin begründet, dass Kriegsreporter zu wahren Helden hochstilisiert würden, seitdem Soldaten im Nachklang der beiden Weltkriege im öffentlichen Diskurs diese Funktion nicht mehr besetzen könnten. Die mehrdeutige Zeichnung der Figur Allmayer indes stehe einer solchen personalen Heroisierung ebenso entgegen, wie sie die Tätigkeit des Journalisten im Sinne einer Abbildung von Realität in Frage stelle.60 Außer Acht gelassen wird im Zusammenhang der negativen Kritiken nicht nur der paratextuelle Verweis, nicht genug über diese Person zu wissen, um über sie zu schreiben, sondern auch die basale Unterscheidung zwischen einer real-existenten Person und Literatur, die stets mit den Mitteln der Fiktion arbeitet. Waltraud Wende hält fest, dass es im Falle dieses Romans besonders schwerwiegend sei, die Unterscheidung von Fakt und Fiktion zu vernachlässigen, da Das Handwerk des Tötens sich genau mit diesem Spannungsfeld reflektierend auseinandersetze.61 Die Möglichkeit, dass der Paratext, der nach Genette eine Schwelle des Unbestimmten ist,62 bereits in dem Bereich der Fiktion angesiedelt sein könnte, d.h., auch mit der Nennung einer real-historischen Person fiktiv sein könnte, wird von den Kritik übenden Rezensenten hingegen nicht beachtet. Diese These stützt jedoch auch der Paratext des ein Jahr nach Erscheinen des Romans in einem rechtfertigenden Gestus

58

59 60 61 62

Müller-Funk, Wolfgang (Hrsg.): Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext. Tübingen/Basel: Francke 2008, S. 217-230, hier S. 226. WENDE, Waltraud ›Wara‹: Als erstes stirbt immer die Wahrheit: Fakten und Fiktionen im intermedialen Diskurs – Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens, in: Koch, Lars/Vogel, Marianne (Hrsg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 169-183, hier S. 169. Ebd., S. 170. Vgl. MÜLLER-FUNK, Wolfgang: Komplex Österreich. Fragmente zu einer Geschichte der modernen österreichischen Literatur. Wien: Sonderzahl 2009, S. 371. Vgl. WENDE, Waltraud ›Wara‹: Als erstes stirbt immer die Wahrheit, S. 172. Vgl. GENETTE, Gérard: Paratexte, S. 10.

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verfassten Essays von Gstrein mit dem Titel Wem gehört eine Geschichte?63, dessen Widmung »für Helena« auf die literarische Figur aus dem Roman Das Handwerk des Tötens verweist. Damit entsteht ein grenzüberschreitendes Gefüge zwischen fiktionalem Text mit der Widmung an eine real-historischen Person und einem vermeintlich faktualen Text mit Widmung an eine fiktionale Figur.64 Diese Form des Paratextes wird offenbar gezielt eingesetzt, wahrscheinlich nicht um eine Wahrhaftigkeit beider Texte von Beginn an komplett zu negieren, sondern vielmehr um eine Unbestimmtheit, ein Dazwischen zwischen Fakt und Fiktion, und zugleich eine untrennbare Verbindung der Texte zu inszenieren. Signifikant ist die den Text auszeichnende komplette Analepse in der Erzählhaltung des homodiegetischen Erzählers. Bereits durch diese Anlage des Romans muss sich der Rezipient völlig an dem orientieren, was der Erzähler berichtet, in dem Wissen, dass es perspektivisch und selektiv ist, das Erzählte dementsprechend lediglich Gegenstände und Sachverhalte beinhaltet, die dieser selbst erlebt hat oder die ihm zugetragen wurden. Der Ich-Erzähler ist mit einer »symbolischen Vollmacht von Stimme und Fokalisierung«65 ausgestattet. So besteht der Inhalt der Erzählung in diesem Sinne vor allem aus Erinnerungen an Paul, Gesprächen mit ihm und durch ihn vermitteltes Wissen. Aber auch die Stimmen anderer Figuren, die man als »literarische Aufstellung von Beobachtungsposten«66 bezeichnen kann, fließen, jeweils vermittelt durch die Perspektive des Ich-Erzählers, die überwiegend in den im Konjunktiv verfassten Passagen zum Ausdruck kommt, in den Erzähltext ein.67 Diese vermittelte Erzählhaltung ist ein zentraler Bestandteil des Romans, da sie »die Distanz des Erzählers zum Erzählten«68 begründet und damit zugleich auf formaler Ebene mit der inhaltlich reflexiven Verhandlung der Darstellungsformen des Krieges korrespondiert. Die dabei stets eingenommene Erzählhaltung ist die Retrospektive, aus der heraus berichtet und die an zahlreichen Stellen mittels Marker sichtbar wird. Besonders interessant ist hier, dass diese stets im Präsens verfassten Sätze teilweise auf die mit Erinnerungen verbundene Problematik der Authentizität verweisen, beispielsweise: »Wenn ich mich richtig erinnere« (HT 89) oder »der Rest des Abends ist mir nur mehr in Splittern in Erinnerung« (HT 202). Dagegen werden auch andere, auf Richtigkeit der Erinnerung beharrende Sätze in der Erzählung installiert wie: »Ich 63 GSTREIN, Norbert: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. 64 Vgl. dazu auch LOVRI , Goran: Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens, S. 226. 65 MÜLLER-FUNK, Wolfgang: Komplex Österreich, S. 368. 66 KARPENSTEIN-ESSBACH, Christa: Orte der Grausamkeit, S. 25. Derartige ›Beobachtungsposten‹ sind beispielsweise die Witwe des Reporters oder ein von Allmayer während des Krieges interviewter Kriegsakteur. 67 Wolfgang Müller-Funk stellt in diesem Kontext heraus, dass die Erzählung verschachtelt und parallelisiert ist, aber »[d]ie extreme Armut an Ereignissen auf der Ebene der Rahmenhandlung […] verblüffend [ist].« (MÜLLER-FUNK, Wolfgang: Komplex Österreich, S. 367.) 68 LOVRI , Goran: Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens, S. 219.

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erinnere mich noch genau« (HT 50), »Ich weiß noch genau« (HT 298). Aufgrund der dadurch ambivalent erscheinenden Haltung des Erzählers zum Vergangenen, die dezidiert den Erinnerungsmodus als lückenhaft und als wirklichkeitsgetreue Abbildung zugleich ausstellt, kann der Erzähler als unsicherer gedeutet werden. Gleichzeitig erscheinen seine Hinweise auf Gedächtnislücken bzw. auf seine Unsicherheit hinsichtlich der Richtigkeit seiner Angaben auch als Reflexion dieser nicht lückenlosen Speicherungsprozesse. Darüber hinaus wird der Schreibprozess mitreflektiert, dem dadurch ebenfalls der »Boden einer zweifelsfreien Unmittelbarkeit«69 entzogen wird. Zentraler Ausgangspunkt der kompletten Analepse ist das Verhältnis zwischen Erzähler und Figur, das durch die Unterscheidung zwischen erlebendem Ich (Protagonist) und erzählendem Ich (homodiegetischer Erzähler) charakterisiert wird.70 Das erzählende Ich ist in der Lage, sich vom erlebenden Ich zu distanzieren, welches Umwege gehen kann und das Wissen, das der Erzähler in der Erzählgegenwart besitzt, erst erwerben muss. Genette hält fest: »Die einzige Fokalisierung, die er zu respektieren hat, wird definiert durch seinen gegenwärtigen Informationsstand als Erzähler und nicht durch seinen vergangenen Informationsstand als Held.«71 Ein derartig asymmetrisches Gefüge zwischen Erzähler und Figur wird in Das Handwerk des Tötens kaum ersichtlich, vielmehr wird, ganz im Sinne der Simulation von Erinnerungshaftigkeit des Textes, der Figur zugeschrieben, in der damaligen Situation bereits etwas erkannt oder zumindest geahnt zu haben. Diese nachträgliche Bewertung sowie die Zuschreibung von Sinn machen die unterschiedlichen Ebenen lediglich indirekt sichtbar.72 Die kommentierende und bewertende Funktion wird indes vielmehr auf die Aussagen der Figur Paul gelenkt, zum Beispiel: »Für mich klang es, als wollte er sich damit Mut machen, und obwohl es etwas Abgeschmacktes hatte […], widersprach ich nur zaghaft« (HT 36) oder wenn der Erzähler den Leser wissen lässt: »Das war Unsinn, aber ich ließ ihn reden.« (HT 54) Durch diese Erzählstrategie treten zwei zumeist durch eine klare Abgrenzung voneinander getrennte Sichtweisen in Erscheinung – die Meinung des Ich-Erzählers und die wiedergegebenen Aussagen von Paul. Diese verschiedenen Perspektiven werden in unterschiedlichen Kontexten deutlich, besonders markant jedoch in dem Bereich der Trennung bzw. Vermischung von Fakt und Fiktion, der im Zusammenhang mit Pauls Romanprojekt häufig diskutiert wird, aber auch bei den eigenen Schreibreflexionen des Ich-Erzählers eine zentrale Rolle spielt.

69 BRAUN, Peter: Im Trümmerfeld des Faktischen. Norbert Gstreins Meditationen über die Darstellbarkeit des Krieges, in: Beganovi , Davor/Ders. (Hrsg.): Krieg sichten. Zur medialen Darstellung der Kriege in Jugoslawien. München: Fink 2007, S. 247-269, hier S. 254. 70 Vgl. NÜNNING, Ansgar: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1995, S. 180. 71 GENETTE, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München: Fink 1994, S. 141. 72 Aufgrund der nur bedingt möglichen Unterscheidung zwischen erinnertem und erinnerndem Ich wird im Folgenden vor allem die Bezeichnung Ich-Erzähler verwendet, die diese binäre Struktur mitdenkt.

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All diese Aspekte tragen dazu bei, dass der Roman in einer selbstreferentiellen und metafiktionalen Haltung nicht nur das literarische Produkt, sondern auch den Vorgang des Schreibens und in diesem Zusammenhang auch den Inhalt und die Konstruktion von Wirklichkeit in der Sphäre der Fiktion verortet.73 Sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene wird durch die verschachtelte Erzählperspektive nicht nur die Kriegsberichterstattung als bruchstückhafte und heterogene enttarnt, sondern zugleich gezeigt, »wie das Schreiben über den Krieg ein misslingendes Erzählen konstruiert.«74 2.2.3 Reflexionen zur medialen Darstellung des Krieges Die bereits auf formaler Ebene festgestellte reflexive Haltung des literarischen Schreibens setzt sich auch in Bezug auf das inhaltliche Hauptmotiv, die Auseinandersetzung mit medialen Darstellungen des Krieges, fort. Dabei werden sowohl die literarischen Praktiken als auch die von Akteuren des journalistischen Bereichs75 aufgegriffen und hinterfragt. Bedeutsam ist dabei nicht nur die Vermischung von Fakt und Fiktion, sondern auch die der damit assoziierten Berufsgruppen der Schriftsteller und der Journalisten. In der Beschreibung dieser Figurenkollektive werden mithin allgemeine charakterisierende Praktiken gezeigt und jeweils einzelne Figuren, die als Repräsentanten die Charakterisierungen der Gruppen stützen oder diese im Sinne beweglicher Figuren unterlaufen. Neben der deutlichen Hierarchisierung innerhalb der Zeitungsressorts, die, in einer drastischen Analogie zu der Unterscheidung in einem Gefängnis, Pauls Reiseberichten, die er verfasst, »ohne sich vom Ort zu bewegen« (HT 21), den untersten Bereich eines Kinderschänders zuspricht (vgl. HT 12), wird eine erkennbare Grenze zwischen den in Deutschland verweilenden Journalisten und den Kriegsreportern gezogen. So resümiert Paul in dem Gestus einer Hochstilisierung Allmayers, dass von den journalistischen »Lackaffen« keiner in den Krieg gezogen wäre, um über ihn zu berichten, da »›[d]ie meisten von ihnen […] schon beim ersten Gewehrfeuer nicht 73 Vgl. zur theoretischen Grundlegung: NIES, Martin: ›Stimme‹ und ›Identität‹: Das Verschwinden der ›Geschichte‹ in Knut Hamsums Pan, Johannes V. Jensens Skovene, Joseph Conrads Heart of Darkness und Robert Müllers Tropen, in: Blödorn, Andreas/Langer, Daniela/Scheffel, Michael (Hrsg.): Stimme(n) im Text: narratologische Positionsbestimmungen. Berlin: De Gruyter 2006, S. 267-295, hier S. 268. 74 STOPKA, Katja: ›Beobachtete Beobachter‹. Literarische Derealisierungstendenzen von Kriegsperspektiven. Am Beispiel der Journalistenromane Die Fälschung von Nicolas Born und Das Handwerk des Tötens von Norbert Gstrein, in: Gansel, Carsten/Kaulen, Heinrich (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen V&R unipress 2011, S. 119-136, hier S. 133. 75 In dem Kontext von journalistischer und literarischer Kriegsdarstellung wird bewusst von Praktiken gesprochen, denn sie gelten nicht nur für ein Figurenkollektiv und sind routinisiert, sondern beinhalten auch ein intentional geprägtes, spezifisches ›Know-how-Wissen‹. Sie weisen zudem eine enge Beziehung zur Gesellschaft auf, da sie den öffentlichen Diskurs beeinflussen und von ihm beeinflusst werden. In diesem Sinne kann man hier von sozialen Praktiken sprechen.

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mehr zu gebrauchen gewesen und mit vollen Hosen nach Hause geflogen [wären].‹« (HT 53) Somit wird bereits zu Beginn des Romans auf das »negative Image«76 dieses Berufstandes verwiesen. Besonders prägnant ist der den Journalisten zugeschriebene Bereich der Vermittlung von vermeintlichen Fakten bzw. der gegebenen Wirklichkeit, der im Kontext der Kriegsreporter, die über den Verlauf kriegerischer Auseinandersetzungen möglichst präzise berichten, das primäre Handlungsfeld darstellt. Diese Vorstellung, die mit einer Wahrhaftigkeit der Informationen einhergeht, wird durch die Darstellung der Kriegsreporter in Das Handwerk des Tötens geradezu als naiv entlarvt. Im Zusammenhang mit dem Bericht über Allmayers Tod erläutert Paul dem Ich-Erzähler, dass er kurz zuvor ein Telefonat mit diesem geführt habe, in dem er sich über die Langeweile beschwerte, »über die Ödnis, die sich unter seinen Kollegen beim Warten unmittelbar vor dem Aufbruch ausgebreitet haben mußte, die Nervosität in dem verrauchten Raum, in dem an allen Tischen Karten gespielt wurde und die Wetten sich halbstündlich übertrafen, wann es endlich losginge.« (HT 29) Das mit dem Kriegsgeschehen unmittelbar zusammenhängende, eintönige Warten, stellt vordergründig nichts Außergewöhnliches aus, kann zusammen mit einem späteren Verweis jedoch ganz anders gelesen werden, nämlich, dass einige Reporter »sich ärgerten, statt sich zu freuen, sooft sie irgendwo hinkamen und alles ruhig war« (HT 110). An dieser Stelle wird bereits das zentrale Anliegen, über möglichst Sensationelles zu berichten, erkennbar, potenziert sich jedoch noch, indem sich die Reporter fragen, »welche Aspekte man dem Krieg noch abgewinnen könnte, als das Spektrum längst ausgereizt war« (HT 111). Begründet werden Suche und vor allem Veröffentlichung der »größten Grausamkeiten« in einem nach festen Konventionen und Routinen mit bereits zuvor festgelegtem Ausgang inszenierten Schauspiel mit einer alternativlosen journalistischen »Pflicht« (ebd.). Dieser Pflichtgedanke erscheint nicht nur als willkommene Ausrede, die die Medienkonkurrenz und die damit zusammenhängenden ökonomischen Aspekte des Interdiskurses Medien verschleiert, sondern schafft zudem eine vermeintliche Distanz zum Geschehen. Dass die Reporter jedoch keineswegs die Rolle eines unbeteiligten Beobachters einnehmen (eine These, die auch der Protagonist Martens in dem Roman Das Leuchten in der Ferne vertritt) wird in eindeutiger Weise inszeniert, indem auf die Praktik des Bildermanipulierens eingegangen wird: »Das sei ihm [Allmayer] um so lächerlicher erschienen, als er wußte, wie sie manche ihrer Schockbilder überhaupt erst zustande gebracht hatten, war er doch mit den Berichten vertraut, wonach sie sich im Zweifelsfall auch einen schönen Leichenhaufen arrangieren ließen, wenn ihnen die Wirklichkeit nicht schrecklich genug war […].« (Ebd.)

76 DRYNDA, Joanna: Der Schriftsteller als medialer Zaungast einer Kriegskatastrophe. Die Informationsware ›Balkankrieg‹ in den Prosatexten von Gerhard Roth, Peter Handke und Norbert Gstrein, in: Glunz, Claudia/Pełka, Artur/Scheider, Thomas F. (Hrsg.): Information Warfare. Die Rolle der Medien (Literatur, Kunst, Photographie, Film, Fernsehen, Theater, Presse, Korrespondenz) bei der Kriegsdarstellung und -deutung. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 455-466, hier S. 461.

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Auf dieses Verhalten von Journalisten macht auch Sontag aufmerksam, indem sie konstatiert, dass sogar ganze Filmsequenzen nachgestellt worden seien, wenn es dem tatsächlichen Geschehen »an Dramatik gefehlt«77 habe. Auf die Person Sontags selbst wird im Übrigen im Roman direkt angespielt mit der Beschreibung einer »aufgetakelten New Yorker Zicke«, die »vor laufenden Kameras ein Durchschußloch in ihrem knöchellangen Pelzmantel vorgeführt hatte, als wäre es eine Trophäe.« (HT 76)78 Interessanterweise reflektiert und kritisiert der Roman hier das an der literarischen Figur, was auf theoretischer Ebene von Sontag ebenfalls ausgearbeitet wurde: die Inszenierung eines Geschehens, die sich als wirklichkeitsgetreue Abbildung darstellt. Eine derartige Selbstinszenierung wird auch für Bilder von Reportern auf der Romanebene postuliert, indem anekdotisch von einem Fernsehjournalisten berichtet wird, der in einer Splitterweste, an der ein Schild mit seiner Blutgruppe befestigt ist, abgelichtet wurde. Diese Simulation einer bedrohlichen Situation, von der auch das vom Krieg zerstörte Haus im Hintergrund zeugt, wird konterkariert durch den ebenfalls zu sehenden Rücken des Kameramanns, der ohne jeglichen Schutz lediglich ein weißes T-Shirt trägt (vgl. HT 112). So wird der Konstruktionscharakter der Bilder und Reportagen vernehmbar – sie fungieren nicht als Vermittler von ›Wirklichkeit‹, sie überbringen nicht einmal eine spezifische Interpretation von dieser, sondern stellen ›Wirklichkeit‹ zuallererst her.79 Während Paul hier, der dem Ich-Erzähler von diesem Bild erzählt, die damit vollzogene Grenzüberschreitung der Diskursgrenzen mit dem Ausspruch »das Paradoxe des Ganzen« (ebd.) markiert, trägt er an anderer Stelle selbst zu der Verfälschung bzw. Konstruktion zweier Bilder bei, die unter dem Titel »Dalmatische Impressionen« (HT 260f.) in der Zeitung erscheinen. Sie zeigen zwei Ortsschilder mit den Namen »Islam-Grki und IslamLatinski, was kaum symbolträchtiger hätte sein können« (HT 260), wie der IchErzähler kommentiert. Die Besonderheit an den fotografierten Schildern besteht in dem jeweiligen Hintergrund: Während der eine zerstörte Ruinen zeigt, sind auf dem anderen Rohbauten erkennbar (vgl. HT 261), sodass die binäre Struktur von Zerstörung und Aufbau entsteht, die in einem Ort scheinbar zusammenfließt. Signifikanter Weise werden die Fotos ohne einen Kommentar in der Zeitung abgedruckt, der (romanweltliche) Rezipient kann sich daher nur durch die beiden Abbildungen ein eigenes Bild der Situation erarbeiten. Die kritische Auseinandersetzung mit den beiden Fotografien wird für den Leser des Romans erst angestoßen, als die Figur Helena dem Ich-Erzähler berichtet, dass Paul einen großen Aufwand dafür betrieben hatte, die beiden Schilder perspektivisch genau so abzulichten: »›Wäre er für seine Aufnahmen nur wenige Schritte beiseite getreten, hätte er die Motive ohne große Schwierigkeiten vertauschen können.‹« (Ebd.) Auch an dieser Begebenheit zeigt sich, dass die Grenzen, hier symbolisiert auf räumlicher Ebene, zwischen Fakt und Fiktion fließend sind, dass die Abbildungen nicht die Realität widerspiegeln, sondern 77 SONTAG, Susan: Das Leiden anderer betrachten, S. 76. 78 Vgl. ZIMMERMANN, Tanja: Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2014, S. 432. 79 Vgl. dazu auch die Beobachtungen von Martin Löffelholz für Kriegsreporter: LÖFFELHOLZ, Martin: Beobachtung ohne Reflexion? Strukturen und Konzepte der Selbstbeobachtung des modernen Krisenjournalismus, S. 171-191, bes. S. 174.

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inszeniert sind, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Im Hinblick auf den kritischen Kommentar bezüglich des anderen konstruierten Fotos mit dem Reporter in vermeintlich gefährlicher Situation wird zugleich deutlich, dass Paul als Produzent dieser Bilder, der im Grunde nichts anderes hervorbringt als ebenfalls eine perspektivische und intentionale Variation, den eigenen Konstruktionsakt nicht selbst reflektiert. Der Ich-Erzähler, der die Gespräche mit Paul sehr häufig aufgreift, übernimmt hier bemerkenswerterweise nur Helenas implizite Kritik und lässt eine markante Leerstelle bezüglich Pauls Selbstäußerungen, was wiederum auf eine eigene, grenzmarkierende und zweckbestimmte Darstellung des Ich-Erzählers hindeutet. Im Kontext der Konstruktion von Bildern ist eine weitere Romanpassage von Bedeutung. Neben Paul, der die beiden Bilder zwar anfertigte, diese Tätigkeit allerdings nicht hauptberuflich ausübt, äußert sich auch ein professioneller Fotograf, der bei Allmayer war, als dieser erschossen wurde.80 In dem Gespräch mit Paul insistiert der Fotograf nicht nur darauf, wie »ekelhaft« es sei, den Tod Allmayers »auszuschlachten«, sondern spricht auch »über die Scheußlichkeit und Obszönität von unlängst erst in irgendeinem Blatt abgedruckten Bildern, auf denen der Sterbende vor aller Welt ausgesetzt am Straßenrand lag.« (HT 210)81 Zusammengelesen mit den Praktiken der Reporter, die die Inszenierung der Bilder aus dem Kriegsgeschehen betreffen, tritt hier geradezu eine paradoxe Struktur in Erscheinung: Das, was die Bilder auslösen sollen – Emotionalität beim Rezipienten wecken, die Grausamkeit des Geschehens verdeutlichen etc. – erfährt in dem Kontext der Fotografie der Leiche des Kollegen eine andere Bewertung. Die allgemeinen Grundsätze für die (Kriegs-) 80 Auch an diesem inhaltlichen Detail zeigt sich, dass die Romanhandlung von den tatsächlichen Gegebenheiten um den Kriegsreporter Gabriel Grüner abweicht: Der Grüner begleitende Fotograf, Volker Krämer, wurde, ebenso wie der anwesende Dolmetscher, Senol Alit, am 13. Juni 1999 erschossen (vgl. RÖSCH, Gertrud Maria: Wem gehört eine Geschichte? Über die Möglichkeiten und Grenzen der Fiktionalisierung von Realität, in: Conter, Claude D. (Hrsg.): Justitiabilität und Rechtmäßigkeit. Verrechtlichungsprozesse von Literatur und Film in der Moderne (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 73 [2010], S. 217-226, hier S. 217.). 81 Die der Figur in den Mund gelegte Kritik scheint Gstreins eigene an dem in der Zeitung abgedruckten real-historischen Bild des toten Fotografen, der Grüner begleitet hatte, zu sein. Diese Kritik greift der Autor in dem Kommentartext Wem gehört eine Geschichte? nochmals auf: »Ich dachte sofort, das darf nicht sein, eine derartige Abbildung, auf der er [Volker Krämer] schutzlos dalag, wie er tatsächlich dagelegen war, denn auch wenn er in Wirklichkeit nach Stunden von einem Spähtrupp der Bundeswehr geborgen wurde, auf dem Photo blieb er, millionenfach vervielfältigt, für immer so liegen.« (GSTREIN, Norbert: Wem gehört eine Geschichte?, S. 13.) Auch eine erst später erschienene Abbildung des zu dem Zeitpunkt noch lebenden Grüners wird hier kritisiert mit den Worten: »[D]a gab es dann auch ein Bild von Gabriel Grüner, das sich nicht anschauen läßt, ohne daß einem elend wird ob seiner Ausgesetztheit.« (Ebd., S. 14.) Damit lässt Gstrein seine literarische Figur, die an keiner anderen Stelle des Romans in Erscheinung tritt, Gstreins Kritik an der medialen Repräsentation des Bildes seines potentiellen historischen Vorbilds äußern – die Figur beanstandet auf fiktionaler Ebene, wie auf real-historischer mit der Person und ihrem Tod umgegangen wurde.

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Bilder scheinen in diesem speziellen Fall nicht zu gelten, mehr noch: Sie werden als pietätlos und moralisch verwerflich bewertet, weil der Fotograf das abgebildete Opfer kannte. Damit scheint der Grenzziehungsprozess von der Subjektivität bzw. Objektivität des Abgebildeten determiniert zu sein: Wenn das Motiv nicht bekannt ist und damit eine Distanz hergestellt werden kann, scheint es nicht grausam genug sein zu können, wenn die abgebildete Person aus der Sphäre des Eigenen stammt, wird der Schutz des Individuums in den Vordergrund gerückt. So wird das, was durch die Reportagen und Bilder bei den Rezipienten ausgelöst werden soll, von den Produzenten selbst verkehrt. Damit zeigt sich auch die durch die Arbeit der Reporter und Fotografen forcierte Distanzierung zu dem Geschehen: Über das Fremde kann scheinbar ohne moralische Grenzen innerhalb einer »Überbietungsspirale«82 berichtet werden, was den Krieg entmenschlicht und objektiviert. Neben dem Figurenkollektiv der Reporter steht die Figur Allmayer als ihr Repräsentant im Fokus der Erzählung – allerdings aufgrund seines Todes am Anfang des Handlungsverlaufs stets vermittelt durch andere. Durch diese verschiedenen Stimmen wird bereits im Zuge der Charakterisierungen der Privatperson offenkundig, dass nicht eine einheitliche Meinung vorherrscht, sondern viele, sich teilweise stark widersprechende: Während die ehemalige Lebensgefährtin Lilly beispielsweise angibt, dass er von dem Kriegsgeschehen geradezu angezogen wurde, »›weil er sich ohne die Aufregung tot gefühlt hat‹« (HT 328), zeichnet Allmayers Witwe ein Bild eines im Inneren durch den Krieg traumatisierten, gebrochenen Mannes (vgl. HT 232).83 Interessant im Hinblick auf die mediale Darstellung von Krieg ist besonders das von Allmayer verfolgte, idealisierte Konzept seiner Reportagen. Dies wird Paul und dem Ich-Erzähler ebenfalls von Isabella, Allmayers Witwe, darlegt: »›Er hat immer behauptet, man kann dem Krieg nur gerecht werden, wenn man sowohl auf die banalsten als auch auf die scheußlichsten Details eingeht‹« (HT 238). Bemerkenswert ist hier vor allem, dass sich Allmayer – vermittelt durch seine Witwe und auf zweiter Ebene zusätzlich durch den Ich-Erzähler –, der zu der Sphäre der Kriegsreporter gehörte und damit auch ihre Praktiken teilte, dezidiert gegen eine von den Medien transportierte eindimensionale Version vom Krieg ausspricht, für die sein Kollege Schreyvogel in extremer Variante exemplarisch Pate steht. Dessen perspektivische Artikel sind von seiner Identität als »eine[r] Art posthumer Rächer und Verteidiger seiner Familie« (HT 135) geleitet. Das Insistieren auf zwei Seiten, die sich an gegensätzlichen Polen gegenüberstehen erinnert an das vom Ich-Erzähler indirekt aufgegriffene und somit tradierte Lessing’sche Gebot der Figurenzeichnung, die weder eindeutig gut noch eindeutig böse sein darf, um die Figur plausibel zu machen (vgl. HT 137).84 Die in der Reportage zur Pflicht erhobene banale Seite des Krieges 82 RÖTZER, Florian: Das terroristische Wettrüsten, S. 86. 83 In dem Roman wird erwähnt, dass Lilly ein Erinnerungsbuch über Allmayer verfasst hat, das bald nach dessen Tod erschienen ist. Real-historisch hat die Schriftstellerin und Lebensgefährtin Grüners, Beatrix Gerstberger, ein solches Werk mit dem Titel Keine Zeit zum Abschiednehmen. Weiterleben nach seinem Tod geschrieben, das im Frühjahr 2003 im Marion von Schröder Verlag erschien. 84 Der Ich-Erzähler erwähnt Lessing nicht, stellt im Gespräch mit Paul jedoch heraus, dass dessen Figurenzeichnungen plakativ seien: »›Es gibt nichts, was du an ihm nicht abstoßend

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lässt zudem an Hannah Arendts im Zuge des Eichmann-Prozesses in Jerusalem postulierten ›Banalität des Bösen‹ denken, die sich in einem entmystifizierenden Duktus dadurch auszeichnet, dass Eichmann gerade nicht das »größte Ungeheuer, das die Welt je gesehen hat«, sondern vielmehr »schrecklich und erschreckend normal« sei und »diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen«85 sei. Die zahlreichen Diskussionen und Kritikpunkte um Arendts Werk außer Acht gelassen, ist es eben diese festgestellte Normalität, die bezogen auf Allmayers Darstellung eines Kriegsgeschehens, den Krieg neben dem Schrecken auf eine ›menschlichere‹ Ebene zu bringen vermag. Damit wird nicht das Schicksal oder generell Übermenschliches für den Krieg verantwortlich gemacht, sondern Menschen, die im Sinne Lessings sowohl gute als auch böse Charakterzüge tragen, die »mit uns von gleichem Schrot und Korne«86 sind, wodurch für die Rezipienten eine Identifikationsebene hergestellt werden kann. Diese grenzüberschreitende Figurencharakterisierung wird bei Lessing in den Zusammenhang des Mitleidens und der Furcht gestellt: Mitleid kann der Rezipient mit der Figur empfinden, weil er sich mit ihr identi-

darstellst‹, sagte ich. ›Wenn du ihn in deinem Roman auftreten läßt, sollte er vielleicht doch ein paar sympathische Züge haben, damit er glaubwürdig ist.‹« (HT 137) Vgl. zur theoretischen Grundlegung LESSING, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Zweiter Band, in: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 6: Werke 1767-1769, hrsg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985. 85 ARENDT, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem einleitenden Essay von Hans Mommsen. München: Piper 142005, S. 400. Gstrein hat sich an verschiedenen Stellen mit der Zeit des Nationalsozialismus, den daraus resultierenden Verbrechen und den Möglichkeiten einer angemessenen Darstellung auseinandergesetzt und so scheint es auch kein Zufall zu sein, dass der Titel seines Essays Wem gehört eine Geschichte? in Anlehnung an Imre Kertész Abhandlung Wem gehört Auschwitz? formuliert ist, in dem Kertész beispielsweise in kritischer Auseinandersetzung mit dem Film Schindlers Liste von Steven Spielberg dezidiert darlegt, dass in einem »Holocaust-Reflex« die Shoah in ihrer Repräsentation den Menschen, selbst den Zeitzeugen, entfremdet wird: »Der Überlebende wird belehrt, wie er über das denken muß, was er erlebt hat, völlig unabhängig davon, ob und wie sehr dieses Denken mit seinen wirklichen Erfahrungen übereinstimmt;« (KERTÉSZ, Imre: Wem gehört Auschwitz?, in: Die Zeit vom 19.11.1998. http://www.zeit.de/1998/48/Wem_gehoert_Auschwitz_ [letzter Zugriff: 07.06.2017] .) Im Gegensatz zu Gstrein jedoch, der alle Repräsentationsformen des Krieges mit einem »aggressive[n] Nein« (ENCKE, Julia/MANGOLD, Ijoma/GSTREIN, Norbert: »Ich werde bei jeder Berührung mit der Wirklichkeit beklommen.« Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Norbert Gstrein über Jugoslawien, Peter Handke und den Schreibtisch als gefährlichen Ort, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.04.2004, S. 14.) ablehnt, kommt Kertész zu dem Schluss, dass Roberto Benignis Das Leben ist schön gelungen ist, da »[d]er Geist, die Seele dieses Films […] authentisch [sind], dieser Film berührt uns mit der Kraft des ältesten Zaubers, des Märchens.« (KERTÉSZ, Imre: Wem gehört Auschwitz?) So kann auch eine filmische Inszenierung, obwohl deren Requisiten trotz Bemühungen nicht der von Kertész erinnerten Realität entsprechen, eine authentische Darstellung sein. 86 LESSING, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, S. 559.

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fizieren kann, die Furcht bezieht sich auf das, was dem Rezipienten möglichweise selbst widerfahren könnte: »[E]s ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können.«87

Wenn Allmayer also für eine Kriegsdarstellung plädiert, die das Banale wie das Schreckliche in grenzüberschreitender Weise vereint, geht es nicht allein um eine allumfassende Abbildung des Geschehens, sondern auch darum, beim Rezipienten Mitleid und Furcht zu wecken. Diese auf sich selbst bezogenen Komponenten der Rezeption sind in Bezug auf einen Krieg, der in der Fremde stattfindet, besonders wichtig. Damit steht allein schon Allmayers Grundlage, einem Krieg durch eine spezifische Darstellung gerecht werden zu wollen, diametral zu dem Ansatz, möglichst Sensationelles zu berichten, weshalb sich Allmayer von den Praktiken der anderen Reporter abzusetzen scheint. Gestützt wird dies auch von der Aussage der Witwe, dass ihm im Kontext der Kriegsberichterstattung »keiner mehr etwas [habe] recht machen können« (HT 236). Allmayers Kritik bezieht sich dabei einerseits auf die vermeintlich wissenschaftlichen Experten, »die Narren […], sogenannte Balkankenner« (HT 237) sowie auf erschienene Reiseberichte, hier wird auf die Schriftstellerin Juli Zeh angespielt,88 die als »verrannte Romantikerin« bezeichnet wird, »die es für das größte Abenteuer hielt, wenn sie unter freiem Himmel auf die Straße pinkelte und mit ihrem Hund in jede Minenabsperrung absichtlich hineintappte, um dann aller Welt per SMS direkt vom Ort des Geschehens mitteilen zu können, in welcher Gefahr sie sich befand.« (HT 236) Andererseits bezieht sich Allmayers Kritik auch auf die unternommenen Hilfsversuche, die von der Politik angestrebt worden sind: »[S]ein Lieblingsspruch war allem Anschein nach, selbst die Fütterung der Ärmsten in den eingeschlossenen Gebieten in Ostbosnien hätten über die Jahre doch kaum mehr gebracht als die Gewißheit, daß wenigstens ein paar Todeskandidaten, von einer Granate zerfetzt, mit vollem Bauch starben.« (HT 237) Die an dieser Stelle im Roman besonders kritischen Äußerungen und Reflexionen sowohl hinsichtlich der narrativen Erzeugnisse über den Krieg als auch der Hilfsangebote verweisen auf Allmayers, auf Erfahrung basierende, pessimistische Haltung und zugleich auf die Abkehr von den Praktiken des Figurenkollektivs der Kriegsreporter, was ihn als eine bewegliche Figur erscheinen lässt. An prägnanter Stelle am Anfang des Romans werden indes die von Allmayer selbst verfassten Reportagen aufgegriffen, die in der Logik dieser Kritik gelesen (die im Handlungsverlauf erst später von der Witwe erläutert wird) ein allumfassendes Bild des Geschehens zeichnen müssten. Eingeleitet wird die Artikelsammlung, die Paul dem Ich-Erzähler übergibt, mit den bedeutungsträchtigen Worten: »›Die Reportagen beginnen mit den Schießereien an der österreichisch-slowenischen Grenze und enden im Kosovo […]. Dazwischen liegen fast genau acht Jahre und Hunderttausende von Toten.‹« (HT 51) Diesen Eindruck ver87 Ebd., S. 556. 88 Vgl. ZIMMERMANN, Tanja: Der Balkan zwischen Ost und West, S. 432.

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stärken auch die resümierenden Aussagen des Ich-Erzählers über die Artikel. Besonders einprägsam scheinen die Grausamkeiten zu sein, die Allmayer anführt: »Die Beispiele, die er aufzählte, waren so zahlreich, daß ich mich über nichts gewundert hätte, anscheinend gab es keine Grenzen dafür, was man mit dem menschlichen Körper alles anrichten konnte, und ich staunte nur, welche Phantasien bis dahin mehr oder weniger unbescholtene Leute, wie man wohl sagen mußte, entwickelt haben sollen, was für ein Vergnügen, einen Gefangenen zu zwingen, einem anderen die Hoden abzubeißen und sie vor ihm zu essen, einer Schwangeren den Bauch aufzuschlitzen, einem Kind am Arm seiner Mutter die Kehle durchzuschneiden und ihr das Gesicht in den hervorspritzenden Blutstrahl zu drücken oder eine Frau unter den Augen ihres sterbenden Vaters zu vergewaltigen.« (HT 57)

Die detailreiche Darstellung umfasst zumindest einen Punkt von Allmayers Konzept einer zweiseitigen journalistischen Wiedergabe des Geschehens: den Schrecken. Zu den Banalitäten des Krieges, so Drynda, gehöre seine »schonungslose mediale Inszenierung«89, gegen die sich die drei Hauptfiguren auf unterschiedliche Art wehren würden.90 Während die von der Witwe wiedergegebene Konzeption Allmayers durchaus auf eine Abwehr der journalistischen Vereinnahmung des Krieges hindeuten mag, scheint die Zusammenfassung der Artikel dies jedoch nicht zu bestätigen. So wird von dem Ich-Erzähler im Anschluss direkt die interessante Feststellung gemacht: »[J]e mehr Details er [Allmayer] ausbreitete, um so mehr schienen sie sich gegenseitig auszulöschen, schienen noch die größten Abscheulichkeiten im einmal vorgegebenen Rahmen am Ende normal zu sein.« (HT 58) Damit tritt in der Rezeption der Artikel nicht die in Anlehnung an Lessing konzipierte Gefühlslage von Furcht und Schrecken ein, sondern es wird vielmehr ein Normalfeld konstituiert, das den Maßstab für die Grausamkeiten mittels der Strategie eines flexiblen Normalismus so weit absteckt, dass die Beispiele in diesem Kontext als Kriegsnormalität gelten und zugleich keine Identifikationsebene oder Implikationen moralischer Erziehung bieten. Gegen die Annahme, dass sich Allmayer gegen eine journalistische Vereinnahmung des Krieges in seinen eigenen Reportagen zur Wehr setzt, spricht auch der vom Ich-Erzähler herausgestellte schlechte Schreibstil der Artikel, den Paul, mit 89 DRYNDA, Joanna: Der Schriftsteller als medialer Zaungast einer Kriegskatastrophe, S. 461. 90 Interessanterweise wird der größte formulierte Kritikpunkt, dass die Medien von politischer Seite als Legitimationsgrundlage missbraucht würden, kaum ersichtlich. Büttner und Kladzinski halten dazu für das außerliterarische Geschehen fest: »Die Tatsache, dass in Demokratien die Politik Legitimation braucht, zwingt die Politiker dazu, sich den Regeln der medialen Präsentation anzupassen. Dies bringt mediale politische Argumentation leicht in die Nähe zur Werbung für industrielle Produktion« (BÜTTNER, Christian/KLADZINSKI, Magdalena: Krieg und Medien – Zwischen Information, Inszenierung und Zensur, in: Frech, Siegfried/Trummer Peter I. (Hrsg.): Neue Kriege. Akteure, Gewaltmärkte, Ökonomie. Schwalbach: Wochenschau 2005, S. 167-186, hier S. 168.). Die auf einer dichotomischen Struktur beruhende Kritik, dass auf der einen Seite Politik die Medien ausnutze und auf der anderen Seite die Medien parteilich seien, wird dementsprechend einseitig aufgegriffen – auf den Medien selbst liegt das Hauptaugenmerk, was mit der gänzlich unpolitischen Haltung des Romans auch in Bezug auf die Darstellung des Krieges kongruiert.

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dieser Meinung konfrontiert, mit den Vorgaben der Zeitung begründet: »›Wenn man es allen recht machen will, stimmt am Ende meistens nicht mehr viel.‹« (HT 62) Der so gegebene Hinweis auf das diskursiv ausgehandelte Feld der Medien zeigt, dass Allmayer trotz seiner angeblichen Idealvorstellung der Berichterstattung nicht außerhalb dieses Feldes steht, sondern ebenso ein disponiertes Subjekt ist, das »für seine schonungsbedürftigen Leser in ihren Wohnzimmern« (HT 60) schreibt. In diesem Sinne kann auch eine andere Passage verstanden werden, die darauf aufmerksam macht, dass die Rezipienten eines Artikels einen »Skandal« darin ausmachten, dass einem Kriegsakteur die Gelegenheit geboten worden ist, »sich in Szene zu setzen, einem mutmaßlichen Mörder, ihn nicht zur Rede zu stellen und statt dessen frei daherschwadronieren zu lassen« (HT 68). Auch hier wird demonstriert, dass eine allumfassende Beschreibung – zu der ja auch die Seite der Kriegsakteure zählen würde – gar nicht erwünscht ist, die von der Leserschaft gesetzten Grenzen sollen nicht überschritten werden, sodass in dem Roman Das Handwerk des Tötens eine zweiseitige Determination der Berichterstattung ersichtlich wird: Die Grenzen des Diskurses der Medien in Bezug auf die mediale Darstellung der Kriege werden sowohl durch die Reporter als auch durch die Rezipienten gezogen und tradiert. An einer einzigen Stelle wird die detailreiche Beschreibung des Schreckens von Allmayer durch eine Leerstelle ersetzt. Nach dem Besuch serbischer und kroatischer Gefangenenlager »war [Allmayer] sich bewußt geworden, daß er den Insassen nicht die richtigen Fragen gestellt hatte, weil die Antworten allzu klar waren, hatte mit ihnen nur geredet, um schließlich zu schweigen, wie er voll Pathos schrieb, kein Wort mehr zu sagen, nur seinen Blick abzuwenden vor Scham« (HT 60). Dieses Schweigen, das vom Kriegsreporter so prägnant in Szene gesetzt wird, ist nur ein vordergründiges. Denn er schreibt in seinem Artikel schließlich, dass er schweigen wird und konstruiert so eine Leerstelle, die dem Leser auffallen muss. Dass er gerade im Zusammenhang der Gefangenenlager schweigt, zeigt deutlich, dass er als Reporter einen relevanten Bereich der Auswirkungen des Krieges nicht in Worte fassen kann. Dieser offensichtlichen, da selbst benannten Leerstelle, die einer allumfassenden Berichterstattung Allmayers bereits im Ansatz entgegensteht, wird noch eine weitere hinzugefügt, die den Reporter selbst betrifft. Im Verlauf der Erzählung wird an verschiedenen Stellen ein Interview erwähnt, dass Allmayer mit dem kroatischen Kriegsherrn Slavko, einem »unberechenbaren Finsterling […] an der slawonischen Front nicht weit von der serbischen Grenze« (HT 64f.) geführt hatte. Der Hauptaspekt des Gesprächs umfasst die Frage nach dem Gefühl bei der Tötung eines Menschen. Diese aufgrund ihrer subjektiven und emotionalen Konstitution ohnehin nur schwer zu beantwortende Frage wird in der Reportage kaum erläutert, die Unterhaltung mit Slavko sei, so der Ich-Erzähler, der den aus diesem Interview entstandenen Artikel zusammenfasst, nicht ergiebig gewesen: »Er sagte ihm nichts Überraschendes, wenn er eingestand, daß es zuerst schwer sei, abzudrücken […]. Abgesehen von dem Bekenntnis, daß er sich nur nach dem ersten Mal gewünscht hatte, alles ungeschehen machen zu können, […] brachte er kaum etwas aus ihm heraus« (HT 67f.). Im weiteren Verlauf der Romanhandlung trifft sich Paul im Zuge seiner Recherchen gemeinsam mit Helena und dem Ich-Erzähler mit diesem Mann, um ihn über Allmayer zu befragen. Erst dabei tritt neben die Darstellung des Artikels eine andere Version der Begegnung zwischen dem Reporter und dem Kriegsakteur. Dieses Gespräch zwischen den vier Figuren findet symbolisch bedeutsam in antithetischer Haltung

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zum Kriegsraum an einem touristischen Ort statt, in dem er als »Entertainer« (HT 305) arbeitet. Nach Allmayer gefragt, gibt Slavko nicht nur an, dass er für ihn »einer von uns gewesen« (HT 306) sei, sondern belustigt sich zugleich auch über Allmayers Schutzweste und erzählt im anekdotischen Redestil: »[S]ie hätten sie lachend einer nach dem anderen anprobiert und ihn gefragt, was er damit vorhabe, ewig zu leben oder sich zu kasteien, oder ob es ein Keuschheitsgürtel war, den er nur verkehrt herum angezogen hatte.« (HT 307) Dieser Hinweis, der nicht nur eine ambivalente Wahrnehmung Allmayers als einerseits zugehörig zu der Gruppe der Kämpfer und andererseits als »Greenhorn« (ebd.) markiert, zeigt merklich die schlechte Ausstattung der Kriegsakteure, die offenbar mit einigen Gegenständen, die zu der standardmäßigen Ausrüstung einer regulären staatlichen Armee gehören, nicht umgehen können. Die Bezeichnung Allmayers als unwissender Neuling widerspricht zunächst seiner umfassenden, durch die zahlreichen Artikel bestätigten Erfahrung innerhalb der Sphäre des Krieges, erklärt sich aber, wenn Slavko auf das Hauptmoment des Interviews – der Frage nach dem Töten – zu sprechen kommt: »Er [Slavko] schien richtiggehend geschmeichelt zu sein, so, wie er gurrte, ein Fachmann, der sich freute, daß ihm Erfahrung zugestanden wurde. […] ›Sie mögen sich wie er [gemeint ist Allmayer] den Kopf darüber zerbrechen, solange Sie wollen, aber bevor Sie es nicht selbst getan haben, bleibt alles Gerede.‹« (HT 307f.) Markant wird hier, durch welchen Mechanismus die Grenze gezogen wird: Nach Slavko sind die Menschen in zwei Gruppen geteilt – in diejenigen, die getötet haben und diejenigen, die es nicht getan haben. Zu welcher Sphäre sich der Kriegsakteur zählt, ist selbstverständlich, allerdings bleibt die Frage offen, warum er Allmayer als zugehörig bestimmt. Ein Grund könnte die spezifische Situation des Gesprächs sein, mehrfach macht der IchErzähler deutlich, dass Paul Slavko für die Informationen bezahlt und er den Eindruck hat, der Kriegsherr könnte lediglich die Rolle des »Bösewicht[s]« (HT 309) spielen. Damit wird er, die einzige Figur, die zu den Akteuren des Krieges zählt, als Zeuge wahrhafter Begebenheiten ebenso wie seine Aussagen bezüglich Allmayer direkt als fragwürdig gekennzeichnet. Ein anderer möglicher Grund dafür wird erst am Ende des Romans im letzten Kapitel angeführt, als Paul, Helena und der Ich-Erzähler ein von der Witwe ausgehändigtes Tonband anhören, auf dem das oben bereits angesprochene Interview zwischen dem Kriegsherrn und Allmayer aufgezeichnet wurde. Auch hier wird eine Selbstinszenierung Slavkos nicht ausgeschlossen, der Ich-Erzähler kommentiert: »[W]ie sehr ihn seine eigene Wirkung interessierte, zeigte sich nicht zuletzt darin, daß er wissen wollte, bei welcher Zeitung Allmayer war.« (HT 339) Für eine etwaige authentische Darstellung spricht hingegen, dass der Kämpfer anscheinend nicht wusste, dass das Tonband das Gespräch aufzeichnet (vgl. ebd.). Kernpunkt der Aufnahme bildet der abgegebene Schuss auf einen gefangengenommenen Serben, nachdem Allmayer von dem Kroaten genötigt wurde, ein Gewehr in die Hände zu nehmen. Slavko schickt den Gefangenen in Richtung der serbischen Linie und drängt Allmayer, sich die Frage nach dem Gefühl während der Tötung eines Menschen durch eigene Erfahrung nun selbst zu beantworten (vgl. HT 349). Unklar bleibt indes, ob wirklich Allmayer geschossen hat, vor allem auch aufgrund der Reaktion Slavkos, der seine Männer fragt, »welcher Idiot geschossen hatte« (HT

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350) – wäre der Reporter dem Drängen Slavkos nachgekommen, hätte sich dieser wohl kaum über den Schuss gewundert und wüsste zudem, wer ihn abgegeben hat.91 Trotzdem bleibt eine Ungewissheit über den genauen Tathergang, was nicht zuletzt dem Audiomedium geschuldet ist, dessen Qualität darüber hinaus noch schlecht ist (vgl. HT 338).92 So wird das Strukturmerkmal des Romans, alles in der Schwebe zu belassen, einen Möglichkeitsraum für verschiedene Versionen der Wahrheit zu eröffnen, sich aber für keine zu entscheiden, auch in diesem Zusammenhang überaus prägnant inszeniert. Obwohl unklar ist, ob sich der Kriegsreporter wirklich schuldig gemacht hat und vom vornehmlich dokumentierenden Beobachter zum tötenden Akteur wurde, ist die Diskrepanz zwischen dem Geschehen, von dem das Tonband zeugt, und Allmayers später veröffentlichtem Artikel, der diese Begebenheit, die bedrohliche Atmosphäre, in der das Interview stattfand, die Gruppe der Kämpfer und den toten Serben schlicht auslässt, deutlich. Der Grund für Allmayers Schweigen liegt jedoch nicht (nur) an seiner potentiellen Mitschuld, sondern auch darin, dass er von einem Mann bedroht wurde, so sein ehemaliger Kollege Schreyvogel, und darüber hinaus, für den Fall, dass er »die Botschaft […] noch nicht verstanden hätte« (HT 358), wurde der bei dem Interview ebenfalls anwesende Dolmetscher erschossen (vgl. ebd.). Somit wird durch die Inszenierung des Tonbandes nicht nur selbiges als unsicheres Medium entlarvt, sondern auch gezeigt, dass die Reportage den entscheidenden Punkt ausgespart hat. Damit wird Allmayers Vorstellung einer Kriegsreportage in den Bereich des Idealismus verwiesen, selbst seine eigenen Artikel zeigen nicht alle Seiten des Krieges. Zugleich wird Allmayer damit als unbewegliche Figur ausgewiesen. Auch wenn sich seine Theorie von den Praktiken der anderen Journalisten unterscheiden mag, er überschreitet nicht die Grenze in einen anderen Raum. Insgesamt wird so jedoch eine grenzüberschreitende Medienkritik93 gezeigt, die herausstellt, dass kein journalisti91 Ungeachtet dessen wird häufig an genau dieser Stelle die mögliche Schuld Allmayers ausgemacht. Vgl. bspw. KARPENSTEIN-ESSBACH, Christa: Orte der Grausamkeit, S. 26. 92 Scheichl macht in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass der Verweis auf den »von Mal zu Mal dünner« (HT 351) klingenden Ton beim Wiederholen des Bandes »nicht nur eine akustische Information [ist], sondern […] auch die seelische Reaktion des Erzählers wieder[gibt].« (SCHEICHL, Sigurd Paul: Ein Echo der Letzten Tage der Menschheit in Norbert Gstreins Handwerk des Tötens, in: Glunz, Claudia/Pełka, Artur/Scheider, Thomas F. (Hrsg.): Information Warfare. Die Rolle der Medien (Literatur, Kunst, Photographie, Film, Fernsehen, Theater, Presse, Korrespondenz) bei der Kriegsdarstellung und -deutung. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 467-476, hier S. 473.) 93 Scheichl indes hält fest, dass das Thema des Romans weniger die Medienkritik sei, »sondern vielmehr die Sogwirkung des Krieges selbst auf jene, die Distanz wahren und über ihn nur berichten sollen« (SCHEICHL, Sigurd Paul: Ein Echo der Letzten Tage der Menschheit in Norbert Gstreins Handwerk des Tötens, S. 475.). Diese Lesart ist insofern problematisch, da sie von der zweifelhaften Prämisse ausgeht, dass es einen unbeteiligten, neutralen Beobachter, der das Kriegsgeschehen objektiv vermittelt, tatsächlich geben kann. Dagegen sprechen nicht nur die für außerliterarische Akteure des Medienfeldes angeführten Gesichtspunkte, die eine neutrale Berichterstattung aufgrund ökonomischer, politscher etc. Aspekte innerhalb der Medienkonkurrenz in Abrede stellen, sondern auch die in dem Ro-

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sches Medium – weder ein Foto, eine Reportage noch eine Tonbandaufnahme – ein umfassendes und Wirklichkeit abbildendes Bild vom Krieg erstellen kann. 2.2.4 Reflexionen zur literarischen Darstellung des Krieges Nach der Absage an die bildlichen und journalistischen Formen bleibt noch der literarische Raum als Möglichkeit einer angemessenen Darstellung des Krieges, der in Das Handwerk des Tötens auf verschiedenen Ebenen reflektiert wird: Zum einen nimmt die Beschreibung von Pauls Buchprojekt den Großteil des Romans ein – in steter kommentatorischer und reflexiver Auseinandersetzung des Ich-Erzählers –, zum anderen werden Schriftsteller und Schriftstellerinnen wie Peter Handke und Juli Zeh indirekt erwähnt sowie ein Gespräch mit einem in Kroatien lebenden Autor explizit beschrieben. Noch vor der Erwähnung von Pauls Schreibanlass, dem Tod Allmayers, wird eine grenzüberschreitende Verbindung zwischen Schriftstellern und Journalisten vorgestellt, indem dargelegt wird, dass es zwar ein »Klischee [sei], in jedem Journalisten einen verhinderten Schriftsteller zu sehen« (HT 16), allerdings zeugen nicht nur die vom Ich-Erzähler direkt im Anschluss angeführten zahlreichen Gespräche mit Reportern, die sich der Literatur zuwenden möchten, sondern vor allem auch die beiden bei einer Zeitung beschäftigten Protagonisten Paul und der Ich-Erzähler selbst von dieser Verbindung. Diese überrascht zunächst, da die beiden Bereiche Literatur und Journalismus bis auf die Narration (im Fall von Reportagen) doch stark voneinander geschieden sind. Die Grenze zwischen ihnen bezieht sich hauptsächlich auf die mit den beiden Teilräumen verbundene Assoziation von Berichten und Erzählen. Während der Journalismus von Gegebenheiten bzw. vermeintlichen Fakten berichtet, die geschehen sind, ist die Literatur grundsätzlich in dem Bereich der Fiktion angesiedelt und ist damit nicht der wie auch immer gearteten Realität verpflichtet. Da in der kritischen Reflexion des journalistischen Bereichs bereits erkennbar wurde, dass vermeintliche Fakten eben nicht die Realität wiedergeben, scheint Potential in der fiktionalen Darstellung des Krieges zu liegen. Paul, der die rhetorische Frage stellt »›Wer sonst soll sie [die Geschichte über Allmayer] erzählen, wenn nicht ich?‹« (HT 36), markiert einen Besitzanspruch, der auf der gleichen unausweichlichen Argumentationsstruktur basiert, wie die vermeintliche Pflicht der Kriegsreporter, noch das schrecklichste Bild in den Medien zu zeigen. Die persönliche Beziehung zwischen Paul und Allmayer wird zur legitimierenden Grundlage der Autorschaft erhoben. Der Ich-Erzähler, der eine Pietätlosigkeit darin ausmacht, »Allmayers Tod so zu betrachten, sein Unglück im Hinblick auf eine spätere Verwertbarkeit zu sehen, noch bevor er begraben war« (ebd.), kommentiert das Romanprojekt im Anschluss mit dem bedeutungsträchtigen Satz: »›Ein Toter macht noch keinen Roman.‹« (HT 37) Interessanterweise wird später ersichtlich, dass es wiederum der Tod von Paul ist, der den Schreibanlass für den Roman des Ichman selbst vorgeführten Praktiken des Figurenkollektivs der Journalisten, die Gegebenheiten konstruieren und so eine Wirklichkeit erst hervorbringen. Auch Allmayer, der sich von den Praktiken vermeintlich distanziert, ist ein disponiertes Subjekt, der innerhalb des von Diskursgrenzen umschlossenen Normalfeldes agiert.

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Erzählers bildet, er damit ebenso das vergangene Leben und den Tod eines Freundes literarisch verarbeitet. Besonders auffällig an Pauls Romanprojekt, das bereits den zweiten Versuch der Grenzüberschreitung vom Journalisten zum Schriftsteller darstellt,94 ist die penibel betriebene Recherche. Deren Ergebnisse sind jedoch durch die Anlage des Romans, die häufig ein zwei- bis dreifach gebrochenes Erzählen evoziert, gefiltert: »Diese Filter sind bedingt durch die unterschiedlichen Motiven [sic] an der Aufklärung des Todes Allmayers sowie den immer mitschwingenden privaten Interessen der involvierten Figuren.«95 Ungeachtet dessen nehmen diese so bereits im Vorfeld voreingenommenen, durch die Recherche gewonnenen Informationen für Paul einen hohen Stellenwert ein, Allmayers Reportagen bezeichnet er versehentlich sogar als »Dokumente[…]« (HT 51). Trotzdem werden sie, wie der Ich-Erzähler an verschiedenen Stellen festhält, von Paul mit Fiktion vermischt: »Mir wurde schwindlig davon, und ich hätte ihn gern unterbrochen, hätte sein Monologisieren am liebsten abgetan wie das Brabbeln eines Kindes, so sehr gingen für mich Fiktion und Wirklichkeit durcheinander« (HT 36). Die Vermischung evozierende Grenzüberschreitung von Fakt und Fiktion wird nicht nur in dem Bereich des Romans erzeugt, sondern wird in gesteigerter Form auch maßgeblich für Pauls Leben. So bemerkt der Ich-Erzähler nicht nur mehrfach, dass Paul in einem »Akt der Selbstvergewisserung« (HT 253) an ihm verschiedene Szenen des Romans vor dem Schreibprozess »erprobt« (HT 47), sondern auch seine Freundin, die Paul als »ersten Verbindungsoffizier zu seiner Romanwirklichkeit« (HT 39) bezeichnet, wird in diesem Gestus zu einer Romanfigur. Jedoch wird diese nicht an die romanweltliche Helena angepasst, sondern umgekehrt: Paul konstruiert die Wirklichkeit, damit sie zu seiner literarischen Figur passt, was am Ende kumuliert in ihrem literarischen Tod, den er plant (vgl. HT 374f.). Wenn Paul jedoch in rechtfertigender Haltung erklärt, dass die literarische Verarbeitung einer Begebenheit zwar nicht so stattgefunden habe, aber es immerhin möglich gewesen wäre (vgl. HT 125), deutet dies darauf hin, dass er sich zumindest temporär trotz gegenläufiger Handhabung des Unterschieds grundsätzlich bewusst ist und verweist zugleich auch auf sein poetologisches Konzept, dass sich an seiner Recherchearbeit und den daraus gewonnenen Fakten orientiert. Diese werden so konstruiert, dass sie zu seinem zuvor etablierten Bild passen, was sich beispielsweise daran zeigt, dass er Allmayers Witwe widerspricht: »Darauf erwiderte Paul, er könne sich das kaum vorstellen, und es klang auf eine Weise brüsk, als würde er ihr damit etwas streitig machen wollen.« (HT 231) Diese Haltung manifestiert sich auch darin, dass Paul nach mehrfachem Hören des Tonbandes, das das Interview mit Slavko aufgezeichnet hat, zumindest vordergründig keinen Zweifel an Allmayers Unschuld hegt: »Ich weiß nicht, ob er sich in seinem Urteil so sicher war, wie er danach tat, ob für ihn tatsächlich feststand, daß Allmayer unmöglich den Schuß abgegeben haben konnte, oder ob er nur den Gedanken nicht an sich heranließ und ihm allein schon die Möglichkeit reichte, auch wenn sie noch so gering war.« (HT 353) Zu dem Bild, das er sich von Allmayer gemacht hat und das in seiner Romanfigur umgesetzt werden 94 Der erste Versuch scheiterte, wird aber ebenfalls mit der Figur Allmayer verknüpft, da sich Paul und dieser bei einem Literaturwettbewerb kennenlernten, wodurch das literarische Schreiben Pauls gleich in zweifacher Hinsicht mit Allmayer verbunden ist. 95 BRAUN, Peter: Im Trümmerfeld des Faktischen, S. 253.

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soll, scheint die Option eines Mörders nicht zu passen, was neben zahlreichen anderen Stellen darauf hindeutet, dass Paul den Kriegsreporter in seinem Roman zu einem Helden, zu einer »Ikone der engagierten unvoreingenommenen Berichterstattung«96 hochstilisieren will. In dem Versuch, eine sinnhafte Erzählung zu verfassen, die im Hinblick auf den Todeszeitpunkt Allmayers nach dem Krieg besonders relevant erscheint – der sinnlose Tod muss in heroischem Duktus zu einem sinnvollen erhoben werden –, nimmt Paul Allmayers Leben auseinander und setzt es neu zusammen, »als wäre es dann wahrhaftiger« (HT 132). Seiner Feststellung, dass es keine Hinweise im Leben des Kriegsreporters gegeben habe, die auf seine Ermordung hindeuten, was es »natürlich ganz besonders leicht [macht], ihm etwas anzudichten« (HT 94), steht sein akribischer Versuch entgegen, einen Zusammenhang zwischen dem Interview mit Slavko und der Tötung Allmayers herzustellen, wobei er sich, so der Kommentar des IchErzählers, in »absurde Theorien […] verrannte, die in der Annahme gipfelten, es sollte damit ein möglicher Belastungszeuge ausgeschaltet werden« (HT 72). Eine derartige »Verschwörungstheorie« stellt für den Ich-Erzähler lediglich ein »narratives Muster, eine allzu bekannte und stereotype plot-Struktur aus Agenten- und Kriminalromanen [dar], die Paul der Geschichte des Todes Allmayers überstülpt.«97 Dass Paul, der von der ungeklärten Ermordung des Serben zu dem Zeitpunkt nichts wusste, nicht so weit von einer potentiellen Realität entfernt war – zwar steht die Tötung Allmayers wahrscheinlich nicht in direktem Zusammenhang mit Slavko, jedenfalls wird dies in dem Roman nicht deutlich, jedoch wurde er genötigt, seinen Artikel in eine »schöne Geschichte« (HT 358) zu wandeln – bleibt ein interessanter Aspekt im Hinblick auf die retrospektive Erzählhaltung des Ich-Erzählers, der in seiner Schreibgegenwart Kenntnis davon hat, und signalisiert damit eindringlich die Lenkungsabsicht des Lesers. Der von Paul verwendete Schreibstil ist neben dem Konstruktionscharakter des Romans und der grenzüberschreitenden Haltung von Fakt und Fiktion ein weiterer Kritikpunkt des Ich-Erzählers. Bereits für die Reiseberichte, die Paul für die Zeitung schreibt, wird eine »gängige Formel« festgestellt, die Stereotype und austauschbare Allgemeinplätze beinhaltet, wie »freundliche Leute, sonnige Länder und ein bißchen Exotik, ein bißchen Folklore, die er immer und überall anwenden konnte, mochte der Weltuntergang bevorstehen oder nicht.« (HT 21) Im Zusammenhang der Platzierung der Reiseberichte innerhalb der hierarchischen Bewertungsstruktur der Zeitungsressorts wird hier die diese Berichte auszeichnende Entfernung von der Realität markant inszeniert. Die relevanten politischen Gegebenheiten werden ausgespart, es bleiben lediglich Plattitüden. Einer Kritik ähnlicher Stoßrichtung werden auch die Artikel Allmayers unterzogen, deren »Totschlagwörter« (HT 62) selbst Paul nicht ignorieren kann. »Um so verwunderlicher war es, daß er [Allmayer] selbst so oft danebengriff, daß er immer gleich die Ustascha herbeibeschwören mußte und genauso inflationär von den Tschetniks sprach, daß ein Gewehr nicht ein Gewehr sein konnte, es war selbstverständlich eine Kalaschnikow […].« (HT 61) Während Paul den Schreibstil des Kriegsreporters, der »Abklatsch und Abgegriffenes« ungeachtet seines Erfah96 DRYNDA, Joanna: Der Schriftsteller als medialer Zaungast einer Kriegskatastrophe, S. 462. 97 BRAUN, Peter: Im Trümmerfeld des Faktischen, S. 255f., Herv. i.O.

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rungsraums als »integrale Elemente und gängige Gestaltungsmittel seiner angeblichen Tatsachenberichte«98 vorweist, mit dem Hinweis auf die Zeitungsvorgaben in Schutz zu nehmen weiß, lehnt er seinen eigenen ebenfalls hier an. Um einen großen Leserkreis zu gewinnen, versucht er möglichst viele klischeehafte Darstellungen des Balkans in seinem Roman zu vereinen.99 Diesen »schablonenhaft[en]« (HT 130) Schreibstil Pauls kommentiert der Ich-Erzähler: »Es war sichtlich auf Effekt bedacht, wie er darüber sprach, und ich fragte ihn spöttisch, ob er keine Angst hatte, eine für Pädagoginnen verträgliche Version des Landserromans zu produzieren« (ebd.). Der Balkankrieg indes wird auf eine »dramatisch-bühnengerechte Kulisse«100 zusammengeschrumpft, er steht nicht im Zentrum, sondern dient lediglich als literarisch-ästhetisches Mittel zur Erzeugung von Spannung. Aus dieser, bereits in seinen Reiseberichten erkennbar gewordenen, explizit unpolitischen Haltung heraus kann Paul dem äußerst unsympathisch gezeichneten, österreichischen Schriftsteller Waldner, den er in Kroatien gemeinsam mit dem Ich-Erzähler aufsucht, auch vorwerfen, dass er »über angebliche Massaker geschrieben [habe], noch bevor es überhaupt die ersten Toten gegeben hat« (HT 295), was die Folge gehabt hätte, dass »es dann beim kleinsten Anlaß besonders grausam zugegangen ist, weil sich alle haben einreden können, sie müßten ihr Leben verteidigen.« (HT 296) Damit wird auf der einen Seite der Vorwurf einer geschichtsverfälschenden Dramatisierung des Geschehenen und auf der anderen Seite die damit hervorgehobene Wirkung narrativer Texte im Kontext eines Krieges gezeigt. In diesem Diskurs scheint, so der Vorwurf, die Rezeption der Texte als Legitimation für Gewalt gedient zu haben. Anders gewichtet ist die Kritik des Ich-Erzählers an einem anderen Schriftsteller, die, ohne namentliche Erwähnung, auf Peter Handke verweist.101 Beanstandet wird vor allem »seine Folgerung, das Gerede von einem schwer zu erklärenden Gefühl der Authentizität, das daraus entsprang, die Gefahr gewählt zu haben. Es war der Gemeinplatz, sich in seinem Beruf unentwegt existenziellen Herausforderungen stellen zu müssen, wie er schrieb, zusammen mit dem Gestus, der Selbstherrlichkeit, in der er den Krieg zum Experimentierfeld für seine Erfahrungen machte […].« (HT 74f.)

Die Suggestion von Authentizität der schriftstellerischen Erzeugnisse, ohne sich jedoch ein Bild von der Kriegswirklichkeit gemacht zu haben, den Krieg vielmehr als Experimentierfeld zu (be-)nutzen, wird hier moniert.102 Das strukturbildende Moment des Romans umfasst so die Kritik an der Darstellung des Krieges, die sich an den drei männlichen Figuren aufspannt: Allmayer miss98

DRYNDA, Joanna: Der Schriftsteller als medialer Zaungast einer Kriegskatastrophe, S. 463. 99 Vgl. ebd. 100 WENDE, Waltraud ›Wara‹: Als erstes stirbt immer die Wahrheit, S. 175. 101 Vgl. MARX, Friedhelm: Kriegsgeschichten der Gegenwart. Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens, in: Braungart, Wolfgang/Laak, Lothar van (Hrsg.): Gegenwart – Literatur – Geschichte. Zur Literatur nach 1945. Heidelberg: Winter 2013, S. 111-118, hier S. 116. 102 Vgl. dazu auch ebd.

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billigt andere journalistische Erzeugnisse sowie Darstellungen der »schönen Literatur« (HT 158), Paul unterstellt den meisten Journalisten, nicht dazu in der Lage zu sein, über den Krieg zu berichten und kritisiert den Schriftsteller Waldner für seine Darlegung vermeintlich falscher Fakten und der Ich-Erzähler kritisiert sowohl literarische Erzeugnisse, primär Pauls Schreibversuche, als auch Allmayers Artikel. Die Auseinandersetzungen zwischen Paul und dem Ich-Erzähler,103 das »ambivalente Verhältnis latenter Konkurrenz, eine Mischung aus Anziehung und Abstoßung«104, die teilweise in Diskussionen ausgetragen werden und teilweise durch die gedachten Kommentare des Erzählers erst im Rezeptionsakt für den Leser ersichtlich sind, zeigen prägnant den dialektischen Charakter der Grenze: das Trennen und das Verbinden. Denn während vordergründig die trennende Funktion durch die Abwehr und die Zweifel des Ich-Erzählers an Paul hervorgehoben wird, beziehen sich die Figuren doch immer wieder aufeinander und auf andere, wodurch die grundlegende Notwendigkeit für ihre Kritik in einer Verbindung zum Tragen kommt. Neumann, der in dieser Konstellation »zwei Topiken des Erzählens« ausmacht, hält fest: »Indem die Erzähler sich in ein Verhältnis zur Wirklichkeit setzen, das darauf angewiesen ist, die eigene Legitimation durch die Denunziation anderer zu betreiben, markieren sie Abhängigkeiten, von denen sich die Bedeutung des eigenen Standpunktes nicht zu emanzipieren vermag. Sie begeben sich in das Feld einer erzählerischen Konkurrenz, die in der symbolischen Ordnung des Romans ausagiert wird.«105

Pauls Strategie einer authentizitätssuggerierenden Vermischung von Fakt und Fiktion, die zwar auf akribischer Recherche beruht, aber zugunsten eines spannungsreichen Plots von der vermeintlichen Wirklichkeit abweicht, scheitert. Sein Selbstmord wird direkt mit dem Schreiben verbunden, indem er, ohne ein Manuskript oder auch 103 Lovri beschreibt das Verhältnis der beiden Protagonisten mit den Begriffen Dekonstruktion und Hermeneutik und vergleicht ihre Diskussionen mit der real-historischen Auseinandersetzung zwischen Derrida und Gadamer in den 1980er Jahren (vgl. LOVRI, Goran: Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens, S. 220.). Der Analogie ist insofern zuzustimmen, als dass Paul im Duktus seiner Erzählhaltung versucht, eine sinnhafte Re-Konstruktion von Allmayers Leben in seinem Roman zu zeichnen und der Ich-Erzähler dieses Verfahren kommentierend reflektiert und damit zugleich auch dekonstruiert. Allerdings ist sich Paul, wie bereits gezeigt wurde, des Konstruktionscharakters bewusst, begründet er doch mehrfach, dass der Verlauf hätte so sein können, auch wenn es nicht so war. Die Kommentare zu Pauls Recherche- und Schreibprozess indes sind nicht frei von Intentionen des Ich-Erzählers, d.h. er versucht nicht, eine Struktur freizulegen, sondern sich explizit von Paul zu distanzieren. Zudem zeichnet sich der Roman – der in der Logik der Erzählung das Produkt des Ich-Erzählers darstellt, den er nach Pauls Suizid verfasste – trotz der Vielstimmigkeit durch einen klaren und ›sinnhaften‹ Handlungsverlauf aus. 104 BRAUN, Peter: Im Trümmerfeld des Faktischen, S. 253. 105 NEUMANN, Michael: Diskretes Begehren. Zur symbolischen Konfiguration postsouveränen Erzählens in Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42 (2012), S. 55-66, hier S. 60.

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nur Notizen zu seinem Romanprojekt zu hinterlassen, auf einem Blatt den Abschiedssatz notiert: »Ich werde nicht mehr schreiben.« (HT 380)106 Diese intertextuelle Anspielung auf das Werk Paveses mit dem den Romantitel umkehrenden Titel Das Handwerk des Lebens, zeigt auch auf, dass »eine literarische Re-Konstruktion des nicht Vorstellbaren […] nicht möglich [ist]. Der Krieg und das Kriegserleben Allmayers, Töten und Tod – Inbegriff aller Grenzerfahrungen – sind post festum nicht authentisch fixierbar, und sie können schon gar nicht in präzise Satzgefüge mit konstruierten Spannungsbögen transformiert werden.«107

Paul, der sich als bewegliche Figur zwischen den Bereichen von Fakt und Fiktion, Journalist und Schriftsteller hin und her bewegt, scheitert an der Beschreibung der existenziellen Grenzerfahrung – dem Tod. Die durch seinen Suizid hervorgebrachte Grenzüberschreitung kann er nicht mehr literarisch verarbeiten. So kann festgehalten werden, dass keine der hier vorgestellten medialen Erzeugnisse – weder journalistische, akustische und visuelle noch literarische Darstellungsformen – den Krieg in angemessener Form repräsentieren können. Die Literatur bringt entweder falsche Fakten mit verheerenden Auswirkungen hervor (Waldner), der Krieg wird lediglich als Experimentierfeld oder um sich selbst in Szene zu setzen genutzt (Handke, Zeh, Sontag) oder es findet eine extreme Verklärung von Personen statt, die den Krieg auf eine kulissenhafte Existenz reduziert (Paul). 2.2.5 Balkankrieg Nach der Metareflexion und kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Darstellung soll zum Schluss erörtert werden, wie der Balkankrieg in dem Roman Das Handwerk des Tötens selbst inszeniert wird. Neben der vermittelten Erzählhaltung eines nicht in den Krieg Involvierten zeichnet sich die Erzählung dadurch aus, dass die Handlung erst nach den Zerfallkriegen Jugoslawiens verläuft. So gelangen nur wenige Merkmale des Krieges zur Anschauung. Wenn beispielsweise in dreifach vermittelter Perspektive vom Ich-Erzähler der Inhalt des Gesprächs zwischen Paul und seiner ehemaligen Frau wiedergegeben wird (das wiederum auf der Grundlage eines Gesprächs zwischen dieser mit Allmayer basiert), in dem es um das Verhalten der Bevölkerung vor dem Kriegsbeginn geht, wie die Fenster zu barrikadieren oder 106 Braun hält dazu fest, dass die Figur Paul in ihrer Anspielung auf Pavese, in dessen Tagebuch tatsächlich ebenfalls die Rede vom Scheitern ist, übersieht, was dieser Autor zu dem Zeitpunkt seines Suizids auf literarischer Ebene bereits geleistet habe, wodurch Pauls »›Geste‹ […] zugleich anmaßend und lächerlich« wirke. (BRAUN, Peter: Im Trümmerfeld des Faktischen, S. 258.) Im Zuge einer intertextuellen Interpretation ist dieser Aussage zuzustimmen, jedoch wird dabei nicht beachtet, dass Paul sich in seiner Rolle als Schriftsteller durchaus ernst nimmt, was sich auch in seinem zunehmenden Realitätsverlust manifestiert. Wenn der von ihm evozierte Vergleich mit einem anderen, zumal erfolgreichen Autor von außen betrachtet anmaßend wirken mag, scheint dies aus der Sicht der Figur aufgrund ihrer Psychologisierung nicht gegeben zu sein. 107 WENDE, Waltraud ›Wara‹: Als erstes stirbt immer die Wahrheit, S. 176.

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möglichst große Lebensmittelvorräte einzukaufen (vgl. HT 117), gehört das sicherlich zu den Erscheinungen des Krieges, ist jedoch nicht spezifisch für die Jugoslawienkriege oder die neuen Kriege. In diesem Sinne hält auch der Ich-Erzähler fest, dass sie »die üblichen Begleiterscheinungen einer sich wie nach dem Lehrbuch anbahnenden Katastrophe« (ebd.) seien. Andere Spezifika, wie die äußerst heterogenen Ethnien und Religionszugehörigkeiten108 der Regionen, finden kaum Erwähnung, außer wenn der Ich-Erzähler im ironischen Ton die Sprechweise des »Musterschüler[s]« Paul kommentiert, »möglichst nicht von den Serben oder den Kroaten zu sprechen, oder, wenn es unabdingbar war, nicht den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, daß er die Begriffe rein geographisch verstand.« (HT 121) Dennoch wird ein zentrales Charakteristikum an mehreren Stellen deutlich: die durch Entmilitarisierung und Asymmetrie der Gewalt hervorgebrachte Unüberschaubarkeit des Kriegsgeschehens, das für die neuen Kriege im Allgemeinen und für die Jugoslawienkriege im Besonderen kennzeichnend ist. So werden beispielsweise nicht nur die internationalen Truppen erwähnt (vgl. HT 28), sondern auch zahlreiche andere substaatliche Kriegsakteure, beispielsweise »irreguläre[…] Truppen« (HT 127): »Am Ende war es eine ganze Heerschar von Leuten, die er [Allmayer] im Lauf der Jahre getroffen haben mußte, Leute aus den unterschiedlichsten Lagern, die ihm ihre Version der Geschichte erzählt hatten, Armeegeneräle, die ihn entweder jovial in ihren Villen oder in voller Kampfmontur im Gelände empfingen und so taten, als wäre der Krieg nur ein Geschäft, nicht schmutziger als andere, Freischärler und Milizionäre in absurden Uniformen, die sich mit ihren Schandtaten brüsteten, Söldner aus halb Europa, von denen manche auf allen Seiten gekämpft hatten, und andere Figuren, Hasardeure, für die das Wort Abenteurer eine Schmeichelei war.« (HT 59f.)

Damit wird auf der einen Seite das auch von Münkler für die neuen Kriege ausgemachte Merkmal der Entmilitarisierung inszeniert, indem auf verschiedene Kriegsakteure außerhalb einer staatlichen Armee eingegangen wird. Auf der anderen Seite wird bereits hier illustriert, was später explizit ausformuliert wird: die Unüberschaubarkeit des Kriegsgeschehens, hier vorgeführt an dem Figurenkollektiv der Söldner, die für beide Seiten kämpfen und durch ihr transgressives Verhalten eine Unterscheidung der involvierten Seiten erschweren. Hinzu kommt noch die von Allmayer in einem seiner Artikel aufgenommene »Beteuerung, die auf der anderen Seite seien ihre Nachbarn gewesen, ihre Arbeitskollegen, sie wären zwei Jahre davor noch gemeinsam zum Schwimmen an die Donau gefahren […].« (HT 67) Die Grenze zwischen den kriegführenden Parteien wird somit nicht nur durch die grenzüberschreitenden Söldner, sondern auch durch andere Akteure hervorgehoben, die Grenze zwischen den Parteien verläuft zwischen Nachbarn und innerhalb von Familien, wodurch die Inklusionsmerkmale der gegnerischen Gruppierungen kaum greifbar werden und das Kriegsgeschehen insgesamt auch auf einer moralischen Ebene umso fragwürdiger erscheint. Auch die Zahl der Opfer scheint keine Übersichtlichkeit über die Gemengelage verschaffen zu können, führen sie doch »ihr eigenes, gespenstisches Leben« (HT 106) in den Kriegsstatistiken weiter, wovon der Krieg, wie nicht 108 Vgl. KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege, S. 54f.

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ohne Sarkasmus vom Ich-Erzähler erläutert wird, schließlich lebt (vgl. HT 127). Damit wird auch die theoretisierende Praktik, den Krieg in vermeintlich objektiven Zahlen auszudrücken, kritisiert bzw. die Praktik als nicht objektive, sondern als intentionale bestimmt. An dem Kriegsherrn Slavko, der von Allmayer an der Front interviewt wurde, wird ein Warlord exemplarisch näher vorgeführt. Auch dieser erhellt das direkte Kriegsgeschehen neben der Tatsache, dass er Anführer einer paramilitärischen Gruppe war, lediglich mit der Beschuldigung der »Kanaillen auf der anderen Seite« (HT 308), einer äußerst grausamen Methode der Kriegsführung nachgegangen zu sein, die darin bestand, keine gezielt tödlichen Schüsse abzugeben, sondern zuerst auf die Knie zu zielen, um den so wehrlos gemachten Kämpfern dann mit Messern die Kehlen durchzuschneiden. Gezielte Fragen nach Allmayer oder einem von ihm beschriebenen Gefangenenaustausch indes lässt Slavko »einfach an sich abprallen« (HT 306). Hingegen wirft seine Aussage »wir sollten uns von der Friedlichkeit nicht täuschen lassen, der bosnische Krieg hätte hier und nicht, wie alle glaubten, in Sarajevo begonnen« (HT 313) zunächst eine ganze Reihe von Fragen auf, verweist damit aber indirekt auf ein ebenfalls speziell den Balkankriegen, aber auch im Allgemeinen den neuen Kriegen zugesprochenes Merkmal der zeitlichen Entgrenzung – der genaue Beginn kann aufgrund des Verzichts einer offiziellen Kriegserklärung oftmals ebenso wenig festgehalten werden, wie die Gründe für ein Kriegsgeschehen auf ein einziges, homogenes Moment zurückgeführt werden können. Dies gilt besonders im Rahmen der Jugoslawienkriege, die nicht nur unterschiedliche beteiligte Länder, verschiedene Etappen, Kriege im Krieg und sogenannte ›ethnische Säuberungen‹ umfassen, sondern sich auch über den langen Zeitraum von 1914 bis zum »Doppelkrieg« 1999, dem Krieg Slobodan Miloševis im Kosovo und der Intervention der NATO, erstrecken.109 Der einzige in dem Roman dargestellte nachweisliche Kriegsakteur wird so zu einem unsicheren Erzähler, der im Gestus eines Entertainers und seine Taten im Nachhinein rechtfertigenden Verteidigers (vgl. HT 304) wenig zu der retrospektiven Darstellung des Krieges beiträgt. Unterstützt wird das Charakteristikum der Unüberschaubarkeit der Jugoslawienkriege zusätzlich, indem der Ich-Erzähler nach der Rezeption von Allmayers Artikel eingesteht, dass er viele der Orte nicht kannte, »geschweige daß ich sie buchstabieren könnte, oder auch nur auseinanderhalten, wer dort wen umgebracht hatte« (HT 57f.). Dies kulminiert in der Aussage, dass der Ich-Erzähler gar nicht erst versucht, sich »in dem Durcheinander zurechtzufinden« (HT 58). Diese unpolitische Haltung, die an verschiedenen Bemerkungen des Ich-Erzählers deutlich wird, kritisiert dieser zugleich an Paul und seinem Romanprojekt. An der einzigen Stelle, die das ausgestellte Desinteresse an der politisch verwobenen Situation durch direktes Wahrnehmen des Ich-Erzählers aufhebt und damit das indirekte Erzählverhalten aufgibt,110 zeigt sich zugleich die Schwierigkeit, aus den Spuren des Krieges im Nachhinein ein Bild des Kriegsgeschehens zu rekonstruieren: »[S]ooft ich versuchte, aus den Überresten eine 109 Vgl. MELI, Dunja: Vorwort, in: Dies. (Hrsg.): Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 11-13, hier S. 12. 110 Vgl. BRAUN, Peter: Im Trümmerfeld des Faktischen, S. 257.

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Geschichte herauszulesen, versagte meine Vorstellung« (HT 283). Das Moment der Sichtbarmachung des Krieges an »Phänomenen der Abwesenheit« ist, wie Düwell feststellt, »selbst ein literarisches Klischee der Literatur nach 1945« geworden und habe die Funktion, »das eigene Schreiben mit Bedeutsamkeit aufzuladen.«111 Sie kritisiert in diesem Kontext den betont unpolitischen, metareflexiven Duktus des Romans: »In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob aktuelle politische Ereignisse für Gstrein nicht primär einen Anlass zur autoreflexiven Auseinandersetzung mit Repräsentationsformen und sprachlichen Stereotypen bilden, wobei der politische Konflikt relativ beliebig erscheint und vor allem verschiedene Formen indirekter Darstellung, perspektivischer Relativierung und Reflexion initiiert. Die Ignoranz gegenüber den konkreten politischen Verhältnissen leistet zumindest einer problematischen Universalisierung des Krieges Vorschub.«112

Das dezidierte Auslassen von Ursachen und Verlauf des Krieges kann demnach nicht, wie es Lovri interpretiert, dazu führen, dass sich der Leser selbst eine Meinung bildet und die Wahrheit entdeckt,113 da ihm für einen solchen Konstruktionsakt jegliche relevanten Information fehlen. Auch die von Lovri angeführte Polyphonie gibt dafür keine Hilfestellung, da sie weniger um das Kriegsgeschehen als vielmehr um Allmayer und seinen Charakter kreist. Obwohl der Roman sich von dem »epochalen Bruch« speist, der die »Rückkehr des Krieges nach Europa markiert«114, verschwindet der Krieg hinter der Metareflexion medialer Darstellungsverfahren und wird selbst kaum zum reflektierten Thema, was zu seiner »Universalisierung«115 führt: »Die Repräsentationskritik, die in Gstreins Roman durch den Ich-Erzähler formuliert wird, verfügt darüber hinaus über einen derartigen Grad an Allgemeinheit, dass sie unspezifisch wird und der Krieg in Jugoslawien mitunter lediglich als Aufhänger für geschichtsphilosophische Betrachtungen erscheint.«116 Andersherum betrachtet wird dem zentralen Charakteristikum der Unüberschaubarkeit auf inhaltlicher Ebene durch die ohne weitere Erklärungen dargebrachten Anspielungen entsprochen. Der Rezipient kann sich in diesem Sinne kein Bild von den Ereignissen des Jugoslawienkrieges machen, das würde jedoch auch der Poetologie Gstreins entgegenstehen, die »das Mittel der Fiktion einsetzt, um den Pathosformeln von Authentizität, von Unmittelbarkeit und Augenzeugenschaft zu entkommen und zu begegnen.«117 Nicht 111 DÜWELL, Susanne: »Ein Toter macht noch keinen Roman«. Repräsentationen des Jugoslawienkrieges bei Peter Handke und Norbert Gstrein, in: Jaeger, Stephan/Petersen, Christer (Hrsg.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Bd. 2: Ideologisierung und Entideologisierung. Kiel: Ludwig 2006, S. 92-117, hier S. 113. 112 Ebd., S. 109. 113 Vgl. LOVRI, Goran: Erzählen aus dritter Hand in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens, S. 230. 114 NEUMANN, Michael: Diskretes Begehren, S. 65. 115 DÜWELL, Susanne: »Ein Toter macht noch keinen Roman«, S. 116. 116 Ebd., S. 113. 117 WEIGEL, Sigrid: Norbert Gstreins hohe Kunst der Perspektive. Fiktion auf dem Schauplatz der Recherchen, in: Manuskripte 162 (2003), S. 107-110, hier S. 108.

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der Krieg, sondern der kritisierte Umgang mit ihm wird ausgestellt, was Müller-Funk als »Ethik der Ästhetik« interpretiert: »Diese Ethik ist ästhetisch amalgamiert: sie attestiert den überkommenen narrativen Mustern nicht so sehr ästhetisches Versagen als vielmehr Mangel an – ethischer – Reflexion.«118 So wird auch die Literatur in die Sphäre überführt, in der es keine Unschuld am Krieg geben kann, sie nimmt eine Position im Geflecht von Krieg und seiner Darstellung ein, mit der eine Verantwortung einhergeht. Um der etwaigen Faszinationskraft des Themas Krieg zu entgehen, wird das Thema selbst weitestgehend ausgespart. So werden in dem Roman auf einer metareflexiven Ebene die Grenzen des Diskurses ausgelotet und problematisiert: Im Bereich der Medien werden die Informationen nicht nur durch interne Konkurrenzen und Journalisten determiniert, sondern auch durch die Leserschaft, die eine bestimmte Art der Kriegsdarstellung erwartet und Grenzüberschreitungen sanktioniert. Im Bereich der Literatur werden sowohl die Schriftsteller kritisiert, die den Krieg lediglich benutzen, als auch die gleichen stereotypen narrativen Muster, die zu einem einheitlichen Bild führen, den Krieg damit aber nicht repräsentieren können. Die damit häufig einhergehende Ununterscheidbarkeit von Fakt und Fiktion führt zu einem Entgrenzungsmechanismus, der allen Bereichen gleichermaßen abspricht, den Krieg repräsentieren zu können. Damit wird auf verschiedenen Ebenen eine direkt beschreibende Darstellung des Krieges kritisiert, mit anderen Worten: Es kann keine narrative oder bildliche Beschreibung des Krieges geben, die ihm gerecht wird oder die eine Abbildung der Realität umfasst. Die Konsequenz der kategorischen Absage an alle Repräsentationsformen beinhaltet jedoch, dass der Roman selbst nicht dazu in der Lage ist, den Krieg zu beschreiben. Die umfassende Kritik bringt somit keinen neuen Versuch einer Darstellung des Krieges hervor, sondern verortet den Krieg in der Sphäre der Unbestimmtheit. Die Hervorhebung einer vernachlässigten ethischen Dimension der Darstellung kann so nur in ihrer Negation in Erscheinung treten.

118 MÜLLER-FUNK, Wolfgang: Komplex Österreich, S. 382.

3. Terroristen – Figuren aus der Sphäre des Anderen

In dem Spannungsverhältnis von Eigenem und Fremdem, von Freund und Feind bilden die Kriegsakteure der gegnerischen Seite den extremen Pol des Anderen. Besonders prononciert tritt dies im Fall der Terroristen hervor: ›Fremd‹ im Sinne eines relationalen Begriffs bezieht sich nicht nur auf das Gedankengut, besonders wenn es sich um radikale Religionsauslegungen handelt, sondern vor allem auch auf die darauf basierenden Handlungen. Diese können nicht mehr mit den Kategorien des Eigenen klassifiziert werden, weshalb sie als absolut Fremdes erscheinen. Das Phänomen Terrorismus ist damit zum einen ein hoch aktuelles und zum anderen auch ein nur schwer greifbares, was nicht zuletzt an den netzwerkartigen Strukturen der zumeist verdeckt operierenden Organisationen liegt. Während Arbeiten aus dem Bereich der Politologie häufig auf der Basis von beobachteten Ereignissen Thesen entwerfen, ist gerade die Literatur mit den ihr eigenen Mitteln dazu in der Lage, konkrete Ereignisse und Figuren in der Fiktion zu beschreiben. Als literarisches Motiv ist die Erfahrung des Fremden gerade im Zuge der Globalisierung, die Fremdes nicht negiert, sondern durch die »fast grenzenlose Verwestlichung«1 spezifische Strukturen und Verhältnisse erst sichtbar macht, besonders bemerkenswert: »Die Erfahrung des Fremden als absolut Anderem changiert […] zwischen dem Begehren, etwas Neues zu entdecken und der Angst vor der Bedrohung, die von diesem Neuem ausgeht.«2 Diese Ambivalenz von gleichzeitiger Neugier und Angst ist für die Beschäftigung mit Terroristen, die das Extrem des Fremden darstellen, besonders wirksam. Die beiden Romane Ein Zimmer in Haus des Krieges von Christoph Peters und Das dunkle Schiff von Sherko Fatah stellen genau diese sich zu radikal religiösen Fundamentalisten entwickelnden Figuren in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen. Die Handlungsräume der beiden Romane sind dabei spiegelbildlich: Während der Ursprungsraum des Terroristen Sawatzky in Peters’ Roman Deutschland ist, er sich hier zu einem ›homegrown terrorist‹ entwickelt und später in dem fremden Raum

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WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen. Zum Verhältnis von Ethik und Narration in philosophischen und literarischen Texten der Gegenwart. München: Fink 2013, S. 203. Ebd.

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Ägypten agiert, ist Kerim in Fatahs Roman im Irak beheimatet und gelangt erst durch die Flucht vor den Gotteskriegern nach Deutschland, wodurch er sich in den Raum des Eigenen der Leserschaft integriert. Doch auch in dieser vermeintlich friedlichen Umgebung kommt er wieder in den Kontakt mit den Islamisten und wird schließlich von einem Mitglied der Terrororganisation umgebracht. Somit zeigen beide Romane eine spezifische Verbindung zwischen Terrorismus und dem literarischen Raum Deutschland, die deutlich macht, dass Terrorismus kein weitentferntes und ›fremdes‹ Problem darstellt, sondern auch in die deutsche Gesellschaft verweist. Etwas anders gelagert ist hingegen der Roman Guantánamo von Dorothea Dieckmann, der einen in dem titelgebenden Raum inhaftierten Deutschen fokussiert. Dieser scheint nur durch einen unglücklichen Zufall in diese Situation gekommen zu sein, die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld verschwimmen durch die repressiven Praktiken der Macht innerhalb der Lagerordnung jedoch.

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3.1 G ESCHEITERTE T RANSGRESSION . C HRISTOPH P ETERS ’ E IN Z IMMER IM H AUS

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3.1.1 Inhalt An dem Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges3 hat Christoph Peters eigenen Angaben zufolge zehn Jahre lang gearbeitet.4 Der Autor hat sich in diesem Werk einer hochaktuellen Thematik angenommen: dem islamistischen Terrorismus. Obwohl die Handlung dem Jahr 1993 zugeordnet ist, ist das 2006 erschienene Werk ein exemplarisches Beispiel für ein »Produkt seines Jahrzehnts«, da sich »die Problematik des Geschehens in ihrer Brisanz erst aus der Konstellation der traumatischen Jahre im Gefolge von 9/11«5 ergibt. Der Handlungsschauplatz des Romans ist Ägypten und geht laut Peters auf zwei seiner Reisen von 1993 und 1995, »während der Hochzeit des islamistischen Terrors gegen Touristen«6, zurück.7 In dem literarischen Text stehen zwei männlichen Figuren im Zentrum: der zum muslimischen Glauben konvertierte und radikalisierte Jochen Sawatzky8 und der in Ägypten arbeitende deutsche Botschafter Claus Cismar. Sawatzky gehört einer Gruppe muslimischer Fundamentalisten an, die ein Attentat auf eine als touristisches Ziel besonders beliebte Tempelanlage in Luxor geplant haben. Der Anschlag wird jedoch bereits im Vorfeld durch ägyptische Streitkräfte vereitelt, stattdessen kommt es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung der Terroristen mit dem ägyptischen Militär. Nach Sawatzkys Festnahme versucht Cismar in seiner Funktion als deutscher Botschafter dem Inhaf3

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In diesem Kapitel wird die folgende Ausgabe mit der Sigle HK und der entsprechenden Seitenzahl zitiert: PETERS, Christoph: Ein Zimmer im Haus des Krieges. München: btb 2008. Vgl. KREKELER, Elmar: »Gott ist nicht hinterm Mond«, in: Die Welt vom 21.09.2006. http://www.welt.de/kultur/article154470/Gott-ist-nicht-hinterm-Mond.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]. TAKEDA, Arata: Inkorporierte Kulturkonflikte. Interaktion der Kulturen im Körper des Terroristen am Beispiel von Christoph Peters’ Ein Zimmer im Haus des Krieges (2006), in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3 (2012), S. 25-38, hier S. 29. ENCKE, Julia: »Ich war ein katholischer Fundamentalist«. Interview, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.02.2006. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/literaturich-war-ein-katholischer-fundamentalist-1302505.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]. Der Schauplatz Ägypten könnte zugleich auch auf das Pamphlet »al-Faridda al ghaiba« von Adb as-Salam Farag verweisen, in dem die Konzeption des Dschihad radikalisiert wird und in dessen Zentrum die »Propagierung des bewaffneten Kampfes gegen die ägyptische Regierung, die nicht den islamischen Grundsätzen entsprechend regiert«, steht. »Das Ziel des Jihad sei die Errichtung eines islamischen Staates und stelle eine religiöse Pflicht dar, welche von Muslimen vernachlässigt worden sei.« (SARHAN, Aladdin: Der Jihad – ein islamischer Freibrief für den Terror?, in: Frank, Michael C./Mahleke, Kirsten (Hrsg.): Kultur und Terror. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2010), S. 53-68, hier S. 62.) In dem Roman nennt sich Jochen Sawatzky, nachdem er zum Islam konvertiert ist, ›Abdallah‹, ein Name, der aber lediglich im ersten Teil aufgegriffen wird. Aufgrund der Einheitlichkeit wird hier nur der Name Sawatzky benutzt.

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tierten bessere Haftbedingungen zu verschaffen und die Gerichtsverhandlung nach Deutschland zu verlegen, um die ihm in Ägypten drohende Hinrichtung zu verhindern. Dass dieser Versuch scheitern wird, zeichnet sich im Laufe der Erzählung merklich ab und so endet der Roman mit einer amtlichen Notiz, die von der ungefähr zwei Wochen nach dem ausgesprochenen Todesurteil stattgefundenen Hinrichtung Sawatzkys berichtet. An den Antagonisten manifestieren sich die beiden primären Funktionen der Grenze: Sie trennt die beiden Figuren und die ihnen jeweils zugeschriebenen Sphären voneinander im Sinne einer unüberschreitbaren Linie, verbindet sie aber auch zugleich, und zwar auf der Ebene des Scheiterns: Sowohl der Anschlag auf die Tempelanlage in Luxor als auch Sawatzkys höchstes Ziel, als Gotteskrieger im Kampf für Gott zu sterben, werden im Vorfeld vereitelt. Durch sein eskapistisches Verhalten scheitert auch Cismar hinsichtlich seiner Aufgabe als Botschafter und als Privatperson bei dem Versuch, Sawatzky zu ›verstehen‹. 3.1.2 Formale Grenzen Bereits in dem metaphorischen Titel des Romans deutet sich eine erste Grenze an. Mit dem ›Haus des Krieges‹ wird auf eine von muslimischen Juristen im Zuge der Debatte um den Dschihad um das Jahr 1000 vorgenommene Unterteilung verwiesen: die Differenzierung von zwei sich diametral gegenüberstehenden Häusern9 – das ›Haus des Islam‹ und das ›Haus des Krieges‹.10 Diese entsprechen durchaus geogra-

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Josef van Ess merkt in diesem Zusammenhang an, dass andere Juristen zwischen weiteren, ganz unterschiedlich gearteten »Häusern« unterscheiden, die innerhalb des Islams errichtet werden. Grenzen verlaufen somit auch auf juristisch-theologischer Ebene innerhalb der Glaubensgemeinschaft (vgl. ESS, Josef van: Dschihad gestern und heute, S. 70.). 10 Die Differenzierung der Häuser und die damit verbundenen Regelungen in Bezug auf den Dschihad ist, wie bereits angesprochen, in erster Linie eine juristische, die sich durchaus von der Praxis unterscheiden konnte. Zudem ist sie, ebenso wie die verschiedenen Variationen der Koranauslegung, einerseits in historischer Perspektive zu betrachten und stellt andererseits keine homogene Entscheidung dar, sondern war umstritten. So wurde beispielsweise auch diskutiert, ob jeder Muslim zur Teilnahme am Dschihad verpflichtet sei oder nicht, ebenso wie eine friedliche Auslegung des Begriffs: »Man solle […] solange es keine Gelegenheit gebe, in ehrenhafter Weise den äußeren Feind zu bekämpfen, lieber dem Feind, den man in sich selber trage, nämlich der Triebseele (nafs), den Krieg erklären.« (Ebd., S. 74f.) Nachdem es verschiedene, teilweise sehr erfolgreiche, Versuche gab, den Dschihad zu entmilitarisieren, trat erst, wie van Ess festhält, in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der sogenannten ›Reformbewegung‹ wieder eine kriegerische Komponente in den Vordergrund. Die in der Koranexegese ausgearbeitete Chronologie des Korans wurde von den Reformern nicht mehr beachtet, wodurch grobe Widersprüche zutage traten, gegen die die Fundamentalisten protestierten: »Durch diesen Protest verschwanden auch andere Denkfiguren wieder aus der Diskussion. Der Dschihad wurde unter den Fundamentalisten wieder zu einer Soll-Vorschrift für alle, wie es im Koran stand; er war nicht mehr nur eine Pflicht für diejenigen, die ohnehin kämpfen wollten (und vielleicht sogar dafür bezahlt wurden), wie die Juristen gesagt hatten.« (Ebd., S. 21.) Durch diesen Perspektiv-

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phischen Gebieten, welche jedoch nicht durch Staatsgrenzen, sondern aufgrund des Kriteriums der Religion voneinander geschieden werden: Während im ›Haus des Islam‹ das Recht und Gesetzt des Islam gilt und diese Religion als die einzig wahre angesehen wird, leben im ›Haus des Krieges‹ hingegen die ›Ungläubigen‹, die den Islam nicht als einzige Religion anerkennen, weshalb der Dschihad in dem nichtislamischen Gebiet erlaubt ist: »Krieg (arb) ist also Mittel oder Ausdrucksform des Dschihad, und der bewaffnete Dschihad ist deswegen nicht gut an sich, sondern ›gut, weil etwas anderes gut ist‹ (asan li-usni airih), nämlich die Befreiung der Welt vom Unglauben.«11 Damit bringt der Roman nicht nur ein im Islam traditionsreiches Gedankenkonstrukt ein, sondern deutet bereits im Titel auf das zentrale Moment des Werkes hin: die Unterscheidung der Menschen nach ihrer religiösen Ausrichtung, was eine entlang der ganzen Menschheit verlaufende Grenze konstituiert, die zwei Räume voneinander scheidet – auf der einen Seite stehen die den Glauben praktizierenden Moslems und auf der anderen Seite die Menschen, die nicht dem Islam angehören.12 Die Religionszugehörigkeit wird zum Kriterium der In- bzw. Exklusion, das die sozialen Gruppen hervorbringt und das die durch die Grenze unterteilten Bereiche definiert. Auf der Grundlage dieser Einteilung der Welt mittels religiöser Praktiken der jeweiligen Gebiete werden dann die Kriegshandlungen in dieser spezifischen Auslegung von juristisch-theoretischer Seite legitimiert. Neben das ›Haus des Krieges‹, verstanden als metaphorischer und geographischer Raum, wird der Zusatz ›ein Zimmer‹ gestellt. Haus und Zimmer sind im Allgemeinen durch ein reziprokes Verhältnis zueinander bestimmt. Das Zimmer ist zum einen ein separater, durch Wände, Türen etc. abgegrenzter, eigenständiger Bereich des Hauses. Zugleich ist es jedoch lediglich ein Teil des Hauses, es gehört zu ihm, aber es ist eins von mehreren. Zum anderen besteht die Spezifik eines Zimmers darin, dass es alleine, ohne das Haus, nicht existieren kann. Übertragen auf die Thematik deutet dies darauf hin, dass ein einzelner Gläubiger ohne den Rückhalt anderer nicht existieren kann, erst in der Gemeinschaft erstarkt er. Der Protagonist Jochen Sawatzky kann so als eine eigenständig und bewusst handelnde Figur gelesen werden, was die Tatsache, dass es sich hier um einen Konvertiten handelt, dessen Grenzüberschreitung der Religionen eine aktive und reflektierte Entscheidung für den muslimischen Glauben impliziert, im Besonderen unterstreicht. Trotzdem kann er nur in der Gruppe, in der Einheit bestehen. Da er aber nur einen Teil der Gruppe der Islamisten ausmacht, repräsentiert er diese zwar, aber nicht allein, die literarische Darstellung dieses Terroristen erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Holthaus und Lange interpretieren den Titel dahingehend, dass es sich bei dem Zimmer um die Gefängnis- bzw.

wechsel, erlangten auch die Strukturen der Unterscheidung der Häuser wieder Relevanz, die sich in einigen Auslegungen auch heute noch wiederfinden. 11 Ebd., S. 70, Herv. i.O. 12 Wie sich später zeigen wird, gibt es neben dieser generellen Unterteilung noch eine weitere Ausdifferenzierung innerhalb der Gruppe der Moslems selbst: Diejenigen, die für ihren Glauben Krieg führen, grenzen sich von den Moslems, die dies nicht tun, entschieden ab.

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Todeszelle Sawatzkys handelt.13 Dieser Ansatz impliziert jedoch, dass das ›Haus des Krieges‹ auf der metaphorischen Ebene eben nur aus Gefängniszellen bestünde14 und damit gleichsam stets eine kriminelle Konnotation nahelegt, was die Zuschreibung von außen stark betont und damit zum einen die Innenperspektive des Protagonisten, die den ersten Teil des Romans in Gänze einnimmt, und zum anderen die durch den Titel explizit vorgenommene Einschreibung in ein Gedankenkonstrukt aus der islamischen Tradition vernachlässigt.15 Dem Werk vorgeschaltet ist ein Paratext in Form zweier Zitate, das eine von Baruch de Spinoza, das andere von Takeshi Kitano. Genette, der diese Art von Paratexten als ›Motti‹ des literarischen Textes bezeichnet,16 führt aus, dass diese eine Schwelle, eine Übergangszone zu dem literarischen Haupttext darstellen, da sie weder dem Innen noch dem Außen des Buches zugeordnet werden können, sondern eine Position des Dazwischen einnehmen. Zudem fungieren sie als »Kommentar zum Text, dessen Bedeutung auf diese Weise indirekt präzisiert oder hervorgehoben wird.«17 In dem ersten von Baruch de Spinoza stammenden Zitat wird der Versuch expliziert, »die menschlichen Verhältnisse nicht ins Lächerliche zu ziehen, sie weder zu bedauern noch zu verurteilen, sondern sie zu verstehen.« (HK 7) So wird das im Roman eine zentrale Stellung einnehmende Bestreben bereits im Paratext ausgewiesen: Der Wunsch, die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu überwinden, sich näher zu kommen, indem man den Anderen – seine Haltung, seine Einstellung, seine Denkweise – versteht. Dies versucht auf der Handlungsebene mit Nachdruck der Botschafter Claus Cismar, dessen Ziel die Grenzüberschreitung zwischen sich und Jochen Sawatzky ist. Der kommentatorische Paratext wirbt jedoch auch auf der Rezipientenebene um den Willen, andere zu verstehen.18 Das Ziel besteht also nicht in der Bewertung oder Verurteilung einer bestimmten Einstellung bzw. einer Person, sondern es geht vielmehr um das Bestreben, etwas nahezubringen, das dem Rezipienten potentiell als fremd erscheint. Inhärent ist hier eine Kritik an der Einstel-

13 Vgl. HOLTHAUS, Matthias/LANGE, Carsten: Islamistischer Terrorismus als literarisches Thema. Christoph Peters’ Ein Zimmer im Haus des Krieges im Unterricht, in: Literatur im Unterricht 2 (2010), S. 99-116, hier S. 108. 14 Die Möglichkeit, dass Sawatzky hingerichtet wird und somit seine Zelle zu einer Todeszelle wird, besteht zwar während des ganzen Werkes und bildet die Grundlage für Cismars Bestrebungen, eben dies zu verhindern, wird jedoch erst zum Schluss Romanwirklichkeit, weshalb man im Handlungsverlauf zunächst lediglich von einer Gefängniszelle sprechen kann. 15 Eine derartige negative Lesart des Titels widerspricht zudem sowohl den Paratexten als auch den Aussagen des Autors Christoph Peters. 16 Vgl. GENETTE, Gérard: Paratexte, S. 141ff. 17 Ebd., S. 153. 18 Im Übrigen äußert sich auch Christoph Peters außertextuell zu dieser Thematik, womit auch die Autorenebene in diesen Kontext eingebunden werden kann. Das erklärte Ziel des Schriftstellers lautet, »ansatzweise zu verstehen, wie diese Haltung funktioniert. […] Ich möchte eine Ahnung bekommen, wie ein Mensch funktioniert, der diese Glaubensgewißheit und Entschlossenheit hat.« (ENCKE, Julia: »Ich war ein katholischer Fundamentalist«.)

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lung der westlichen Gesellschaft und dem von den Medien transportierten Bild des Islam, die Peters an anderer Stelle folgendermaßen ausführt: »[D]as Bild, das die Medien vom Islam zeichnen, hat längst dazu geführt, dass die überwiegende Mehrheit bei uns diese Religion für schlimmer hält als weiland den Kommunismus. Anstatt an neuen Schreckensmythologien zu basteln […], wäre es weitaus dienlicher wirkliche Informationen über den Islam anstelle halbinformierter Kampfschriften gegen den Islam unter die Leute zu bringen.«19

In diesem medienkritischen Sinne kann auch das zweite Zitat, das von Takeshi Kitano stammt, gelesen werden: »Selbst mit weit geöffneten Augen sehe ich nicht das Geringste.« (HK 7) Die hier ausgestellte Gleichzeitigkeit der weit geöffneten Augen und des Unvermögens zu sehen, verweist auf die Unmöglichkeit eines unvoreingenommenen Sehens, ohne ein im Vorfeld geprägtes Bild. Heinrich Kaulen konstatiert, dass dieses Zitat »Ausdruck eines fundamentalen Zweifels an der Erkennbarkeit der Welt und insbesondere an der intersubjektiven Verstehbarkeit des Anderen«20 ist. Ähnlich argumentiert Maja Rettig und wendet die Summe der beiden Zitate ins Negative: »Der Roman will beides: begreifen und zeigen, dass man nicht begreifen kann.«21 Durch die Figur des Terroristen, die durchaus Identifikationsangebote schafft, können die beiden Zitate jedoch zusammengebracht auch ins Positive gewendet werden: Ein Verstehen kann nur dann gelingen, wenn keine Vorurteile, vorgefertigten Bewertungen und kein vorgeformtes Bild (z.B. aus den Medien), übernommen werden, sondern versucht wird, ein eigenes entstehen zu lassen, indem man unvoreingenommen hinsieht. Durch die Lektüre des Romans wird erkennbar, dass das Scheitern der Figuren aus genau diesem Punkt, ihrem Unvermögen vorurteilsfrei zu agieren, resultiert – das durch die Zitate anschaulich gewordene Ansinnen wird positiv konnotiert, der Roman aber zeigt, dass dieses auf der Handlungsebene keinen Erfolg hat. Die Zitate bilden also eine Schwelle, die dem Leser eine bestimmte Vorstellung übermitteln kann, die dann auf literarischer Ebene unterlaufen und zum Scheitern gebracht wird. Damit wird für den Rezipienten ein Spannungsfeld zwischen Para- und Haupttext eröffnet, dessen Aushandlung dieser literarisch inszenier-

19 KREKELER, Elmar: Konvertiten und die Faszination des Islam, in: Die Welt vom 07.09.2007. http://www.welt.de/politik/article1165396/Konvertiten-und-die-Faszinationdes-Islam.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 20 KAULEN, Heinrich: Heilige Krieger. Fundamentalistische Gewalt im Spiegel der Gegenwartsliteratur, in: Gansel, Carsten/Ders. (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 263-274, hier S. 270. 21 RETTIG, Maja: »Gier nach Klarheit«, in: TAZ vom 21.10.2006. http://www.taz.de/1/archiv/ print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=ku&dig=2006/10/21/a0215&cHash=f7f07d1 1db// [letzter Zugriff: 07.06.2017]. Diese Interpretation des Romanmottos steht markanter Weise im Kontrast zu dem von Peters angegebenen Bestreben, »diesen islamistischen Terroristen so plausibel zu machen, das [sic!] man als westeuropäischer Leser am Ende der Lektüre womöglich Zweifel an der Wahrheit der eigenen Position hat.« (ENCKE, Julia: »Ich war ein katholischer Fundamentalist«.)

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ten Ambivalenz ihm überlassen bleibt oder, mit Christoph Peters Worten: »Für Lösungen fühle ich mich nicht zuständig. Das ist nicht Aufgabe von Literatur.«22 Neben der Schwelle des Paratextes existiert eine Grenze, die den Roman in zwei Teile gliedert und formal durch die Überschriften ›Erster Teil‹ und ›Zweiter Teil‹ vorgeführt wird. Diese Art der Einteilung ist nach Nikolaj Rymar die »allereinfachste[…] Form[…] auf der Ebene der äußeren Kompositionsverfahren im literarischen Text«23. Diese formale Gliederung wird vor allem durch die variierenden Erzählformen unterstützt. Während der erste Teil durch die Ich-Form aus der Perspektive Jochen Sawatzkys bestimmt ist (homodiegetischer Erzähler) und den Tag des Attentats und das Scheitern desselbigen beinhaltet, zeichnet sich der zweite Teil durch einen heterodiegetischen Erzähler mit interner Fokalisierung aus der Perspektive des Botschafters aus, in dem sowohl Claus Cismars diplomatische Versuche, Sawatzkys Auslieferung nach Deutschland zu erwirken, als auch die Gespräche, die er mit Sawatzky führt, sowie seine privaten Erlebnisse mit seiner Ehefrau und seiner Geliebten verhandelt werden. Bereits durch diese Einteilung, durch die Anlage als »mehrsträngige[r], polyperspektivische[r] Roman«24 und die unterschiedlichen Erzählperspektiven, wird auf formaler Ebene die Grenze zwischen den beiden Protagonisten deutlich. Die Ich-Form des ersten Teils ermöglicht einen Einblick in das Innenleben und dadurch auch auf das Geschehen des Attentats aus der Perspektive des Terroristen.25 Es geht also nicht um eine möglichst objektive Darstellung eines Anschlags, sondern um einen Einblick in die unmittelbar subjektive, »persönlichintime Weltschau«26 eines bestimmten Terroristen – zur Anschauung gebracht wird so sein religiöser Fanatismus und damit einhergehend seine Berufung. Im Gegensatz dazu scheint das Erzählverhalten des zweiten Teils sachlicher, was sich auch in dem Beruf des Botschafters niederschlägt. Hier stehen sich die die Figuren auszeichnenden Charakteristika diametral gegenüber: einerseits eine religiöse Berufung aus Überzeugung und mit Leidenschaft verteidigt und andererseits ein Beamten-Beruf, der Professionalität und Sachlichkeit suggeriert. Auffällig an der formalen Einteilung ist zudem die asymmetrische Quantität der beiden Abschnitte: Der erste Teil ist wesentlich kürzer als der zweite. Aber diese formale Grenze trennt die beiden Text-Räume nicht nur voneinander, sondern sie verbindet diese auch, was sich primär an dem Erzählverlauf manifestiert. Denn die eine Erzählung endet nicht mit dem ersten Teil, sondern wird auf einer anderen 22 Ebd. 23 RYMAR, Nikolaj: Grenzen und Grenzerfahrungen in den Sprachen der Künste, in: Kemper, Dirk (Hrsg.): Deutsch-russische Germanistik: Ergebnisse, Perspektiven und Desiderate der Zusammenarbeit. Moskau: Stimmen der slawischen Kultur 2008, S. 323-344, hier S. 332. 24 KAULEN, Heinrich: Heilige Krieger, S. 268. 25 Darin liegt das Besondere der literarischen Darstellung derartiger Geschehnisse: Im Gegensatz zu den vermeintlich objektiven Darstellungen der Terrorangriffe in den Medien erlebt der Leser hier das Geschehen aus subjektiver Sicht, aus einem Blickwinkel, der ihm durch Nachrichten verwehrt ist und zu dem dort gezeichneten, moralisch verurteilenden Bild nicht passt, da die Ich-Perspektive zur Identifizierung einlädt. 26 STANZEL, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 11 1987, S. 30.

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Ebene fortgesetzt; der erste Teil wird somit zu der inhaltlichen Voraussetzung des zweiten, wodurch die beiden Bereiche nicht separiert nebeneinanderstehen, sondern sich unmittelbar aufeinander beziehen. Neben dieser Unterteilung werden noch weitere formale Grenzen dargestellt, die jeweils der allgemeinen Einteilung in zwei Abschnitte zugeordnet werden können. Im ersten Teil wird das Schriftbild von kursivierten Sätzen und Wörtern unterbrochen. Hierbei handelt es sich stets um Zitate aus dem Koran, die Sawatzky oder einer der anderen Islamisten rezitieren. Durch das Kursivsetzen der Suren werden diese besonders prononciert und heben sich von dem übrigen Text ab. Zudem werden die Zitate, die in den Verlauf der Gespräche eingebettet sind, oftmals mit dem Zusatz ›Sprich‹ eingeläutet, andere Koranausschnitte, die für sich alleinstehen, sind zudem eingerückt. So werden auch auf der optischen Ebene für den Rezipienten Brüche bzw. Text-Grenzen aufgezeigt. In der Konzeption der Intertextualitätstheorie betont Susanne Holthuis, dass die Relationen und Bezüge zwischen den Texten einerseits nicht einfach gegeben, sondern stets konstruiert sind, und andererseits »intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können, aber vollzogen werden in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht […] im und durch den Text selbst.«27

Im Vordergrund steht damit der Rezeptionsakt des Lesers, dessen Fähigkeit, Bezüge zu anderen Texten, sowohl fiktionalen als auch nicht-fiktionalen, überhaupt erkennen und herstellen zu können, vorausgesetzt wird. Bei der Lektüre des Romans Ein Zimmer im Haus des Krieges wird der Leser bei diesem Rezeptionsvorgang unterstützt, indem die Zitate aus dem Referenztext Koran gekennzeichnet werden, weshalb man in diesem Fall von einer expliziten Intertextualität sprechen kann. Die Zitate entsprechen jedoch keiner der vier Standardübersetzungen des Koran28 wörtlich. So wird einerseits auf den Koran als Heilige Schrift verwiesen, aber andererseits wird anschaulich, dass es sich hierbei um eine literarische, also veränderte und überformte Darstellung der Koranstellen handelt,29 wodurch sie deutlich der Sphäre der Fiktion zugeordnet werden können. Das Problem der wörtlichen Übersetzung, die stets eine Grenzüberschreitung auf sprachlicher Ebene darstellt (was dem Leser, der keine oder 27 HOLTHUIS, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen: Stauffenburg 1992, S. 31. 28 Salomon Schweigger, Friedlich Rückert, Tilmann Nagel und Rudi Paret gelten als die vier Standardübersetzer des Koran in die deutsche Sprache. Auch die Übersetzungen von Hadhrat Mirza Masroor Ahmad und Muhammad Asad werden im Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges nicht wörtlich zitiert. 29 Man kann hier natürlich einwenden, dass der erste Teil des Romans die Perspektive Sawatzkys einnimmt und die Koranstellen deshalb in deutscher Sprache angeführt sind. Dies würde jedoch einerseits nicht zu den zahlreichen Anmerkungen passen, die explizit darauf eingehen, dass Sawatzky Arabisch gelernt hat, um den Koran in der Originalschrift zu lesen, und andererseits nicht dazu, dass auch in dem zweiten Teil, während der Gespräche mit dem Botschafter Claus Cismar, Suren in deutscher Sprache rezitiert werden.

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nur begrenzte Kenntnis über die Heilige Schrift des Islam hat, wohl kaum auffallen würde), wird auf einer Metaebene selbst thematisiert und problematisiert. Als sich der Ich-Erzähler daran erinnert, wie er zum ersten Mal den Koran gelesen hat, führt er aus: »Ich redete mir ein: Es ist nur eine Übersetzung, sie kann keine Wirkung haben. Trotzdem: Zum ersten Mal, seit mein Gedächtnis etwas vermerkt, herrschte Ruhe. Und sie kehrte wieder, immer wenn ich las. Bis heute.« (HK 33) Hiermit wird auf die theologisch-rechtliche Vorschrift des Islam Bezug genommen, die vorgibt, den Koran nur in der original arabischen Schrift zu lesen.30 Durch diese explizit negierte Wirkungsmacht des Koran in deutscher Sprache stellt sich die Frage, was das für die zahlreichen Zitate bedeutet, die in dem Werk aufgeführt sind. Um in diesem Zusammenhang eine These zu entfalten, wird zunächst ein weiteres Merkmal der rezitierten Suren im Roman herausgestellt. Trotz der optischen Grenze zwischen den Zitaten und dem übrigen Text stehen die beiden Teile nicht unverbunden nebeneinander, sondern beziehen sich inhaltlich aufeinander, wie zum Beispiel an folgender Stelle: »Der Tod war ein Gespenst unter der Schädeldecke. Jetzt ist er in greifbarer Nähe. Das besagt nichts. Er untersteht Gottes Befehl. Nichts geschieht gegen Seinen Willen. Sprich: Der Tod, vor dem ihr flieht, wird euch sicher ereilen, dann werdet ihr zu Dem zurückgebracht, Der das Verborgene kennt und das Offenbare, und Er wird euch verkünden, was ihr zu tun pflegtet.« (HK 26, Herv. i.O.)

Hier wird erkennbar, dass die rezitierte Koranstelle mit dem gedanklich verhandelten Thema, dem vermeintlich bevorstehenden Tod, kongruiert. Wie hier werden die Suren stets als Beleg und Rechtfertigung der Lebensart und des bevorstehenden Attentats genutzt. Durch dieses rekurrierende Wechselverhältnis zwischen Schrift und Tat wird die optische Grenze überwunden und macht auf der inhaltlichen Ebene eine Grenzüberschreitung möglich, wodurch der Eindruck einer Zusammengehörigkeit von Koran, dem Rezitieren und der Handlungen entsteht. Im Hinblick darauf, dass die Koranstellen literarisch verarbeitet wurden und keine wörtlichen Zitate aus einer Übersetzung sind, erlangt die Wechselwirkung von Tat und Schrift eine neue Bedeutung. Zum einen könnten damit sowohl die Heilige Schrift als auch das Attentat auf einen Tempel in Luxor in den Bereich der literarischen Fiktion verwiesen und dadurch von der Realität scharf abgegrenzt werden. Das bedeutet, in dieser Lesart insistiert der Roman selbstreferentiell auf seine fiktionale Beschaffenheit. Somit stünden die nicht-wortgetreue Übersetzung des Koran und das nicht-reale Attentat in einem Zusammenhang. Weitaus eindringlicher erscheint jedoch, dass implizit darauf verwiesen wird, dass jeder Schrift eine Art Interpretation inhärent ist, was den Schluss nahelegt, dass die Grundlage des literarischen Attentats selbst – die Heilige Schrift des Islam – ein fiktionaler Text ist31 und dessen Interpretation in Gestalt einer 30 Vgl. BOBZIN, Hartmut: Der Koran. Eine Einführung. München: Beck 72007, S. 118f. 31 Den Vorwurf der Fiktionalität, mehr noch, der reinen Erfindung wurde schon dem Propheten Mohammed gemacht, der die Botschaft Gottes in Form der sra bzw. des qur n (wörtliche Übersetzung: geoffenbarter, vorzutragender Text) dem arabischen Volk überbrachte. »Mohammed kontert diesen Vorwurf, indem er seine Gegner auffordert, doch zehn ›Vor-

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Übersetzung dies noch potenziert. Wenn der Koran also als nicht übersetzbar angesehen wird, weil jede Übersetzung das Original verfälscht, in dem Werk aber dezidiert immer wieder übersetzte Stellen angeführt werden, werden diese Zitate fiktionalisiert. Wenn diese fiktionalisierten Stellen jedoch als Beleg und Rechtfertigung für ein Attentat fungieren, wird die Handlung, die auf dieser Schrift beruht, selbst fraglich. Darüber hinaus werden die Suren von Sawatzky scheinbar zwanghaft reproduziert, sie werden zu einer bloßen Hülle ohne Inhalt. Die Sprache der Heiligen Schrift kann Sawatzky keinen Halt geben, keine Identität verleihen, das, »was ihn scheinbar unangreifbar machen soll, wird als Farce entlarvt.«32 Die Kombination der ausgewählten Passagen mit den jeweiligen Gesprächen suggeriert zudem, dass die Attentäter von ihrer Mission überzeugt sind, ja sogar gar nicht anders handeln können, wollen sie die Gesetze des Koran einhalten. Hier wird wiederum eine Grenze deutlich, nämlich nicht nur die zwischen den Figurenkollektiven der Religion praktizierenden Moslems und der Nicht-Moslems, sondern auch auf der Ebene der Praktiken innerhalb des Islam, zwischen den Menschen, die den Koran wörtlich auslegen sowie den Dschihad gegen die Ungläubigen ausführen und den Moslems, die das nicht tun.33 D.h., das Kriterium innerhalb der muslimischen Religion, auf dem die Unterteilung in das ›Haus des Islam‹ und das ›Haus des Krieges‹ auf theoretischer Ebene basiert, erfährt durch die Vorführung der unterschiedlichen Praktiken selbst einen Bruch. Die Menschen muslimischen Glaubens sind somit nicht geeint im Kampf, sondern im Gegenteil, die Terroristen nehmen eine Außenseiterposition in der Gruppe der Moslems ein und bilden somit das Marginale, Randständige. Dies offenbart sich auch in folgender Stelle: »Die Schalen mit Gottes Zorn sind voll. Seine letzte Gemeinschaft hat sich abgekehrt, ist in die Zeit der Unwissenheit zurückgefallen, bis auf wenige. Der Rest befindet sich im Krieg. Wir haben ihn nicht gewählt, er wurde uns aufgezwungen. Wir verteidigen das Haus des Islam, das der Präsident und seine Clique verkaufen, für Dollarmillionen.« (HK 15)34 tragstexte‹ (wofür hier das Wort sra steht) zu ›erfinden‹, die von ›gleicher Art‹ sind; diese ›Gleichartigkeit‹ kann sich natürlich sowohl auf den Inhalt als auf die sprachlichliterarische Form, die für die ›Vortragstexte‹ […] charakteristisch waren, beziehen.« (BOBZIN, Hartmut: Der Koran, S. 119.) 32 WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen, S. 226. 33 Im Koran selbst wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass neben den ›Ungläubigen‹ auch die ›Heuchler‹ im Dschihad bekämpft werden müssen. »Prophet! Führe Krieg gegen die Ungläubigen und die Heuchler und sei hart gegen sie! Die Hölle wird sie (dereinst) aufnehmen, – ein schlimmes Ende!« (Sure 9,73, Übersetzung von Rudi Paret). Eine übliche Deutung dieser Textstelle definiert die hier angesprochenen »Heuchler« als »eine Gruppe von ›Unentschlossenen‹, von Opportunisten innerhalb der Muslime. Der Kampf richtet sich also sowohl gegen äußere Gegner als auch gegen Leute, die Zwietracht (fitna) stiften und somit die innere Einheit der Gemeinde gefährden.« (BOBZIN, Hartmut: Der Koran, S. 84.) 34 In dem Roman Das Leuchten in der Ferne wird genau der gleiche Vorwurf, den Glauben für Geld verkauft zu haben, von einem Terroristen erhoben. Allerdings bezieht er sich nicht auf die Regierung, sondern auf andere Talibananführer: »Er nannte seinen Namen, Dilawar Barozai, und verhöhnte andere Talibananführer, die er bezichtigte, sie hätten sich von der

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Genau an diesem Punkt des ›Verrats‹ des Glaubens für Geld wollen die Terroristen ihrer Argumentationslogik nach das Land treffen. Sie haben zu diesem Zweck für den Anschlag ein Touristenziel gewählt: eine Tempelanlage in Luxor. Das Ziel ist explizit, möglichst große Angst zu verbreiten – ein Hauptcharakteristikum, das auch aus politologischer Sicht für terroristische Gruppierungen festgehalten wird35 –, damit die Touristen Ägypten nicht mehr besuchen, die Wirtschaft unter den Folgen leidet und sich das Volk aufgrund von Armut erhebt und die »Herrschaft Gottes« (HK 25) wieder hergestellt wird. Auch in dem zweiten Teil des Werkes gibt es formale Grenzen, die sich gleich zu Beginn zeigen: Der Fließtext erfährt immer wieder Einschübe bzw. Unterbrechungen durch die von dem deutschen Botschafter Claus Cismar verfassten Berichte, in denen die Situation des mittlerweile gefangen genommenen Sawatzkys kurz geschildert und bewertet wird. Diese Berichte, die, wie in den Kopfzeilen dezidiert benannt wird, der amtlichen Geheimhaltung unterliegen, unterstreichen immer wieder aufs Neue die Professionalität Cismars und geben zugleich Hinweise auf das politische Ränkespiel zwischen Deutschland und Ägypten36, in dem es vor allem um die Frage der Auslieferung Sawatzkys nach Deutschland geht. Zudem ist dem ersten Bericht eine dreiseitige Anlage beigefügt, die eine Auflistung aller Terroranschläge in Ägypten seit dem 01.01.1993 aufführt (vgl. HK 90ff.). So wird einerseits der zweite Teil mit einem direkten Bezug zu dem geplanten Attentat der Islamisten begonnen, das in ein ganzes Geflecht terroristischer Anschläge eingebettet wird, und andererseits werden, ebenso wie mithilfe verschiedener Anspielungen und Erwähnungen beispielsweise terroristischer Vereinigungen und Personen37 im ersten Teil, die real-historischen Anschläge Regierung in Kabul kaufen lassen und würden für amerikanisches Geld um Frieden winseln.« (LF 158) Vgl. auch Abschnitt III, Kapitel 2.1.3 35 Vgl. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 177. 36 Vgl. dazu Abschnitt III, Kapitel 3.1.4.2. 37 Vgl. dazu die Ausführungen von Michael König, der nicht nur Bezüge zwischen Sawatzky und den real-historischen Gruppierungen (die ›Islamische Gruppe‹ und ›Der Dschihad‹) sowie dem Anschlag auf Luxor im November 1997 herstellt, sondern auch verschiedene Texte religiöser Führer mit der Sprache Sawatzkys vergleicht (vgl. KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 142-182, bes. S. 148ff.). Er kommt in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass die »zahlreichen Übereinstimmungen zwischen literarischer Fiktion und historischem Kontext zeigen, wie sehr der Roman um einen dokumentarischen Realismus und darum bemüht ist, entlang realer Fakten ein repräsentatives Bild der damaligen Ereignisse und politischen Stimmungslage im Land zu zeichnen.« (Ebd., S. 151, Herv. i.O.) Die zahlreichen Referenzen auf real-historische Ereignisse und Personen, die auf die zu Recht betonte ausführliche Recherchearbeit des Autors Christoph Peters zurückgeführt werden können, wird von König in einem hermeneutischen Impetus als Kennzeichen eines »stark didaktisch anmutende[n] Dokumentarroman[s]« gewertet, dem es darum gehe, »einen fundierten und lehrreichen theoretischen Hintergrund des Islamismus zu präsentieren.« (Ebd., S. 153.) Eine derartige Lesart des Romans erscheint jedoch auf zwei Ebenen problematisch. Auf der einen Seite stellen die zahlreichen Referenzen keine stringente Erläuterung der politischen Situation Ägyptens dar, sondern lediglich Anspielungen auf bestimmte Personen, Ereignisse etc., wie beispielsweise in der Aussage der Figur Francoise Detriex

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in Ägypten der 1990er Jahren in Erinnerung gerufen. Diese steten von Cismar in den Berichten gegebenen Hinweise auf die Sphäre des Politischen in nüchternem, sachlichem Ton verorten die Figur in der Funktion als Botschafter, als Stellvertreter eines Staates. D.h., dass sich bereits aufgrund der im Werk vorhandenen formalen Grenzziehungen ein diametrales Verhältnis zwischen dem Terroristen Sawatzky und dem deutschen Botschafter Cismar andeutet: Auf der einen Seite der Botschafter als Stellvertreter eines Staates, der dessen Macht und dessen Prinzipien repräsentiert und der seinem Beruf nachgeht und auf der anderen Seite der Terrorist, der gegen den (ägyptischen) Staat in den Krieg zieht, da er von ihm seinen Glauben verraten sieht, und der für seine Berufung, seine Religion kämpft. Am Ende des zweiten Teils steht ebenfalls ein Bericht, allerdings ist der Verfasser hier nicht Cismar, sondern Dr. Konrad Friebe, der von der Hinrichtung Sawatzkys berichtet sowie auf vermeintliche Fehler des Botschafters Cismars hinweist. Somit wird der zweite Teil des Werks von den amtlichen Berichten umgrenzt – er endet so wie er beginnt, die Konstruktion formiert sich zu einem Kreis. Diese Zirkelstruktur weist darauf hin, dass eine Veränderung nicht möglich ist, jeglicher Wandel wird negiert. Das zeigt auch der Inhalt des letzten Berichts: Das, wofür Cismar auf diplomatischer Ebene gekämpft hat, die Verlegung des Strafprozesses nach Deutschland, ist gescheitert. Der Terrorist, dessen primäres Ziel die Veränderung der staatlichen Verhältnisse hin zu einer religiösen Regierung war, wird hingerichtet. 3.1.3 Raumgrenzen Die geographischen Grenzen im Sinne von Staatsgrenzen werden in dem Roman nur am Rande erwähnt. Da die beiden zentralen Protagonisten aus Deutschland stammen, liegt hier der Ausgangsraum, auf den immer wieder Bezug genommen wird. Für Sawatzky, der von Deutschland in ein Ausbildungscamp und dann weiter nach Ägypten reiste, scheint die staatliche Grenzüberschreitung kein Hindernis gewesen zu sein. ersichtlich: »Dir ist klar, daß Alfi den Job gekriegt hat, weil er für bedingungslose Härte steht? Schon bevor er knapp am Jenseits vorbeigesegelt ist.« (HK 167) Zu Recht erläutert König hier in Bezug auf die real-existente Person die Bezüge zwischen Fiktion und außertextueller Gegebenheit, beispielsweise den von ihm angeordneten Niederschlag des Aufstands 1981, auf dessen ›erfolgreichen‹ Ausgang die Beförderung zum Innenminister folgte (vgl. KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 153.). Dieses Hintergrundwissen vermittelt der Roman hingegen nicht, der Leser, der sich nicht eingängig mit der politischen Situation Ägyptens auseinandergesetzt hat, kann dieses Wissen im Rezeptionsakt nicht aktivieren. Interessanterweise macht König selbst darauf aufmerksam, indem er zwei Mal konstatiert, dass die Referenzen »erläuterungsbedürftig« seien. (Ebd., S. 148.) Wenn die zahlreichen Anspielungen also (wissenschaftlicher) Ausführungen bedürfen, kann der Roman kaum als didaktisch und lehrreich bezeichnet werden. Auf der anderen Seite stellt König fest – und diese Meinung wird auch in dieser Arbeit vertreten –, dass in dem Roman an verschiedenen Stellen eine Zielsetzung des Verstehens formuliert, eine Erklärung für den Wandel Sawatzkys zum Dschihadisten hingegen nicht gegeben wird. So scheint auch hier, an dem wahrscheinlich zentralsten Punkt des Werkes, eben nicht der Impetus einer ›Lehrstunde‹ über den Islamismus vorzuherrschen.

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Der Handlungsort indes ist Ägypten, dessen Staatsgrenzen im zweiten Teil des Romans vor allem in Bezug auf die politischen und juristischen Gegebenheiten dieses Landes konstitutiv sind, an denen auch die Grenzen der Diplomatie bzw. die Grenzen zwischen den politischen Administratoren offenkundig werden, was Cismar als »Kräftemessen« (HK 107) bezeichnet und was zur Semantisierung des gesamten Raums beiträgt. Wie Jochen Sawatzky hat auch Claus Cismar vor allem aufgrund seines Berufes verschiedene Staatsgrenzen überschritten: »Seine Geschichte besteht nicht in erster Linie aus Begegnungen und Ereignissen, sondern aus Orten. Er ist in Marokko, Japan und Kolumbien gewesen, dazu Kurzeinsätze, Konferenzen rund um den Globus.« (HK 112) Aufschlussreich ist im Besonderen, wie er die fremden Räume wahrnimmt: »Jedesmal hat er andere Dinge nicht verstanden, sein Weltbild korrigieren müssen. Weltbilder sind leicht zu ersetzen, sie berühren den Kern nicht. Er ist weder besser noch klüger geworden, weiß nicht mehr über sich als mit zwanzig.« (Ebd.) In erster Linie durch die vielfältigen und häufig wechselnden Orte scheint sich ein komplexes Gefüge zu konstituieren, das ein binäres Schema von Fremdes | Eigenes nicht mehr greifen kann. Jedoch entsteht hier offensichtlich nur ein oberflächliches Annehmen des Anderen bzw. eine bedeutungslose Auseinandersetzung mit dem Fremden, da das Fremderleben und der Austausch den ›Kern‹ nicht berühren. Somit findet kein Umdenken oder Aneignen im Innersten statt, schon gar keine hybride Identitätsentwicklung, sondern es scheint eher ein Kennenlernen zu sein, das keinen tieferen Einfluss nimmt; eine Veränderung der Figur, die mit einer Grenzüberschreitung einherginge, ist somit nicht ersichtlich. Dies verweist auf den Status der verschiedenen Länder als Zwischenstationen: Der Aufenthalt ist jeweils zeitlich begrenzt, das Verlassen des Landes wird mit der Anreise gleich mitgedacht. Zudem stellt die Grenzüberschreitung zwischen den Ländern kein Hindernis dar. Jurij Lotman koppelt seine literarische Ereignistheorie an das Übertreten einer Grenze, die prinzipiell unüberschreitbar ist. Diese Transgression von einem semantischen Feld in ein anderes ist in diesem Kontext das entscheidende Merkmal.38 Wenn die Grenzüberschreitung kein Hindernis darstellt, findet auch kein Ereignis statt, das den Botschafter Claus Cismar in seiner Entwicklung tiefergehend beeinflussen würde. Zudem werden die unterschiedlichen Länder zwar benannt, eine semantische Differenzierung, so wie es Lotmans Theorie vorsieht, wird aber nicht expliziert. Erwähnenswert in Bezug auf die hier inszenierten räumlichen Grenzen ist indes der Ort des Hochsicherheitsgefängnisses nahe Kairo, in dem Sawatzky nach seiner Gefangennahme einsitzt (vgl. HK 106). In dem Roman wird in diesem Zusammenhang auch die Alternative zu diesem Inhaftierungsort ausgewiesen: ein »geheime[s] Gefangenenlager inmitten der Libyschen Wüste.« (Ebd.)39 Die Wüste deutet sowohl 38 Vgl. LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 329ff. Vgl. dazu ebenfalls Abschnitt I, Kapitel 2.3. 39 Diesem Gedanken Cismars ist eine Aussage Sawatzkys vorgeschaltet, die dieses Gefängnis beinahe wörtlich verortet: »Es gibt ein neues Gefängnis an einem geheimen Ort, irgendwo mitten in der Wüste.« (HK 81) Während Cismar jedoch von einem Gefangenenlager spricht, hält Sawatzky fest, dass dort die ›Gläubigen‹ inhaftiert werden, die »wie Kamele auf dem Markt [zusammengepfercht werden], bis der Schlachter kommt.« (Ebd.) Dies gibt

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auf die karge Vegetation der Natur hin, die charakteristisch für weite Teile Ägyptens und Libyens ist, als auch auf einen Raum, der kaum bewohnt ist und symbolisch zu der Sphäre des Rechtlosen zählt, wodurch dieses Gefangenenlager außerhalb rechtsstaatlicher Strukturen angesiedelt wird. Zudem befindet es sich nicht auf ägyptischem Staatsgebiet, sondern in Libyen, das real-politisch bis 2011 diktatorisch regiert wurde. Diese Andeutung lässt aufgrund der Konstitution von Diktaturen die Assoziation von Willkür und Rechtlosigkeit hervortreten,40 was wiederum mit der Lage des Gefängnisses ›inmitten‹ der Wüste kongruiert. Dies wird zusätzlich durch das Adjektiv ›geheim‹ potenziert, wodurch auf die Möglichkeit unrechtmäßigen Handelns auch innerhalb des Lagers hingewiesen wird. Das hierdurch hervorgebrachte Gegensatzpaar Natur | Stadt bzw. rechtloser | rechtmäßiger Raum gibt Hinweise darauf, wie mit Menschen umgegangen wird, denen ein bestimmtes Verbrechen zur Last gelegt wird. Der Staat, der symbolisch sowohl für Recht und Ordnung als auch für den Schutz der Bürger steht, hier stellvertretend benannt durch die Hauptstadt Kairo, in der sich der Hauptsitz der ägyptischen Regierung befindet, entledigt sich der mutmaßlich Kriminellen in einen rechtlosen Raum. Damit wird durch die Vorführung der Praxis des Staates die Verbindung von Staat und Recht literarisch inszeniert unterlaufen und in Frage gestellt, was die Semantisierung dieses Raums insgesamt stark prägt. Da die Inhaftierung Sawatzkys jedoch von internationalem Interesse ist, wird er, wie offensichtlich sonst üblich, nicht in dieses Lager, sondern in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht. Dieses Gefängnis befindet sich ebenfalls nicht in der Stadt Kairo, als Symbol einer rechtstaatlichen Sphäre, sondern direkt hinter der Stadtgrenze (vgl. ebd.), aber bereits in der Wüste. Die Inhaftierten werden also auch hier zu Ausgeschlossenen, zum Anderen der Gesellschaft. Derartige Exklusionsprozesse sind auch integrativer Bestandteil in Michel Foucaults Überlegungen zu Heterotopien.41 Unter diesen ›anderen Räumen‹ subsumiert er neben den Gefängnissen unter anderem Psychiatrien, Friedhöfe und Bordelle. Diese ›Gegenräume‹ zeichnen sich besonders durch ihre Abweichung aus: »Das heißt, die Orte, welche die Gesellschaft an ihren Rändern unterhält, an den leeren Stränden, die sie umgeben, sind eher für Menschen gedacht, die sich im Hinblick auf den Durchschnitt oder die geforderte Norm abweichend verhalten.«42 Foucault spricht damit zugleich zwei Merkmale an, die sich auch in wiederum einen Hinweis zum einen auf die unterschiedlichen Bezeichnungen, die mit dem divergierenden Blickwinkel auf die Attentate der ausübenden Gruppe einhergehen, und zum anderen auf die Praxis des staatlichen Umgangs mit den Inhaftierten. Ein ordentliches Gerichtsverfahren, so deutet sich bereits hier an, scheint es nicht zu geben, das Ende der Inhaftierung bildet für die Gefangenen per se die Exekution. 40 Vor allem der Rezipient des deutschsprachigen Kulturraums, zunächst die Hauptzielgruppe des deutschsprachigen Romans, hat wahrscheinlich zu Diktaturanspielungen ein ganz besonderes Verhältnis und leitet spezielle Konnotationen aus der eigenen Geschichte ab, d.h. dem Zweiten Weltkrieg und der industriellen Tötung von Millionen Menschen durch die Nationalsozialisten. 41 FOUCAULT, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. 42 Ebd., S. 12.

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dem Roman wiederfinden lassen. Auf der einen Seite wird hier ein Raum vorgeführt, in dem sich Menschen mit einem vermeintlich divergierenden Verhalten befinden. Diese Normabweichung setzt eine diskursive Übereinkunft der gesellschaftlichen Normen voraus, deren Überschreitung bestraft werden muss, um das Eigene zu schützen.43 Das zweite Merkmal von Foucaults sogenannten ›Abweichungsheterotopien‹ liegt in dem geographischen Platz dieser Räume an den gesellschaftlichen ›Rändern‹ und ›leeren Stränden‹, was den gesellschaftlichen Ausschluss und ein regelrechtes Verdrängen des Anderen explizit hervorhebt. Während sich das im Roman erwähnte geheime Gefangenenlager in einem unbestimmbaren, entgrenzten ›Nirgendwo‹ der Wüste befindet, ist das Hochsicherheitsgefängnis, in dem sich der Protagonist Sawatzky aufhält, fest lokalisierbar. Als der Botschafter Claus Cismar zum ersten Mal in das Gefängnis fährt, um mit Jochen Sawatzky zu sprechen, wird die Fahrt dorthin wie folgt beschrieben: »Die Gebäude rechts und links der breiten, frisch asphaltierten Straße werden zusehends armseliger. Ziegen dösen in Autowracks, ein halbes Dutzend ausgemergelter Katzen balgt sich um Küchenabfälle. Aus Häusern werden Hütten, die Hütten verwandeln sich in Zelte, zusammengezimmert aus Latten, Rohren, Decken, Tüchern, Plastik. […] An den Rändern ist die Stadt eine Wohnhalde für Nomaden, die nicht wissen, wohin sie ziehen sollen.« (HK 125)

Obwohl Cismar sich zu diesem Zeitpunkt noch innerhalb der Stadtgrenzen befindet, wird anschaulich, dass hier bereits ein Übergang, eine Schwelle zum ›Draußen‹ existiert. Nicht nur aufgrund der an den Rändern der Stadt herrschenden Armut, sondern vor allem mit dem Hinweis auf die Nomaden wird diese Schwelle anschaulich. Gerade diese Bevölkerungsgruppe zeichnet sich durch das Umherziehen aus, sie haben keinen festen Wohnsitz. Zudem ziehen sie vornehmlich nicht durch Städte, sondern durch die Wüste. Somit handelt es sich bei den Nomaden zwar um dem staatlichen 43 Der Untersuchung der Gefängnisse und deren System und Ordnung widmet sich Foucault vor allem in seinem Werk Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, in dem er verdeutlicht, dass sie innerhalb der Disziplinargesellschaften eine bestimmte Funktion besetzen, nämlich die Umformung derjenigen Individuen, die von der Norm abweichen. »Das Gefängnis muß ein erschöpfender Disziplinarapparat sein. Einmal muß es sämtliche Aspekte des Individuums erfassen: seine physische Dressur, seine Arbeitseignung, sein alltägliches Verhalten, seine moralische Einstellung, seine Anlagen. […] Zudem hat das Gefängnis weder ein Außen noch hat es Lücken; es kommt erst dann zum Stillstand, wenn seine Aufgabe zur Gänze erledigt ist; sein Einwirken auf das Individuum duldet keine Unterbrechung: unaufhörliche Disziplin. Schließlich verleiht es eine fast totale Macht über die Häftlinge; es hat seine inneren Unterdrückungs- und Züchtigungsmechanismen: despotische Disziplin. […] Es hat die gewaltigste Maschine zu sein, um dem verkommenen Individuum eine neue Form einzuprägen.« (FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen, S. 301f.) Der Versuch einer solchen Umformung, die auch die Wiedereingliederung in die Gesellschaft impliziert, wird in Sawatzkys Fall nicht unternommen. Wenn jedoch versucht wird, von Sawatzky mittels Gewalt Informationen über die Terrororganisationen zu erhalten, wird genau der gleiche Zweck verfolgt wie bei der Bemühung um eine Änderung, also eine Normangleichung des Individuums: der Schutz des Staates.

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Recht unterliegende Bürger, weil sie jedoch nicht sesshaft sind, sind sie für die staatliche Macht kaum greifbar. Damit bildet die beschriebene Wohngegend, die auffällig gehäuft mit Begriffen aus dem Semantikfeld des Abfalls beschrieben wird, einen Übergang zu dem vermeintlich tatsächlich rechtlosen Raum des Draußen. Die Nomaden personifizieren so ein Dazwischen, sie gehören weder zu der einen noch zu der anderen Sphäre und tragen so entscheidend zu der Semantisierung des Raums bei. Im Gegensatz zu dieser räumlich ausgedehnten Schwelle, muss für den Einlass in das Gefängnis eine Grenzlinie überschritten werden. Neben den Sicherheitsmaßnahmen des Gefängnisgebäudes, wie zum Beispiel Stacheldraht, Elektrozäune, Eisengitter, Schützenpanzer und Maschinenkanonen (vgl. HK 126), muss zum Eintreten eine Schranke passiert werden, die sich erst nach der Prüfung der ›richtigen‹ Papiere öffnet, wodurch die Ein- und Ausschließungsmechanismen dieses Raums vorgeführt werden. Auch der Botschafter Cismar muss zunächst vor der Schranke ausharren bis er durchfahren darf. Trotz der hier beschriebenen Kontrollen ist diese Grenze, die das Gefängnis von der Umgebung trennt, für Cismar also keine unüberwindbare, sondern aufgrund seines Status als Botschafter eine überschreitbare. Diese vermeintlich erhabene Position, die eine Grenzüberschreitung trotz Schwierigkeiten zulässt, wird im gleichen Zuge unterminiert: Er befindet sich nun in einem Raum, der sich durch ganz besondere Regeln auszeichnet, charakteristisch für Heterotopien, und die er auch als Botschafter nicht beeinflussen kann. Er ist diesen Vorschriften, wie zum Beispiel der Wahl des Raums für die Gespräche mit Sawatzky, ebenso unterworfen wie der Dschihadist. Somit ist diese Grenzüberschreitung gekoppelt an eine Statusminderung, seine Funktion als Botschafter macht ihn zu einer beweglichen Figur, mit der Überwindung der Gefängnisgrenze jedoch ist er der spezifischen Ordnung innerhalb des Gefängnisses ausgesetzt. Neben den schussbereiten Maschinenpistolen (vgl. HK 128) hängt symbolisch für die in diesem Gefängnis herrschende totale Überwachung in dem Verhörraum ein Bild des Präsidenten in Uniform (vgl. ebd.), auf dem er »streng« schaut. (HK 143) Diese symbolische allgegenwärtige Anwesenheit des Präsidenten, insbesondere in Kleidung des Militärs, steht für die absolute Kontrolle der staatlichen Gewalt in diesem Raum. Der Präsident ist anwesend und abwesend zugleich, was den Ort des Gefängnisses zu einem staatlich kontrollierten, aber auch ausgegliederten Raum macht. Die Paradoxie des rechtsfreien Raums, der unter staatlicher Kontrolle steht, findet gleichsam ihren Höhepunkt, wenn die dem Protagonisten Sawatzky zugefügten körperlichen Verletzungen beschrieben werden. Die Möglichkeit von physischer und psychischer Folter deutet der Ich-Erzähler bereits in dem ersten Teil in der Situation seiner Festnahme an.44 Zwar werden die Misshandlungen nicht selbst geschildert, wohl aber die körperlichen Gebrechen, die daraus resultieren. Während kleinere Verletzungen bei dem ersten Treffen sehr sachlich von dem Erzähler beschrieben werden, wird ihre Darstellung am Anfang des zweiten Besuchs im Gefängnis deutlich potenziert: »Cismar erschrickt, als Sawatzky hereingeführt wird: Das Gesicht blau geschwollen, der Gang unsicher, seine Augen haften am Boden. […] Er schließt die Augen, scheint Kräfte zu sammeln, die aufgebraucht sind.« (HK 179) Das binär 44 Vgl. dazu unten Abschnitt III, Kapitel 3.1.5.

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konnotierte Denkschemata Staat – rechtmäßig | Terrorist – unrechtmäßig, das mit einer starren Grenzsetzung einhergeht, wird hier in Frage gestellt, ja regelrecht ausgehebelt.45 Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die geschilderten Misshandlungen nicht nur auf die konkrete Situation des Kampfes und der unmittelbar darauffolgenden Ergreifung beschränken, sondern sich in der staatlichen Institution des Gefängnisses fortsetzen. Die Praxis des Folterns wird in einem der amtlichen Schreiben Cismars explizit thematisiert, indem er eine Aussage des ägyptischen Innenministers wiedergibt, in der dieser die Foltervorwürfe kategorisch zurückweist: »Die Justizvollzugsbeamten des Landes hätten strikte Anweisung, sich gemäß der UN-Menschenrechts-Charta und der Genfer Konvention zu verhalten […].« (HK 204) Mit dem Verweis auf zwei der bedeutsamsten internationalen Abkommen, die spezifische Regeln für die Behandlung von Kriegsgefangenen festschreiben, wird Folterung also von offizieller Seite abgelehnt. Der zweite Teil des Satzes unterminiert diese Aussage jedoch unmittelbar: »wiewohl es sich nach Überzeugung seiner Regierung bei den Festgenommenen keineswegs um Kriegsgefangene, sondern vielmehr um Kriminelle handele.« (Ebd.) Die Definition der Inhaftierten als Kriminelle46 ist besonders bemerkenswert, da die vom Minister zuvor angeführten internationalen Abkommen genau an dieser Stelle nicht mehr greifen. Zwar werden in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Grundlagen für den Umgang mit jeglichem menschlichen Leben vorgegeben, die Entscheidung über die staatliche Praxis im Umgang mit Kriminellen liegt in letzter Instanz jedoch bei dem einzelnen Staat. In Hinblick auf die vorherige Aussage des Ministers, dass in Ägypten seit zwölf Jahren der Ausnahmezustand bestünde, der Sondergesetze zur Terrorbekämpfung beinhalte (vgl. HK 125f.), zeigt prägnant, dass offenbar festgeschriebene Rechte und Gesetze, aber auch internationale Abkommen keine Tragweite in Bezug auf den Umgang mit Terroristen haben. Die Schwierigkeiten der Bezeichnungspraxis in Hinblick auf Kriegsgefangene, Terroristen oder Kriminelle werden durch die Divergenz zwischen der Fremdzuschreibung des Staates und Sawatzkys Selbstbezeichnung noch ver-

45 Voraussetzung für diese These ist selbstverständlich, dass der Leser mit dem Staat Ägypten die gleichen oder zumindest ähnlichen Konnotationen verbindet wie mit beispielsweise europäischen Staaten (wie Rechtsstaatlichkeit, Rechtsordnung etc.). Die Ordnung des ägyptischen Staates wird in dem Roman zum Beispiel durch das Benennen verschiedener Behörden und Amtsträger wie Minister und dem Präsidenten in den amtlichen Schreiben Cismars gestützt, was auf ein formal ähnliches System zu Deutschland schließen lässt. 46 Im Zuge der Diskussion in der Politikwissenschaft, die sich um eine Definition des Terrorismus bemüht, wird versucht, das Verhältnis bzw. die Abgrenzung von Terroristen und Kriminellen zu bestimmen. Einleuchtend erscheint hier die von Jutta Bakonyi vorgeschlagene Trennung aufgrund der Motivation für die Handlung: »Das Gemeinsame und zugleich der Wesenskern von Terrorismus und Krieg liegt zweifellos in der geplanten und organisierten Anwendung von politisch motivierter Gewalt gegen einen zum Feind definierten Anderen. […] Durch die Bestimmung der Gewalt als politische sollen rein kriminelle Gewalttaten, die dem unmittelbaren persönlichen Interesse des Gewaltakteurs, zumeist dem Ziel der persönlichen Bereicherung dienen, ausgeschlossen werden.« (BAKONYI, Jutta: Terrorismus, Krieg und andere Gewaltphänomene der Moderne, S. 6.)

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schärft:47 Auf die Frage Cismars, ob Sawatzky bestreite, an der terroristischen Aktion beteiligt gewesen zu sein, antwortet dieser, dass es kein Terroranschlag »in Ihrem Sinne« (HK 132) gewesen sei, sondern ein gerechtfertigter Kampf auf Gottes Befehl hin gegen die Ungläubigen. Er beschuldigt indes die ägyptische Regierung, durch Entführung, Folterung und Mord muslimisch Gläubiger Staatsterrorismus zu praktizieren (vgl. HK 134), den die deutsche Bundesregierung in Gestalt Cismars »durch Ihre bloße Anwesenheit und indem Sie schweigen« (ebd.) unterstütze. An dieser Stelle wird literarisch vorgeführt, dass die Definition von Terrorismus markant davon abhängt, aus welcher Perspektive das Geschehen bewertet wird und zugleich, dass ein einfaches binäres Denkschema in dieser unübersichtlichen Situation kaum noch greifen kann. Somit ist nicht nur Terrorismus an sich schwer zu definieren und geht stets mit einem asymmetrischen Machtverhältnis einher, sondern auch dem Vorgehen des Staates haftet der Charakter des Uneindeutigen an, was vor allem durch den deklarierten Ausnahmezustand unterstrichen wird. Grundlegend erscheint die Perspektive, aus der heraus versucht wird zu definieren. Diese unterliegt jedoch fortwährend einer bestimmten Motivation – hier die politische Rechtfertigung für den Umgang mit den Inhaftierten. Das Paradoxon der Bezeichnung und damit einhergehend der Umgang mit den Gefangenen zeigt sich auf der einen Seite in der scheinbar willkürlichen Definition der Gruppe der Terroristen, wodurch sich die Regierung die Legitimation für die Folter ableitet. Auf der anderen Seite sollen Sawatzky und die anderen Gefangengenommenen vor ein Militärgericht gestellt werden, das ad nomine nur für Kombattanten zuständig ist, wodurch sowohl ein sehr viel schnelleres Gerichtsverfahren ermöglicht wird als auch ein Sonderrecht zum Tragen kommt, dass die Hinrichtung der Inhaftierten ermöglicht. In der folterrechtfertigenden Definition wird den Islamisten damit der Status eines unter dem Schutz der internationalen Abkommen stehenden Soldaten aberkannt, im Gerichtsverfahren soll dieser jedoch die Grundlage für einen Prozess vor dem Militärgericht darstellen. Damit wird in dem Roman die mit Machtstrukturen einhergehende uneindeutige Benennungspraxis inszeniert, die sowohl auf Seiten des Terrorismus als auch auf Seiten des Staates greift. Indem die Grenzen zwischen politischer Benennung und juristischer Praxis so zusammenfließen, wird der Terrorist, der Täter, zum vermeintlichen Opfer staatlicher Gewaltausübung, wodurch sich die binäre Opposition gleichsam umkehrt. 3.1.4 Grenzen der Figuren Die Figurenkonstellation in dem Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges ist hinsichtlich der Grenzthematik ein zentrales Moment, weshalb sie im Folgenden näher betrachtet wird. Bevor auf die beiden Antagonisten Cismar und Sawatzky, die sich auf verschiedenen Ebenen als Grenzgänger ausweisen, näher eingegangen wird, sollen zunächst die aufeinander verweisenden Praktiken zweier Figurenkollektive, die der einheimischen Bevölkerung und die der terroristischen Gruppe, erläutert werden. 47 Auf die auch außertextuell vorherrschende gegenseitige Bezeichnung bzw. Beschuldigung des Terrorismus von Dschihadisten und Staat macht Hoffman aufmerksam (vgl. HOFFMAN, Bruce: Terrorismus – der unerklärte Krieg, S. 53f.).

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Es werden in dem Roman insgesamt nur wenige Hinweise auf das Figurenkollektiv der Einheimischen gegeben, das neben dem staatlichen Umgang mit Sawatzky den semantischen Raum Ägypten determiniert. In dem ersten Teil wird vom IchErzähler an verschiedenen Stellen auf die Armut der Einheimischen hingewiesen, die in starkem Kontrast zu dem »Luxusbus« (HK 46) der ausländischen Urlauber steht. In diesem Kontext verurteilt der Protagonist die Lebensgrundlage der Einheimischen, vor allem den Verkauf billiger Souvenirs an die Touristen, und äußerst scharf: »Was denkt man, wenn man hier lebt, sein Geld mit gefälschten Pharaonen verdient, mit Figuren, die verboten sind […], wenn man schon seine Kinder arbeiten statt lernen läßt, damit es für Zwiebeln, Bohnen, Salz und Zucker reicht?« (HK 45) Die Bevölkerung, so der homodiegetische Erzähler weiter, sei zu schwach, dem Ruf Gottes zu folgen: »Jahrtausendelange Unterdrückung hat ihnen den Glauben an eine Änderung der Verhältnisse ausgetrieben.« (HK 46) Genau an dieser Stelle zeigen sich die divergierenden Zielsetzungen von Einheimischen, die vom Geschäft mit den Touristen leben, und der terroristischen Gruppe, deren Ziel in der Beendigung des Tourismus liegt. Die Beschreibung der Einheimischen fungiert somit als Kontrastfolie zu den Zielen der Terroristen. Ihre stabilen Praktiken werden indes, abgesehen von wenigen Beispielen wie den routinisierten Gebeten und dem vorgeschriebenen Umgang mit der Heiligen Schrift, an die sich alle Muslime halten, kaum behandelt. Beachtlich erscheint in diesem Zusammenhang jedoch, dass sich das Verhalten der Terroristen den Verhältnissen der Umwelt angepasst zu haben scheint. So zeichnet es sich weniger durch Stabilität, sondern gerade durch Unberechenbarkeit und Flexibilität aus. Dabei rekurrieren sie auf die Verhaltensweisen derjenigen Dschihadisten, die bereits zuvor Anschläge ausgeübt haben – in Ägypten selbst, auf deren Folgen in Form des ausbleibenden Tourismus an mehreren Stellen hingewiesen wird (z.B. HK 50) und in den 1980er Jahren in Afghanistan im Kampf gegen die sowjetische Besatzung. Kennzeichen dieses real-historischen kriegerischen Konflikts war vor allem die Strategie der einheimischen Kämpfer: die Taktik des Guerillakampfes. Die Zahl der Aufständischen war sehr viel geringer als die der sowjetischen Streitkräfte, doch aufgrund dieser Kampfstrategie, die keine frontale Auseinandersetzung vorsieht, sondern Angriffe aus dem Hinterhalt, musste sich die sowjetische Armee nach zehn Jahren aus Afghanistan zurückziehen. In dem Roman wird dies folgendermaßen beschrieben: »Sie hatten Erfahrung als Guerillas in unwegsamem Gelände, haben Versorgungswege abgeschnitten, Hinterhalte gelegt, Truppentransporte auseinandergerissen, am Ende eine hochgerüstete Armee vertrieben.« (HK 30) Aus diesem Grund ist die dargestellte Gruppe der Islamisten nicht ebenbürtig homogen, sondern hierarchisch strukturiert, die drei Terroristen, die bereits in Afghanistan gekämpft haben, genießen ein besonderes Ansehen.48 Ihre Kampferfahrung und vor allem der erfolgreiche Ausgang des Krieges geben ihnen eine Machtstellung, die, wie mehrfach betont wird, von den anderen nicht in Frage gestellt wird (vgl. ebd.). Die Anerkennung von dieser Autorität scheint für Sawatzky ein bedeutendes Ziel zu sein, was 48 Die Beschreibung einer derartigen hierarchischen Struktur von einer terroristischen Gruppe wird nicht nur von vielen Politologen für sogenannte ›Zellen‹ postuliert, sondern findet sich, ebenfalls mit der Begründung von Kampferfahrung, auch in Sherko Fatahs Roman Das dunkle Schiff wieder (vgl. Abschnitt III, Kapitel 3.2.3.).

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sich in erster Linie durch seinen biographischen und sozialen Hintergrund sowie seinen Status als Außenseiter erklären lässt. In diesen Kontext gehört auch das idealisierte Männlichkeitsbild des Kriegers, das von dem Machtinhaber El Choli vertreten wird: »Ein Mann, der nicht im Krieg war, ist in seinen [El Cholis] Augen ohne Wert.« (HK 23) Durch das Tradieren dieses Ideals wird seine Machtposition zugleich gestützt, da diese ja eben auf der Erfahrung als Kämpfer beruht. Das Machtverhältnis und die damit verbundenen Einstellungen sind in Sawatzky so verankert, dass sie als existenziell angesehen werden müssen: »Erst meine Leiche wird er mit Respekt behandeln.« (HK 24) In diesem Zusammenhang steht auch die wiederholte, stets negierende Verwendung des Verbs ›wagen‹, zum Beispiel: »Keiner wagt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, er könnte übergelaufen sein. Keiner außer mir.« (HK 28f.) »Niemand wagte zu fragen, ob ihre Strategien für den Krieg hier geeignet sind.« (HK 30) Auch die Frage Samirs, ob jemand umkehren wolle, gliedert sich hier ein. »Samir schaut jedem einzelnen lange ins Gesicht […]. Ich frage mich, ob er tatsächlich einen von uns so ohne weiteres fortließe. Es wäre Fahnenflucht. Auf Deserteure wartet überall auf der Welt die gleiche Strafe.« (HK 35) Nicht nur der aus der militärischen Sphäre stammende Begriff ›Fahnenflucht‹ ist hinsichtlich des Selbstverständnisses als Krieger aufschlussreich und lässt auf der Grundlage der gleichen Bestrafung die Grenze zwischen regulären Soldaten staatlicher Armeen und den Terroristen in der Selbstwahrnehmung verschwimmen, sondern ebenso die implizite Drohung, bei einer Weigerung exekutiert zu werden, die als Einschüchterung eingesetzt wird. Hierdurch wird eine bestimmte Atmosphäre erzeugt, die als Unterwürfigkeit aus einem Angst- und Bedrohungszustand heraus beschrieben werden kann. Das innerhalb der Gruppe etablierte Normalfeld scheint sich damit durch eine protonormalistische Strategie zu formieren, dessen In- und Exklusionsmechanismen durch einige Wenige bestimmt werden. Ein Verstoß gegen die so errichteten Normen, der einer Grenzüberschreitung gleichkäme, wird im Zuge des Bestrebens nach Anerkennung zu verhindern versucht. Strafen und Belohnen sind damit die Techniken, die zum einen auf die Verhaltenssteuerung der Untergeordneten im Sinne von Disziplinartechniken abzielen und zum anderen symbolisch von zwei Figuren besetzt werden, deren Autorität in der Gruppe am höchsten ist: Die positive, belohnende Seite wird von Samir vertreten, der Sawatzky in die Gruppe aufgenommen hat, und die negative, strafende von El Choli, der ihm nicht vertraut. Samir ist neben seinen Qualitäten als Kämpfer primär als religiöser Anführer in der Gruppe tätig, der, um den Willen der Gruppenmitglieder zu stärken, stets Passagen des Koran zitiert. El Choli hingegen wird aufgrund seiner gewalttätigen Skrupellosigkeit dem Feind gegenüber geachtet. Dass er bei dem Protagonisten das Gefühl von Angst auslöst, belegt zum Beispiel folgende Aussage: »Ich fürchte El Cholis Wut mehr als die Waffen der Feinde.« (HK 22) Aufgrund dieses abgrenzenden Machtgefüges äußert Sawatzky seine Zweifel vor allem hinsichtlich der Planung und des Durchhaltevermögens einiger anderer Terroristen nicht. Signifikanter Weise betrifft sein größter in Gedanken ausgehandelter Kritikpunkt genau die Quelle, aus der sich die Macht der anderen speist: ihre Kampferfahrung als Guerillas. Diese Taktik, die in Afghanistan zum Erfolg führte, sei in Ägypten einerseits aufgrund der geographischen Gegebenheiten und andererseits aufgrund der divergierenden Ortskenntnisse zwischen den fremdländischen Islamisten und den einheimischen Soldaten nicht erfolgversprechend.

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3.1.4.1 Jochen Sawatzky Bereits der Name des Protagonisten weist auf eine räumliche Grenze hin, indem der typisch deutsche Vorname Jochen mit dem Nachnamen polnischen Ursprungs kombiniert wird. Somit wird eine hybride Mischung zweier Kulturen und Nationen vorgeführt, weshalb die Figur schon durch die Namensgebung eine grenzüberschreitende Konstellation aufzeigt. Ein weiterer in diesem Zusammenhang stehender Aspekt ist die Selbstbezeichnung »Abdallah«, ein geläufiger Name für Konvertiten im Islam, der übersetzt ›Knecht‹ oder ›Diener Gottes‹ bedeutet und die Grenzüberschreitung vom Christentum zum Islam signalisiert. Dementsprechend versucht sich Sawatzky durch seine Namensgebung in die Gruppe der muslimischen Gläubigen einzugliedern und Zugehörigkeit zu suggerieren. Von den Islamisten jedoch wird er nicht gänzlich akzeptiert, was zum Beispiel in der Anrede sichtbar wird: »›Pack dein Zeug, Jochen‹, brüllt El Choli. ›Ich heiße Abdallah!‹ antworte ich.« (HK 14) und »Ich verlangsame mein Tempo, um ein paar Meter Luft zwischen uns zu bringen. ›Jochen-Abdallah, schließ auf‹ ruft El Choli, der zum Schluß geht, ›wenn du nicht mehr kannst, bleib hier und behindere uns nicht.‹« (HK 21) Indem El Choli ihn absichtlich mit seinem alten Namen anspricht, wird Sawatzky aus der Gruppe ausgeschlossen: die Anrede verweist nicht nur auf seinen christlichen Taufnamen und seine deutsche Herkunft, sondern er wird als Moslem nicht anerkannt, was mit der Aberkennung des Inklusionsmerkmals der Gruppe einhergeht. Das Grenzgängertum Jochen Sawatzkys kann auch an anderen Punkten festgemacht werden. So erfährt der Leser im ersten Teil, dass seine Jugend vor allem durch Alkohol- und Drogenmissbrauch gekennzeichnet war (vgl. HK 12), wodurch sich sein Verhalten scheinbar durch eine extreme Gleichgültigkeit auszeichnete, was seine Entwicklung zu einem Islamisten, der für seine Überzeugung bis in den Tod gehen würde, noch bemerkenswerter macht. Eben an diesem Punkt setzt die Kritik zahlreicher Rezensionen des Romans Ein Zimmer im Haus des Krieges an: Die genauen Beweggründe für das Konvertieren Sawatzkys werden aufgrund der analeptisch konstruierten Erzählweise nur angedeutet, jedoch nicht näher erläutert.49 Doch gerade diese Leerstellen eröffnen die Möglichkeit, verschiedene Wege auszuweisen. Der Roman stellt in diesem Sinne gerade nicht detailliert eine lineare Lebensgeschichte dar, die nachvollzogen werden kann, sondern hält dieses zentrale Moment in der Schwebe. Potenziert wird diese Mehrdeutigkeit noch durch die Darstellung von Figuren ganz unterschiedlicher Herkunft und aus verschiedenen Milieus, die der Gruppe 49 Vgl. dazu beispielsweise: MÜLLER, Lothar: »Ein Jochen zieht ins Herz der Finsternis«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.05.2010. http://www.sueddeutsche.de/kultur/buchrezensionein-jochen-zieht-ins-herz-der-finsternis-1.895413 [letzter Zugriff: 07.06.2017]; GOTHE, Karin: »Die Seele eines Attentäters«, in: Spiegel Special 7 (2006), S. 70; STEIN, Hannes: Der Kämpfer und der Roboter, in: Die Welt vom 02.09.2006. http://www.welt.de/printwelt/article149535/Der-Kaempfer-und-der-Roboter.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]; KESSLER, Florian: Sind so deutsche Männer, in: Frankfurter Rundschau vom 04.12.2006. http://www.fr-online.de/literatur/florian-kessler-sind-so-deutsche-maenner,1472266,27010 78.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]; RETTIG, Maja: Gier nach Klarheit. http://www.taz. de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=ku&dig=2006/10/21/a0215&c Hash=f7f07d11db// [letzter Zugriff: 07.06.2017].

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der Terroristen angehören.50 Durch diese Heterogenität widersetzt sich der literarische Text einseitigen Erklärungsmustern – es gibt keinen einheitlichen Weg oder auch nur bestimmte Lebensumstände, die zwangsläufig zum Islamismus führen. Dieses durch den Zustand der Ungewissheit hervorgerufene Spannungsverhältnis ist besonders prägnant, wenn bedacht wird, dass Sawatzky aus dem Kulturraum der Rezipienten stammt und damit ein ›homegrown terrorist‹ ist.51 Damit kann er nicht mit einem binären Denkschema von Eigenem und Fremdem beschrieben werden, was die Figur »umso bedrohlicher [macht], sprengt sie doch die Grenzen des herrschenden Diskurses, indem sie die Fremdheit im Selbst aufzeigt.«52 Das, was für Sawatzkys endgültige Überschreitung der religiösen Grenze entscheidend wurde, die Erfahrung der Schwelle, des Dazwischen, wird nur in Form von Erinnerungsbruchstücken angedeutet und unterläuft damit allgemeingültige Sinnzuschreibungen sowie Pauschalisierungen. Wenn auch die genauen Beweggründe eine Leerstelle darstellen, so wird doch ersichtlich, dass Sawatzky durch die Bekanntschaft mit einer Frau, Arua, und deren Bekanntenkreis das erste Mal in Kontakt mit dem muslimischen Glauben kommt. Er konvertiert und macht die Religion zum Mittelpunkt seines Lebens, wodurch sich sein ganzes Leben von Grund auf ändert. Dies führt soweit, dass Sawatzky sich mit seinem alten Leben vordergründig nicht mehr identifizieren kann, die Wandlung scheint damit vollkommen.53 Obwohl Arua und die Beziehung zu ihr den Anfang seines neuen Lebens markieren, werden sie in der Romangegenwart in die Sphäre seines alten Ichs verbannt, die es zu überwinden gilt, da sie mit dem neuen Leben als Kämpfer nicht zu vereinbaren sind. Ebenso wie die Erinnerungen aus seiner Jugend, die unwillkürlich immer wieder in Sawatzkys Bewusstsein treten, erinnert sich der Protagonist auch an Arua und malt sich sogar eine gemeinsame Zukunft aus, die er mit ihr gehabt hätte, hätte er sich gegen das Leben als Gotteskrieger entschieden (vgl. HK 25). Die unbeabsichtigten Gedanken an Arua werden durch das Artefakt des Koran, den sie ihm zum Abschied geschenkt hat, materialisiert. Diesen nimmt er als einzigen Gegenstand mit auf den Weg zu der Tempelanlage in Luxor, was wiederum darauf hindeutet, dass er die Grenze, die durch sein Leben verläuft, eben nicht gänzlich überwinden kann, sondern zumindest teilweise noch an seinem früheren Leben 50 Neben den Kämpfern aus dem Afghanistankrieg in den 1980er Jahren wird beispielsweise ein sehr junger Gotteskrieger dargestellt, der aus einer reichen Familie stammt (vgl. HK 17). 51 Vgl. KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 170f. 52 WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen, S. 218. 53 Zahlreiche Wissenschaftler gehen davon aus, dass in Koranschulen, die auch in Ein Zimmer im Haus des Krieges vor allem im Zusammenhang mit Sawatzkys ersten Kontakten zum muslimischen Glauben mehrfach kurze Erwähnung finden, einen »religiös-ideologischen Boden im Sinne eines radikalen, extremistischen Islam« legen und damit ein »manichäisch-dichotomes Weltbild mit einer scharfen konturierten Freund-Feind-Struktur« bei den Gläubigen initiieren (vgl. dazu u.a.: KÜMMEL, Gerhard: Der Selbstmord-Attentäter: Annäherungen an eine Kämpfer-Figur, in: Collmer, Sabine (Hrsg.): Krieg, Konflikt und Gesellschaft. Aktuelle interdisziplinäre Perspektiven. Hamburg: Dr. Kova 2003, S. 113130, hier S. 120.).

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festhält: »Ich hatte mir eingebildet, daß das Buch sich unterwegs von jeder Vergangenheit lösen würde, genau wie ich, daß die Macht seiner Worte stärker wäre als die der Erinnerung.« (HK 42) Die Konversion stellt auf zeitlicher Ebene eine Art Zäsur dar, die das Leben Sawatzkys in ein ›Davor‹ und ein ›Danach‹ teilt. Im Zusammenhang dieser Grenze macht Arata Takeda zu Sawatzkys Körperbewegungen die Feststellung, dass seine Körperhaltung in der Erinnerung an das Leben vor seiner Konversion durch das Liegen auf dem Bett bestimmt ist, was mit Faulenzen (vgl. HK 186), Unruhe und Unreinheit (vgl. HK 32f.) assoziiert wird, wohingegen die Körperhaltung des im Handlungsverlauf gegenwärtigen Protagonisten der aufrechte Gang ist.54 So kennzeichnet auch die Köperhaltung die Grenze zwischen dem früheren Leben und dem Leben als Konvertit. Während die erste Lebenshälfte waagerecht und tatenlos ist, kann die andere als senkrecht und einem bestimmten Ziel folgend beschrieben werden, wodurch sie auch einen symbolischen Charakter erhält: Die senkrechte Körperhaltung weist zum Himmel, zu Gott, was in Übereinkunft mit seinem neuen Lebensinhalt steht. Takeda spricht von einer Technik, die Sawatzky sich angeeignet hat, um sich dem neuen Umfeld anzupassen, wenngleich die vergangenen Körperhaltungen nicht verschwunden sind, sondern gelegentlich noch sichtbar werden, vor allem während der gelegentlichen Flashbacks. »Die alten Körpertechniken geraten so in Konflikt mit den neuen, beide kämpfen um die Vorherrschaft bei der technischen Kontrolle über den Körper, und der Körper selbst wird zum Schlachtfeld von verschiedenen kulturellen Bestreben, Impulsen und Reflexen.«55 Diese Feststellung kongruiert mit den vorherigen Überlegungen, dass Sawatzky die Grenze, die er selbst durch seinen Versuch, sich von der Vergangenheit zu distanzieren, zieht, nicht endgültig überschreitet, sondern er sich durch ein Geflecht verschiedener, sich überschneidender und in Konkurrenz zueinander stehender Interessen auszeichnet. Durch die Grenzüberschreitung der Religionen durchläuft Sawatzky eine Wandlung, die ihn als Grenzgänger und bewegliche Figur ausweist. Er wechselt jedoch nicht lediglich vom christlichen Glauben zum muslimischen, sondern ändert auch seine Einstellung zur Religion insgesamt: In den Erinnerungen, die sein Leben als Christ beinhalten, lassen sich keinerlei Hinweise darauf finden, dass er sich für religiöse Kontexte und Praktiken in irgendeiner Form interessiert. Als Moslem hingegen schlägt er in das andere Extrem um und wird zum Fundamentalisten, wodurch er sich jedoch nicht in die soziale Gruppe der muslimischen Glaubensgemeinschaft eingliedert, sondern zu einer Randfigur wird, indem er im Sinne einer beweglichen Figur eine weitere Grenze überschreitet hin zum Extremismus. Das Inklusionsmerkmal der Gruppe der Gotteskrieger besteht im Allgemeinen primär darin, den Dschihad zu praktizieren und im Speziellen in dem Auftrag, die Tempelanlage von Luxor zu zerstören. Damit grenzen sich die Terroristen bewusst von anderen Moslems ab, wodurch sich die soziale Gruppe zuallererst konstituiert: Das Inklusionsmerkmal bringt die Gruppe erst hervor. Obwohl Sawatzky diese Inklusionsbedingungen erfüllt, wird er aufgrund einer die Gemeinschaft teilenden Grenze, die sich augenfällig in dem Misstrauen El Cholis manifestiert, nicht vollkommen integriert: 54 Vgl. TAKEDA, Arata: Inkorporierte Kulturkonflikte, S. 34f. 55 Ebd., S. 36.

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»Ich hocke zwischen Karim und Achmed. El Choli hält größtmöglichen Abstand zu mir. Sein Maschinengewehr liegt griffbereit neben ihm und zeigt auf mich. Das kann Zufall sein. […] Er hat mich von Anfang an verachtet, obwohl ich ihm gegenüber freundlich gewesen bin, seit wir uns kennengelernt haben, vor drei Monaten, nahe Assyût. Alle außer ihm sind mir mit Respekt begegnet, gerade weil ich nicht im Islam geboren wurde, weil ich danach gesucht habe, allein.« (HK 16)

Besonders die ausgrenzende und trennende Funktion der Grenze wird somit deutlich, die auf verschiedenen Faktoren basiert. Zum einen spielt die Sprache eine wichtige Rolle, da sich Jochen und Karim gelegentlich in deutscher Sprache unterhalten (vgl. HK 13). Das daraus resultierende Nicht-Verstehen genügt bereits, um Misstrauen bei El Choli zu wecken. Neben der Sprache trennen Sawatzky noch weitere Merkmale von den anderen, vor allem äußere: seine blauen Augen und die helle Hautfarbe. Doch auch das kulturelle und religiöse Erbe als Deutscher unterscheidet ihn von den anderen: »Die anderen haben keine Ahnung von der Mechanik des Verrats. Sie sind nie zersplittert, nicht aus Scherben zusammengesetzt. Sie wissen nicht, daß Treulosigkeit als Haarriß beginnt, unbeachtet, an einer dunklen Stelle. […] Sie sind nicht in der Ideologie des Zweifels aufgewachsen. Der Gedanke, daß Gott eine menschliche Erfindung sein könnte, liegt jenseits ihrer Vorstellungskraft. Die Gleichgültigkeit, die daraus folgt, begreifen sie nicht – daß es keine Rolle spielt, was einer tut.« (HK 29)

Während Sprache und Aussehen von außen wahrnehmbare Momente sind, wird seine Sozialisation als »Spätfolge der Deformation des Westmenschen, selbst nachdem er sich bekehrt hat« (HK 38) von Sawatzky selbst angeführt, allerdings ohne eine Grenzziehung zu initiieren, vielmehr handelt es sich um eine selbstreflexive Feststellung, die die Unterschiede verdeutlicht. Aber auch diese Aspekte tragen zu seiner Position als Randfigur innerhalb des Figurenkollektivs der Terroristen bei. Sawatzkys Biographie zeichnet sich damit durch gleich zwei Grenzüberschreitungen aus: der Übertritt der religiösen Grenze als Konvertit und der Übertritt zum Fanatismus als Terrorist. In beiden Fällen geht das Übertreten der Grenze von einem semantischen Raum in den anderen mit einem Außenseitertum einher. Als bewegliche Figur kann Sawatzky die Grenze zwar trotz aller Hindernisse überwinden, dieser Akt setzt ihm jedoch unmittelbar neue Grenzen, die, anstatt zu verbinden, die Unterschiede sichtbar werden lassen. Sawatzkys Wunsch, sich vollkommen in die extremistische Gruppe einzugliedern, scheitert ebenso wie der terroristische Anschlag und damit die Erfüllung im Dienst für Gott. 3.1.4.2 Claus Cismar Wie bei Sawatzky ist auch in der Figur Cismar eine Entwicklung angelegt. Cismar, der in seiner Studentenzeit ein Anhänger, zumindest ein Sympathisant der Roten Armee Fraktion war, ergreift den Beruf des Botschafters. Damit durchläuft er den Wandel vom Systemkritiker, dessen Ziel der Sturz der staatlichen Ordnung ist, zum Systemunterstützter, der die staatliche Ordnung schützt. Diese Grenzüberschreitung,

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die in dem Roman mit Angst und schließlicher Flucht vor dem repressiven Vater56 begründet wird, verläuft also genau entgegengesetzt zu Sawatzkys Entwicklung, die zum Radikalen hinführt. Während diese Grenzüberschreitung, ebenso wie die von Sawatzky, vor dem Handlungsverlauf des Romans angesiedelt ist, wird die Anlage des Grenzgängers Claus Cismar als höchst ambivalente Figur auch innerhalb der Erzählung gezeigt: Er weist zwei Seiten auf – die des Botschafters und die der Privatperson Cismar. Die Grenze zwischen diesen Bereichen ist kaum überwindbar, weshalb die Figur beim Versuch diese beiden Seiten zu vereinen am Ende scheitert. Wie oben bereits ausgeführt, lebt der Botschafter berufsbedingt temporär in verschiedenen Ländern, um dort die Interessen des deutschen Staates zu vertreten. Dadurch kommt er sowohl mit unterschiedlichen Kulturen des jeweiligen Landes in Kontakt als auch mit unterschiedlichen politischen Situationen. Dabei kann er jedoch nicht assimilieren, dies würde seinen beruflichen Status sogar unterminieren, da er als Stellvertreter der Bundesrepublik stets deren Interessen wahren muss. An vielen Stellen des Werkes ist jedoch erkennbar, dass eine starre Trennung zwischen einheimischer Kultur und Politik auf der einen Seite und deutschem Botschafter mit Interessen der Bundesrepublik auf der anderen Seite keinen Bestand haben kann. Vielmehr werden auf diplomatischer Ebene Kompromisse geschlossen, bei denen es »nicht um Wahrheit, sondern um Machbarkeit«57 geht. Es gehört zu seiner Funktion als Botschafter, dafür Sorge zu tragen, dass Sawatzky in dem Gefängnis (verhältnismäßig) gut behandelt wird und er versucht den Prozess nach Deutschland zu verlegen, damit der Inhaftierte der Todesstrafe entgeht. Wie begrenzt die Möglichkeiten eines Kompromisses im internationalen Gefüge aber sind und wie machtlos Cismar eigentlich ist, zeigt sich besonders in den geheimen Berichten, die er an das deutsche Bundesministerium schickt. Zwar kann er die Folter Sawatzkys während seiner Inhaftierung beenden, jedoch wird der Ersuch um Auslieferung trotz sogenannter primär wirtschaftlich gearteter »Gegenleistungen« (HK 148) auf Seiten Deutschlands abgelehnt. Somit besteht der einzige geschlossene Kompromiss darin, dass Sawatzky ein Anwalt gestellt wird, an dessen Auswahl der Botschafter jedoch nicht beteiligt wird und der so kurzfristig eingesetzt wird, dass er, anstatt eine Verteidigungsstrategie auszuarbeiten, nur noch versuchen kann, Verfahrensfehler aufzudecken (vgl. HK 261). 56 In dem Roman wird immer wieder auf Generationskonflikte hingewiesen. Hier sind drei Ebenen zentral: erstens die Generation von Cismars Vater, der eine nationalsozialistische Vergangenheit hat, zweitens Cismars Generation, die sich kritisch mit der Elterngeneration auseinandersetzt und diese zum Teil verurteilt und drittens Sawatzkys Generation. Während Cismar von seinem Vater aufgrund der strengen Erziehung, der Mitgliedschaft in der NSDAP und dem Drängen auf eine Karriere Abstand sucht, beschreibt er Sawatzkys Generation als das Gegenteil seiner eigenen, nämlich als »unsicher, politisch desinteressiert, egozentrisch, nur mit sich selbst beschäftigt.« (HK 198) Auch die Grenzen zwischen den Generationen können in dem Werk nicht aufgelöst oder überschritten werden. So ist beispielsweise der Umgang mit dem Verhalten des Vaters für Cismar nicht durch Konfrontation, sondern durch Schweigen und die Flucht ins Ausland geprägt, wodurch die Grenze trotz der räumlichen Entfernung bestehen bleibt. 57 ENCKE, Julia: »Ich war ein katholischer Fundamentalist«.

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Während die Versuche, auf internationaler Ebene Kompromisse zu schließen, primär seine Tätigkeit als Botschafter zeigt, versucht die Privatperson Cismar die Hintergründe für Sawatzkys Verhalten zu eruieren (vgl. HK 120), was einen Zwiespalt evoziert. So fragt er sich beispielsweise (bevor er Sawatzky das erste Mal persönlich begegnet): »Wie kann er Sawatzky helfen, als Diplomat, als Mensch?« (HK 104) Die Hierarchie bzw. Gewichtung dieser beiden Seiten steht indes zunächst schnell fest, indem geschildert wird, dass er es für seine Aufgabe hält, die Todesstrafe zu verhindern, gleichgültig, ob er Sawatzky persönlich für sympathisch hält oder nicht (vgl. HK 120). Indem der disjunkte Teilraum des Persönlichen hier ausgeblendet zu sein scheint, wird auch die die beiden Bereiche trennende Grenze als obsolet vorgeführt. Die Ausblendung des Persönlichen gelingt jedoch nicht, wofür Cismars (Alp-)Träume ebenso sprechen wie seine stressbedingten Magenprobleme, die später zu seinem völligen physischen Zusammenbruch führen. Besonders bedeutsam ist die Frage, wie die beiden Protagonisten, die durch eine Grenze deutlich voneinander geschieden sind, miteinander umgehen, d.h. welche Strategien im Umgang mit der Grenze hier sichtbar werden. Während Claus Cismar in der Funktion des Botschafters ein klar definiertes Ziel vor Augen hat und sich so zugleich von dem Terroristen abgrenzen kann, versucht die Privatperson Cismar in der Auseinandersetzung mit Sawatzky, die den Hauptteil des Werkes Ein Zimmer im Haus des Krieges ausmacht, Grenzen zu überschreiten, indem er versucht, Sawatzky zu »verstehen« (HK 181). Der Verstehensprozess für Sawatzkys Verhalten wird jedoch noch bevor er mit dem Islamisten selbst spricht durch vorurteilbehaftete und stereotype Bilder, die Cismar aufruft, unterlaufen. In diesem Sinne denkt er über mögliche Gründe für die Entwicklung zum Terroristen nach, wie beispielsweise eine charakterschwache Persönlichkeit oder eine »unglückliche Kindheit, verkorkste Jugend, Kleinkriminalität« (HK 100). Dies wird auch bei dem ersten Treffen der beiden Protagonisten offenkundig: »Cismar versucht, sich ein Bild zu machen und trotzdem unvoreingenommen zu wirken.« (HK 129, Herv. S.W.) Die Differenz von Sein und Schein wird damit ganz explizit wiedergegeben, was das Ansinnen eines Verstehensprozesses, der auf Unvoreingenommenheit beruht, wie es auch die Paratexte verdeutlichen, von Beginn an zum Scheitern verurteilt und es ad absurdum führt. »Sein [Cismars] forschendes Auge richtet sich nicht auf das Individuum Sawatzky, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt, sondern bleibt an dem vorgefertigten Bild eines ›hausgemachten Terroristen‹ haften, das in aller Plastizität schon da ist.«58 58 TAKEDA, Arata: Inkorporierte Kulturkonflikte, S. 30. Takeda bringt im Zusammenhang mit dem Verhalten der beiden Figuren Sawatzky und Cismar den Begriff der Nachahmung ein, den er mit dem französischen Soziologen Émile Durkheim als eine Handlung definiert, die das »Fehlen eines handlungsgenerierenden Denkvorgangs« impliziert, eine Handlung also, die weder intellektuell noch systematisch durchdacht wird (vgl. ebd., S. 27.). Problematisch an dieser Feststellung, vor allem in Bezug auf Sawatzky, ist, dass Nachahmung kaum zum Verhalten eines Konvertiten passt, der, wie oben ausführlich beschrieben wurde, vor seinem Wandel kaum religiös war. Dass sein Verhalten nicht auf eigenem Nachdenken basiert, scheint in Sawatzkys Fall also eher unwahrscheinlich zu sein. Das einzige nachahmende Verhalten, das ihm unterstellt werden könnte, sind die religiösen Praktiken, wie das Reinigen vor dem Beten und das Rezitieren der auswendig gelernten Suren aus dem Koran.

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Neben Cismars bereits vorgeformten Bild eines Terroristen wird vor dem ersten Treffen zwischen den Protagonisten eine Parallele montiert: Während Cismar sich Gedanken über den Islamisten macht, erinnert er sich an seine eigene Studentenzeit, in der er sowohl an Demonstrationen und Versammlungen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes teilnahm (vgl. HK 111) als auch Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre mit der deutschen terroristischen Vereinigung RAF59 sympathisiert hat: »Damals wurde auch der Versuch unternommen, den einzelnen durch eine Idee zu ersetzen, durch den Traum, die Arbeiterklasse kämpfe unter Führung der intellektuellen Avantgarde gegen das faschistisch-kapitalistische System. Er stand an der Front, allerdings in zweiter Reihe.« (HK 116) Der Vergleich zwischen der RAF und den Terroristen bzw. deren Gedankengut wird auch im weiteren Verlauf der Handlung, zum Beispiel in dem Hochsicherheitsgefängnis, fortgeführt. Bereits nach Sawatzkys ersten Ausführungen zu seinem Motiv – das ›Haus des Islam‹ vor Ungläubigen zu verteidigen – wird wiederum diese Parallele aufgegriffen: »Cismar kennt diese Art Phrasen. Während der siebziger Jahre hallten sie ähnlich durch Europa. Einen Unterschied gab es: Gott spielte damals keine Rolle. Die Revolution hatte seinen Platz eingenommen. Cismar fragt sich, ob das ein grundsätzlicher Unterschied war oder nur eine andere Maskierung? Jedenfalls wurden die gleichen Konsequenzen gezogen: Gegen die totalitäre Machtausübung des Staates half nur Gewalt.« (HK 132)

Cismar versucht Sawatzky bei ihrem ersten Treffen eine »Brücke« (HK 138) zu bauen und führt die bereits zuvor gedanklich errichtete und ausgearbeitete Analogie zwischen dem Islamismus und der RAF ins Feld: »›Ich verstehe durchaus, worauf Sie hinauswollen. Ich kenne diese Argumentation besser, als Sie denken. Ich habe 1967 angefangen zu studieren. In Hamburg. Die Studentenbewegung war in vollem Gange. Vermutlich wissen Sie wenig über diese Zeit…‹« (Ebd.) Trotz Sawatzkys zweifachem Versuch, Cismar zu unterbrechen, redet dieser weiter und erklärt, dass sie in dieser Gruppierung ebenfalls radikal gedacht und über Gewalt diskutiert hätten, wobei er persönlich jedoch zu dem Schluss gekommen sei, dass Gewalt keine Dies aber hat wenig mit der Frage des eigenständigen Denkens oder nachahmenden Handelns zu tun. Dieser Erklärungsansatz kommt zudem, ohne es wahrscheinlich zu beabsichtigen oder es überhaupt anzusprechen, einer Entkräftigung der möglichen Schuldübernahme sehr nahe. Denn wenn jemand ein Verhalten lediglich nachahmt, ohne darüber nachzudenken und ohne sich mit den Konsequenzen auseinandergesetzt zu haben, trägt er zwar die Schuld für sein Verhalten, jedoch kann er nicht vollends für seine Taten verantwortlich gemacht werden. Der in Takedas Aufsatz eingangs beschriebene real-historische Fall eines Terroristen, der ohne direkten Bezug zu einem Terrornetzwerk allein durch Nachahmung des terroristischen Verhaltens einen Anschlag auf amerikanische Soldaten verübt hat, passt ebenso nicht zu der Figur Sawatzky, da dieser innerhalb eines konkreten Netzwerkes agiert und dort auch ausgebildet wurde. 59 Die RAF wird namentlich erst später (vgl. HK 133) erwähnt, trotzdem wird für den Leser, besonders in Deutschland, durch die zeitliche Einordnung auf der einen Seite und aufgrund der plakativ wirkenden Formulierungen auf der anderen Seite deutlich, dass diese gemeint ist.

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Lösung für dieses Problem darstelle, »›weil Unrecht sich nicht durch neues Unrecht beseitigen läßt.‹« (HK 139) Trotz dieses auf moralischen Bedenken basierenden Unterschieds soll der Vergleich zwischen der RAF und der islamistischen Terrorgruppe die Grenze zwischen den Antagonisten überwinden, zumindest aber verschwimmen lassen und dies auf eine ganz spezifische Weise, indem auf einen vermeintlich gemeinsamen Ursprung referiert wird: auf das gleiche Herkunftsland und auf das radikale Denken. Nach Waldenfels ist diese Bewältigungsstrategie des Fremden mittels einer versuchten Gleichmachung von Eigenem und Fremdem in der abendländischen Tradition fest verankert: »Man bewältigt das Fremdartige, indem man es gleichmacht, und zwar so, daß Zu-Ordnendes und Geordnetes im Grunde oder auf die Dauer, in Grundzügen oder in allen wesentlichen Stücken zusammenfallen.«60 Wenn Cismar also eine ›Brücke‹ für Sawatzky schlägt und damit eine Parallele zwischen seinem politischen Gedankengut als Student und der Lebensweise des radikal Religiösen zu schaffen versucht, werden hier zwei Bereiche verbunden, die grundsätzlich voneinander getrennt sind. Damit kann nicht davon gesprochen werden, dass Cismar probiert, Sawatzky in seinem fremdartigen Denken und Handeln als Individuum zu belassen, sondern ›verstehen‹ bezieht sich auf die eigene Ordnung, in die das Fremde durch Gleichmachung integriert werden soll. Potenziert wird dieser Versuch der Homogenisierung neben den zahlreichen sachlichen Unterschieden, indem Cismar selbst deutlich macht, dass er sich nur teilweise mit der RAF identifizieren konnte, was unter anderem durch die »zweite[…] Reihe« (HK 116) und den Hinweis, er habe an Demonstrationen teilgenommen, »allerdings ohne aktenkundig zu werden« (HK 111) veranschaulicht wird. Das lässt darauf schließen, dass er – im Gegensatz zu Sawatzky – gar kein radikaler Anhänger war und damit auch nicht die grundlegenden Züge eines solchen Denkens nachvollziehen kann. Zudem ist die Lebensphase des radikalen Denkens, falls sie doch vorhanden war, zum Zeitpunkt der Gespräche mit Sawatzky abgeschlossen. Cismar distanziert sich regelrecht von seinem früheren Ich: »Inzwischen verabscheut er das spätpubertäre Pathos von Weltverbesserern und Revolutionären. Dahinter verbergen sich Egoismus und die Weigerung, erwachsen zu werden. Erwachsensein heißt, Kompromisse zu akzeptieren.« (HK 116)61 Daher und durch die Tatsache, dass Sawatzky sich nicht auf diese ›Verstehenshilfe‹ einlässt, sondern im Gegenteil diesen Vergleich explizit negiert, scheitert das Brückenbauen, die Grenze in Form einer Linie bleibt starr bestehen und trennt Cismar und Sawatzky voneinander. Diese unüberwindbare Grenze konstituiert sich auch über die beiden Standpunkte, aus denen heraus die beiden Protagonisten agieren: Während Sawatzky auf Transzendenz referiert und den Kampf sowie seine Tat mit Gottes Willen legitimiert, versucht Cismar überwiegend vom Standpunkt des Diplomaten aus praktisch zu handeln und zu argumentieren. Damit ist die Diskussionsbasis und die Argumentationsstrategie der beiden Figuren aufgeteilt in die gegensätzlichen Perspektiven von 60 WALDENFELS, Bernhard: Der Stachel des Fremden, S. 36. 61 Zwar ist die Wandlung der beiden Protagonisten gegensätzlich zueinander verlaufen – während sich der eine vom Extremismus abgewendet hat, hat sich der andere diesem zugewendet – gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie sich mit dem Ausgangspunkt ihrer Entwicklung nicht mehr identifizieren können und wollen.

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Göttlichem und Irdischem, von Jenseits und Diesseits.62 Wenn Sawatzky von Gott und seinem Willen spricht, nimmt er Bezug auf die Vorstellung eines unendlichen, grenzenlosen Wesens. Dies wird auch in der Einstellung erkenntlich, dass die Religion das gesamte Leben durchdringen soll, nicht bloß einen Teil davon, womit auch das Ziel, eine auf muslimischem Glauben basierende Regierung zu errichten, erklärt wird. Demgegenüber steht Cismar als Repräsentant Deutschlands, das zumindest vordergründig eine Trennung von Staat und Religion vorsieht: »›Gott ist keine Grundlage für politisches Handeln und bestimmt keine Rechtfertigung für Verbrechen.‹« (HK 133) Er handelt aufgrund von bürokratischen und rechtlich festgelegten Regeln, die seine Ordnung bestimmen und dieser damit zugleich Grenzen setzten.63 Lotmans semiologische Theorie beschreibt eine solche Situation: Es sind zwei disjunkte Teilräume vorhanden, denen jeweils ein Protagonist zugeordnet ist. Da beide nicht in der Lage sind, die Grenze zwischen ihnen zu überwinden, handelt es sich hier um unbewegliche Figuren.64 Neben den Grenzen, die innerhalb der Figuren verlaufen, werden die beiden Protagonisten somit von einer grundlegenden Grenze getrennt, die die Konstitution einer fixen, starren Linie hat, die eine Annäherung oder 62 Auf dieser Einteilung beruht auch die an mehreren Stellen artikulierte Einstellung Sawatzkys, dass es ihm gleichgültig sei, was mit ihm geschehen wird. Auf die Frage Cismars, ob man ihn im Gefängnis foltere (eine auf das Hier und Jetzt bezogene Frage), antwortet er nicht. Dass diese Grenze nicht überwunden werden und dass Cismar Sawatzkys Gründe dafür eben nicht ›verstehen‹ kann, wird auch in der Einschätzung bzgl. dieses Schweigens deutlich, die er in einem amtlichen Schreiben wie folgt begründet: »Seine Persönlichkeitsstruktur legt nahe, daß er trotz seiner aussichtslosen Lage zu stolz ist, Demütigungen, wie derartige Mißhandlungen sie zweifellos darstellen, einzuräumen. Darüber hinaus drängt sich die Vermutung auf, daß Sawatzky massiv unter Druck gesetzt wurde, die gegen ihn angewandten Folterpraktiken dem Botschafter gegenüber nicht zu erwähnen.« (HK 207f.) Claus Cismar versucht somit andere – irdische – Gründe, wie Stolz und Druck von außen, als Erklärungsansätze für Sawatzkys Verhalten vorzubringen und verschweigt in dem amtlichen Schreiben diejenigen, die Sawatzky ihm gegenüber äußert, nämlich das Vertrauen in Gott, was wiederum auf ein Nicht-Verstehen Cismars hinweist. 63 Michael König erklärt das Scheitern des Verstehens auf einer anderen Grundlage: »Das Scheitern des literarischen Versuchs liegt an der Unvereinbarkeit zwischen rational motiviertem, wissenschaftlichem Forschungsimpuls und irrationalen religiösen Antworten […].« (KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 176.) An anderer Stelle heißt es: »Die rationale Analyse der Beweggründe scheitert an der Irrationalität des Glaubens.« (Ebd., S. 177.) Problematisch erscheint hier ganz deutlich eine tendenziell abwertende Haltung der Religion bzw. des Glaubens (anscheinend in diesem Kontext synonym verwendet) als irrational. Königs Argumentation lässt außer Acht, dass sowohl die literarischen als auch außertextuellen Dschihadisten durchaus einer bestimmten Logik folgen, wenn diese für Außenstehende auch sehr schwer nachvollziehbar ist, da sie mit anderen kulturellen Ordnungsmustern vermeintlich nicht erklärbar ist. So erscheint es weniger die Gegenüberstellung von Logik und Irrationalität zu sein, die das Scheitern verursacht, sondern vielmehr die unvereinbaren Standpunkte, von denen aus argumentiert wird. 64 Vgl. LOTMAN, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, S. 338 und Abschnitt I, Kapitel 2.3.

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gar Überschreitung unmöglich macht. Hier wirkt scheinbar ein Steigerungsmechanismus: umso instabiler die Grenzen im Inneren verlaufen, das Eigene also geschwächt ist, umso stärker werden die Grenzen nach außen gezogen, der konsequente Ausschluss des Anderen soll das Eigene stabilisieren. Dies manifestiert sich ebenso in Jochen Sawatzkys theologischen Phrasen wie auch in Claus Cismars steten Verweisen auf weltliches Recht und Gesetz.65 3.1.5 Grenzen des Kampfes In dem Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges wird neben den hierarchisch strukturierenden Benennungspraktiken in Bezug auf den Terrorismus, die mit der Undefinierbarkeit des Gegners und mit dem Verschwimmen der Grenzen zwischen den kriegerischen Gegnern einhergehen, ein weiteres Charakteristikum der neuen Kriege angesprochen: die Asymmetrie. Waldmann hält in diesem Kontext fest: »Terrorismus ist die bevorzugte Kampfstrategie relativ kleiner und ›schwacher‹ Gewaltverbände, er stellt die Extremform dessen dar, was in der neueren Literatur als asymmetrische Konfliktkonstellation bezeichnet wird.«66 In diesem Sinne kann auch das geplante Attentat auf die Tempelanlage in Luxor einer Kampfstrategie gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner – den ägyptischen Staat – zugeordnet werden. Sawatzky, der sich selbst als Krieger definiert, bezeichnet die Tat demzufolge konsequenter Weise 65 Stephanie Waldow hingegen schreibt, dass sich die Protagonisten Sawatzky und Cismar im Laufe der Gespräche einander annähern, die unterschiedlichen Ausdrucksebenen miteinander vernetzt würden (vgl. WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen, S. 220ff.). Indiz dafür sei, dass Cismar einige sprachliche Strukturen des Terroristen übernimmt. Dies führe nicht nur dazu, dass in Cismar ein Aushandlungsprozess beginnt, der sein bisheriges Leben hinterfragt und auf die Probe stellt, sondern auch dazu, dass die Religionen verschwimmen. Letzterem kann hier nicht zugestimmt werden, auch wenn Cismar sich durchaus intensiv mit dem Islam auseinandersetzt und er eine gewisse Faszination auf ihn auszuüben scheint. Cismar weist jedoch der Religion immer wieder dezidiert eine Sphäre zu, in der man nicht diplomatisch handeln kann. Zudem deutet Cismars Darstellung nicht auf einen besonders christlich geprägten Menschen hin. Symbolisch für die Annäherung auf der sprachlichen Ebene stehe der Füller, den Cismar Sawatzky überreicht, eine sehr persönliche Geste, die »einmal mehr [zeigt], wie die beiden Lebensgeschichten sich wechselseitig ineinander einschreiben.« (Ebd., S. 224) Hier wird allerdings nicht bedacht, dass Cismar Sawatzky das Geschenk mit den Worten überreicht: »Vielleicht wollen Sie ein paar Sachen notieren, Gedanken, was weiß ich.« (HK 307) und Sawatzky daraufhin äußert, dass er damit »[s]chreckliche Dinge, die entsetzliche Folgen haben« (ebd.), schreiben wird und fragt, ob Cismar dies verantworten könne. Damit wird die Grenze zwischen den Antagonisten überaus deutlich inszeniert. Zudem probiert der Gefangene sein Geschenk aus, schreibt aber nicht, wie es Cismar intendierte, Worte auf, sondern lediglich »eine Wellenlinie von rechts nach links, darunter zieht er einen waagerechten Strich« (HK 308). Damit wird auch hier markant, dass die sprachlichen Ebenen eben nicht zusammenfließen, sondern sich voneinander unterscheiden – es werden lediglich (Grenz-)Striche gemalt, eine Verständigung auf sprachlicher Ebene wird negiert. 66 WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 13.

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als eine »militärische Operation« (HK 132) in einem »Krieg zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen« (HK 133). Der in dem ersten Teil des Werks dargestellte, unvorhergesehene Kampf zwischen den ägyptischen Streitkräften und der terroristischen Gruppe weist ebenso signifikante Elemente der asymmetrischen Kriegsführung auf. Bevor die Dschihadisten eine weite Strecke von ihrem Ausgangspunkt, einer Höhle (ein typischer und zugleich nur schwer zu verortender Rückzugsort für Islamisten, der die Unberechenbarkeit und Unbestimmtheit dieser Gruppe noch unterstützt), zu Fuß zurücklegen, wird analeptisch eine Diskussion beschrieben, in der verhandelt wird, ob sie dies bewaffnet oder unbewaffnet tun sollen. Diese Diskussion endet mit dem Entschluss, die Waffen bis auf einige Messer in der Höhle zu lassen. Alltagskleidung zu tragen und die Waffen abzulegen sind ebenso typische Merkmale der paramilitärischen Kämpfer in den neuen Kriegen: Die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten ist so nicht direkt ersichtlich, da die am Krieg Beteiligten sich äußerlich nicht als Kämpfer zu erkennen geben. Die Gruppe hüllt sich so in den Schutz der Zivilbevölkerung, um dann aus dem Hinterhalt zuschlagen zu können. Daneben wird ein weiterer Hinweis auf das asymmetrische Kampfgeschehen vorgeführt, den Münkler in Bezug auf das außertextuelle Geschehen eine »moderne Variante des Verwüstungskrieges«67 nennt und in den Kontext der Entstaatlichung des Krieges sowie in die Sphäre des Terrorismus einordnet. Er führt als Kennzeichen dieser Strategie an, dass sich die Anschläge primär nicht gegen die waffentechnisch weit überlegenen Streitkräfte des Gegners wenden, sondern vor allem darauf abzielen, die wirtschaftlichen Ressourcen zu schädigen, um den politischen Willen des Gegners zu brechen.68 Der Plan der dargestellten Terroristen sieht zwar nicht die Zerstörung von Industrie vor, aber den Angriff auf einen der größten wirtschaftlichen Motoren Ägyptens: den Tourismus. Durch die Zerstörung der Tempelanlage und den Tod der Besucher soll die Tourismusbranche und damit die Wirtschaft Ägyptens aufgrund von Angst und Schrecken69 so geschwächt werden, dass die Regierung gestürzt wird und sich eine muslimische Staatsordnung etablieren kann. In diesem Sinne wird in dem Roman eine zentrale Strategie – der asymmetrische Kampf in der Form eines Verwüstungskrieges – inszeniert. Die Grundvoraussetzung für eine möglichst weite Verbreitung von Angst und Schrecken besteht in der Aufzeichnung des Anschlags. Die Bilder, die gerade für terroristische Anschläge bedeutend sind, werden in dem Roman kurz thematisiert. 67 MÜNKLER, Herfried: Krieg, in: Göhler, Gerhard/Iser, Mattias/Kerner, Ina (Hrsg.): Politische Theorie. 22 umkämpfte Begriffe zur Einführung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 227-243, hier S. 239. 68 Vgl. ebd., S. 239f. 69 Frank und Mahlke machen ebenso wie zahlreiche andere Wissenschaftler auf die Definitionsprobleme des Begriffs »Terrorismus« aufmerksam, konstatieren zugleich jedoch eine »grundsätzliche Einigkeit darüber, dass dem Aspekt der Angst bzw. des Schreckens zentrale Bedeutung zuzumessen sei. Ein wesentliches Merkmal terroristischer Gewaltakte ist demnach, dass sie mit ihren unmittelbaren materiellen Konsequenzen noch nicht ihren Zweck erfüllt haben.« (FRANK, Michael C./MAHLKE, Kirsten: Kultur und Terror. Zur Einführung, in: Dies. (Hrsg.): Kultur und Terror. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2010), S. 7-16, hier S. 10. Vgl. dazu auch WALDMANN, Peter: Terrorismus, bes. S. 11-32.)

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Obwohl es einen strategisch günstigeren Ort für das Attentat im Hinblick auf einen Rückzug gäbe, wurde die Tempelanlage von der Gruppe ausgewählt, da die Wirkung ihrer Tat damit weitreichendere Konsequenzen nach sich ziehen würde: »Aber die Tempel würden stehenbleiben, und vor allem gäbe es keine Bilder, nicht einmal Amateurvideos. Diesen Krieg entscheiden Bilder, nicht die Zahl der Opfer. Je dramatischer sie sind, desto weniger Leute müssen getötet werden.« (HK 47) Der hier beschriebene enge Zusammenhang zwischen Bildern und Kriegsausgang wird von Waldmann aus soziologischer Sicht generell für gegenwärtige Konflikte, besonders aber für terroristische Strategien festgehalten, da die Medien für die symbolischen Gewaltakte eine tragende Rolle spielen. Sie sind »integraler Bestandteil des terroristischen Kalküls«, da durch die Übertragung und Verbreitung durch die Massenmedien »bereits ein einzelner Gewaltanschlag eine allgemeine Stimmung der Verunsicherung und Einschüchterung, eventuell auch verhaltener Zustimmung erzeugen kann.«70 Die Medien, die die Nachricht eines Anschlags mit den dazugehörigen Bildern übertragen, sind somit einerseits ein verbindendes Element hinsichtlich der Aktion und der gewünschten (weltweiten) Folgen in der Bevölkerung und übermitteln andererseits auch eine Botschaft für andere Menschen mit ähnlicher Gesinnung, die »zu interessierenden Dritten«71. Interessanterweise wird in den Gedanken Sawatzkys, der im Handlungsverlauf vor dem Anschlag auf die Tempelanlagen steht, eine moralische Komponente installiert. So scheint es, dass die Verbreitung der dramatischen Bilder eben deshalb besonders wichtig ist, um die Zahl der zivilen Opfer gering zu halten.72 Dass dennoch bei dem Anschlag notwendigerweise Zivilisten sterben, um die Bilder, die »um die Welt gehen« (HK 44) sollen, möglichst dramatisch zu gestalten, wird mit der Aussage: »Manchmal ist man gezwungen, Schlechtes zu tun, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen« (HK 56) gerechtfertigt.73 Dieser Gedanke läuft einer häufig vor allem medial propagierten Darstellung eines Terroristen, der alles für das Erreichen seines Zieles tun würde, eben auch ungehemmt Zivilisten zu töten, entgegen und stützt zugleich die Identifikationsebene für den Rezipienten. Die Figur Sawatzky wird demnach nicht als das absolut Böse, als kaltblütiger Mörder gezeichnet, sondern hat auch moralische Bedenken bezüglich seines Handelns. An dieser Stelle tritt vernehmbar eine durch die intern fokalisierte Erzählung hervorgebrachte Besonderheit der Literatur in Erscheinung: Sie kann Gefühle und Gedanken von Figuren äußern, die durch andere Medien kaum dargestellt 70 WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 83. 71 MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 180f. 72 An anderer Stelle hingegen betont Sawatzky die Hoffnung, möglichst viele Menschen durch den Anschlag zu töten, beispielsweise, wenn er den Einsturz der Tempelanlage mit dem Satz kommentiert: »Mit etwas Glück haben sich viele Leute dorthin geflüchtet, wenn er einstürzt.« (HK 55) Auch an dieser Ambivalenz werden die Bedenken Sawatzkys hinsichtlich des geplanten Attentats deutlich. 73 Diese Argumentationsstruktur gleicht derjenigen, welche die Juristen, die die Welt in das ›Haus des Islam‹ und das ›Haus des Krieges‹ einteilten, zugrunde legten: Der Dschihad im Sinne einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit den ›Ungläubigen‹ ist nicht von sich aus gut, sondern deshalb, weil aus ihm etwas Gutes resultiert (vgl. ESS, Josef van: Dschihad gestern und heute, S. 70.).

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werden können und ist dadurch in der Lage, ein differenziertes, auch Ambivalenzen einschließendes Bild zu zeichnen. Um das Attentat durchzuführen, ist die terroristische Gruppe mit Waffen wie AK47 Maschinengewehren, Handgranaten und Panzerabwehrraketen ausgestattet, die sie über Mittelsmänner von der CIA bekommen haben (vgl. HK 55)74, vermutlich für den Kampf in Afghanistan in den 1980er Jahren, auf den im Werk an verschiedenen Stellen referiert wird. Im real-historischen Krieg in Afghanistan wurden die Afghanen ebenfalls neben Saudi-Arabien auch von den USA im Kampf gegen die sowjetische Armee mit Waffen ausgerüstet.75 Wie der Leser erfährt, waren drei der Terroristen an diesem Krieg beteiligt, weshalb sie die Waffen bedienen können und die Kontakte zu der CIA herstellen konnten. Die verschwimmende Grenze zwischen den kriegerischen Auseinandersetzungen kommt hier zur Anschauung: Geradezu charakteristisch für die Gemengelage der neuen Kriege ist, dass sie häufig nicht völlig abgeschlossen werden, sondern lediglich schwelen, wodurch zahlreiche gewalttätige Konflikte miteinander verwoben sind und sich aus verschiedenen Quellen speisen. Auf dieser Grundlage wird in der literarischen Darstellung ein zweifach wirkendes Paradox ausgewiesen: Auf der einen Seite stammen die für den Dschihad genutzten Waffen in der Logik der Islamisten von ›Ungläubigen‹, die ihren Kampf für die Errichtung eines gottgefälligen Staates damit zumindest indirekt unterstützen. Auf der anderen Seite werden die amerikanischen Waffen für einen Anschlag genutzt, in dessen Zuge der Tod amerikanischer Touristen nicht nur in Kauf genommen wird, sondern erwünscht ist: »Ich weiß nicht, was ich empfinden werde, wenn der fette Amerikaner, seine schweinsgesichtige Frau, die ich tausendfach zur Hölle gewünscht habe, vor mir im Sand liegen – ihr fünfjähriger Sohn, die kleine Tochter.« (HK 56) Das Kampfgeschehen zwischen den ägyptischen Soldaten und der Gruppe der Terroristen findet auf dem Weg zu der Tempelanlage statt. Signifikanter Weise haben die militärischen Streitkräfte das Überraschungsmoment, das charakteristisch für 74 Weitere Ausrüstung sowie Geld erhalten die literarisierten Terroristen von dem Mann, der nur als ›der Sheikh‹ bezeichnet wird. Dieser religiöse Anführer scheint im ersten Augenblick kein Warlord zu sein, wie ihn zum Beispiel Münkler auf theoretischer Ebene beschreibt, da er keinen unmittelbaren finanziellen Profit aus dem Krieg schlagen kann, sondern er im Gegenteil Geld investieren muss, damit der Anschlag ausgeführt werden kann. Jedoch ist nicht das Attentat auf die Tempelanlage das eigentliche Ziel, sondern der Sturz der jetzigen und damit einhergehend die Etablierung einer muslimischen Regierung. D.h., dass der Sheikh einen langfristigen Gewinn aus der Unterstützung der Gruppe zieht. Trotzdem ist der entscheidende Unterschied zu einem Warlord, dass er nicht an dem Kriegsgeschehen und seiner Aufrechterhaltung interessiert ist, sondern an dessen Ausgang. 75 Aladdin Sarhan resümiert ein Übereinkommen in der Forschungsliteratur darüber, dass eine der Hauptursachen für das Aufkommen der »neuen globalen Jihad-Bewegung« darin besteht, dass sowohl Saudi-Arabien als auch Amerika nach dem Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan die aufständischen Kämpfer nicht weiter unterstützt haben: »Denn nach dem Verlust der saudi-arabischen, aber auch der amerikanischen Hilfe transformierte sich die multinationale Jihad-Truppe zu einem Instrument im Dienste des internationalen Terrorismus […].« (SARHAN, Aladdin: Der Jihad – ein islamischer Freibrief für den Terror?, S. 64.)

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terroristische Anschläge ist, auf ihrer Seite. So werden nicht nur zwei Gruppen gezeigt, die unterschiedliche Ziele verfolgen – während die eine versucht, die bestehende Ordnung zu schützen und zu wahren, ist das Ziel der anderen, eine neue Ordnung zu etablieren –, sondern auch eine Kampfstrategie, die gleichsam verkehrt ist. Vor allem der parataktische Satzbau, in dem das Gefecht beschrieben wird, unterstützt ebenso das schnelle Tempo der Erzählung wie die Grausamkeit des Inhalts, beispielsweise an dieser Stelle: »Wo das Boot war, breiten sich Wellen aus. Wir werden siegen. Wir werden sie vernichten. Achmed treibt reglos zwischen Decken, Gummistücken. Sein Gesicht fehlt, statt dessen rohes Fleisch, Knochenteile.« (HK 65) Zwischen beiden kämpfenden Gruppen zeichnet sich eine klare Grenze ab. Im Sinne des asymmetrischen Krieges wird beschrieben, dass die Soldaten die bessere militärische Ausrüstung besitzen, wie kugelsichere Westen, Stahlhelme sowie Hubschrauber, und darüber hinaus eindeutig in der Überzahl sind. Trotzdem glaubt Sawatzky basierend auf einem weiteren Unterscheidungsmerkmal noch an einen Sieg. »Sie [die Soldaten] umkreisen Trümmer, Menschenreste. Gestikulieren heftig. Die Soldaten sind nicht frei. Sie haben etwas zu verlieren. Sie haben Angst. Deshalb schlagen wir sie.« (HK 66) Hier wird also nicht die waffentechnische und personale, sondern eine andere Form der Asymmetrie aufgezeigt, die auf der Motivation für den Kampf basiert. Innerhalb dieser Asymmetrie nehmen die Terroristen eine machtbasierte Position ein: Während die Streitkräfte aus beruflichen Gründen kämpfen und dafür einen staatlich finanzierten Sold erhalten, kämpfen die Terroristen für ihre religiöse Überzeugung. Bemerkenswert ist, dass an mehreren Stellen vor dem Attentat betont wird, dass ein Rückzug nicht zu der Planung des Anschlags gehört und dass ein Märtyrertod für Gott eine Ehre sei (vgl. z.B. HK 58).76 Trotzdem wird immer 76 Dies ist nicht die einzige Stelle in dem Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges, in der ein Märtyrertod expliziert wird. Sawatzky erinnert sich kurz nach seiner Gefangennahme durch die ägyptischen Streitkräfte daran, dass er als Kind auf die Frage seines Großvaters nach seinem Berufswunsch geantwortet habe, dass er Märtyrer – und zwar für Jesus Christus – werden möchte (vgl. HK 77). Hier wird ein verbindendes Element zwischen dem Christentum und dem Islam gezeigt. Sigrid Weigel zeigt auf, dass die Figur des Märtyrers im Zusammenhang mit islamisch-terroristischen Aktionen für Europäer nur schwer nachzuvollziehen ist, da Märtyrer im Christentum primär als »Figuren des Erleidens« konnotiert sind, die das Leiden Christi bezeugen und für diese Zeugenschaft auch in den Tod gehen würden. Während die Märtyrer im islamischen Glauben von Anfang an für den ›rechten Glauben‹ gekämpft haben, waren die früh-christlichen Märtyrer, zumeist Frauen, tatsächlich vor allem Zeugen, was sich jedoch mit den Kreuzzügen, in denen der Märtyrer zum »Soldaten Christi« wurde, änderte. Auch Soldaten, die im Krieg gefallen sind, starben für einen vermeintlich höheren Sinn, nämlich im Zuge der Verteidigung des Vaterlandes, »nachdem sie meist zuvor schon, beim Auszug ins Feld, den priesterlichen Segen für ihre militärische Mission – und ihren möglichen Tod – erhalten hatten.« Somit hat auch das Christentum Märtyrer hervorgebracht, die für ein übergeordnetes Ziel mit gewaltsamen Mitteln kämpfen. (WEIGEL, Sigrid: Schauplätze, Figuren, Umformungen, in: Dies. (Hrsg.): Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern. München: Fink 2007, S. 11-40, hier S. 11ff.) Heinrich Kaulen zeigt auf, dass es sich bei den Märtyrer-Figuren

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wieder offenbar, dass Sawatzky seinem möglichen Tod ambivalent gegenübersteht, und dies bereits bevor der Kampf zwischen den Soldaten und den Terroristen stattfindet, was an folgender Stelle besonders prägnant hervorgehoben wird: »Statt meine Gedanken zu sammeln, auf den Einsatz zu konzentrieren, einen Vers im Rhythmus der Schritte zu beten, bis er alle Fasern des Körpers durchdringt, wird mein Geist vom Durcheinander der Ungläubigen beherrscht. Sprich: Was meint ihr, wenn Gott mich und die, die mit mir sind, vernichten wollte oder wenn Er uns Barmherzigkeit erweisen wollte… Wie geht es weiter? Ein vollständiger Vers wäre besser als ein halber, ein halber besser als nichts. Die Beine verweigern sich dem Rhythmus der Worte.« (HK 27)

Dies ist die einzige Passage in dem Roman, in der der Protagonist einen Vers nicht zu Ende rezitieren kann. Der Schlussteil der hier referierten Sure 67 (»Die Herrschaft«), Vers 28 lautet: »Wer wird die Ungläubigen dann vor einer schmerzhaften Strafe schützen?«77 Es geht in dieser Koranstelle darum, dass die Ungläubigen, die bekämpft werden sollen, sicher von Gott »im kommenden Leben«78 bestraft werden, die Gläubigen, die Gottes Wort verbreiten, hingegen belohnt werden könnten, was wiederum die oft anschaulich gemachte Grenze zwischen diesen beiden Personenkreisen hervortreten lässt. Sawatzky zitiert gerade im Augenblick des Zweifelns, in der Grenzsituation79 des bevorstehenden Todes diesen Vers, der ihn in seinem Vorhaben stärken könnte, doch er kann ihn nicht beenden. Karl Jaspers weist darauf hin, dass die Grenzsituation des Todes eine »Doppelheit aller Daseinserfahrung im Handeln [erzwingt]: was angesichts des Todes wesentlich bleibt, ist existierend getan; was hinfällig wird, ist bloß Dasein.«80 Damit wird eine Grenze in der Erfahrung des Todes, die zwischen wichtigem, existenziellem und unwichtigem Handeln unterscheidet, gezogen. Das hinfällig Gewordene tritt also durch das Vergessen des zweiten Teils der Sure in Erscheinung – die sichere Bestrafung der Ungläubigen. Das Existenzielle, der Teil, an den er sich erinnern kann, beschreibt die Möglichkeit der

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um die »Renaissance eines unserer eigenen Kultur sehr wohl vertrauten, aber von ihr in den letzten Jahrzehnten erfolgreich verdrängten Handlungsmusters, also um die verstörende Begegnung mit dem Eigenen im Spiegel des Fremden, und zum anderen um eine Verletzung des semantischen Codes, den die Gegenwartsgesellschaft mit Begriffen wie ›Krieg‹, ›Kämpfer‹ oder ›Opfer‹ verbindet«, handelt. (KAULEN, Heinrich: Heilige Krieger, S. 263.) Genau dieses verdrängte Eigene wird in dem Roman an dieser Stelle inszeniert. Die Grenze, die an dieser Stelle gezeigt wird, ist nicht die zwischen dem christlichen und dem islamischen Märtyrer bzw. zwischen den Religionen, vielmehr wird eine Analogie zwischen diesen hergestellt, wodurch dem Leser seine eigenen Grenzen und Exklusionsmechanismen aufgezeigt werden. Durch die Konfrontation mit den eigenen Grenzziehungen, die sich in einer Figur manifestieren, werden diese in Frage gestellt. Der Koran. Übersetzt von Rudi Paret. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 51989, S. 402. ASAD, Muhammad: Die Botschaft des Koran. Übersetzung und Kommentar. Aus dem Englischen übersetzt von Denffer und Yusuf Kuhn. Düsseldorf: Patmos 2009, S. 1082. Vgl. JASPERS, Karl: Philosophie, S. 220ff. Als Grenzsituation definiert Jaspers neben dem Tod auch das Leiden, den Kampf und die Schuld. Ebd., S. 223, Herv. i.O.

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Belohnung durch Gott für das Verbreiten seiner Botschaft; aber auch eine potentielle Vernichtung durch Gott wird angesprochen. Eine Deutung dieser Sure postuliert, dass zwar die Verbreitung von Gottes Botschaft sowohl Bestrafung als auch Belohnung mit sich bringen könnte, die Ungläubigen jedoch in jedem Fall bestraft würden.81 Wenn der Protagonist den ersten Teil rezitiert, der beide Optionen beinhaltet und den zweiten Teil, der den ersten erst zum Positiven wendet, vergisst, ist dies wiederum Ausdruck eines tiefgehenden Zweifels und Zeichen für die Schwelle, die die Unbestimmtheit seiner Zukunft markiert. Im Zusammenhang des Zweifelns in der Grenzsituation ist auch seine Frage zu verstehen: »Welches Leben habe ich gelebt? Das des Kriegers oder das des Verbrechers? Das des Verbrechers, wenn Gott eine Erfindung wäre.« (HK 77) Obwohl er diese Option schnell mit dem Verweis auf die Antwort Gottes auf seine Gebete verwirft, ist allein die Tatsache, dass er sich diese Frage überhaupt stellt, kurz bevor er in den Dschihad zieht, Chiffre für seine Ungewissheit und steht damit im Gegensatz zu einer Zuschreibung, die mit einem terroristischen Attentäter verbunden wird und die Sawatzky später in den Gesprächen mit Claus Cismar auch vorführt: der absoluten Sicherheit, das Richtige zu tun. In der Grenzsituation wäre dies vergleichbar mit dem, was Jaspers unter ›Tapferkeit‹ versteht, nämlich wenn »durch sinnliche Jenseitsvorstellungen der Tod als Grenze aufgehoben und zu einem bloßen Übergang zwischen den Daseinsformen gemacht wird.«82 Dass Sawatzky indes zwischen den Polen des Zweifelns (primär nachdem sich herausstellt, dass es potentiell einen Verräter unter ihnen gibt) und des Aktionismus, der aus seinem Glauben heraus resultiert, schwankt, wird auch im weiteren Verlauf deutlich. Die Äußerungen über seine Zwiespältigkeit gegenüber seiner Zukunft, seine Mutmaßungen über den vermeintlichen Verräter und die unvoreingenommene Beurteilung der anderen Gruppenmitglieder basiert auf der Perspektive des homodiegetischen Erzählers, da dieser im Gegensatz zu anderen Erzählperspektiven keinen Grund hat, »sich im Schweigen zu üben, da er sich selbst gegenüber nicht zur Diskretion verpflichtet ist.«83 Den anderen Terroristen gegenüber jedoch verbieten sich derlei Äußerungen schon aufgrund seines Inklusionsbestrebens. »Ich habe einen nassen linken Fuß, denke: Die offenen Blasen werden sich entzünden. Denke: So weit kommt es nicht mehr. Der Impuls zu lachen, laut und irre.« (HK 53) »Ich befestige Handgranaten am Gürtel, nehme ein Gewehr, verstaue zusätzlich Magazine. Eine sonderbare Mischung aus Erregung und Furcht.« (HK 56) »Die dumme Hoffnung, daß wir uns verfahren, daß der Kampf, der Tod verschoben würde. Auf morgen, auf unbestimmte Zeit.« (HK 59) »Es gibt kein Zurück. Ich will nicht zurück. Ich will, daß es endlich anfängt, damit es bald vorbei sein kann. Dann beginnt das wirkliche Leben […].« (HK 60)

Das Einschließungsmerkmal der terroristischen Gruppe, die Überzeugung für Gott zu kämpfen und gegebenenfalls auch zu sterben, tritt innerhalb dieser Grenzsituation für 81 »D.h.: Ob es uns gelingt, Gottes Botschaft zu verbreiten oder nicht, was habt ihr Ungläubigen zu gewinnen?« (ASAD, Muhammad: Die Botschaft des Koran, S. 1082.) 82 JASPERS, Karl: Philosophie, S. 225. 83 GENETTE, Gérard: Die Erzählung, S. 141.

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Sawatzky in ein Konkurrenzverhältnis mit seinem Willen zu überleben. Bevor es zu der gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen der Gruppe und den ägyptischen Streitkräften kommt, wird ein Kampf im Inneren des Protagonisten ausgefochten. Bereits hier beginnt, was später offenkundig wird: Der durch den Verrat hervorgerufene Zweifel spaltet die soziale Gruppe, das gemeinsame Ziel, die Zerstörung der Tempelanlage, kann aufgrund des militärischen Eingreifens nicht ausgeführt werden, weshalb die inneren Gemeinsamkeiten schwinden und die Gruppe auseinanderbricht. Die Mitglieder werden zu Einzelkämpfern, was lakonisch von Sawatzky kommentiert wird: »Unsere Einheit ist zerfallen.« (HK 30) Die Angst gewinnt in Sawatzkys innerem Kampf gegen Ende der geschilderten Kampfszene die Oberhand: »Erneut Kugelhagel aus der Luft, wenige Meter neben uns. Die Umgebung vibriert zwischen Sonnenstrahlen, verhuschten Schatten. Wir laufen, so gut es geht. Die Grenzen der Dinge lösen sich auf. […] Doppelbelichtung durch Braunglas, ungefilterte Flecken vom Rand der Brille her. Schweißtropfen verwischen das Bild.« (HK 67f.)

Für das Verschwimmen gibt es auf der sachlichen Ebene eine biologische (Schweiß) und eine technische (Sonnenbrille) Erklärung. Doch was an dieser Stelle primär geschildert wird, ist die Reaktion auf die Angst, die sich im Verlauf des Anschlagtages, während des Fußmarsches zu dem verabredeten Ort und vor allem nachdem die Vermutung aufkam, dass sie verraten wurden, immer weiter in dem Protagonisten ausgebreitet hat und nun, während des Kampfgeschehens, ihren Höhepunkt findet. Besonders die ›verhuschten Schatten‹ deuten auf (Todes-)Angst hin. Die gegnerischen Soldaten können von Sawatzky nicht klar lokalisiert und damit auch nicht bekämpft werden; mit seinen Waffen, dem Gewehr und den Handgranaten, ist er darauf angewiesen, das Ziel genau anzuvisieren und zielen zu können. Sawatzkys Blindheit kommt noch an anderen Stellen zum Ausdruck: »Das verdammte Zwielicht. Ich werfe die Brille weg, bin im ersten Moment blind.« (HK 68) »Die Sonne blendet. Die Sonne wird einen Moment lang schwarz.« (Ebd.) »Die Hitze. Das Flirren des Lichts. Gott. Ich kann nichts erkennen, kneife die Augen zusammen, gebe mir Schatten, die Hand wie einen Schirm an den Brauen.« (HK 69)

Gerade das Motiv der Blindheit ist in diesem Kontext ein kompositorisch höchst wirkungsvolles Element. Die Islamisten nehmen ja gerade für sich in Anspruch, den Willen Gottes zu verstehen und zu verwirklichen, sie sind also im Gegensatz zu den sogenannten Ungläubigen ›sehend‹. Dieser Gotteskrieger hingegen wird geblendet, kann also – trotz der Anrufung Gottes – nicht sehen. Die bereits vorher bestehende tiefgehende Verunsicherung, bricht in der Situation des Überlebenskampfes physisch hervor und wird zur Blindheit potenziert. Nach dem gescheiterten Übersetzen mit den Booten und dem Kampfgeschehen, das die ägyptischen Soldaten durch ihre Übermacht für sich entscheiden können, wird Sawatzky nicht, wie er zunächst annimmt, getötet, sondern mittels äußerster Brutalität festgenommen. Auch in diesem Zusammenhang werden Grenzen auf kultureller Ebene inszeniert. Diese werden zum einen in der Aussage des ägyptischen Soldaten, der ihn überwältigt, anschaulich: »›What the fuck you want in Egypt, son of a bitch? […] This is not your country.‹« (HK 71f.) Er spricht Sawatzky in engli-

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scher Sprache an, die weder seine noch Sawatzkys Muttersprache, sondern eine universelle Weltsprache ist. Durch die Wahl der Sprache wird bereits gezeigt, dass neben der Grenze, die zwischen zwei gegnerischen Seiten gezogen wird, auch eine auf kultureller bzw. nationaler Zugehörigkeit beruhende gezogen wird. Der Hinweis des Soldaten darauf, dass Ägypten nicht Sawatzkys Land sei und somit impliziert, dass er hier keine Handlungsbefugnis habe, unterstreicht dies noch. Für Sawatzky, der sich die arabische Sprache angeeignet hat, um den Vorschriften des Islam gemäß den Koran in der Originalsprache lesen zu können, ist die Sprachwahl eine Beleidigung: »Sie sollen arabisch reden. Wenn Rashid sie informiert hat, werden sie wissen, daß ich arabisch spreche, die Sprache Gottes.« (HK 74) Somit wird die englische Sprache, die eigentlich Grenzen überwinden soll, als Exklusionsmerkmal aufgefasst, das Sawatzky wiederum vor Augen führt, dass er von anderen als nicht zugehörig, als Fremder charakterisiert wird. Zudem identifizieren die Streitkräfte Jochen Sawatzky sofort als ›den Deutschen‹. Die direkte Reaktion auf diese Feststellung ist der Ausruf »Heil Hitler!« (HK 73) Damit wird unmittelbar ein Zusammenhang zwischen der deutschen Nationalität und der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands hergestellt. Obwohl Sawatzkys Geburt merklich nach der Zeit des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg war (wie aus dem ersten Bericht des Botschafters hervorgeht, wurde Sawatzky 1963 geboren), wird die Verbindung direkt hergestellt. Dies deutet auf ein bestimmtes Fremdbild des ägyptischen Soldaten von Deutschen hin, das mit Sawatzkys Selbstbild nicht übereinstimmen kann, da er sich explizit, nachdem er konvertierte, von Deutschland insgesamt distanzierte.84 Der Protagonist allerdings stellt im Handlungsverlauf kurze Zeit später selbst einen Vergleich an, der auf das gleiche Bild referiert, die Seiten dabei jedoch verkehrt: »Sie [die ägyptischen Soldaten] beziehen Gehälter, bei denen ihnen klar ist, daß sie von Ungläubigen bezahlt werden. Außerdem: eine Belobigung vom General persönlich, Orden aus gestanztem Blech, eine Sonderzuweisung für besondere Verdienste. Die Kinder, sie wollen ernährt sein. – Dafür sind die Deutschen scharenweise in die NSDAP eingetreten.« (HK 78)

Dieser Vergleich der ägyptischen Soldaten mit den Mitgliedern der NSDAP gibt zum einen den Hinweis darauf, dass sich Sawatzky von seiner Identität als Deutscher und seinem Kulturraum eben doch nicht vollständig trennen kann, denn durch das stete Betonen des Getrenntseins und des Abstandes zu seiner Vergangenheit wird genau das Gegenteil hervorgebracht, es zeigt die Verbindung zu seinem Herkunftsland. Zum anderen werden durch den Vergleich auch die Grenzen zwischen den Ländern Ägypten und dem nationalsozialistischen Deutschland hinsichtlich ihrer Staatsform aufgehoben, wodurch Ägypten bereits an dieser Stelle, in den Gesprächen mit Cismar führt er dies ebenfalls an, als Diktatur erscheint. Zudem zeigt die gegenseitige Zuschreibung, nationalsozialistischem Gedankengut anzuhängen, nicht nur die Konno84 Vgl. dazu zum Beispiel den Wunsch nach der Festnahme, nicht nach Deutschland zurück zu müssen: »Ich will nicht nach Deutschland überstellt werden. Ich will nicht zurück in dieses verkommene Land, das Gott vergessen hat, das nur dem Geld und Amerika dient.« (HK 82)

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tation und Etikettierung mit dem ›absolut Bösen‹, sondern auch die reziproken Benennungspraktiken, die bereits im Zusammenhang mit der Bezeichnung von Gruppen oder Personen als Terroristen offenkundig wurden. Das geschilderte brutale Vorgehen der ägyptischen Streitkräfte manifestiert sich nicht nur in Schlägen, Tritten und Beschimpfungen gegen den mittlerweile wehrlosen Gefangengenommenen, sondern vor allem auch im Urinieren eines Soldaten auf Sawatzky: »Ein anderer öffnet seine Hose, packt das Glied aus, pißt mir ins Gesicht. ›Be sure German asshole you will die, too.‹ Es ist klein, lilafarben, beschnitten.« (HK 73)85 Das Urinieren in das Gesicht zeigt einerseits die äußerste zur Schau gestellte Verachtung, ist andererseits aber auch eine Machtdemonstration und zwar von der militärischen Seite, die in der Gemengelage der Kriegsparteien vermeintlich assoziiert wird mit Ordnung, Recht und zivilisiertem Verhalten, da sie die einzige Seite ist, die rechtlich an internationale Abkommen wie die Genfer und Haager Konventionen gebunden ist. Das verachtende Verhalten der Soldaten ist indes nicht nur auf einer kriegerischen Ebene zwischen Soldat und Terrorist angesiedelt, sondern entfaltet für Sawatzky auch eine weitere, tiefergehende Bedeutung: Es findet zwischen Männern der gleichen Glaubensgemeinschaft statt. Sein Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit steht in einem krassen Gegensatz zu den Praktiken der Soldaten und zeigt, dass er sein Ziel nicht erreicht hat. Eine Grenzüberschreitung, welche die bewegliche Figur von einem semantischen Raum in den anderen versetzt, um sich danach in dem neuen Teilraum einzugliedern, ist gescheitert. Diese entwürdigende Machtdemonstration sowie das gewalttätige Vorgehen der Soldaten insgesamt in Verbindung mit den Mutmaßungen Sawatzkys, im Gefängnis gefoltert zu werden (wie oben erläutert, stellt der Botschafter Cismar später tatsächlich zahlreiche Verletzungen an Sawatzky fest), spiegeln die beiden Seiten, kehren die Positionen der Kriegsakteure geradezu um: Die Terroristen, die unbewaffnete Zivilisten töten wollten und sich an keine Kriegskonventionen halten, werden nun ihrerseits getötet oder in einem Zustand der Wehrlosigkeit physisch und psychisch von der Seite misshandelt, die vermeintlich als Träger symbolischer Ordnung und im Namen der Menschenrechte handelt. Damit verschwimmt nicht die Grenze zwischen den Akteuren, sie sind von Anfang an durch die Ich-Perspektive Sawatzkys genauestens unterschieden. Der Schwerpunkt des Romans liegt auch nicht in der Darstellung der Dialektik der Grenze, also der Grenze und deren Überschreitung (oder gar der Entgrenzung). Vielmehr wird die Sinnproduktion der Grenze, werden die Konnotationen, die mit den unterschiedlichen Teilbereichen verbunden sind, literarisch vorgeführt und im gleichen Zuge umgekehrt, wodurch binäre Strukturen grundlegend in Frage gestellt werden. Das subversive Potential des Romans liegt damit nicht darin, konkrete Lösungen für den Umgang mit dem Phänomen des Terrorismus aufzuzeigen – das Gegenteil ist der Fall, da das Scheitern der Figuren im Zentrum steht –, sondern es werden grundsätzliche Zuschreibungsmechanismen wie gut | böse oder auch richtig | falsch hinterfragt. Die Umkehrung zeigt, dass Bewertungen von Krieg und Terrorismus vor allem daraus resultieren, von welchem Standpunkt aus diese 85 Diese Erniedrigungspraxis wird auch in dem Roman Im Grenzland von Sherko Fatah dargestellt, als der Schmuggler von Soldaten festgehalten wird (vgl. die Einleitung dieser Arbeit.).

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Bereiche betrachtet werden. Durch das Vorführen der literarischen Grenzen und durch das Umkehren dieser vermeintlich klar definierten Parameter des Krieges sowie der damit verbundenen oppositionellen Strukturen werden diese Ordnungen und die damit einhergehenden Machtstrukturen hinterfragt.

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3.2 K ATEGORISCHE ABSAGE AN K ATEGORIEN . S HERKO F ATAHS D AS DUNKLE S CHIFF 3.2.1 Inhalt Der 2008 erschienene Roman Das dunkle Schiff86 von Sherko Fatah, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand,87 wird vor allem im Hinblick auf seinen Plot, der um die Themen Krieg und Terrorismus kreist, oftmals der politischen Literatur zugeordnet.88 Nach eigenen Aussagen spielt für den Autor, Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen, sein Migrationshintergrund keine allzu große Rolle, allerdings thematisiert er sein Erbe: »Ich versuche, Distanz zu schaffen zwischen mir und dieser Herkunft und das literarisch fruchtbar zu machen.«89 So sind die beiden zentralen Handlungsorte des Romans der Irak und Berlin.90 Ersterer ist für den in Ost-Berlin geborenen Fatah ein Geflecht aus eigener Anschauung durch Reisen in das Land und den Besuchen verschiedener Orte, an denen Gotteskrieger leben sowie aus Erzählungen von Einheimischen, die teilweise selbst gegen Islamisten gekämpft haben: »[E]ine Mischung von Erzähltem, Geschehenem und von Dingen, die immer mehr bedeuten, als sie direkt vor Ort zu bedeuten scheinen.«91 Zudem hatte Fatah die Möglichkeit, mit einem inhaftierten Islamisten zu sprechen, beschreibt diese Begegnung jedoch als wenig ergiebig.92 Ausgangspunkt des Plots ist der Irak, wo der Protagonist Kerim als ältester Sohn eines Restaurantbesitzers aufwächst. Nachdem Geheimdienstler Saddam Husseins seinen Vater umbrachten, muss er die Gaststätte seiner Familie weiterführen. Auf 86 Im Fließtext wird die folgende Ausgabe unter Nennung der Sigle DS und der jeweiligen Seitenzahl zitiert: FATAH, Sherko: Das dunkle Schiff. Salzburg: Jung und Jung 2008. 87 Vgl. ARNOLD, Sven Robert: Sherko Fatah, in: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. http://www.munzinger.de/search/document ?index=mol-16&id=16000000725&type=text/html&query.key=iY2byjp2&template=/ publikationen/klg/document.jsp&preview=#16000000725 [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 88 Vgl. u.a.: WEIDERMANN, Volker: Woher der Hass?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.03.2008. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/ woher-der-hass-1517264.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 89 MAGENAU, Jörg: Gespräch mit Sherko Fatah. »Auf gleicher Höhe mit den Ereignissen schreiben«, in: boersenblatt.net vom 10.01.2008. http://www.boersenblatt.net/artikelgespraech_mit_sherko_fatah.177536.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 90 Der Irak und Berlin bilden einzeln oder auch gemeinsam ebenso in anderen literarischen Werken Fatahs den Handlungsort, so zum Beispiel in seinem zuvor erschienen Roman Onkelchen von 2004. Somit stehen die Werke Fatahs auf der einen Seite durch die literarisierten Räume der Handlung und auf der anderen Seite durch die übergeordneten Themen Gewalt und Fremdheit miteinander in Verbindung und bilden somit ein intertextuelles Geflecht (vgl. ARNOLD, Sven Robert: Sherko Fatah.). 91 MAGENAU, Jörg: Gespräch mit Sherko Fatah. 92 Vgl. MAGENAU, Jörg: Gotteskrieger sind einsam, in: Der Tagesspiegel vom 02.03.2008. http://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/gotteskrieger-sind-einsam/1178598.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].

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dem Weg zu seinen Großeltern wird Kerim von Gotteskriegern entführt und verbringt mit ihnen einige Jahre. Nachdem er eine große Menge Geld stehlen konnte, gelingt ihm die Flucht zurück zu seiner Familie. Jedoch verweilt er hier nicht lange, er plant die Flucht nach Deutschland zu seinem bereits einige Jahrzehnte zuvor ausgewanderten Onkel Tarik, dem Bruder seines Vaters. Während der Überfahrt versteckt er sich in einem dunklen Laderaum eines Frachtschiffs. Hier lässt sich ein Bezug zum Titel des Romans finden: Das Adjektiv deutet dabei nicht nur auf den eben dunkel beschriebenen Raum hin, sondern auch auf die Ungewissheit der Überfahrt und die Angst, als illegaler Flüchtling entdeckt zu werden. In Deutschland angekommen, scheint Kerim seine gewalttätige Vergangenheit hinter sich lassen zu können, ihm wird sogar Asyl gewährt. Bestimmend für die Zeit in Deutschland wird jedoch das Gefühl der Heimat- und Haltlosigkeit, da er hier, im Gegensatz zu seinem Leben im Irak, Freiheiten hat, nach denen er sich zwar sehnte, die er aber nicht nutzen kann. Erst die eher zufällig anmutende Rückkehr zum Islam scheint seinem Leben wieder eine klare Richtung zu weisen. Allerdings kommt die Verbindung von Religion und Gewalt, so wie er sie in der Zeit bei den Islamisten erlebt hat, nun auch in Deutschland zum Tragen: Kerim wird in einer Moschee von einem Gotteskrieger aus dem Irak erkannt, woraufhin er als Verräter getötet wird. Flucht, Gewalt, Krieg und Terrorismus sind die zentralen Motive des Werks, die nicht nur immer wieder und in unterschiedlichen Kontexten in dem Roman verhandelt werden, sondern die sich auch stets aufeinander beziehen. So spannen sie ein reziprokes Beziehungsgeflecht auf, das alle Figuren und die Handlung determiniert. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Schicksal und eigenem Willen, zwischen Kontrolle und Kontrollverlust, zwischen Passivität und Aktivität. Nicht nur die geographische Grenzüberschreitung, sondern auch seine soziale Rolle macht Kerim zum Grenzgänger: Er vereint sowohl die Seite des Täters als auch die des Opfers in sich. Er selbst wurde zum Opfer einerseits des diktatorischen Regimes Saddam Huseins, indem Geheimdienstler willkürlich seinen Vater umbrachten, andererseits der Gotteskrieger, die seinen Tod befohlen haben. Zum anderen ist er auch Täter, vor allem in Bezug auf die terroristischen Attentate, an denen er mitgewirkt hat. So verbindet Kerim zwei zunächst gegensätzlich scheinende Positionen in sich. Diese Unzuordbarkeit verdeutlicht zum einen, dass eine klare Grenzziehung zwischen Opfer | Täter und gut | böse in dem komplexen und unüberschaubaren Geflecht kriegerischer Auseinandersetzungen kaum mehr möglich ist und stellt damit zum anderen den Sinn solcher kategorischen Einteilungen überhaupt in Frage. Die Grenzen zwischen diesen Kategorien sind fließend, auch wenn sie starr und eindeutig erscheinen, woraus eine generelle Kritik an Universalisierungstendenzen zumindest in Bezug auf den Krieg gelesen werden kann. 3.2.2 Formale Grenzen Das dunkle Schiff wird durch fünf Teile, die sich jeweils in fünf bis sieben Kapitel gliedern, strukturiert. Diesen Teilen vorangestellt ist ein Prolog, der den Leser in medias res in das Kriegsgeschehen im Irak einführt, jedoch ohne es direkt zu benennen. Aus der Perspektive eines Kindes – erst im vorletzten Kapitel des ersten Teils wird deutlich, dass es sich um den Protagonisten Kerim handelt (vgl. DS 79) – wird die Entführung einiger alter Frauen, die auf einem Feld Heilkräuter sammelten, durch

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Soldaten beschrieben, die sie in ihren Helikopter jagen und, nachdem er wieder in die Luft gestiegen ist, aus diesem stoßen. Dieses Ereignis wird in einer sehr bildlichen Sprache beschrieben, die das Grauen, das sich dahinter verbirgt, umso deutlicher hervortreten lässt: »Den Kopf im Nacken sah er die Frauen. Da fielen sie, eine nach der anderen stürzte aus der Luke, mit gebreiteten Armen glänzten sie auf im Licht, und wie um sie aufzuhalten, riss an ihren Gewändern der Wind.« (DS 7) Bereits hier wird der Hintergrund des Romans – Krieg und Gewalt, die im Handlungsverlauf immer wieder in verschiedenen Kontexten verhandelt werden – aufgegriffen. Diese Schilderung des kindlichen Protagonisten ist geprägt von »Nicht-Verstehen und Distanz zur ihn umgebenden Wirklichkeit«, die »für Kerim das bestimmende Merkmal seines Lebens bleiben«93. Die für den Prolog signifikante Verbindung von »Schönheit, Vergeblichkeit und eine[r] kaum fassbaren Gewalt« wird zum »Inbild und Menetekel des Kommenden.«94 Zugleich ist sie aber auch charakteristisch für die Darstellung und Rolle des Krieges für Kerims Familie im Speziellen und die irakische Gesellschaft im Allgemeinen in dem Roman: Die Beiläufigkeit der Beschreibung lässt darauf schließen, dass Krieg und Gewalthandlungen eine allgemeine, alltägliche Bedrohung darstellen. Dies wird auch dadurch unterstützt, dass die Hintergründe für diese Tat nicht beleuchtet werden; warum diese Frauen umgebracht wurden, wird an keiner Stelle ausgeführt, aber signifikanter Weise auch nicht, dass jemand danach fragt. Diese den Beschreibungen im Irak zugrundeliegende Grundstimmung wird durch die Praktiken des Schweigens der Figurenkollektive offenkundig: Selbst, wenn sie es wüssten, würden sie nicht darüber sprechen: »Niemand kritisierte die Führung offen, aber in den Gesprächen der Männer entstanden öfter unvermittelt Pausen, die niemand unterbrach, ganz so, als hätte ihr Reden geschwärzte Passagen.« (DS 47)95 So steht bereits zu Anfang des Romans das kindliche NichtVerstehen-Können der erwachsenen Praktik des Nicht-Sprechen-Dürfens in einem dialektischen Verhältnis gegenüber, was die Auswirkungen der Atmosphäre des Krieges und der Bedrohung auf gesellschaftlicher Ebene zum Ausdruck bringt. Die fünf Teile des Werks können allgemein als Stationen von Kerims Leben zusammengefasst werden: seine Kindheit, seine Entführung und das Leben mit den Glaubenskriegern, die Flucht nach und das Leben in Deutschland, wo er trotz des Versuchs, einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen, wieder von

93 ARNOLD, Sven Robert: Sherko Fatah. 94 FESSMANN, Meike: Ein Rudel Hunde, in: Süddeutsche Zeitung vom 04.03.2008, S. 16. 95 Durch das dezidierte Benennen der Zensur, der Gefahr, die von achtlosen Worten ausgeht und der Einschränkung der Meinungsfreiheit wird zum einen eine spezifische Atmosphäre, die sich durch die komplette Erzählung im Handlungsraum Irak zieht, aufgespannt und zum anderen wird die staatliche Seite als diktatorische entlarvt, die die Bevölkerung ebenso unterminiert wie die Islamisten. Dieser benennende Gestus steht gerade dem entgegen, was König konstatiert, wenn er auf der Grundlage der Pausen und Auslassungen in Fatahs Roman schreibt, dass auf diese Weise die »vom Staatsterrorismus zu verantwortenden Sprechweisen augenscheinlich selbst zum poetologischen Prinzip [des Romans] gemacht« werden. (KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 189.)

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seiner Vergangenheit – in Gestalt des irakischen Gotteskriegers96 Rashid – eingeholt wird. Trotz dieser Stationenstruktur sind die Teile nicht als Brüche, sondern überwiegend als Fortführungen konzipiert. In dieser Organisation nimmt der dritte Teil eine besondere Position ein: Er umfasst die Mitte des Romans und beschreibt Kerims Überfahrt nach Deutschland. Diese inhaltliche Grenzüberschreitung, die der Protagonist zu einem vermeintlich besseren Leben verhelfen soll, trennt ebenso auf der paradigmatischen Ebene die semantischen Räume voneinander. So ist auch zwischen dem dritten und vierten Teil der einzige Bruch des Romans sowohl auf zeitlicher als auch auf räumlicher Ebene deutlich zu erkennen: Nachdem Kerim von zwei Fischern von einer Insel gerettet wurde, auf der er mit einem Floß strandete, beginnt der vierte Teil in Deutschland. Wie er den Weg bis dorthin zurücklegte bleibt eine Leerstelle im Roman, die auch im weiteren Verlauf nicht gefüllt wird. Anders gelagert ist der Bruch innerhalb des zweiten Teils von Kapitel drei zu vier. Während das dritte Kapitel mit einer Ansprache des Lehrers über den Krieg gegen die »Ungläubigen« (DS 150) endet, um die Dschihadisten auf die bevorstehenden, kriegerischen Ereignisse einzustimmen, beginnt das vierte mit der Rückkehr Kerims in seine Heimat. Der zeitliche Bruch wird durch die einleitenden Worte »[g]egen Ende des Sommers kam er nach Hause zurück« (DS 152) deutlich. Dass er geflohen ist und zuvor viel Geld gestohlen hat, ist zwar direkt offenkundig, jedoch nicht, wie es zu der Flucht kam. Allerdings wird diese Leerstelle durch eine andere formale Grenze, die analeptischen Elemente des Romans, die vor allem in den Kapiteln über die Flucht nach Deutschland und besonders häufig in den Beschreibungen über die Zeit in Deutschland vorkommen, nach und nach gefüllt. Auch die Erzählperspektive beinhaltet eine formale Grenze. Der Großteil des Romans wird von einem heterodiegetischen Erzähler mit interner Fokalisierung aus Kerims Perspektive heraus geschildert, wobei seine Erlebnisse und sein Innenleben im Vordergrund stehen. An einigen Stellen jedoch wird diese Perspektive verlassen. Der erste Wechsel der internen Fokalisierung findet in dem dritten Teil statt, der sich ohnehin zum einen durch die formale Werk-Grenze und zum anderen durch die inhaltliche geographische Grenzüberschreitung charakterisiert. Während Kerim sich in einem Lagerraum des Schiffs befindet, phantasiert er sich in einer Art Dämmerzustand in die Person des durch das Schiff gehenden und ihn suchenden Bootmanns hinein. Obwohl hier kurzfristig aus dem Blickwinkel des Mannes eben diese Suche geschildert wird, erscheint dieser Perspektivwechsel eher wie ein Traum, was sich auch an Kerims plötzlichem Aufschrecken erkennen lässt (vgl. DS 234). In der Zeit, in der der Protagonist schläft und sich somit durch seine physische Bewegungslosigkeit in einem Grenzzustand der Raumlosigkeit97 befindet, überschreitet er auf mentaler Ebene die Perspektive. Während dieser Wechsel unmittelbar an Kerim gekoppelt ist, zeichnen sich die anderen dadurch aus, dass sie unabhängig von ihm funktionieren. An den beiden nächsten Stellen, in den Teilen vier und fünf des Romans, wird 96 Die Bezeichnungen ›Glaubenskrieger‹ und ›Gotteskrieger‹ werden in diesem Kontext ebenso wie in dem Roman synonym verwendet. 97 Vgl. BÖHME, Hartmut: Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie, in: Ders. (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur in transnationalen Kontext. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. IX-XXIII, hier S. XVII.

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jeweils die Erzählperspektive von Kerims deutscher Partnerin eingenommen, wobei das zentrale Motiv der Schilderungen aus dem Innenleben Sonjas die trotz ihrer sexuellen Beziehung bestehende Fremdheit zwischen ihr und Kerim ist. Die sich dadurch etablierende Grenze scheint weniger auf kulturellen Differenzen zu basieren, sondern viel mehr in Kerims Verhalten, das sich vornehmlich aus seiner Vergangenheit erklären lässt, begründet zu liegen: »Er, der immerzu schwankte zwischen anziehender Fröhlichkeit und abweisendem Ernst, so starr, als würde er aus zwei verschiedenen Personen bestehen, er wollte zu viel von ihr, das wusste sie plötzlich.« (DS 327) Dieses Gefühl der Distanz, der Fremdheit steigert sich während des zweiten Perspektivwechsels: »Aber jetzt habe ich Angst vor ihm. Ich weiß nicht, wer er ist, ich weiß nicht, was er tut.« (DS 386) Die Grenze, die hier auf formaler Ebene durch den Wechsel der internen Fokalisierung gezeigt wird, äußert sich somit auch auf der inhaltlichen. Die letzten beiden Kapitel des Romans werden gänzlich durch das literarische Mittel des Perspektivwechsels bestimmt. Während die vorherigen lediglich Einschübe darstellen, die, ähnlich der zahlreichen Analepsen, in den Text eingestreut werden, wird das fünfte Kapitel ausschließlich aus der Sicht Amirs geschildert, weshalb es sich bereits auf formaler Ebene von dem restlichen Text unterscheidet. Hier wird mittels einer Analepse unter anderem davon berichtet, wie dieser in den Kreis der in Deutschland aktiven Islamisten gelangt ist. Im Gegensatz zu Kerim, der im Irak von den Gotteskriegern entführt wurde und damit aus einem zunächst passiven Verhalten heraus in Kontakt mit der Gruppe kam, nähert sich Amir ihnen sukzessive und bewusst an. Mehr noch: er unterwirft sich ihren restriktiven Regeln, die seinem Leben Ordnung geben (vgl. DS 426). Durch das dargestellte Innenleben des in Deutschland geborenen und wohlsituierten Amir wird so ein zweiter möglicher Weg, ein Gotteskrieger zu werden, beschrieben, der nicht nur diejenigen Erklärungsmuster entkräftet, die sich vor allem auf die kriegerischen Situationen in anderen Ländern stützen, sondern zugleich auch direkt auf den eigenen Kulturraum verweist. »Mit der Figur des Amir ist ein Typus des Selbstmordattentäters entworfen, der – aus gesicherten sozialen Verhältnissen kommend und in einer modernen Gesellschaft sozialisiert – der vermeintlichen Demütigung der muslimischen Kultur durch die westliche Zivilisation entgegenarbeitet.«98 Somit wird hier geschildert, dass auch in Deutschland, einem vermeintlich friedlichen Land, erfolgreiche Anwerbungen stattfinden und zugleich wird auf das Phänomen des ›homegrown terrorist‹, das auch ein entscheidendes Merkmal von Peters’ Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges ist,99 aufmerksam gemacht. Die Distanz, die der Leser zuvor durch den Handlungsort Irak hätte aufbauen können, wird spätestens an dieser Stelle durchbrochen; die Grenze zwischen den entfernten Räumen wird ausgehebelt. Das letzte Kapitel des Romans zeichnet sich durch seine multiplen internen Fokalisierungen aus, wodurch dieses Stilmittel, parallel zum Höhepunkt des Romans, seine äußerste Entsprechung findet. Es beginnt mit Amirs Sicht, der den Auftrag 98 GANSEL, Carsten: »Der Tod ist ein Geschenk« – Störungen in der Adoleszenz und terroristische Selbstmordattentate in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, in: Ders./Kaulen, Heinrich (Hrsg.): Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2011, S. 247-262, hier S. 259f. 99 Vgl. Abschnitt III, Kapitel 3.1.

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bekam, Kerim zu töten und sich wartend an einer Stelle verbirgt, die Kerim passieren wird. Daraufhin wird ein Einschub installiert, der aus dem Blickwinkel von Kerims Onkel Tarik berichtet, der das durch einen Anruf von Sonja hervorgerufene Gefühl der Unruhe bezüglich Kerim artikuliert. Sonja, die ebenfalls aus Sorge den Anruf tätigte, steht nun wieder im Fokus der Erzählung. Es wird aus ihrer Perspektive geschildert, dass sie sich emotional von Kerim distanziert hat, wodurch, ohne es explizit zu benennen, suggeriert wird, dass die Liebesbeziehung der beiden gescheitert ist. Die beiden Abschnitte aus der Sicht von Tarik und Sonja haben beinahe proleptische Züge, da sie auf etwas zukünftig Negatives hindeuten, wobei der Leser durch seinen Informationsvorsprung bereits weiß, dass sich Kerim in akuter Lebensgefahr befindet. Die letzten Seiten des Romans werden erst aus der Sicht Amirs, dann aus der Sicht Kerims wiedergegeben. Der Perspektivwechsel findet nach dem Angriff auf Kerim statt, als Amir ihn bereits tödlich verwundet hat. Allerdings ist die Überschreitung dieser Grenze nicht ganz so deutlich, wie bei den vorherigen, sondern fließend. Zum Abschluss der Szene, bevor Kerim stirbt, werden seine Erinnerungen an ein Gespräch mit der Figur der ›Lehrer‹ wiedergegeben, der unter anderem über den Einsturz des World Trade Centers spricht, wodurch das Ende des Romans durch einen Verweis auf den außertextuellen Raum und den internationalen Terrorismus determiniert ist und zugleich eine zirkuläre, grenzüberschreitende Struktur offenbart: Krieg, Terrorismus, Tod und Leid sind überall präsent. Somit können als zentrale Momente des Werkes, die sich in allen Teilen und Kapiteln wiederfinden und so das verbindendende Charakteristikum der Grenze inszenieren, der Krieg und der Terrorismus festgehalten werden, die implizit oder explizit stets eine Rolle spielen. Sie haben Einfluss auf die Praktiken und das Leben der Figuren, sind durch mündlich tradierte Geschichten anwesend oder durch Nachrichten im Fernsehen präsent. Das Leben bei den Gotteskriegern, an das sich Kerim in Deutschland immer wieder erinnert, fügt alle Ereignisse sowohl im Irak als auch in Deutschland zusammen. Es macht deutlich, dass selbst eine räumliche Trennung nicht zwangsläufig zu Abstand oder einer psychischen Verarbeitung des Erlebten führt und ist somit grenzüberschreitend. 3.2.3 Ein Leben an | auf der Grenze: die Gotteskrieger Kerim, der nach dem Tod seines Vaters als Oberhaupt der Familie fungiert, wird von seiner Mutter darum gebeten, den jährlichen Besuch bei ihren Eltern aufgrund der »Meldungen über einen bevorstehenden amerikanischen Angriff auf das Land« (DS 101) allein zu übernehmen. Froh, dem verantwortungsvollen, fremdbestimmten und zugleich routinisierten Alltag zu entkommen, fährt Kerim Richtung Osten nach Halabja. Bereits zu Beginn der Reise deutet sich an, dass der Weg zu den Großeltern nicht ungefährlich ist: »Einer [der Kontrollposten] deutete etwas von Unruhen im Tal an, wurde aber von seinem Vorgesetzten unterbrochen. Der sagte, wenn es wichtig sei, könne man fahren, jedoch auf eigenes Risiko, ganz sicher sei es zurzeit nirgends.« (DS 102) Die Präsenz der ständig über der Bevölkerung schwebenden Bedrohung, der scheinbar eine Art Gewöhnungseffekt immanent ist, kommt hier zum Vorschein. Zwar wird auf Priorität verwiesen und von unnötigen Fahrten abgeraten, allerdings ist der Hinweis auf die durch die Kriegsereignisse verursachte unsichere Lage im ganzen Land das dafür entscheidende Merkmal. Kerim, der die Fahrt zu den

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Großeltern als kurzweilige Flucht aus dem immer gleichen Restaurantalltag begreift, fährt weiter: »Kerim spürte, dass die Sache gefährlicher war, als die Posten zugaben, doch er wollte nicht umkehren. Im Gegenteil, die Unsicherheit reizte ihn, er sehnte sich nach einem kleinen Abenteuer.« (DS 102) Kerims eigene Intuition deutet an dieser Stelle schon an, dass ihm etwas zustoßen könnte, ist aber nur ein Teil von weiteren, besonderen Gegebenheiten während der Fahrt, in deren Summe sich eine solche Vorahnung potenziert: Ein Mann, der, »die erhobenen Hände neben dem Kopf, betend unter einer einsamen, majestätischen Pappel« (DS 104) kniet, verweist bereits auf die Sphäre des Religiösen, die mit der Entführung durch die Gotteskrieger Kerims Leben zeitweise bestimmen wird. Auch der Friedhof, an dem der Protagonist vorbeifährt, kann als Vorausdeutung gelesen werden. »Auf dem letzten Stück der Strecke sah er auch den Friedhof am Hang wieder. Noch immer wollten die Toten herabrutschen und die Straße unter sich begraben.« (DS 104) Die aus dieser Vorstellung resultierende Angst überkam Kerim bereits einmal als Kind, während er und seine Familie ebenfalls auf dem Weg zu seinen Großeltern waren und wegen eines Giftgasangriffs auf Halabja umkehren mussten. Hier wird offenbar auf den real-historischen Chemiewaffenangriff von Saddam Husseins Truppen am Ende des Ersten Golfkrieges 1988 referiert, der sich nicht dezidiert gegen das feindliche Militär des Iran an der Front richtete, sondern auch gegen Zivilisten im Inland. Der Angriff auf die kurdische Stadt Halabja, die von iranischen und kurdischen Soldaten besetzt worden war, gilt als größter Giftgasangriff nach dem Ersten Weltkrieg.100 Erwähnenswert scheint in diesem Kontext, dass der Befehl für die Verwendung von Giftgas nicht aus gegnerischen Reihen, sondern, wie auch der Roman explizit deutlich macht, von der eigenen Regierung, von der »Führung in Bagdad« (DS 33) selbst kam. Eins der angestrebten Ziele des Golfkrieges zwischen dem Iran und dem Irak war »eine Schwächung der sich eben erst konsolidierenden Islamischen Revolution im Iran, um ein Übergreifen religiös-fundamentalistischer Ideen auf die unterprivilegierte schiitische Bevölkerungsmehrheit (ca. 60%) im eigenen, nationalistisch-laizistisch orientierten Staat zu verhindern.«101 Diese diskursive Erinnerung an die real-historischen Kriegsgeschehnisse wird an genau der Stelle des Romans ins Gedächtnis gerufen, kurz bevor Kerim von den Gotteskriegern entführt wird. Die Bilder der Religion, des Todes – der überfüllte Friedhof, »der bersten zu wollen schien« (DS 35f.) und Kerims Angst, von »[t]ausende[n] blassgraue[n] Knochen« (DS 36) begraben zu werden – und des Krieges bilden so den Hintergrund für die weitere Handlung. Kurz bevor er in der Stadt Halabja ankommt, versucht Kerim die Ankunft hinauszuzögern, »um seine kurze Freiheit noch mehr zu genießen« (DS 104) und macht eine Pause an einer Betonbrücke. Neben der Beschreibung der idyllischen Natur, wie 100 Vgl. GÜNTHER, Siegwart-Host: Der Golf nach den Kriegen, in: Rupp, Rainer/Brentjes, Burchard/Günther, Siegwart-Host (Hrsg.): Vor dem dritten Golfkrieg. Geschichte der Region und ihre Konflikte. Ursachen und Folgen der Auseinandersetzung am Golf. Berlin: Edition Ost 2002, S. 177-234, hier S. 189. 101 TRAUTNER, Bernhard J.: Der Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak (1980-1988), in: Pfetsch, Frank R. (Hrsg.): Konflikte seit 1945. Daten – Fakten – Hintergründe. Die Arabisch-Islamische Welt. Mit Beiträgen von Bernhard J. Trautner und Peter Billing. Würzburg: Pleotz 1991, S. 173-177, hier S. 173.

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dem klaren blauen Himmel und dem ihn amüsierenden »klatschenden Geräusch der Schafsohren« (DS 105) werden auch Geräusche von Schüssen erwähnt, die Kerim zwar kurz aufschrecken lassen, aber »nichts Außergewöhnliches« (DS 105) darstellen, was nochmals einerseits die Omnipräsenz des Krieges und andererseits die ausgestellte Normalität, also das Zusammenspiel von diskursivem Wissen über den Krieg und der praktischen Handhabung dessen, unterstreicht. Somit sind es schließlich nicht die Schüsse, die Kerim beunruhigen, sondern die ihm plötzlich bewusst werdende »Verlassenheit dieses Ortes« (DS 105). Bedeutend ist der konkrete Raum, in dem sich Kerim befindet: Die Brücke als »Transmitter-Erscheinung«102 versinnbildlicht Grenzen wie kaum ein anderes Artefakt. Die Denkleistung des Trennens und Verbindens ist laut Simmel eine Konstruktion, die nur dem Menschen inhärent ist, »und zwar in der eigentümlichen Weise, daß eines immer die Voraussetzung des anderen«103 darstellt. Der Mensch, im Gegensatz zum Tier, verbinde zwei Orte miteinander und zwar objektiv, indem ein Weg sichtbar wird. »Im Bau der Brücke gewinnt diese Leistung ihren Höhepunkt. Hier scheint nicht nur der passive Widerstand des räumlichen Außereinander, sondern der aktive einer besonderen Konfiguration sich dem menschlichen Verbindungswillen entgegenzustellen. Dieses Hindernis überwindend, symbolisiert die Brücke die Ausbreitung unserer Willenssphäre über den Raum.«104

Neben der Funktion des Verbindens markiert die Brücke auch zugleich das permanente Getrenntsein der beiden Orte, weshalb sie ein Raum der Unentschiedenheit ist: Sie gehört weder zu dem einen noch zu dem anderen Ort und ist so »ein Inter-, ein Zwischenstadium, eine Irritationszone.«105 Dass Kerim gerade hier von den Gotteskriegern entführt wird, hat auf mehreren Ebenen eine symbolische Bedeutung. Zum einen stellt dieses Artefakt einen Weg zwischen zwei – getrennten – Räumen dar. Wenn dieser Weg der Brücke seinen Lebensweg symbolisiert, ist der Ausgangspunkt die Sphäre des Kindseins, die, obwohl der Krieg stets präsent ist und sogar sein Vater von Geheimdienstlern getötet wurde, ein recht friedvolles Leben darstellt. Der Endpunkt der Brücke, auf den er sich, ohne es zunächst zu wollen, zubewegt, steht symbolisch für den Krieg, für den aktiven Kampf im Namen Gottes, den die Gotteskrieger verfolgen. Diese beiden Pole, die sich diametral gegenüberstehen, verweisen im Zusammenhang des Überquerens der Brücke auf mehrere entgegengesetzte Aspekte wie beispielsweise einen Übergang von der Legalität zur Illegalität, von einem unreligiösen Leben zum Fanatismus, von einem verwöhnten Jungen zu einem kämpfenden Gotteskrieger, von einem passiven Kriegerleben zu einem aktiven Krieggestalten. Zum anderen ist einer Brücke stets ein Schwanken inhärent, eine Bewegung,

102 THIEL, Roger: Brücken-Reflexionen. Zum Problem des Übergangs bei Simmel, Nietzsche, Heidegger und Kafka, in: Görner, Rüdiger/Kirkbright, Suzanne (Hrsg.): Nachdenken über Grenzen. München: iudicium 1999, S. 83-103, hier S. 83. 103 SIMMEL, Georg: Brücke und Tür, in: Ders.: Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin: Wagenbach 1984, S. 7-11, hier S. 7. 104 Ebd., S. 8. 105 THIEL, Roger: Brücken-Reflexionen, S. 83.

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ein Gefühl der Unsicherheit.106 Übertragen auf den Protagonisten Kerim ist dieses Gefühl lange in Form der Angst, nach der Entführung von den Glaubenskriegern umgebracht zu werden, präsent. Unsicherheit besteht aber auch in Bezug auf einen neuen Lebensabschnitt, sowohl hinsichtlich seines Lebens, in Glaubensfragen als auch später bei vielen Handlungen der Gotteskrieger. Das Artefakt symbolisiert hier somit den Anfang einer Phase der Unentschiedenheit und Gefahr. Neben der schwankenden Bewegung zeichnet die Brücke aus, dass sie starr und bewegungslos zwei genau festgelegte Orte markiert. Kerims bisheriges Leben erstarrt durch die Entführung ebenfalls, es wird unterbrochen. Durch seine Heimkehr konstituiert sich eine zyklische Struktur, das Leben, das durch die Entführung innegehalten wurde, läuft weiter, jedoch unter geänderten Bedingungen: Kerim hat sich äußerlich und innerlich durch die ›Zwischenstation‹ gewandelt, er hat neues Wissen erlangt und seine Praktiken denen der Gotteskrieger angepasst, was eine endgültige Rückkehr in sein altes Leben unmöglich macht. Somit ist diese Brücke als »räumliche und zeitliche Demarkationslinie«107 zu bezeichnen, die den Anfang von Kerims Zeit bei den Glaubenskriegern verbildlicht, ebenso wie die räumliche Trennung von seinem vorherigen Leben.108 Die Brücke, die selbst ein Differenzphänomen ist, läutet so den Lebensabschnitt Kerims ein, der als liminale Phase, als Phase des Übergangs, beschrieben werden kann: das Leben bei den Gotteskriegern. Dieses beginnt für den Protagonisten mit Todesangst: »Langsam hob der Mann den Lauf seiner Kalaschnikow, legte auf Kerim an und entsicherte das Gewehr. Das Klicken ließ Kerim augenblicklich erstarren, und für zwei lange Sekunden glaubte er, sterben zu müssen.« (DS 105) Doch er wird nicht erschossen, sondern soll lediglich sein Auto steuern und vier Terroristen in ein Lager fahren.109 Interessant ist an dieser Stelle, dass diese keiner terroristischen Gruppierung zugewiesen werden, sondern

106 Vgl. ebd., S. 84. 107 Ebd., S. 85. 108 Die Brücke als Symbol des Aufbruchs, des Neuanfangs, aber auch der Unsicherheit wird in dem Roman an weiteren Stellen aufgegriffen (vgl. DS 181, 156 und 339). An dieser Stelle soll kurz auf die Passage eingegangen werden, die die Brückenmetaphorik nicht nur mit Gewalt in Verbindung bringt, sondern auch mit dem Interdiskurs der Medien: Nachdem auf eine allgegenwärtige Gefahr noch einmal dezidiert aufmerksam gemacht wird, was sich sowohl in Drohungen gegen die Amerikaner als auch in der Benennung des »Emirs Zarquawi« manifestiert, wird über »eine Gruppe von Kontraktarbeitern und Geheimdienstleuten« berichtet, die in der Nähe einer Highway-Brücke getötet und anschließend an dieser aufgehängt wurden: »Die Bilder der verbrannten und verstümmelten Leiber, aufgehängt an den stählernen Trägern der Brücke, gingen um die Welt.« (DS 156) 109 Die Beschreibung der Entführung Kerims ist prototypisch für das, was Peters beschreibt: Kerim ist nicht Subjekt seiner eigenen Geschichte, sondern mit ihm geschieht etwas, auf das er keinen Einfluss hat (vgl. PETERS, Sabine: Täter und Opfer. Nicht sehen, hören, schreien, in: Frankfurter Rundschau vom 25.02.2008. http://www.fr-online.de/literatur/ taeter-und-opfer-nicht-sehen--hoeren--schreien,1472266,3124222.html [letzter Zugriff: 07.06.2017].).

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lediglich geäußert wird, dass es sich um Kurden110 handle (DS 106), wodurch eine außertextuelle Gruppe benannt wird, die keinesfalls homogen, sondern in verschiedene Stämme unterteilt ist, die unterschiedlichen Ausprägungen des Islam angehören und die unter anderem sowohl in der Türkei, in Syrien, im Irak als auch im Iran beheimatet sind. Damit wird im Gegensatz zu der außerliterarischen Referenz ›Saddam Hussein‹, die gleich mehrfach im Zusammenhang mit staatsterroristischen Aktionen im Roman genannt wird, die Gruppe der Terroristen deutlich weniger eingegrenzt, sie verbleiben in definitorischer Unschärfe. Dies könnte ein erster literarischer Hinweis darauf sein, dass neben der konkreten Bedrohung durch einen Staat, der Terror ausübt – hier der Irak – islamistischer Terrorismus nur schwer eingrenzbar ist und nicht lediglich auf ein einziges Land beschränkt werden kann. Der Verweis auf die Zugehörigkeit der Männer zu der Gruppe der Kurden fügt sich wiederum mit dem Bild zusammen, das im Vorfeld durch Kerim von dem Gasangriff auf Halabja gezeichnet wurde und an dieser Stelle noch einmal in Form eines Mahnmals, »welches die Kurden zum Gedenken an die Opfer des Gasangriffs errichtet hatten« (DS 107), verdinglicht wird. Dieser artefaktische Erinnerungsort verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander. Es ist am deutlichsten der Kategorie der »revolutionären Denkmäler«111 zuzuordnen, die sich besonders dadurch auszeichnen, zukunftsgerichtet zu sein und »an die noch nicht zum Ziel gekommenen Kräfte der Geschichte«112 zu appellieren. Dieses Artefakt, das räumlich festgelegt ist, nämlich nahe dem Ereignis, an das es erinnert, ist auf der zeitlichen Ebene grenzüberschreitend, da es von dem vergangenen Gasangriff auf die Kurden in die Zukunft, eventuell auf den zukünftigen Kampf der Kurden, verweist und erlangt so innerhalb der Praktik des Gedenkens eine kulturelle und soziale Bedeutung. Auf der literarischen Ebene deutet auch dieses Denkmal somit einerseits auf die Sphäre des Kampfes, die Kerim als Gotteskrieger noch bevorsteht, andererseits auf die Ungewissheit seiner Zukunft hin. In diesem Sinne kann es als eine Vorausdeutung auf die weiteren Romanhandlungen gelesen werden. Das Äußere der Islamisten zeichnet sich vor allem durch »die schmutzige, erdfarbene Kleidung und die langen Bärte«, die »sie zu einer uniformen Gruppe verschmelzen« (DS 106) lassen, aus. Im weiteren Verlauf wird zudem immer wieder auf das militärische Aussehen hingewiesen, zum Beispiel in Form der Militärhosen (vgl. DS 112), die die Gotteskrieger tragen und der Waffen, mit denen sie ausgerüstet sind (vgl. DS 124). Trotz ihrer ethnischen Zugehörigkeit und dem militärischen Auftreten werden sie in dem Roman jedoch zum einen deutlich von der kurdischen Armee geschieden: »Er [Kerim] wusste schon seit längerem, dass es in dieser Gegend eine Gruppe gab, die sich ›Gefolgsleute Gottes‹ nannte. Es waren Glaubenskrieger, die den kurdischen Milizen arg zu schaffen machten« (DS 110), zum anderen auch von 110 Hier soll keine kausale autobiographische Verbindung zu dem Vater des Autors deklariert werden, allerdings ist anzumerken, dass auch in anderen Romanen Sherko Fatahs die Gruppe der Kurden literarisch verarbeitet wird, beispielsweise in der Figur Rahman aus dem Roman Onkelchen. 111 ASSMANN, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 4., durchgesehene Auflage. München: Beck 2009, S. 48. 112 Ebd.

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den Zielen kurdischer Politiker: »›Eure Leute wollen euch nicht beunruhigen, he? Es gibt wohl schon genug Angst in der gottlosen Stadt.‹ / Kerim verstand die Anspielung auf die kurz bevorstehende Invasion der Amerikaner, welche die offiziellen kurdischen Politiker begrüßten.« (DS 107) Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass es sich bei den Gotteskriegern um eine Gruppe autonomer, radikaler Kämpfer handelt, die sich von anderen Kurden, die ebenfalls nicht einheitlich gezeichnet werden, unterscheiden.113 Die Benennung der Invasion durch die Amerikaner ist ein weiterer Referenzpunkt zu dem real-historischen Irakkrieg und die Alltäglichkeit suggerierende Beiläufigkeit, mit der dies geschieht, ist prototypisch für die zahlreichen Anspielungen des Werkes auf die außertextuellen Ereignisse im Irak. Vor allem das letzte Zitat verdeutlicht eine grenzziehende, zweifache Dichotomie, die seitens der terroristischen Gruppierung eröffnet wird. Auf der einen Seite geht es um die Glaubensfrage bzw. die Gottesfürchtigkeit, die die Glaubenskrieger für sich in Anspruch nehmen, im Gegensatz zu den Anderen, die durch das Adjektiv ›gottlos‹ charakterisiert werden. Diese asymmetrische Bezeichnung, die mit einer merklichen Herabsetzung des Anderen einhergeht, zeigt das Maßgebliche des Eigenen und damit die Inklusionskriterien zur Konstituierung der Gruppe. Auf der anderen Seite wird hier die Differenz der (Lebens-)Räume durch den Terminus ›Stadt‹ aufgegriffen, welche sich von ihrem Raum, der bedeutsame Merkmale der Gotteskrieger offenbart, unterscheidet. Der Gegenpol zu der im Roman häufiger genannten Stadt ist das Land, das wiederum auf die Sphäre der Natur verweist. Eben hier haben die Gotteskrieger ihr Lager angesiedelt, genauer in den Bergen auf einem Plateau, »eine[r] staubige[n] Fläche, übersät von Steinbrocken und dunklen Metalltrümmern, die den Resten verunglückter Autos ähnelten.« (DS 108) Die beschriebene karge Vegetation und die zerstörten Autos, die an die Negierung des technischen Fortschritts und anderer Konnotationen der Zivili113 Letzteres stellt eine Parallele zu den außertextuellen Kurden dar, die keine homogene Gruppe, sondern in verschiedene Stämme (Ashire) unterteilt sind, die unter anderem sowohl in der Türkei, in Syrien, im Irak als auch im Iran beheimatet sind. Während die meisten Kurden Sunniten sind, gehört ein kleiner Teil der alawitischen Richtung des Islam, die den Schiiten zugeordnet wird, an. Kerim hingegen ist ebenso wie sein Vater, der ursprünglich aus der Türkei stammt, Alevit, wobei die Religion in Bezug auf den Alltag oder das Verhalten der Familie keine Rolle zu spielen scheint. Trotzdem scheint die Differenzierung der Ausprägungen des Islam präsent zu sein, was sich beispielsweise an der Romanstelle zeigt, an der Kerims Vater über das Dorf, in dem er aufwuchs, berichtet, dass es hoch in den Bergen lag. »Das war sehr wichtig, denn auf diese Weise war es für die normalen Muslime schwierig dort hinzukommen. Auch die Chaldäer lebten so, alle, die anders waren.« (DS 17) An dieser Stelle wird also eine konkrete Unterscheidung zwischen der Glaubensgemeinschaft des Heimatdorfes des Vaters, die aufgrund ihrer Minorität als ›anders‹ bezeichnet wird, und den ›normalen‹ Muslimen, also der Mehrheit der Gläubigen, eröffnet, was die besondere Situation der Aleviten in ihrer Außenseiterposition aufzeigt. Interessanterweise wird in der Beschreibung über die Zeit bei den Gotteskriegern Kerims Alevitentum nicht verhandelt. Trotzdem ist es eben diese Religionszugehörigkeit, die Kerim später als Grund für die Verfolgung der Islamisten angibt, um ein Asyl in Deutschland zu bekommen, wodurch er sich die Minderheit dieser religiösen Gemeinschaft zunutze macht.

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sation denken lassen, bilden einen Raum, der sich deutlich von Assoziationen der Stadt unterscheidet. Besonders die von Kerim bedeutungsträchtig als »weltverlassene[r] Ort« (DS 108) charakterisierte Einsamkeit und das Verschwimmen der Grenzen von den Hütten der Gotteskrieger (Zivilisation) und der Natur,114 deuten eine Gruppierung an, die nach ihren eigenen Regeln lebt und sich somit gänzlich von Gesetzen und Normen der übrigen Gesellschaft abgrenzt. Die Abgeschiedenheit und die versteckten Hütten verweisen zudem auf die Sphäre der Rechtlosigkeit, mehr noch der Illegalität. Dies wird auch durch die mehrfach erwähnten Umzüge des Camps unterstrichen, die aufgrund der Furcht entdeckt zu werden, durchgeführt werden. Die Lage der Camps zeichnet sich aber nicht nur durch den Schutz der Berge aus, sondern auch durch ihre Verortung in der Peripherie, genauer im Grenzland, nahe dem Iran.115 Diese geographische Grenze markiert im Besonderen die außertextuellen, seit Jahrhunderten schwelenden »historischen und ethnischen Konfliktlinien«116 zwischen dem Irak und dem Iran, die ihren vorläufigen Höhepunkt im Golfkrieg zwischen diesen beiden Staaten (1980-1990) fanden. Aber nicht nur der real-historische Krieg wird so literarisch inszeniert und in Erinnerung gerufen, sondern das Grenzland selbst ist symbolisch aufgeladen. Es ist ein Ort der Unbestimmtheit, ein Schwellenraum: »Kerim blickte auf den Fluss und über ihn hinaus auf das vielädrige Felsland dahinter. Hier endete sein Land, das wusste er, irgendwo hinter dem Fluss lag die Grenze.« (DS 127f., Herv. S.W.) Die geographische Grenze, die im Allgemeinen exakt festlegt, wo ein Land endet und ein anderes beginnt und damit auch zugleich den politischen Geltungsbereich eines Staates determiniert, ist hier nicht sichtbar markiert, weshalb diese in Form einer Linie gedachte Grenze keine trennende Funktion innehat, sondern die Länder an dieser Schwelle ineinander übergehen. Daher ist dieser symbolisch bedeutsame Raum vor allem durch seine Unbestimmtheit und Unzuordbarkeit gekennzeichnet117 – und eben hier bewegt sich das Figurenkollektiv der Gotteskrieger hin und her. Die Camps selbst zeichnen sich durch mehrere Merkmale der von Michel Foucault theoretisch ausgearbeiteten Heterotopien aus.118 So sind diese »Gegenorte 114 Das Verschwimmen wird in dem Roman wie folgt beschrieben »Die Hütten waren einer kleinen Festung ähnlich im Halbkreis angeordnet. Die Wellblechdächer waren mit Erde bedeckt, die lehmverputzten Mauern vom Boden kaum zu unterscheiden.« (DS 108) 115 Dieser geographische Raum kann auch als intertextueller Marker der Romane Sherko Fatahs gelesen werden. Vgl. dazu die Ausführung zu Im Grenzland in der Einleitung dieser Arbeit. 116 TRAUTNER, Bernhard J.: Der Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak, S. 173. 117 Diese Symbolik des Grenzlandes findet sich ebenfalls in Sherko Fatahs Debütroman Im Grenzland. Vgl. dazu die Einleitung dieser Arbeit. 118 Nicht alle der von Foucault beschriebenen Merkmale der Heterotopien können auf das im Roman dargestellte Lager der Terroristen übertragen werden. So stellt er beispielsweise heraus, dass jede Heterotopie »eine ganz bestimmte, innerhalb der betreffenden Gesellschaft genau festgelegte Funktionsweise« (FOUCAULT, Michel: Von anderen Räumen, S. 937.) habe. Von einer derartigen gesellschaftsinternen Funktion, die ja impliziert, dass sie von der Gesellschaft gewollt ist, kann hier natürlich nicht die Rede sein. Auf der anderen Seite macht Foucault allerdings deutlich, dass Heterotopien einerseits einem historischen

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[…] tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte […], die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden«119. Besonders dieses Charakteristikum trifft auf das Figurenkollektiv der Gotteskrieger, das die Semantisierung des Raums maßgeblich determiniert, zu, da es die Praktiken der übrigen Gesellschaft sowohl in politischer als auch im Besonderen in religiöser Hinsicht kritisiert und in dieser abkehrenden Haltung sein Leben und seinen Alltag anders strukturiert als andere Iraker. Die strikte Trennung und Absonderung des Eigenen von dem Anderen manifestiert sich symbolisch in spezifischen Räumen: »Der Lehrer mahnte sie nochmals, alles zu vergessen, was sie von ihren Eltern, in der Schule oder auch in der Moschee gelernt hatten. Nichts davon sei wahr, alles diene nur dazu, das Leiden hier auf Erden zu vergötzen, sich darin einzurichten, es furchtsam auszuhalten, um am Ende der Tage vielleicht doch noch ins Paradies zu gelangen wie ein Tier in einer Herde, gedrängt zwischen all die anderen Tiere, hoffend, nicht bemerkt zu werden und durchzukommen.« (DS 119)

So kann man das Terroristencamp als »Abweichungsheterotopie«120 begreifen, im Sinne einer Abweichung von der Gesellschaft, ihren Praktiken, Normen, Regeln und Gesetzen. Obwohl sich die routinisierten Praktiken der Glaubenskrieger beispielsweise in Form der strengen Einhaltung der vorgeschriebenen Gebetszeiten bereits abgrenzen, betrifft das übergeordnete Ziel nicht das alltägliche Verhalten des Einzelnen, sondern liegt in einer zukünftigen Modifizierung der gesellschaftlichen Struktur überhaupt. Um diese zu erreichen, leiten die Gotteskrieger ihr kriegerisches Handeln von ihrem Ziel ab, wobei der Fokus für den Einzelnen damit zusammenhängend nicht auf dem Diesseits, sondern dem Jenseits liegt,121 wie der Lehrer, ihr religiöser Anführer, mehrfach betont: »›Keiner von uns allen muss leben! Nur die Ungläubigen können davon nicht lassen, denn das ist alles, was sie haben. Wir aber haben das Paradies, es ist uns, es ist euch allen gewiss. Was wollt ihr mehr?‹« (DS 150) So wird an diesen Aussagen ein weiteres Merkmal von Foucaults Heterotopien deutlich, das die zwischen der Gruppe der Gotteskrieger und der übrigen Gesellschaft verlaufende Grenze markiert: die Heterochronie, also der »absolute[…] Bruch mit der traditionellen Zeit«122. Ebenso wie dem Lager der Terroristen besondere Regeln der »Öffnung und Abschließung«123 immanent sind – die Terroristen werden oftmals bereits im Kindesalter rekrutiert, ausgebildet und müssen ihren Glauben sowie ihre Bereitschaft,

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Wandel unterliegen und sich so auch Funktionen im Laufe der Zeit verschieben können und andererseits, dass es ganz unterschiedliche Formen gibt und keine davon »als absolut universell gelten könnte« (ebd., S. 936.). Ebd., S. 935. Ebd., S. 937. Eine ebenso ausgerichtete Argumentationsstruktur verfolgt auch der in dem Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges beschriebene Terrorist Sawatzky, die besonders in den Gesprächen mit dem Botschafter Cismar deutlich wird (vgl. Abschnitt III, Kapitel 3.1.4.). FOUCAULT, Michel: Von anderen Räumen, S. 939. Ebd., S. 940.

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für Gott zu kämpfen und ggf. auch zu sterben unter Beweis stellen, was eine maximale Ausklammerung von Friktionsfaktoren evoziert – kommt hier besonders der letzte von Foucault definierte Grundsatz zum Ausdruck: Heterotopien charakterisieren sich dadurch, dass sie »einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch größere Illusion entlarvt.«124 Auch dies wird an mehreren Aussagen des Lehrers deutlich, beispielsweise wenn er Kerim die Wertvorstellungen der Menschen ›im Westen‹ erklärt: »Sie reden uns ein, es sei Freiheit, wenn jeder nur seinen eigenen Interessen folgt, nur tut, was ihm nützt. Und wieder sind es die Dinge, deren Sklaven sie werden, weil sie mehr und mehr davon haben wollen. […] Es geht immer um das Geld, glaube mir, sie sind davon besessen. Es macht sie kalt und hart, und doch ist es das einzige, woran sie wirklich glauben. […] Sie sagen, sie lieben die Freiheit, doch ihre Freiheit ist Einsamkeit.« (DS 383)

Durch das zugrunde gelegte binäre Denkschema wir | sie wird das Streben nach Freiheit, das das Konstrukt der westlichen Kultur als das Andere verkörpert, als Abhängigkeit von Materiellem scheinbar entlarvt. Ebenso sei die geforderte ›Befreiung‹ der muslimischen Frauen von den Zwängen des Islam keine Befreiung, »in Wahrheit machen sie sie zu Huren, ja, nichts anderes wollen sie! Weil ihre eigenen Frauen Huren sind« (DS 151). Die vermeintlich hohen Ziele und Werte ›des Westens‹ werden aus der Fremdperspektive als illusionär enttarnt, da sich die westlichen Gesellschaften ebenso unterwerfen, jedoch nicht Gott, so wie es die Glaubenskrieger fordern, sondern weltlichen Dingen. Hier wird besonders die Grenze zwischen dem Säkularen und dem Transzendenten deutlich und der Stellenwert, der den jeweiligen Sphären eingeräumt wird. Die Grenze liegt also nicht zwischen Westen und Osten, zwischen Freiheit und Unterwerfung, sondern die Grenze trennt die Gruppen dadurch, wem oder was sie sich unterordnen. Zudem wird gerade an diesem Zitat deutlich, dass die Islamisten den Sinn der Handlungen der Amerikaner dahingehend deuten, dass diese ihre (als falsch entlarvten) Werte und Normen auf die andere Kultur übertragen wollen. Es findet so keine Annäherung zwischen Eigenem und Fremdem statt, sondern das eine soll durch das andere getilgt werden – ein Bild, was spiegelverkehrt in den außerliterarischen Medien von den Terroristen aufgegriffen wird: Sie würden versuchen, ihre Weltanschauung und ihre religiösen Praktiken global auszuweiten, daher könne man nicht mit ihnen verhandeln. Auch hier wird auf literarischer Ebene vorgeführt, dass Bewertungsmechanismen eben von der eingenommenen Perspektive abhängig sind. Außerdem kann an diesen Aussagen der generierte Wissens- und Sagbarkeitsraum innerhalb des Figurenkollektivs der Terroristen mit seinen restriktiven Grenzziehungen der kulturellen Codes abgelesen werden, die sich wiederum sowohl auf die Praktiken der Gruppierung als auch auf die Konstruktion des Eigenen auswirken.

124 Ebd., S. 941.

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Auch die Anordnung der Hütten des Lagers deutet auf eine Heterotopie hin:125 Sie sind nach einem bestimmten Muster, im »Halbkreis« (DS 108) aufgestellt. Dieser erinnert an den Halbmond oder die Mondsichel, die sowohl als religiöses Symbol verwendet wird als auch für die rituelle Praxis des Islam eine wichtige Rolle spielt. So orientiert sich beispielsweise der islamische Kalender an dem Mondlauf, wodurch viele Festtage und der Fastenmonat Ramadan festgelegt werden. Aber nicht nur für die Einteilung der Zeit, auch als Artefakt ist die Mondsichel bedeutend, in Form des Symbols, das sich zum Beispiel auf Minaretten und Darstellungen der Ka!ba,126 einem der wichtigsten Heiligtümer des Islam, aber auch als Motiv auf Häusern, um sie als muslimische zu kennzeichnen,127 wiederfinden lässt. Daneben kommt das Symbol auch in Illustrationen von militärischen Auseinandersetzungen vor, beispielsweise auf Flaggen der türkischen Streitkräfte, denen später noch ein Stern hinzugefügt wurde.128 Die Anordnung der Hütten kann somit als Ikon gedeutet werden, das auf den symbolischen Halbmond verweist. Daher spiegelt bereits die äußere Form des Lagers der Gotteskrieger den Hauptbestandteil ihres Lebens und Denkens wider. So kann in Bezug auf die Grenzkonstruktionen des Raums festgehalten werden, dass das Lager der Terroristen im Sinne einer Heterotopie als ein ›Gegenort‹ gelesen werden kann, der durch Grenzen deutlich von der übrigen Gesellschaft sowohl räumlich, zeitlich als auch inhaltlich in Bezug auf die Gesinnung der Gotteskrieger geschieden ist. Die vor allem durch die Verbindung von diskursivem Wissen und Praktiken gekennzeichneten Grenzen sind trotz der räumlichen Unbestimmtheit des Grenzgebiets, in dem es sich befindet, starr und nur durch bestimmte Kriterien übertretbar. Neben den für die Dschihadisten klaren Ein- und Ausschlusskriterien, die mit Prozessen der In- und Exklusion einhergehen, existieren auch Grenzen innerhalb des Figurenkollektivs in Form einer Hierarchiestruktur. Der ›Lehrer‹ ist der religiöse Anführer der Gruppe (vgl. DS 119). Er ist nicht nur für das Gebet und theologische Fragen verantwortlich, sondern ist auch als Seelsorger tätig und hält zahlreiche Ansprachen über die vermeintlich gottlose westliche Kultur und über den dadurch gerechtfertigten Krieg.129 Zudem verfügt er über ein mobiles Satellitenfernsehgerät 125 Foucault zieht als ein konkretes Beispiel für eine Heterotopie eine Jesuitenkolonie in Südamerika heran. Hier wird selbstverständlich weder eine inhaltliche Übereinstimmung der Jesuiten mit den Gotteskriegern noch eine Vergleichbarkeit des Gedankenguts postuliert. Allein die äußere Form der Siedlung, bei den Jesuiten das Kreuz, bei den Gotteskriegern der Halbkreis, wird hier als vergleichbarer, nämlich ikonischer, Ausgangspunkt festgelegt. 126 Vgl. KHOURY, Adel Theodor: Halbmond, in: Ders./Hagemann, Ludwig/Heine, Peter: Islam-Lexikon A-Z. Geschichten – Ideen – Gestalten. Freiburg: Herder 2006, S. 258-260, hier S. 259. 127 Vgl. SZYSKA, Christian: Halbmond, in: Elger, Ralf (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – Alltag – Kultur. Unter Mitarbeit von Friederike Stolleis. München: Beck 2 2001, S. 114. 128 Vgl. KHOURY, Adel Theodor: Halbmond, S. 259. 129 Zahlreiche Rezensenten greifen genau diese literarisierten Reden des Lehrers auf. Sie sind der Ansicht, dass sie geradezu »ungemütlich plausibel« seien. Wodurch auf der einen Seite durch die vermittelnde Perspektive des Fremden das Eigene distanziert betrach-

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und ist so »über die neuesten Entwicklungen informiert« (DS 126), besonders hinsichtlich der Kriegsereignisse im Land und der Strategien der Amerikaner. Die Figur Mukhtar hingegen hat »in allen militärischen Fragen uneingeschränkte Autorität« (DS 119). Die Anerkennung von Mukhtars Macht basiert auf seiner Kampferfahrung in Afghanistan130 (vgl. DS 118) und findet ihren sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck in seinem Gang – er humpelt aufgrund einer Kriegsverletzung, wodurch den anderen Kämpfern der Grund für seine Position wörtlich stets vor Augen geführt wird. Der grenzsetzende Gegensatz zu Kerim könnte kaum größer sein, denn dieser wurde aufgrund seiner körperlichen Konstitution (er ist fettleibig) und weil er als Koch über keinerlei Kampferfahrung verfügt, gegen den Willen Mukhtars in der Gruppe aufgenommen (vgl. DS 113f.). Nach anfänglichen Bemühungen unterlässt Kerim den Versuch, von ihm Anerkennung zu erhalten und stützt sich umso mehr auf das Verhältnis zu der Figur des Lehrers, die als »geheimnisvolle[s] Band« (DS 307) beschrieben wird. Wohl vor allem aufgrund seines jugendlichen Alters befindet sich Hamid wie Kerim ebenfalls ganz unten in der hierarchischen Struktur der Gruppe. An dieser klaren Ordnung wird deutlich, was Sigrun Anselm aus philosophischer Perspektive mit Rückgriff auf Georg Simmel über das Phänomen der sozialen Grenzen schreibt: »Besonders da, wo die territorialen Grenzen ihre Funktion verlieren, richten sich die Grenzen im Inneren auf: der Indifferenzzustand von Defensive und Offensive kennzeichnet heutzutage die meisten der sozialen Grenzen.«131 Das Grenzland, das keine klar definierte Rahmung vorgibt, wird durch die strikte Grenzziehung innerhalb der Gruppe kontrastiert. Eine der ersten Aufgaben Kerims als Gotteskrieger besteht in der Öffnung des Grabes eines »alten Sufi-Scheich[s]« (DS 121). Der Begriff ›Scheich‹ weist auf die Position des Mannes als religiöser Anführer einer sufischen Bruderschaft hin. Der Sufismus schreibt eine strenge Askese im Diesseits vor und einige Strömungen wenden sich dezidiert gegen den Dschihad,132 was eine Erklärung für die dargestellte Grabschändung sein könnte. Die genauen Beweggründe werden zwar nicht genannt, jedoch bezeichnet Kerim den Scheich im Handlungsverlauf sehr viel später als »Verkünder[…] irgendwelcher Irrlehren« (DS 346), was diese These stützt. Die einzige direkte Aussage über den Raub macht der Lehrer, nachdem die Gotteskrieger ihm die tet und auf der anderen Seite das Eigene kritisiert wird (vgl. u.a. SCHNEIDER, Wolfgang: Die Leiden des Migrationsmelancholikers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.03.2008. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/sherkofatah-das-dunkle-schiff-die-leiden-des-migrationsmelancholikers-1517287.html [letzter Zugriff: 07.06.2017]; HAGE, Volker: Kein Entkommen, in: Der Spiegel (42) 2008, S. 182-184.). Besonders bemerkenswert ist, dass in dem Roman keine Wertungen dieser pauschalisierenden Phrasen vorgenommen werden, sondern sie für sich stehen bleiben und damit dem Leser die Möglichkeit bieten, sich selbst ein Urteil zu bilden. 130 Die Figur des militärischen Anführers, dessen Autorität auf Kampferfahrung in Afghanistan beruht, wird auch in dem Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges von Christoph Peters aufgegriffen (vgl. dazu Abschnitt III, Kapitel 3.1.4.). 131 ANSELM, Sigrun: Grenzen trennen, Grenzen verbinden, S. 198. 132 Vgl. ELGER, Ralf: Mystik, in: Ders. (Hrsg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – Alltag – Kultur. München: Beck 22001, S. 216-217, hier S. 216f.

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Knochen des Toten überreicht haben: »›Sollen sie doch das Loch anbeten‹, hatte der Lehrer noch gesagt. ›Ihren Götzen jedenfalls sehen sie nie wieder.‹« (DS 122) Der Akt der Zerstörung des Mausoleums und das Öffnen des Grabes selbst sind besonders im Zusammenhang der Erinnerungskultur bedeutend, überwiegend aufgrund des hohen Stellenwertes des Grabmals: »Er [Kerim] wusste, die Leute kamen aus Verehrung von weither zu diesem Grabmal.« (DS 120) Eins der konstitutiven Merkmale eines Friedhofs bzw. eines Grabmals liegt darin, dass der Tote in seinem Grab genau ausgemacht werden kann.133 Dieser spezifische Ort der Erinnerung bildet eine Schwelle, einen Raum des Übergangs zwischen dem Diesseits und dem Jenseits: Während sich die sterblichen Überreste im Grab, im Diesseits befinden, ist der Geist oder die Seele bereits im Jenseits. »Im indexikalischen Gestus des Zeichens vollzieht sich der Erinnerungsakt der Gedächtnisorte. Auch die Ruinen und Relikte sind nur Zeigefinger auf die konkrete Stelle, wo sich einst Leben und Handlungen abspielten. Während diese aber auf etwas zeigen, was abwesend ist, bleibt das Grab als Ruhestätte des Toten […] ein Ort numinoser Präsenz.«134

Durch die Verehrung der sterblichen Überreste des Scheichs wird dieser Gedächtnisort gleichsam geheiligt; »[d]as Gedächtnis des Ortes verbürgt die Präsenz des Toten«135 – die Schändung des Grabes und die Entnahme der Knochen hingegen entweihen diesen Raum. Zuvor zerstören die Gotteskrieger die Steinplatte über dem Grab, deren Inschrift »ihnen etwas über einen alten Sufi-Scheich, der hier begraben lag, [sagte,] doch Mukhtar gab ihnen nicht die Zeit zu lesen, sondern befahl […] mit der Arbeit zu beginnen.« (DS 121) Eine Inschrift ist grundlegend für den Erhalt eines Gedächtnisortes. Nur hier, in diesem »indexikalischen Gestus des Zeichens«136 kann die Erinnerung an den Toten aufrechterhalten werden, ohne Inschrift ist es nur ein anonymes Grab unter vielen, ein praktiziertes Totengedächtnis kann es nicht mehr geben, denn »[m]it dem Verschwinden des Grabsteins gilt der Tote als endgültig und unwiderruflich vergessen.«137 Das implizite Verbot Mukhtars, die Inschrift zu lesen, zeigt auch die bewusste Begrenzung des Wissensraums der Gotteskrieger durch die hierarchisch höher gestellten Terroristen. Durch die Entnahme der Überreste des Toten wird das Grab dann vollständig geschändet und der Erinnerungsort, die Schwelle, wird aufgehoben. Der Fokus liegt bei dem Raub auf dem Kopf des Toten: »Das Licht der Taschenlampe überstrich Holzreste und längliche, braune Knochen. Sofort wies Mukhtar sie an, den Schädel zu suchen.« (DS 122) Bereits während der Grabschändung »empfand Kerim die Schaurigkeit dessen, was sie da taten« (DS 121). Er ist 133 Vgl. PETERMANN, Sandra: Rituale machen Räume. Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie. Bielefeld: transcript 2007, S. 28. 134 ASSMANN, Aleida: Erinnerungsräume, S. 324. 135 Ebd., S. 325. 136 Ebd. 137 HORN, Eva: Friedhof, in: Pethes, Nicolas/Ruchatz, Jens (Hrsg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 185-186, hier S. 185.

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sich der Tragweite dieser Tat also durchaus bewusst, was er, allerdings erst später in Deutschland, versucht in einem Gespräch mit Amir auszudrücken: »Er versuchte ihm das Gefühl zu beschreiben, damals zusammen mit den anderen eine unsichtbare Grenze zu überschreiten. Niemand wäre ihnen dorthin gefolgt, niemand hätte auch nur verstanden, was sie taten. Sie waren gemeinsam in ein Schattenreich eingetreten.« (DS 345) Diese explizite Überschreitung einer unsichtbaren Grenze zeigt deutlich die Dimension der Tat auf moralischer Ebene, die sich wesentlich von dem während des Grabens angeführten »Aberglaube[n]« (DS 121) unterscheidet. Petermann macht darauf aufmerksam, dass ein Grab grundsätzlich »nicht nur auf eine jenseitige bzw. transzendente Welt [verweist], sondern […] den Menschen ebenso mit den Ängsten vor seinem eigenen Tod und seiner Zukunft [konfrontiert].«138 Durch diese symbolische Funktion gemeinsam mit Kerims Situation, seiner Angst um sein Leben, wird das Grabmal zu einem metaphorischen Raum erhoben. Durch sein grenzüberschreitendes Verhalten, die Schändung und das Zerstören des Grabes, hebt er die Funktionen des Artefakts auf, er verlässt damit den vorherigen Raum und tritt in die Sphäre der Gotteskrieger, in ihr ›Schattenreich‹ ein. Nach der Grabschändung verletzt sich Kerim bei der Nahkampfausbildung, weshalb ihm die Aufgabe des Wasserholens übertragen wird. Die in diesem Zusammenhang beschriebene Situation erinnert an die von Arnold van Gennep aus ethnologischer Perspektive an zahlreichen Beispielen beschriebenen Übergangsriten, die er grob in drei Phasen – die Trennung (rites de séparation), den Übergang bzw. die Schwelle (rites de marge) und das Einfügen (rites d’agrégation) – einteilt, wobei die einzelnen Abschnitte jeweils eine unterschiedliche Gewichtung innehaben können.139 Diese Riten werden in einem ersten Schritt ganz allgemein als »zeremonielle Sequenzen […], die den Übergang von einem Zustand in einen anderen oder von einer kosmischen bzw. sozialen Welt in eine andere begleiten«140 definiert. Die erste Phase – die Trennung von der gewohnten Umgebung – wird durch die Entführung durch die Gotteskrieger determiniert. Kerim verlässt durch Zwang die säkulare Welt der Familie141 und damit zugleich sein nach dem Tod seines Vaters vor allem auf das Geldverdienen zugunsten seiner Familie ausgerichtetes Leben. Nach der Entführung tritt Kerim in die Phase des Übergangs ein. Sie ist primär durch die Angst um sein Leben geprägt, er wird allerdings auch im Bereich der Religion unterrichtet und erhält eine Kampfausbildung, was im Sinne der Vorbereitung auf das mit einem neuen Status verbundene Leben innerhalb der Gruppe ein typisches Kennzeichen für diese Phase ist. So wird er gleichsam mittels des selektierten Wissenserwerbs durch den Lehrer und mittels der körperlichen Übungen darauf trainiert, die Verhaltensweisen der Terroristen anzunehmen und auszuführen. Das zentrale Merkmal dieser Über138 139 140 141

PETERMANN, Sandra: Rituale machen Räume, S. 28. Vgl. GENNEP, Arnold van: Übergangsriten, S. 21. Ebd. An verschiedenen Stellen wird in dem Roman erwähnt, dass Kerims Vater und seine ganze Familie nicht religiös sind, sich allerdings aus nicht zuletzt finanziellen Gründen an muslimische Regeln anpassen, »[u]m das Gasthaus nicht in Misskredit zu bringen« (DS 18). Somit werden religiöse Praktiken wie das Schlachten eines Opfertiers nicht aus dem Glauben heraus, sondern aufgrund von Anpassung praktiziert.

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gangsphase ist jedoch der symbolische Tod, den der Initiant ›stirbt‹,142 welcher auch in dem Roman Das dunkle Schiff beschrieben wird: Während des Wasserholens kommt Kerim der Gedanke, dass seine Familie ihn wahrscheinlich für tot hält. »Erst machte er [dieser Gedanke] ihn schwermütig, doch lag auch etwas Starkes, Belebendes darin.« (DS 127) Dieses hier direkt aufeinander bezogene Gegenspiel von Tod und Leben wird noch weiter ausgeführt: »Ich bin tot, dachte er, gestorben an einem Tag wie jeder andere, und aufgefallen ist es nur, weil es so viel Arbeit gab. Ich bin tot, und ich bin frei.« (DS 128) Kerim versteht seinen eigenen Tod als Befreiung, Befreiung aus den Zwängen und der Verantwortung, die ihm seit der Ermordung seines Vaters auferlegt wurden. Hier geht es nicht um den physischen Akt des Sterbens – im Gegenteil, er fühlt sich durch diesen Gedanken erstarkt –, sondern um ein symbolisches Sterben, das ihm ermöglicht, sein Leben ohne seine Familie fortzuführen. Dieser Gedanke wird noch potenziert: »Ein Schauer, der aus dem gleißenden Schmelz des Himmels herabzufließen schien, durchströmte ihn in diesem Moment vom Nacken bis zu den Lenden. Ich bin frei, dachte er noch einmal, nach Luft schnappend, und warf sich dann in den Staub, wollte sich klein machen vor der Macht des einzigen Gottes.« (DS 128)

Hier, bei der profanen Tätigkeit des Wasserholens inmitten des unbestimmten Grenzlandes, macht Kerim eine transzendente Erfahrung. Erst der gefühlte Tod, der die absolute und dem Menschen letztmögliche Grenzüberschreitung markiert, der Bruch mit seinem bisherigen Leben, lässt den vormals nicht religiösen Kerim vermeintlich zu Gott finden und bildet den Höhe- und Endpunkt der Übergangsphase. Dieses Ereignis wird flankiert von der Erinnerung an eine Predigt des Lehrers, in der es heißt, dass man erst sterben müsse, um das Leben zu führen, das niemand töten kann (vgl. DS 128). Nachdem Kerim dem Lehrer von seinem Erlebnis berichtet hat, deutet er dies: »›Du warst dort oben ganz allein und frei, und doch hast du die allgewaltige Ordnung erfahren, sie hat dich niedergeworfen wie zum Gebet. Der Kern der Freiheit ist das Gesetz.‹« (DS 131) Wenn der Kern der Freiheit das Gesetz ist, heißt das, dass man nur durch Grenzziehung und Beschränkung zu einer grenzenlosen und unbeschränkten Freiheit gelangen kann. Das wiederum bedeutet, dass es keine Freiheit ohne Grenzen und damit überhaupt keinen Zustand ohne Grenzen – und zwar die Grenzen Gottes – geben kann. Dies habe, so die Deutung des Lehrers, auch Kerim verstanden, da er in diesem Moment einfach hätte fliehen können, es aber nicht getan hat. Kerim hat so die Grenze, die sich bereits in der Brückenmetaphorik angedeutet hat, hin zu dem Raum der Gotteskrieger überschritten, obwohl er nun weiß, dass er nicht getötet werden sollte – die Glaubenskrieger wollten nicht ihn entführen, sondern lediglich sein Auto stehlen – bleibt er zunächst in dieser Gruppe. Mehr noch, Kerim passt sich ihren Praktiken an, wodurch die letzte der von van Gennep beschriebenen Phasen, die Phase der Eingliederung, erreicht wird. Die äußerlichen Zeichen dafür liegen vor allem in dem großen Gewichtsverlust (vgl. DS 140) und darin, dass er sich einen Bart wachsen lässt (vgl. DS 138). Durch diese Anpassung, 142 Vgl. GENNEP, Arnold van: Initiationsriten, in: Popp, Volker (Hrsg.): Initiation. Eine Anthologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 13-44, hier S. 19f.

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die sich aufgrund des für Kerim neuen Kontextes entwickelt, gleicht er sein Äußeres dem der nun seinem Normalfeld entsprechenden Islamisten an. Der Raum, in den Kerim damit eingetreten ist, beinhaltet zwei Aspekte: den Glauben und die Bereitschaft, für diesen Glauben Krieg zu führen. Von einer vollkommenen inneren Assimilation kann jedoch nicht gesprochen werden, da den Protagonisten die Gewalttaten der Gotteskrieger abstoßen. Während er die kriegerischen Auseinandersetzungen für sich selbst ablehnt und sogar von sich selbst behauptet, kein guter Soldat zu sein (vgl. DS 130), ist eine Grenzüberschreitung hinsichtlich der religiösen Ebene offenbar zu verzeichnen. Dies äußert sich beispielsweise in der Beschreibung des Gebets: »Für die Zeit des Gebets wich alle Erschöpfung aus Kerim. Die tiefe, weiche Stimme des Lehrers eröffnete ihnen einen Innenraum, eine Flucht von Wortkammern und Nischen, in der sie sich nicht verlaufen konnten, sondern sicher wie in ihrem eigenen Haus vom Eingang zum Ausgang schritten.« (DS 134)

Die Praktik des Betens wird also als Flucht143 verstanden, als Ausbruch aus dem Alltag, besonders in Abgrenzung zu den Kampfhandlungen der Gotteskrieger, gewertet. Bedeutend ist in diesem Zusammenhang auch die Metapher des Hauses, das durch das Gebet entsteht. Das Haus, das Sicherheit bietet, weil es ein klar umgrenzter und abgetrennter Raum ist, steht im Kontrast zu Kerims Leben, das sich in der Schwebe, in der Unentschiedenheit befindet, nicht nur räumlich durch das Grenzgebiet und das Umherziehen, sondern auch bezüglich seiner Zukunft und der allgegenwärtigen Gefahr, der er fremdbestimmt ausgesetzt ist. Das Haus des Gebets wird so zum Schutz- und Rückzugsort, das vor allem durch bestimmte, routinisierte und tradierte Riten entsteht. Wolfgang Braungart definiert das religiöse Ritual als »eine festgelegte, wiederholte und wiederholbare Handlung oder Handlungssequenz, in der der religiöse Kult, d.h. die Verehrung eines heiligen, von allen Ritualteilnehmern akzeptierten Objektes, vollzogen und das heilige Objekt vergegenwärtigt wird.«144 Er führt weiter aus, dass Rituale für die Religion konstitutiv seien, da hier »der Übergang zur heiligen Sphäre geregelt und mit dem Heiligen kommuniziert«145 würde, wodurch »Rituale sozial bindend und verbindlich vollzogen«146 würden. Die Wirkung des Gebets bleibt für Kerim auch nach dem Verlassen der Gotteskrieger bestehen: Er betet sowohl auf der Flucht nach Deutschland während der Schiffsüberfahrt als auch später in Deutschland und empfindet auch hier die »Intimität einer Gemeinschaft, wie sie nur der Glaube stiften kann.« (DS 374) Das Gebet fungiert so als grenzüberschreitendes Moment, das für Kerim seit dem Lebensabschnitt bei den Gotteskriegern sinnstiftend wirkt. Damit kann festgehalten werden, dass Kerim in der Phase des Übergangs durch eine transzendente Erfahrung einen Wandel von einem säkularen hin zu einem religiösen Raum durchlaufen hat. Das zentrale Motiv, die Religiosität, bleibt nachhaltig bestehen und das Gebet bildet eine grundlegende Praktik, auch nachdem 143 Auf das Motiv der Flucht in dem Roman Das dunkle Schiff wird weiter unten ausführlich eingegangen. 144 BRAUNGART, Wolfgang: Ritual und Theorie. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 58. 145 Ebd., S. 59. 146 Ebd., Herv. i.O.

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er den Raum der Gotteskrieger wieder verlassen hat. Damit wird eine interessante Dysfunktion des Konnex von Diskurs und Praktik dargestellt: Zwar erlangt Kerim das Wissen über die Religion des Islam ausschließlich bei den Gotteskriegern, die diese Basis intentional steuern und restriktiv zwischen wahr und falsch unterscheiden, woraus sich dann auch die Praktik des Betens ableitet, allerdings selektiert Kerim das Wissen stark und löst den Aspekt der Gewalt und des Sterbens für Gott von der Praktik ab, wodurch sie eine gewisse Eigenständigkeit erlangt und auch in Deutschland, ohne die Rahmung der terroristischen Gruppierung, zumindest temporär weitergeführt werden kann. Kerims ablehnende Haltung gegenüber den Gewalttaten der Gotteskrieger, bereits während er sich bei ihnen aufhält, wird besonders in der Beschreibung eines Ereignisses deutlich: Hamid und er werden beauftragt, einen signifikanter Weise mit dem militärischen Terminus »Feind« (DS 228) bezeichneten Mann, der in einer Höhle in der Nähe der Camps gesichtet wurde, zu töten. Er habe »gegen die Gebote des reinen Glaubens verstoßen« (ebd.), indem er an einer Schule Mädchen unterrichtet habe. Kerim sieht in diesem Auftrag eine Prüfung, die ihm und Hamid gestellt wird, um ihre Gefolgschaft zu beweisen. Durch den Akt des Mordens soll die Grenze, die Hamid, als jüngstes Mitglied der Gruppe, und Kerim, als Unfreiwilliger, von den anderen Gruppenmitgliedern trennt, überwunden werden. Kerim erkennt in dem Mann jedoch seinen ehemaligen Englischlehrer, der ihn in seiner Kindheit positiv beeinflusste. Somit gelangt in die Sphäre der Gotteskrieger, in der sich Kerim bewegt, ein Element, eine Figur aus seinem Ursprungsraum, mit dem er bereits abgeschlossen zu haben scheint. »Kerim starrte entgeistert in das Gesicht. Nichts hätte er weniger erwartet, als hier, in dieser Verlassenheit, jemandem wiederzubegegnen, noch dazu aus einer ihm so entfernt scheinenden Zeit seines Lebens.« (DS 230) Die Höhle fungiert zusätzlich als metaphorischer Raum, der auf die Gotteskrieger, die sich auch in Höhlen im Grenzgebiet verstecken, hinweist. Kerim ist nicht in der Lage, seinen Auftrag auszuführen: »›Ich kann ihn nicht töten. Ich kann ihn nicht gefangen nehmen. Ich kann gar nichts tun.‹« (DS 231) Daher überredet er Hamid, die Höhle zu verlassen. Auf Mukhtars Nachfrage bezüglich der Erfüllung des Auftrags antwortet Kerim: »›Wir haben mit seinem Kopf Fußball gespielt.‹« (DS 232) Abgesehen von der Tatsache, dass es sich um eine Lüge handelt, ist beachtenswert, dass dieser Satz nicht von Kerim selbst stammt, sondern er ihn als Kind bereits einmal wörtlich gehört hat und in dieser Situation reproduziert. Als die Geheimdienstler das Restaurant seines Vaters besucht hatten, erzählte einer von ihnen die Geschichte, wie sie mit einem »Spion« (DS 87) verfahren sind, der Material in Umlauf gebracht hatte, das sich gegen das Regime in Bagdad wandte. Der gespielte Dialog der beiden Beamten ist als Warnung für die Einwohner inszeniert und so antwortet derjenige, der die Geschichte erzählt hat, auf die affektierte Frage des anderen, was aus dem Spion geworden sei, mit genau jenem Satz, den auch Kerim bei Mukhtar verwendet: »›Wir haben mit seinem Kopf Fußball gespielt.‹« (DS 89) Durch diese prägnante Aussage wird eine Verbindung hergestellt, die sowohl die Taten der staatlichen, diktatorischen Seite – in Form der Geheimdienstler – als auch die der Gotteskrieger trotz ihrer unterschiedlichen Zielsetzungen in einen Zusammenhang stellt und zwar

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in Bezug auf ihre angewandten Methoden.147 Durch diese grenzüberschreitende Funktion des Satzes wird eine Differenz dieser beiden vermeintlich konträren Seiten unterlaufen. Damit werden ihre Techniken der Gewalt und Einschüchterung auf eine Ebene gestellt. Zwei Aspekte in der Beschreibung der Gotteskrieger weisen besonders Parallelen zu den Beobachtungen und aus politikwissenschaftlicher Sicht analysierten außertextuellen Islamisten auf, die mittels Terroranschlägen den Dschihad ausüben: Zum einen die spezifische Kampfstrategie der Gotteskrieger und zum anderen die mediale Inszenierung der Terroranschläge durch Videoclips. Ersteres kommt sowohl in der räumlichen Beschaffenheit ihrer Lager in unzugänglichem Gebirge148 als auch in den zahlreichen Reden des Lehrers zum Ausdruck, zum Beispiel: »›Denkt an die Regel: Wir setzen eine kleine Gruppe gegen die Armeen, wir setzen das Leichte gegen das Schwere, das Einfache gegen das Komplizierte. Wenn sie diese Bomben benutzen, nehmen wir das Messer. […] Das Kleine gegen das Große.‹« (DS 129f.)149 Dies wird

147 Neben der Textpassage, die von den Geheimdienstlern in dem Restaurant von Kerims Familie handelt und damit endet, dass Kerims Vater umgebracht wird, gibt es noch weitere Stellen, die auf die diktatorischen Handlungen im Irak hinweisen, wie zum Beispiel das bereits erwähnte Töten der Heilkräuter sammelnden Frauen durch Soldaten im Prolog, der von der Regierung angeordnete Giftgasangriff auf die Stadt Halabja (vgl. DS 34ff.) oder auch ein Gefangenentransporter, der stundenlang auf einem Platz vor der KPZentrale in der Sonne steht (vgl. DS 56ff.). Eine vergleichende Basis zwischen den Praktiken der staatlichen und der terroristischen Seite findet sich auch in Sherko Fatahs Roman Im Grenzland wieder. 148 Herfried Münkler definiert die Kämpfer eines Partisanenkrieges unter anderem durch die Beschaffenheit ihrer Operationsbasen: »[S]ie schützen sich nicht nur durch den Schild der Zivilbevölkerung, sondern vor allem auch durch die Unzugänglichkeit des Geländes, auf dem und von dem aus sie agierten, seien es Gebirgsregionen oder Sumpflandschaften, Dschungelzonen oder unzugängliche Bergtäler. Diesen Geländeformationen war gemeinsam, dass sie die militärtaktische wie waffentechnische Überlegenheit regulärer Streitkräfte nicht oder nur teilweise zur Entfaltung kommen ließen.« (MÜNKLER, Herfried: Sind wir im Krieg? Über Terrorismus, Partisanen und die neuen Formen des Krieges, in: Politische Vierteljahresschrift 42 (2001), S. 581-589, hier S. 586.) 149 An dieser Stelle zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu der literarischen Darstellung der Islamisten in dem Roman Das Leuchten in der Ferne. Während hier die Terroristen als gebildete Männer dargestellt werden, die verschiedene Anschläge ausüben, wird dort eine Gruppe narrativiert, die sich vor allem durch ihre Bildungsschwäche, die beispielsweise dazu führt, dass aufgrund der versagenden Technik ein Anschlag vereitelt wird, auszeichnet. Auf das Motiv ihrer eingeschränkteren Waffentechnologien im Gegensatz zu der militärischen Überlegenheit des Gegners verweisen die Gruppen indes in beiden Romanen. Diese Erkenntnis scheint in diesem Kontext jedoch aus einem Wissensraum zu stammen, während die Terroristen aus Das Leuchten in der Ferne diese primär durch Erfahrung generieren konnten. Fatah äußert sich in einem Radiointerview zu der Darstellung der Terroristen in Das dunkle Schiff: »Natürlich wäre es leicht gewesen, die als Idioten darzustellen, Extremisten, Fanatiker, die keine Ahnung haben von nichts und die für die falsche

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auch in Peter Waldmanns Definition des Terrorismus aufgegriffen, wenn er festhält, dass diese Art der Kampfstrategie vor allem von kleinen und ›schwachen‹ Gewaltverbänden bevorzugt wird und sie damit eine extreme Ausformung der Asymmetrie darstellen.150 Bemerkenswert ist im Zuge der inszenierten Anschläge, dass die Glaubenskrieger nicht ein bestimmtes Ziel haben, das sie immer wieder attackieren, sondern sich ihre Attentate auf verschiedene Orte und gegen unterschiedliche Gruppen richten: Während ein von Kerim erinnerter, analeptisch beschriebener Angriff amerikanischen Soldaten gilt, deren Patrouille mittels einer Sprengfalle gestoppt und dann beschossen werden sollte – das Attentat scheitert, da sich die Amerikaner in dieser Situation anders verhielten, als von den Islamisten im Vorfeld geplant (vgl. DS 391ff.) – richten sich zwei weitere Anschläge gegen die Zivilbevölkerung: »Ein paar Tage zuvor waren sie in das Dorf gekommen, um die Bewohner zu töten. Niemand wusste, warum, doch nun, nach der Invasion [der Amerikaner], waren sie im Krieg und, das wiederholte der Lehrer immer aufs Neue, jeder, der mit den Besatzern kooperierte, sie auch nur duldete, war ein Feind.« (DS 390)

Das passive Verhalten der Zivilbevölkerung gegenüber dem von der Terrorgruppe definierten Feind genügt also bereits, um die Grenze zu der feindlichen Sphäre zu überschreiten. Das Kriterium im diskursiven Aushandlungsprozess der Grenzziehung zwischen Freund und Feind liegt somit darin, ob man sich aktiv gegen den zum Feind Deklarierten zur Wehr setzt oder nicht. Das Hauptmerkmal der Gruppe, die Religion, spielt bei dieser Differenzierung bemerkenswerter Weise keine Rolle, was sich auch an der Beschreibung des zweiten, gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Anschlags zeigt, den Hamid auf einem gut besuchten Marktplatz durchführt. Auffällig ist an dieser Stelle, dass bei einer zivilen Person, einem Obsthändler, dessen Stand als Orientierungspunkt für Mukhtar dient, um die Bombe zu zünden, zweifach auf das religiöse Symbol der Gebetskette verwiesen wird (vgl. DS 356, 359). Ziel dieses Anschlags sind also nicht die ›Ungläubigen‹ oder die amerikanischen Besatzer, sondern dezidiert Moslems aus dem Inland. Bemerkenswert an dieser Beschreibung sind des Weiteren zwei Details des Angriffs. Auf der einen Seite werden Hamid vor dem Attentat Drogen verabreicht, »nicht weil jemand an seinem Glauben zweifele, sondern weil bei manchen im letzten Moment der schwache, irdische Körper versage.« (DS 358) Er ist also nicht bei klarem Verstand, als er den Anschlag ausführt. Auf der anderen Seite ist aufschlussreich, dass Hamid, der einen Bombengürtel trägt, die Detonation nicht selbst auslöst, sondern Mukhtar, der mit einigen anderen Gotteskriegern, darunter auch Kerim, aus sicherer Entfernung die Szenerie verfolgt und per Fernschalter die Bombe zündet. Durch diese Hintergrundinformationen wird die Tat nicht entschuldigt oder als eine begründete ausgewiesen, doch zeigen sich hier die Möglichkeiten der Literatur, im Zusammenhang der Beschreibungen von Terrorismus und Krieg mehr darzustellen und zu zeigen als andere Interdiskurse, wie beispielsweise Nachrichten, die sich zumeist ausschließlich auf den Anschlag und desSache kämpfen. Wenn die Sache so einfach wäre, wäre es nicht so ein Problem.« (zitiert nach: KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 198.) 150 Vgl. WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 13.

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sen Folgen konzentrieren. Die oftmals sehr viel später valide erforschten Hintergründe der Taten sind aufgrund des abnehmenden Interesses der Zuschauer und der in ökonomischen Zusammenhängen stehenden Schnelligkeit der Berichte nicht gleichermaßen medial repräsentiert.151 In dem Roman Das dunkle Schiff wird an dieser Stelle auch auf eben diese mediale Inszenierung der Attentate hingewiesen, allerdings aus der Perspektive der anderen Seite, der Seite der Terroristen.152 Kerim, der sich mit Hamid wohl vor allem aufgrund der hierarchischen Struktur der terroristischen Gruppe, die sie beide in einer niedrigen Position verortet, gleich zu Beginn angefreundet hatte, erhält die Aufgabe, Hamids Attentat zu filmen. »Nur das kleine Vorschaufenster rettete ihn [Kerim] davor, über das, was er sah, nachzudenken. […] In der Mitte erhob sich der Feuerball der Explosion. Deutlich konnte Kerim umherwirbelnde Körperteile sehen. Und über allem schwebte etwas, von dem er sicher war, dass es sich um einen Kopf handelte, Hamids kindlichen Kopf.« (DS 360)

Hieran zeigt sich also nicht nur ein Teil der Mitwirkung Kerims an den terroristischen Akten der Islamisten (die ihn, ebenso wie im Falle der Grabschändung, eines reinen Opferstatus enthebt), sondern auch das literarische Verfahren, Techniken anderer Medien integrierend aufzunehmen. Durch die angewandte Erzähltechnik ›schaut‹ der Leser durch die Kamera in Kerims Händen, die den Anschlag festhält. Der Rezipient kann hier im Gegensatz zu den audio-visuellen Medien, die zumeist zensiert sind, nicht wegschalten, sondern wird der grausamen Schilderung ausgesetzt.153 Zudem wird auch das dargestellt, was Fatah selbst als das ›Nachleben‹ eines Anschlags bezeichnet, wie beispielsweise die Informationen über Hamid und auch die Gefühle Kerims – die bloße Erinnerung an das Attentat tangiert ihn emotional äußerst stark, auch dann noch, als er sich bereits in Deutschland befindet (vgl. DS 361). Seine Kamera wird indes direkt nach der Detonation abgeschaltet, da das Folgende für ihre Zwecke, die weltweite Verbreitung der Aufnahmen durch das Internet, »keinen Nutzen« (DS 360) hat, wodurch auch an dieser Stelle die Gegensätzlichkeit zu den medialen Darstellungen wie beispielsweise den journalistischen Berichten deutlich wird. Das Aufnehmen solcher Anschläge und das Verbreiten der Videos 151 Vgl. zu dem Zusammenhang von Krieg und Medien Abschnitt I, Kapitel 1.3. 152 Auch hier zeigt sich das Potential der literarischen Verarbeitung, da es der Literatur möglich ist, einen Perspektivwechsel zu vollziehen und damit auch das Andere darzustellen. 153 Genau darauf zielt auch die Frage an Sherko Fatah in einem Interview ab, nämlich ob Literatur zeigen dürfe, was das Fernsehen schon ausblenden würde, worauf der Autor antwortete: »Ich glaube sie darf es, weil sie eben keine Kamera benutzt, sondern in Sprache arbeitet. Ich beschreibe keine historische, lang zurückliegende Sache, an der man überhaupt nicht beteiligt wäre. Mir ist es wichtig, auf gleicher Höhe mit den Ereignissen zu schreiben. Dazu gehört eben auch, dass diese Bombenanschläge, die wir im Tagesrhythmus gemeldet bekommen, auch ein Nachleben haben. Es gibt das, was übrigbleibt von dem, was in die Luft geflogen ist. Wenn man das ausblendet, wird sprachlich genau das hergestellt, was die Nachrichten herstellen: eine Abfolge von Explosions- oder Rauchbildern, die nichts von dem vermitteln, was wirklich passiert.« (MAGENAU, Jörg: Gespräch mit Sherko Fatah.)

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wird in der Politikwissenschaft mehrheitlich als »Kommunikationsstrategie«154 charakterisiert. Somit liegt der Hauptzweck der Gewalttaten immer auch in der Verbreitung einer Botschaft, die einerseits darauf abzielt »Furcht und Schrecken zu verbreiten, die jeweils betroffene Bevölkerung zu verunsichern und das allgemeine Vertrauen in den Staat und seine Fähigkeiten, die bestehende Ordnung zu schützen, auszuhöhlen«155 und andererseits als »mobilisierende Motivation«156 verstanden wird, um andere, gleichgesinnte Gruppen in ihrem Vorhaben zu unterstützen. Bei dieser Gruppe der »zu interessierenden Dritten« handelt es sich »um denjenigen, für dessen Interesse die Terroristen zu kämpfen behaupten.«157 Der Stellenwert dieser Aufnahmen für die Islamisten wird in dem Werk deutlich herausgestellt: »Mukhtar war klar, dass die Propaganda genauso wichtig war wie die Operation selbst« (DS 415), wobei das Interesse der in dem Roman beschriebenen Glaubenskrieger sich primär auf die oben erläuterte erste Ebene der Botschaft bezieht: »Da der Clip dazu bestimmt war, unter den Feinden und allen, die bereit waren, es durch Verrat zu werden, Furcht und Schrecken zu verbreiten, durften sie nur die Längen herausschneiden.« (DS 416) So kann an dieser Stelle eine Parallele zwischen den von Politologen beobachteten Praktiken und Zielsetzungen der real-existenten Terroristen und den in der Literatur verhandelten ausgemacht werden. Besonders ausführlich wird das Schneiden des Videoclips beschrieben, das eine andere Gewalttat zeigt, eine Massenhinrichtung in einem Dorf: Mukhtar schneidet hier nacheinander den vor ihm knienden Menschen mit einem Messer die Kehle durch.158 Peter Waldmann stellt für solche Hinrichtungsbilder, die er besonders häufig beispielsweise im Zuge des real-historischen Irakkrieges ausmacht, heraus, dass sie eine »Fortführung […] vom terroristischen Grundkonzept« darstellen. Die Terroristen »treiben nun die Akzentuierung der Gewalttaten noch weiter voran: indem sie durch die filmische Wiedergabe der Exekution die dabei herrschende Atmosphäre des Grauens und der Verzweiflung unmittelbar in die Stube des Zuschauers tragen; indem sie den Kreis derjenigen, die als Opfer für dieses Hinrichtungsritual ausgewählt werden, beliebig ausgedehnt haben; und indem sie vor allem nicht mehr abwarten, ob ihre Gewaltaktion von einem Medium aufgegriffen wird, sondern durch die Produktion und Versendung der entsprechenden Bilder deren Verbreitung selbst in die Hand nehmen.«159 154 155 156 157 158

WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 15. Ebd., S. 15. Ebd., S. 36. MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 180. Neben der literarisch wirkungsvollen Beschreibung der Brutalität dieses Hinrichtungsaktes dient die Darstellung solcher gewalttätigen Szenen nach Fatah vor allem dem Verständnis der Rezipienten für die Situation der Figuren, besonders Kerims: »Es war nicht mein Anspruch, das alles in drastischem Realismus zu zeigen. Aber wo es nötig ist, lasse ich es nicht weg, weil es für das Verständnis nützlich ist. Das Unglaubliche der Entscheidung, sich diesen Gotteskriegern anzuschließen, wird erst dann klar, wenn man weiß, was sie tun.« (MAGENAU, Jörg: Gespräch mit Sherko Fatah.) 159 WALDMANN, Peter: Terrorismus, S. 94f.

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Außergewöhnlich erscheint in der Darstellung besonders, unter welchen Umständen Kerim und Rashid die Videos zusammenschneiden: Sie arbeiten an den Computern in einem Haus einer wohlhabenden Familie mit acht Kindern. Die dadurch eröffnete Dichotomie – auf der einen Seite die familiäre Atmosphäre, das Kindergeschrei, das man teilweise »auf den fertigen Clips sogar noch hören« (DS 415) kann, die »häusliche Geborgenheit, die friedliche Alltagsstimmung« (DS 416) und auf der anderen Seite die Brutalität der praktizierten Gewalttaten, das wiederholte Durchleben der Grausamkeiten und des Mordens (vgl. DS 416f.) – bringt deutlich Kerims Position des ›Dazwischen‹ zum Vorschein, er gehört weder zu den Zivilisten noch kann er sich mit den Taten der Gotteskrieger identifizieren. Das Schneiden der Clips von den Anschlägen ist Kerims letzte Tätigkeit vor seiner Flucht vor den Gotteskriegern. In Deutschland wird Kerim, der nun in der Gruppe gleichaltriger Männer, die allesamt einen Migrationshintergrund aufweisen und sich hauptsächlich in einem Internetcafé aufhalten, von einem solchen Videoclip eingeholt. Es zeigt ein Attentat, das von einem Kerim bekannten Gotteskrieger ausgeführt wird, und den anschließenden Beschuss eines amerikanischen Konvois (vgl. DS 335f.). Das Internet, das Aleida Assmann als »ein Speichergedächtnis ohne Speicher«160 bezeichnet, führt Kerim genau das vor Augen, was er hinter sich lassen, was er vergessen wollte. Hier kommt das Merkmal der Zeitlosigkeit des Internets zum Tragen, Assmann führt dazu aus: »Als ein virtuelles Gefüge ist es zeitlos; wenn man es auf Zeit beziehen möchte, dann muss man sagen, dass es ganz auf die Gegenwart eingestellt ist; es legt zurück und hält vor, was hier und jetzt tatsächlich gebraucht und aktualisiert wird. Seine Zeitstruktur ist aufgelöst in unendlich viele zeitlose Momente; es ist die Zeit des Klicks, der eine virtuelle Information punktuell aktualisiert.«161

Das interdiskursive Internet, das durch die ihm inhärente Zeitlosigkeit die Grenzen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen lässt, tritt hier als Medium, als Mittler auf, das Kerims Vergangenheit mit seiner Gegenwart verbindet. Die Bilder, denen seitens der Gotteskrieger ein hoher Stellenwert eingeräumt wird und an denen Kerim selbst mitgearbeitet hat, scheinen ihn zu verfolgen, wodurch das zweite Merkmal des Internets deutlich wird: Ebenso wie seine Zeitlosigkeit, fehlen auch fixierte Raumgrenzen, es stellt vielmehr einen transnationalen und damit grenzüberschreitenden Raum dar. Durch diese Charakteristika des Grenzenlosen, die sich besonders in seiner virtuellen Form manifestieren, steht das Internet symbolisch dafür, dass ein Vergessen, auch mit großer zeitlicher und räumlicher Entfernung, nicht möglich ist – Kerim kann seiner Vergangenheit nicht entkommen. Die Wiederkehr der Gotteskrieger in Kerims Leben vermittelt auf der einen Seite durch die plötzlich einfallenden, traumatischen Erinnerungen und auf der anderen Seite durch die Internetpräsenz, bildet bereits einen Ausblick darauf, dass Kerim sich auch in Deutschland nicht ihrem Einfluss entziehen kann, wodurch eine Grenzüber160 ASSMANN, Aleida: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, in: Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin: De Gruyter 2004, S. 45-60, hier S. 56. 161 Ebd.

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schreitung nicht nur auf metaphorischer, sondern auch auf struktureller Ebene in Bezug auf die Romanhandlung konstruiert wird. Der Tod, der immerfort in den Beschreibungen anwesend ist – sei es bei der Grabschändung, den Attentaten und Massakern oder in metaphorischer Form, als Kerim ›stirbt‹ und ein neues Leben bei den Gotteskriegern beginnt – wird nun für den Protagonisten tatsächlich wahr, er wird von Amir im Auftrag Rashids umgebracht. Damit holt ihn seine Vergangenheit endgültig ein, der Kreis des Krieges und des Terrorismus, der von Anfang an präsent war, wird zum übergeordneten Element und schließt sich im vermeintlich friedlichen Deutschland. 3.2.4 Das stereotype Feindbild: ›der Westen‹ In dem Roman Das dunkle Schiff wird häufig von ›dem Westen‹ oder ›der westlichen Kultur‹ gesprochen, womit primär die Amerikaner gemeint sind. Gerade hier wird eine Grenze gezogen, welche die Gruppen ›wir‹ und ›sie‹ voneinander trennt, und dies nicht allein von den Gotteskriegern – besonders häufig spricht die Figur des Lehrers über die Amerikaner –, sondern auch von zivilen Einheimischen, zum Beispiel den Gästen des Restaurants von Kerims Familie. Ein Fernfahrer berichtet in diesem Zusammenhang etwa von seiner Fahrt nach Fallujah, wo amerikanische Soldaten auf einem Feld einen Fußballplatz bauen. Besonders auffällig an der Beschreibung des Fernfahrers ist, dass die Einheimischen nicht einordnen können, was die Amerikaner dort tun: »Jetzt planierten sie das Gelände, und niemand von den Leuten um mich wusste, wozu sie das taten. Alle starrten hinüber und wunderten sich. […] Ich glaube, wir haben ihnen fast eine Stunde lang zugesehen, und niemand hat verstanden, was sie taten.« (DS 159f.) Dieses Nicht-Verstehen des Verhaltens der Amerikaner liegt wohl auch darin begründet, dass sie den Einheimischen offenbar nicht erläutern, was sie eigentlich tun. Hier wird auf spezifische Weise gezeigt, dass eine interkulturelle (verbale) Kommunikation nicht gestört oder fehlgeleitet, sondern erst gar nicht vorhanden ist. Versinnbildlicht wird die dadurch gezogene Grenze zwischen den Amerikanern und den Einheimischen durch die Wachen, die die amerikanischen Soldaten bei ihrer Arbeit beschützen. Ein Austausch auf Augenhöhe zwischen Einheimischen und Soldaten scheint allein durch die Bewaffneten bereits im Vorfeld zum Scheitern verurteilt zu sein bzw. kommt nicht zustande. Die Iraker lassen die Amerikaner gewähren, nach der Fertigstellung des Fußballplatzes jedoch benutzen sie ihn zunächst nicht. »›Dann, in einer Nacht, waren plötzlich zweihundert Leute aus der Stadt dort. Sie gingen zu der Müllgrube, holten mit bloßen Händen alles heraus, was da drin war, und verteilten es auf dem Fußballplatz. Sie zerstörten die Tore, verwischten die Markierungen und gingen wieder.‹« (DS 162) Der Akt des Zerstörens des offensichtlich als Geschenk gedachten ›richtigen‹ Fußballplatzes gemeinsam mit dem Verweis, dass viele Iraker solche Spielfelder »nur aus dem Fernsehen« (DS 161) kennen, kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Zum einen kann die Demontage des Platzes als Metapher für eine gescheiterte kulturübergreifende Verbindung zwischen den Amerikanern und den Irakern gelesen werden. Dies könnte auf ein übergeneralisierendes Besatzerbild aus der Perspektive der Einheimischen hindeuten. Die Amerikaner würden so ausschließlich im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen wahrgenommen, was mit einem Geschenk wie einem Fußballplatz nicht korrespondiert. Um die Unstimmigkeit zwischen dem

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stereotyp umgrenzten Bild und dem Geschenk aufzuheben und somit die konstitutive Grenze des Eigenen zu wahren, wird das Geschenk zerstört, wodurch das homogene Negativbild wieder hergestellt wird. Zum anderen kann die Zerstörung aber auch als Rückeroberung des Eigenen verstanden werden. Die Amerikaner, die sich ohnehin bereits in einem fremden Land befinden, eignen sich durch den Bau des Fußballplatzes ein spezifisches Stück eines fremden Landes an. Das Fremde wird so zunächst von den Soldaten besetzt und dann durch die Bearbeitung in das Eigene integriert – sie bauen den Fußballplatz nach dem Vorbild aus ihrem eigenen Kulturraum. Zudem handelt es sich nicht um irgendeinen beliebigen Platz: »Die Amerikaner hatten gesehen, wie die Jungen auf dem Müllfeld Fußball spielten, wie sie die Dreckhaufen als Tore benutzten.« (Ebd.) Das bedeutet, dass die Amerikaner den Ort umbauen, der bereits zuvor von den Einheimischen für das Fußballspielen genutzt wurde. Die Zerstörung des Feldes und vor allem das Wiederherstellen des ursprünglichen Zustandes, indem der Müll wieder auf dem Platz verteilt wird, verdeutlicht den Willen, das dem Ort durch den Umbau anhaftende Fremde wieder umzukehren, den Ort wieder in das Eigene zu integrieren, ihn wieder zurückzugewinnen. Eine weitere denkbare Lesart beinhaltet, die Zerstörung als willentlich geführten Akt gegen die Amerikaner zu deuten. Die Einheimischen zerstören das Geschenk, um das sie nicht gebeten haben, von den Amerikanern, die ohne zu fragen in ihr Land gekommen sind. Das Demolieren des Platzes kann also als durchaus gewalttätiger, destruktiver Widerstand gegen die amerikanische Besatzung gelten, der nicht auf militärischer, sondern auf sozialer bzw. ziviler Ebene stattfindet. Jede dieser Deutungen markiert die durch verschiedene Praktiken erzeugte Grenze zwischen den beiden Gruppen, die in Form einer Linie offenbar nicht überwunden werden kann.162 162 Der Fußballsport wird noch an einer anderen Stelle mit Gewalt und kulturellen Differenzen in Verbindung gebracht. Wie oben bereits kurz angesprochen, zeigt Amir Kerim in dem Internetcafé ein Video eines terroristischen Anschlags auf einen Armeekonvoi (es wird nicht erörtert, welcher Nationalität die beschossenen Soldaten angehören), Kerim wendet sich mit den Worten: »›Für euch ist das ein Spiel‹« (DS 336) ab und stellt sich »demonstrativ unter einen Plasmabildschirm an der Wand. Ein tonloses Fußballspiel lief dort.« (DS 336) Kerims expliziter Verweis darauf, dass die jungen Männer das Video bloß als Spiel betrachten, liegt auch darin begründet, dass Hanif zuvor ein Computerspiel spielte, das offenbar ein Kriegsgeschehen imitiert und auf ihn große Faszination ausübt: »Amir legte dem Jungen die Hand auf die Schultern und schüttelte ihn unsanft. Hanif nahm die Kopfhörer ab, doch seine Augen klebten an der stilisierten Berglandschaft auf dem Bildschirm, vor der flache, von Einschusslöchern übersäte Häuser dargestellt waren.« (DS 335) Besonders die Landschaftsbeschreibung verweist direkt auf die zu Beginn des Werkes beschriebenen Camps und Höhlen der Gotteskrieger, wodurch diese Beschreibung des virtuellen Spiels einen intratextuellen Verweis darstellt und zugleich einen realitätsgetreuen Effekt hervorbringt. Zum anderen wird das Fußballspiel hier als Gegenpol zu der Brutalität des Videos, das den terroristischen Anschlag zeigt, inszeniert. Der Sport, der im Vergleich zu den kriegerischen Auseinandersetzungen, die mit Tod und Leid einhergehen, keinen tieferen Sinn hat, aber dem in vielen Gesellschaften große Bedeutung zugesprochen wird, kann mit der unter anderem vom Lehrer deklarierten stereotypischen Dichotomie zwischen Westen und Osten in Verbindung gebracht werden. Fuß-

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Bereits zu Beginn der Zeit bei den Gotteskriegern wird ein spezifisches Negativbild der Amerikaner inszeniert: »Seit es die Satellitenprogramme gab, so sagten sie, seien die jungen Leute verrückt geworden. Weil sie so aussehen wollten wie irgendwelche Amerikaner, die sie im Fernsehen sahen, schmierten sich die Jungen Fett in die Haare, und Schulmädchen würden wie Huren gekleidet herumlaufen.« (DS 116) Das Verhalten der im Fernsehen zu sehenden Amerikaner – nicht das der im Land anwesenden amerikanischen Soldaten – vor allem in Bezug auf Kleidung und Frisuren, wird als schlechtes Vorbild für die einheimischen Jugendlichen bezeichnet. Durch das Fernsehen, so klingt es hier bereits an, werden ›westliche Werte‹ vermittelt, die nicht zur Kultur der Iraker passen. Dies wird an anderen Stellen noch weiter zugespitzt: »Diese Menschen, die nur an das Schlechte in allen glaubten, die überzeugt davon waren, mit ihrem Geld und ihren Waffen jede andere Kultur unterwerfen zu können, die in fremde Länder einmarschierten, ohne sich um deren Bewohner zu kümmern, die alles entweihten, was sie berührten, und dabei auch noch Freude empfanden.« (DS 392)

Diese Beschreibung der Amerikaner wird von Kerim selbst vorgenommen und zwar während eines Angriffs auf einen amerikanischen Armeekonvoi. Hieran zeigt sich zum einen die stereotype Beschreibung amerikanischer Soldaten, die in diesem Zusammenhang auch als »Inbegriff des Unglaubens« (ebd.) charakterisiert werden163 und zum anderen, dass Kerim zu diesem Zeitpunkt des Handlungsverlaufs bereits so weit in die Gruppe der Gotteskrieger assimiliert ist, dass er sich das Vokabular der Gotteskrieger, vor allem das des Lehrers, angeeignet hat. Geld und Waffen, so der erklärte Grundgedanke, hätten für die Amerikaner größeren Wert als andere Kulturen. Dass bei den Hetzreden des Lehrers immer wieder konkret auf diese Nation eingegangen wird, verweist auf die Ebene der real-historischen Ereignisse, während ball steht in diesem Zusammenhang vor allem für den Kommerz, das Geld, das ›die westliche Kultur‹ laut dem Lehrer mehr fokussiert und verehrt als Gott. Die vorwurfsvolle Feststellung, dass derlei Kriegsgeschehen für die jungen Männer nur ein Spiel sei, unterstreicht noch einmal die Grenze, die neben der abstrakteren, kulturellen Ebene auch auf unmittelbar figuraler Ebene gezeigt wird zwischen Kerim auf der einen Seite, der nicht nur im Irak geboren wurde und von daher schon das Kriegsgeschehen viel unmittelbarer miterlebte als die anderen, sondern zudem auch aktiv bei den Gotteskriegern gekämpft hat, und den jungen Männern auf der anderen Seite, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und denen Szenen des Krieges nur durch die Medien vermittelt werden. Die Erfahrung mit dem Krieg wird hier zum entscheidenden Kriterium für die Grenze: Für die jungen Männer ist der Krieg das Andere, das besonders auf Amir eine gewisse Faszination ausübt, für Kerim hingegen ist er ein Teil seiner Vergangenheit, also ein Teil des Eigenen, von dem er sich distanzieren will. 163 Jan und Aleida Assmann machen darauf aufmerksam, dass im Kontext entworfener Feindbilder »Verwestlichung« in der islamischen Welt zum »Synonym für Säkularisierung, Atheismus, Traditions- und Identitätsverlust« geworden sei: »Damit wird der Westen jetzt mit einer Anklage konfrontiert, für deren Argumente er selbst jeden Sinn verloren hat.« (ASSMANN, Aleida/ASSMANN, Jan: Kultur und Konflikt, S. 22.)

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derer die Amerikaner die Initiative sowohl in Bezug auf den Beginn des Zweiten Golfkrieges als auch auf den Sturz Saddam Husseins ergriffen haben und die stärkste ausländische Streitkraft im Irak darstellen. Abgesehen davon liegt hier ein interessantes Phänomen vor: Die Gotteskrieger vereinheitlichen stets ›westliche Werte‹ und die amerikanische Kultur, was einerseits einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Krieg und Kultur erkennen lässt – die beiden Bereiche stehen sich nicht antithetisch gegenüber, sondern Kriege nehmen ihren Ausgang innerhalb der Kultur gleichsam als »kulturelles Artefakt«164 – und andererseits eine aus der Pauschalisierung resultierende Stereotypenbildung zur Folge hat. Im Kontext der neuen Kriege wird wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass unter anderem die Prozesse der Entstaatlichung und Entmilitarisierung der Gewalt eine »Enthegung des Krieges«165 zur Folge haben, eine beinahe unüberschaubare Gemengelage. Besonders der Aspekt der Undefinierbarkeit des Feindes, also die kaum mehr mögliche Differenzierung zwischen Kombattant und Non-Kombattant, wird in diesem Zuge postuliert, weil sich die an dem Kampfgeschehen Beteiligten, die weder eine Uniform noch ihre Waffen offen tragen, äußerlich kaum von der Zivilbevölkerung unterscheiden. Dieser Hinweis kommt vor allem dort zu Geltung, wo ausländische Soldaten in einem anderen Land agieren, so wie in Das dunkle Schiff die amerikanischen Soldaten im Irak. Durch die spezifische Innenperspektive der Gotteskrieger stellt der Roman jedoch auch die andere Seite dar: Nicht nur die ausländischen Soldaten benötigen einen klar definierten Feind, den sie bekämpfen können, sondern auch die Islamisten müssen sich ihr Feindbild erst konstruieren, um einen expliziten Gegner bekämpfen zu können. Diese Konstruktion erfolgt dann unter Aufbringung einer Übergeneralisierung, indem speziell die Amerikaner bzw. die Werte, die sie vermeintlich vertreten, verantwortlich gemacht werden für die als moralisch verkommen wahrgenommene Jugend oder die Entweihung religiöser Orte. Damit wird die Grenzziehung, die benötigt wird, um überhaupt einen Krieg führen zu können, in dem Roman genau von der anderen Seite aus beleuchtet. Die Grenze zeichnet sich in diesem Zusammenhang durch ihre Absolutheit aus: Es werden zwei dichotome Pole mit entsprechenden Konnotationen gezeichnet, die sich diametral gegenüberstehen und miteinander unvereinbar sind. So wird der Fremde in diesem Kontext kategorisch dem Feind als reine »Negativität«166 zugeordnet, wodurch eine Opposition entsteht, die eine klare Verortung sowohl des Anderen als auch des Eigenen zulässt. Diese Stereotypenbildung, die das Figurenkollektiv der Gotteskrieger signifikanter Weise besonders aus den Medien, zumeist aus Filmen bezieht (vgl. DS 392), die es als Anschauungsmaterial nutzt, um ihr vorgefertigtes Bild vom ›Westen‹ zu untermauern, steht im Kontrast zu dem Fremdbild, das in den westlichen Medien gezeichnet wird, aber auf den gleichen Grundlagen basiert, nämlich einer abwertenden Haltung gegenüber dem Fremden – die Haltungen sind trotz ihrer diametralen Ergebnisse in ihrer Ausrichtung und Zielsetzung äquivalent. Somit basiert Das dunkle Schiff zwar auf einem Perspektivwechsel, indem es nicht die für den Rezipienten vertraute Position einnimmt, zeigt aber zugleich auch, dass eine der Grundstrukturen des Krieges, die Verortbarkeit, die Eingrenzung des Fein164 Vgl. ebd., S. 13. 165 MÜNKLER, Herfried: Die neuen Kriege, S. 31. 166 BAUMAN, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz, S. 23.

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des, aber auch des Eigenen, auch in ihren Praktiken konstitutiv wirkt. Die bewegliche Figur Kerim jedoch fällt aus diesem Schema, das die Praktiken des Figurenkollektivs der Terroristen umfasst, heraus: Trotz der Eingliederung in die Gruppe, vor allem in Bezug auf die Religiosität, setzt er sich im Bereich der kriegerischen Gewalt deutlich von den anderen ab und befindet sich so in einem Zwischenraum. 3.2.5 Die Flucht als liminales Moment Die Flucht ist geradezu ein Strukturmerkmal des Romans, das an mehreren Stellen aufgegriffen wird und der Handlung jeweils eine bestimmte Richtung vorgibt: Kerim flieht, nachdem er viel Geld gestohlen hat, vor den Gotteskriegern wieder zu seiner Familie und später nach Deutschland. Das erste Moment einer Flucht kann man jedoch bereits davor ausmachen; Kerim wird von den Gotteskriegern entführt, eine passive Haltung, die nichts mit einer aktiven Flucht gemein hat, allerdings ist das Leben bei den Gotteskriegern zunächst eine Art Ausweg aus dem Leben, das ihm durch den Tod des Vaters als Erstgeborenen aufgezwungen wurde und das Kerim nicht führen wollte. Als ihm bewusst wird, dass er nicht getötet wird, dass sich die Gotteskrieger von Anfang an lediglich seines Autos bemächtigen wollten, verweilt er trotzdem bei ihnen, er ›stirbt‹ metaphorisch, bricht mit seinem vorherigen Leben, wird religiös und überschreitet als bewegliche Figur so eine Grenze hin zu den Gotteskriegern. Daher kann man bereits hier von einer Art Eskapismus, einem Ausbruch aus der gewohnten Alltagsroutine sprechen, wenn dieser im Gegensatz zu den anderen Fluchtmotiven auch nicht aktiv geplant, sondern eher aus einer passiven Haltung heraus, der Kerim zunächst nichts entgegensetzt, entsprungen ist.167 Die Flucht vor den Gotteskriegern wird mittels Analepsen wiedergegeben, während sich Kerim im Handlungsverlauf des Romans bereits längere Zeit in Deutschland befindet. Zuvor war die Flucht eine Leerstelle. Ein besonderer Auslöser für diese Flucht wird nicht geschildert, allerdings geht aus den Erinnerungen Kerims 167 Michael König macht in Kerim eine grundsätzlich passive Figur aus: »Nicht von ungefähr entsteht […] der Eindruck eines streng fatalistischen Geschichtsverlaufs, der von den Figuren selbst immer nur erlitten und erduldet, nie aber selbstbestimmt verändert werden kann. Nie gewinnt man in der Narration den Eindruck, Kerim sei selbst handelndes Subjekt der eigenen Geschichte.« (KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 187.) Selbst wenn die Schuld, die Kerim zumindest während der Zeit bei den Gotteskriegern auf sich geladen hat und die auch König aufzählt (vgl. ebd., S. 189.), nicht aus eigener Initiative angestoßen, sondern tendenziell in der Rolle des Mitläufers gedacht werden würde – was Kerim einer Mitschuld entheben und sein Verhalten gleichsam entschuldigen würde – kann doch spätestens mit der zweifachen Flucht nicht mehr von einer schicksalsergebenen Figur gesprochen werden, die sich durch reine Passivität auszeichnet. Kerim wartet ja gerade nicht darauf, dass er aufgefordert wird, selbst ein Attentat durchzuführen (dieses ›Schicksal‹ würde ihm bei den Gotteskriegern in jedem Fall ereilen), sondern setzt sich zuvor wörtlich in Bewegung. Auch die Lüge, die er sich ausdenkt, um in Deutschland Asyl gewährt zu bekommen, nämlich die Behauptung, aufgrund seiner Zugehörigkeit zur alevitischen Glaubensgemeinschaft verfolgt zu werden, spricht deutlich mehr für ein aktives als für ein ausschließlich passives Verhalten.

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deutlich die Angst vor Mukhtar hervor, die Kerims Fluchtgedanken aufkommen lässt (vgl. DS 307). Nach dem gegen Zivilisten gerichteten Massaker zeigt Mukhtar jedem aus der Gruppe das Messer, mit dem er getötet hatte, als Zeichen des Triumphs. »Vor Kerim blieb er stehen, blickte ihm in die Augen und sah sein Entsetzen. Er wartete kopfschüttelnd eine Sekunde und wischte dann die Klinge an Kerims Wange ab. Der war sicher, dass er ihn markiert hatte. Er würde der nächste in der Reihe der sich opfernden Märtyrer sein, denn Mukhtar traute ihm mit jedem Einsatz weniger.« (DS 391)

Das Markieren Kerims steht symbolisch für die letzte Grenzüberschreitung, die von ihm gefordert wird – sich selbst für den Dienst an Gott zu opfern. Obwohl die Praktik, in der sich die Gotteskrieger subjektivieren, vorgibt, dass sie sich von sich aus für den Märtyrertod melden müssen und nicht von außen dazu gezwungen werden dürfen, ist sich Kerim der mit dieser Gestik verbundenen Aufforderung bewusst, an anderer Stelle heißt es dazu: »Kerim ahnte, dass der Anführer [Mukhtar] auf das Zeichen von ihm wartete, sich als nächster zu opfern. Doch auch wenn er nichts sagte, war er verloren.« (DS 417) Somit befindet sich Kerim in einem Spannungsfeld zwischen Eigen- und Fremdinteressen: Es widerstrebt ihm zu töten und der damit verbundenen Selbsttötung nachzukommen, muss es aufgrund des auf ihn ausgeübten Drucks innerhalb des Normalfeldes seiner Gruppe aber tun. Der Ausweg aus diesem Dilemma, das deutlich die verschiedenen, sich überschneidenden und in Konkurrenz zueinanderstehenden Wissensformationen Kerims offenbart, ist die Flucht. So ergreift er eine baldige Gelegenheit, stiehlt aus dem Haus, in dem er die Videoclips über die Attentate zusammenschneidet, mehr als 6000 US-Dollar und flieht in einem Moment, in dem die Situation aufgrund einer Hausdurchsuchung der Amerikaner unübersichtlich ist. Durch den Diebstahl des Geldes gibt es für Kerim »kein Zurück mehr« (DS 419), er überschreitet eine Grenze und tritt aus der Gruppe der Gotteskrieger aus. Bemerkenswert ist die Stelle, als die Amerikaner direkt vor dem Haus stehen, kurz bevor Kerim flieht: »Nun werde ich sie, dachte er, ganz zum Schluss vielleicht doch noch sehen, die Schänder der heiligen Stätten, die Herrscher der Welt, die aus ihren Glastürmen und Raumstationen gestiegen, mit Flugzeugen und Schiffen hergekommen sind, um gegen mich, Kerim, den Koch, zu kämpfen.« (DS 418) Die verhassten Amerikaner, die Kerim in offensichtlicher Anlehnung an die Terminologie und Wortwahl des Lehrers beschreibt, verschaffen ihm nun die Möglichkeit zur Flucht. Bedeutsam ist indes vor allem, dass er sich nicht als Gotteskrieger oder mit einer ähnlichen Bezeichnung betitelt, sondern mit seinem ursprünglichen, von seinem Vater erlernten Beruf: Er nennt sich Koch. Ein stark ausgeprägtes asymmetrisches Verhältnis wird darüber hinaus in der Aussage deutlich, dass die mächtigen, technisch überlegenen ›Herrscher der Welt‹ gekommen seien, um gegen einen einzigen Mann zu kämpfen, der zudem lediglich Zivilist ist. In dieser Differenz zwischen Wortwahl und ursprünglichem Beruf wird ferner deutlich, dass er, trotz der Verwendung des Vokabulars, nie vollkommen die Praktiken der Gruppe übernommen und sich integriert hat und sie deutet bereits auf die Rückkehr Kerims hin, die im Handlungsverlauf unmittelbar bevorsteht. Die Heimkehr des Protagonisten ist lediglich eine Zwischenstation. Das gestohlene Geld hat er in einem Stoffbeutel versteckt, der dem Gotteskrieger Rashid gehört. Das Geld und der Beutel werden so in den ursprünglichen Raum expediert, was Hans

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Krah, in Rückbezug auf Jurij Lotmans Theorie des Ereignisses allgemein als »Beuteholerschema«168 bezeichnet: Nachdem eine Figur die Grenze zwischen dem Ausgangsraum (Heimat) und dem zweiten, dazu oppositionellen Raum (Sphäre der Gotteskrieger), das zweite Mal überschritten hat und damit wieder in den ursprünglichen Raum eintritt, wird ein Element, in diesem Fall sind es zwei, in den Ausgangsraum überführt.169 Krah stellt in diesem Zusammenhang fest, dass »damit die Fortsetzung der Ereignisstruktur impliziert ist: Die Tilgung des einen Ereignisses entspricht der Generierung eines neuen«170. Dies kongruiert auch mit dem Handlungsverlauf des Romans: Das gestohlene Geld schafft die Möglichkeit für Kerims zweite Flucht, die Flucht nach Deutschland. Zudem spielt ebenso der Besitzer des Beutels, in dem das Geld versteckt war, noch eine bedeutende Rolle, da Kerim in Deutschland nochmals auf Rashid trifft, woraufhin dieser Kerims Tod befiehlt. Somit bilden diese beiden Elemente der ersten Flucht die Grundlage für die Fortführung der Handlung, eine zweite Grenzüberschreitung wird hier bereits eingeleitet. Nach der Rückkehr in die Heimatstadt integriert sich Kerim nicht wieder in den Ausgangsraum, was er auch von Anfang an nicht intendiert: »Als er fertig war, richtete er sich auf, blickte sich im Raum um und wusste sehr genau, dass er nicht zurückgekehrt war, wie die anderen glaubten, und dass dieses Geld das Zeichen dafür war.« (DS 154) Vor allem aufgrund der Angst, von den sich immer mehr vernetzenden Gotteskriegern171 aufgespürt zu werden, plant Kerim seine Flucht, wobei er wiederum Rashids Stoffbeutel als einziges Gepäckstück mit auf seine Reise nach Deutschland nimmt. Damit ist dieses Element nicht nur während der Flucht präsent, sondern gelangt auch in den nächsten Raum, dessen Grenze der Protagonist überschreitet. Bevor Kerims Flucht beginnt, fährt Nasir, ein Freund seines Vaters, der die illegale Reise nach Deutschland geplant hat, ihn zu dem Treffpunkt »nahe dem Flüsschen und der uralten, der Legende nach verwunschenen Brücke, die so zerbrechlich aussah wie ein Vogelknochen.« (DS 181) Erneut ist es eine Brücke, die, ebenso wie bei der Entführung durch die Gotteskrieger, symbolisch eine neue Lebensstation Kerims einläutet. Der Protagonist überschreitet nun auch hier eine Grenze, er trennt sich – zumindest räumlich – nun endgültig von seiner Heimat. Während die erste als eine Betonbrücke beschrieben wurde, ist diese fragil und zerbrechlich. Entsprechend der Gegensätzlichkeit der Brückenkonstitutionen verhalten sich auch die beiden Lebensabschnitte Kerims geradezu antithetisch zueinander, denn während sich sein Leben bei den Gotteskriegern durch die Einhaltung festgesetzter, routinisierter Regeln und Normen strukturierte, die deutliche Grenzen aufzeigten und 168 KRAH, Hans: Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen, in: Kodikas/Code. Ars Semeiotica. An International Journal of Semiotics. 22 (1999), S. 3-12, hier S. 8. 169 Vgl. LOTMAN, Jurij: Die Struktur literarischer Texte, S. 339. 170 KRAH, Hans: Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen, S. 8. 171 Auch hier findet sich in der literarischen Beschreibung der Gotteskrieger eine Parallele zu den Beobachtungen außertextueller terroristischer Organisationen wieder, welche sich, wie Schneckener feststellt, oftmals in transnationalen Verbänden zusammenschließen (vgl. SCHNECKENER, Ulrich: Transnationaler Terrorismus. Charakter und Hintergründe des »neuen« Terrorismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.).

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eine klare Zielsetzung beinhalteten, ist das Leben in Deutschland insbesondere durch die für ihn neue Erfahrung der Freiheit gekennzeichnet, wodurch Kerims Leben zeitweilig ziellos und unsicher wird. Zu Beginn der Flucht wird von einem der Menschenschlepper ein Bild von Europa gemalt, durch das den Flüchtlingen ihr kommendes Leben wie ein Leben im Schlaraffenland erscheinen muss: »Er schwärmte von den Städten in Deutschland, Schweden, in Dänemark und den Niederlanden und versuchte sie darauf einzustimmen mit der Beschreibung der Straßencafés, die immer voll von Leuten seien, Leuten, die viel Geld hätten und wenig arbeiten müssten, weil der Staat für ihren Lebensunterhalt sorge.« (DS 183)

Das Schlaraffenland impliziert einen Raum, in dem man alles Erdenkliche, vor allem Nahrung, in dieser Beschreibung symbolisiert von Straßencafés, bekommen kann, ohne etwas dafür zu tun. Nicht nur das Bild des Menschenschleppers, auch Kerims Fremdbild von Europa ist verklärt und äußert sich zum Beispiel in der Auffassung, die Sonne dort müsse kleiner sein, da das Land grün sei, es ausschließlich Hochhäuser gebe und die Menschen aufgrund ihrer hellen Hautfarbe krank aussähen (vgl. DS 39). Der Roman, ursprünglich primär einem deutschen Kulturraum zugänglich, schafft es durch diese Fremdvorstellungen, das dem Rezipienten Eigene zu distanzieren: Durch den Perspektivwechsel, der mittels der Beschreibung des Eigenen durch das Fremde gekennzeichnet ist, wird das Eigene entrückt. Die Perspektive des Anderen auf das Eigene ist demnach für die Konstruktion des Eigenen sehr interessant, da wohl wenige Rezipienten ihr Heimatland mit einem Schlaraffenland gleichsetzten würden. Erst durch den impliziten Vergleich zu einem Kriegsgebiet wird eine spezifische Relation geschaffen, die eine solche Konnotation nahelegen könnte. Schon früh deutete sich der Wunsch Kerims an, in ein anderes Land auszuwandern: »Allein die Vorstellung, dass jemand seine Heimat verließ und woanders ein völlig neues Leben begann, elektrisierte Kerim von Kindheit an.« (DS 37) In diesen Raum des Schlaraffenlandes gelangt man im Märchen, wo es seinen Ursprung hat, jedoch nur, indem man aktiv eine Grenze überschreitet, zum Beispiel indem man sich durch einen Breiberg isst.172 Diese Grenze unterscheidet sich von geographischen Grenzen: »Konträr zu gewöhnlichen Landesgrenzen, die idealtypisch als Linien ohne jede (Flächen-)Ausdehnung gedacht werden, handelt es sich hier zudem um eine betont ›dicke‹ Grenze.«173 Des Weiteren weist die Grenze, die das Schlaraffenland von einem anderen fiktiven Raum trennt, eine spezielle inhärente Struktur auf: »Eine ausgedehnte, nicht reibungslos passierbare Grenze vor dem Land, in dem alles nur allzu leicht zu haben ist«174, die, in Weders Terminologie, auf den »problematisierendlegitimierenden Doppeleffekt« der Grenze verweist, »indem die Grenze im Kontrast zu ihrem Jenseits besondere Leistungsbereitschaft erfordert und gerade damit den

172 Vgl. WEDER, Christine: Wie gelangt man ins Schlaraffenland?, S. 76f. 173 Ebd., S. 77. 174 Ebd., S. 78.

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Aufenthalt im Land der Leistungslosen rechtfertigt.«175 Dem Fremdbild Europas als Schlaraffenland entsprechend, ist auch die Grenze, die Kerim wiederum im Sinne einer beweglichen Figur passieren muss, beschwerlich und besteht aus mehreren Etappen. Derjenigen, die sich für Kerim am schwierigsten gestaltet, der Überfahrt mit einem Frachtschiff, wird in dem Roman ein eigenes Kapitel gewidmet. Durch die Konstruktion von Das dunkle Schiff befindet sich diese inhaltliche Grenzüberschreitung auf formaler Ebene in der Mitte des Romans. Sie trennt und verbindet damit zugleich auch die beiden Haupträume des Werkes: den Irak und Deutschland. Die Überfahrt auf dem Schiff ist neben der Wasser- und Nahrungsknappheit sowie der Gefahr, von der Schiffsmannschaft als illegaler Flüchtling entdeckt zu werden, für Kerim besonders gefährlich, da er nicht schwimmen kann und sich dementsprechend auf dem Meer in allgegenwärtiger Lebensgefahr befindet. Das Meer und der Lagerraum, in dem sich Kerim versteckt, stehen sich konträr gegenüber: Während das Meer durch eine scheinbar grenzenlose Weite charakterisiert ist, zeichnet sich der Lagerraum gerade durch seine Enge und Dunkelheit aus. In diesem Raum jedoch findet Kerim eine Tür, die auch auf formaler Ebene das verbindende Element zwischen dem ersten und zweiten Kapitel des dritten Teils darstellt. In seinem bereits erwähnten Essay Brücke und Tür schreibt Georg Simmel: »Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluß seines Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, daß er aus der ununterbrochenen Einheit des natürlichen Seins ein Stück heraustrennt. Aber wie die formlose Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten.«176

Genau diese Beweglichkeit, diese Möglichkeit des Heraustretens in die Freiheit, hat Kerim in dem Lagerraum nicht, da die Tür von seiner Seite her nicht zu öffnen ist (vgl. DS 199). Die Tür, die Grenze, die das Drinnen von dem Draußen trennt, es aber auch zugleich miteinander verbindet, kann Kerim nicht überschreiten, er ist in diesem Raum eingeschlossen. Die Funktion des Schutzes, die ihr damit ebenso immanent ist, wird jedoch erst deutlich, als sie verloren geht: Die Tür steht plötzlich offen und Kerim entdeckt einen anderen Mann, Tony, ebenfalls ein Flüchtling, im Lagerraum. Als die Gefahr für die beiden ›blinden Passagiere‹ zunimmt – der Bootsmann hat sich aktiv auf die Suche nach ihnen begeben – zeigt sich wieder das grenzüberschreitende Moment der Gebetspraktik, das Kerim seit der Zeit bei den Gotteskriegern pflegt: »›Was geschieht, wenn er uns findet?‹, fragte Kerim. / ›Sie werfen euch über Bord.‹ / ›Wo ist Osten?‹« (DS 220) In höchster Lebensgefahr entsinnt sich Kerim der Transformation, die er in der Übergangsphase erlebt hat. Wichtig erscheint hier, dass Kerim durch den Prozess der Wiederholung des ritualisierten Gebets wieder in den 175 Ebd., S. 80. Auf der Grundlage einer ähnlichen Argumentationsstruktur basiert auch die angestrebte Grenzüberschreitung der Dschihadisten: Sie müssen für das übergeordnete Ziel der Etablierung eines gottgefälligen Staates das Opfer des Kampfes und der Selbsttötung bringen, um dann ins Paradies zu gelangen. 176 SIMMEL, Georg: Brücke und Tür, S. 11.

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Raum eintritt, dessen Grenze er durch die Übergangsphase bei den Gotteskriegern bereits überschritten hat. Da Ritualen unter anderem die Funktion der Identitätsstiftung und -bildung inhärent ist, kann auch Kerims Gebet in diesem Kontext gelesen werden. Durch das religiöse Ritual erfährt er, ohne räumliche Nähe, die Gemeinschaft der Gläubigen und die Nähe Gottes. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird somit durch dieses Ritual bestätigt, die sich in einem metaphorischen Raum – dem Haus – offenbart. Das Haus, das Kerim während der Zeit bei den Gotteskriegern als Rückzugsort vor deren Gewalttaten diente, behält seine Funktion inne: Auch hier auf dem Schiff, in größter Not, führt der Protagonist das Ritual aus, das ihm seine aktuelle Situation erträglich werden lässt, wodurch es zu einer Flucht aus der Realität wird: »Die Vertrautheit dieser Verrichtung gab ihm die Ruhe zurück. Es kümmerte ihn nicht mehr, wo er war, die Dunkelheit und das fortwährende Schaukeln verloren ihren Schrecken.« (DS 222f.) Wiederum ist es eine Tür, die eine zentrale Rolle bei der Flucht in einen anderen Raum spielt. Der von Tony bestochene Mann aus der Schiffsmannschaft lässt die den Lagerraum von dem Schiffsinneren trennende Tür offen, damit Kerim und Tony im Schutz der Dunkelheit in einen tiefer gelegenen Raum fliehen können. Kerim, der den Schutz der Lagerräume als »Gefängnis« (DS 227) empfindet, kriecht kurz an Deck, um einen Augenblick der Freiheit zu genießen. Die Dichotomie Freiheit, die scheinbar unendliche Weite des Meeres | Gefängnis, der begrenzte, dunkle Lagerraum, wird an dieser Stelle besonders deutlich. Somit ist dieser Tür das von Simmel ausgemachte Charakteristikum der Grenze eingeschrieben, aus der Begrenzung in die Freiheit zu treten. Wenn Kerim das Gefühl der Freiheit als kurze Flucht aus seinem Versteck sucht, kommt dies dem Wunsch einer Entgrenzung gleich. Während die Tür Kerim hier einen Augenblick der Freiheit ermöglicht, ist die Tür des letzten Raums, in dem Kerim und Tony sich verstecken, der Grund dafür, dass sie gefunden werden, da der Bootsmann Kerim durch deren Fenster erblickt. Somit manifestieren sich in der Tür die beiden Seiten der Grenze, das Trennende und das Verbindende, die Begrenzung und der Schutz. Nach ihrer Entdeckung werden Tony und Kerim in einem Floß auf dem Meer ausgesetzt. Hier wird das Meer mit einer anderen Konnotation versehen: »[U]nter ihm öffnete sich das Nichts« (DS 245). Die Lebensgefahr, in der sich Kerim befindet, wird genau mit der gleichen Grenzenlosigkeit beschrieben, die zuvor als Freiheit galt. Somit ändert sich nicht die Grenze als solche, sondern es werden hier zwei gegensätzliche, einander ablösende Wahrnehmungsmuster desselben Gegenstandes, dem scheinbar grenzenlosen Meer, inszeniert. Auch auf dem Floß wird eine Grenze, aber im Gegensatz zu der Tür eine natürliche, beschrieben: der Horizont: »Die Morgenröte trennte mit einem hellen Schnitt den Himmel und das Meer.« (DS 248) Das Meer, das zuvor noch von Kerim als grenzenloses »Nichts« gedacht wurde, wird nun von dem Himmel getrennt, wodurch es eine Kontur erhält. Trotzdem ist Kerims und Tonys Perspektive von dem Floß aus die Totale, die Weite, weshalb der Horizont sich als »Limesfigur alles Sichtbaren«177 darstellt. Erst nach einer Weile sehen sie eine Insel, »ein[en] blasse[n], graue[n] Streifen, der sich nach und nach immer deutlicher vor den Saum zwischen Himmel 177 KOSCHORKE, Albrecht: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 50.

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und Wasser schob.« (DS 249) Die Perspektive verkürzt bzw. konzentriert sich nun alleinig auf das Stück Land, auf das sie sich zubewegen, wodurch sich ein perspektivisches Blickfeld, ein »Grenzkreis eines ausgewählten Bruchteils des Sichtbaren«178 ergibt. Koschorke postuliert zu der von ihm festgelegten Doppelbestimmung des Horizonts: »Dieses Verhältnis zwischen den Affinitäten zum Ganzen oder zum Fragment, zur Fülle der Welt oder zur Nichtigkeit des willkürlichen Standpunkts zu organisieren, ist die vielleicht wichtigste Bedeutungsfunktion des Horizonts.«179 Durch die Konzentration auf die lebensrettende Insel, entgeht ihnen, dass auch das Festland in unmittelbarer Nähe ist: »Weil der Horizont allmählich aufklarte, konnten sie am dritten Tag in der Ferne den schmalen Streifen des Festlandes sehen, dem diese Insel offenbar vorgelagert war. Kerim wurde schmerzlich bewusst, dass es ein Fehler gewesen war, die Insel anzusteuern.« (DS 252) Das, was Koschorke den »Schweigerand der unbegrenzten Vielzahl möglicher Bilder«180 nennt, der die Perspektivierung unterstreicht, wird durch die Entdeckung des Festlandes deutlich. Die Tony von Kerim vorgeworfene Möglichkeit, dass auch das Festland hätte erreicht werden können, gemeinsam mit der Anschuldigung Tonys, Kerim habe ihn auf dem Schiff verraten, führt zum Bruch zwischen den beiden Flüchtlingen (vgl. DS 253). Diese Entzweiung auf figuraler Ebene findet ihre Entsprechung auf der räumlichen: »[S]ie entwickelten eine geheime Grenzziehung, um sich aus dem Weg zu gehen« (ebd.). Die Insel, ein Ort, der sich ohnehin durch seine äußerlich wahrnehmbare Umgrenzung auszeichnet, wird nun auch im Inneren aufgeteilt. Die Grenze zu dem anderen wird auf psychischer Ebene von Kerims Hass gegen Tony verstärkt und aufrechterhalten, der so weit geht, dass Kerim, als er kurzfristig glaubt, Tony tot daliegen zu sehen, nichts dabei empfindet. Die Grenze zwischen ihnen, auch wenn sie nicht sichtbar ist, ist genauso unüberschreitbar wie die des Meeres, die ausweglose Situation hat die beiden Figuren nicht zusammenwachsen lassen, sondern einen strikten Bruch provoziert. Dieser wird erst in dem Moment aufgehoben, als sich die äußeren Umstände ändern: Sobald sie das Fischerboot sehen und damit eine Rettung aus ihrer Lage möglich zu sein scheint, wird die Grenze fallen gelassen. Es geht sogar so weit, dass Kerim sich zunächst weigert, ohne Tony auf das Fischerboot zu steigen. Kerims Rettung und damit das Ende der Zeit auf der Insel werden von zwei Aspekten flankiert. Da das Fischerboot so klein ist, kann nur einer der beiden mit zum Festland genommen werden. Die Entscheidung der Fischer liegt sofort und unumstößlich bei Kerim. Den Grund dafür benennt Tony: »Tony streckte den Arm vor. ›Wir sind verschieden. Begreifst du nicht: Schau auf meine Haut.‹« (DS 260) Die von den Fischern getroffene Wahl für Kerim und gegen Tony sieht Letzterer somit in einem rassistischen Gedankengut begründet. Aufgrund seiner Hautfarbe und Herkunft wird Kerim bevorzugt. Ein solches Unterscheidungsmerkmal wird in diesem Kontext zum ersten Mal aufgegriffen und hatte beispielsweise bei ihrer Entdeckung auf dem Transportschiff offenbar keine Bedeutung. Hier ist auch der zweite Aspekt relevant: Zum Abschied erteilt Tony dem Protagonisten eine Art Absolution: »›Ich bitte dich, jetzt zu gehen. Hör zu, was auch geschieht, das ist wichtig: Du hast mich nicht verra178 Ebd. 179 Ebd. 180 Ebd.

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ten, ich weiß es. Das alles ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür.‹« (Ebd.) Kerim wird hier also von jeglicher persönlichen Schuld freigesprochen. Mit diesem Versöhnungsgedanken endet das dritte Kapitel und damit auch die Beschreibung der Flucht nach Deutschland. 3.2.5.1 (K)eine Grenzüberschreitung: Kerims Leben in Deutschland Wie genau es Kerim gelungen ist, die geographische Grenze nach Deutschland zu überschreiten, ist eine Leerstelle des Romans – der dritte Teil endet mit den Worten Tonys und der folgende Teil beginnt mit der Ankunft bei seinem Onkel Tarik. Das Strukturmerkmal der Flucht endet jedoch nicht mit dem Eintreffen in Deutschland, sondern wird auch hier fortgeführt, obwohl es zunächst nicht den Anschein macht: »Kerim fühlte deutlich, wie die Anspannung seiner langen Reise für den Moment von ihm abfiel; er empfand die Ankunft bei seinem Verwandten in Berlin als Heimkehr, auch wenn ihm die Umgebung fremd war.« (DS 263) Dem Protagonisten wird alsbald ein Asylheim181 in Berlin zugewiesen (vgl. DS 267), in dem eine bemerkenswerte Gruppenbildung zustande kommt. Die Asylbewerber werden, so erklärt es ein albanischer Bewohner Kerim, insgesamt von ›den‹ Deutschen als »der letzte Dreck« (DS 269) angesehen, was vor allem auf finanziellen Gründen basiert: »Niemand von den Deutschen konnte begreifen, warum Leute in ihr Land kamen, die nicht arbeiten durften und somit durch Steuergelder finanziert wurden, nur weil das irgendwann einmal in die Verfassung geschrieben worden war.« (Ebd.) Diese Aussage steht in krassem Kontrast zu der Schlaraffenland-Vorstellung von einem Leben in Europa, die im Vorfeld initiiert wurde. Obwohl die formulierte Abneigung der Deutschen, die sich scheinbar an ihrem Verhalten ablesen lässt, alle Asylanten betreffen, werden innerhalb dieser sozialen Gruppe weitere, interne Grenzziehungen vorgenommen: »Ervin versuchte offensichtlich, durch seine Beziehungen zu Kerim und einigen anderen einen Gegenpol zu den Schwarzafrikanern zu schaffen, die schon bald eine Gruppe gebildet hatten und von denen er meinte, sie seien der eigentliche Grund für ihre Misere, da sie den Hass der deutschen Normalbürger förmlich auf sich zögen.« (DS 269)

Da bis auf ihr Äußeres keine weiteren und vor allem auffälligen Beschreibungen des Verhaltens der ›Schwarzafrikaner‹ vorgenommen werden, klingt auch hier, ebenso wie bei der Wahl der Fischer, Kerim statt Toni zu retten, eine rassistische Einstellung an.182 Indem Ervin nun versucht, sich von der Gruppe der Schwarzafrikaner abzuset181 Das Asylbewerberheim kann ebenfalls mit Foucaults Begriff der Heterotopie beschrieben werden, da es einen Raum bildet, der zwar innerhalb einer Gesellschaft existent, jedoch zugleich von ihr separiert ist und die Bewohner durch ihre nationale Zugehörigkeit und ihren Status als Asylbewerber eine ›Abweichung‹ der übrigen Gesellschaft darstellen. 182 Durch diese Bezeichnung wird zudem ein bestimmter (historischer) Raum eröffnet: der Kolonialismus. Susan Arendt verdeutlicht, dass während des Kolonialismus Neologismen entstanden, die auf der Grundlage der Einteilung in menschliche Rassen Afrika in einen ›weißen‹ und einen ›schwarzen‹ Teil gliedern (vgl. ARNDT, Susan: Kolonialismus, Rassismus und Sprache. Kritische Betrachtungen der deutschen Afrikaterminologie. Bundes-

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zen, sie regelrecht zu exkludieren, wird einerseits eine Homogenität dieser Gruppe suggeriert, die auch bei den europäischen Kolonialisatoren, gekennzeichnet durch die Bezeichnung Afrikas als ›das Andere‹ oder durch die Vorstellung von einem afrikanischen oder orientalischen ›Charakter‹183, vorherrschte. Andererseits erhofft sich Ervin wohl durch die vermeintliche Angleichung seines Wortgebrauchs und durch die Distanzierung dieser Gruppe für sich selbst Vorteile. Dies stellt seinen impliziten Versuch dar, eine Annäherung an die deutsche Gesellschaft zu erreichen, indem er sich von den ›Anderen‹, die seiner Meinung nach der Grund für die Abneigung der Deutschen sind, abgrenzt und somit das von ihm beobachtete Verhalten der Deutschen annimmt: Durch die exkludierende Grenzziehung versucht er sich selbst in das Figurenkollektiv der Deutschen zu inkludieren. Die Terminologie in Zusammenhang mit den Absichten Ervins lassen wiederum Rückschlüsse auf das Bild, das von den Deutschen gezeichnet wird, zu. Kerim indes hat kein Interesse an der Schaffung eines ›Gegenpols‹ zu den Afrikanern, er schließt auch keine anderweitigen Freundschaften, sondern bleibt im Asylbewerberheim für sich (vgl. DS 352). Diese Absonderung von den anderen überträgt Kerim auch auf andere Bereiche, so besucht er in Deutschland beispielsweise zunächst keine Moschee: »Obwohl ihn Ferid bei verschiedenen Gelegenheiten zum Besuch des Freitagsgebets ermunterte, hielt sich Kerim von den Moscheen fern. Er konnte es sich nicht eingestehen, doch seit sein Asylverfahren lief, war er vorsichtig, wenn nicht gar feige geworden. […] So wollte er sich keiner bestimmten Gruppe von Leuten anschließen, egal wer sie waren. […] Ganz allein wollte er stehen, niemand sollte anhand fremder Menschen auf ihn schließen.« (DS 301)

Das Fernbleiben von den Moscheen ist eng verknüpft mit Kerims Bestreben, sich von seiner Vergangenheit zu lösen, eine strikte Grenze zwischen Vergangenheit und Gezentrale für politische Bildung 2004. http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/ afrikanische-diaspora/59407/afrikaterminologie?p=0 [letzter Zugriff: 07.06.2017].). Diese Konstruktion basiert auf dem Gedankengut einer inferioren ›Andersartigkeit‹ der Kolonialisierten, wie Jürgen Osterhammel zeigt: »Im Zentrum kolonialistischen Denkens steht die Vorstellung, die Bewohner außereuropäischer Regionen seien grundsätzlich anders beschaffen als Europäer; ihre andersartige Ausstattung mit geistigen und körperlichen Gaben befähige sie nicht zu solch maßstäblichen Kulturleistungen und Heldentaten, wie einzig das neuzeitliche Europa sie aufzuweisen habe.« (OSTERHAMMEL, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen. 6., durchgesehene Auflage. München: Beck 2009, S. 113.) Als Beweis für diese ›andersartige‹ Beschaffenheit, so Osterhammel weiter, sei auf verschiedene Bereiche wie die Religion, die Entwicklung der Technologie oder auch die Biologie verwiesen worden, wobei der biologische Rassismus die »späteste und schroffste Fassung des Differenzaxioms« (ebd.) darstelle. Die Sprache spielt bei dieser Konstruktion eine wichtige Rolle, so werden durch bestimmte Bezeichnungen immer zugleich spezifische Konnotationen aufgerufen: »›Schwarzafrika‹ folgt der kolonialen Unterteilung Afrikas in einen ›weißen‹ Norden, dem der Westen ein gewisses Maß an Kultur und Geschichte zubilligt, und einem subsaharischem Afrika bar jeder Geschichte und Kultur.« (ARNDT, Susan: Kolonialismus, Rassismus und Sprache.) 183 OSTERHAMMEL, Jürgen: Kolonialismus, S. 114.

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genwart zu ziehen. Bereits zu Beginn seiner Zeit in Deutschland wird jedoch deutlich, dass dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen kann: »Mit seiner Ankunft in diesem Land hatte er sich von allem außer seinem Glauben gelöst. Er hatte der Gewalt abgeschworen und versuchte seine Erinnerungen daran strikt zu trennen von dem, was er über den Glauben erfahren hatte. Insgeheim wusste er, dass ihm dies niemals gelingen würde, zu sehr war beides miteinander verquickt.« (DS 301)

Die hier angesprochene Vermischung wurde oben bereits mittels des Transfers von dem säkularen Raum der Familie in den Raum der Gotteskrieger, der durch zwei Aspekte determiniert ist – den Glauben und die Gewalt – beschrieben. Obwohl Kerim durch den Initiationsritus in die Sphäre der Gotteskrieger eingetreten ist und ihre Praktiken übernahm, konnte er sich mit der Gewalt nicht identifizieren, wovon er sich auch jetzt, in seinen Erinnerungen, abzugrenzen versucht. Die zahlreichen Erinnerungen, die Kerim in Deutschland in den Sinn kommen, unterstreichen jedoch die Unmöglichkeit, sich von seiner Vergangenheit, besonders der gewalttätigen, zu distanzieren. Signifikanter Weise sind sie so montiert, dass sie im Handlungsverlauf genau dann in Erscheinung treten, nachdem Kerim Asyl in Deutschland gewährt wird und er sich vornimmt, von Neuem zu beginnen: »Ich werde ganz neu anfangen, sagte er sich viele Male, alles werde ich anders machen, und nichts soll mich verbinden mit der Vergangenheit außer den Menschen, die ich wirklich liebe.« (DS 350) Trotz dieses Vorsatzes gelingt es ihm nicht, die Erlebnisse zu verarbeiten, wodurch veranschaulicht wird, dass das Vergangene immer noch großen Einfluss auf die Gegenwart des Protagonisten hat. Erinnerungen stellen sich so als gedankliche Grenzen par excellence dar, da sie das Vergangene mit der Gegenwart verbinden, die beiden Bereiche aber zugleich auch voneinander trennen: Das, woran man sich erinnern kann, ist immer vergangen, es kann nicht in diesem Moment erlebt, aber neu durchlebt werden. Die Erinnerungen ›überfallen‹ Kerim regelrecht, was ihren traumatischen Charakter hervorhebt. So ist der Prozess des Erinnerns nicht ein willentlicher, sondern ein unwillkürlicher, der aufzeigt, dass die traumatischen Erfahrungen nicht verarbeitet werden können. Seit Freud und Janet wird die Unfähigkeit der Verarbeitung daran geknüpft, dass die traumatischen Erfahrungen »nicht vergehen wollen und somit nicht zur Vergangenheit werden. In einer gängigen Interpretation heißt das, dass sie nicht als auf die Vergangenheit verweisende Geschichte erzählbar, sondern nur wiedererlebbar sind.«184 So ist eins der zentralen Merkmale einer traumatischen Erfahrung neben Verdrängung und Dissoziation die Unfähigkeit, diese hinreichend zu verarbeiten. Die zwanghafte und unfreiwillige Reproduktion von Erinnerungsfragmenten ist die Folge,185 was auch in dem Roman inszeniert wird. Es wird gezeigt, dass die Vergangenheit nicht abschließbar und damit grenzüberschreitend für die einzelnen Lebensstationen Kerims ist. Trotz der geographischen Entfernung zum Irak ist seine Vergangenheit stets präsent.

184 HABERMAS, Tilmann: Psychoanalyse als Erinnerungsforschung, S. 70. 185 Vgl. ERLL, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 84.

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Während er bewusst versucht, sich von der vergangenen Gewalt zu distanzieren, verliert Kerim jedoch auch sukzessiv und unwillentlich den Bezug zu seinem Glauben, nicht nur aufgrund der zunächst fehlenden Moscheebesuche. Auf Amirs Frage hin, warum er nicht beten würde, reagiert Kerim zunächst empört mit der Aussage, dass er jeden Tag bete, allerdings wird ihm schnell bewusst, dass dies nicht stimmt, was er mit dem Gedanken »die neue Freiheit habe ihn etwas aus der Bahn geworfen« (DS 335) begründet. Hier kommt der entgegengesetzte Prozess des Rituals, die Deritualisierung, zum Ausdruck, die Braungart ganz allgemein wie folgt definiert: »Umgekehrt soll Deritualisierung die Preisgabe von Ritualen bedeuten, ihr allmählicher Bedeutungsschwund oder ihre bewußte Preisgabe, z.B. in historischen und sozialen Umbruchssituationen.«186 Eine individuelle Umbruchssituation kann auch für Kerim durch seine veränderten Lebensumstände in Deutschland vermerkt werden. Die Deritualisierung seiner Religiosität einhergehend mit der Aufgabe der Gebetspraktiken ist jedoch nur temporär. Als er ein Plakat einer muslimischen Gebetsgruppe entdeckt, geht er zu dem Treffpunkt und betet. Während er dies seinem sich ohnehin um ihn sorgenden Onkel Tarik verheimlicht, berichtet er Amir von dem Treffen und seinem dabei schlagartig empfundenen Gefühl »unter Freunden zu sein« (DS 373). Kerim referiert zusätzlich noch ein von dem Lehrer stammendes Gleichnis von Scherben, die nur Teilstücke seien und zu denen ›der Westen‹ die Gläubigen machen wolle, das Glas hingegen sei die Einheit, die sie im Gebet empfinden könnten (vgl. DS 376). Zudem erzählt er Amir von einer bestimmten Moschee »nicht die PKK-Moschee […], auch keine für normale Gläubige, die Angepassten.« (DS 376) Spätestens mit dem Verweis auf die ›Normalgläubigen‹ wird deutlich, dass Kerim sich erneut dem Islamismus annähert. Er zieht, ebenso wie der Algerier, der ihm diese Moschee empfiehlt, explizit eine Grenze zwischen sich und anderen Gläubigen, zögert jedoch im Gegensatz zu Amir noch, diese Moschee zu besuchen. So wird die Religion für Kerim wieder bedeutsam: Zum einen scheint sie ein Ausweg aus dem »Sinn-Vakuum«187, in dem sich Kerim seit der Ankunft in Deutschland befindet, zu sein und zum anderen wird durch sie wieder eine Einteilung der Welt in klare Kategorien wie ›Bruder‹ und ›Feind‹ möglich.188 Das Zusammenspiel von seiner Vergangenheit als Islamist und dem Gefühl der Fremde und Heimatlosigkeit in Deutschland bringen Kerim wieder zum Fundamentalismus zurück, eine Entwicklung, die auch für außertextuelle Mitglieder einer Diasporagruppe festgestellt wurde. Peter Waldmann hält in diesem Kontext fest, dass ein möglicher Grund für eine Radikalisierung darin liege, dass sie das »Erbe eines bereits im Heimatland entstandenen und von dort eingeschleppten Gewaltkonflikts«189 sein kann. Die Radikalisierung ist dann eine »mögliche, die extreme Antwort auf das psychische Dilemma, das das Leben in der Diasporasituation aufwirft, eine Antwort also auf das Problem einer gespaltenen Identität und das der fehlenden Anerkennung durch die Gastgesellschaft.«190 Dass auf Roman186 187 188 189

BRAUNGART, Wolfgang: Ritual und Literatur, S. 45. PETERS, Sabine: Täter und Opfer. Vgl. ebd. WALDMANN, Peter: Radikalisierung in der Diaspora. Wie Islamisten im Westen zu Terroristen werden. Hamburg: Murmann 2009, S. 38. 190 Ebd.

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ebene die Lehren, durch die Kerim in der Zeit bei den Gotteskriegern vor allem von dem religiösen Anführer indoktriniert wurde, nun im entfernten Deutschland, im Exil, aufgehen, sei eine bittere Pointe des Romans, so Wolfgang Schneider.191 Hierin sieht auch Fatah selbst den Kernpunkt seiner Erzählung: Auf der einen Seite gehe die Saat der Botschaft erst in der Fremde auf, in einer Welt, deren Abweisungskraft Kerim in seiner Illusion unterschätzt habe und auf der anderen Seite sei er auch hier nicht selbst zum Fanatiker geworden, sondern habe den Funken weitergegeben.192 Für Kerim folgt eine Phase des Haderns und Nachdenkens über den Glauben, wobei das Merkmal der Religiosität, auch wenn es kurzfristig seinen Status als grenzüberschreitendes Strukturmerkmal verloren hat, nun wieder eine derartige Bedeutung gewinnt. Kerim wandelt abermals aufgrund der (Wieder-)Entdeckung seines Glaubens sein Leben und zieht sich vollkommen zurück. »Was Kerim von seinem Grübeln blieb, war die tiefe Sehnsucht nach einer Reinheit des Glaubens, die eine Reinheit des Lebens wäre. […] Er suchte in dem, was er gesehen und getan hatte, eine Bedeutung. Es lenkte ihn auch ab vom quälenden Gedanken an Sonja, doch wichtiger war, dass es ihn zurückbrachte zu seiner Bemühung um sich selbst, um sein Seelenheil und seinen Frieden.« (DS 380f.)

Die Einflüsse und die »religiöse Gehirnwäsche«, denen er bei den Gotteskriegern ausgesetzt war, finden nun in Deutschland ihre Entfaltung, daher führt die »durchlaufene Initiation bei Kerim zu einer letztlich unlösbaren Bindung an die Gotteskrieger.«193 Verdinglicht wird der erneute Wandel durch einen Karton, in den Kerim seine Habseligkeiten packt, damit also bildlich mit seinem bisherigen Leben in Deutschland abschließt, und ihn Sonja, der Frau, mit der er eine Liebesbeziehung hat, schickt.194 Er besucht die ihm empfohlene Moschee (vornehmlich um Amir zu finden, dem er davon berichtet hatte) und begegnet genau hier dem Gotteskrieger Rashid. Somit schließt sich wiederum der Kreis, auch in Deutschland kann Kerim nicht den Glauben allein pflegen, sondern gerät nochmals in die Nähe der Gewalt, die ihn schließlich einholt. Während er bereits zu Beginn seiner Zeit in Deutschland erkannt hat, dass eine Trennung zwischen dem Glauben und der Gewalt für ihn kaum durchführbar ist, üben die erinnerten Predigten des Lehrers eine große Faszination aus. Die Gewalt indes, die mit diesen Worten verbunden ist, führt auch in Deutschland nicht Kerim aus, sondern andere, nun Amir, dem Kerim selbst, ohne es zu intendieren, den Weg zu den Islamisten gezeigt hat: Er tötet den flüchtigen ›Verräter‹ Kerim im Auftrag Rashids.

191 Vgl. SCHNEIDER, Wolfgang: Die Leiden des Migrationsmelancholikers. 192 Vgl. TISCHER, Wolfgang: Interview mit Sherko Fatah vom 17.10.2008 http://media1. roadkast.com/literaturcafe/messe2008_fatah.mp3 08:03 [letzter Zugriff: 07.05.2016]. 193 GANSEL, Carsten: »Der Tod ist ein Geschenk«, S. 258. 194 Besondere Symbolkraft haben die Schlittschuhe in dem Karton, die der Erzähler assoziiert mit »zwei blanke[n], sich kreuzende[n] Klingen« (DS 384), die das Symbol der Muslimbruderschaft – zwei gekreuzte Säbel unter dem Koran – spiegeln (vgl. KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 188.).

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So endet und beginnt der Roman Das dunkle Schiff mit dem Tod: im Prolog sind es die alten Frauen, die Kräuter sammeln und durch Soldaten getötet werden, am Ende steht Kerims Tod durch einen vermeintlichen Freund, der sich zum Islamisten entwickelt hat. Damit ist dem Roman eine zyklische Konstruktion inhärent, welche die übergeordneten Motive – den Krieg und die Gewalt – deutlich hervortreten lässt. Diese beherrschen die ganze Erzählung: explizit, wenn beispielsweise von den terroristischen Aktionen der Gotteskrieger gesprochen wird, implizit, als ständige Bedrohung, die die Atmosphäre sowohl im Irak als auch in Deutschland determiniert. Die beiden äußerst unterschiedlichen Handlungsräume des Romans werden so miteinander verbunden, wodurch der Krieg zum grenzüberschreitenden Strukturmerkmal wird. Besonders die Kreisförmigkeit der Erzählung weist auf eine sich stets wiederholende und wiederholbare Handlung hin, von der man weder den Anfang noch das Ende bestimmen kann. Damit wird eins der zentralen Merkmale der neuen Kriege literarisch inszeniert. Zugleich beinhaltet diese Form auch eine gewisse negative Konnotation, da ein Ende der Gewalt negiert und damit ein Ziel, eine Lösung ausgeschlossen werden. Dies wird auch dadurch impliziert, dass in Das dunkle Schiff zwei verschiedene Wege gezeigt werden, Islamist zu werden: Kerim, der durch die Entführung der Gotteskrieger zunächst eine eher passive, mitläuferähnliche Rolle einnimmt und Amir, der sich, inspiriert durch Kerims Erzählungen und auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, den Islamisten bewusst und aktiv nähert. Durch diese gegenläufigen Ansätze werden ein einheitlicher Weg oder auch nur gleichartige Beweggründe, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen, zurückgewiesen. Eindimensionalen Erklärungsmodellen von Terrorismus und Krieg sowie abwehrenden, uninteressierten Haltungen wird hier eine Absage erteilt: Vielmehr wird, nicht zuletzt aufgrund der zirkulären Struktur, suggeriert, dass Terror und Gewalt überall existieren, selbst in einem vermeintlich friedlichen Raum wie Deutschland.

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E XKURS 2: D ER K RIEG IM I NNEREN . D OROTHEA D IECKMANNS G UANTÁNAMO Es gibt wohl keinen Ort auf der Welt, der den ›Krieg gegen den Terror‹ so symbolisiert wie das US-Militärgefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba. Bereits wenige Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D.C. wurden die ersten Gefangenen von Afghanistan aus in das Lager gebracht. »Der außergewöhnliche Angriff eines unkonventionellen Feindes auf ein Land, das vorher noch nie auf eigenem Boden angegriffen worden war«, so Mladek, »verlangte nach dem 11. September 2001 außergewöhnliche Maßnahmen, außerrechtliche Räume, außergewöhnliche Gewalt, ein außergewöhnliches Medienspektakel und vor allem außergewöhnliche Rechte für die Exekutive, um diesen außergewöhnlichen Krieg zu führen.«195 Einen dieser außerrechtlichen Räume, vermeintlich außerhalb der amerikanischen Gerichtsbarkeit,196 stellt Guantánamo dar, das die unsichtbare Seite der zweifachen Struktur von »Geheimhaltung bei gleichzeitiger beispielloser Zurschaustellung der Macht«197 umfasst. Trotz der zahlreichen Kritiken und der Aufforderung, das Lager zu schließen, sowohl zum Teil von nationaler als auch von internationaler Seite, die ihren vorläufigen Höhepunkt nach der Veröffentlichung von Fotografien aus dem Lager Abu Ghuraib fand,198 die amerikanische Soldaten und Soldatinnen mit Gefangenen in entwürdigender und entmenschlichender Weise zeigen und die, wie Butler dezidiert deutlich macht, vom amerikanischen Verteidigungsministerium freigegeben wurden, um zu belegen, dass »eine gewisse Eroberung stattgefunden hatte, eine Umkehrung

195 MLADEK, Klaus: Folter und Scham. Anmerkungen zu Guantánamo und Abu Ghraib, in: Weitin, Thomas (Hrsg.): Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA. Bielefeld: transcript 2010, S. 243-266, hier S. 245. 196 Dass dieses Verfahren nicht zulässig ist, hat der Oberste Gerichtshof der USA bereits 2004 geurteilt. Vgl. NOWAK, Manfred: Die Aushöhlung des Folterverbots im Kampf gegen den Terrorismus, in: Zeitschrift für Menschenrechte 1 (2007), S. 55-70, hier S. 59f. 197 Ebd. 198 Beispielsweise äußerte sich Susan Sontag im New York Times Magazine nach der Veröffentlichung einiger Folterfotos: »Remember: we are not talking about that rarest of cases, the »ticking time bomb« situation, which is sometimes used as a limiting case that justifies torture of prisoners who have knowledge of an imminent attack. This is general or nonspecific information-gathering, authorized by American military and civilian administrators to learn more of a shadowy empire of evildoers about whom Americans know virtually nothing, in countries about which they are singularly ignorant: in principle, any information at all might be useful. An interrogation that produced no information (whatever information might consist of) would count as a failure. All the more justification for preparing prisoners to talk. Softening them up, stressing them out -- these are the euphemisms for the bestial practices in American prisons where suspected terrorists are being held.« (SONTAG, Susan: Regarding the Torture of Others, in: New York Times Magazine vom 23.05.2004. http://www.nytimes.com/2004/05/23/magazine/regarding-the-tortureof-others.html?_r=0 [letzter Zugriff: 07.06.2017].)

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der nationalen Demütigung, ein Zeichen der erfolgreichen Rehabilitierung«199, sind noch immer Häftlinge in Guantánamo Bay interniert. Neben der Diskussion über Humanität und Folter ist auch die juristische Grundlage dieses Ortes uneindeutig, denn die USA haben den Genfer Konventionen aus dem Jahr 1949, die Gefangene in Artikel 3 unter besonderen Schutz stellen, zugestimmt und übernahmen diesen sowohl in dem »Uniform Code of Military Justice« als auch in dem 1996 durch den Kongress verabschiedeten »War Crimes Act«, der ebenfalls ein Folterverbot ausspricht. »Kurz: Wie die Mehrzahl der UNO-Mitglieder sahen auch die USA in der Ächtung der Folter und in den Genfer Konventionen unhintergehbare Prinzipien, die anzutasten die Rechtsordnung, mithin auch das zivile Zusammenleben von Gesellschaften und Nationen im Kern beschädigen würde.«200 Eine juristische Legitimierung, die die Genfer Konventionen außer Kraft setzen muss, war daher schwierig und notwendig und geht interessanterweise genau auf einzelne Charakteristika der neuen Kriege zurück, die in den Konventionen von 1949 natürlich nicht berücksichtig wurden. So heißt es dann beispielsweise in den »Application of Treaties and Laws to al Qaeda and Taliban Detainees« vom 9. Januar 2002, dass die Gefangenen nicht unter dem Schutz der Genfer Konventionen stünden, da sie als nicht-staatliche Akteure keine völkerrechtlichen Subjekte seien.201 Während hier die von Münkler ausgemachte Entmilitarisierung fokussiert wird, bezieht sich ein anderer Argumentationspunkt auf die Asymmetrie des Krieges: Die Genfer Konventionen hätten auch deshalb keine Gültigkeit in Bezug auf die Gefangenen Taliban oder Al-Qaida, da diese sich lediglich auf klassische Staatenkriege und Bürgerkriege bezögen, nicht auf Terroristen.202 So wird der Raum Guantánamo zu einer Grauzone, einem ›Niemandsland‹, dem eine Zirkelstruktur inhärent ist, wie der Guantánamo-Kritiker Roger Willemsen deutlich macht: »Im Lager soll ermittelt werden, dass es sich bei den Insassen um gesetzlose Straftäter handelt, die deshalb die Inhaftierung im Lager verdienen.«203 Agamben zufolge sei der rechtliche Status damit »radikal ausgelöscht« und bringe so »Wesen« hervor, die »juristisch weder eingeordnet noch benannt werden können«, wodurch »mit dem detainee von Guantanamo das nackte Leben seine höchste Unbestimmtheit« erreicht habe.204 In diesem Prozess der Rücknahme bzw. Aussetzung geltenden Rechts für eine bestimmte Gruppe von Menschen sieht Butler in Anlehnung und Weiterentwicklung von Michel Foucaults vor allem analytisch unterschiedenen Machtformen von Souveränität und Gouvernementalität »eine gespenstische Souveränität im Feld der Gouvernementalität wiederbelebt.«205 Für Foucault liegt der zirkuläre Zweck souveräner Macht unter anderem in dem Gehor199 BUTLER, Judith: Unbegrenzte Haft, in: Dies.: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 69-120, hier S. 97. 200 GREINER, Bernd: 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen. München: Beck 2011, S. 177. 201 Vgl. ebd., S. 179. 202 Vgl. ebd. 203 WILLEMSEN, Roger: Hier spricht Guantánamo. Interviews mit Ex-Häftlingen. Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 11. 204 AGAMBEN, Giorgio: Ausnahmezustand. Homo sacer II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 10, Herv. i.O. 205 BUTLER, Judith: Unbegrenzte Haft, S. 81.

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sam der Bevölkerung gegenüber den Gesetzen, was durch die Gesetze im Sinne von Instrumenten selbst verwirklicht wird: »Gesetz und Souveränität bildeten somit einen absolut einheitlichen Körper.«206 Die Gouvernementalität hingegen benutze in der Hauptsache nicht Gesetze, sondern »verschiedenartige Taktiken«, um »dafür zu sorgen, dass mit einer bestimmten Anzahl von Mitteln dieser oder jener Zweck erreicht werden kann.«207 Butler führt nun aus, dass »unter der Bedingung eines Ausnahmezustands«, den sie in der Aussetzung geltenden Rechts im Hinblick auf die Häftlinge in Guantánamo ausmacht, da aufgrund eines vermeintlich willkürlichen Mechanismus, d.h. ohne Rechtfertigung oder Überprüfung durch amerikanische Gerichte, bestimmt wird, ob die Inhaftierten einen juristischen Prozess erhalten oder ob sie unbegrenzt in Haft verbleiben, »die Figur des anachronistischen ›Souveräns‹ in den neu erstarkten Subjekten der Verwaltungsmacht«208 wiederbelebt würde, personifiziert beispielsweise in denjenigen, die diese Entscheidungsmacht innehaben. Auch wenn diese keine »echten Souveräne« seien, da selbstverständlich auch sie als disponierte Subjekte angesehen werden müssten, an die Macht lediglich delegiert wird, stellen ihre Befugnisse eine »ungeheuer folgenreiche Delegation und Machtergreifung dar.«209 So würde die Souveränität innerhalb der Gouvernementalität, die sogar als Voraussetzung für diese postuliert wird,210 eine Form der Macht darstellen, »die grundsätzlich gesetzlos ist und deren Gesetzlosigkeit feststellbar ist an der Art, wie das Recht selbst hergestellt wird oder von einem ernannten Subjekt nach Belieben außer Kraft gesetzt wird.«211 Indem bestimmte Gruppen von Menschen kontrolliert würden, übernehme das Gefängnis auf der einen Seite die »Funktion einer Wirkungsweise« der Gouvernementalität, auf der anderen Seite mache es sich die »außergesetzliche Dimension« derselben zunutze, um »souveräne Macht über Leben und Tod durchzusetzen.«212 Besonders interessant ist ein weiterer Aspekt, den Butler in diesem Zusammenhang anbringt: Die Zeit spielt hier eine bedeutende Rolle, die aufgrund der Unbestimmtheit des Terrorismus sowohl hinsichtlich seiner zeitlichen und geographischen Verortung213 als auch seiner definitorischen Unschärfe, die mit Bewertungsmechanismen einhergeht und eben einen relationalen Charakter impliziert,214 auch eine Unbestimmtheit des Ausnahmezustands beinhaltet: »Der Krieg hat den nationalen Notstand anscheinend mehr oder weniger zum Dauerzustand ge206 FOUCAULT, Michel: Die Gouvernementalität, in: Ders.: Analytik der Macht, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 52013, S. 148-174, hier S. 161. 207 Ebd. 208 BUTLER, Judith: Unbegrenzte Haft, S. 81. 209 Ebd. 210 Butler führt dazu aus: »Die Gouvernementalität ist die Voraussetzung für diese neue Ausübung der Souveränität, insofern sie das Recht zunächst als eine ›Taktik‹ etabliert, als etwas von instrumentellem Wert, das nicht kraft seines Status als Recht ›bindend‹ ist.« (Ebd.) 211 Ebd., S. 114. 212 Ebd. 213 Vgl. ebd., S. 84. 214 Vgl. ebd., S. 107.

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macht« resümiert Butler, so dass »das Nachkriegsgefängnis zum fortgesetzten Schlachtfeld wird.«215 An genau diesem Schauplatz verläuft der Großteil des Romans Guantánamo216 von Dorothea Dieckmann, der den Häftling Rashid Bakhrani in den Mittelpunkt rückt. Der Erzählung vorangestellt ist eine paratextuelle Vorbemerkung, die gleich zu Beginn festhält: »Guantánamo ist eine Erfindung. Es ist eine der vielen unbetretbaren Regionen dieser Welt.« (G 9) Diesen zunächst doppeldeutigen Sätzen – die Erfindung Guantánamos könnte sich sowohl auf den Romantitel als auch auf den realexistenten Raum beziehen – wird eine Erläuterung hinzugefügt, die Dieckmann in ihrer Autoreninstanz deutlich sichtbar werden lässt: Sie beschreibt ihre Recherchearbeit und betont, dass sie sich »bis ins Detail auf Fakten stützen« (ebd.) könne und eröffnet damit einen authentizitätssuggerierenden Raum, der jedoch nicht in den Bereich der Innenansicht des Protagonisten reiche. Grund dafür ist nicht die zwar auf vermeintlichen Fakten basierende aber nicht dem eigenen Erfahrungsraum zugehörige Erzählung, sondern der Grund liegt darin, dass »das einzige zugängliche Innere […] das eigene [ist]« (ebd.). Eine Einfühlung in jegliches Andere sei damit per se nicht möglich – und dies grundlegend, so könnte man ergänzen, unabhängig von der Geschichte, die erzählt wird. Diese Einschränkung des Fakts wird indes mit dem Schlusssatz der Vorbemerkung wieder abgeschwächt: »Diese Freiheit nimmt sich meine Phantasie, und es ist ihr eine Hilfe, dabei an die Wirklichkeit gebunden zu sein.« (Ebd.) Durch das Vorwort wird also für die folgende Erzählung ein Raum abgesteckt, der den Leser Wirklichkeit suggerierend einstimmt und damit zugleich die Grenze zwischen Fakt und Fiktion aufhebt, obwohl offenkundig ist, dass das Folgende nicht auf Augenzeugenschaft beruht. Genau hier setzt dann auch in einem, so scheint es, reflexartigen Gestus in Deutschland die Kritik an dem Roman an: Eberhard Falcke stellt beispielsweise die rhetorische Frage, ob es sich nicht um »Anmaßung [handele], wenn jemand, so fürsorglich aktuell, die Geschichte anderer Menschen erfindet, bevor sie selbst eine Chance haben, sich zu äußern«217, um sie im Anschluss mit den beiden Autoren E. E. Cummings und Horst Bienek zu beantworten, die auf der Grundlage eigener Gefangenschaft literarische Texte verfassten. Im Gegensatz zu solchen auf eigener Erfahrung beruhenden Darstellungen stehe Guantánamo, so das abschließende, moralisierende Urteil des Rezensenten, »für eine Literatur, die sich bedenkenlos einbildet, mit cleverer Formulierungsgabe plus Internet-Informationen schlichtweg alles hinzukriegen.«218 Eine derartige Haltung zu einem Text, der auf Fremderfahrung beruht, spiegelt die lange Kontroverse um die Shoah- und Gulagliteratur wider,219 Lagerliteratur also, deren Themen sowohl von 215 Ebd., S. 99. 216 Die folgende Ausgabe wird hier mit der Sigle G und der entsprechenden Seitenzahl zitiert: DIECKMANN, Dorothea: Guantánamo. Stuttgart: Klett-Cotta 2004. 217 FALCKE, Eberhard: Dorothea Dieckmann sucht nach einem Weg in das Innerste der Gefangenen von Guantánamo, in: Die Zeit vom 02.09.2004. http://www.zeit.de/2004/37/ L-Dieckmann [letzter Zugriff: 07.06.2017]. 218 Ebd. 219 Zuletzt wurde dieser Vorwurf im Bereich der Gulagliteratur gegen die Nobelpreisträgerin Herta Müller und ihren Roman Atemschaukel, der 2009 erschien, erhoben. Obwohl das

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Zeitzeugen als auch von den nachfolgenden Generationen zum literarischen Gegenstand gemacht wurden. Bei den Fragen, um die diese Diskussionen kreisen, handelt es sich nicht nur darum, was erinnert werden soll, sondern in der Hauptsache auch um die Möglichkeiten und Grenzen der Darstellbarkeit eines undarstellbaren Erlebnisses sowie um die moralisch geprägte Frage, wer diese Themen überhaupt behandeln dürfe, mit anderen Worten, ob ausschließlich Zeitzeugen die Lagererfahrung narrativieren dürfen. Diese Diskussion wird im Kontext dieses Romans noch gesteigert: Während die letzten Zeitzeugen der Shoah nach und nach sterben und mit ihnen die lebendige Erinnerung an die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts220 und so nicht nur andere Autorengenerationen, sondern mit ihnen auch neue Textformen und literarische Darstellungsverfahren, wie Fiktion, Fantastik oder auch Comics an die Stelle der Zeugnisse und Berichte treten,221 wird Dieckmann vorgeworfen, einen Roman geschrieben zu haben, noch bevor die Betroffenen die Chance hätten, sich selbst dazu zu äußern. Auch wenn die Situation im Zusammenhang mit der Shoah eine andere ist, bleibt der Kern der Diskussion weiterhin die Frage nach Authentizität und Wirklichkeitsdarstellung im Kontext von Erfahrungen, die man selbst nicht gemacht hat. Besonders die kognitionspsychologischen und konstruktivistischen Erkenntnisse,222 die einen maßgeblichen Einfluss auf die Theoriebildung im Bereich

Nachwort dezidiert angibt, dass der Roman als Gemeinschaftsprojekt mit dem bereits 2006 verstorbenen Lyriker Oskar Pastior angelegt war, der selbst in einem Gulag interniert war, setzte besonders aufgrund der Sprache des Romans im Zusammenhang mit der literarischen Verarbeitung von Fremd-Erinnerungen die kontroverse Kritik an (vgl. WILLEKE, Stephanie: »Nichts mehr stimmt, und alles ist wahr.« Tabubrüche in Herta Müllers Atemschaukel, in: Süwolto, Leonie (Hrsg.): Ästhetik des Tabuisierten in der Literatur- und Kulturgeschichte. (= Studien der Paderborner Komparatistik. Bd. 1) Paderborn: Universitätsbibliothek Paderborn 2017, S. 101-119.). Hartmut Steinecke macht indes darauf aufmerksam, dass die negativen Kritiken in dem Moment endeten, als Herta Müller der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde (vgl. STEINECKE, Hartmut: Herta Müller: Atemschaukel: Ein Roman vom ›Nullpunkt der Existenz‹, in: Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch: A German Studies Yearbook, Jg. 10 (2011), S. 14-32, hier S. 15.). 220 Vgl. ASSMANN, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, S. 11. 221 Gansel und Zimniak machen für eine Veränderung der Erinnerungsstrukturen und deren Bewertungen einen »Umbau des ›Funktionsgedächtnisses‹« verantwortlich, der sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands und durch globale Veränderungen ereignet habe. »In diesem Rahmen lässt sich von einem ›Reflexivwerden‹ der Erinnerung sprechen, die nicht zuletzt dazu führt, dass etablierte Modi der Erinnerung unter den veränderten historischen Bedingungen neu bedacht oder sogar dekonstruiert werden können.« (GANSEL, Carsten/ZIMNIAK, Pawel: Zum »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 – Vorbemerkungen, in: Dies.: (Hrsg.): Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2010, S. 11-15, hier S. 13.) 222 Vgl. bspw. MARKOWITSCH, Hans J.: Neuropsychologie des Gedächtnisses. Göttingen/ Toronto/Zürich: Verlag für Psychologie 1992; SCHMIDT, Siegfried J.: Der Kopf, die

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der Erinnerungstheorien haben, negieren eine strikte Trennung zwischen Fakt und Fiktion223 – so fließen beispielsweise in die Erinnerungen auch immer Fremd-Erinnerungen ein, im Prozess des Niederschreibens werden narrationsbedingte Mechanismen aktiviert, die den Erinnerungen eine Chronologie und ggf. Sinnhaftigkeit verleihen. Dies hebt hervor, dass es sich bei der Diskussion um die Autorschaft in diesem Feld in erster Linie um eine moralische Frage handelt, die innerhalb des Diskurses ausgehandelt wird. Das Vorwort von Guantánamo kann indes auch als Versuch der Gegensteuerung für derartige Diskussionen gelesen werden, indem darauf aufmerksam gemacht wird, dass das Innenleben des Protagonisten genauso fiktiv ist wie die Innenansicht einer jeden anderen Figur. Der in sechs Kapitel eingeteilte Roman, deren Titel stets zweigeteilt in englischer und deutscher Sprache verfasst sind und dabei sowohl Übersetzungen (z.B. Down. Auf den Knien, Food. Futter) als auch antithetische Strukturen (z.B. Death. Glück, Happy End. Kein Ende) ausstellen, beschreibt die Verhaftung und den Lageralltag des Protagonisten Rashid in dem Gefangenenlager Guantánamo. Der Krieg fungiert hier zum einen als Referenz auf den real-historischen Afghanistankrieg, der in seiner Negation in dem Satz »War is over« (vgl. u.a. G 22, 23, 24, 30, Herv. i.O.) Abwesenheit und in dessen steter Wiederholung Anwesenheit zugleich aufzeigt. Der Satz ist nicht nur Anlass zu Rashids Weiterreise, sondern wird ebenso mit seiner Festnahme in unmittelbaren Zusammenhang gebracht: Auf seiner Reise nach Indien (dem Herkunftsland seines Vaters) trifft der Protagonist den Afghanen Mirgul, der diesen Satz äußert und Rashid damit überredet, weiter nach Afghanistan, genauer nach Kabul zu reisen. Weil der Krieg vorbei sei, so Mirgul, könne er nun wieder zu seinen Eltern nach Afghanistan zurückkehren. Später resümiert der Erzähler, dass es vorrangig der Ton dieses Satzes, »verschwörerisch, triumphierend, einfach ansteckend« (G 37), gewesen sei, der ihn dazu brachte, mitzufahren. Kurz vor der Abreise wird die folgende sich vor allem durch ihren mit zahlreichen Kommata durchzogenen parataktischen Satzbau auszeichnende Passage geschildert: »War is over. Noch ein Tag, der letzte Tag in Peshawar, in den Straßen voller Straßenhändler, Flüchtlinge, Männer mit Turbanen, Männer mit Bärten, plötzlich immer mehr Männer, Auflauf, Geschrei, Schlagstöcke, dann liegt er mit dem Gesicht im Schlamm, kein Paß, kein Visum, alles weg, die Hütte weg, Mirgul, die Ana. Mit einem Mal ist alles schwarz. Er sucht nach dem letzten Flug. Er kommt immer näher. Er hört Stimmen, in Urdu, in Paschto, Stimmen im Keller, ein Keller voller Männer, Kälte und endloses Dunkel, dann öffnet sich die Tür, endlich das Licht, da sind Uniformen, braune und gefleckte, und neue Stimmen, head down, don‘t move, shut up, go-go-go.« (G 23, Herv. i.O.)

Der Grund für seine Festnahme wird nur angedeutet: offenbar ist Rashid bei einer Demonstration von Islamisten gewesen, wobei zu vermuten ist, dass er eher zufällig dort war: »Alles andere war bloß noch Zufall, Schicksal, Dummheit, Krieg eben.« (G Welt, die Kunst: Konstruktivismus als Theorie und Praxis. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1992. 223 Vgl. WAGNER-EGELHAAF, Martina: Autobiographie. 2., aktualisierte und erweitere Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 2ff.

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37) Während für Rashid der ›äußere‹ Krieg zwar einen gewissen Reiz ausübt – »[d]orthin zu fahren, wo ein Krieg vorbei war, das war fast so spannend wie In-denKrieg-Ziehen« (ebd.) – jedoch die Praktiken des Krieges miteinander vergleicht, so dass es keine Spezifik eines Krieges zu geben scheint – »[S]ie warfen da ein paar Bomben herunter […] und jagten in den Bergen ein paar bärtige Männer in Kaftanen, wie sie überall Bomben abwarfen und irgendwelche Männer jagten« (ebd.) –, ist es in antithetischer Haltung gerade der abstrakte ›Krieg gegen den Terror‹, der Rashids nun beschriebene Tortur konkret werden lässt. Der Schauplatz des Krieges wird als Konsequenz des real-historischen Krieges somit in das Innere der Figur verlagert: Rashid kämpft gegen sich selbst – gegen seinen ermüdenden Körper und gegen seinen immer weiter in den Wahnsinn driftenden Verstand. Die körperliche Erschöpfung wird bereits in dem ersten Kapitel deutlich, als Rashid gefesselt und orientierungslos in kniender Haltung ausharren muss: »Es ist ein Kampf um die Neigung der Schenkel, den Schwerpunkt des Rumpfs, ein Entscheidungskampf. Das Gewicht verlagern, ja oder nein, den Schmerz verteilen, ja oder nein. Der Kampf wird härter, doch keiner entscheidet.« (G 20) Vor allem aufgrund der sensorischen Deprivation, dem Verlust der Orientierung, hervorgerufen durch das Tagen von Kapuze und Ohrenschützern, konzentriert sich die erzählte Perspektive auf Rashids inneren Kampf, auf die »letzte Reise«, »die Reise im Kopf« (G 27). Unfähig sich zu bewegen, wird er in ausschließlich passiver Haltung transportiert – das erzwungene Einnehmen solcher ›Stresspositionen‹ wird im weiteren Verlauf der Handlung mehrfach als Bestandteil der Folterpraktiken erwähnt –, wobei ihm das Ziel genauso unbekannt ist wie die nationale Zugehörigkeit der Soldaten. Während das erste Kapitel die Verhaftung und den Transport nach Guantánamo umfasst, beginnt das folgende im Lager. Der vollzogene zeitliche Bruch wird bereits zu Anfang deutlich, in dem es heißt, dass Rashid es aufgegeben habe, die Tage zu zählen (vgl. G 33). Zeit und Raum werden chronotopisch miteinander verschränkt und spielen eine zentrale Rolle. Die Zelle, in der sich der Protagonist aufhält und die wenigen Gegenstände, die sich darin befinden – Shampoo, Flüssigseife, mint tasteZahnpasta, eine Zahnbürste sowie ein Koran und eine Gebetsmütze (vgl. G 53) –, werden sezierend beschrieben, Rashid verwendet viel Zeit und Aufwand, sie in der kleinen Zelle zu platzieren. So hat er beispielsweise »[l]ange […] an dem geeigneten Ort für die beiden weißen Plastikbehälter getüftelt.« (G 40) Dass die beiden Eimer – der eine in der Funktion des Abfalleimers, der andere für das Wasser zum Waschen – identisch aussehen und daher »ihre Funktion wechseln können« (ebd.), d.h. dass der Wassereimer »gestern noch die Exkremente eines Gefangenen aufgenommen haben [könnte]« (ebd.), wird lakonisch als Randnotiz vermerkt. Der Raum fungiert, wie in den theoretischen Überlegungen bereits ausgeführt,224 in zahlreichen literaturwissenschaftlichen Arbeiten mit kulturwissenschaftlichem Fokus als ein kultureller Bedeutungsträger: »Kulturell vorherrschende Normen, Werthierarchien, kursierende Kollektivvorstellungen von Zentralität und Marginalität, von Eigenem und Fremdem sowie Verortungen des Individuums zwischen Vertrautem und Fremdem erfahren im Raum eine konkret anschauliche Manifestati224 Vgl. Abschnitt II, Kapitel 1.1.

384 | GRENZFALL KRIEG on. Räume in der Literatur, das sind menschlich erlebte Räume, in denen räumliche Gegebenheiten, kulturelle Bedeutungszuschreibungen und individuelle Erfahrungsweisen zusammenwirken.«225

Dabei spielen Identitätskonstruktionen und -zuschreibungen von Figuren, ebenso wie die Differenzierung von Eigenem und Fremdem, eine besondere Rolle und sind allgemein in einem doppelten Sinn bedeutend für die kulturelle Zuordnung und Wahrnehmung von Räumen, da auf der einen Seite Räume durch die in ihnen lebenden und agierenden Figuren definiert werden können und auf der anderen Seite aber auch »Figuren […] durch die Räume identifiziert [werden], in denen sie sich aufhalten«226. Konstitutiv für die Wahrnehmung des Raums ist auch die Bewegung, was bereits dadurch deutlich wird, »dass Räume in literarischen Texten immer in einer Beziehung zu sich darin bewegenden oder zu wahrnehmenden Individuen stehen«227. Hallet und Neumann stellen in diesem Kontext fest, dass »Verortungen im Raum so gut wie immer mit orientierenden bzw. explorierenden Bewegungen verbunden sind, mittels derer Räume aktiv in Anspruch genommen, vermessen und durchquert, Raumgrenzen ausgelotet und überschritten werden«228. Die Bewegungen der Häftlinge zeichnen sich augenfällig durch Begrenzung aus, nicht nur innerhalb der Zellen, sondern auch aufgrund des ›three-piece‹ (Gürtel, Handschellen, Fußketten) außerhalb: »Ohnehin sind die Schultern gebeugt, die Brust ist eingefallen, denn die Eisenringe zwingen die Hände zur Körpermitte herunter und erlauben keinen aufrechten Gang.« (G 41) Selbst Rashids Gedanken sind vor allem durch eine Raum-Grenze charakterisiert, wenn sich sein Bewusstsein verflüssigt und sich im Camp ausbreitet »als wäre es hier zu Hause, nichts Fremdes« (G 52), kann es überall hin bis zu den Grenzzäunen. »Nie weiter hinaus. Solange die Schwebe anhält, gibt es kein Draußen.« (Ebd.) Hier wird nicht nur die Selbstwahrnehmung bzw. Verortung der Figur als Fremder in seiner Umgebung deutlich, sondern auch, dass die Raumgrenzen des Camps zudem seine Vorstellungskraft begrenzen, die Grenzen determinieren nicht nur seinen Körper in Form der Bewegungseinschränkung, sondern auch seinen Geist. Während Rashid sich in seinem klar umgrenzten Raum bewegt und versucht, die Gitterzelle ideal auszunutzen, ist es die Zeit gegen die er ankämpft: »Er will sich nicht erinnern. Er muß aufpassen. Erinnerungen sind gefährlich. Sie bringen die Zeit in den Käfig, und dafür ist der Käfig zu klein. Sobald die Zeit Gelegenheit hat, sich auszudehnen, zieht sie ihn in jede Richtung mit, doch er kommt nur zwei Schritte weit, zwei normale in die Länge, zwei kleine in die Breite. Wenn er sich gehenläßt, wird er an den Drahtwänden zerquetscht. Deshalb verbringt Rashid die Zeit damit, gegen die Zeit zu arbeiten.« (G 35)

225 HALLET Wolfgang/NEUMANN, Birgit: Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung, in: Dies. (Hrsg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld: transcript 2009, S. 11-32, hier S. 11. 226 Ebd., S. 25. 227 Ebd., S. 20. 228 Ebd., S. 21.

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Die Erinnerung bringt also nicht nur ein ›Davor‹ im Sinne einer Zeit vor dem Lager hervor, sondern macht auch deutlich, dass ein ›Danach‹ ungewiss ist – der Gefangene weiß weder warum er interniert ist, noch wie lange dieser Zustand andauern wird. Damit befindet sich Rashid auf der Grenze, die sich vor allem durch ihre Unbestimmtheit und Ungewissheit auszeichnet, er ist reduziert auf das »nackte Leben«229. Der Raum, der sich kaum ausdehnt, steht also der subjektiv endlos erscheinenden Zeit entgegen, weshalb letztere eingedämmt werden muss. Das Ziel ist demnach, der Grenze möglichst wenig Zeit-Raum zu geben, eine Ausdehnung zu verhindern. Der Unsicherheit des Aufenthalts stehen zwei Mechanismen antithetisch gegenüber: die innere Lagerordnung, die der Protagonist selbst entwirft, zu der auch der Kampf gegen die Zeit zählt, und die äußere Lagerordnung der Amerikaner, der sich Rashid fügen muss. Letztere wird unter anderem von der Praktik des täglichen Gebets strukturiert, das für die meisten Internierten einen besonderen Stellenwert hat. Hier zeigt sich markant, dass Rashid eine Außenseiterrolle innerhalb des Figurenkollektivs der Inhaftierten innehat – er positioniert sich während des Gebets wie ein »Theaterzuschauer« (G 45), der die »Musik und jeden Schritt des Balletts« (G 49) kennt. Mit dem Vergleich eines routinisierten Tanzes wird jedoch auch Rashids Kritik an den Gläubigen vom Erzähler ausgeführt: »In der Richtung, nach der sie sich verneigen, steht der Feind. Da steht der Wachturm, da geht die Sonne auf […]. Amerika richtet sich nach der Sonne, Allah tanzt nach Amerikas Pfeife, und sie tanzen mit« (ebd.). Der Protagonist, der als »ungläubig« (G 46) charakterisiert wird, verbindet den praktizierten Glauben der Moslems mit der Herrschaft der Amerikaner. In dem Wachturm, der in Zusammenhang mit den Gitterkäfigen und dem permanenten Licht in den Zellen eine vollkommene Überwachung ermöglicht, wird eine vermeintliche Allmacht der Amerikaner symbolisiert, die selbst Gott steuern können. Mit Foucault könnte man das Internierungslager als einer Art Panoptikum bezeichnen: »Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen.«230 Dass der Wachturm nicht, wie in einem ›klassischen‹ Panoptikum, in der Mitte des Lagers steht, sondern aus der Perspektive der Zellen heraus in Richtung Mekka, hebt die Allmacht der Amerikaner noch deutlicher hervor. Indem die internierten Moslems Gott anbeten, stützen sie, so Rashids Kritik, dann eben auch diese. Neben dem Wachturm als Symbol der amerikanischen Macht steht ihre Handlungsweise in Zusammenhang mit den Disziplinartechniken, die auf das Handeln der Gefangenen einwirken.231 Nach Foucault gibt es da, wo es Macht gibt, auch stets Widerstand, der nicht außerhalb der Macht, sondern innerhalb

229 AGAMBEN, Giorgio: Ausnahmezustand, S. 10. 230 FOUCAULT, Michel: Überwachen und Strafen, S. 257. Interessanterweise spricht auch Foucault im Zusammenhang der Internierung von einem Theater: »Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar.« (Ebd.) 231 Foucault definiert ein Machtverhältnis als »eine Handlungsweise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln. Handeln auf ein Handeln, auf mögliche oder wirkliche, künftige oder gegenwärtige Handlungen.« (FOUCAULT, Michel: Wie wird Macht ausgeübt?, S. 192.)

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dieser angelegt ist.232 »Diese Widerstandspunkte sind überall im Machtnetz präsent. […] Sie sind in den Machtbeziehungen die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber.«233 Die damit zusammenhängende entschiedene Negierung eines binären Schemas von Machtinhabern und Unterdrückten gelangt selbst in diesem äußerst repressiven literarischen Raum zur Anschauung. Analeptisch wird davon berichtet, dass die Amerikaner nach einem Hungerstreik der Gefangenen, der sich an eben der Gebetspraktik entzündete, Zugeständnisse an die Inhaftierten machen mussten, wie beispielsweise, dass nun die Stimme eines arabischen Muezzins zum Gebet aufruft (vgl. G 48). Daran wird deutlich, dass das Figurenkollektiv, körperlich jeglicher freien Bewegung beraubt und den Strukturen des amerikanischen Lagers und dessen Ordnung ausgesetzt, auch selbst Macht ausüben kann: »Jeder sieht in jedem sein Spiegelbild, von unzähligen Drahtquadraten gerastert. Einer, der betet, ist niemand, viele, die beten, können vieles andere tun.« (G 49) Diese Praktik des Gebets, die die Gläubigen zu einer Einheit vereint und ihnen eine gewisse Machtbasis zuspricht, deren Grundlage später nach Rashids erstem Verhör beiläufig zusammengefasst wird mit: »Sie brauchen ihn« (G 86), entlarvt der Außenseiter hingegen als Illusion, er beschreibt die Gläubigen bildlich, angelehnt an die routinisierten Bewegungsabläufe während des Gebets, als »Marionetten in orangeroten Kostümen, zu Boden geworfen, hochgezogen, wieder hingeworfen.« (G 50) An anderer Stelle setzt er den Koran in Analogie zu einem »Märchenbuch für Kinder und Alte und Dumme« (G 96), das nicht in das Lager gehöre, jedoch zu den Gefangenen passe, da es »von Buchstaben und Namen und Völkern und Städten und Kriegen [wimmelt], eine riesige Versammlung unter freiem Himmel, und am Ende kann Allah immer zwischen Gläubigen und Ungläubigen unterscheiden, und die Gläubigen lachen die Ungläubigen aus.« (Ebd.) Damit wird nicht nur die vorgenommene Distinktion zwischen Lagerstruktur und Gefangenen hervorgehoben, sondern auch eine Unterscheidung zwischen Lager und Inhalt des Koran, deren Basis eine grundlegende Sinnhaftigkeit ist: Die Ordnung innerhalb des Lagers ist klar und umgrenzt, die Inhalte des Koran sind allein durch ihre sprachliche Struktur aber unübersichtlich und mehrschichtig. So sind die in diesem Kontext aufgezählten Gegenstände wie Plastikteller, Toilettenhäuser etc. eindeutig, ihre Benutzung klar geregelt und reguliert, wohingegen Namen, Völker und Kriege eben ein interpretatorisches und diskutierbares Potential eröffnen, das der strikten Lagerordnung entgegensteht. Die Geschichten des Koran, so moniert der intern fokalisierte Erzähler, zeichnen sich zum einen besonders durch ihre zirkuläre Struktur – »vom Paradies zur Hölle und wieder zurück« (ebd.) und zum anderen durch die strikte Unterscheidung zwischen ›den Bösen‹ und ›den Guten‹ aus. Dass sowohl diese Prozesse der Differenzierung (in Bewachte und in Wächter) als auch die sich wiederholende Struktur (von der Zelle in den Verhörraum und wieder zurück) ebenso die Ordnung des Lagers widerspiegeln, der Koran somit als poetisches Prinzip innerhalb des Romans fungiert, wird von dem Erzähler nicht erkannt. Interessanterweise sind diese Strukturen in dem Lager jedoch genau umgekehrt: Rashid zählt sich vor allem durch das Verhör selbst zu den Bösen, den Tätern, und die Hölle ist im Gegensatz zu den Befragungen die Zeit in der Zelle. Damit fungiert 232 Vgl. FOUCAULT, Michel: Sexualität und Wahrheit, S. 116. 233 Ebd., S. 117.

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Rashids Rezeption des Koran als Folie, deren Strukturen gleichsam spiegelverkehrt werden. Ein entscheidendes Moment der Differenz liegt indes in der Position Gottes, der im Koran in der Funktion des Richters dazu in der Lage ist, über die Menschen und deren Leben zu urteilen. Für Rashid hingegen wird es ein solches Richten zumindest im Diesseits nicht geben, ein die Inhaftierung in Guatánamo beendendes Gerichtsverfahren gibt es nicht. Rashid indes betet zunächst nicht wie die anderen gefangenen Moslems, er hat sein eigenes Gebet: Der Protagonist versucht, entgegen seiner Bestrebung, Erinnerungen und damit Zeit zu verdrängen, gedanklich eine »Lügenstrecke« zu beschreiten, eine, die seine Vergangenheit umschreibt und ihm so einen Ausweg aus dem »Angsttraum, aus dem er nicht mehr aufwacht«, (G 51) ermöglicht. Dieses Gedankenexperiment scheitert ebenso wie der Versuch, in den Hungerstreik zu treten und damit eine absolute »Teilnahmslosigkeit« (ebd.) zu praktizieren, immer wieder an seinen körperlichen Bedürfnissen. So werden von ihm dann auch Irdisches und Göttliches, Immanenz und Transzendenz in direkte Verbindung gebracht: »Das Futter bahnt sich den Weg durch den Körper, so unaufhaltsam wie Allahs Auftritte. Vom Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang, vom Fressen zum Kacken. Das Gebet endet auf den Knien, das Essen in der Hocke. Und egal, ob auf dem Boden oder auf dem Eimer, man legt die Hände auf die Knie und zeigt sein Einverständnis, einerlei, vorgekaut, ettihîyâtu lillâhi [Ehre sei Allah].« (Ebd., Herv. i.O.)

Die äußere Lagerordnung wird durch ihre Funktionalität und ihren Pragmatismus, ihre Ökonomie und Kälte zum Prinzip der Entmenschlichung. Dies gilt nicht nur für die Inhaftierten, sondern auch für ihre Bewacher: »Sie sind Maschinen, die funktionieren, wenn sie rot sehen, grob, hart, zielgerichtet, bereit zu töten, wenn sie töten müssen. Sie wissen, was die Körper, die sie versorgen müssen, zum Überleben brauchen. Genauso zuverlässig beherrschen sie die Mittel, sie zu brechen, zu unterwerfen, zu demütigen. Sie sind Militärpolizisten im Stallbetrieb […], Experten in Menschenhaltung.« (G 42)

Der dem Terminus ›Menschenhaltung‹ implizite Vergleich der Inhaftierten mit Tieren ist nicht nur im Kontext der neuen Kriege, speziell in Guantánamo sowie Abu Ghuraib, immer wieder vor allem in Bezug auf die Fotografien von Foltertechniken festgestellt und kritisiert worden – besonders prominent ein Bild mit Lynndie England, auf dem sie einen auf dem Boden liegenden irakischen Gefangenen an einer um den Hals des Mannes geschlungenen Hundeleine hält234 –, sondern findet auch in 234 Boggs führt zu dieser Fotografie aus: »Das Bild ist überdeterminiert, weil die Bestialität die symbolische Repräsentation außer Gefecht setzt, aber auch wieder entstehen lässt. Die Unterscheidung zwischen Metapher und Realität wird suspendiert und tritt neu hervor. Wir können dieses Bild als Gleichnis lesen (der Gefangene ist wie ein Hund) oder aber als Metapher (England hat einen Hund angeleint), wobei die Metapher für England selbst eine Realität zu haben scheint. Wir wissen, dass Metaphern umkehrbar sind. Solch eine Umkehrung findet statt, wenn wir die Behandlung des Gefangenen als ›brutal‹ ansehen,

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dem Roman seine Entsprechung, allerdings signifikanter Weise in einem Akt der Selbstbezeichnung: Tarik, Rashids Zellennachbar, bezeichnet die von der Häftlingskleidung stammenden »orangeroten Schemen« als Orang-Utans und »sich mit ihnen« (G 38). Hier wird deutlich, inwieweit die Mechanismen und Machtstrukturen des Lagers die Häftlinge determinieren und wie diese sie in ihrer Selbstwahrnehmung beeinflussen. Die für die außerliterarischen Lager konstatierte Struktur der Entmenschlichung, besonders seitens der Wärter, deren Skrupel im Kontext der Folter gemildert werden sollen – »denn es ist kein Mensch mehr, der da Schmerz leidet, und es ist kein Mensch, der Schmerz leidet«235 – wird so in dem Roman dargestellt, aber zeigt auch die andere Seite, die der Häftlinge. Aus dieser Perspektive werden dann auch Verhör, Befragung und Folter inszeniert. Obwohl diese für Rashid »unerwartet« (G 65) kommen, was einmal mehr zeigt, wie sehr die Gefangenen den Strukturen der äußeren Lagerordnung unterworfen sind, und mit einer Zurschaustellung seiner Hilflosigkeit beginnt, indem sie ihn wieder völliger Orientierungslosigkeit aussetzen – »Er stand im Dunkeln, ohne Hände, ohne Ohren, lange. Er hielt das Gleichgewicht. Immer mehr fürchtete er, daß er auf einem Vorsprung stand, an einem Abgrund.« (G 66) – ist das anfängliche Gefühl »wild[e] und panisch[e]« (G 67) Freude. Die zuvor andauernde Stimmlosigkeit des Gefangenen wandelt sich nun, so seine Vermutung, er müsse nun einfach »richtig antworten« (ebd.). Dass es dieses ›Richtig‹ nicht zu geben scheint, wird schnell deutlich, auf der einen Seite, weil sich die Fragen ständig wiederholen, die Verhörenden dadurch den Anschein erwecken, nie mit einer Antwort zufrieden zu sein, und auf der anderen Seite, weil Rashid sich selbst in Widersprüche verstrickt: »Ich war noch nie in Pakistan, ich war noch nie in Afghanistan. Ich war in Pakistan, und ich wollte nach Afghanistan. Ich wollte nicht nach Afghanistan, ich bin nur eingeladen worden. […] Nein, es waren keine Taliban. Nein, ich kannte sie nicht. Vielleicht waren es Taliban.« (G 68) Das Verhör, das sich durch »viele Stimmen, viele Sprachen, viele Fragen, schnell hintereinander« (G 67) und sogenannte ›Stresspositionen‹236 auszeichnet, wird begleitet von physischen Übergriffen wie Schlägen in den Rücken und einer Spritze, deren Inhalt nicht näher beschrieben wird – der Leser verharrt auf dem Wissensstand von Rashid, beschrieben denn das Wort hat die Synonyme ›viehisch‹ und ›unmenschlich‹ und verwandelt so die Soldaten und nicht ihre Opfer in Untiere.« (BOGGS, Colleen Glenney: Bestialität und Folter, in: Weitin, Thomas (Hrsg.): Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und den USA. Bielefeld: transcript 2010, S. 267-284, hier S. 277f.) 235 MLADEK, Klaus: Folter und Scham, S. 251, Herv. i.O. 236 Bei den Verhören wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Rashid stehen oder knien muss. Mladek macht für die außerliterarischen Verhöre bzw. Folterungen auf die psychologische Komponente dieser Haltung aufmerksam: »Während der Verrat den Folterer in seinen Handlungen rechtfertigen soll und ihm ein Motiv verleiht, erfüllt es den Gefolterten noch zusätzlich mit der Schande, der Agent seines eigenen Selbst- und Weltverlusts zu sein. Darauf zielen die sogenannten ›stress positions‹ (stundenlanges Stehen, Knien, Arme hinter dem Rücken oder Kopf verschränkt): Sie setzen den Akt des Selbstverrats auf körperlicher Ebene fort. […] [D]er eigene Körper beginnt, sich selbst zur Last zu fallen; man tut sich weh: ich tue mir selbst weh, ich bin der Grund meines eigenen Schmerzes.« (MLADEK, Klaus: Folter und Scham, S. 257f., Herv. i.O.)

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werden nur die Wirkungen von Schüttelfrost bis hin zur Halluzination, Stimmen zu hören (vgl. G 71). Den fragmentarischen und widersprüchlichen Aussagen Rashids steht eine »gute Geschichte« (G 74) gegenüber, deren Bestandteile kohärent sind – die Vermutung der Verhörenden, was sich ereignet hat. In dieser Darstellung sei Rashid ein Mitglied einer Terrororganisation, habe zum Dschihad aufgerufen und amerikanische Flaggen verbrannt. Signifikanter Weise wird der Schluss dieser ›Geschichte‹ so gewendet, dass Rashids aktuelle Situation aus einer glücklichen Wendung heraus resultiere: »Du wolltest gegen Amerika kämpfen, du wolltest Amerikaner töten. Wahrscheinlich hätten die Amerikaner dich getötet. Du siehst, du hattest Glück. Es wird dir nichts passieren. Du mußt uns nur sagen, was ihr geplant habt. Wer deine Kameraden waren. Und vor allem die Anführer.« (G 73) Neben der Ansprache mit ›du‹, der hierarchisierende Bewertungsmechanismen inhärent sind, wird nicht nur die trennende Funktion der Grenze in Bezug auf die beiden Versionen des Vergangenen inszeniert, wobei die der Amerikaner durch ihre sinnhafte Struktur selbst für Rashid die wahrscheinlichere ist, sondern auch in Bezug auf das, was gesagt wird (es würde ihm nichts passieren) und das, was tatsächlich praktiziert wird: Nachdem ihm sogar die Entlassung in Aussicht gestellt wurde, zumindest aber bessere Haftbedingungen, und Rashid daraufhin einen anderen Namen angibt und sagt, er sei rein zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, wird dem Protagonisten gesagt, er benötige, bevor das Verhör fortgesetzt werden könne, eine Erholung: »Recreation. Air condition. With shower.« (G 75, Herv. i.O.) Was dies bedeutet, wird schnell ersichtlich: Rashid muss sich ausziehen – »time to strip” (G 76, Herv. i.O.) – wird verbal gedemütigt, weil er während des Verhörs urinieren musste – »and now your pissed trousers« (G 77, Herv. i.O.) –, wird mit kaltem Wasser übergossen und anschließend nackt in einen Eisschrank gesperrt. Die Sprache des Lagers grenzt sich also deutlich von der Sprache außerhalb des Lagers ab. Der semantische Gehalt der zunächst durchaus positiv konnotierten Wörter wird in der Praxis negiert: Erholung wird zur Folter.237 Ob Rashid bei dieser Foltertechnik einen Herzstillstand erlitt, dem eine Reanimation folgt, ist nicht eindeutig, es wird jedoch berichtet, dass jemand »auf seinem Brustkorb herum [reibt und trommelt], es hallt dumpf, die Pritsche federt unter dem aufgescheuerten Rücken.« (G 79) Weitere Foltermethoden folgen, wie beispielsweise der »eagle« (G 80, Herv. i.O.)238. Dieser Brutalität und scheinbar willkürlichen Gewaltanwendung steht Rashids Resümee dieses Aspekts der äußeren 237 Die Differenzierung der Sprachen wird noch an einer anderen Stelle zum Gegenstand und mit den Mechanismen der Lagerordnung verbunden. Die Inhaftierten müssen die Briefe, die sie schreiben, auf Englisch verfassen, weshalb Rashid ein Wörterbuch bekommt: »Die ganze Welt ist im Wörterbuch. Vieles ist draußen, ist weg, und trotzdem kommen die meisten Wörter auch im Lager vor. […] Er liest: hole – Loch, holiday – Feiertag, holler – schreien, hollow – hohl, holocaust – Massenvernichtung, holy – heilig, home – Heim, homicide – Tötung, homo – Homo, homogeneius – gleichartig. Man darf nicht alle Wörter verwenden. Sie streichen sie aus, wie in den Briefen, die ankommen.« (G 154, Herv. i.O.) 238 Es wird in diesem Zusammenhang beschrieben, dass dem Protagonisten auf dem Bauch liegend Stuhlbeine auf die Handflächen und Fußsohlen gestellt werden und sich im Anschluss daran unter anderem der verhörende Offizier auf den Stuhl setzt (vgl. G 80).

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Lagerordnung entgegen, die wiederum mit dem Moment der semantisch spiegelbildlichen Sprache in Verbindung steht: »Es ist eine klare durchsichtige Sprache, ihre Töne und Tonfälle und Gesten und Handlungen und der Nachdruck, den sie im Körper hinterlassen, alles paßt ineinander, wenn man den Plan begreift.« (G 81) Er fügt sich vollkommen den äußeren Umständen, die ihm aufgezwungen werden: »Sie haben ihm die Richtung gezeigt, mit Worten und Schlägen, mit Hitze und Kälte, er muß nur mitgehen, muß sich nur auf die Spur verlassen, er hat verstanden, er ist einverstanden.« (G 82) Auch an dieser Stelle findet sich, wie bereits zuvor bei der gedanklich abgeschrittenen ›Lügenstrecke‹, wieder die Metapher des Weges, den es in diesem Zusammenhang einzuhalten gilt – hier ist es aber nicht der Weg, den Rashid selbst in seiner Vergangenheit sucht, sondern der ihm von außen vorgegeben wird. Er beugt sich und gesteht alles ein, seine Antworten enthalten von nun an ständig die Worte ›oder‹ bzw. ›vielleicht‹. Die Grenze, die ihm dieser Weg vorgibt, fungiert nun als das Sagbare, als das Richtige, das, was die Verhörenden hören möchten. Vor Erschöpfung verliert Rashid doch irgendwann die Spur, das Paradoxe dieser Struktur wird nun in der Passage, die wiederum überwiegend einen parataktischen Satzbau aufweist, deutlich: »Er kennt sich nicht mehr aus. Er kann nicht mehr stehen. Er ist in den Krieg gezogen, aber er war nicht in Afghanistan. Er soll den Amerikanern helfen, aber er darf nichts verraten. Er hat die Namen vergessen. Er ist ein islamischer Kämpfer, aber er kennt die Befehle nicht. Er hat Attentate geplant, aber er weiß nicht, welche. Er kann nicht mehr reden. Er ist kein Tourist. Er ist ein Terrorist. Er will es beweisen, aber er hat den Krieg nicht gesehen. […] Er hat gelogen. Er ist schuldig. Er hat keine Füße mehr, er hat keine Hände mehr. Er ist ein Kriegsgefangener. Er will schlafen, er will kämpfen.« (G 85)

Das Dilemma Rashids, den vorgegebenen Weg gehen zu wollen, aber eben nicht dazu in der Lage zu sein, wird hier in Szene gesetzt, ebenso wie überaus klar gezeigt wird, dass er wahrscheinlich ohne eigenes Verschulden, die suggerierten Eingeständnisse lassen dies umso deutlicher hervortreten, im Lager interniert ist. Dass der Protagonist nun durch die Verhöre, die Folter und sein Festhalten an der Sinnhaftigkeit des vorgegebenen Weges der Verhörenden an die Grenzen seines Verstandes stößt, wird besonders an der, vermutlich eingebildeten, Eidechse239 in seiner Zelle deutlich, die Rashid Kirat nennt – eine Umkehrung des Namens seines ehemaligen Zellennachbars Tarik – und mit der er Gespräche führt: »Er sprach heimlich zu ihr, und das Stimmengewirr in seinem Kopf wurde leiser.« (G 91) Obwohl es ihn erleichtert, mit ihr zu sprechen, berichtet er ihr jedoch nicht von allen Dingen aus dem Lager, sondern nur »von einfachen Dingen«, »die zu jemand anderem gehören, nicht zu ihm und nicht zu ihr.« (G 92) 239 Die Episode mit der Eidechse erinnert an Murat Kurnaz’ autobiographische Schrift 5 Jahre meines Lebens, die von der vier Jahre andauernden Inhaftierung des Autors in Guantánamo handelt und 2013 auch filmisch umgesetzt wurde (»5 Jahre Leben«). Auch Kurnaz beschreibt, wie eine Eidechse sich in seiner Zelle aufhält und er eine Art Freundschaftsbeziehung zu ihr aufbaut (vgl. KURNAZ, Murat: 5 Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo. Berlin: Rowohlt 2007.).

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Wie sehr die Verhöre und die Folter, die den engen Raum des Lagers charakterisieren, Rashid zudem inkorporieren und psychisch beeinflussen, zeigt sich nicht nur daran, dass er in den zehn Minuten, die ihm draußen im Innenhof als ›Freigang‹ dienen, nur am Zaun entlang gehen kann, da ihn »der freie Platz bedrängt« (G 97), sondern vor allem auch in der Aussage, nur im Verhör »vollständig« zu sein, da er hier, drangsaliert mit den immer gleichen Fragen, sein »Gewicht« wiedererlangt, »[n]ur danach, wenn sie ihn im Käfig loslassen, ist da niemand mehr, der Ich sagen kann, ich, Rashid, ein haltloses Bündel aus Nerven und Buchstaben.« (G 98) Die Verhörenden zerstören die Ich-Identität des Protagonisten, durch den von ihnen vorgegebenen Weg weiß er schließlich nicht mehr, wer er ist, was wahr ist und was nicht. Seine Verwirrung wird in dem Roman ausgespielt, indem der Protagonist verschiedene Sprachen und den Brief seines Vaters mit Suren des Koran vermischt (vgl. G 112), er wird als leere Hülle beschrieben mit einem »Loch im Bauch, dem Loch vom ewigen Fragen« (G 106) und versucht sich in seiner Zelle zu erhängen (vgl. G 117f.). Genau in diesen Zustand, nachdem Rashid körperlich und geistig gebrochen wurde, er sich den Gesetzmäßigkeiten des Lagers, dieser »winzige[n], ordentliche[n], geschlossene[n] Welt, in der alles ineinandergreift« (G 148) völlig gebeugt hat, werden nun Umerziehungsmaßnahmen durch ein Belohnungssystem beschrieben: Rashid erhält so beispielsweise Süßigkeiten und einen Trinkbecher aus Hartplastik, wenn er sich freiwillig zum Verhör meldet. Auch die als Grundlage für eine potentielle Entlassung fungierende Notwendigkeit für Verhöre insgesamt wird deutlich – »If you never talk, you might never get out.« (Ebd., Herv. i.O.) Wie die Spielzeugfigur – eine einem ›Happy Meal‹ beigefügte Power-Ranger Figur, die Rashid als seinen ebenbildlichen Talisman bezeichnet – brechen auch die Süßigkeiten in die Lagerordnung herein, sie gehören zu »einer anderen Ordnung, einer Ordnung, die nach draußen weist« (G 150). Damit gelangen Gegenstände der Welt, die sich außerhalb des Lagers befindet, in die Lagerwelt und heben die Grenze zwischen den Räumen zugleich deutlich hervor. Rashid, der sich der äußeren Lagerordnung soweit unterworfen hat, dass er nun wie die anderen Gefangenen auch fünf Mal am Tag betet (ein lakonisch nebenbei erzählter Wandel, der im krassen Gegensatz nicht nur zu den vorherigen Ausführungen, sondern auch zu der Intensität und Nachdrücklichkeit, mit der diese getätigt wurden, steht), klammert sich auf der einen Seite an dieses ›Draußen‹, dessen Existenz durch die Gegenstände für ihn bewiesen wird, auf der anderen Seite ist er jedoch so sehr in die Lagerordnung integriert, dass seine Assoziation mit dem absolut transzendenten Raum, dem Paradies, die vierte Sicherheitsstufe darstellt – er kann sich ein Leben, selbst ein Leben nach dem Tod, außerhalb des Lagers also gar nicht mehr vorstellen. Die Grenze zwischen draußen und drinnen ist damit für die unbewegliche Figur gleichsam aufgehoben, es existiert nur noch das Drinnen des Lagers. Und so kommt Rashid dann auch auf den Gedanken, »daß niemand im Lager den Job hatte, einen Gefangenen freizulassen. Daß es gar keinen Plan gab, auch keinen versteckten.« (G 151) Diese Einstellung, diese einer zukünftigen Freilassung gegenüber pessimistische Haltung, zeigt, dass für Rashid der Ausnahmezustand zu einem nicht endenden Dauerzustand geworden ist, was durch seinen Wunsch noch unterstrichen wird: »Hätte Rashid einen Wunsch frei, einen Lagerwunsch, so wäre es der, sich einmal herauszubeugen. Er wüßte gern, wie das Gebäude, in dem er lebt, von außen aussieht.« (G 156)

IV. Verortungen

1. Moralische und ethische Dimensionen der Grenze

Mit der Überschrift ›Verortungen‹ soll nicht der geographische bzw. räumliche Aspekt der Grenze hervorgehoben werden, der zuvor als ein wichtiger Teil, aber eben als nur ein Teil von verschiedenen Gesichtspunkten der Grenzthematik analysiert wurde. Vielmehr geht es hier um die Verortung, die Positionierung der Literatur zum Diskurs über die neuen Kriege. Die diese kriegerischen Auseinandersetzungen thematisierenden Romane werden in dieser Arbeit dezidiert zu der politischen Literatur gezählt, die in dem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext ihrer Zeit entsteht und damit nicht nur aktuelle Themen wie die neuen Kriege der Gegenwart aufgreift, sondern auch in einem reziproken Verhältnis auf den öffentlichen Diskurs zurückwirkt. Mit Michel Foucault und Judith Butler ist ein Sich-In-Beziehung-Setzen zum Diskurs ein ethisches Verhalten.1 Das bedeutet, dass sich das Subjekt, indem es sich zu dem Diskurs positioniert, ethisch verhält und sich durch die kritische Reflexion neu konstituieren kann.2 Obwohl Moral und Ethik in einem wechselseitigen Beziehungsgeflecht stehen und damit eng miteinander verknüpft sind, kann hier unter Moral ein für eine bestimmte Gruppe oder Gesellschaft in einem spezifischen zeitlichen Rahmen geltendes System von anerkannten Regeln und Normen verstanden werden,3 das sich laut Stephanie Waldow durch seine »Wiederholbarkeit, Verstandesordnung und ei-

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Vgl. WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen, S. 36. Judith Butler hält mit Blick auf Foucault fest: »Foucault geht es aber nicht nur darum, dass es immer einen Bezug zu solchen Normen gibt, sondern auch darum, dass jede Beziehung zum Wahrheitsregime zugleich eine Beziehung zu mir selbst ist. Ohne diese reflexive Dimension ist Kritik nicht möglich. Ein Wahrheitsregime in Frage stellen, wo dieses Wahrheitsregime die Subjektwerdung [assujettissement] beherrscht, heißt die Wahrheit meiner selbst in Frage stellen, ja, es heißt meine Fähigkeit in Frage stellen, die Wahrheit über mich selbst zu sagen, von mir Rechenschaft zu geben.« (BUTLER, Judith: Kritik an der ethischen Gewalt, S. 34.) Vgl. KETTNER, Matthias: Moral, in: Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hrsg.): Handbuch Ethik. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 2011, S. 426-430.

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nen Zwangscharakter«4 auszeichnet und damit auf die Ebene der Praktiken verweist. Ethik bezieht sich hingegen eher auf die Reflexionsebene dieser gelebten Moral.5 Sie ist ebenfalls keine zeitlose, fixierte Entität, sondern befindet sich vielmehr in ständiger Aushandlung und Neukonstituierung. Der Bezug zur Grenzthematik manifestiert sich vor allem in der Unterscheidungspraxis, die stets eine Grenzziehung impliziert: Indem eine Handlung oder ein Sachverhalt als richtig oder falsch, als gut oder schlecht bewertet wird, entsteht eine Grenze, die diese beiden Bereiche einteilt und in ihrer Verschiedenheit bestimmt. Damit sind Grenzziehungsprozesse nicht nur ein Teil derartiger Entscheidungen (die in ihren jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und sozialen Kontexten betrachtet werden müssen), sondern sogar ihre Voraussetzung. Damit unterliegen sowohl Normen und Ideale einer Gesellschaft, an denen sich ein moralisches Verhalten orientiert, als auch ihre Reflexion auf ethischer Ebene bewertenden Grenzen. Aber nicht nur die Grenzziehung, auch die Überschreitung bzw. Verletzung gesetzter Wert- und tradierter Moralvorstellungen ist ein Moment dieses Aushandlungsprozesses, durch den der Gegenstand immer wieder in Transformation begriffen ist. Wenn der Diskurs, wie in den theoretischen Vorüberlegungen ausgeführt, eine Menge von Aussagen ist, die dem gleichen Formationssystem zugehörig sind6, ist das ethische Verhalten insbesondere auf sprachlicher Ebene zu verorten.7 Das Sprechen über den Krieg, so soll im Folgenden gezeigt werden, beinhaltet auf spezifische Weise ethische und moralische Aspekte. Damit sind nicht nur theoretische Überlegungen wie zu dem Gedankenkonstrukt eines gerechten Krieges gemeint. Damit sind auch Bewertungen gemeint, die in dem Sprechen über Krieg implizit oder explizit zum Ausdruck kommen. Die dabei diskursiv ausgehandelten, in einem reziproken Wechselverhältnis zueinanderstehenden moralischen und ethischen Positionen sind dabei nicht starr und zeitüberdauernd. Durch spezifische Prozesse innerhalb der Diskurse werden ethische Fragen verhandelt, wobei ganz unterschiedliche Momente einbezogen und Sprecher berücksichtigt und andere, die außerhalb des Sag- und Wissensraums stehen, ausgeschlossen werden. Gerade dies ist in Hinblick auf das Sich-ins-Verhältnis-Setzen zum Diskurs relevant, da es auch die Frage um-

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WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen, S. 33. Vgl. auch SCHMAUS, Marion: Die poetische Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 132. In Hinblick auf Foucault formuliert Gilles Deleuze: »Die Moral stellt sich dar als ein Ensemble von zwingenden Regeln eines speziellen Typs, Regeln, nach denen Handlungen und Absichten beurteilt werden, indem sie diese auf transzendentale Weise beziehen (das ist gut, das ist böse…); die Ethik ist ein Ensemble faktualer Regeln, nach denen das, was wir tun, was wir sagen, entsprechend der Existenzweise bewertet wird.« (DELEUZE, Gilles: Das Leben als Kunstwerk. Gespräch mit Didier Eribon, in: Ders.: Unterhandlungen. 19721990. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 136-146, hier S. 145.) Vgl. FOUCAULT, Michel: Archäologie des Wissens, S. 156. Vgl. auch Abschnitt I, Kapitel 2.1. Vgl. WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen, S. 31ff.

M ORALISCHE UND

ETHISCHE

DIMENSIONEN DER G RENZE

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fasst, was vom Diskurs ausgeschlossen wird.8 Mit der Prämisse, dass sich ein ethisches Verhalten vor allem über Sprache konstituiert, ist es zugleich auch ein wichtiger Bestandteil der Literatur.9 Die hier untersuchten Romane können bereits durch ihren Inhalt in Beziehung mit einem ethischen Schreiben gebracht werden. Denn: Die Einstellung zum Krieg ist bis heute geprägt durch die geschichtlichen Ereignisse des Ersten, aber hauptsächlich auch des Zweiten Weltkrieges, die im öffentlichen Diskurs eine langjährige (auch literarische) Reflexion der Schuldfrage anstießen. Zwar kann eine Abkehr von der Diskursaussage ›Nie wieder Krieg‹ der Nachkriegszeit hin zu der aktiven Beteiligung an verschiedenen Kriegseinsätzen im Ausland konstatiert werden,10 allerdings beeinflusst die Vergangenheit das gegenwärtige Bild des Soldatenberufs und verschiebt die Aufgabenbereiche vom aktiven Kampf hin zu Wiederaufbau, humanitären Hilfeleistungen und Stabilisierung. Somit ist der Krieg mit den Aspekten des Tötens und der Gewalt etwas vom Diskurs Ausgeschlossenes – er übt zwar großen Einfluss auf die Einstellung und die Werturteile aus, zugleich findet man jedoch dezidierte Distanzierungen und Verurteilungen. Zudem kann festgehalten werden, dass diese spezifischen gegenwärtigen Kriege außerhalb des Erfahrungsraums der deutschsprachigen Rezipienten liegen. Zwar wird das Kriegsgeschehen medial aufgearbeitet – und das in einem Ausmaß, das die medialen Erzeugnisse anderer Kriege deutlich übersteigt –, aber eine unmittelbare Kriegserfahrung, die mit der Situation der beiden Weltkriege vergleichbar wäre, kann im Zusammenhang der neuen Kriege in Deutschland nicht festgestellt werden.11 Im Gegenteil: Das eigentli8

In Foucaults frühem Text Vorrede zur Überschreitung kommt dies zum Ausdruck: »[D]ie Grenze öffnet sich gewaltsam auf das Unbegrenzte hin, erfährt sich plötzlich von dem von ihr verworfenen Inhalt mitgerissen und von einer eigentümlichen Fülle vollendet, die bis in ihr Innerstes dringt. Die Überschreitung treibt die Grenze bis an die Grenze ihres Seins; sie bringt sie dazu, im Moment ihres drohenden Verschwindens aufzuwachen, um sich in dem wiederzufinden, was sie ausschließt (genauer vielleicht, sich darin zum ersten Mal zu erkennen), und um ihre tatsächliche Wahrheit in der Bewegung ihres Untergangs zu erfahren.« (FOUCAULT, Michel: Vorrede zur Überschreitung, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. I: 1945-1969, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 320-342, hier S. 325. Vgl. dazu auch GEHRING, Petra: Innen des Außen – Außen des Innen. Foucault. Derrida. Lyotard. München: Fink 1994, bes. S. 1589.) 9 Waldow hält für die Gegenwartsliteratur fest, dass sich diese im Nachklang der Shoaherfahrung, aber auch in Auseinandersetzung mit den Anschlägen vom 11. September 2001 vermehrt einem ethischen Schreiben zuwende. Die von der Postmoderne hervorgebrachte Indifferenz und der postulierte Schwebezustand des Subjekts würden nun neuen Sinnangeboten und Positionierungen der Literatur weichen (vgl. WALDOW, Stephanie: Schreiben als Begegnung mit dem Anderen, S. 17f.). 10 Vgl. SCHWAB-TRAPP, Michael: Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991-1999. Opladen: Leske + Budrich 2002; GEIS, Anna: Den Krieg überdenken. Kriegsbegriffe und Kriegstheorien in der Kontroverse, S. 9-46. 11 Diese fehlende Erfahrung kann für eine Reflexion des Krieges indes durchaus positiv sein. So kommt beispielsweise Kai van Eikels zu dem Schluss, dass es eine Ethik überhaupt nur ohne Erfahrung geben kann. »Das Ethische hat daher ohne eine solche quasi experimentel-

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che Kriegsgeschehen findet in geographisch weit entfernten Ländern statt. Damit soll nicht abgesprochen werden, dass durch die terroristischen Attentate auch innerhalb Europas, wie in Madrid, London oder Paris, sich das Gefühl eines ›Näherkommens‹ des Krieges und des Terrors durchaus etabliert, allerdings geht es hier weniger um die kriegerische Auseinandersetzung, in die auch die deutsche Bundeswehr involviert ist, sondern vielmehr um das für die neuen Kriege festgehaltene Charakteristikum der räumlichen und zeitlichen Entgrenzung. Mit den gewandelten Strukturen der gegenwärtigen Kriegsformen gehen insgesamt neue Aushandlungsprozesse einher, zum Beispiel die Frage nach der Preisgabe von Teilen der Privatsphäre des Individuums im Dienste einer besseren staatlichen Überwachung, die potentiell terroristische Anschläge verhindern kann. Oder die Frage, inwiefern Staaten internationalen Abkommen wie den Genfer Konventionen verpflichtet sind, wenn die ›andere Seite‹, zum Beispiel terroristische Organisationen, sich offensichtlich nicht daran halten. Oder auch die Frage, inwiefern das idealisierte Bild eines symmetrischen Krieges, das nicht nur gleichartige Gegner beinhaltet, sondern auch das Ziel impliziert, einen Friedenszustand wiederherzustellen, noch zutrifft. Auch mit den waffentechnischen Entwicklungen gehen völlig neue moralische und ethische Fragen in den Diskurs ein, die auch die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens unter geänderten Prämissen zur Disposition stellen. Der Drohneneinsatz, der nunmehr zahlreiche Kampfeinsätze charakterisiert und in den Augen vieler Kritiker eher einem Computerspiel als einem Kriegsgeschehen ähnelt,12 ist nicht vereinbar mit der Vorstellung eines zwischenstaatlichen Zweikampfes. Durch die Distanz, die durch die Drohne zwischen den Gegnern geschaffen wird, die auf der einen Seite nicht mehr das Leben des eigenen Soldaten gefährdet, dafür aber auf der anderen Seite dem Gegner jede Chance auf Verteidigung nimmt, werden ethische Reflexionen angeregt, die sich im Kontext staatlicher Kriege in dieser Form nicht stellten. Neben dem Drohneneinsatz werden auch vermehrt private Firmen engagiert, die militärische Operationen übernehmen. Münkler stellt resümierend fest: »Was ist ethisch zu bevorzugen, wenn man selbst nicht die Kämpfer hat, die man in entsprechender Anzahl opfern kann: ihr Ankauf aus anderen Gesellschaften oder ihre Ersetzung durch

le Bestätigung durch die Erfahrung zu bleiben. […] Das Ethische […] bezeichnet gerade den Bruch mit der Erfahrbarkeit.« (EICKELS, Kai van: Dankbar für nichts. Gibt es eine Ethik ohne Erfahrung?, in: Kinzel, Ulrich (Hrsg.): An den Rändern der Moral. Studien zur literarischen Ethik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 9-24, hier S. 12.) 12 Vgl. zur Kritik am Kriegseinsatz von Drohnen u.a. BIERMANN, Kai: Die zynischen Regeln des Drohnenkrieges, in: Zeit online vom 16.10.2015. http://www.zeit.de/politik/ausland/ 2015-10/usa-drohnen-drohnenkrieg-rechtfertigung [letzter Zugriff: 07.06.2017]; NEŠKOVI", Wolfgang: Obamas Drohnenkrieg ist völkerrechtswidrig, in: Cicero. Magazin für politische Kultur vom 19.06.2013. http://www.cicero.de/weltbuehne/usa-obamas-drohnen krieg-widerspricht-dem-voelkerrecht/54739 [letzter Zugriff: 07.06.2017]; S TERN , Johannes: Herfried Münkler preist Kampfdrohnen und Giftgas als »humane« Waffen, in: Schwarz, Peter (Hrsg.): Wissenschaft oder Kriegspropaganda. Essen: Mehring 2015, S. 8994.

M ORALISCHE UND

ETHISCHE

DIMENSIONEN DER G RENZE

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hochmoderne Waffensysteme? Das ist die Schlüsselfrage in der Debatte über die Ethik des Krieges unter den Bedingungen neuer Kampfsysteme.«13

Auch wenn diese Diskussion hier nicht vertieft werden soll, ist es doch in diesem Zusammenhang entscheidend darauf hinzuweisen, dass das Sprechen über den Krieg immer an situative, zeitliche und räumliche Bedingungen geknüpft ist, die die Aushandlungsprozesse moralischer und ethischer Diskurse beeinflussen. Die Romane über die neuen Kriege eröffnen so einen Erfahrungsraum in zweifacher Perspektive: Zum einen wird das vermeintlich ›Andere‹ des Krieges thematisiert und deutlich, dass dieser nicht der antithetische Zustand des Friedens ist, sondern einen existenziellen Teil der Kultur und der Gesellschaft bildet, zum anderen werden die gewandelten Strukturen der gegenwärtigen Kriege fokussiert, die auch eine Wandlung ethischer und moralischer Implikationen hervorbringen. Neben dieser grundsätzlichen, auf das Thema bezogenen Positionierung der Romane zum Diskurs finden sich noch weitere Strategien eines vornehmlich moralischen, aber auch ethischen Schreibens. Interessanterweise stößt gerade das interdiskursive Moment der Romane ein In-Beziehung-Setzen an. Denn durch die Aufnahme verschiedener Spezialdiskurse in die Romane, die nicht nur dargestellt, sondern auch reflektiert und zum Teil auch kritisiert werden, verhandelt die Literatur zum einen ihre Inhalte, kann sich zum anderen auch von ihnen abgrenzen und sie als ›anders‹ markieren. Dies geschieht auch dann, wenn andere, alternative Möglichkeitsräume eröffnet werden. Am Beispiel des medialen Diskurses soll dies später verdeutlicht werden. Das Ziel dieses Abschnitts ist, die aus den Einzeluntersuchungen hervorgegangenen heterogenen Ergebnisse unter dem Aspekt des moralischen und ethischen Sprechens über den Krieg zu betrachten. Dabei sollen auch an dieser Stelle keine starren Kategorien entworfen, sondern unterschiedliche Aspekte beleuchtet werden, die in verschiedenen Zusammenhängen in den Romanen verhandelt werden. Leitfragen in diesem Zusammenhang sind: Was sagen die untersuchten Romane über das Phänomen der neuen Kriege aus? Welche moralischen und ethischen Implikationen verhandeln die Romane, an denen sich unter anderem ihre politische Dimension zeigt? Wie positionieren sie sich zum Thema Krieg? Gibt es Aussagen, die auch noch nach Beendigung der spezifischen real-historischen Kriege bestehen bleiben, oder sind ihre Aktualität und ihre Gegenwärtigkeit auf das akute Kriegsgeschehen begrenzt?14 Diese Fragen sind, ebenso wie die formal-ästhetischen Aspekte der Romane, in direktem Zusammenhang mit den Grenzkonstruktionen zu betrachten.

13 MÜNKLER, Herfried: Kriegssplitter, S. 207. 14 Braungart unterscheidet drei Typen der literarischen Gegenwärtigkeit. Während die hier untersuchten Texte alle zu der Kategorie der kontextbezogenen Gegenwärtigkeit gezählt werden können, die bestimmte Aspekte der Gegenwart (hier die Kriege) fokussiert, stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern sie zudem eine »zeitlose Gegenwärtigkeit« ausstellen (vgl. BRAUNGART, Wolfgang: Gegenwärtigkeiten der Literatur, S. 14.).

2. Die literarische Einhegung des Krieges – formal-ästhetische Aspekte

Die Frage nach einer Form-Inhalt-Korrespondenz literarischer Werke ist eine literaturwissenschaftliche Standardfrage, die sich auch in dem Kontext dieser Arbeit stellt. Die Spezifik dieser Korrespondenz liegt in diesem Zusammenhang zuerst darin, dass das Thema der neuen Kriege durch ihre Mechanismen der Entgrenzung auf verschiedenen Ebenen mit der Neigung ›postmoderner‹ Literatur zur formalen Entgrenzung direkt zusammenfallen könnte.1 So wäre eine heimliche ›Komplizenschaft‹ denkbar, die die Literatur mit diesem Thema eingeht, um Entgrenzungen zu realisieren. Umso interessanter ist es, dass die literarischen Texte auf formal-ästhetischer Ebene derartige Entgrenzungen nicht umsetzen, im Gegenteil: Sie weisen eine klare Tendenz zu klassischen Erzählmustern auf. Auch wenn fast alle literarischen Werke anachronistische Elemente, vor allem Analepsen, beinhalten, konstituieren sie im Sinne traditioneller Erzählweisen logisch aufgebaute und zusammenhängende Erzählungen. Selbst die Romane, denen formal-ästhetische Besonderheiten inhärent sind, beispielsweise der grenzmarkierende Wechsel der Erzählerperspektive in dem Werk Ein Zimmer im Haus des Krieges, der sowohl einen Terroristen als auch einen Botschafter zu Wort kommen lässt, oder der verschiedene Perspektiven einbeziehende Roman Das Handwerk des Tötens, zeigen eine chronologisch geordnete Erzählung. Auch der Rückzug in das Innere eines Protagonisten, wie er in den Romanen Die Sprache der Vögel und Guantánamo durchgespielt wird, entbehrt nicht einer zusammenhängenden Erzählung. Bei Ersterem wird die Ordnung durch den Konstruktionsakt einer Figur, die die Tagebucheinträge eines Soldaten in eine spezifische Reihenfolge bringt, hergestellt.

1

Vgl. AUDEHM, Kathrin/VELTEN Hans Rudolf: Einleitung, S. 27. Vgl. auch Alois Hahn, der als Konsequenz der Norm zur Schaffung von etwas Neuem das Gegenteil derselben ausmacht: »Die Pflicht, stets etwas Neues zu schaffen, steht gerade dann, wenn sie als Konstante begriffen wird, in einem eigentümlichen Widerspruch zu sich selbst: Wer ihr genügt, fügt sich der Tradition, der Tradition zu widersprechen. Nur durch Wiederholung könnte man also der immer wiederholten Praxis, sich nicht zu wiederholen, entsprechen. Die eigentliche Transgression wäre, auf Transgression zu verzichten.« (HAHN, Alois: Transgression und Innovation, in: Helmich, Werner/Schulz-Buschhaus, Ulrich (Hrsg.): Poetologische Umbrüche. Romantische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus. München: Fink 2002, S. 452-465, hier S. 462f.)

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Bei Letzterem spielt zwar der Zeitverlust des Protagonisten eine besondere Rolle, aber auch hier ist, nicht zuletzt durch die räumlichen Grenzen und die Grenzen der rigiden Lagerordnung, eine klare Einteilung und Struktur der Erzählung gegeben. Neben diese kohärenten Erzählmuster tritt das vermehrte Vorkommen unterschiedlicher Paratexte, die, oftmals in Form von Glossaren oder sogar Literaturhinweisen, einen wirklichkeitssuggerierenden Raum eröffnen, was die Erzählung in ihrer Kohärenz stützt und ihr vermeintlich Glaubhaftigkeit verleiht. Damit kann hinsichtlich der formal-ästhetischen Konstruktionen festgestellt werden, dass die untersuchten Werke trotz unterschiedlicher Formen grundsätzlich nicht danach streben, dem entgrenzten Phänomen der neuen Kriege auch auf formaler Ebene zu entsprechen – eine Form-Inhalt-Korrespondenz konnte dementsprechend nicht festgestellt werden. Vielmehr scheint der Versuch vorzuherrschen, dem unübersichtlichen Kriegsgeschehen mit seinen zahlreichen Akteuren sowohl von international-staatlicher als auch paramilitärischer Seite, den verschiedenen interkulturellen Konstellationen und geographischen Varietäten mit einer vornehmlich geschlossenen Erzählung entgegenzuwirken. Gerade diese formalen Grenzziehungsprozesse offenbaren dabei ein Kerncharakteristikum der Grenze: Sinnstiftung. Durch die äußere Form einer kohärenten Erzählweise wird ein inhaltlich potentiell unverständliches Phänomen, das nicht aus dem Erfahrungsraum der meisten Rezipienten stammt, sinnvoll gegliedert und in eine stringente Narration gebracht – das Unübersichtliche der neuen Kriege wird so literarisch eingehegt. Gerade durch diese sinnstiftende Funktion äußert sich das ethische Schreiben: Die Romane positionieren sich durch Stringenz und Kohärenz, die eine sinnhafte Erzählung konstruieren sowie ein ›Mehr‹ hervorbringen, als andere, lediglich ausschnitthafte mediale Darstellungsformen, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

3. Interdiskursive Kritik an medialen Darstellungsformen der neuen Kriege

Neben den untersuchten formal-ästhetischen Aspekten der literarischen Verarbeitung der neuen Kriege ist auch die Frage nach der interdiskursiven Auseinandersetzung der Romane mit anderen medialen Erzeugnissen relevant, vor allem weil die massenmediale Aufbereitung von gegenwärtigen Kriegsgeschehnissen den Informationszufluss des Rezipienten dominiert: Zeitungen, Fernsehen und Internet sind die Medienformen, die zur Informationsbeschaffung am häufigsten genutzt werden.1 Auf der anderen Seite ist für die Massenmedien aber auch eine zunehmende Relevanz in Bezug auf die Verbreitung der Weltanschauung und Propaganda beider Seiten zu konstatieren, wodurch die Medien – gewollt oder ungewollt – zu Akteuren des Krieges werden. Indem die Romane die Tradition der Kriegsliteratur fortführen und zudem häufig Stellung zu verschiedenen Formen der Aufbereitung beziehen, schreiben sie sich neben ihrer eigenen medialen Beschaffenheit auch auf einer reflexiven Ebene in den medialen Diskurs ein. Diese Positionierung, die auf der interdiskursiven Beschäftigung mit anderen Medien innerhalb der Kriegsdarstellung und deren Akteuren basiert, geht häufig mit einer negativen Bewertung einher. Der Roman Kriegsbraut kontrastiert in diesem Sinne die Ideen eines Filmemachers mit der literarischen Kriegsrealität, wodurch die filmische Inszenierung des Krieges als absurd und, gemessen an der fiktiven Welt, mehr als unrealistisch gekennzeichnet wird. Mehr noch: Die auch auf moralischer Ebene fragwürdige und in dem Roman kritisierte Aussage, dass das Rezipieren von Kriegsfilmen mehr anerkannte Expertise einbringen würde als die eigene Teilnahme (z.B. als Soldat) an dem Kriegsgeschehen, zeigt

1

Vgl. zu den gewandelten Medienpraktiken u.a. BEHAM, Mira: Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996; IMHOF, Kurt/SCHULZ, Peter (Hrsg.): Medien und Krieg – Krieg in den Medien. Bd. 1. Zürich: Seismo 1995, darin bes. WILKE, Jürgen: Krieg als Medienereignis – Konstanten und Wandel eines endlosen Themas, S. 21-35; LÖFFELHOLZ, Martin (Hrsg.): Krieg als Medienereignis. Grundlagen und Perspektiven der Krisenkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993; PALM, Goedart/RÖTZER, Florian (Hrsg.): MedienTerrorKrieg. Zum neuen Kriegsparadigma des 21. Jahrhunderts. Hannover: Heise 2002, darin bes. PALM, Goedart: But we are under attack. Kriegsstimmungen zwischen Propaganda und Informationskrieg, S. 106-124; WERBER, Nils: Krieg in den Massenmedien, S. 175-189.

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die filmischen Inszenierungen in ihrer Machtposition innerhalb des medialen Geflechts zuallererst auf, um diese Position durch den kontrastiven Vergleich mit dem fiktiven Kriegsalltag zugleich als äußerst bedenklich zu markieren. Eine moralische Haltung in Bezug auf seine Verarbeitung des Afghanistankrieges scheint für den Filmemacher keine Rolle zu spielen, was besonders in Bezug zu Esthers Aushandlung der Schuldfrage, die im Wesentlichen auf der Frage nach einer moralischen Verantwortung als Soldatin basiert, eine große Divergenz ausstellt. Damit grenzt sich der Roman dezidiert von einer filmischen Darstellung ab, ohne jedoch Merkmale einer reflexiven Haltung einzunehmen: Dass der Roman ebenfalls ein fiktives Medium ist, dessen Darstellungen keinesfalls Abbildungen der Wirklichkeit sind, wird nicht explizit reflektiert. Die Grenze konstituiert sich dadurch in ihrer Funktion einer starren Linie, die die beiden Bereiche – Literatur und Film – unterschiedlichen Teilen zuweist und somit voneinander abtrennt. Anders gelagert ist Die Sprache der Vögel durch die Hervorhebung eines allgemeinen Sprachpessimismus, der das Unvermögen beinhaltet, das Kriegsgeschehen in Sprache zu fassen, um es vermittelbar zu machen. Damit werden nicht nur mediale Darstellungsformen, sondern auf einer Metaebene auch die Literatur als Mittlerinstanz im Allgemeinen hinterfragt. Der hier gezeigte Ausweg liegt vor allem in der Inszenierung des Inneren des Protagonisten, der sich in den Tagebucheinträgen, also einer Textsorte, die in erster Linie der Selbstreflexion und nicht unbedingt als Mittler dient, manifestiert. Während hier also ein (mediales) Übermitteln von Kriegserfahrung als kaum möglich vorgeführt wird, liegt ein anderes Moment der interdiskursiven Auseinandersetzung mit anderen Medien gerade in der Darstellung von berufsbedingten Vermittlern: den Kriegsreportern. Der Berichterstatter Martens kritisiert in Das Leuchten in der Ferne die anderen Medienakteure dahingehend, dass nur einige Wenige darüber entscheiden, wer eine Sprecherposition innerhalb des medialen Diskurses einnehmen darf und damit zugleich auch, welche Meinungen ausgeschlossen werden. Zudem hebt er die Subjektivität seiner Reportagen als Vorteil in der Darstellung des Krieges hervor. In diesem Sinne konstatiert er, dass es in einem Kriegsgeschehen grundsätzlich keinen unbeteiligten Beobachter geben kann, wodurch dieses in den Medienwissenschaften hinlänglich beschriebene Phänomen der zumindest passiven Involvierung der Kriegsreporter in das Zentrum der Kritik gerückt wird. Das bedeutet, in der Argumentationsstruktur des Protagonisten, dass die unmittelbare Kriegserfahrung, die Präsenz innerhalb des Kriegsgeschehens, auf der die Berichte basieren, zu einer realitätsgetreuen Wiedergabe führt – Positionierungen und Wertungen erschließen sich aus dem eigenen Erfahrungsraum.2 2

Damit wird von der Figur ein Argument verfolgt, das diametral zu dem »ethisch begründete[n] Qualitätsmodell« steht, das in Bereichen des wissenschaftlichen Journalismus ausgearbeitet wurde. (BILKE, Nadine: Kriegsberichterstattung, in: Schicha, Christian/Brosda, Carsten (Hrsg.): Handbuch Medienethik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 442-453, hier S. 448.) Dieses Modell, das zu einer »ethisch verantwortungsvolle[n] Kriegsberichterstattung« (ebd., S. 450.) führen soll, beinhaltet verschiedene Kriterien. So beispielsweise ›Wahrhaftigkeit‹, die durch stete Selbstreflexion gewährleistet werden soll und ›Richtigkeit‹, die zum einen durch die »Vielfalt von Positionen und Blickwinkeln« (ebd., S. 448.) erreicht werden kann und zum anderen eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit garantiert. Martens’ Fokussierung auf sich selbst und seine Subjektivität steht einer

I NTERDISKURSIVE K RITIK AN MEDIALEN D ARSTELLUNGSFORMEN DER NEUEN K RIEGE

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Die Aussagen der Figur jedoch sind häufig pauschalisierend und lassen auf durch klare Grenzlinien eingeteilte Räume schließen, die sich dann vermutlich auch in den Artikeln widerspiegeln. Die damit zumindest implizite Kritik an anderen medialen Darstellungen des Krieges könnte demnach auf eine voreingenommene Position der Medienakteure schließen lassen, die die Akteure des Krieges mit deutlich intentionalen Konnotationen belegt. Damit wird eine doppelte Perspektivierung eröffnet: Einerseits werden durch die machtbasierten Ausschlussmechanismen des Mediendiskurses, die nicht jedem Teilhabe gewähren, Stimmen ausgeschlossen, was den Diskurs nicht vollumfänglich, sondern spezifisch werden lässt, zum anderen sind die Stimmen, in Form der Reportagen, die innerhalb des Diskurses eine Sprecherposition haben, perspektivisch. Auch die Romane Das dunkle Schiff und Ein Zimmer im Haus des Krieges machen die Prinzipien der Verknappung und Regulierung des Zugangs am Diskurs deutlich, indem sie vom medialen Diskurs ausgeschlossene Stimmen selbst einbringen – denn es wird fast ausschließlich über Terroristen gesprochen, aber nicht mit ihnen. Diese kritische Beleuchtung der Perspektivierung findet in dem Roman Das Handwerk des Tötens sein Extrem der expliziten Medienkritik. Hier werden nicht nur die journalistischen Arbeiten als mit Intentionen versehene, selbst hervorgebrachte Konstrukte entlarvt, die vor allem dazu dienen, das Kriegsgeschehen für Schlagzeilen zu instrumentalisieren, sondern die literarische Verarbeitung selbst wird kritisch hinterfragt, indem die Schriftsteller als eine Art Nutznießer der Grausamkeiten inszeniert werden. In diesem grenzüberschreitenden Rundumschlag der Darstellungskritik, die zugleich auch selbstreflexiv ist, wird das ethische Moment, die Positionierung zum Diskurs, deutlich. Der Roman ist damit der einzige des Korpus, der die moralischen Aspekte der medialen Kriegsdarstellung auf einer Metaebene untersucht und so zu einer ethischen Reflexion gelangt. Allerdings geht dieses ethische Moment zugleich einher mit der Abkehr von einer eigenen Hervorbringung der Kriegsdarstellung, wodurch der Krieg eine Leerstelle bleibt. Damit stellt der Roman aus, was den medialen Aufbereitungen des Krieges fehlt – eine Reflexion über ethische und moralische Aspekte –, er ist aber im Rückschluss nicht dazu in der Lage, den sie auszeichnenden Inhalt darzustellen. So kann festgehalten werden, dass sich die Romane dezidiert in das Geflecht medialer Darstellungsformen des Krieges einschreiben. Sie beziehen häufig Stellung, überwiegend zu anderen Medien, und grenzen sich in kritischer Distanzierung von ihnen ab. Diese Mechanismen der Trennung können auch auf einer moralischen Ebene betrachtet werden, denn die zumindest implizit, vermehrt auch explizit dargestellte Sensationslust der medialen Akteure bestimmt nicht nur das vermeintlich eindimensionale Bild des Krieges, das ausschließlich Gewalt, Schrecken etc. fokussiert, sondern muss auch hinsichtlich moralisch fragwürdiger Aspekte, wie aus dem Leiden Anderer Profit zu schlagen, betrachtet werden. Die Literatur, die sich von einer derartigen Haltung distanziert, versucht oftmals ein mehrdimensionales Bild zu kreieren. Das einzig konsequente Ergebnis bietet der Roman Das Handwerk des Tötens mit seiner kritischen Reflexion jeglicher Darstellungsformen. Das Dilemma, einerseits derartigen Vielfalt und Überprüfungsmöglichkeit bereits im Ansatz entgegen, wodurch seine ethische aber auch moralische Haltung bezüglich der Berichterstattung im Krieg insgesamt fragwürdig wird.

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informieren zu wollen und andererseits nicht aus Sensationslust heraus zu agieren, wird damit jedoch ebenso nicht gelöst, ist der Rezipient doch hier nicht in der Lage, sich ein Bild des Jugoslawienkrieges zu machen. Der Roman sensibilisiert vielmehr für die Darstellungsproblematik auf ethischer Ebene. Neben der kritischen Distanzierung zu anderen medialen Erzeugnissen wird in den literarischen Texten vermehrt das Problem einer wahrheitsgemäßen, d.h. ›Realität‹ abbildenden Darstellung hingewiesen. Während die Literatur in dem Bereich Fiktion verortet ist – obwohl einige Romane durch ihre Wahrheitsvermittlung suggerierenden Paratexte dem vermeintlich entgegenwirken –, wird immer wieder vorgeführt, dass auch die Darstellungen anderer Medien eben keine faktische Abbildung des Krieges hervorbringen können. Sie sind demnach selektiv und zudem intentional gesteuert. Auf der anderen Seite wird aber auch gezeigt, wie groß die Macht der Massenmedien auf die Rezipienten ist. Durch die Hervorhebung der perspektivischen und intentionalen Sicht sowie des Konstruktionscharakters kann im Rezeptionsakt ein Abgleich mit dem im Normalfeld etablierten Meinungsbild angestoßen werden, was potentiell Differenzen offenbart. Gleichgültig, ob die literarischen Werke dies indirekt in Bezug auf die Darstellung der anderen Stimmen oder direkt durch die kritische Darstellung anderer Medien ausstellen, deutlich wird mithin, dass die Massenmedien kritisch reflektiert werden. So positioniert sich die Literatur über die neuen Kriege innerhalb des Mediengeflechts als das ›Andere‹, das mehr hervorzubringen in der Lage ist, als die auf Schnelligkeit, Informationswert und ökonomische Interessen ausgerichteten Massenmedien und hebt durch diese Abgrenzung zugleich ihren eigenen Wert hervor.

4. Kritik am Krieg – grenzenlose Ideologie?

Ein bemerkenswertes Moment der Romane tritt in ihren bewertenden Aussagen über den Krieg hervor, die sich sowohl auf das spezifisch dargestellte Kriegsgeschehen beziehen als auch in allgemeinen Aussagen über den Krieg manifestieren. Die Einstellung zu kriegerischen Konflikten ist im Zusammenhang mit ethischen und moralischen Aspekten besonders interessant, denn: »Keine gesellschaftliche Realität ist […] so sehr durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Meinungen geprägt wie der Krieg.«1 Diese Aussagen werden immer aus einer bestimmten Position bzw. Perspektive heraus getroffen, die keineswegs eine feste Entität darstellen, sondern ebenfalls diskursiven Aushandlungen unterliegen. In einem ganz allgemeinen Sinne kann man hier von ideologischen Aussagen sprechen. Die äußerst negativen Konnotationen, die mit dem Begriff ›Ideologie‹ seit Napoleon verbunden werden,2 stehen hier nicht im Vordergrund. Vielmehr wird unter Ideologie im Folgenden ein flexibles Netz von Ideen, Wertevorstellungen, Einstellungen und Meinungen in Bezug auf den Krieg verstanden, das charakteristisch für Gesellschaften oder Gruppen ist und auf das Handeln dieser Personen Einfluss hat.3 Dieses Netz, das häufig mit Bewertungs1

2 3

JAEGER, Stephan/PETERSEN, Christer: Einleitung, in: Dies. (Hrsg.): Zeichen des Krieges in Literatur, Film und den Medien. Bd. 2: Ideologisierung und Entideologisierung. Kiel: Ludwig 2006, S. 7-12, hier S. 7. Vgl. EAGLETON, Terry: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler 1993, S. 81ff. Vgl. ebd., S. 8. Terry Eagleton macht zu Recht darauf aufmerksam, dass nicht jede Aussage als ideologische bestimmt werden sollte. »Die Bedeutung der Begriffe [Ideologie und Macht] jedoch so weit auszudehnen, daß sie einfach alles erfassen, hieße, sie jeglicher Schlagkraft zu berauben und entspräche letztendlich den Zielen der herrschenden Ordnung. Man kann mit Nietzsche und Foucault darin übereinstimmen, daß Macht überall ist und dennoch aus praktischen Gründen zwischen zentralen und marginalen Formen von Macht unterscheiden wollen.« (Ebd., S. 15.) Von Eagleton wird daher die Möglichkeit einer Differenzierung zweier Ebenen von Interessen angeführt, die zwischen Interessen gesellschaftlicher Gruppen und Interessen von Individuen unterscheidet, wobei er deutlich macht, dass letztere nicht als ideologisch zu bezeichnen sind: »Ideologie beschreibt eher die Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen als das unstillbare Verlangen eines Einzelnen nach Schellfisch.« (Ebd., S. 17.) Auch wenn an dieser Stelle Eagletons Einwand der Unschärfe und vor allem der Relevanz von ›gesellschaftlichen Interessen‹ grundsätz-

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mechanismen einhergeht, die vornehmlich nicht die eigene, als Norm verstandene Ideologie reflektieren, sondern die ›der Anderen‹ abwerten,4 ist wiederum von den diskursiven Aushandlungsprozessen abhängig und entfaltet sich in Sprache, Bildern und anderen Repräsentationsformen. Jaeger und Petersen machen in diesem Zusammenhang deutlich, dass sich erst innerhalb dieser semiotischen Prozesse Dichotomien herausbilden, die dazu dienen, den eigenen Standpunkt innerhalb des Kriegsgeschehens zu rechtfertigen.5 Die Frage, die sich in diesem Kontext nun stellt, lautet, inwiefern die untersuchte Literatur Ideologien vermittelt, aber auch inwiefern sie sich selbst als mediale Repräsentation, die als Mittler gesellschaftliche Ideologien und Normen transportiert, wahrnimmt und sich als solche kritisch reflektiert. Jaeger und Petersen schlagen den Begriff der ›Entideologisierung‹ vor, der auf drei verschiedenen Bedeutungsebenen Verwendung findet: wenn die Ideologie zur unhinterfragten Norm wird, die es den Akteuren ermöglicht, handlungsfähig zu sein; wenn ein Reflexionspotential der Darstellung zu erkennen ist, d.h. der Versuch unternommen wird, verschiedene Seiten darzustellen und zu reflektieren (wobei es keine vollkommen neutrale Position geben kann); und wenn eine Metareflexion des Entideologisierungsprozesses deutlich wird, die in der Darstellung die Schwierigkeiten der Darstellung reflektiert und damit beim Rezipienten ein Bewusstsein für die Problematiken hervorruft.6 Dieses Spektrum ist auch in den untersuchten Werken erkennbar, wobei auch in diesem Falle die Grenzen der Kategorien fließend sind. Vorangestellt ist hier der einzige Roman zu betrachten, der nicht Figuren deutscher Herkunft bzw. Figuren, die im deutschen Kulturraum agieren, in den Mittelpunkt der Handlung stellt, sondern die Perspektive eines Amerikaners auf das Kriegsgeschehen einnimmt: Das amerikanische Hospital. Der Soldat spricht sich dezidiert für die Kriegsführung aus – zur Verhandlung steht vor allem der Zweite Golfkrieg – und zwar aufgrund einer moralischen Verpflichtung der USA, die aus Mitteln, Kenntnissen und Machtverhältnissen resultiert. Auch wenn deutlich wird, dass bei dem Protagonisten eine Posttraumatische Belastungsstörung durch den Krieg hervorgerufen wurde und er im Laufe der Handlung die schlechte Versorgungslage für Soldaten kritisiert, tangiert dies nicht die rechtfertigende Haltung für einen Krieg im Allgemeinen, denn ohne ihn besteht die Möglichkeit, dass noch »Schlimmeres« (AH 197) hätte passieren können. Die Argumentationsstruktur umfasst damit zwei Aspekte: Erstens die moralische Verpflichtung aufgrund der Überlegenheit der einen Seite – d.h. das Merkmal der Asymmetrie der neuen Kriege verpflichtet die staatliche Seite zum Handeln. Die waffentechnologische und personale Stärke wird demnach zum Unterscheidungskriterium für richtiges, gutes Handeln. Unterlassung trotz dieses Vorteils, so der Umkehrschluss, ist auf moralischer Ebene zu verurteilen. Damit

4 5 6

lich zugestimmt wird, wird hier ein solches gesellschaftliches Interesse für den Kontext des Krieges postuliert, da davon auszugehen ist (und damit Eagletons Bedingungen einer ideologischen Aussage erfüllt wird), dass der Aushandlungsprozess innerhalb des Kriegsdiskurses mit seinen Interessen und Machtkonflikten eine zentrale Rolle in der Gesellschaft spielt (vgl. ebd., S. 18.). Vgl. JAEGER, Stephan/PETERSEN, Christer: Einleitung: S. 9. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 10f.

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GRENZENLOSE IDEOLOGIE ?

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verbunden ist auch der zweite Aspekt der Argumentation Cotes: Der Krieg wird durch eine potentiell schlechtere Zukunftsperspektive gerechtfertigt, was die Grundlage für einen Präventivkrieg stärkt. Damit ist die hier durch den amerikanischen Soldaten ausgestellte Perspektive eindeutig: Kriegshandlungen sind richtig, wenn das Eigene im hierarchischen Machtgefüge die höhere Position einnimmt und damit Schlechtes verhindern kann. Diese für die amerikanische Figur folgerichtige Sicht bezüglich moralischer Implikationen des Krieges zeigt zum einen auf, dass trotz einer grundsätzlich gleichen ideologischen Basis – der Demokratie – völlig unterschiedliche moralische Rückschlüsse hinsichtlich des Kriegführens entstehen können. Denn während die Figur von einer moralischen Verantwortung zum Krieg spricht, sehen die sowohl außer- als auch innertextuellen Positionen innerhalb Deutschlands eine aus der Vergangenheit gewachsene Verantwortung für das Vermeiden kriegerischer Handlungen.7 Damit wird literarisch ein Möglichkeitsraum eröffnet, der auf der Grundlage der gleichen ideologischen Grundhaltung von den USA und Deutschland alternative moralische Rückschlüsse aufzeigt, die wiederum direkte Folgen auf die Praktiken der Soldatinnen und Soldaten haben. In diesem Sinne steht die in diesem Roman dargestellte Figur hinsichtlich ihrer befürwortenden Haltung zum Krieg diametral zu den Verhandlungen moralischer und ethischer Aspekte der anderen Romane. Immer wieder wird hier nämlich das Figurenkollektiv der Bundeswehrmitglieder in einer Außenseiterposition dargestellt, was nicht zuletzt in den heterotopischen Räumen der Bundeswehrlager mit ihren strengen Ein- und Ausschlussmechanismen verdinglicht wird. Die Grenze verläuft damit nicht nur zwischen den Deutschen und den jeweiligen Einheimischen, sondern auch zwischen den Angehörigen der Bundeswehr und Armeen aus anderen Ländern. Aus dieser Position abgeleitet treffen einige Romane ganz explizit die Aussage, dass die Möglichkeiten und Handlungsweisen der deutschen Soldaten und Soldatinnen innerhalb des Kriegsgeschehens zu eingeschränkt sind (Das Leuchten in der Ferne, Jenseits von Deutschland), andere stellen dies eher implizit dar, wie zum Beispiel der Roman Kriegsbraut, in dem eine lebensgefährliche Situation nur durch die Zuhilfenahme amerikanischer Unterstützung gelöst werden kann. Damit wird auch das veränderte Soldatenbild, das weniger den Kampf im Ausland denn einen humanitären Einsatz fokussiert, in der Gesellschaft gespiegelt. Die sich eröffnende historische Perspektive, die durch diese Wandlung bereits implizit ist, wird in einigen Romanen auch direkt aufgegriffen. Außer in dem Werk Kriegsbraut, in dem ein amerikanischer Soldat mit bewunderndem Pathos von den Wehrmachtsoldaten spricht,8 sind die Hinweise auf den Nationalsozialismus einheitlich negativ. Wenn ein Leser einen Artikel von Martens in Das Leuchten in der Ferne geistig in der Zeit des Nationalsozialismus verortet oder sowohl Sawatzky als auch Cismar in Ein Zimmer im Haus des Krieges sich dezidiert von diesem 7 8

Vgl. TILLMANNS, Jenny: Was heißt historische Verantwortung? Historisches Unrecht und seine Folgen für die Gegenwart. Bielefeld: transcript 2012. Allerdings findet der amerikanische Soldat direkt zwei Gegenstimmen – zum einen in der Protagonistin Esther, die ihm direkt widerspricht und zum anderen in dem Schuldirektor Mehsud, der aufzeigt, dass die deutschen Soldatinnen und Soldaten so nett winken, weil sie bereits so viel Schuld auf sich geladen hätten.

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Gedankengut distanzieren, wird die nationalsozialistische Vergangenheit auf moralischer Ebene als das prototypisch Schlechte verurteilt. Auf dieser Grundlage des vermeintlich abgeschlossenen, ideologisch ›Anderen‹ wird das Gegenwärtige bewertet. Diese veränderten Reflexionen zum Thema Krieg haben somit direkte Auswirkungen auf die Bewertung der Handlungen und damit zugleich auf die Handlungen der Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen. Durch das dezidierte Aufrufen der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit, auf deren Grundlage der diskursive Aushandlungsprozess unter anderem stattgefunden hat bzw. stattfindet, werden zum einen die dafür maßgeblichen Bedingungen benannt9 und zum anderen werden die Kriege, auch in ihrer neuen Erscheinungsform, nicht als neuartiges, plötzlich aufkommendes Phänomen beurteilt, sondern der Krieg wird vielmehr als historisch gewachsene und stets anwesende Größe etabliert. Deutlich wird so, dass die zivile Gesellschaft, innerhalb derer dieser Aushandlungsprozess stattfindet, nicht nur großen Einfluss auf die in den Krieg involvierten Soldaten und Soldatinnen hat, sondern zugleich wird auch die Grenze zwischen diesen Bereichen – dem zivilen Raum und dem Raum des Krieges – reflektiert. Das Leuchten in der Ferne ist in diesem Zusammenhang ein typischer Stellvertreter für die Romane, die eine Kritik an den durch eine protonormalistische Strategie formierten Grenzen des Sagbarkeitsraums innerhalb der diskursiven Aushandlung zu dem Thema Krieg inszenieren. Der Ausschluss spezifischer Stimmen führt dazu, dass nur bestimmte Aussagen zugelassen werden. Die daraus resultierenden Konsequenzen liegen in Das Leuchten in der Ferne darin, dass terroristische Organisationen zu einer ständig wachsenden Bedrohung werden und die (deutsche) Gesellschaft durch ihre vorgegebenen Strukturen nicht dazu in der Lage ist, dies zu erkennen und entsprechende Abwehrmechanismen auszubilden. Die dargestellte Grenze der Romane dieser Stoßrichtung konstituiert sich dadurch nicht nur in Bezug auf die Akteure oder die geographische Verortung, sondern stellt vornehmlich den Unterschied zwischen Ideologie und Praxis, zwischen einem moralischen bzw. ethischen Anspruch und der Kriegsrealität heraus. So wird auf der Grundlage der Divergenz zwischen humanitärem Gedankengut und spezifischer Kriegspraxis eine Grenze konstruiert, die die Konstitution einer starren Linie hat. Eine Aufhebung dieser Grenze oder zumindest eine Annäherung der Bereiche scheint damit vor allem in der erneuten diskursiven Aushandlung von Anspruch und 9

Zappe macht in seiner theoretischen Erörterung der Grenzüberschreitung an verschiedenen Stellen deutlich, dass die diskursiv ausgehandelten Grenzen willkürlich gesetzte sind (vgl. ZAPPE, Florian: Das Zwischen schreiben, S. 50.). Zwar zeigt sich in der Überschreitung der Grenze, wie Zappe anführt, »dass die Grenze nicht der Endpunkt der Möglichkeit ist« (ebd.), allerdings bedeutet das nicht, dass die Grenze zuvor willkürlich gezogen wurde. Vielmehr werden innerhalb des Aushandlungsprozesses nicht nur verschiedene Stimmen ein- und ausgeschlossen, sondern er ist auch zeitlich und räumlich durch höchste Flexibilität und Variabilität gekennzeichnet. D.h., dass es spezifische machtbasierte Bedingungen gibt, die Foucault mit der inneren und äußeren Reglementierung des Formationssystems beschrieben hat (vgl. dazu Abschnitt I, Kapitel 2.1.), die jedoch nicht willkürlich sind und zugleich nicht unter die Beschreibungskategorien wahr und falsch fallen. Durch das Aufzeigen der historisch bedingten Prämissen des Aushandlungsprozesses referieren die Romane vielmehr auf genau diese Bedingungen und machen sie für den Rezipienten sichtbar.

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militärischem Einsatz zu liegen. Gerade durch den Rezeptionsakt spiegeln die Romane nicht nur die Diskrepanz, sondern wirken potentiell auch auf den Diskurs ein. Während in diesem Zusammenhang im Besonderen die Unterschiede zwischen den Anforderungen an die Soldatinnen und Soldaten und den Praktiken des Krieges deutlich werden, machen andere Romane auf ganz unterschiedliche Art und Weise allgemein auf eine etwaige Sinnlosigkeit gegenwärtiger kriegerischer Auseinandersetzungen aufmerksam. In Die Sprache der Vögel beispielsweise wird in Widerspiegelung des gewandelten Soldatenbildes übergeordnet die humanitäre Ebene in den Blick genommen, allerdings in einer negativen Deutung. So stellt der Protagonist resignierend fest, dass nicht allen Einheimischen geholfen werden kann (z.B. durch die Versorgung mit Medikamenten). In Kriegsbraut werden die Schutzfahrten der Bundeswehr auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragt, indem der einheimische Schulleiter darauf aufmerksam macht, dass die Unterdrückung der Zivilbevölkerung durch die Taliban dann weitergehe, wenn die Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten abzögen. Damit sind es vor allem einzelne Handlungen der Bundeswehr, die zwar in den Bereich diskursiv ausgehandelter Grenzen fallen, aber in den Romanen als nicht zielführend oder, etwas zugespitzter, nicht einmal als hilfreich ausgewiesen werden. In einem anderen Duktus stellt Das dunkle Schiff eine Sinnlosigkeit des Krieges aus. So wird zum einen aufgezeigt, dass eine interkulturelle Kommunikation zwischen amerikanischen Soldaten und einheimischen Irakern selbst in zivilen Angelegenheiten wie dem Bau eines Fußballplatzes nicht existiert, was die offiziellen Ziele des Krieges – die ›Befreiung‹ des Irak und die Etablierung demokratischer Strukturen – oder zumindest ihre Umsetzung fragwürdig erscheinen lässt. Zum anderen werden in dem Roman durch seine zirkuläre Struktur, die den Tod an den Anfang und das Ende stellt und dabei sowohl den Irak als auch Deutschland einbezieht, Krieg und Terrorismus nicht nur zu grenzüberschreitenden Strukturmerkmalen, sondern es wird zugleich auch ein glücklicher Ausgang bzw. eine positive Zukunft negiert. Neben der Bewertung des Kriegseinsatzes als ein sinnloses Unterfangen wird eine Kategorie, die mit einer negativen Darstellung des Krieges verbunden ist, in verschiedenen Variationen eingeführt: die Schuld. Die Schuld bezieht sich dabei nicht lediglich auf das aktive Handeln – und Töten – im Kriegsgeschehen, sondern auch auf Unterlassung. Hier sieht Karl Jaspers in seinen Existenzerhellungen den Kernpunkt dieser Grenzsituation: »Erschrecke ich vor diesen Folgen meines Tuns, so kann ich wohl denken, die Schuld zu vermeiden, indem ich, nicht eintretend in die Welt gar nichts tue; dann würde ich niemandem nehmen, selbst rein bleiben, durch Verharren in universeller Möglichkeit keine abweisen. Aber Nichthandeln ist selbst ein Handeln, nämlich Unterlassung. […] In meiner Situation trage ich die Verantwortung für das, was geschieht, weil ich nicht eingreife; […] Also ob ich handle oder nicht handle, beides hat Folgen, in jedem Fall gerate ich unvermeidlich in Schuld.«10

Gerade diese paradox anmutende Struktur der Schuldaneignung wird in Kriegsbraut thematisiert: Sowohl die Taliban, die afghanische Zivilbevölkerung, die aktiv kämpfenden internationalen Streitkräfte als auch die winkenden deutschen Soldatinnen 10 JASPERS, Karl: Philosophie, S. 247.

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und Soldaten laden in dem Kriegsgeschehen auf irgendeine Art und Weise unvermeidlich Schuld auf sich. Damit wird das Phänomen des Krieges nicht nur auf einer moralischen Ebene verurteilt, sondern es wird für die je spezifischen Handlungen der Kriegsakteure eine gemeinsame, vergleichbare Basis inszeniert und zugleich wird die Vorstellung, durch humanitäre Unterstützung und Wiederaufbau in Kriegsgebieten wie Afghanistan ›schuldlos‹ zu bleiben, negiert. Diese von Spezialdiskursen wie der Politik häufig vertretene, auf ideologischen Implikationen basierende Meinung wird durch den Roman unterlaufen und in Frage gestellt – und dies potenziert von einem Afghanen, der in dieser Vorstellung vom Wiederaufbau etc. eigentlich profitieren sollte. Auch in dem Roman Das dunkle Schiff gibt es eine Aushandlung der Schuldfrage, allerdings mit anderen Konsequenzen. Der Protagonist Kerim gerät zufällig und unfreiwillig in die Sphäre von Terroristen und bleibt, zunächst aus Angst um sein Leben, bei ihnen und beteiligt sich an verschiedenen ihrer Aktionen. In diesem Werk wird demnach nicht die Schuld als genereller Maßstab für alle am Krieg Beteiligten postuliert, sondern es wird vielmehr nach der Möglichkeit eindeutiger Zuschreibungen gefragt. Obwohl es außer Frage steht, dass sich der Protagonist schuldig macht, ist er doch zugleich auch Opfer. Durch die Verbindung dieser sich vermeintlich ausschließenden Gegensätze wird der Grenzziehungsprozess, der innerhalb des Diskurses ausgehandelt wird und klare Verortungen von Personen und deren Handlungen in Gut und Böse, Freund und Feind vornimmt, hinterfragt. In diesem Zusammenhang werden auch Figurenkollektive, die als Staatsvertreter agieren, negativ gezeichnet: sowohl Soldaten, die Zivilistinnen grundlos umbringen, als auch Geheimdienstler, die Kerims Vater töten. Ganz ähnlich gelagert ist in diesem Zusammenhang der Roman Ein Zimmer im Haus des Krieges, in dem der dargestellte Terrorist, ohne seine Schuld anzuzweifeln, als Opfer von Gewalt und Folter innerhalb des Staatsgefängnisses gezeigt wird. Derartige Gewaltstrukturen finden sich auch in Guantánamo wieder. Potenziert werden diese Darstellungen bei Letzterem noch zum einen durch die Unschuldsbehauptung des Protagonisten und zum anderen dadurch, dass die dezidiert dargestellte Folter keine (wahren) Erkenntnisse hervorbringt und somit das durch die Gewalt angestrebte Ziel nicht erreicht wird. Damit verhandeln diese drei Romane Grenzkonstruktionen auf eine ganz spezifische Weise: Sie stellen die Grenze als klare Linie dar, ihre Funktionen als definierende und strukturierende Instanz sowie als moralischer Kompass werden aber in Frage gestellt. Die Konnotationen, die mit den jeweiligen Teilbereichen verbunden werden, wie rechtmäßig oder unrechtmäßig, werden gleichsam verkehrt. Die mit Bewertungsmechanismen verbundene Einteilung in ein binäres Denkschema von Gut und Böse wird damit aufgelöst. In einem Kriegsgeschehen, so kann der Schluss gezogen werden, gibt es nicht Freund und Feind, die eine Seite, die sich richtig und gut und die andere Seite, die sich falsch und schlecht verhält. Vielmehr, und damit gelangen die Romane zu einer ähnlichen Aussage wie der literarische Text Kriegsbraut, muss in einem Kriegsgeschehen alles, auch die in dem Diskurs ausgehandelten Ideologien, neu überdacht werden – mit vorgefertigten, klaren Einteilungen können die Kriege und die darin agierenden Akteure nicht erfasst werden. Damit setzen sich die Romane deutlich in Kontrast zu außerliterarischen Diskursen, die den Einsatz als Hilfsmaßnahme, die ohne Schuldannahme einhergeht, bewerten und die ein dichotomisches Verständnis aufweisen.

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Ein derartiges Verständnis findet sich indes in dem Roman Jenseits von Deutschland wieder. Die dargestellten Grenzen sind klar, die dadurch eingeteilten disjunkten Räume sind mit Konnotationen belegt, die die folgende, moralisierende Ordnung suggerieren: Terroristen sind und handeln böse, die deutschen Soldaten sind und handeln gut. Es gibt keine Figur, die Mehrdeutigkeiten aufweist oder dazu in der Lage ist, Grenzen zu überschreiten, vielmehr nehmen die dargestellten Figurenkollektive typisierende Rollenmuster ein. In diesem Sinne sind auch die ausgestellten Ideologien fixiert, wobei die eigene nicht reflektiert wird, sondern als normsetzende Instanz fungiert, auf deren Basis das Andere bewertet wird – ein Bewertungsmechanismus, dessen relationaler Maßstab sich bereits an dem Romantitel ablesen lässt. Diese Bewertung dient zugleich einer stabilisierenden Rechtfertigung des Eigenen, die sich über die Negativbewertung des Anderen konstituiert. Auch in Das Leuchten in der Ferne wird die Grenze in ihrer Unterscheidungsfunktion und Sinnverleihung dargestellt, die ein binäres Denkschema tradiert. Damit eröffnet sich zugleich eine moralische Distanz zwischen den Figurenkollektiven.11 Die Soldaten führen ihre Arbeit in den strengen Grenzen des ihnen Erlaubten aus, die Terroristen hingegen sind zu allem bereit und töten potentiell jeden. Darüber hinaus werden Letztere hier in besonderem Maße als ungebildete Männer dargestellt, deren Ziel darin besteht, möglichst viel Geld zu verdienen. Die Grenzziehungsprozesse manifestieren sich so vor allem auf der Handlungsebene der Figuren. Die Aushandlung der Schuldfrage in Jenseits von Deutschland weist hingegen eine deutliche Abkehr von außerliterarischen Diskursen auf, indem an zahlreichen Stellen dezidiert benannte Politiker kritisiert werden, zum einen mit der Weigerung, den Afghanistankrieg als Krieg zu bezeichnen, zum anderen durch die als zu gering bewerteten finanziellen und materielltechnologischen Unterstützungen der deutschen Soldaten und Soldatinnen. Daher geht es hier nicht um die Aushandlung von Schuld innerhalb eines Kriegsgeschehens (die Akteure kämpfen und töten zwar, dies wird aber in heroischem Duktus als Tapferkeit angesichts ihrer prekären Lage gewertet), sondern darum, dass die in den Spezialdiskursen wie der Politik ausgehandelten Positionen das Leben der Soldaten gefährden. In Rückgriff auf diese Kritikebene ist die Darstellung des Kampfes, der Verwundung und der Tötung der Bundeswehrsoldaten besonders eindringlich eine Schuldzuweisung an die politisch Verantwortlichen. Damit wird in dem Roman Jenseits von Deutschland insgesamt eine moralisierende Funktion deutlich: Die Literatur wird als Medium genutzt, um die im Normalfeld sich sukzessiv vollziehende Abkehr von der Verurteilung jeglichen Kriegsgeschehens zurückzulenken. Der Krieg, so die Quintessenz, ist auf verschiedenen Ebenen zu verurteilen – und dass es sich um einen Krieg handelt, versucht der Roman ja an zahlreichen Stellen aufzuzeigen. Durch diese moralisierende Haltung wird nicht der Versuch, das Andere zu verstehen oder sich ihm anzunähern inszeniert, sondern es geht vielmehr um eine pauschale Verurteilung des Krieges. Diese beiden gegensätzlichen literarischen Darstellungen der Grenze – die Grenzziehung auf der einen Seite als Hervorhebung von Unsicherheiten sowie als Möglich11 Vgl. dazu BUTLER, Judith: Kritik an der ethischen Gewalt, S. 63: »Wenn im moralischen Urteil Personen daraufhin beurteilt werden, wer sie sind, entsteht unweigerlich eine deutliche moralische Distanz zwischen dem Urteilenden und dem Beurteilten.«

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keit der Überschreitung und auf der anderen Seite als Tradierung binärer Teilbereiche – sind interessanterweise mit den Perspektiven der Romane verknüpft. Während Das dunkle Schiff und Ein Zimmer im Haus des Krieges (auch) die Perspektive des Anderen, hier der Terroristen, einnehmen, fokussieren die beiden Romane Jenseits von Deutschland und Das Leuchten in der Ferne Figuren aus dem Eigenen, Soldaten und Kriegsreporter. Mehr noch: Die beiden Letzteren setzen sich vor allem mit dem öffentlichen Diskurs in Deutschland und dessen Grenzziehungsmechanismen auseinander und kritisieren diese, während die anderen eine globalere Perspektive einnehmen, um die Frage nach Schuld zu verhandeln. Das Phänomen der entgrenzten Kriegsform wird dementsprechend bei Ersteren weniger auf formaler Seite aufgegriffen, aber in der Hinterfragung oder sogar Verkehrung tradierter Vorstellungen werden starre Grenzziehungsprozesse, die mit homogenisierenden Erklärungsmustern und binären Denkschemata einhergehen, selbst fraglich. Anders formuliert wird in diesen Romanen ein Sowohl-als-auch, ein grenzüberschreitender Charakter in Bezug auf die Protagonisten des Krieges und in deren Handlungen deutlich, die sich gegen eine eindeutige Einteilung stellen. Die Grenzen sind vielmehr fließend, die Bewertungen können nicht kategorisch und allgemeingültig sein, sondern sind eben auch vom Standpunkt des Betrachters abhängig. Die Inszenierung der Protagonisten aus dem Raum des Anderen, der aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossenen Seite, birgt das Potential, genau diese divergenten Standpunkte zu beleuchten und damit beim Rezipienten neue, andere Perspektiven in seinen Aushandlungsprozess zu integrieren. In diesem Sinne transportiert Das dunkle Schiff die Ideologien der Terroristen, indem aus der Fremdperspektive über die ›westliche Kultur‹ gesprochen und diese zugleich herabgestuft wird. Da sich der Protagonist zwar mit der Religion, aber nicht mit der Gewalt identifizieren kann, greift trotz der Darstellung der anderen Seite ein zweifacher Distanzierungsmechanismus: Der Rezipient nimmt seine eigenen ideologischen Prämissen aus der Fremdperspektive zuallererst wahr und findet sie unter großer Kritik stehend vor – und dies von einer Seite, deren Ideologie wiederum in dem Raum des Eigenen stark kritisiert wird, wodurch deutlich wird, dass die Bewertungen perspektivisch sind – und andererseits wirkt der Distanzierungsmechanismus durch die Figur Kerim, der sich trotz der Herkunft aus diesem ›anderen‹ Raum ebenfalls nicht mit der aus dieser radikalen Ideologie resultierenden Gewalt identifizieren kann. Damit wird trotz der dezidierten Darstellung beider Seiten und der Distanzierung des Eigenen durch die Fremdperspektive ein Bewertungsschema deutlich, das den Roman innerhalb des Diskurses Position gegen islamistische Ideologien beziehen lässt. Auch Ein Zimmer im Haus des Krieges stellt beide Seiten aus. Das Befremden, das durch die kontrastierende Darstellung des Terroristen und des Botschafters zum Ausdruck kommt, richtet sich jedoch auf beide Seiten – trotz des gleichen Ursprungsraums (Deutschland) der beiden Protagonisten. Durch die gescheiterte Kommunikation, die diese Begegnungen durchzieht wie ein roter Faden, wird gezeigt, dass die ideologischen Standpunkte beider Seiten sowohl starr als auch in ihrer unflexiblen Haltung nicht vereinbar sind. Eine Basis für die Kommunikation kann auch dann nicht geschaffen werden, wenn eine der Parteien den Willen aufbringt, die andere Seite verstehen zu wollen. Dieses Verstehenwollen, das durchaus

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eine ethisch qualifizierte Haltung ist,12 scheitert, da der Botschafter in den eigenen Strukturen haften bleibt. Offenbar müssten vielmehr beide Seiten diese Fixierung verlassen, um die trennende Grenze als Begegnungsraum wahrzunehmen. Damit geht Ein Zimmer im Haus des Krieges zum einen über die Darstellung beider ideologischer Seiten hinaus und macht innerhalb der Darstellung die Problematik dieser deutlich. Zum anderen werden die Haltungen beider Seiten in ihrer starren Konstitution kritisiert. Die oben beschriebene Einteilung der Romane, die zwei Varianten der Grenze beinhalten, die in dem einen Fall als Tradierung binärer Teilbereiche fungiert und in dem anderen durch das Hervorheben von Unsicherheiten und Grenzüberschreitungen eine derartige Einteilung in Frage stellt, kann auch an einem besonderen Fall des Anderen abgelesen werden, dem ›homegrown terrorist‹. Das wichtigste Merkmal dieser Terroristen ist, dass sie in der Kultur aufgewachsen und sozialisiert wurden, gegen die sie sich zumeist mittels terroristischer Anschläge wenden. Damit wird Erklärungsmustern, die Terrorismus lediglich auf Differenzen oder Unverständnis zwischen den Kulturen zurückführen, eine Absage erteilt: Obwohl diese Mitglieder terroristischer Organisationen die Gesellschaft und ihre Kultur durchaus kennen und verstehen, wollen sie sie in das Gegenteil verkehren und den Staat stürzen. Damit können diese Menschen auch nicht als das absolut Andere, als Gegenbild des Eigenen »im Sinne von gegenseitiger Unvereinbarkeit«13 (dis-)qualifiziert werden. Sie rekurrieren, und das macht diese Art des Terroristen so besonders, auf den gleichen Resonanzboden wie das Eigene, sie haben den gleichen Ursprung.14 Das bedeutet, dass die Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Anderen, die stets die Prämisse für ein ethisches Urteil bildet,15 eine ganz spezifische und enge ist. Eine Distanzierung oder das Deklarieren eines Unterschieds zwischen Konstrukten wie ›Nah und Fern‹, ›Orient und Okzident‹ oder ›Westen und Osten‹, die eine moralische und ethische Verurteilung zumindest erleichtern würden, kann so nur schwerlich greifen. Anders gesagt, die homegrown terrorists sind nah und fern zugleich: »Sie sind nah, weil sie z.B. im Westen aufgewachsen und habituell nicht von anderen Bürgern unterscheidbar sind. Zugleich sind sie fern, weil sie sich nicht als Teil dieser gesell-

12 In einem ganz allgemeinen Sinn unterscheidet Susanne Kaul das Verstehen von dem Verstehenwollen: »Es muß jedoch zwischen den gutwilligen Haltungen des Verstehenwollens und dem Verstehen unterschieden werden. Das gilt sowohl für die Auslegung argumentierender Texte als auch für das Verstehen von lebensweltlichen und innerfiktionalen Handlungen. Verstehenwollen ist eine ethisch qualifizierte Haltung, zu der gehört, daß jemand aufmerksam zuhört und ein positives Vorurteil gegenüber dem zu Verstehenden hat. Verstehen hingegen ist nicht ethisch qualifiziert, denn da geht es darum, beispielsweise nach Gründen zu suchen, die ein Verhalten begreiflich machen.« (KAUL, Susanne: Antipathetisches Verstehen – Zu Kafka und Kubrick, in: Dies./Laak, Lothar van (Hrsg.): Ethik des Verstehens. Beiträge zu einer philosophischen und literarischen Hermeneutik. München: Fink 2007, S. 45-60, hier S. 57f., Herv. i.O.) 13 SCHÄFFTER, Otfried: Modi des Fremderlebens, S. 19. 14 Vgl. ebd., S. 16. 15 Vgl. BUTLER, Judith: Kritik an der ethischen Gewalt, S. 64.

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schaftlichen Gemeinschaft begreifen.«16 Durch diese Unbestimmtheit ihres hybriden Wesens entziehen sie sich einer klaren Kategorisierung, was sie kaum greifbar macht, sie verkörpern »das kulturell Fremde im Eigenen.«17 Deswegen ist gerade diese Figur interessant hinsichtlich der Positionierung der Literatur in Bezug auf die eigene Gesellschaft, deren Normen und Ideologien. Denn die Frage, wie es möglich ist, dass die eigene Gesellschaft Terroristen selbst hervorbringt und welche Bedingungen dazu führen, impliziert eine kritische Reflexion des Eigenen. Die Romane, die dieses Phänomen aufgreifen, lassen sich wiederum in zwei Bereiche einteilen: in diejenigen, die diese Figur darstellen, um Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben, und diejenigen, die dieses Phänomen als nicht wichtiges bzw. änderbares zeigen. In dem letzten Sinn bewertet der Roman Jenseits von Deutschland diese Art der Terroristen. Dargestellt wird ein junger Konvertit, der in einer Moschee zu einem Islamisten erzogen wird. Bewusst wird hier diese passive Syntax gewählt, da an der Haltung des Jungen keine intrinsische Motivation auszumachen ist. Vielmehr scheint er einem schlechten Einfluss ausgesetzt gewesen zu sein, der zum Konvertieren und sogar Radikalisieren führte. Dieser Logik folgend, braucht es auch lediglich ein einziges Gespräch mit einem Polizeibeamten, um den Jungen wieder ›auf den richtigen Weg‹ zu bringen und sich von seiner Haltung abzuwenden. Das Phänomen des hausgemachten Terroristen ist demnach keine wirkliche Bedrohung für die Gesellschaft – Menschen aus dem Raum des Eigenen, die sich haben irrtümlich bekehren lassen, müssen nur einige Argumente dagegen dargelegt werden. D.h. hier findet keine Reflexion des Eigenen statt, keine Kritik an den eigenen Ideologien wird hervorgebracht. Das Abwenden von dem Eigenen ist lediglich vorläufig und kann schnell wieder umgekehrt werden. Das Andere wird damit auch an dieser Stelle in dem Roman an der unhintergehbaren Ideologie des Eigenen gemessen und als schlecht bewertet. Das Leuchten in der Ferne bezieht sich hingegen nur mittelbar auf den homegrown terrorist, indem der Roman nicht die Beweggründe von Figuren aus dem Eigenen zeigt, sondern diejenigen eines einheimischen Afghanen, sich einer terroristischen Organisation anzuschließen. Für den Rezipienten wird damit Distanz geschaffen: nicht aus dem eigenen Kulturraum stammt der Rekrut, sondern aus dem ohnehin schon als fremd markierten. Zwar betont der Kriegsreporter Martens immer wieder ein grenzüberschreitendes eskapistisches Verhalten, das er auch bei Figurenkollektiven aus dem Eigenen, wie Kriegsreportern und deutschen Soldaten im Auslandseinsatz ausgemacht hat, was auf eine kulturuniversalistische Kategorie der Flucht aus dem eintönigen Alltag schließen lässt. Jedoch funktioniert die Vergleichsebene nur bedingt – so scheint es doch ein qualitativ erheblicher Unterschied zu sein, ob ein ausgebildeter Soldat (dem man grundsätzlich keine überhöht pazifistische Haltung unterstellen kann) sich während seiner Dienstzeit freiwillig für einen Einsatz im Ausland meldet, oder ob ein Zivilist, hier ein Bauer, sich einer terroristischen Organisation anschließt. Durch diese propagierte, vermeintlich universalistische Kategorie 16 KRON, Thomas/HEINKE, Eva-Maria/BRAUN, Andreas: Die Individualisierung des transnationalen Terrorismus, in: Arnold, Harald/Zoche, Peter (Hrsg.): Terrorismus und organisierte Kriminalität. Theoretische und methodische Aspekte komplexer Kriminalität. Berlin: Lit 2014, S. 97-126, hier S. 109. 17 KÖNIG, Michael: Poetik des Terrors, S. 169.

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kann insofern weder eine Kritik noch eine Befürwortung abgelesen werden. Vielmehr scheint es unvermeidlich, sogar naturgegeben, dass sich junge Männer (es wird an keiner Stelle von Frauen gesprochen) entschließen, ein Abenteuer zu suchen und daher in den Krieg zu ziehen. Homegrown terrorists sind demnach eine, aber keine besondere Konsequenz dieses eskapistischen Verhaltens, das überall und zu jeder Zeit vorkommt. So findet sich auch in diesem Roman keine ideologiekritische Haltung oder Reflexion von Ideologien. Während diese beiden Romane demnach dem Phänomen des hausgemachten Terroristen eine besondere Bedeutung absprechen, indem sie es relativieren, nutzen die Romane Das dunkle Schiff und Ein Zimmer im Haus des Krieges diese Figuren, um Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und Normen zu üben. Sowohl an dem Protagonisten Sawatzky als auch an der Nebenfigur Amir wird nämlich deutlich, dass Haltlosigkeit und fehlendes Zugehörigkeitsgefühl zu dem Raum des Eigenen fundamentalistischem Gedankengut einen Nährboden bieten. Auch wenn die familiäre Situation der beiden Figuren abweicht – Amir hat einen Migrationshintergrund und ist bereits, wenn auch nicht praktizierender, Moslem, Sawatzky weist keinen Migrationshintergrund auf und ist nicht praktizierender Christ – sind doch beide geprägt durch ihre Außenseiterrolle in der deutschen Gesellschaft. Somit wird in beiden Romanen auf der einen Seite der homegrown terrorist mit vielschichtigen Identitätsproblemen gezeigt und auf der anderen Seite die Gesellschaft, die es versäumt, die Figuren aufzufangen. Damit wird das Phänomen des hausgemachten Terroristen nicht nivelliert oder relativiert, sondern die gesellschaftliche Verantwortung hervorgehoben, was wiederum die eigene Ideologie kritisiert. Denn die Romane zeigen genau hier den Ursprung des Prozesses, der zu der Radikalisierung der Figuren aus dem Eigenen führt. Sie leben in Parallelgesellschaften, besonders pointiert manifestiert sich diese in der eine Welt der Fiktion ausstellenden Spielhalle, in der sich Amir ständig aufhält, und in Sawatzkys Flucht in die Welt der Drogen. Die fehlende gesellschaftliche Integration ist nicht die alleinige Ursache – den Figuren wird die schuldhafte Verantwortung damit nicht genommen, sie haben sich bewusst für den Islamismus entschieden, sonst wäre die Darstellung vergleichbar mit dem Konvertiten aus Jenseits von Deutschland –, aber sie ist verantwortlich dafür, dass islamistische Ideologien von den Figuren anders aufgenommen und als scheinbarer Ausweg aus der Haltlosigkeit wahrgenommen werden. Der Krieg, so kann hier zusammenfassend festgestellt werden, wird trotz unterschiedlicher geographischer Räume (Ägypten, Balkan, Irak, Afghanistan) und verschiedener Kriege, die sich in ihrer Ursache, ihrem Verlauf und den beteiligten Akteuren stark unterscheiden, insgesamt negativ bewertet. Die Kritik offenbart sich dabei jedoch an verschiedenen Punkten, wobei zumeist nicht das vermeintlich ethisch und moralisch verwerfliche Töten im Vordergrund steht. Dieses ist im Kontext des gewandelten Soldatenbildes und den damit zusammenhängenden Aufgaben innerhalb einer kriegerischen Auseinandersetzung auch stets mehr verteidigende Reaktion als Aktion. Genau hier setzt dann die von einigen Romanen aufgeworfene Kritik an: an der Einstellung, die in dem restriktive Grenzen erzeugenden Diskurs ausgehandelt wird und zugleich die Praktiken der Soldaten determiniert, wodurch die Rollenzuschreibung der Bundeswehr grundlegend hinterfragt wird. Weitere Kritikpunkte zeigen sich in der Darstellung einer generellen Sinnlosigkeit kriegerischer Auseinandersetzungen sowie in der Kritik an starren, mit eindeutigen Konnotationen versehe-

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nen Einteilungen. Obwohl unterschiedlich gelagerte Aspekte in verschiedener Intensität aufgegriffen werden, eint die Romane, dass sie keine konkreten Lösungsangebote für die Kriegseinsätze entwerfen. Dies würde die moralische Wirkung wahrscheinlich auch nicht vergrößern.18 Vielmehr steht das Aufzeigen der auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Probleme kriegerischer Auseinandersetzungen im Vordergrund, das durch Reflexion zu einem neuen Aushandlungsprozess führt.

18 »Die moralische Wirkung von Literatur hängt nicht daran, daß man Fremdes verständlich macht. Denn das Verständlichmachen kann das Grauen vergrößern.« (KAUL, Susanne: Antipathetisches Verstehen, S. 59.)

5. Ausblick

Die Kriegsform der neuen Kriege, die sich durch Asymmetrie und verschiedene Formen der Entgrenzung auszeichnet, wird höchstwahrscheinlich in der kommenden Zeit eine der zentralen Formen der Kriegsführung bleiben. Die damit verbundenen neuen militärisch-strategischen Aufgaben, aber auch gesellschaftlichen Fragen, die moralische und ethische Aspekte (neu) aushandeln, werden den öffentlichen Diskurs so noch lange Zeit beschäftigen. Dies tangiert auch Fragen nach dem Selbstverständnis der Gesellschaft, die einen zentralen Einfluss auf die militärischen Operationen besonders im Ausland haben – zum Beispiel ob Grenzziehungsmechanismen angestoßen werden, die das Eigene vom Fremden strikt trennen, um das Eigene, unter dessen Flagge man Krieg führt, zu stabilisieren und zu homogenisieren, oder ob Prozesse der Annäherung forciert werden. Derartige Aushandlungsprozesse gehören zu den kulturellen Herausforderungen, die zum einen in den literarischen Texten widergespiegelt, zum anderen aber auch durch die Literatur beeinflusst werden. Die Literatur als Kulturprodukt ist dazu in der Lage, sowohl das Selbst- als auch das Fremdbild zu tradieren und zu stabilisieren oder auch zu hinterfragen und zu unterlaufen. Die hier behandelten Romane wurden ausschließlich von deutschsprachigen Autoren verfasst und fokussieren dementsprechend primär die recht spezifische, nicht zuletzt von historischen Ereignissen stark beeinflusste, deutsche Perspektive auf das gegenwärtige Kriegsgeschehen. Neben einer Untersuchung, die stärker den Fokus auf einen Vergleich dieser Romane mit anderen deutschen literarischen Kriegstexten beispielsweise aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg setzt, könnte eine komparatistisch angelegte Studie1, die sich vor allem mit Mustern kultureller Identität in Bezug auf den Krieg auseinandersetzt, Divergenzen, aber auch Gemeinsamkeiten herausstellen. Ein weiterer, interessanter Aspekt liegt in einer Untersuchung, die grenzüberschreitend verschiedene Gattungen in den Mittelpunkt stellt. Während in dieser Arbeit herausgestellt werden konnte, dass die Romane klassische Erzählmuster mit chronologischem Ablauf aufweisen, wäre zu klären, ob die Gattungen Drama und Lyrik ebenfalls mit derartigen Konzeptionen arbeiten oder ob eine Form-Inhalt-Korrespondenz hier zum Tragen kommt – die Entgrenzungsphänomene der neuen Kriege 1

Eine derartige Vorgehensweise, die Schriftsteller aus dem Irak, dem Libanon oder Zimbabwe einschließt, liegt auch der Monographie von Christa Karpenstein-Eßbach zugrunde: KARPENSTEIN-ESSBACH, Christa: Orte der Grausamkeit. Die Neuen Kriege in der Literatur. München: Fink 2011.

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sich somit bereits in der äußeren Form widerspiegeln. In dem Kontext einer gattungsübergreifenden Untersuchung könnte auch ein Vergleich der behandelten Thematiken von Interesse sein, so greift beispielsweise Elfriede Jelineks vielstimmiges »Moralkunstwerk«2 Bambiland und Babel sowohl die Komplexe Terror und Krieg als auch die medialen Aufbereitungen des Irakkrieges auf. Auch die Einbeziehung von Sachtexten, vor allem verfasst von Schriftstellern, wie beispielsweise Ausnahmezustand3 von dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Navid Kermani, ist vielversprechend. Hier fungiert der Autor auch als Beobachter der Welt, transformiert seine Erfahrungen aber in nicht rein fiktive Texte, sondern vielmehr in Reportagen und Reiseberichte. Zudem bieten sich in diesem Kontext auch dezidiert religiöse Fragestellungen an, die die Literatur hinsichtlich ihrer Darstellung sowohl der christlichen als auch muslimischen Religion und Religiosität befragen. Nicht zuletzt ist die Literatur über die neuen Kriege auch im Zusammenhang der gegenwärtigen Fluchtbewegungen, die nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, der Türkei und anderen Staaten besondere Aufmerksamkeit erfahren, zu untersuchen. Die neuen Kriege sind die Ursache vieler dieser massenhaften Bewegungen. Gerade hier eröffnen sich interkulturelle Perspektiven, die die Literatur mit den ihr eigenen Mitteln darzustellen vermag, die auf Einzelschicksale aufmerksam macht und daran neue Sichtweisen eröffnet. Hier kann die Literatur auch sensibilisieren für den pejorativen Beigeschmack von Begrifflichkeiten, die teilweise in den Medien und in zahlreichen politischen Diskussionen anzutreffen sind, wie Flüchtlingsproblematik, Integrationszwang etc. Alle diese Aspekte verweisen auf den zentralen Punkt, dass der Krieg kein antithetisches Konstrukt zur Kultur darstellt, sondern eng mit ihr verbunden ist, in ihr entsteht, durch sie tradiert oder verurteilt wird. Der Krieg hat damit direkte Auswirkungen auf die Kultur und die Gesellschaft, auch wenn er vordergründig in entfernten Ländern stattfindet, indem er stets zur Reflexion, Neuaushandlung und -formierung des Eigenen auffordert. Die Literatur trägt zu dem Diskurs bei, sie eröffnet neue Denk-, Handlungs- und Möglichkeitsräume, reflektiert und prognostiziert, tradiert und kritisiert. Sie ist durch ihr subversives Potential dazu in der Lage, Grenzen deutlich zu machen und zu markieren, in Foucaults Worten: »Man muss der Alternative des Draußen und des Drinnen entkommen; man muss an den Grenzen sein. Die Kritik ist gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie.«4 Dies macht ein Denken möglich, dass Grenzen in ihrem Konstruktionscharakter begreift, sie als hintergehbares Phänomen versteht und damit auch die Möglichkeit eröffnet, Grenzen zu überschreiten.

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LÜCKE, Bärbel: Terror, Irak-Krieg, Folter. Elfriede Jelineks »Moralkunstwerk« Bambiland/Babel (Irm – Margit – Peter), in: Kinzel, Ulrich (Hrsg.): An den Rändern der Moral. Studien zur literarischen Ethik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 172-184. KERMANI, Navid: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigende Welt. München: Beck 6 2016. FOUCAULT, Michel: Was ist Aufklärung?, in: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980-1988, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 687-707, hier S. 702.

Literaturverzeichnis

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Sighard Neckel et al.

Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-4194-3, Open Access: E-PDF/EPUB

  Nachhaltigkeit ist zu einem Leitbegriff des gesellschaftlichen Wandels geworden, mit dem sich unterschiedliche Zielvorstellungen verbinden – sei es ein grüner Kapitalismus, der auf ökologischer Modernisierung beruht, oder eine sozial-ökologische Transformation, die eine postkapitalistische Ära einläuten könnte. In dieser Programmschrift von Sighard Neckel und seinem Hamburger Forschungsteam werden die gesellschaftlichen Dimensionen von Nachhaltigkeit aufgezeigt, aber auch die Paradoxien, die mit einer nachhaltigen Entwicklung im globalen Kapitalismus verbunden sind. Grundlegende soziologische Perspektiven auf Nachhaltigkeit sind ebenso Thema wie Ausblicke in konkrete Felder einer kritisch-reflexiven Sozialforschung zu den gesellschaftlichen Konflikten um Nachhaltigkeit.

Literaturwissenschaft Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart Mai 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

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Die Produktion der Katastrophe Das Tunguska-Ereignis und die Programme der Moderne Mai 2017, 358 S., kart. 36,99 € (DE), 978-3-8376-3657-4 E-Book: 36,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3657-8

Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

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